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German Pages 389 Year 2015
Daniela Kohler Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 192
Daniela Kohler
Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder
Gedruckt mit Unterstützung der UniBern Forschungsstiftung (Berne University Research Foundation)
ISBN 978-3-11-040180-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040184-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040205-6 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt 1
Einleitung | 1
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Die Entwicklung von Lavaters Christologie auf dem Hintergrund der theologischen Strömungen seiner Zeit | 13 Unsterblichkeitsliteratur | 14 Lavaters Beschäftigung mit der Philosophie Bonnets | 17 Moses Mendelssohn und der vermeintliche Bekehrungsversuch | 22 Lavaters christologischen Überzeugungen | 27 Lavaters Wunderglaube | 39 Physiognomik als äußeres Zeichen von Göttlichkeit | 46 Lavater in der Auseinandersetzung mit pietistischen Strömungen | 53
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
3 3.1 3.2 3.3
4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.5 4.6
Praktische Christologie: Lavaters berufliche Tätigkeit | 67 Lavater als Pfarrer am Waisenhaus und am St. Peter | 68 Lavater im Kreis seiner Anhänger aus der Perspektive Johann Georg Müllers | 74 Lavaters Gesellschaften zur Unterweisung junger Geistlicher | 86 Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos | 91 Die Tradition des christlichen Epos von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert | 92 Klopstocks Reflexionen zur Gattung des Epos | 105 Klopstocks Orientierung an der Poetologie Bodmers und Breitingers | 117 Das Erhabene als Ausgangspunkt für die Poetologie der Schweizer | 118 Die Bedeutung der Einbildungskraft | 120 Inhaltliche Erhabenheit: Die ‚Höhere‘ und die ‚Heilige Poesie‘ | 124 Formale Erhabenheit: Klopstocks Anpassung des antiken Hexameters an die deutsche Sprache | 135 Soteriologie und Eschatologie im Messias | 147
VI
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5
7.
Inhalt
Herders Apokalypse-Nachdichtungen und deren Bedeutung für Lavaters erstes Messias-Epos | 165 Die Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert | 165 Herders poetologische und theologische Reflexionen zur Bibeldichtung | 184 Die Genese von Herders Nachdichtung der Apokalypse | 196 „Das Manuskript ist bereits in halb Deutschland herumgereicht“: Herders erste kommentierte Versfassung der Apokalypse | 206 Maran Atha oder der Versuch, bibelpoetische Vollendung verständlich zu machen | 224 Bibelpoetologische Reflexionen im Briefwechsel zwischen Lavater und Herder | 239 Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder | 263 Lavaters Messias-Epen als Reaktion auf die theologischen Strömungen seiner Zeit | 265 Lavaters Auseinandersetzung mit der biblischen Vorlage in seiner Apokalypse-Gebetsreihe | 273 Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn als poetische Bibelexegese | 280 Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen in der Nachfolge von Klopstocks Messias | 315 Formale und stilistische Merkmale von Lavaters zweiter Messiade | 319 „Geistes- und Herzensarbeit“: Das dritte Buch von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen | 334 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Lavaters MessiasEpen | 347 Fazit: Klopstock, Herder, Lavater und die Bedeutung der christlichen Poesie im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts | 357
Literaturverzeichnis | 361 Personenregister | 381
1 Einleitung Im Jahr 1779 kündete Johann Gottfried Herder (1744–1803) ein Werk an, das er als Höhepunkt seines schriftstellerischen Schaffens betrachtete: Das Manuscript ist schon in halb Deutschland gelesen worden. […]. Es ist mein Meisterstück u. vielleicht das Ende meiner Autortage.¹
Das Werk, das Herder anspricht, trug im Manuskript den Titel Johannes-Offenbarung und erschien unter dem Namen Maran Atha. Das Buch von der Zukunft des Herrn. Es paraphrasiert, zuerst in Versen, später in Prosa, die Offenbarung des Johannes. Auch Johann Caspar Lavater (1741–1801) nahm sich in seinem ersten Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn (1780) des letzten Buches des Neuen Testaments an. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) schrieb ihm dazu: „Deine Offenbarung findet überall vielen und den rechten Beyfall.“² Genauso positiv war der Kommentar zum ersten Band von Lavaters Großepos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen (1783–1786), in dem er die vier Evangelien und die Apostelgeschichte nacherzählte: Ihre Messiade wird extensiv weit mehr Gutes wirken als selbst Klopstocks Messiade. Da dieses Poem so ganz Ihrer Absicht entspricht, und Ihre Absicht so würdig und edel war, so hat das Ganze ästhetische Vollkommenheit.³
Sowohl Herders Werk, das er selbst als Höhepunkt seines Schaffens bezeichnete, wie auch Lavaters mit viel Beifall bedachte Dichtung, die inhaltlich an Herder, formal an Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Messias (1748–1773) anknüpfte, finden in der Forschung und in der Literaturgeschichte kaum Beachtung.
1 Herder an Hartknoch, 10. Okt. 1779. In: Johann Gottfried Herder: Briefe: Gesamtausgabe 1763– 1803. 14 Bde. Hg. von der Klassik Stiftung Weimar. Weimar 1977–2009 (im Folgenden zitiert als WA für ‚Weimarer Ausgabe‘ mit Band- und Seitenzahl). Bd. 4, S. 103. 2 Goethe an Lavater, 6. März 1780. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 2. Abt., Bd. 2: Das erste Weimarer Jahrzehnt. Hg. von Hartmut Reinhardt. Frankfurt/M. 1997. S. 247. 3 Lorenz Leopold Haschka an Lavater, 22. August 1783. In: Ulrich Hegner: Beiträge zur nähern Kenntniss und wahren Darstellung Johann Kapsar Lavater’s. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Neuauflage der Ausgabe Leipzig 1836. Bern 1975, S. 160.
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Einleitung
Der Grund für diese Vernachlässigung liegt einerseits darin, dass Klopstocks Messias den Höhepunkt der christlichen Epik wie auch der christlichen Dichtung markiert und wegweisende poetologische Neuerungen enthält; Klopstocks Werk gilt gattungstheoretisch als endgültiger Durchbruch der von den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) initiierten, über die herkömmliche, dem Verstand einsehbare Naturmimesis hinausgehende Poetik des die Seele bewegenden Wunderbaren. Die Schweizer setzten Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) in Anlehnung an den französischen Klassizismus formulierte Theorie, der gemäß das Epos stilistisch klar komponierte, der Vernunft einleuchtende Inhalte präsentieren müsse, ihre eigenen Ansichten über eine Wunderbares wie Irrationales enthaltende Ependichtung entgegen.⁴ Analog zu den paganen Epen und angelehnt an John Miltons (1608–1674) Paradise Lost machten sie übernatürliche Einflüsse und göttliche Einwirkungen zum festen Bestandteil der epischen Handlung.⁵ Klopstock hat diese Poetik umgesetzt und mit seinem Messias epochenmachende Dichtung geschaffen. Doch die Vernachlässigung der biblischen Epik und der biblischen Dichtung in der Literaturgeschichte des letzten Viertels des achtzehnten Jahrhunderts liegt nicht nur daran, dass Klopstocks Messias als deren Höhe- und Endpunkt gilt. Ein weiterer Grund besteht darin, dass die biblische Dichtung nach Klopstock formal und inhaltlich nicht der literaturgeschichtlich etablierten Epoche der Zeit, dem Sturm und Drang, entspricht, und somit schwer einzuordnen ist. Herder und Lavater nehmen zwar mit den an ihr Werk gebundenen, von Klopstock vorgezeichneten Anforderungen Aspekte der Genieästhetik auf, wie Kemper in seiner Literaturgeschichte zum Sturm und Drang ausführlich erläutert. Kemper richtet seine Studie darauf aus, anhand einer Kerngruppe von religiös motivierten Autoren, zu denen er neben dem frühen Herder und Lavater auch Johann Georg Hamann (1730–1788) und den jungen Goethe zählt, den religiös gefüllten Genie-Begriff zu erläutern;⁶ eine eigene poetologische Betrachtung über die Anforderungen, die nach Klopstocks Messias an die biblische Dichtung gestellt wurden, liefert er aber nicht, und eine solche liegt bis heute nicht vor. Dem entgegengesetzt geht Bernd Auerochs in seiner Arbeit Die Entstehung der Kunstreligion⁷ sogar davon aus, dass biblische Dichtung bereits in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr-
4 Vgl. Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping. In Zusammenarbeit mit Sandra Poppe u. a. Stuttgart 2009, S. 207. 5 Vgl. ebd., S. 208. 6 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/II: Sturm und Drang: GenieReligion. Tübingen 2002, S. 19. 7 Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006.
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hunderts die Ausgangslage für die Entwicklung der Kunstreligion darstellt, die sich an deren Stelle als Ausdruck genialischer Individualität zu entfalten begann. Aureochs betrachtet Klopstocks und Herders Beschäftigung mit der Nachdichtung biblischer Stoffe vorrangig als Präludium zu einer bibelfernen, die Geltung der christlichen Heilsbotschaft überwindenden ‚Kunstreligion‘, die teleologisch auf die Dichtung der Romantik zuläuft. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand von Lavaters und Herders biblischer Poesie zu zeigen, dass die christliche Dichtung auch in den Jahren nach der Vollendung von Klopstocks Messias einen hohen Stellenwert besaß als Mittel zur Verkündigung religiöser Inhalte und einen wichtigen Beitrag leistete in der Diskussion um literarästhetische und poetologische Maximen. Es soll erläutert werden, dass es nicht lediglich die theologische Fundierung war, in der die Stürmer und Dränger anfänglich verwurzelt waren und aus der heraus sie ihre säkularisierte individuelle Dichtung entwickelten, wie dies Kemper in seiner Arbeit ausführt. Biblische Stoffe blieben ein bevorzugtes Thema in literarischen Werken, und Anforderungen und Darstellungsweisen, die seit Bodmers Milton-Übersetzung Gegenstand von literaturkritischer Auseinandersetzung waren, standen weiterhin im Zentrum der poetologischen Diskussionen. Dementsprechend sind Lavaters und Herders Beschäftigung mit der Nachdichtung biblischer Inhalte nicht lediglich späte oder gar verspätete Phänomene alteuropäischer geistlicher Dichtkunst auf der Schwelle zur Autonomieästhetik, nicht einfach von einem religiös gefüllten Genie-Begriff geprägt.⁸ Vielmehr generierte ihre biblische Dichtung als eigene Form von literarischem Schaffen eine Poetik, die auf Klopstock aufbaute und in eigene, den jeweiligen theologischen und bibel-poetologischen Ansprüchen gerecht werdende Richtungen weiterging. Dass dabei Kriterien und Aspekte von Bedeutung wurden, die sowohl im Sturm und Drang wie auch in der Weimarer Klassik eine Rolle spielten, zeigen das breite Spannungsfeld und der große Bezugsrahmen, in dem sich die biblische Dichtung bewegte. Autoren wie Klopstock, Lavater und Herder beschäftigten sich in ihren Werken nicht nur mit der Bibel, die sie auf dem Hintergrund der sich ausdifferenzierenden historischen Bibelkritik aus einer neuen Perspektive heraus betrachteten, sondern führten auch in literaturästhetischer Beziehung neue Maßstäbe ein. Im ersten Teil dieser Arbeit (Kapitel 2 und 3) wird mit einem kulturhistorischen Forschungsansatz der zeitgenössische Kontext, in dem Lavater seine Epen schrieb, aufgezeigt. Die Einordnung des Theologen und Schriftstellers Lavater bedarf
8 Vgl. Kemper (Anm. 6), S. 21.
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Einleitung
einer ausführlichen Darstellung der für sein Werk relevanten Stationen seines Lebens. Lavaters Beschäftigung mit den verschiedenen theologischen und literarischen Strömungen seiner Zeit, die sich sowohl auf sein dichterisches Schaffen wie auch auf seinen beruflichen Alltag als Pfarrer auswirkten, soll in einem biographischen Abriss dargestellt werden. Die Forschung gibt dazu einen breiten, viel Quellenmaterial berücksichtigenden Einblick. Ältere Arbeiten zu Lavaters Leben und Werk sind Olivier Guinaudeaus in ihrer Ausführlichkeit einzigartige Studie Etudes sur J.-G. Lavater,⁹ Georg Gessners Lebensbeschreibung,¹⁰ Franz Munckers Skizze seines Lebens und Wirkens¹¹ und Mary Lavater-Slomans subjektive, von ihrer Sympathie für den zu Beschreibenden geprägte Biographie Genie des Herzens.¹² Eine aktuelle, kurz und präzis alle wichtigen Stationen in Lavaters Leben und Werk festhaltende Arbeit stammt von Horst Weigelt.¹³ In der neueren Forschung sind mehrere Monographien und Sammelbände¹⁴ zu nennen, die Lavater als Theologen, Prediger und Philosophen,¹⁵ als politisch aktiven Bürger,¹⁶ als Tagebuchschreiber und Briefkorrespondenten,¹⁷ als Physiognomiker und als
9 Olivier Guinaudeau: Etudes sur J.-G. Lavater. Paris 1924. 10 Georg Gessner: Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann Georg Gessner. 3 Bde. Winterthur 1802/03. 11 Franz Muncker: Johann Kaspar Lavater. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens. Stuttgart 1883. 12 Mary Lavater-Sloman: Genie des Herzens. Die Lebensgeschichte Johann Caspar Lavaters. Zürich 1937. 13 Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater: Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991. 14 Vgl. v. a. Helmuth Holzhey, Simone Zurbuchen (Hg.): Alte Löcher – Neue Blicke. Zürich in 18. Jahrhundert: Aussen- und Innenperspektiven. Zürich 1997; Karl Pestalozzi, Horst Weigelt (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Göttingen 1994; Ulrich Stadler, Karl Pestalozzi (Hg.): Im Lichte Lavaters. Lektüre zum 200. Todestag. Zürich 2003. 15 Zur Theologie: Gerhard Ebeling: Genie des Herzens unter dem genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche. Hg. von Eberhard Jüngel. 89. Jahrgang 1992, Heft 1. Tübingen 1992 sowie Klaus Martin Sauer: Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741–1801). Darstellung und Quellengrundlage. Zürich 1988. Sauers Darstellung bekommt ihren internationalen Kontext durch Reinhard Krause: Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770–1805). Stuttgart 1965. Bezüglich Lavaters Beziehung zu Bonnet und dessen philosophisch-naturwissenschaftlichen Ansichten ist auf die Edition von Gisela Luginbühl-Weber hinzuweisen: Gisela Luginbühl-Weber: Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle. Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. 2 Halbbde. Bern 1997. 16 Aufsätze zur Grebel-Affäre, dem Wasen-Skandal und Lavaters politischer Aktivität in Bezug auf die Ereignisse in Frankreich zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts finden sich in den erwähnten Sammelbänden (vgl. Anm. 14). 17 Ursula Caflisch-Schnetzler hat sich in Zusammenhang mit dem von ihr bearbeiteten und edierten frühen Tagebuch Lavaters (Ursula Schnetzler: Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 1761. Zürich 1989) und seinen ‚Aussichten‘ (Johann Caspar Lavater: Aussichten in die
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unbelehrbaren Anhänger des Wunderglaubens und des Magnetismus¹⁸ darstellen und seine Wirkungsstätte Zürich illustrieren. Das Bild jener Zeit wird ergänzt durch die Arbeiten Paul Wernles¹⁹ und Martin Hürlimanns,²⁰ eine fundierte Beschreibung der kirchlichen Situation unter besonderer Berücksichtigung der pietistischen Einflüsse ist in dem Band Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz²¹ zu finden. Das geistige Umfeld, in dem Lavater aufwuchs und das ihn nachhaltig prägte und beeinflusste, ist im von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer herausgegebenen Band Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung²² in seinen vielseitigen Aspekten illustriert. Im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit geht es darum, Lavaters theologische Entwicklung zu dokumentieren. Ausgangspunkt ist die Theologie von Johann Joachim Spalding, die Lavater maßgeblich prägte. Nachdem sich dieser zunächst den theologischen Ansichten Spaldings in vielen Aspekten angeschlossen hatte, löste er sich später sukzessive davon ab und schlug in der Folge eine eigene christologische Richtung ein.²³ Im Fokus meiner Studie steht darum der hand-
Ewigkeit 1768–1773/78. In: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe [im Folgenden zitiert als JCLW für ‚Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe mit Band- und Seitenzahl]. Bd. II. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2001) ein großes Wissen über die mittlerweile in der ZB Zürich als Mikrofichen vorhandenen Briefe Lavaters erarbeitet. Eine interessante Analyse der Lavaterschen Tagebücher liefert Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode. Tübingen 1999. Ebenfalls hier zu nennen ist Horst Weigelt, der Lavaters späteren Reisetagebücher edierte (Johann Kaspar Lavater: Reisetagebücher. In: Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. 8, Bd. 3 u. 4. Göttingen 1997). Von unschätzbarem Wert ist das in der historisch-kritischen Lavater-Edition als Ergänzungsband erschienene Verzeichnis der Korrespondenz Lavaters (Johann Caspar Lavater: Verzeichnis der Korrespondenz und des Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich. Hg. von Christoph Eggenberger und Marlis Stähli. Zürich 2007 (Ausgewählte Werke in historischkritischer Ausgabe, Ergänzungsband). 18 Vgl. die in Anm. 14 erwähnten Sammelbände. 19 Paul Wernle: Der Schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. 3 Bde. Tübingen 1923–25. 20 Martin Hürlimann: Die Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung des Zürcher Protestantismus im 18. Jahrhundert. Leipzig 1924. 21 Lukas Vischer u. a.(Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz. Freiburg 1994. 22 Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. 23 Die für Lavater sehr wichtige Beziehung zu Spalding ist kaum erforscht, der einzige wichtige Aufsatz dazu: Peter Opitz: Der (unge)treue Schüler. Religiöse Selbstthematisierung bei Johann Joachim Spalding und Johann Caspar Lavater. In: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin und Udo Ströter. Leipzig 2006.
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schriftlich erhaltene Briefwechsel zwischen Lavater und Spalding. Dieser zeigt, dass Lavater seine Christologie aus der von Spalding und der neologischen Theologie gelehrten Glückseligkeits- und Unsterblichkeitstheorie heraus entwickelte. Basierend auf derselben Ausgangslage und dieselben Gedanken verwendend, die im neologischen Denken zu einer Moral- und Tugendlehre führten, leitete Lavater seine christozentrische Theologie ab. Lavaters christologische Lehre, die kaum mit schultheologischer oder schulphilosophischer Begrifflichkeit zu fassen ist, sich in eigenständiger oder gar eigenwilliger Weise in vielen Aspekten quer verhält zu den bestehenden ‚Strömungen‘ und aus diesen Gründen bisher in der Forschungsliteratur oft als unsystematisch bezeichnet wurde, soll auf der Basis seiner Predigten und seiner in Briefen an Spalding und an andere bedeutende Theologen der Zeit formulierten Aussagen als in Lavaters Denken folgerichtiger Gedankenkomplex erklärt werden. Lavaters Verwurzelung in der Neologie zeigt sich darin, dass es ihm in seiner Christologie wie den Neologen darum ging, Leitlinien für ein tugendhaftes Leben zu entwerfen. Durch das Studium von Charles Bonnets biologischer Entwicklungstheorie beeinflusst, entwarf Lavater eine Theorie, wonach alles Leben in einer stufenweisen Entwicklung hin zu der im Jenseits erreichbaren höchstmöglichen Vollkommenheit allmählich fortschreite. Wie Spalding sah Lavater Ziel und Zweck allen menschlichen Strebens darin, sich auf die jenseitige Seligkeit vorzubereiten, wobei das irdische Leben lediglich eine Etappe auf diesem Weg darstellte. Sich diese jenseitige Seligkeit als Idealzustand des Zusammenlebens in göttlicher Nähe und Vollkommenheit vorzustellen, nahm einen breiten Raum in Lavaters theologischem Denken ein und schlug sich auch in seinem literarischen Werk nieder: In den Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773/78) schilderte Lavater seine Jenseitsvisionen als spekulative Imaginationen, im Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn hielt er sich an die Visionen des Johannes auf Patmos, um sich Gedanken über eine erste und zweite Auferstehung und ein Leben nach dem Tod zu machen. Anhand von Lavaters Auseinandersetzung mit dem Werk des Genfer Naturwissenschaftlers Charles Bonnet (1720–1793), dessen Palingénésie er übersetzte, soll erläutert werden, wie Lavater seine Christologie auf dem Hintergrund von zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen entwickelte. Dass der mit Lavaters Bonnet-Übersetzung verbundene Versuch, den Juden Moses Mendelssohn zur Konversion zu bewegen, bisher in der Forschungsliteratur in einem Lavater zu negativ beleuchtenden Licht dargestellt wurde, hat Gisela Luginbühl-Weber ausführlich referiert.²⁴ Wie sie in ihrer Untersuchung erläutert, war Lavaters
24 Gisela Luginbühl-Weber: „… zu thun, … was Sokrates gethan hätte“: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit. In: Pestalozzi/Weigelt (Anm. 14).
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Widmung seiner Übersetzung der Schrift Bonnets an Moses Mendelssohn nicht das Resultat einer gezielten Bekehrung, sondern entstand spontan aus der Begeisterung heraus, die Lavater Bonnets Schrift entgegenbrachte und die seiner Meinung nach alle Leser des Werks teilen und zu überzeugten Christen machen würden. Der Glaube an das Weiterwirken des Heiligen Geistes in seinen ‚übernatürlichen‘ Wirkungen ist ein weiterer wichtiger Bestandteil von Lavaters Christologie und bildet gleichzeitig, wie es Kemper darstellt, die theologische Begründung, aus der heraus sich der Genie-Begriff des Sturm und Drangs entwickeln konnte.²⁵ Lavater war überzeugt davon, dass Gott sich den Menschen auch in der gegenwärtigen Zeit offenbaren und sie mit besonderen Gaben ausstatten kann und will. Daraus resultierte sein Interesse an Personen, die vorgaben, übernatürliche oder mediale Kräfte zu besitzen. Dass sich diese Menschen immer wieder als Betrüger entpuppten, hielt Lavater nicht davon ab, an seinem Glauben an die Wunderbegabung respektive an die Weiterwirkung des Heiligen Geistes festzuhalten. In diesem Zusammenhang sollen auch die Physiognomischen Fragmente (1775–1778) untersucht werden. Lavaters physiognomische Studien, in denen er viele bedeutende Persönlichkeiten anhand von Zeichnungen, Schattenrissen oder Kupferstichen zu charakterisieren versuchte, illustrieren seine Absicht, nach dem äußerlich sich zeigenden Göttlichen im Menschen zu suchen und auf Spuren der Transzendenz in der Immanenz zu stoßen. Lavaters Christologie zeichnete sich durch ihre Fokussierung auf den Menschen, auf sein Wesen, Handeln, Empfinden und Denken aus. Der christliche Glaube bestand für ihn nicht aus Theorien, Dogmen und Systemen; viel wichtiger als jedes theoretische Wissen waren ihm Gefühle, Intuitionen und emotionale Bewegung. Gott sollte nicht nur mit dem Verstand erfasst, sondern vor allem in der Seele empfunden werden, was zur Konzentration auf ein inneres Glaubenserlebnis führt. Die Bedeutung, die Lavater der praktizierten Frömmigkeit beimaß, und seine Betonung des seelisch empfundenen Glaubens erinnern an pietistische Frömmigkeitsformen. Es wird deshalb ebenfalls zur Untersuchung von Lavaters theologischer Entwicklung gehören, die vielseitigen Beziehungen zu den unterschiedlichen pietistischen Richtungen zu erläutern. Auf dem Hintergrund der unter verschiedenen Aspekten beleuchteten Entwicklung von Lavaters Christologie soll im dritten Kapitel Lavaters praktisch gelebte und gelehrte Religiosität untersucht werden. Lavaters Arbeit als Pfarrer ist her-
25 Vgl. Kemper (Anm. 6), S. 21.
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vorragend dokumentiert in Sauers Studie zur Predigttätigkeit.²⁶ Zeitgenössische Berichte über Lavaters Wirken finden sich bei Johann Georg Müller (1759–1819). Die Analyse seiner handschriftlichen Tagebücher und Briefe, die im Nachlass der SB Schaffhausen aufbewahrt sind, illustrieren eindrücklich nicht nur Lavaters alltägliche berufliche Tätigkeit, sondern auch seine große Ausstrahlungskraft und sein Charisma. Die kulturhistorische Forschung zu Lavaters Theologie dient als Basis für den literaturwissenschaftlichen Teil dieser Arbeit. In einer textvergleichenden Analyse werden Lavaters Messias-Epen Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn (1780) und Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen (1783– 1786) mit Herders zwei Nachdichtungen der Apokalypse, Johannes Offenbarung (1774) und Maran Atha (1779) und mit Klopstocks Der Messias (1748–1773) verglichen, und zwar konzentriert um die Themen der Eschatologie und Soteriologie. An diesen Themenkomplexen kristallisieren sich die spezifischen religiösen und bibelpoetischen Ansichten der drei Autoren, und zugleich bilden sie den Schnittpunkt, an dem sich die traditionelle christliche (Heils-) Lehre und der neuzeitliche Perfektibilitäts- und Fortschrittsgedanke treffen. Die Forschungsliteratur zu Klopstocks Messias²⁷ ist umfangreich und deckt poetologische, theologische, stilistische, gattungsspezifische und kulturhistorische Aspekte gleichermaßen ab. In der vorliegenden Studie wird Klopstocks Messias mit einem besonderen Fokus in den Blick genommen: Anhand ausgewählter Passagen soll gezeigt werden, dass Klopstock seine heilsgeschichtlichen Vorstellungen eng mit Bildern aus der Apokalypse verknüpft und somit in einen großen eschatologischen Zusammenhang bringt. Grundlegend für diese Analyse ist die zwar nicht zur neusten Forschungsliteratur zählende, aber immer noch gültige Ergebnisse enthaltende Arbeit von Gerhard Kaiser,²⁸ in der er Klopstocks Werk
26 Sauer (Anm. 15). 27 Da in der historisch-kritischen Klopstock-Edition nur die 1748 erschienenen ersten drei des zwanzig Gesänge umfassenden Messias ediert sind (Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck u. a. Hg. von Horst Gronemeyer u. a. Abt. Werke: IV, 3. Berlin/New York 1996. Im Folgenden zitiert als HKA für ‚Historisch-kritische Klopstock-Ausgabe‘ mit Band- und Seitenzahl), wird bei der Analyse der übrigen Gesänge die von August Schleiden herausgegebene Studienausgabe zitiert (Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. München 1962. Im Folgenden zitiert als MA für ‚Münchner Ausgabe‘ mit Gesangs- und Verszahl). 28 Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. 2. durchgesehene Auflage. Kronberg/Ts 1975.
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im theologischen Kontext untersucht. Ebenfalls zu erwähnen ist Dieter Martins Arbeit Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert,²⁹ in der gattungstheoretische Besonderheiten im Zusammenhang mit der von Klopstock intendierten Wirkung erörtert werden. Um die im eschatologischen Fokus stehende textimmanente Forschung zum Messias, um die es im vierten Kapitel geht, nicht losgelöst von der literarischen Tradition, in die sich Klopstocks Epos einreiht, zu betrachten, soll in einem ersten Schritt die Systemreferenz anhand der Geschichte der christlichen Epik untersucht werden. Das hierfür als Grundlage dienende Werk aus der sehr spärlichen Forschungsliteratur ist Georg Czaplas verdienstvolle Studie Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit,³⁰ das sich neben den rudimentären Erwähnungen in Literaturgeschichten erstmals ausführlich mit den gattungskonstitutiven Entwicklungen der sich seit der Spätantike breit entfaltenden Tradition des Bibelepos auseinandersetzt. Obschon Czapla stark auf die Überlieferungstradition eingeht, die in der vorliegenden Arbeit nur am Rand referiert wird, bilden die von ihm erläuterten Epen sowie die von ihm entwickelte Terminologie zur Gattungsbestimmung die Grundlage meiner Forschung zur Tradition der christlichen Epik. Einen zwar lückenhaften, aber trotzdem hilfreichen Versuch eines Überblicks über die gesamte christliche Epik gibt Max Wehrli in seinem Aufsatz Sacra Poesis. Bibelepik als europäische Tradition.³¹ Klopstocks eigene Reflexionen zur Gattungsgeschichte des Epos kommen in seiner Portenser Abschiedsrede zum Ausdruck. Diese ist bisher in der Forschungsliteratur nur zusammenfassend in Bezug auf die wichtigsten darin genannten Aspekte erläutert worden. Sie soll darum in der vorliegenden Studie ausführlich anhand von Carl Friedrich Cramers Übersetzung aus dem Lateinischen³² analysiert und kommentiert werden. Dabei wird nicht nur das ausgesprochene Sendungsbewusstsein, das der junge Klopstock hinsichtlich seiner Ambitionen als Ependichter ausstrahlte, sondern auch dessen differenzierte Beschäftigung mit der Tradition, in die er sich nicht nur einzureihen, sondern sie zu einem Höhepunkt zu führen gedachte, erörtert. Der von Klopstock auf die deutsche Sprache adaptierte Hexameter soll mit einer detaillierten Analyse der zwei Aufsätze Von der Nachahmung des griechi-
29 Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin/New York 1993. 30 Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos der Frühen Neuzeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Gattung. Berlin 2013 (Frühe Neuzeit 165). 31 Max Wehrli: Sacra Poesis. Bibelepik als europäische Tradition. In: Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung. Methoden. Probleme. Aufgaben. Stuttgart 1963. 32 Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er; und über ihn. Bd. I. 1724–1747. Hamburg 1780.
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schen Sylbenmasses im Deutschen (1755) und Vom deutschen Hexameter (1779) im Kontext der metrischen Diskussion der Zeit erläutert werden. Neben Klopstocks Messias war Herders Apokalypse-Paraphrase Maran Atha die zweite biblische Dichtung, die Lavaters Arbeit an seinen Messiaden entscheidend beeinflusst hat. Sie bildet den Kern der Textanalyse des fünften Kapitels. Obschon eines der Manuskripte und Maran Atha gedruckt vorliegen, gibt es kaum Forschungsarbeiten zu Herders intensiver Auseinandersetzung mit der Apokalypse. Diesem Manko Abhilfe zu verschaffen ist sowohl für die Herder- wie auch die Lavater-Forschung von großer Bedeutung, stellten doch Herders ApokalypseNachdichtungen eine von der Forschung bis anhin übersehene Kumulation von Herders theologischem, bibelpoetologischem und geschichtsphilosophischem Schaffen dar, was in Herders eigener Beurteilung von Maran Atha ersichtlich wird, und gehörten zu den Auslösern für Lavaters Nachdichtung der JohannesOffenbarung. Herder sieht in Maran Atha sein Meisterwerk, das gleichzeitig Höhepunkt und Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit sein soll. Er sei „des Schreibens müde“³³, so teilt er es im Frühling 1779 seinem Freund und Verleger Johann Friedrich Hartknoch (1740–1789) mit, und er „kehre gerne mit Einem, meinem letzten Buch u. Meisterwerk zu Dir wieder. Auf Michael muss es erscheinen; denn 1780 schreibe ich nicht mehr; es ist auf eine Zeit meine Ruhe ,u. Abschied‘ u. vielleicht gar mein Schwanengesang.“³⁴ Im Oktober desselben Jahres, kurz vor dem Druck, bestätigt Herder Hartknoch gegenüber seine Überzeugung, Maran Atha würde sein „Meisterstück und vielleicht das Ende meiner Autortage“³⁵ sein. Die für die vorliegende Studie beigezogene Forschungsliteratur liefert wichtige Grundlagen, um das sowohl der historisch-kritischen Bibelexegese geschuldete rationale Verständnis von Religion miteinschließende wie auch affektive, christologisch fokussierte Glaubensinhalte berücksichtigende theologische Denken Herders erörtern zu können. Zu nennen sind Thomas Zipperts Bildung durch Offenbarung³⁶ und Markus Buntfuss’ Studie Die Erscheinungsform des Christentums,³⁷ die Herders ästhetische Reflexionen vor dem Hintergrund seines historischen Religions- und Bibelverständnisses beleuchten. Das bereits von Irmscher
33 Herder an Hartknoch, 6. Mai 1779. In: WA Bd. 4, S. 88. 34 Ebd. 35 Herder an Hartknoch, 10. Okt. 1779. In: ebd., S. 103. 36 Thomas Zippert: Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks. Marburg 1994. 37 Markus Buntfuss: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette. Berlin 2004.
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angesprochene Desiderat einer umfassenden Darstellung zu Herders Theologie³⁸ ist aber bis heute unerfüllt geblieben, was nicht zuletzt auf die Vielschichtigkeit und die sich in verschiedenen Lebenssituationen stark verändernde und deshalb nicht systematisch fassbare Religionsauffassung Herders zurückzuführen ist – eine Tatsache, der in vorliegender Arbeit zwar Rechnung getragen wird, die aber auf Grund der Fokussierung auf bestimmte Zeiträume und deshalb fassbare theologische Entwicklungen und Ansichten weniger schwer ins Gewicht fällt. Die theologische Diskussion um die Johannes-Offenbarung spielte sowohl bei Herder wie auch bei Lavater eine wichtige Rolle. Um die jeweiligen exegetischen Standpunkte verstehen und einordnen zu können, muss ein Abriss über die Geschichte der Apokalypse-Exegese gegeben werden. Besondere Bedeutung kommt dabei der diesbezüglichen Diskussion im achtzehnten Jahrhundert zu, die anhand einiger exemplarischer Positionen, zu denen diejenige von Johann David Michaelis (1717–1791) und Johann Salomo Semler (1725–1791) gehören, erläutert werden soll. Den Hauptteil des fünften Kapitels stellt die Analyse von Herders Werken dar, die sich mit der Offenbarung des Johannes befassen. Das Manuskript gebliebene, aber in weiten Kreisen Deutschlands zirkulierte jambische Gedicht Johannes Offenbarung aus dem Jahr 1774 und das gedruckte Prosawerk Maran Atha von 1779 stellen das Produkt von Herders intensiver Beschäftigung mit der Exegese der Apokalypse dar. Dies wird belegt durch die Auswertung der fünf weiteren, Manuskript gebliebenen Apokalypse-Paraphrasen, die sich in Herders Nachlass erhalten haben und die hier erstmal einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. Herders geschichtliches Interesse, sein Studium der jüdisch-christlichen Kultur, seine bibelpoetologischen Ansichten und seine Sprachursprungstheorie fließen in den Apokalypse-Nachdichtungen zusammen. Mit der Interpretation von Herders Maran Atha und der werkgeschichtlichen Einordnung soll eine Lücke in der Herder-Forschung geschlossen und Herders Bild als Geschichtsphilosoph und Theologe um wichtige Aspekte ergänzt werden. Zu Lavaters eigenen Messiaden, die im sechsten Kapitel der vorliegenden Arbeit untersucht werden, gibt es kaum Forschungsliteratur. Über die bloße Erwähnung der Epen Lavaters hinaus, wie sie öfter begegnet, so in der bibliographischen Erfassung aller im achtzehnten Jahrhundert geschriebenen Epen von Martin in seiner Studie über das deutsche Versepos im achtzehnten Jahrhundert³⁹ oder in Christian Janentzkys J. C. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines
38 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 29. 39 Martin (Anm. 29).
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religiösen Bewusstseins,⁴⁰ wird hier erstmals eine ausführliche Analyse dieser Texte unternommen. Diese soll einerseits auf Lavaters im zweiten und dritten Kapitel der vorliegenden Studie erarbeiteten Christologie Bezug nehmen, andererseits aber auch ein intertextueller Vergleich mit den Werken Klopstocks und Herders darstellen. In der Gegenüberstellung von Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn mit Herders Maran Atha werden Passagen herausgegriffen, in denen sich Lavater auf Herder bezieht und in seine poetische Ausgestaltung exegetische Kommentare aus Herders Paraphrase einfließen lässt. Daneben wird auch auf Stellen eingegangen, die Lavaters Christologie in ihren zentralen Aspekten beleuchten und ihm dadurch als Mittel dienten, die in der Theologie seiner Zeit vernachlässigte Bedeutung Jesu Christi als Sohn Gottes und als Heilsbringer zu verkünden und in neuer dichterischer Form verständlich zu machen. Das zweite Epos Lavaters, das vierbändige Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen steht in engem Zusammenhang mit Klopstocks Messias, wie ein Vergleich zwischen diesen zwei Epen zeigen wird. Es werden Hinweisen nachgegangen, die auf einen eventuellen dichterischen Agon schließen lassen. Dass es Lavater bei der soteriologischen und eschatologischen Bedeutung gerecht werdenden Darstellung Jesu Christi primär um eine bibelgetreue Nacherzählung geht, verweist auf die theologisch unterschiedliche Fokussierung und macht deutlich, dass Lavater auch in poetologischer Hinsicht von Klopstock differenzierenden Ambitionen nachging: Wo Klopstock die biblische Vorlage in den Dienst seiner poetologischen Reflexionen stellte und es ihm vor allem darum ging, die ‚Erhabenheit‘ seiner Theorie mit einem in der Bedeutung angemessenem Inhalt zu verbinden, verpflichtete sich Lavater der getreuen Nacherzählung der biblischen Quellen, um deren Inhalt im erhabenen und gleichsam einprägsamen Metrum des Hexameters einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In einem Fazit werden die Ergebnisse der Arbeit mit Blick auf die Zielsetzung zusammengefasst und ausgewertet.
40 Christian Janentzky: J. C. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewusstseins. Halle a.S. 1916.
2 Die Entwicklung von Lavaters Christologie auf dem Hintergrund der theologischen Strömungen seiner Zeit Lavaters theologische Entwicklung hin zu seiner christozentrischen Glaubensauffassung findet in stetiger Auseinandersetzung mit den theologischen Strömungen seiner Zeit statt. Die wichtigste dieser Strömungen, von der sich Lavater zuerst in wesentlichen Aspekten prägen ließ, deren Überzeugungen er aber dann seinen eigenen Anforderungen gemäß modifizierte und der er, als Konsequenz dieser Modifikationen, immer kritischer gegenüberstand, war die Neologie. Der Begriff der ,Neologie‘, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts zur Bezeichnung von neuen lexikalischen Ausdrücken etablierte, fand ab Beginn der 1760er Jahre Eingang in die theologische Fachsprache und bezeichnete eine neue Form der protestantischen Aufklärungstheologie. Er wurde zwar in der zeitgenössischen Diskussion meist pejorativ verwendet, galt aber seit dem zwanzigsten Jahrhundert als wertneutrale Bezeichnung,⁴¹ als die er auch in vorliegender Arbeit verwendet werden soll. Ein wichtiges Kennzeichen der neologischen Theologie ist die Loslösung von der orthodoxen Dogmatik, anstelle derer ein auf Erfahrung und Gefühl beruhender, individueller Glauben trat, der sich durch seine religiösweltanschauliche Toleranz auszeichnete.⁴² Wie sich das spezifische neologische Gedankengut auf Lavaters Christologie, entweder inspirierend oder als Abwendung von ihm verstanden, auswirkte, soll im Folgenden erläutert werden. Im Zentrum der frühen Entwicklung von Lavaters Christologie stand dabei vor allem die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, die sowohl in Lavaters Theologie wie auch in derjenigen der Neologen einen wichtigen Grundpfeiler bildete. Später waren es dann die soteriologischen Ansichten der Neologen, denen Lavater zunehmend kritischer gegenüberstand und die schließlich dazu führten, dass er seine eigene Christologie, obschon er stets dem neologischen menschlichen Fortschrittsgedanken verpflichtet blieb, in direkter Opposition gegen die neologische Theologie verstand und lehrte. Um diese Entwicklung verstehen zu können, müssen die verschiedenen Voraussetzungen erörtert werden, die Lavaters Denken und Interesse prägten. Dazu gehört Lavaters Studium der religiös motivierten, evolutionsbiologisch bzw. -philosophisch argumentierenden Entwicklungstheorie von Charles Bonnet (1720–1793), in dessen Zusammenhang Lavater den Juden Moses Mendelssohn vom Christen-
41 Vgl. Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland. Göttingen 2006, S. 248. 42 Vgl. ebd., S. 249.
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tum zu überzeugen versuchte. Erst dann ist es möglich, Lavaters Christologie und den aus ihr hervorgehenden Wunderglauben und die Lehre der Physiognomik verstehen zu können. Die sich aus Lavaters Christologie ergebenden Anknüpfpunkte an pietistisches Gedankengut sind ebenfalls Inhalt der folgenden Erläuterungen.
2.1 Unsterblichkeitsliteratur Ausgangspunkt für die Entwicklung von Lavaters Christologie war der Diskurs über die Sinnfrage menschlichen Lebens, über Absicht, Verlauf und Ziel des irdischen Daseins; ein Diskurs, der im Zuge der Aufklärung und der damit einhergehenden Infragestellung der kirchlichen Autorität eine neue Bedeutung gewann. Der Mensch der Aufklärung charakterisierte sich durch Eigenverantwortung, er leitete seine Rechte und Pflichten nicht mehr unreflektiert aus der Dogmatik ab, sondern setzte sich auf der Grundlage seines Verstands damit auseinander. In seiner neuen Selbstverantwortung sah sich der aufgeklärte Mensch mit Grundsatzüberlegungen konfrontiert, die Immanuel Kant (1724–1804) mit den vier Fragen ‚was kann ich wissen?‘, ‚was soll ich tun?‘, ‚was darf ich hoffen?‘ und ‚was ist der Mensch?‘ treffend auf den Punkt gebracht hatte. Der Diskurs über Sinn und Ziel menschlichen Handelns setzte aber bereits fünfzig Jahre vor Kants Kritiken ein, mit Spaldings programmatischer, 1748 erschienener Schrift Die Bestimmung des Menschen.⁴³ Dass Spaldings Werk den Nerv der Zeit getroffen hat, zeigt die Zahl der Nachfolgeschriften zu diesem Thema, die sich allein in den 1750er Jahre auf mehr als fünfzig Neuerscheinungen belief.⁴⁴ Spalding formuliert die zentrale Frage zur Motivation für sein epochemachendes Werk über die Bestimmung des Menschen folgendermaßen: „Es ist doch einmal der Mühe wehrt, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll.“⁴⁵ Programmatisch war die Ansicht, der Mensch sei dafür bestimmt, nach Vollkommenheit des Geistes zu streben, die sich dem Postulat der Aufklärung gemäß in einem tugendhaften, vernunftgeleiteten Leben zeige. Die Erkenntnis von Recht und Unrecht, von Moral und Rechtschaffenheit, die zu Harmonie und
43 Zur Begriffsgeschichte der ‚Bestimmung des Menschen‘ und deren Höhepunkt und Erschöpfung im achtzehnten Jahrhundert vgl. Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. 44 Vgl. Luginbühl-Weber: „… zu thun, … was Sokrates gethan hätte“ (Anm. 24), S. 115. 45 Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen (1748; 1749; 1752; 1754; 1759; 1763; 1768; 1774; 1794). Hg. von Albrecht Beutel u. a. Tübingen 2006, S. 1.
Unsterblichkeitsliteratur
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Glückseligkeit der Seele führe, sei die eigentliche Bestimmung des Menschen hin zu seiner Vollkommenheit.⁴⁶ Dem in theologischen Kreisen gewichtigen Problem, inwiefern eine solche Anthropologie noch an die Religion gebunden sei, begegnete Spalding, indem er Gott als anzustrebendes höchstes Ziel festsetzte: Nur das macht mich noch zu etwas, dass ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann. Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen. Ich will nicht eher stehen bleiben, als bis ich der Schönheit bis zu ihrer ersten Quelle gefolget bin. Da soll dann meine Sele ruhen. Da soll sie in allen ihren Fähigkeiten vergnüget, in allen ihren Treiben befriediget, satt von göttlichem Licht, und entzückt in den Verehrungen und Anbetungen der obersten allgemeinen Vollkommenheit, alles niedere und sich selbst vergessen.⁴⁷
Mit Gott als Ziel allen menschlichen Vollkommenheitsstrebens und der Tugend als dazu benötigtes Mittel hatte Spaldings Bestimmung des Menschen bereits zwei Aspekte angesprochen, die zu der aufgeklärten Theologie seines Zeitalters gehörten; auch mit dem dritten, der Unsterblichkeit der Seele, beschäftigte sich Spalding in seinem Werk. Er ist überzeugt, dass die Zeitspanne des irdischen Lebens zu kurz ist, um eine vollkommene Tugendhaftigkeit zu entfalten und deren Früchte in vollen Zügen genießen zu können: Ich bin also für ein anderes Leben gemacht. Die gegenwärtige Zeit ist nur der Anfang meiner Dauer; es ist meine erste Kindheit, worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde; Tage der Zubereitung, die mich zu einem neuen und edlern Zustande geschickt machen sollen.⁴⁸
Auch folgert er aus der Annahme eines gerechten Gottes, dass der Mensch für die Mühsal und den Schmerz, die er im irdischen Leben ertragen muss, im Jenseits belohnt werden wird.⁴⁹ Lavater hatte sich intensiv mit dem Werk Spaldings auseinandergesetzt, die Bestimmung des Menschen steht denn auch mit dem Kurzkommentar „klassisch; unvergleichlich. einzeln“⁵⁰ an erster Stelle seiner Leseliste, auf der er alle bis zum
46 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Lessings Fragment ‚Die Religion‘ und das Saatgut, das in ‚Die Erziehung des Menschengeschlechts‘ aufgegangen ist. In: Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin/New York 2011, S. 59. 47 Spalding: Bestimmung (Anm. 45), S. 16. 48 Ebd., S. 22. 49 Vgl. Mahlmann-Bauer: Lessings Fragment ‚Die Religion‘ (Anm. 46), S. 60. 50 Ursula Caflisch-Schnetzler: „Wegzuleuchten die Nacht menschlicher Lehren, die Gottes Wahrheit umwölkt.“ Johann Caspar Lavaters literarische Suche nach dem Göttlichen im Men-
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Jahr 1768 gelesenen Titel aufgeführt hatte. Daneben finden sich in Lavaters Leseliste zwei weitere Werke, die sich mit der Unsterblichkeit der Seele befassen. Es handelt sich dabei um Moses Mendelssohns Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen (1767) und Israel Gottlieb Canz’ (1690–1753) Ueberzeugender Beweis aus der Vernunft. Von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders der Kinder-Seelen (1747).⁵¹ Die gut verständliche Schreibweise, die Lavaters Erachten nach den Phädon auch für Kinder sehr empfehlenswert mache, haben ihn überzeugt und lassen ihn Mendelssohns Werk als „sehr lesenswert“⁵² charakterisieren, zugleich führt Lavater aber an, dass viel Hypothetisches darin zu finden sei. Weniger positiv fällt Lavaters Urteil über Canz’ Von der Unsterblichkeit der Seele aus, er betrachtet es lediglich als „gut für s. [eine] Zeit, aber unvermögend zum Überzeugen.“⁵³ Seinen eigenen literarischen Beitrag über die Unsterblichkeit der Seele lieferte Lavater 1768 mit seinen Aussichten in die Ewigkeit. Lavater hatte sein Werk ursprünglich als Lehrgedicht geplant, da er sich aber schwer damit tat, ein geeignetes Metrum zu finden, veröffentlichte er es in Form von Briefen, die er an seinen Freund Johann Georg Zimmermann adressierte. Lavater beschreibt in seinen Aussichten, wie er sich das Leben nach dem Tod vorstellt. Die plastische Darstellung des Jenseits zeugt von seiner dichterischen Phantasie, die ursprüngliche Form des Lehrgedichts lässt aber erahnen, dass es Lavater neben literarischem Streben auch darum ging, einen philosophisch-theologischen Beitrag zu der Frage um Zustand und Beschaffenheit der Seele nach dem Tod zu liefern. Lavater wollte seine Unsterblichkeitslehre aus den biblischen Zeugnissen ableiten und beweisen, dass „ihre [der Bibel] Lehren in einem erhabenen Sinn philosophisch“⁵⁴ seien. Er lehnte sich dabei in vielen Aspekten an die evolutionsbiologische Argumentation vom Genfer Philosophen und Naturwissenschaftler Charles Bonnet (1720–1793) an, wie im folgenden Kapitel erläutert wird.
schen, dargestellt an den Wurzeln der Zürcher Aufklärung. In: Lütteken/Mahlmann (Anm. 22), S. 514. 51 Vgl. ebd., S. 518, S. 523, S. 525. 52 Ebd., S. 523. 53 Ebd. 54 JCLW II, S. 98.
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2.2 Lavaters Beschäftigung mit der Philosophie Bonnets Bonnet übte mit seinen Werken einen großen Einfluss auf Lavater aus. 1766 las Lavater Bonnets Abhandlung Contemplation de la Nature (1764), die er als „salbungsvollste, richtigste, kürzeste vortreflichste Naturhistorie“⁵⁵ bezeichnete. Dieses Werk war es denn auch, das Lavater seinen eigenen Aussagen gemäß dazu bewogen hatte, seine wohl bereits begonnenen, aber unterbrochenen Aussichten in die Ewigkeit fortzusetzen. So ist im ersten Brief der Aussichten zu lesen: „Bonnets Betrachtungen über die Natur fiel mir in die hand. Das Hauptstück von der höchsten Vollkommenheit vermischter Wesen fachte meine von den bereits hingeworfenen Reimen noch nicht ganz erkaltete Imagination von neuem an.“⁵⁶ Es ist darum nicht weiter erstaunlich, dass Lavater Bonnet als geistigen Vater seiner Aussichten bezeichnet⁵⁷ und die Contemplation de la Nature als eine Art von Bibel betrachtete, die ihm die richtige Bibel noch schätzbarer mache.⁵⁸ Lavater erwähnte auf seiner Leseliste auch Bonnets Werk Essay de Psychologie; ou considérations sur les opérations de l’âme, sur l’habitude et sur l’éducation aus dem Jahre 1754, das seiner Meinung nach voll „neuer, erhabner Gedanken“⁵⁹ war. Am meisten jedoch begeisterte Lavater Bonnets Palingénésie philosophique⁶⁰ von 1769; seine Wertschätzung war so hoch, dass er sich entschloss, eine deutsche Übersetzung anzufertigen, die er noch im Erscheinungsjahr des Originals fertig stellte. Bonnets Palingénésie resp. deren zweiten, bei Kapitel 16 beginnenden Teil, den Lavater zuerst als selbständigen Band veröffentlichen wollte, verfolgt eine ähnliche Absicht wie Spaldings Bestimmung des Menschen. Bonnet will aufzeigen, dass der Sinn des menschlichen Strebens darin besteht, eine über das irdische Leben hinausgehende größtmögliche Glückseligkeit zu erlangen, die in Tugend und Moralität im Diesseits und in der ewigen Seligkeit im Jenseits ihren Ausdruck findet. Stärker als Spalding stützt Bonnet seine Lehre auf die Bibel. Bonnets Ansicht nach ist jede Frage über Sinn, Zweck und Absicht des menschlichen Daseins in der göttlichen Offenbarung beantwortet; da diese aber im Zuge des aufkommenden Ratio-
55 Caflisch-Schnetzler: Wezuleuchten (Anm. 50), S. 525. 56 Vgl. Lavater an Bonnet, 18. Dez. 1768. In: Luginbühl-Weber: Lavater–Bonnet–Jacob Bennelle (Anm. 15), 1.Halbd., S. 5. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Brief an Johann Georg Zimmermann vom 10. Dez. 1765. In JCLW II, S. XXII. 59 Caflisch-Schnetzler: Wegzuleuchten (Anm. 50), S. 525. 60 Charles Bonnet: La Palingénésie Philosophique, ou idées sur l’état passé et l’état futur des êtres vivans. Ouvrage destiné à servir de Supplément aux derniers Écrits de l’Auteur, Et qui conduit principalement le Précis de ses Recherches sur le Christianisme. 2 Tomes. Genève 1769.
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nalismus nicht mehr verstanden wird, muss in seinen Augen ein neuer Weg gefunden werden, auf dem die Bibel durch empirische Evidenz bestätigt wird: J’ai donc été conduit par une marche aussi neuve que philosophique à m’occuper des Fondemens de ce Bonheur; & parce qu’ils reposent principalement sur la Révélation, l’Examen logique de ses Preuves est devenu la Partie la plus importante de mon Travail.⁶¹
Bonnet beabsichtigte also, eine Glückseligkeitslehre zu formulieren, die naturwissenschaftlich-philosophisch begründet ist und sich mit den biblischen Offenbarungswahrheiten in Einklang bringen ließ. Er richtete sein Werk explizit an Christen, die im Zuge der rationalen Welterklärung an der Wahrheit biblischer Zeugnisse zweifeln: On comprend que cette Esquisse ne pouvait être mise à la portée de tous les Ordres de Lecteurs. Je l’ai dit: je la destinois à ceux qui doutent de bonne foi, & en général le Peuple ne doute guères. Une Méthode & des Principes un peu philosophiques ne sont pas faits pour lui, & heureusement il n’en a pas besoin.⁶²
Bonnets in der Palingénésie ausgeführte Glückseligkeitslehre basiert auf einer ontologischen und einer moralischen Lehre, die beide darauf hinauslaufen, die Auferstehung und das ewige Leben nach dem Tod zu beweisen. Bonnet geht davon aus, dass jeder Mensch sich aus einem von Gott gegebenen und daher aus göttlicher Substanz bestehendem Keim heraus zu unterschiedlichen Vollkommenheitsstufen entwickelt. Die göttliche Substanz sei zwar unveränderlich, in Form des Körpers habe aber Gott den Menschen die Möglichkeit gegeben, einmalig und daher veränderlich zu sein. Nach Bonnet besitzt der Mensch eine Sonderstellung unter den Lebewesen, denn er setzt sich aus zwei untrennbar miteinander verbundenen Substanzen zusammen: L’homme est un Etre-mixte: il résulte de l’Union de deux Substances. L’Espèce particuliere de ces deux Substances, & si l’on veut encore, la manière dont elles sont unies, constituent la Nature propre de cet Etre, qui a reçu le nom d’Homme, & le distinguent de tous les autres Etres.⁶³
Da sich der Mensch nur durch seine körperliche Ausdehnung individualisieren kann, so Bonnets Lehre, ist er auch nach seinem Tod auf eine Art von Körperlichkeit angewiesen. An diesem Punkt unterscheidet sich Bonnets Unsterblich-
61 Bonnet (Anm. 60), Tome Premier, S. XI. 62 Ebd., S. XIV. 63 Ebd., Tome Second, S. 128.
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keitslehre von derjenigen Spaldings und auch Mendelssohns, die auf der Grundlage der Wolffschen Philosophie davon ausgehen, dass der Körper verwest und lediglich die Seele als immaterielle Substanz weiterbesteht. Bonnets Theorie über das Wesen des Menschen, das auch nach dem Tod als ,être-mixte‘ weiterexistiert – Bonnet stellt sich die Form, die Körperlichkeit als eine zwiebelartige Ummantelung vor, aus der heraus sich der eigentliche Keim den verschiedenen Entwicklungsstufen gemäß enthüllt –, erinnert an 1Kor. 15,40, wo auf himmlische und irdische Körper hingewiesen wird. Auch die Auferweckung zu einem überirdischen Körpers gemäß 1Kor. 15,44 kann Bonnet mit seiner Theorie des ,êtremixte‘ widerspruchsfrei erklären und somit im Gegensatz zu Spalding, der die menschliche Auferstehung vom Tod symbolisch versteht, seinen Glauben an eine reale, körperliche Auferstehung untermauern: Si un Etre, formé essentiellement de l’Union de deux Substances, étoit appellé à durer, il dureroit comme Etre-mixte ou il ne feroit plus le même Etre. Je l’ai prouvé. Le Dogme de la Résurrection est donc une Conséquence immédiate de la Nature de l’Homme. Il est donc un Dogme très philosophique. Ceux qui veulent tout ramener à l’Ame oublient l’Homme.⁶⁴
Somit hatte Bonnet eine Ontologie entwickelt, auf deren Grundlage sich logisch erklären ließ, dass der Mensch durchaus auch aus naturwissenschaftlichen Gründen für ein an eine Körperlichkeit gebundenes Leben nach dem Tod konzipiert ist. Mit dieser Theorie würde Bonnet die Lehre von der Seele endlich wieder von ihren philosophischen Fehlinterpretationen zurück auf den christlichen Weg führen, so Lavaters Ansicht.⁶⁵ Indem Bonnet die jenseitige Existenz nicht losgelöst von Materie betrachtet, war seiner Meinung nach der christliche Auferstehungsglaube in seinem Literalsinn bestätigt und naturwissenschaftlich-philosophisch begründet. Entsprechend enthusiastisch war Lavaters Urteil:
64 Ebd., S. 402 f. 65 In seinen Anmerkungen zur Übersetzung von Bonnets ‚Palingénésie‘ schrieb Lavater: „Die sogenannte Philosophie aller Zeiten hat den Körper vernachlässigt, verachtet, und sich nur auf die Seele gerichtet, die doch ohne den Körper überall unerkennbar, unwirksam, todt und eben so viel als nicht ist. […] Sie [die Bibel] behauptet einer mehr als siebenzehnhundertjährigen Philosophie zum trutz, dass der Mensch in dem gegenwärtigen und zukünftigen Leben bloss durch den Körper sey, was er ist“ (Johann Caspar Lavater: Herrn C. Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater. Erster Theil. Zürich 1770. Anm. 5, S. 61).
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Ich habe bey dem Durchlesen dieses vortrefflichen Werkes tausendmal gewünscht, dass alle Menschen in der Welt die Wahrheit und Bündigkeit der Beweise für das Christenthum, die ich in demselben antraf, in demjenigen Lichte einsehen möchten, in welchem sie mir einleuchteten. Noch niemals, deuchte mir, war die Logik so gut zur Untersuchung des Christenthums, und die Philosophie zur Aufklärung besonderer Lehrsätze desselben genutzt worden.⁶⁶
Bonnet betrachtet die Bestimmung des Menschen aber auch unter moralphilosophischem Aspekt. Seine diesbezüglichen Überlegungen decken sich weitgehend mit denjenigen Spaldings. Der Mensch sei zur Glückseligkeit bestimmt, diese liege in einem tugendhaften Leben, das ihm helfe, stetig voranzuschreiten in seiner Entwicklung hin zur Vollkommenheit: „Le Bonheur est donc la grande Fin de mon Etre. […] J’entends en général par le Bonheur, tout ce qui peut contribuer à la Conservation & au Perfectionnement de mon Etre.“⁶⁷ Ähnlich wie Spalding argumentiert Bonnet, dass die zur Glückseligkeit nötige moralische Vollkommenheit nur angestrebt werden kann, wenn sie durch den Glauben an ein jenseitiges, als Belohnung wartendes Leben motiviert ist. Um sich moralisch zu vervollkommnen und glücklich zu sein, brauche der Mensch eine über die bloße Wahrscheinlichkeit hinausgehende Gewissheit von seiner postmortalen Weiterexistenz. Wo bei Spalding jedoch der Mensch durch die Einsicht in seine eigene moralische und seelische Perfektibilität erkennt, dass er für ein Leben nach dem Tod geschaffen ist, braucht es für Bonnet über die Vernunft hinausgehende Beweise, die nicht im Verstand, sondern in der göttlichen Offenbarung gesucht werden müssen, was ihn vor die Aufgabe stellt, die Wunderberichte evident zu machen. Bonnet bezeichnet die Wunder als „Modifications“⁶⁸ der Naturgesetze, die allein dem göttlichen Willen unterliegen und über die Grenzen des dem menschlichen Verstand Einsichtigen hinausgehen. Um von der Wahrheit der biblischen Wunderberichte überzeugt zu werden, müsse man die überirdischen Ereignisse im Erfahrungs- und Wissenshorizont der damaligen Zeit betrachten.⁶⁹ Bonnet räumt am Schluss seiner Untersuchung ein, dass die christlichen Wahrheiten nicht mit absoluter Gewissheit bewiesen werden können: „Je ne dirais point, que la Vérité du Christianisme est démontrée: cette expression admise & répétée,
66 Johann Caspar Lavater: Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater. Zürich 1769, S. 2v. 67 Bonnet (Anm. 60), Tome Second, S. 168 f. 68 Ebd., S. 175. 69 Ebd., S. 204 f.
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avec trop de complaisance, par les meilleurs Apologistes, seroit assurément trop impropre.“⁷⁰ Anderer Meinung war Lavater, der in Bonnets Palingénésie dasjenige Werk sah, das so dringend nötig war, um der Aufklärungstheologie Gegensteuer zu geben: eine Apologie der Bibel, deren Argumente, da auf empirische Evidenz abgestützt, unwiderlegbar und somit gleichwertig wie die rein rational deduzierte Philosophie seien. Lavaters erste Übersetzung der Bonnetschen Palingénésie umfasste denn auch nur den apologetischen Teil, den Lavater unter dem Titel Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen⁷¹ veröffentlichte. Es handelt sich dabei um die letzten sieben Kapitel von Bonnets Palingénésie, die in der Zeit entstanden waren, als Lavater mit Bonnet in Briefkontakt stand. Aus diesem Briefwechsel wird ersichtlich, dass sich nicht nur Lavater von Bonnet hat anregen lassen, sondern dieser selbst von Lavaters Ideen profitieren konnte. In der Vorrede seiner Übersetzung schreibt Lavater: Von meinen Anmerkungen will ich nicht viel sagen: Die wenigen, die eine Beziehung auf die Aussichten in die Ewigkeit haben, und die ich leicht noch hätte häufen können, wenn ich alle die frappanten Aehnlichkeiten zwischen dieses Verfassers Vermuthungen und den meinigen hätte nachzeigen wollen, wird man einer unschuldigen Eigenliebe zu gut halten.⁷²
Das Aufsehen in der Öffentlichkeit, das Lavater mit seiner Übersetzung erregte, entsprang weniger dem Inhalt als dem vorangestellten Widmungsschreiben, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
70 Ebd., S. 400. 71 Lavater: Philosophische Untersuchung (Anm. 66). Im selben Jahr veröffentlichte Lavater diesen Teil ein zweites Mal, allerdings unter Weglassung der Widmung und der Vorrede, mit dem Titel: Herrn C. Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfasser, und welcher insonderheit das Wesentlich seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater. Zweyter Theil. Zürich 1769. Der erste Teil von Bonnets ‚Palingénésie‘ (Kapitel 1–15) erschien 1770 mit dem Titel: Herrn C. Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater. Erster Theil. Zürich 1770. 72 Lavater: Philosophische Untersuchung (Anm. 66), S. 4r.
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Die Entwicklung von Lavaters Christologie
2.3 Moses Mendelssohn und der vermeintliche Bekehrungsversuch Der Bekehrungsstreit zwischen Lavater und Moses Mendelssohn zeigt Lavaters Ambitionen als Theologe, und diese sind nicht oder nur marginal in der Bekehrung des Juden Moses Mendelssohn zu suchen. Die Absicht, die hinter Lavaters Widmung steht, tangiert drei verschiedene Bereiche, bei denen Lavaters philosophische, theologische und spezifisch christologische Absichten eine Rolle spielen.⁷³ Die Bedeutung philosophischer Argumentation respektive der Wahrheitsanspruch logisch hergeleiteter Schlüsse erkannte Lavater in der Auseinandersetzung mit der aufgeklärten, vor allem neologischen Theologie, von der er sich zwar bereits entfernt hatte, der er aber, was Beweisführung und Stichhaltigkeit anbelangte, mit seiner eigenen Lehre in nichts nachstehen wollte. Eine philosophisch-naturwissenschaftliche Beweisführung für das Christentum, wie sie Bonnet in seiner Palingénésie entwickelte, musste für Lavater dasjenige Werk gewesen sein, das es brauchte, um sich im aufgeklärten Diskurs um Religionswahrheiten beteiligen zu können. Um auch wirklich eine Stimme zu haben in diesem Diskurs, brauchte es aber nicht nur das einschlägige Werk, sondern einen zu Antworten auffordernden Anlass, den Lavater in seinem Widmungsschreiben sah. Was Lavater also wirklich beabsichtigte, war ein in der Öffentlichkeit ausgetragener philosophischer Diskurs über die Auferstehung, Vollkommenheit und ewige Seligkeit beinhaltenden Wahrheiten des Christentums, den er wiederum für seine Christologie instrumentalisieren wollte. Mit Mendelssohn als Adressaten hatte er einen würdigen Philosophen gefunden, der, so Gisela Luginbühl-Webers Interpretation, als Jude eine objektive Position hätte einnehmen sollen:
73 Eine ausführliche Studie zum Bekehrungsstreit, die sich mit dem jüdischen Kontext auseinandersetzt und erörtert, inwiefern Lavaters Versuch die im achtzehnten Jahrhundert herrschenden antijüdischen Tendenzen untermauert oder aber ein Resultat davon ist, liefert Dominique Bourel: Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Zürich 2007, S. 279–318. Bourel stellt Lavaters Bekehrungsversuch in den Zusammenhang der Chiliasmus-Diskussion. Anhand von Lavaters ‚Aussichten‘ zeigt er, dass Lavater, angelehnt an pietistische Strömungen, von einer allgemeinen Judenbekehrung im Millennium ausgeht – was Lavater später aber, wie in vorliegender Arbeit aufgezeigt wird, relativiert. Gut recherchiert und in vorliegender Arbeit nicht weiter erläutert sind Bourels Ausführungen zur Reaktion auf den Bekehrungsstreit. Der antijüdische Angriff auf Mendelssohn durch Johan Balthasar Kölbele (1722–1778) wird dabei ebenso analysiert wie die Reaktionen der wortführenden Aufklärungstheologen (vgl. Bourel, Moses Mendelssohn, S. 301–311).
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Der Briefwechsel mit einem Philosophen, noch dazu mit einem nichtchristlichen, hätte garantieren können, dass die Diskussion nicht zur Polemik um theologische Streitpunkte ausarte – was mit dem Hinweis auf Sokrates in der Widmung angedeutet wird. Denn es ging Lavater um einen breit angelegten Feldzug für Gott und Unsterblichkeit und kontra die materialistischen Tendenzen der Epoche, nicht um einen verspäteten Bekehrungsversuch im Zeitalter der Aufklärung, der auch und vor allem im Zürich Bodmers und Breitingers passé war.⁷⁴
Die Bekehrung des Juden Mendelssohn war also nicht der eigentliche Zweck von Lavaters Widmung, es kann aber nicht geleugnet werden, dass Lavater sehr wohl davon ausging, sie als logische Konsequenz der Bonnetschen Beweisführung für das Christentum erwarten zu dürfen. Würde dies eintreten, so Lavaters Überlegung und somit ein weiterer Aspekt seiner Motivation für die Widmung, könnte er sie als Beweis einsetzen für einen zentralen Aspekt seines religiösen Denkens: die Kraft des Glaubens und des Gebets.⁷⁵ Zeitgleich mit seiner Bonnet-Übersetzung beschäftigte sich Lavater mit den Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes, die er im September 1769 an seine Freunde verschickte. Aus dieser fast parallel verlaufenden Arbeit sind denn auch Lavaters erste Überlegungen zu einem Adressaten seiner Widmung hervorgegangen. In Bonnets Palingénésie sah Lavater einen neuen Zugang, um die Weiterwirkung des Heiligen Geistes glaubhaft zu machen. Lavater verbindet die Wahrheit über die biblischen Zeugnisse mit dem Beweis über die Fortdauer der Wirkungen des Heiligen Geistes; wenn die Wunder der Bibel als solche Ausflüsse bewiesen werden könnten, wäre zu erwarten, dass man auf weitere Wunder hoffen dürfte. Die Beweise für das Christentum und damit einhergehend die Evidenz der Berichte über außergewöhnliche Ereignisse sind also gemäß Lavater Voraussetzung dafür, an die Fortdauer der Wirkungen des Heiligen Geistes glauben zu können. Der erste in Betracht gezogene Adressat ist denn auch Spalding,⁷⁶ der sich sehr negativ über Lavaters Lehre von der Wunderkraft des Gebets äußerte: „Herr Spalding ist immer noch sehr weit von meinen Ideen entfernt … aber die Gründe, die er mir anführt, sind in der That blutschlecht und seines sonstigen
74 Luginbühl-Weber: „… zu thun, … was Sokrates gethan hätte“ (Anm. 24), S. 125. 75 Vgl. Kap. 2.5. 76 Passend wäre diese Widmung auch insofern gewesen, als Lavater Spalding und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) in der Vorrede seiner Übersetzung erwähnt. Bei Bonnets Lektüre empfinde er, so Lavater, dasselbe wie bei der Lektüre der Werke Spaldings und Jerusalems, alles sei so wohl bedacht und trotzdem mit Empfindsamkeit geschrieben, „das Herz steht dem Kopf, und der Kopf dem Herzen immer zur Seite“ (Lavater: Philosophische Untersuchung (Anm. 66), S. IV.)
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Scharfsinnes sehr unwürdig.“⁷⁷ Lavater ist wohl davon ausgegangen, dass philosophische Argumente, wie sie Bonnet liefert, dem Scharfsinn Spaldings entsprechen und ihn überzeugen können. Dass Lavater seine Übersetzung schließlich Mendelssohn und nicht Spalding widmete, geschah aus einer relativ spontanen, keinesfalls wohlüberlegten oder von langer Hand geplanten Idee heraus. Die Widmung ist unter größtem Zeitdruck entstanden, wie unter anderem ein Brief an Zimmermann belegt: „Bonnets Übersetzung, davon dir die Messe ein Exemplar bringen wird, ist fertig, heut noch abgegangen. Auf deinen Rath wegen der Zueignung konnte ich nicht warten. Ich wagte es also Hrn. Moses Mendelssohn das Buch zuzueignen.“⁷⁸ Die Widmung ist auf den 25. August 1769 datiert, am 4. September schickte er sie, zusammen mit einem noch ungebundenen Exemplar von seiner Übersetzung, an Mendelssohn. In einem Begleitbrief erklärt er: Ich bitte nicht um Vergebung, mein werthester Herr Moses, dass ich Ihnen beyliegende Schrift zueigne. Wie sollte ich um Vergebung bitten, dass ich Sie hochachte, dass ich Sie liebe? dass ich das, was mich die wichtigste Wahrheit zuseyn dünkt, von Ihnen geglaubt oder beurtheilt wünsche?⁷⁹
Obschon mit dem Glauben, den Lavater mit Mendelssohn zu teilen wünscht, die religiöse Bekehrung, wenn nicht explizit ausgedrückt, so doch angetönt ist, schreibt Lavater auch vom Urteil, das Mendelssohn über Bonnets Schrift abgeben soll. In dieser Aufforderung wird ersichtlich, dass Lavater mit seinem Widmungsschreiben eine philosophische Diskussion anregen wollte. Seine eigene Begeisterung für das Werk Bonnets wog ihn in der falschen und anmaßend anmutenden Gewissheit, dass jeder philosophisch, d. h. logisch Denkende zur selben Überzeugung komme wie er selbst, was wiederum für einen Juden die Bekehrung nach sich ziehen müsse. Lavater war mit seiner Meinung nicht alleine, wie aus einem Brief Zimmermanns an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) hervorgeht. Zimmermann konnte sich zwar auf Grund der erwähnten Zeitknappheit nicht mehr zum Adressaten der Widmung äußern, er betrachtet die darin enthaltene Aufforderung aber sowohl als Mendelssohns Intellekt verehrend wie auch als angemessen in Bezug auf die in seinen Augen geltende Wahrhaftigkeit des Christentums:
77 Lavater an Zimmermann, 21. Aug. 1769. In: Luginbühl-Weber: Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle (Anm. 15), S. 203. 78 Lavater an Zimmermann, 6. Sept. 1769. In: ebd., S. 207. 79 Lavater an Mendelssohn, 4. Sept. 1769. In: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 7: Schriften zum Judentum. Bearb. von Simon Rawidowicz. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1930. Stuttgart/Bad Cannstatt 1974, S. 297.
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Herr Moses in Berlin, wird von dem Zeugniße was Herr Lavater seiner Einsicht und Redlichkeit gibt, sehr zufrieden seyn müssen; aber die Herausforderung wird er vermuthlich nicht an-nehmen. […] Die Wiederlegung würde seiner eigenen Religion wenigstens noch nachtheiliger als der christlichen werden; und solte er dieser ihre Warheit wol je offentlich bekennen?⁸⁰
Zimmermann liest aus Lavaters Widmung die Aufforderung an Mendelssohn heraus, sich kritisch mit den von Bonnet dargelegten Beweisen für das Christentum auseinanderzusetzen, ohne dass dabei die Bekehrung im Vordergrund stehen würde. Dass sich diese aber aufdränge, wird von Zimmermann genauso wenig angezweifelt wie von Lavater. Und Jerusalem geht in seinem Antwortbrief noch einen Schritt weiter, wenn er seine Überzeugung äußert, dass Lavaters auf Bonnet beruhende Argumentation nichts entgegengesetzt werden könne: Ich fürchte auch alle Scharfsinnigkeit und Metaphysik von Moses vis a vis von Lavater im geringsten nicht. Wir können des besten des herrlichsten Sieges von unserm Freund voraus versichert seyn. Wenn Er nur, dies sage ich Ihnen aber in dem allerhöchsten Vertrauen, wenn er nur seine Lieblings-Idee nicht hineinmischt, denn hierdurch könnte er ihm Blößen geben, von denen er sehr zu profitiren wissen würde.⁸¹
Die hier von Jerusalem angesprochene „Lieblings-Idee“ Lavaters bezieht sich auf die Lehre von der Kraft des Glaubens und des Gebets, die in engem Zusammenhang zu Lavaters christologischer Überzeugung steht und als weitere Motivation zur Widmung an Mendelssohn zu betrachten ist. Lavater schreibt, dass er aus seinem Glauben an und seiner Überzeugung von Jesus Christus heraus gehandelt hat, und diese Achtung von Jesus habe er auch bei Mendelssohn verspürt. Lavaters persönliche Bekanntschaft mit Mendelssohn geht auf das Jahr 1763 zurück, als er auf seiner Reise zu Spalding nach Barth in Berlin einen Zwischenhalt machte. Lavater war zutiefst beeindruckt von Mendelssohn, wie aus einem Brief an Breitinger hervorgeht: Ein Mann von scharfen Einsichten, feinem Geschmack und ausgebreiteter Wissenschaft. Vertraulich und offenherzig im Umgange; bescheidener in seinen Reden als in seinen Schriften und beim Lobe unverändert, ungezwungen in seinem Gebärden, entfernt von ruhmbegierigen Kunstgriffen niederträchtiger Seelen, freigebig und dienstfertig.⁸²
80 Zimmermann an Jerusalem, 21. Nov. 1769. In: JCLW III, S. 81. 81 Jerusalem an Zimmermann, 5. Feb. 1770. In: ebd., S. 215 f. 82 Georg Gessner: Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann Georg Gessner. Erster Band. Winterthur 1802, S. 192.
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Bei seinen Gesprächen mit Mendelssohn ging es unter anderem um die Person Jesu, die Lavater, bereits in Abkehr zu Spalding und der Neologie nicht mehr als tugendhaften Morallehrer, sondern als göttlichen Gesandten verstanden und verbreitet haben will: Ich als Christ glaube also die stärkste, obgleich von vielen meiner Brüder verkannte, Verbindlichkeit zu haben, die Ehre meines Herrn und Meisters und die Wahrheit seiner Religion auf alle vernünftige und der Natur der Sache gemässe Weise auszubreiten, und von jedem schädlichen Vorurtheile zu befreyen.⁸³
Lavater ist davon ausgegangen, bei Mendelssohn ein offenes Ohr für seine christologischen Ansichten zu finden. Mendelssohn habe stets von seiner Hochachtung Jesus gegenüber gesprochen, so hält es Lavater auch in seiner Widmung fest. Dass diese Hochachtung aber an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, erwähnt Lavater in seiner Widmung nicht, was ihm später im Verlaufe des Streits von Mendelssohn vorgeworfen wurde. Nur wenn der Anspruch, Gottes Sohn sein zu wollen, nicht von Jesus selbst ausgegangen wäre, wenn nicht er es gewesen sei, der sich als Bindeglied zwischen den Menschen und Gott ausgegeben hätte, verdiene er die einer Persönlichkeit mit seiner Moral und Tugend angemessene größte Wertschätzung: „Hochachtung gegen den Stifter habe ich bezeugt. ja, aber mit der Einschränkung, wen J.[esus] v.[on] N.[azareth] nichts mehr als ein tugendhafter Mann hat seyn wollen“⁸⁴, und weiter fügt er an: „Hat sich aber Jesus, wie ich aufrichtig glaube, dieses niemals anmassen wollen, so habe ich meine philos. Hochachtung schon eingestanden.“⁸⁵ Wie Spalding versteht Mendelssohn Jesus als Führer der Christen, der mit seinem vorbildlichen, tugendhaften Leben das moralisch vollkommene Beispiel für fromme Gottesgefälligkeit abgibt. Jesus muss als Tugendlehrer betrachtet werden, dem nachzufolgen der moralische Instinkt des Menschen gebietet, so Spaldings neologische Überzeugung, der auch Mendelssohn zustimmt. So gibt es für Mendelssohn keinerlei Gründe, das Christentum als von Gott gewollte, durch seinen Sohn initiierte Religion zu betrachten. Trotzdem decken sich seine Ansichten zu Jesus mit denjenigen seines christlichen Kollegen Spaldings; Lavater hätte also gut daran getan, den ursprünglichen Adressaten des Widmungsschreibens beizubehalten. Denn das Ansehen Jesu Christi als Gottmensch, als Heilsbringer und Kraft seiner menschlichen und göttlichen Natur als Vermittler zwischen Gott
83 Lavater an Mendelssohn, 14. Feb. 1770. In: Mendelssohn (Anm. 79), Bd. 7, S. 34. 84 Ebd., S. 63. 85 Ebd., S. 59.
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und den Menschen, um das es Lavater letztendlich ging und das er mit der Bonnetschen Schrift eindeutig beweisen wollte, war vor allem auch in den eigenen Reihen, also innerhalb der christlichen Theologie, nicht mehr so, wie es in Lavaters Augen den biblischen Zeugnissen gemäß sein musste. Dieses richtige Ansehen Jesu Christi sicher zu stellen stand für Lavater auch im Zentrum, nachdem der Widmungsstreit beigelegt und Lavater und Mendelssohn sich in Briefen wieder versöhnt hatten. Lavaters Beschäftigung mit Bonnets Palingénésie und der damit verbundene Bekehrungsstreit sind Ausgangspunkt für theologische Überzeugungen, die Lavater zusehends von der von Spalding vermittelten Aufklärungstheologie entfernten und zu seiner eigenen Christologie führten.
2.4 Lavaters christologischen Überzeugungen Obschon sich Lavater seit Ende der 1760er Jahre immer stärker von der neologischen Theologie distanzierte⁸⁶ und sie in gewissen Aspekten heftig zu kritisieren begann, hat er seine christologischen Überzeugungen auf der Grundlage von Spaldings Glückseligkeits- und Unsterblichkeitslehre entwickelt. Im Gefolge Spaldings und anderer neologischer Theologen betrachtet Lavater das diesseitige Leben als Vorbereitung auf das Dasein im Jenseits. Das größtmögliche irdische Glück, gleichbedeutend mit dem größtmöglichen seelischen Wohlbefinden, bestehe darin, ein möglichst tugendhaftes und gottesgefälliges Leben zu führen. Dies solle gewährleisten, die göttliche Begnadigung zu erlangen und an der ewigen Seligkeit teilzuhaben: „Mein einziges Ziel ist, Spalding, die Menschen, die Würde der Menschheit fühlen zumachen – oder – Sie Gottes und der Unsterblichkeit zuversichern.“⁸⁷ Die Heilige Schrift resp. die göttliche Offenbarung dient dazu, dieses Ziel zu erreichen, sie liefert gemäß Lavater eine Anleitung für die menschliche Glückseligkeit: Dass die Menschen müssen gut seyn, wenn sie glükselig werden wollen, und dass hiemit alle Offenbarungen Gottes auf Verbesserung abzweken, den erst unschuldigen, dann gefallenen Menschen, durch Tugend gut zu machen; darinn sind wir vollkommen einig.⁸⁸
86 Vgl. Weigelt (Anm. 13), S. 14. 87 Lavater an Spalding, 4. Juni 1777. FA Lav. 581. 86. 88 Lavater an Spalding, 30. Mai 1772. FA Lav. 581. 74.
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Das Streben nach moralischer Vollkommenheit und Glückseligkeit ende bei Gott, der „nach der Vernunft und dem Evangelio“⁸⁹ den Inbegriff der Vollkommenheit darstelle, woraus Lavater ableitet: „Wer also gut seyn will, der muss Gott ähnlich seyn.“⁹⁰ Es steht für ihn fest, dass die Menschen nur „in der Freundschaft mit Gott […] höchst-glükselig seyn“⁹¹ können. Um das Postulat der möglichst großen Annäherung an die Gottebenbildlichkeit zu erfüllen, müsse man aber zuerst zur Gotteserkenntnis gelangen: „Nun um Gott ähnlich zu seyn, und zu wissen, dass man es ist – muss man wissen, was Gott ist – insofern wir ihm ähnlich werden können. Wenn es unsere ursprüngliche Bestimmung ist – Ebenbilder Gottes zu seyn.“⁹² Das Problem dabei liege im menschlichen Verstand, der zu begrenzt sei, um Gott erkennen zu können. Gott ist zwar „allerbester, allweiser, allwaltender, Urheber, Schöpfer, Regierer aller Dinge“⁹³ und für seine Schöpfung verantwortlich, der Mensch aber könne sich nicht auf direktem Weg zu ihm wenden: Dieser einige Gott ist seiner Natur, seinem Wesen nach, unsichtbar; das ist, Er hat in sich kein Verhältnis zu andern ausser ihm möglichen Wesen; Wesen, die auf irgend eine Weise eingeschränkt sind, können ihn nicht sehen, das ist, auf keinerley Weise unmittelbar wahrnehmen.⁹⁴
Die Unmöglichkeit der Erkenntnis Gottes und somit die Unmöglichkeit, ihm ähnlich zu werden und ein glückseliges, auf das Leben nach dem Tod vorbereitendes Leben zu führen, ist der Kerngedanke, aus dem heraus Lavater seine Christologie entwickelt. Es geht Lavater also nicht darum, wie es die herkömmliche Unsterblichkeits- und Glückseligkeitsliteratur tut, grundsätzliche Erklärungen zum Wesen des Menschen und seinen Anlagen zu Tugend und Moral zu suchen, sondern, wie bereits im Streit mit Mendelssohn zum Ausdruck gekommen ist, um eine logische Herleitung der Evidenz Jesu Christi und somit um eine der Heiligen Schrift entsprechende Beantwortung der Christus-Frage, d. h. um die endgültige Beweisführung der Göttlichkeit Jesu Christi. Denn um Gott wahrnehmen zu können, so die Weiterführung von Lavaters Argumentation, die Jesus’ Funktion als bloßen Morallehrer widerlegen soll, braucht es „das Medium irgend einer
89 Ebd. 90 Ebd. 91 Johann Caspar Lavater: Ermunterung zur Busse, über die Worte 2. Cor. V.20. Zürich 1766, S. 20. 92 Lavater an Spalding, 30. Mai 1772. FA Lav. 581. 74. 93 Johann Caspar Lavater: Predigten ueber das Buch Jonas. Gehalten in der Kirche am Waysenhause. Winterthur/Frankfurt 1773, S. 7. 94 Lavater an Urlsperger, 20. Jan. 1772. FA Lav. Ms. 584. 157.
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Ähnlichkeit mit uns“⁹⁵, und dieses ist Jesus Christus: „Gott kann durch keine bessere Weise erkannt werden, als durch Christum und in Christo – es ist nichts in Gott, das nicht in Christo sey.“⁹⁶ In Lavaters Lehre ist Christus das einzige Bindeglied zu Gott, „in jedem Verstande, der Mittler zwischen Gott, und allen ausser Gott“⁹⁷, er betrachtet ihn als „Einzigen höchsten Mittler zwischen Gott und uns“⁹⁸, woraus er folgert: „Die ganze Religion, Tugend und Glükseligkeit beruhet also wesentlich auf der Erkenntnis Christi, welcher das Ebenbild Gottes ist.“⁹⁹ Jesus Christus fasst Gott und Unsterblichkeit gleichermaßen in sich und garantiert darum für ein jenseitiges Leben: Alles kommt also darauf an, dass man erkenne, es für wahr halte, glaube, dass Jesus der Sohn, der das Ebenbild Gottes sey – Gottes Stellvertreter, Repräsentant; das ist das ewige Leben – zuerkennen den einigen Gott in Jesu seinem Ebenbild; denn wer Christum kennt, der kennt Gott. Je besser Christum, desto besser Gott. Je besser Gott, insofern wir ihm ähnlich, das ist, gut und glükselig wir werden sollen und können – von uns erkannt wird – oder je besser wir sein Ebenbild, in welchem er als in dem allervollkommensten Abdruk am leichtesten und wichtigste erkennt werden kann, kennen, desto leichter ist es uns – uns unserer Bestimmung zu nähern und ihm ähnlich zu werden.¹⁰⁰
Lavater versucht die Möglichkeit der menschlichen Annäherung an Gott über den Mittler Jesus Christus mit einem logischen Argument zu erklären: Wenn Christus der vollkommenste Mensch ist, so ist er ein Mensch; und wenn er ein Mensch ist, so ist er ein Wesen, das uns analog ist. Analoger wenigstens, als andere Wesen, die nicht Menschen sind – und ist er Gott analoger, als andere Wesen, die uns bekannt sind – so sind auch wir Gott analoger, als alle andern uns bekannte Wesen.¹⁰¹
Um Christus als ein sowohl Gott wie auch den Menschen analoges Wesen rechtfertigen zu können, musste Lavater die vor allem im Zuge neologischer Einflüsse an Bedeutung verlierende Zweinaturenlehre betonen und in neuer Weise erklären. Christus ist für Lavater zwar in erster Linie Mensch, wie es ihm die Berichte
95 Günter Schulz (Hg.): Zwei Freunde der Wahrheit. Ein Briefwechsel zwischen Christian Garve und Johann Caspar Lavater 1784–98. In: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen. Bd. 6. Bremen 1963, S. 72. 96 Lavater an Spalding, 30. Mai 1772. FA Lav. Ms. 581. 74. 97 Lavater an Urlsperger, 20. Jan. 1772. FA Lav. Ms. 584. 157. 98 Johann Caspar Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus an den Phileemon. 2. Theil. St. Gallen 1786, S. 70. 99 Lavater an Spalding, 30. Mai 1772. FA Lav. Ms. 581. 74. 100 Ebd. 101 Schulz (Anm. 95), S. 74.
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der Evangelien belegen; allerdings entspricht seine Natur einer größtmöglichen Vollkommenheit, die sich Lavaters Meinung nach nur aus seiner Verbundenheit mit dem göttlichen Vater erklären lässt und Jesus selbst göttlich macht. Jesus ist „der göttlichste Mensch, […] der höchste Repräsentant und Stellvertreter Gottes – Das Urbild aller königlichen Würde; der Inbegriff aller göttlichen Kräfte, die je der Menschheit zu theil geworden“¹⁰² ist. Die Begriffe ,Gottessohn‘ und ,Menschensohn‘ beinhalten gemäß Lavater, dass Jesus einerseits, dem Dogma der Trinität entsprechend, als „der Eingebohrne Sohn aus dem Schoose des Vaters“¹⁰³ entsprungen ist, also „aus Gott gezeugt und vom heiligen Geist empfangen“¹⁰⁴ worden war, andererseits aber selbst als Mensch wahrgenommen werden wollte und sich als Haupt der Menschheit verstanden hatte. Jesus sei „als einziger, unmittelbarer, unvergleichbarer, von allen andern Gottes-Gesandten höchst-verschiedener, das ist, über sie Alle erhabener Repräsentant und Stellvertreter der höchsten Gottheit unter den Menschen“¹⁰⁵ betrachtet worden. Gott hat Jesus gesandt, um die Menschen zu belehren und sie selig zu machen: „Zum ersten Lehrer, zum Weisheitvollsten Propheeten der Menschheit ist Jesus von Gott gesalbet, geweyhet und unmittelbar verordnet worden.“¹⁰⁶ In dieser Funktion ist er der höchste, göttliche Prophet des Christentums, dem die Menschen unbedingten Gehorsam und Vertrauen entgegenbringen müssen: Wenn er nur das lehrt, was Er bey dem Vater gesehen und gehöret hat – Wenn Gott durch Ihn sprach, wie Er nie mit Sterblichen durch einen Sterblichen sprach – so ist keine Ehrfurcht gross genug, Seine Worte anzuhöhren, zu beherzigen, geltend zu machen – So heisst: Ihn höhren, Gott höhren; Ihm gehorchen, Gott gehorchen; Ihn ehren, Gott ehren.¹⁰⁷
Wer diese Fakten verkenne, würde dem Christentum all seine Substanz absprechen, so Lavaters gegen die Neologie und deren Abwertung Christi zu einem Morallehrer gerichtete Überzeugung:
102 Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 56. 103 Johann Caspar Lavater: Die wesentliche Lehre des Evangeliums; Die Begnadigung der Sünder durch den Glauben an Jesus Christus. In sechs Predigten über Apostel Geschichte X.43. In: Sämtliche kleinere prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783. 3 Bde. in 1 Bd. Nachdruck der Ausgabe Winterthur 1784 und 1785. Hildesheim 1987, S. 131. 104 Sauer (Anm. 15), S. 278; FA Lav. Ms. 67. 1. 105 Johann Caspar Lavater: Nachgelassene Schriften. Bd 2. Religiöse Briefe und Aufsätze. Hg. von Georg Gessner. Zürich 1801. Nachdruck. Hildesheim 1993, S. 115. 106 Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 58. 107 Ebd., S. 71.
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Wenn Herr sich zulezt in den blossen Begriff, Lehrer, das ist, wenn man es frey heraus sagen soll, bloss gewesener Lehrer auflösen soll – so weiss ich durchaus nicht mehr, was ich aus dem ganzen System des Christenthums machen soll!¹⁰⁸
In den biblischen Zeugnissen sei Christus als göttlicher Mensch dargestellt, der in seiner Einzigartigkeit betrachtet und anerkannt werden müsse: Von allen Seiten betrachtet einzig in Seiner Art – Einzig, wie vor ihm und nach Ihm niemand einzig war – So menschlich, wie kein Mensch – so göttlich, wie’s aller göttlichen Gesandten, sie seyen Menschen oder Engel, keiner war – So ganz Mensch für die Menschen – So mit jeder Kraft, jeder Gaabe, jeder Begierde, jedem Wunsche, jedem Willen bloss zum Besten der Menschheit da.¹⁰⁹
Die apostolischen Zeugnisse über Leben, Handeln und Leiden Christi würden die höchstmögliche Gottesgefälligkeit exemplifizieren, die zwar vom Menschen nicht erreicht werden könne, der nachzustreben aber in seinem Christus analogen, göttlichen Keim angelegt sei. Das Göttliche oder, noch expliziter ausgedrückt, Jesus Christus selbst ist der Keim des Menschen, so Lavaters eigene Interpretation von der Keimlehre Bonnets: In Jesus Christus und darum auch in den Menschen ist die Bestimmung hin zur Vollkommenheit nach dem Ebenbild Gottes angelegt, der Mensch hat also dieselben Anlagen wie der göttliche Sohn selbst. Wer sich diesen zum Vorbild nehme und sein Leben der Imitatio Christi widme, werde seiner Bestimmung gemäß zu größtmöglicher göttlicher Annäherung und Vollkommenheit gelangen und sich dadurch der ewigen Seligkeit versichern. Die Frage nach Jesus als Versöhner war ein zentraler Aspekt in der Theologie des achtzehnten Jahrhunderts. Die traditionelle Satisfaktionslehre, in der Jesus als Opfer dargestellt wird, der durch seinen Tod die sündigen Menschen erlöst und den zürnenden Gott versöhnt, wurde zunehmend in Frage gestellt. Problematisch erschien unter anderem das dabei vermittelte Gottesbild. Die aufgeklärten Theologen nahmen einen mit Vernunft erklärbaren und darum selbst vernünftigen Gott an, der sich nicht mit dem Bild eines rachesüchtigen Richters, dessen Zorn nur durch das Opfer Christi besänftigt werden konnte, vertrug. Auch die passive Rolle, die dem Menschen in der traditionellen Versöhnungslehre zukommt, entsprach nicht mehr aufgeklärten Ansprüchen, denen gemäß der Mensch als vernünftiges autonomes Wesen selbst für sein Leben verantwortlich war.¹¹⁰
108 Lavater an Spalding, Juli 1772. FA Lav. 581. 75. 109 Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 11. 110 Vgl. Beutel (Anm. 41), S. 357.
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Lavater ließ sich in der Frage von Jesus als Versöhner von seinem Mentor Spalding beeinflussen. Dieser benutzt das Bild von Jesus als gesundmachendem Mediziner, um der traditionellen Satisfaktionslehre im neologischen Sinne gerecht zu werden. Das Blut Christi sei zwar nötig, nicht aber, um einen in seinem Zorn auf keine andere Art zu besänftigenden Gott zu versöhnen – Spaldings Gott zeichnet sich durch Güte und Gerechtigkeit, nicht durch ein zürnendes Richten aus –, sondern als symbolisch zu verstehende Heilkraft, die dem Menschen zur Erlösung gegeben wurde. Das Heilsgeschehen soll als Botschaft verstanden werden, in der dem Menschen versichert wird, dass er sich von der Sünde freisprechen kann, das Mittel dazu ist der Glaube an Jesus Christus, so Spaldings auf ein tugendhaftes Leben ausgerichtete Lehre. Jesus sei der Arzt, der Heilung verschaffe, wenn seine Patienten dazu bereit seien, seine Anweisungen zu befolgen. Um die Menschheit vom Gift der Sünde zu reinigen, sei ihnen durch den Tod Jesu ein Mittel zubereitet worden, das sie nicht nur vor dem göttlichen Gericht freispreche, sondern ihr zu einer freien Entfaltung ihrer tugendhaften Kräfte verhelfe.¹¹¹ Dieselbe Metaphorik verwendet Lavater, wenn er Jesus Christus als Heiler darstellt, der den Menschen mit seinem Blut eine göttliche Arznei zur Verfügung stellt, die sein eigenes Blut reinigt und ihn dadurch erlöst, stärkt, erbaut und zur Beseligung führt: „Er [Jesus] ist Arzt und Arzney für uns.“¹¹² Die Menschen müssten lediglich zur Überzeugung gelangen, „dass Glauben an Jesum eben das im Grunde sey, was Glauben an einen Arzt, was Zutrauen zu einer helfenden Macht und Güte.“¹¹³ Jesus sei nicht als Opfer zu verstehen, das den göttlichen Zorn gegenüber der sündigen Menschheit besänftigen müsse, vielmehr handle er aus Liebe zur Schöpfung, aus einer von Gott gewollten Hingabe zur menschlichen Kreatur heraus.¹¹⁴ Für Lavater ist Jesus als aktiv Handelnder für die Erlösung verantwortlich: Nicht nur durch die innere Würde seiner Person, sondern durch seine Bemühungen, seine Tugenden, seine Verdienste, dadurch sollte er würdig werden, Herr und Retter und Richter der Welt zu seyn. Das war seine Bestimmung auf Erden; dazu hatte ihn Gott in die Welt gesandt, und dazu bereitete er sich vor.¹¹⁵
111 Vgl. Peter Opitz: „Fortgekämpft und fortgerungen …“ – J. C. Lavaters Verkündigung der Gnade im Rahmen seiner Christusreligion. In: Zwingliana. Band XXXIII. Zürich 2006, S. 175 f. 112 Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), S. 17 f. 113 Lavater: Die wesentliche Lehre des Evangeliums (Anm. 103), S. 34. 114 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 148. 115 Johann Kaspar Lavater: Predigten über die Existenz des Teufels und andere Schriften. Neu eingerichtete Ausgabe auf der Grundlage der Originaltexte. Frankfurt/M./New York 1991, S. 39.
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Auch Lavater distanziert sich also in seiner Theologie vom – vermeintlich – zürnenden, richtenden Gott des Alten Testaments zugunsten einer neuen Versöhnungslehre, wie es auch aus Hahns Tagebuch hervorgeht: Discours wegen der Versöhnung Gottes. Lavater sagte, die Versöhnung sey vis a vis mit den Menschen zu concipiren. Gott sey versöhnt gewesen. Er habe uns mit sich selber versöhnt.¹¹⁶
Lavater übernimmt Spaldings symbolisch gedeutetes Bild von Jesus Christus als Versöhner. Daneben entwickelt er aber seine eigenen Vorstellungen, was Wesen, Funktion und Rolle Jesu Christi anbelangt. Wo bei Spalding die moralische Botschaft im Vordergrund steht, der gemäß Leben und Werk Jesu Inbegriff von anzustrebender Tugend und ewiger Seligkeit ist, geht es Lavater nicht nur um die reale Person Jesus, sondern um dessen Göttlichkeit und den damit verbundenen eschatologischen Erwartungen. Jesus, wie ihn Lavater sieht, trägt mit Recht den Hoheitstitel ,Christus‘, da er nicht nur tugendhaft vorbildlich lebt, sondern auch vermittelt und erlöst: „Christus ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung – Wer den Sohn hat, der hat das Leben.“¹¹⁷ Lavater weist denn auch immer wieder auf die eschatologische Bedeutung von Jesus Christus hin: Glauben also an Jesum Christum ist die evangelische Bedingung, unter welcher wir der grossen und wünschenswürdigsten Sache, an welcher uns mehr, als an Allem auf der Welt gelegen seyn sollte – der Vergebung der Sünden fähig und theilhaftig werden.¹¹⁸
Der Gläubige wartet aber nicht einfach auf den gerechten Richtspruch am letzten Tag; mit zu seiner Lehre von der Sündenvergebung gehört für Lavater die aktive Rolle des Menschen, so seine der Neologie geschuldete resp. ihr verhaftet bleibende Annahme. Auf der Grundlage der Perfektibilität, d. h. der natürlichen Veranlagung des Menschen zum moralischen Urteilen und Handeln und in Bezug auf seine Lehre der stufenweise fortschreitenden Vervollkommnung geht Lavater davon aus, dass der Mensch schon im Diesseits seine Fehler erkennen und sich diesbezüglich verbessern kann und um Vergebung seiner Sünden nicht nur bitten soll, sondern diese auch erhalten wird. Hier erlangt die in den Tagebüchern literarisch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemachte Selbstbeobachtung ihre
116 Tagebuch vom 11. Aug. 1774. In: Philipp Matthäus Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher 1772–1777. Hg. von Martin Brecht und Rudolf F. Paulus. Berlin/New York 1979, S. 271. 117 Lavater, Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 16. 118 Lavater: Die wesentliche Lehre des Evangeliums (Anm. 103), S. 5.
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christliche Bedeutung: Der Mensch hat die Möglichkeit, an seiner Versöhnung mitzuarbeiten, indem er sich kritisch mit seinen einem gottgefälligen Leben entgegenlaufenden ,Leidenschaften‘, die Lavater als sündhafte, die eigentlich guten Anlagen der menschlichen Natur korrumpierende Triebe versteht, auseinandersetzt und sie zu bekämpfen versucht: Dabey also muss angefangen sein – Man muss sich als Sünder erkennen, empfinden und bekennen, wenn man begnadigt, wenn man von der Sünde, und allen ihren schlimmen Folgen frey werden will. Wem die Vergebung der Sünden wichtig werden soll, dem muss die Sünde, dem müssen die Folgen der Sünde erst recht wichtig werden.¹¹⁹
Wieder wird auf das Arztbild zurückgegriffen, wenn Lavater erwähnt, dass es sich bei Sünden gleich verhält wie bei Krankheiten: In beiden Fällen müsse man sich der Gefahr und der schrecklichen Folgen bewusst sein. Erst dann würde man die Hilfe schätzen, die einem vom Arzt respektive von Jesus Christus zukomme.¹²⁰ Um gegen Sündhaftigkeit anzukämpfen und sich vor ihr zu schützen, müsse das moralische Empfinden über Recht und Unrecht gestärkt werden, Anleitung dazu liefere die Offenbarung. Wichtig sei, dass der Mensch nicht vor seiner eigenen sündigen Natur zurückschrecke, sondern seine Fehltritte erkenne, bereue und bereit sei, Buße zu tun: „Das Versöhnopfer Christi nützt dir nichts, wenn du dich nicht mit Gott durch Busse versöhnest.“¹²¹ Dabei genüge es aber nicht, begangene Fehler demütig zu beichten und um Gottes Gnade zu flehen, vielmehr müsse die göttliche Gehorsamkeit in Tat und Handlung, im Bestreben, nach Christi Lehren und in seiner Gefolgschaft zu leben, bewiesen werden: „Lass dich die Sünde nicht überwinden; sondern überwinde du die Sünde mit Glauben und Standhaftigkeit. Thu gutes, so viel du thun kanst!“¹²² Damit distanziert sich Lavater vom vor allem im Herrnhutschen Pietismus praktizierten Bußverständnis, das die reuigen Sündenbekenntnisse und das Flehen um Gnade beinhaltet. Umso mehr betont Lavater, dass der Mensch mitverantwortlich ist für ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben und seine Erlösung nicht allein durch Gottes Gnade (sola gratia) erreicht werden kann. Die Rolle Christi als ein von Gott gesandter Erlöser und Retter behält aber für Lavater trotz der Eigenverantwortung des Menschen zentrale Bedeutung, wodurch er sich von der diesbezüglichen Ansicht Spaldings abhebt. Während dieser soteriologische und eschatologische Aspekte zwar als stillschweigende
119 Ebd., S. 109. 120 Vgl. ebd., S. 110. 121 Lavater: Ermunterung zur Busse (Anm. 91), S. 18. 122 Ebd., S. 19.
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Voraussetzungen anerkennt,¹²³ diese aber zugunsten der moralischen Erziehungsaufgabe von Jesus in den Hintergrund rückt, spricht Lavater in seiner Christologie auch immer wieder die klassische Versöhnungslehre an: Wir haben die Erlösung durch Sein Blut, die Vergebung der Sünde nach dem Reichthum Seiner Gnade – Er hat den Tod abgethan, hat das Leben und die Unsterblichkeit hervor an’s Licht gebracht – Er hat uns Gott erkauft mit Seinem Blut – Hat uns unserm Gott und Vater zu Königen und Priestern gemacht.¹²⁴
Nur durch Jesus Christus nicht nur als Mittler, sondern auch als Erlöser hat der Mensch überhaupt die Chance, vor Gott zu bestehen und seinen Segen zu erlangen, was Lavaters soteriologische Ansicht von der Neologie unterscheidet.¹²⁵ In der neologischen Theologie ist es die Perfektibilität, die dem Menschen ermöglicht, durch ein tugendhaftes und moralisches Leben vollkommene Glückseligkeit zu erreichen, die im Jenseits mit der ewigen Seligkeit belohnt wird. Es braucht also nicht Jesus als Mittler und Erlöser, sondern die eigene Einsicht und das aktive Handeln; die vernünftige Einsicht des Menschen ermöglicht ihm, sich gewissermaßen selbst zu erlösen respektive vollkommen zu machen. In der pietistischen Lehre hingegen, von der sich Lavaters Überzeugung ebenfalls unterscheidet, ist der Mensch auf die göttliche Gnade angewiesen. Die Buße und die Bitte um Vergebung kann der Mensch anwenden, um der Erlösung teilhaftig zu werden. Demut und Gehorsam gehören dabei zu den wichtigsten Voraussetzungen. Lavater hat sich in seiner Christologie auch mit der Frage der Trinitätslehre befasst, wie sein Briefwechsel mit dem lutherischen Theologen und späteren Mitbegründer der Basler Christentumsgesellschaft Johann August Urlsperger (1728–1806) zeigt. In einer ausführlichen Stellungnahme kommentiert Lavater den dritten Teil eines mehrbändigen Werks von Urlsperger,¹²⁶ in dem dieser seine Ansichten über die Dreieinigkeit erläutert. Lavater hält nichts von Urlspergers an den Sozianis-
123 Vgl. Beutel (Anm. 41), S. 384. 124 Lavater: Predigten über den Brief des heiliggen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 17. 125 Vgl. Opitz: „Fortgekämpft und fortgerungen …“ (Anm. 111), S. 178. 126 Johann August Urlsperger: Versuch in freundschaftlichen Briefen einer genauern Bestimmung des Geheimnißes Gottes und des Vaters und Christi, wie dadurch menschliche und seligmachende göttliche Erkenntniß merklich erweitert und den wichtigsten Zweifeln gegen beyde auf eine neue Weise liebreich entgegen gegangen wird ans Licht gestellt und jedem vernünftigen noch mehr aber christlichen Leser zu unpartheyischer Prüfung übergeben. 4 Teile. Augsburg 1769–1774.
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mus¹²⁷ angelehnte Theorie, dass die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist wesentlich aus drei Teilen besteht, die ein Subjekt bilden. Als es noch nichts Erschaffenes gegeben habe, sei die Gottheit eine in sich einige Essenz gewesen, die nichts anderes war „als nur Gott, ganz Unsichtbarkeit, Unwahrnehmlichkeit.“¹²⁸ Erst durch die Schöpfung sei die Notwendigkeit entstanden, sich mitzuteilen, „weil Er schaffen wollte, musste er erst gewissen Kräften seiner eigenen Natur eine solche Richtung geben, wodurch sie in ein Verhältnis mit zu schaffenden Wesen kommen konnten.“¹²⁹ Die Gottheit muss „sich selbst befassen, gewisse Kräfte zusammenziehen, und sich in eine Gestalt, Sichtbarkeit, Wahrnehmlichkeit einkleiden.“¹³⁰ So sei der Sohn entstanden, der zwar immer noch Gottheit sei, sich aber doch auf Grund der „Conzentrierung gewisser Kräfte von den nicht Zusammengefassten“¹³¹ abhebe. Der Sohn sei „Gestalt Gottes, die Er nun, um sich mittheilsam zu machen, annahm“¹³² als „Ebenbild des Unsichtbaren; der leibhaftige Ausdruk Gottes; die conzentrierte Gottheit. […] Gott war nun mittheilbar geworden; der Sohn war ausgestralt aus der Unsichtbarkeit; der Abglanz der unsichtbaren Herrlichkeit des Vaters.“¹³³ Ausführlich erklärt Lavater die Erschaffung des Menschen durch den Sohn. Interessant ist der Vergleich mit seinen früheren diesbezüglichen Gedanken, bei denen er von Bonnets Palingénésie beeinflusst war. Wie bereits erläutert, ist die Ähnlichkeit der Menschen mit Jesus und durch ihn mit Gott eine grundlegende Annahme in Lavaters Christologie. Im Zuge seiner Beschäftigung mit Bonnet versuchte Lavater, diese Ähnlichkeit naturwissenschaftlich-philosophisch zu erklären. Er lehnte sich an Bonnets Keimtheorie an und postulierte sowohl bei Jesus wie auch bei den Menschen einen göttlichen Keim, aus dem heraus sich alles zu unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden hin entwickelt. In seinem Brief an Urlsperger kann nun Lavater seine in einem philosophischen Kontext geäußerte Theorie mit exegetischen Argumenten ausführen und weiterentwickeln und sich dadurch von der nicht in seinem Sinne liegenden Präformationslehre absetzen, die Bonnet vertritt.¹³⁴ Um die Wesensgleich-
127 Zum Sozianismus im achtzehnten Jahrhundert vgl. Beutel (Anm. 41), S. 215–217. 128 Lavater an Urlsperger, 20. 1. 1772. FA Lav. Ms. 584. 157. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Lavater hat sich verschiedene Gedanken gemacht über die Präformation in Bonnets Lehre, so schrieb er an Oetinger, „dass ich gantz unentschlossen bin, ob das Bonnetsche Präformationssystem anzunehmen sey oder nicht? Übrigens, dass ich, in denen Augenblicken, wo es mir wahr-
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heit zwischen den Menschen und Jesus zu erläutern, spricht Lavater nicht mehr von einem sowohl Mensch wie Jesus inhärenten göttlichen Keim, sondern von Bruderschaft, von göttlichem Fleisch, aus dem heraus Jesus und die Menschen als Ebenbilder Gottes entstanden seien. Der einzige Unterschied zwischen allen Menschen und Jesus bestehe darin, dass Jesus „der Erstgeborne ist, Er unmittelbar aus Gott; wir auch aus Gott, aber mittelbar durch ihn.“¹³⁵ Die frühere philosophische Argumentation, in der Lavater von einem graduellen Unterschied zwischen Jesus und Mensch im Rahmen einer Entwicklung hin zur göttlichen Vollkommenheit sprach, wird also mit Hilfe biblischer Terminologie erklärt: Jesus als Erstgeborener ist Gott am Nächsten, besitzt die größtmögliche göttliche Vollkommenheit, die Gott mitzuteilen gewillt war, „ferner wohnet in ihm allein, alle Fülle Gottes unmittelbar.“¹³⁶ Die Menschen sind Gott nur mittelbar nahe, d. h. durch die Vermittlung Jesu Christi, genau wie Jesus selbst stellen die Menschen aber einen „lebendigen Tempel der Gottheit nach seinem Ebenbild“¹³⁷ dar. An anderer Stelle bedient sich Lavater, um die Wesensgleichheit zwischen den Menschen und Jesus Christus zu erläutern, weiterer biblischer Bilder: „Wir sind Kinder Gottes, Ebenbilder Gottes, Erben Gottes, Miterben Christi.“¹³⁸ Die Verschmelzung seiner philosophischen und theologischen Theorien und das Ziel, stets den Menschen und seine Seligkeit im Fokus zu behalten, drückt Lavater schließlich als hauptsächliche Absicht seiner Lehre aus: Meine Philosophie ist, was meine Theologie. Alles eins. Aufschluss der Menschheit und Gottheit, und Offenbarung. Christus ist immer mehr meine ganze Wissenschaft und Religion. Er zeigt mir, was Gott ist, und was ich bin, durch mich selber.¹³⁹
Immer wieder betont Lavater den Wert der Bibel. Um die biblischen Zeugnisse auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen, braucht es seiner Meinung nach keine der vernünftigen Logik gehorchende Erklärung. Für Lavater ist die Offenbarung
scheinlich vorkam, nicht die mindeste Gefährlichkeit davon wahrgenohmen habe“ (Lavater an Oetinger, 2. Aug. 1774. FA Lav. Ms. 576). Hasenkamp jedoch verzeichnet in seinem Tagebuch über ein diesbezügliches Gespräch mit Lavater: „Lavater erklärte sich jetzt über das PraeformationsSysthem als eine unnütze Speculation, lobte aber doch den Bonnet als einen frommen Mann“ (Tagebucheintrag Hasenkamps vom 20. Juli 1774. In: Horst Neeb [Hg.]: Hasenkamp und LavaterReisen-Begegnungen-Gespräche 1774. Beschreibung einer Reise des Seeligen Herrn Rector Johann Gerhard Hasenkamp mit Herrn Johann Caspar Lavater in Zürich 1774. Giessen 2004, S. 28). 135 Lavater an Urlsperger, 20. 1. 1772. FA Lav. Ms. 584. 157. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Lavater an Spalding, 30. Mai 1772. FA Lav. Ms. 581. 74. 139 Lavater an Oetinger, 4. März 1777. FA Lav. Ms. 576.
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„tausendfach gelehrte Schriftwahrheit“¹⁴⁰, die „von allen neuen Erfahrungen oder Nichterfahrungen durchaus unabhängig ist.“¹⁴¹ Wahrer Glaube bedingt für Lavater die Anerkennung der biblischen Zeugnisse und somit die Anerkennung der Göttlichkeit Jesu Christi, das Vertrauen müsse so weit gehen, dass die Wahrhaftigkeit der Berichte so stark empfunden werde, als wären die darin geschilderten Ereignisse selbst erlebt worden. Die Glaubwürdigkeit der Bibel und das Vertrauen auf Jesus Christus als „würkender versöhnlicher vom Himmel herab würkender lebender Christus“¹⁴² müsse also, und dies sei das Fundament des Christentums, einer inneren, unzweifelhaften Erfahrung entspringen. Wer diese Erfahrung nicht teile, könne Christus nicht predigen und auch nicht an ihn glauben, er dürfe aber trotzdem nicht den Schriftsinn verfälschen: „Aber deswegen, weil er nicht glauben kann, soll er nicht sagen – er ist nicht Bibelchristus.“¹⁴³ Ein Konflikt zwischen Glauben an die positive Offenbarung und Vernunft besteht bei Lavater nicht, er setzt die Sprache der Evangelien mit der Sprache des menschlichen Verstandes gleich.¹⁴⁴ Seiner Meinung nach sind die Rätsel und Geheimnisse der biblischen Zeugnisse nicht vernunftwidrig, sondern lediglich nicht erklärbar. Dementsprechend bringt er den neologischen Theologen und ihrer kritischen Betrachtung der Bibel kein Verständnis entgegen: Wiederum andere bekennen sich zwar öffentlich und besonders zum Christenthum, sie reden bisweilen mit vieler Bewunderung und Ehrfurcht von dem heiligen Evangelio, und denjenigen Lehren desselben, die sie mit ihrer Vernunft vollkommen begreifen, die sie ihren bisherigen Begriffen und Meynungen angemessen finden. Aber das Wort Geheimnis ist ihnen unerträglich. Alles was die natürliche Vernunft nicht verstehen und mit ihren gewöhnlichen angeerbten Vorstellungen nicht zusammenreimen kann, kommt ihnen thöricht und lächerlich vor.¹⁴⁵
Aus dem starken Glauben an die evangelischen Zeugnisse und der darin dargestellten Einwirkung Gottes auf die Menschen entwickelt Lavater auch die Überzeugung, dass die Potentialität der Sichtbarkeit von göttlicher Transzendenz in der Immanenz nach wie vor vorhanden ist, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.
140 Lavater an Spalding, 2. Aug. 1776. FA Lav. Ms. 581. 85. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 148, S. 223. 145 Johann Caspar Lavater: Vermischte Predigten. Frankfurt/Leipzig 1773, S. 147.
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2.5 Lavaters Wunderglaube Ein aus Lavaters Christologie sich ergebender pragmatischer Aspekt, der seit Ende der 1760er Jahre Lavaters Leben und Werk durchzog, sich in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen zeigte und stetige Angriffsfläche für seine Kritiker bot, war sein Glaube an das sichtbare Weiterwirken des Heiligen Geistes. Lavaters Meinung nach können die im apostolischen Zeitalter bezeugten Wunder auch in der Gegenwart noch auftreten, die Voraussetzung dafür ist die bedingungslose, aufrichtige Hinwendung zu Gott durch Jesus, unter anderem bezeugt im Gebet: Ist etwas in den göttlichen Schriften klar, deutlich, bestimmt, und häufig gesagt; ist etwas mit Beyspielen aller Arten, aller Zeiten und Orten bestätigt; ist etwas allen folgenden Zeiten der künftigen Christen zum leuchtenden Vorbild aufgestellt, so ist es die Lehre von der allmächtigen Kraft des Glaubens, und des Gebetes, und insonderheit des Glaubens an Jesum und des Gebetes in seinem Namen.¹⁴⁶
Der fromme Christ, so ist es Lavaters feste Überzeugung, kann in seinem Glauben bestätigt werden, indem er mit außerordentlichen Fähigkeiten begabt wird, die ihm von Gott durch Jesus Christus zukommen. Dafür muss der Mensch aber eine bestimmte Entwicklungsstufe erreichen, so schreibt Lavater mit Bezug auf seine an Bonnet angelehnte evolutionsbiologische Keimtheorie. Wenn der Mensch sich bemühe, in der Gefolgschaft Jesu zu leben und seine göttlichen Anlagen bis zur höchstmöglichen Vollkommenheit zu entfalten, würde er mit der Fähigkeit, Wunder zu tun, belohnt werden. Die Eigenverantwortung und damit verbunden Lavaters Theologie des tätigen, sich selbst vorwärts bringenden Menschen ist in dieser These enthalten, impliziert sie doch, dass die Wunderbegabung zu weiten Teilen im Einflussbereich des jeweiligen Individuums liegt. Diese „Anthropologisierung der Theologie“¹⁴⁷, wie es Martin Ernst Hirzel nennt, ist auch in Lavater späteren physiognomischen Studien zu beobachten, deren Ziel es war, die menschliche Entwicklung hin zur göttlichen Vollkommenheit nicht mehr in den Taten respektive göttlichen Wundern zu suchen, sondern sie anhand von Gesichtsbildungen nachzuweisen.¹⁴⁸ Lavater stützt seinen Glauben an das Fortwirken der Wunderbegabung auf die Bibel. Er bezieht sich dabei vor allem auf Wunderberichte, die mit der Wirkung des Heiligen Geistes in Zusammenhang gebracht und erklärt werden.
146 JCLW IV, S. 151. 147 JCLW III, S. 66. 148 Vgl. Kap. 2.6.
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Dabei macht er keine Unterschiede zwischen den in verschiedenen Zusammensetzungen und Bedeutungen verwendeten Begriff ,Geist‘, sondern fasst diese synonymisch als übernatürlich wirkende Kräfte zusammen: Ist nicht aus folgenden Stellen der H.[eiligen] Schrift unwidersprechlich offenbar, dass die Biblischen Ausdrücke: Geist, Heiliger Geist, Geistesgaben (χαϱίσματα) Geist Gottes und Christi, Christus in uns, Gott in uns, u. s. w. durchgehends bedeuten, eine Schöpferische Kraft, eine ausserordentliche (nach unserem Sprachgebrauch) übernatürliche Offenbarung oder Wirkkung der Gottheit, übernatürliche Einsichten und Kräfte, der Offenbarungen, welche sich von denen, die wir nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch natürlich nennen, augenscheinlich und unverwirrlich unterscheiden lassen?¹⁴⁹
Unter den natürlichen Kräften versteht Lavater Begebenheiten und Wirkungen, die sich in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen befinden.¹⁵⁰ Sie verhalten sich seiner Meinung nach in klarer Differenz zur Supranaturalität derjenigen Ereignisse, die nur durch göttliche Einwirkung geschehen können.¹⁵¹ Mit seinem Glauben an die Fortdauer außerordentlicher Geistesgaben stieß Lavater bei orthodoxen wie auch bei neologischen Theologen auf Kritik. Nach Ansicht der reformierten Orthodoxie ist es Gott durchaus möglich, durch Wunder die Naturgesetze außer Kraft treten zu lassen. Allerdings liegt der Zweck solcher Eingriffe primär darin, den göttlichen Offenbarungen Glauben zu verschaffen und die Ausbreitung des Evangeliums zu ermöglichen, und beschränkt sich deshalb auf die Anfänge des Christentums. Die Bedeutung der Wunder für die gegenwärtige Zeit besteht darin, Gottes Allmacht erkenntlich zu machen. Die neologischen Theologen sprechen sich nicht explizit gegen Wunder aus, ihrer Meinung nach liegt das Wunderbare aber in der Natur selbst, und zwar in dem Sinne, dass in ihrer von Gott erschaffenen Einrichtung nichts geschehen kann, was ihren vernünftigen Lauf unterbricht. Die in der Bibel beschriebenen Wunder betrachten die Neologen kritisch. Für sie ist die Zeitspanne zwischen ihrem angeblichen Vorkommen und der Gegenwart und der darin stattgefundenen erkenntnistheoretischen Entwicklung zu groß, als dass sie noch dazu dienen könnten, den Glauben an Gott zu stärken und zu bestätigen. Die Welt ist nun rational erfassbar, und dank den wissenschaftlichen Fortschritten gelingt es, vorher unbegreifliche Begebenheiten zu erklären. Auch die Religion muss vom Verstand
149 JCLW III, S. 97. 150 „Natürlich heisst man das, was festgesetzt, einförmig, anhaltend, oder gewöhnlich ist, was sich von uns aus bekannten Gesetzen der Natur herleiten oder sonst erwarten lässt“ (JCLW III, S. 105). 151 Vgl. JCLW III, S. 38.
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bestimmt sein, und diesem widerspricht es, an Wunder zu glauben oder darin Erbauung und Bestärkung zu finden. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), der in seinen Werken sowohl neologische wie auch deistische Lehren vertrat und bekanntmachte, bestritt in seiner Schrift Über den Beweis des Geistes und seiner Kraft (1777), dass historische Ereignisse, zu denen er die in der Bibel festgehaltenen Wunder zählt, als Beweise für die Wahrheit des Christentums dienen könnten. Lessings Meinung nach ist es schwierig, an ein übernatürliches Ereignis zu glauben, dessen Wahrheit lediglich aus historischen Zeugnissen und nicht aus eigener Erfahrung beurteilt werden kann.¹⁵² Auch wenn es in der damaligen Zeit zu supranaturalen Ereignissen gekommen sei, gibt es Lessings Meinung nach keine Gründe mehr, auch in der Gegenwart auf solche göttlichen Offenbarungen des Heiligen Geist zu hoffen. Es bestehe ein wesentlicher Unterschied darin, ob es sich um wahrhaftig erlebte Ereignisse handle oder lediglich um diesbezügliche Nachrichten und Berichte: Daran liegt es: dass dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr hat; sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist. Daran liegt es: dass Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen; dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind.¹⁵³
Für Lessing ist eindeutig: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.“¹⁵⁴ Das Problem, vor das sich Lavater mit seiner Lehre von der Fortdauer der außergewöhnlichen Geistesgaben und der Kraft des Gebets und des Glaubens gestellt sah, bestand in der Spannung zwischen seinem Beharren auf dem absoluten Wahrheitsanspruch der Bibel, der keinerlei empirischer Evidenz bedurfte, und seinem Bemühen, die Fortdauer der Geistesgaben mit Zeugnissen aus der gegenwärtigen Zeit zu belegen. An diesem Problem wird ersichtlich, dass Lavater sich zwar weder der orthodoxen noch der neologischen Seite zuordnen lässt, dennoch von beiden maßgeblich beeinflusst ist. In Anlehnung an die orthodoxe Theologie geht auch Lavater davon aus, dass Wahrheiten über die Religion nur aus der Bibel abgeleitet werden können. Gleichzeitig anerkennt er aber im Zuge seiner neologischen Prägung Empirie und Vernunft als wichtigste Beurteilungs-
152 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Über den Beweis des Geistes und seiner Kraft. In: Werke und Briefe in 12 Bde. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt/M. 1989, S. 439. 153 Ebd., S. 440. 154 Vgl. ebd., S. 441.
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kriterien zur Wahrheitsfindung.¹⁵⁵ Zu kämpfen hat er mit der Kritik, die ihm von beiden Seiten entgegenkommt: Es geht mir in der That recht seltsam: wenn ich mit Beyspielen komme, so ruft der eine Haufe mir zu: Erschleichungsfehler! Fanatism! Die Sache muss exegetisch untersucht und bewiesen werden! – und wenn ich mit den deutlichsten Verheissungen der Schrift komme, so ruft mir ein anderer eben so grosser Haufen zu: Fanatismen! Beyspiele, Beyspiele her! Und wenn ich mit beiden zugleich komme, so bleibt doch jeder bei seiner Meynung.¹⁵⁶
Trotz der zum Teil heftigen Kritik an seiner Lehre war Lavater Zeit seines Lebens darum bemüht, die Kraft des Glaubens und des Gebets zu beweisen, was ihm immer wieder den Vorwurf des ,Fanatismus‘ eintrug.¹⁵⁷ Die versuchte Auferweckung seines engsten Jugendfreundes Felix Hess (1742–1768) als gewissermaßen im Selbstversuch erbrachter Beweis für die Wunderkraft des Glaubens und des Gebets mag zwar von angesprochenem ,Fanatismus‘ zeugen; sie weist aber vor allem auch darauf hin, dass Lavaters Denken und Handeln stets von persönlichen Gefühlen und Überzeugungen geprägt war, deren Intensität die von ihm geforderte und erwartete Objektivität oft verunmöglichte.¹⁵⁸ Um eine solche objektive Beweisführung ging es ihm aber in seinem Traktat über die Gaben des Heiligen Geistes, von dem er sich eine breit abgestützte Untersuchung und Bestätigung seiner These erhoffte. Im September 1769 verschickte Lavater ungefähr hundert Exemplare eines Rundschreibens mit dem Titel Drey Fragen von den Gaben des
155 Vgl. JCLW III, S. 64. 156 Lavater an Resewitz, 24. Sept. 1769. In: JCLW III, S. 33 f. 157 Johann Georg Zimmermann (1728–1795) sprach Lavater bereits beim Erscheinen der ‚Aussichten‘ einen bestimmten Fanatismus zu, wenn er meint, bei Lavater „Merkmale eines ungesunden Hirns“ (JCLW III, S. 28 f.) festzustellen. Zudem forderte er ihn auf, alles „in dieser Absicht zu vermeiden, was nicht vor der aufgeklärten Welt den Stich halten kann“ (Johann Georg Zimmermann an Lavater, 25. August 1769. In: JCLW III, S. 68). 158 Der Tod von Felix Hess im März 1768 war Lavater sehr nahe gegangen (vgl. dazu die Aufzeichnungen in seinem ‚Geheimen Tagebuch‘ [JCLW IV, S. 126 ff.], die auch Johann Georg Müller tief beeindruckt haben [vgl. Kap. 3.1]). Die große Traurigkeit über den Verlust gepaart mit seiner Überzeugung, durch innbrünstiges Gebet von Gott erhört und mit speziellen Gaben gesegnet zu werden, ließen ihn an die Auferweckung seines Freundes glauben, wie er es in Hexametern an Johann Jakob Hess (1741–1828) formuliert: „Gott erhöre mein Flehen und ruf ihn wieder ins Leben / meinen entschlafenen Hess, dass alle Menschen erkennen / bis zum Ende der Welt sey alles dem Glaubenden möglich“ (Lavater an Johann Jacob Hess, undatiert [ca. Mitte September 1769]. In: JCLW III, S. 49). Auch Lavaters Bemühungen, mit dem Geisterseher Emanuel Swedenborg (1688–1772) Kontakt aufzunehmen, standen im Zusammenhang mit dem Tod von Felix Hess. Lavater wollte von Swedenborg wissen, wie es seinem Freund im Jenseits ergehe, dieser beantwortete aber seine Briefe nicht (vgl. JCLW III, S. 50).
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Heiligen Geistes allen Freunden der Wahrheit zur unpartheyischen-exegetischen Untersuchung vorgelegt.¹⁵⁹ Neben seinen Freunden und Bekannten adressierte Lavater verschiedene Gelehrte und Geistliche orthodoxer, neologischer und pietistischer Provenienz.¹⁶⁰ Die meisten Antworten erhielt er von neologischen Theologen, die sich in meist sehr umfangreichen Schreiben ernsthaft mit seiner Theorie auseinandersetzten. Wie ihren kritischen Äußerungen zu entnehmen ist, konnten sie sich nicht von Lavaters Lehre überzeugen lassen und warfen ihm vor, die von ihm als Belege angeführten Bibelstellen undifferenziert und mit mangelhafter Hermeneutik zu interpretieren. Zudem, so ein weiterer gewichtiger Einwand, verstricke Lavater sich in Bezug auf empirische Evidenz und der Frage, ob und wie diese vorliegen müsse, in Widersprüchen: Bemerken Sie es selbst, wie Sie bereits anfangen, theils über die Schrift hinauszuwanken und ausserordentliche Wirkungen Gottes im moralischen Theil des Menschen anzunehmen, das Sie durch eigne und fremde Erfahrung belehrt werden, dass dergleichen in physischen Dingen nicht angetroffen werden. Wachen Sie über Ihr Herz, dass Sie Gott nicht versuchen und da außerordentliche Kennzeichen des Gnadenstandes fordern, wo Er keine gegeben hat, wodurch Sie selbst in Verwirrung und unnütze schwehre Bekümmernisse stürzen.¹⁶¹
Als bedenklich eingestuft wurde die Tatsache, dass Lavater es allein auf die menschliche Unfähigkeit abschob, wenn die Beweise für Wundertaten nicht mehr erbracht werden konnten. Diese Ansicht verunsichere die Gläubigen, die „bey Ermangelung der Wundergaben in Zweifel gesezt werden, ob sie auch Gott gefällig seyn“¹⁶² würden, und bestärke die Religionskritiker, wie Jerusalem in einem Brief an Zimmermann zu bedenken gab: Aber wenn die Verheissungen, die auf alle Gläubige, und auf alle Zeiten gehen sollen, übernatürliche Offenbarungen, Einsichten und Kräfte unzertrennlich mit in sich begreiffen sollen, und der Deist heraus die Folge macht, dass dann entweder nach der ersten Gründung des Christenthums kein wahrer Gläubiger gewesen, oder dass alle die prächtigen Verheissungen nicht wahr seyn müssen, sollte uns diese Folge nicht wenigstens äußerst bedenklich vorkommen, und uns so lange nur noch eine andere Erklärung möglich ist, uns diese wählen machen.¹⁶³
159 JCLW III, S. 21. 160 U. a. Spalding, Jerusalem, Friedrich Gabriel Resewitz (1729–1806), Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), Georg Joachim Zollikofer (1730–1788), Klopstock, Herder, Johann Georg Hamann (1730–1788), Zimmermann, Johann Konrad Hotz (1739–1799) sowie Jakob Hermann Obereit (1725–1798) (vgl. JCLW III, S. 43). 161 Friedrich Gabriel Resewitz an Lavater, 23. Jan. 1770. In: JCLW III, S. 87 f. 162 Jakob Christoph Beck (1711–1785) an Lavater, 27. Juli 1771. In: JCLW III, S. 78. 163 Jerusalem an Zimmermann, 21. Nov. 1769. In: JCLW III, S. 81.
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Doch es gab auch positive Stimmen zu Lavaters Wunderglauben, so zum Beispiel von Johann Jakob Hess (1741–1828), von dem Lavater zu berichten wusste: „Der Verfasser der Lebensgeschichte Jesu ist nun von meiner Theorie von der Kraft des Glaubens und des Gebethes und der Allgemeinheit der Geistesgaben unmittelbar aus der Schrift so überzeügt, dass er nun auch anfängt, mich zuunterstützen.“¹⁶⁴ Lavater versuchte auch immer wieder, seine Lehre in seinen Predigten zu erläutern und zu verbreiten, was nicht immer Gefallen fand: Morn hält Lavater s. Pfingstoration de fide in Spiritum Sanctum, wo er seine alten Meinungen vom Geist und Glaube wieder auftischen wird zur Ärgernis aller […] Schöngeister und vornehmen Vernunftweisen.¹⁶⁵
Diese oft missionarisch anmutende öffentliche Verkündigung der Kraft des Wunders und Gebets führte dazu, dass Lavater immer wieder als Schwärmer bezeichnet wurde,¹⁶⁶ wie ihm sehr wohl bewusst war. Als er im Jahr 1785 Spaldings Sohn bei sich zu Besuch hatte, schrieb er an dessen Stiefmutter: „Wir verstanden uns sehr, ohne dass Sie fürchten dürfen, dass ich ihn in meine verrufene Schwärmerey hineingezogen.“¹⁶⁷ Lavaters Suche nach Menschen mit besonderen Geistesgaben wurde genährt von Berichten über seltsame Begebenheiten, die sich in seinem näheren und ferneren Umfeld ereigneten. Dass Lavater nicht der einzige war, der sich davon beeindrucken ließ, zeigen die Ereignisse um den Kandidaten Heinrich Weiss, der in Zürich für großes Aufsehen gesorgt hat. Weiss verfiel der Bauernwitwe Catharina Rinderknecht, deren mediale Fähigkeiten dahin gingen, „dass alles, was ihr unter dem Gebeth beyfalle, göttliche Antwort sey.“¹⁶⁸ Weiss und Rinderknecht institutionalisierten Rinderknechts angebliche mediale Fähigkeit in Form von rege besuchten Gebetszusammenkünften, so dass eine an pietistische Gruppierungen erinnernde, von Weiss angeführte Bewegung entstand: Er [Weiss] besuchte die Erweckten in ihren Häusern; hielt Stunden, und brachte es dazu, dass sie halbe und ganze Nächte durch im Testament lasen und betheten. Auch schien sich das Leben einiger Ausgelassner merklich zu ändern. Diese lud er nun auf den Sonntag und einige Tage der Woche in das Beth-Häusgen. Sie kamen zu dreissig und vierzig.¹⁶⁹
164 Lavater an Zimmermann, 21. Aug. 1769. In: Luginbühl-Weber: Lavater – Charles Bonnet – Jacob Bennelle (Anm. 15), 1. Halbband, S. 203. 165 Johann Caspar Häfeli an Johann Georg Müller, 10. März 1780. SB Schaffhausen, Fasc. 178. 4. 166 Zum Begriff ‚Schwärmer‘ im Zusammenhang mit Lavater vgl. Kap. 3.2. 167 Lavater an Maria Charlotte Spalding (1749–1804), 10. Jun. 1785. FA Lav. Ms. 581. 100. 168 Lavater an Spalding, 30. März 1773. FA Lav. Ms. 581. 76. 169 Ebd.
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Auch Lavater hatte sich zuerst lebhaft für Catharina Rinderknecht und ihre Wunderbegabung interessiert und sah in ihr eine Person, die ihn „in ihrem moralischen und dem unmittelbar und wesentlich damit verbundenen Wunderglaubens sehr weit“¹⁷⁰ übertreffe, denn sie habe „wirklich schon psychologische und physische Wunder erglaubt.“¹⁷¹ In Rinderknecht schien er also die Bestätigung der Weiterwirkung des Heiligen Geists gefunden zu haben. Schließlich musste er aber erkennen, dass er sich getäuscht hatte, stellten sich doch ihre Prophezeiungen allzu häufig als nicht erfüllt oder fehlerhaft heraus, woraus er schloss: „Sie rechnete vermuthlich nachher die Fehlschlagungen nicht. Daher entstand nach und nach Schwärmerey.“¹⁷² Lavaters kritische Beurteilung steht wohl auch im Zusammenhang mit Dorothea Wuppermann, einer angeblichen Geisterseherin, deren übernatürliche Kräfte Lavater im vorangegangenen Jahr zu beurteilen versucht hatte. Sein Freund Johann Gerhard Hasenkamp (1736–1777)¹⁷³ hatte ihn in Briefen auf die Wunderseherin aufmerksam gemacht. Nach anfänglichem Interesse kam Lavater aber zum Schluss, dass Wuppermann keine eindeutigen Beweise liefern könne, die ihre übernatürlichen Gaben belegen würden.¹⁷⁴ Dass Lavater bei anderen Persönlichkeiten, die vorgaben, Wundergaben zu besitzen, die bei Rinderknecht und Wuppermann gezeigte distanzierte Reflexion vermissen ließ und in ähnlich fanatische Begeisterung verfiel wie der Rinderknecht protegierende Weiss zeigt, wie stark seine Sehnsucht nach Transzendenzerfahrung in der Immanenz war. Da es Lavater aber nicht gelang, fundierte übernatürliche Begabung zu finden, suchte er nach anderen Spuren, die von der Göttlichkeit im Menschen zeugten. Mit der Physiognomik hatte Lavater eine Methode entwickelt, die das Wirken respektive die Präsenz Gottes, wenn auch nicht durch Wunderbegabung, so doch durch die ebenbildliche Gestalt im Antlitz gewisser Menschen aufzeigen konnte. Die Wissenschaft der Physiognomik, so Lavaters Überzeugung, liefert handfeste, weil äußere Merkmale, die auf Gottes fortdauerndes Wirken im Menschen schließen lässt, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
170 Ebd. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Zu der Freundschaft zwischen Hasenkamp und Lavater vgl. Kap. 2.7. 174 Vgl. Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 35 f. Vgl. auch Kap. 2.7.
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2.6 Physiognomik als äußeres Zeichen von Göttlichkeit Als Motivation für seine physiognomischen Studien nennt Lavater das Bedürfnis nach vertiefter Kenntnis des Menschen, die seiner Meinung nach die grundsätzliche Bedingung für zwischenmenschliche Beziehungen darstellt: Der Mensch ist berufen, mit Menschen umzugehen. Kenntnis des Menschen ist ja die Seele des Umgangs, das was den Umgang lebendig, angenehm und nützlich macht; Kenntnis des Menschen ist etwas, das auf einen gewissen Grad einem jeden Menschen schlechterdings unentbehrlich ist. Wie nun aber den Menschen leichter, besser, sichrer kennen lernen, als durch Physiognomik (im weitern Sinne des Worts) da man sie in so vielen tausend und tausend Fällen nicht aus den Handlungen kennen lernen kann?¹⁷⁵
Diese Menschenkenntnis um des Menschen selbst willen bildet aber nur die Vorstufe zu einem grundlegenden Streben, das Lavaters Denken, Handeln und Werk bestimmt: das Streben nach Gotteserkenntnis. Für Lavater beginnt die Fähigkeit, sich Gott anzunähern und ihn wahrnehmen zu können, in der Erforschung der eigenen Persönlichkeit: Wie werden wir aber jemals Lust oder Fähigkeit haben, mit Gott uns zu beschäftigen, mit ihm in unsern Gedanken umzugehen, wenn wir uns selber nicht kennen, nicht erst mit uns selber umgehen?¹⁷⁶
Mit der Physiognomik entwickelt Lavater eine in seinen Augen wissenschaftliche Analyse, mit der über das Äußere des Menschen auf sein Inneres geschlossen werden kann. Somit ist sie ein Schritt zur menschlichen (Selbst-) Erkenntnis und damit verbunden ein Schritt zur Erkenntnis Gottes. Auch vermag die Physiognomik dazu beizutragen, die Nächstenliebe zu stärken, was sich wiederum förderlich für die Liebe zu Gott und dessen Erkenntnis auswirkt.¹⁷⁷ Lavater hat sich zum ersten Mal öffentlich über die Physiognomik geäußert, als er in der Physikalischen, späteren Naturforschenden bzw. Ökonomischen Gesellschaft Zürichs¹⁷⁸ ein Referat zu einem von ihm frei gewählten Thema
175 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 1. Bd. 1775. Faksimiledruck nach der Ausgabe Zürich 1775–1778. Leipzig 1968, S. 157 f. 176 Lavater: Vermischte Predigten (Anm. 145), S. 228. 177 Vgl. Johann Caspar Lavater: Predigt von der Liebe Gottes, über I Joh. IV. V.19. Gehalten in Schaffhausen, den 7 Julius 1771. Schaffhausen 1771, S. 20. 178 Zur Physikalischen Gesellschaft vgl. Rolf Graber: Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746–1780. Zürich 1993, S. 23–45.
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halten sollte. Der erste Teil dieses Referats, das Lavater am 3. Dezember 1770 in Zürich hielt, wurde von seinem Freund, dem Arzt Johann Georg Zimmermann (1728–1795), 1772 ohne Lavaters Wissen im Hannoverschen Magazin mit dem Titel Von der Physiognomik gedruckt. Das große Aufsehen, das Lavaters Schrift erregte, aber auch Zimmermanns Begeisterung für Lavaters physiognomischen Studien bewogen ihn, Lavaters Schrift, um einen zweiten Aufsatz erweitert, auf eigene Kosten bei Philipp Erasmus Reich (1717–1787) in Leipzig in Druck zu geben.¹⁷⁹ Das eigentliche physiognomische Hauptwerk Lavaters, die Physiognomischen Fragmente, zu dem die beiden ersten Aufsätze bloß „ein Skelet zu einem Entwurf einer Physiognomik“¹⁸⁰ darstellten, wurden in den Jahren 1775–1778 gedruckt. Die Vorarbeit war nicht nur zeitintensiv, sondern auch kostspielig, da Lavater für seine Studien sehr viel hochkarätiges Bildmaterial brauchte. Die über die Jahre hinweg zusammengekommenen Kupferstiche, Zeichnungen, Silhouetten und Schattenrisse führten schließlich zu einer umfangreichen Kunstsammlung, die sich auf über 25’000 Porträts unterschiedlichster Technik und Qualität belief.¹⁸¹ Einen großen Teil dieser Sammlung musste Lavater aber später aus Geldsorgen verkaufen – was dazu führte, dass noch heute in vielen Teilen Europas, vor allem in Wien und in Russland, Kunstwerke aus Lavaters ,Physiognomischem Cabinet‘, wie er es nannte, zu finden sind.¹⁸² Neben den von Freunden und Bekannten gewünschten Zusendungen eigener und fremder Porträts gab Lavater viele der von ihm gewünschten Zeichnungen und Stiche in Auftrag. Neben namhaften Zeichnern und Stechern wie die Schweizer Johann Heinrich Lips (1758–1817), Johann Rudolf Schellenberg (1740–1808) und Lavaters späterer Schwager Georg Friedrich Schmoll (gest. 1785), der ihn 1774 als Porträtisten auf seiner Rheinreise, bei der auch Goethe auf einigen Strecken mit von der Partie war, begleitete, gehörte Daniel Chodowiecki (1726–1801) zu den bekanntesten Künstlern, die Lavater für sein Projekt gewinnen konnte. Chodowiecki und Lips arbeiteten nicht nur für die Physiognomischen Fragmente, sondern lieferten auch Stiche für Lavaters Messiaden.¹⁸³ Die Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, so der vollständige Titel, erschienen zwischen 1775–1778 in vier Bänden. Die in Royal Quart auf bestem holländischem Papier gedruckte Erstaus-
179 JCLW IV, S. 518. 180 Ebd., S. 607. 181 Vgl. Martin Blankenburg: Wandlung und Wirkung der Physiognomik: Versuch einer Spurensicherung. In: Pestalozzi/Weigelt (Anm. 14), S. 191. 182 Ein Großteil von Lavaters ‚Physiognomischem Cabinet‘ gehört heute dem Kunsthaus Wien. 183 Vgl. Kap. 6.4.1.
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gabe enthielt über hundert Kupfertafeln und wurde zu einem der bedeutendsten, wenn auch sehr kontrovers diskutierten Werke der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, was nicht zuletzt durch die Wirkungsgeschichte eindrucksvoll illustriert wird. So lagen 1810, neun Jahre nach Lavaters Tod, sechzehn deutsche, fünfzehn französische, zwei amerikanische, zwei russische, eine holländische, eine italienische und zwanzig englische Ausgaben vor.¹⁸⁴ Seit der Antike bezeichnet der Begriff ‚Physiognomik‘ eine Lehre, die auf Grund von äußeren Merkmalen, zu denen Gesichtszüge, Kopfform und Körperbau zählen, auf seelische Eigenschaften wie Charakter, Veranlagung, Temperament und Gefühle schließt.¹⁸⁵ Dass sich Lavater dieser langen Tradition physiognomischer Beschäftigung bewusst war, zeigt seine Auflistung bedeutender Namen, die seiner Meinung nach die besten Abhandlungen zu diesem Thema verfasst haben, so unter anderem Aristoteles (384–322 v. Chr.), Paracelsus (ca. 1493–1541) und Jakob Böhme (1575–1624).¹⁸⁶ Lavater kennt aber auch die 1751 im zwölften Band der Encyclopédie aufgenommene Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Physiognomik.¹⁸⁷ Es handle sich dabei um eine „science imaginaire“¹⁸⁸, so im betreffenden Artikel, da die immaterielle Seele keine Auswirkungen auf materielle Dinge wie den Körper haben kann: Mais comme l’ame n’a point de forme qui puisse être relative à aucune forme matérielle, on ne peut pas la juger par la figure du corps, ou par la forme du visage.¹⁸⁹
Diese seiner Meinung nach ungerechtfertigte Kritik an der Physiognomik erkläre sich dadurch, so Lavaters Versuch einer Richtigstellung, dass im Verlaufe der Zeit sehr viel Missbrauch mit physiognomischen Studien betrieben worden sei.¹⁹⁰ Zudem betrachtete Lavater die Seele nicht als immateriell, sondern ging, wie anhand seiner Rezeption von Bonnets Lehre gezeigt wurde, wie der Genfer Natur-
184 Weigelt: Lavater (Anm. 13), S. 99. 185 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 955. 186 Vgl. JCLW IV, S. 705–707. 187 Vgl. ebd., S. 604. 188 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de lettres. Mis en ordre et publié par Diderot. Tome 12. 1751, S. 538. 189 Ebd. 190 „Es ist der gemeine Gang aller menschlichen Dinge, dass ihr Misbrauch sie zuletzt ganz und gar verächtlich macht. Nichts mag vielleicht mehr gemissbraucht worden seyn, als die vorgegebene Kenntnis, den genauen Charakter, ja wohl gar die künftigen Schicksale des Menschen betreffend; und daher vermuthlich ist die wahre Physiognomik selbst lächerlich, und den eingebildeten Wissenschaften beygezählt worden“ (JCLW IV, S. 557).
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wissenschaftler von einer untrennbar an Körperlichkeit gebundenen Seele aus, was er im Zusammenhang mit der Physiognomik mit der körperlichen Lokalisierbarkeit von geistigen Eigenschaften erklärte: Wenn wir bloss Beobachter unserer Natur sind, so werden wir finden, dass der Sitz der Denkenskraft in unserm Haupte und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begierde, des Verlangens, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unserer Kraft im ganzen Körper und vornehmlich in der Hand und im Mund ist.¹⁹¹
Lavater geht es darum, die Physiognomik mit Verstand und Erfahrung als wirkliche, belegbare Wissenschaft zu etablieren, denn „sagt uns die Vernunft nicht, dass jedes Ding in der Welt eine äußere und innere Seite habe, welche in einer genauen Beziehung zueinander stehen?“¹⁹² In der Welt geschehe nichts ohne zureichenden Grund, jede Wirkung der Natur unterliege einem mechanischen Gesetz, und darum gebe es für ihn keinen Grund, diese Kausalität zu leugnen, wenn es um die innerliche und äußerliche Verbindung des menschlichen Wesens gehe: In allem soll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben sollen sich Ursachen und Wirkungen entsprechen – allenthalben soll man nichts sicherer wahrnehmen, als dieß unaufhörliche Verhältnis von Wirkungen und Ursachen – Und in dem schönsten, edelsten, was die Natur hervorgebracht hat – soll sie willkührlich, ohne Ordnung, ohne Gesetze handeln? Da, im menschlichen Angesichte, diesem Spiegel der Gottheit, dem herrlichsten aller ihrer uns bekannten Werke, – da soll nicht Wirkung und Ursache, da nicht Verhältnis zwischen dem Aeusseren und Innern, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Ursach’ und Wirkung statt haben?¹⁹³
Um den Vorwürfen der Enzyklopädisten, die Physiognomik sei lediglich eine eingebildete Wissenschaft, entgegenzutreten, verweist Lavater auf die Semiotik. Wahrheit entstehe dadurch, dass bestimmte Phänomene durch überprüfbare Zeichen und Symbole ausgedrückt werden können: „So bald eine Wahrheit oder eine Erkenntnis Zeichen hat, so bald ist sie wissenschaftlich, und sie ist es so weit, so weit sie sich durch Worte, Bilder, Regeln, Bestimmungen mittheilen lässt.“¹⁹⁴ Der Physiognomik komme der eindeutige Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu, wenn „sich der auffallende unläugbare Unterschied der menschlichen Gesichtsbildungen und Gestalten – nicht nur dunkel wahrnehmen, sondern unter be-
191 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 1, S. 34. 192 JCLW IV, S. 558. 193 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 1, S. 46. 194 Ebd., S. 53.
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stimmte Charaktere, Zeichen, Ausdrücke bringen lasse.“¹⁹⁵ Dementsprechend steht für Lavater zweifelsfrei fest, dass sich moralische Harmonie der Seele, gleichbedeutend mit einer schönen Seele, auch in einem harmonischen, d. h. schönen Äußeren zeigen muss. Dies begründet er mit der Weisheit Gottes, der es zuwider laufe, seine vollkommenste Schöpfung mit Hässlichkeit zu verunstalten: Voraus gesetzt! – dass wir das Werk einer höchsten Weisheit – seyn – fällt’s nicht sogleich auf, dass es unendlich schicklicher ist – dass zwischen physischer und moralischer Schönheit Harmonie sey – als dass keine sey? dass es schicklicher sey – der Urheber aller moralischen Vollkommenheit drücke sein höchstes Wohlgefallen daran – durch eine natürliche Uebereinstimmung der physischen mit der moralischen aus?¹⁹⁶
Christus stellt für Lavater den Inbegriff dieser Harmonie der inneren und äußeren Schönheit dar. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Lavater nach Christusbildern suchte, die seinen Ansprüchen eines schönen, harmonischen Äußeren genügten. Obschon Lavater zugeben musste, dass sich in den Evangelien keine Beschreibung von Gestalt oder Gesicht Jesu Christi nachweisen lasse, sei es legitim, sich Gedanken über das Aussehen des göttlichen Sohnes zu machen, und es scheint ihm nicht verwerflich zu sein, ihn „in irgend einer unbestimmten oder bestimmten Menschengestalt zu gedenken.“¹⁹⁷ Wie kritisch Lavater war, wenn es darum ging, Christus bildlich darzustellen, zeigen die Kommentare zu den Stichen in Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen. Nicht nur, dass Lavater bei den Stechern ständig Verbesserungsvorschläge anbrachte. Auch bei den gedruckten Werken konnte er sich nicht zurückhalten, in Kommentaren die von ihm festgestellten ‚Fehler‘ in der Darstellung Christi zu bemängeln,¹⁹⁸ was sich unter anderem dadurch erklärt, dass er den Glauben an Christus in direkten Zusammenhang zu einem adäquaten Bild und zu physiognomischer Erkenntnis stellt: Je bessere Christusgesichter, desto mehr Glauben an Christus. […]. Wer Christus lebendes Gesicht erkannte, in ihm Ebenbild des Vaters sah, der glaubte und hatte Sinn für alle Wahrheit und Göttlichkeit. […]. Nur Mangel an physiognomischem Sinn war’s, dass man Christus nicht glaubte. […] Mit dem Steigen und Sinken des Christenthums steigt und sinkt physiognomischer Sinn.¹⁹⁹
195 Ebd. 196 Ebd., S. 57. 197 Ebd., Bd. 4, S. 433. 198 Vgl. Kap. 6.4.1. 199 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 4, S. 435.
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Wäre dieser physiognomische Sinn bei Pilatus ausgeprägter gewesen, hätte er Christus nicht verurteilt, so führt Lavater im vierten Band der Physiognomik aus.²⁰⁰ Die Göttlichkeit im Gesicht Christi wäre einem wahren Physiognomiker nicht entgangen, wodurch er den eindeutigen Beweis gehabt hätte, dass Jesus Gottes Sohn sei.²⁰¹ Getreu seiner Ansicht, der Mensch unterscheide sich lediglich dem Grad der Entwicklungsstufe, nicht aber dem Wesen nach von Jesus Christus, suchte Lavater die göttlichen Zeichen nicht lediglich in Christi Antlitz, sondern auch in den Gesichtszügen seiner Mitmenschen. Die Physiognomik sollte ihm Auskunft darüber geben, auf welcher Entwicklungsstufe sich die jeweilige Person befindet. Sehr viel Göttliches sah Lavater beispielsweise im Porträt Zwinglis: Zwingli – welche Weisheit, Treue, und sanfte Festheit in diesem Gesichte! Er denkt, unterdeß ihn der Mahler zeichnet, ohn’ alle Selbstgenügsamkeit, ohn’ allen Triumph – aber auch ohn’ alle Furcht – mit der weisesten gehaltensten Denkenskraft sich in Gegenwart und Zukunft hinein – ohn’ alle süsse Verliebtheit, ohn’ alle Schwäche, Weiblichkeit – und dann auch ohn’ allen selbstgefälligen Trutz – Man vergleiche diess Auge mit dem schwächlich weiblichen des Diderots, mit dem stolzen des Bolingbrockes, und mit dem bloss treuen, einfachen, still frommen des Menno.²⁰²
Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Lavater mit seinen physiognomischen Studien auf die Spur kommen wollte, steht in eschatologischem Blickwinkel. Die damit verbundenen Vorstellungen über das Leben nach dem Tod hatte Lavater erstmals ausführlich in den Aussichten in die Ewigkeit formuliert, in denen er seine – zum Teil sehr kühnen – Vorstellungen über den Zustand im Jenseits in vierundzwanzig Briefen an seinen Freund Johann Georg Zimmermann ausführt. Dass auch dort die Physiognomie eine Rolle spielt, wird bei der im Jenseits gesprochenen Sprache ersichtlich. Lavater geht von einer Natursprache aus, die im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung zugunsten einer willkürlichen Sprache verloren gegangen sei.²⁰³ Lavater ist überzeugt, dass die menschlichen Sprachen im Jenseits keinerlei Bedeutung mehr haben werden. Vielmehr, so seine These, wird es dem Mensch möglich sein, sich unmittelbar, ohne sprachlichen Umweg und in der Gleichzeitigkeit aller parallel empfundener und erfasster Gedanken,
200 Vgl. ebd. 201 Vgl. ebd. 202 Ebd., Bd. 3, S. 275. 203 Auffällig ist, dass sich Lavaters im 16. Brief dargestellten Gedanken über den Ursprung und die Entwicklung der menschlichen Sprache stark an Herders Sprachtheorie anlehnen. Herders ‚Abhandlung über den Ursprung der Sprache‘ erschien 1772, der 16. Brief ist im dritten Band der ‚Aussichten‘ von 1773, so dass es plausibel ist, dass sich Lavater an Herders Theorie anlehnte.
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Gefühle und Bilder mitzuteilen. Dass dies nicht in einer der menschlichen Tonsprachen, die er als „Abarten, Verdrehungen, Verstümmelungen einer ersten Natursprache“²⁰⁴ bezeichnet, möglich ist, erscheint Lavater naheliegend. Es gebe nur eine Sprache, die im Jenseits gesprochen werden würde: Mich dünkt, es lasse sich eine Sprache gedenken, die alle gedenkbaren Vollkommenheiten hätte und die alle auch nur im mindesten willkürliche, das ist, bloß uneigentlich nachahmende Töne, durchaus entbehrlich machte, […]. Diese unmittelbare Sprache ist physiognomisch, pantomimisch – musicalisch.²⁰⁵
Lavater sieht in der Physiognomik eine über die Anschauung vermittelte Kommunikation, die es ermöglicht, seine Mitmenschen nicht über die durch Sprache vermittelten und daher begrenzten Äußerungen zu verstehen, sondern in einem ganzheitlichen Kontext zu erfassen. Mit dieser Ansicht löst er gewissermaßen den Abstand zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten auf, macht aus ihm eine in der Betrachtung zusammenlaufende Verschmelzung. Der Mensch, das facettenreichste Geschöpf unter den Lebewesen, soll in seiner von Gott gegebenen Ganzheit erfasst werden können: Die Physiognomik ist eine Quelle der feinsten und erhabensten Empfindungen; ein neues Auge, die tausendfältigen Ausdrücke der göttlichen Weisheit und Güte zu bemerken.²⁰⁶
Lavaters physiognomische Studien erfüllen also den Zweck, die Göttlichkeitsstufen im Diesseits zu bestimmen, und sind gleichzeitig eine Übung, um sich für die jenseitige Ausdrucksweise vorzubereiten. Die physiognomischen Studien machten Lavater über die Landesgrenze hinaus als Physiognomiker bekannt. So bekam er häufig Zeichnungen zugeschickt mit der Bitte, eine physiognomische Beurteilung zu verfassen. Doch auch er selbst erbat sich immer wieder Porträts von Menschen, die ihn auf Grund ihres Wirkens interessierten. Auf diese Weise kam er mit den Pietisten Hasenkamp und Hahn in Kontakt. Wie sich diese Beziehungen entwickelten, soll, zusammen mit Lavaters anderen Verbindungen zu pietistischen Persönlichkeiten, im folgenden Kapitel erörtert werden. Dabei geht es auch darum, Lavaters Christologie nach Anknüpfpunkten an den Pietismus zu befragen.
204 JCLW III, S. 449. 205 Ebd., S. 451 f. 206 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 1, S. 159.
Lavater in der Auseinandersetzung mit pietistischen Strömungen
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2.7 Lavater in der Auseinandersetzung mit pietistischen Strömungen In Lavaters Religionsauffassung spielen der subjektiv empfundene Glauben und die innige Hinwendung zu Gott durch Christus im Gebet eine zentrale Rolle. Für Lavater ist die in seelischer Bewegung und emotionaler Ergriffenheit sich zeigende Empfindung des Göttlichen wichtiger als ein rationales Erklären und Erfassen der Religion. Mit dieser Ansicht steht Lavater in der Nähe von pietistischen Überzeugungen. Inwiefern sich Lavater aber wirklich von pietistischem Gedankengut hat beeinflussen lassen, ist nur schwer festzustellen. Hierfür sind zwei Gründe verantwortlich: Einerseits ist der Pietismus keine einheitliche theologische Strömung, sondern ein in unterschiedlichen, sowohl orts- wie auch persönlichkeitsabhängig divergierend sich entwickelnden Variationen auftretendes Phänomen. Dies macht es schwierig, Lavaters Nähe – abgesehen von derjenigen, die bereits in der Empfindsamkeit des Glaubens konstatiert wurde – oder Distanz zum Pietismus generell zu bestimmen. Eine spezifische, inhaltlich differenzierte Positionierung kann nur durch die Kontakte, die Lavater zu den einzelnen Pietisten gepflegt hat, vorgenommen werden. Lavater hat sich kritisch mit einzelnen pietistischen Strömungen oder den Schriften ihrer Vertreter beschäftigt, wie anhand seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760) und August Gottlieb Spangenbergs (1704–1792) sowie anhand seiner Kontakte zu Johann Gerhard Hasenkamp (1736–1777), Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) und Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) gezeigt werden soll. Lavater wurde schon in seiner Kindheit mit dem Pietismus vertraut, da seine Eltern Kontakte zu Mitgliedern der zürcherischen Sozietät der Herrnhuter pflegten.²⁰⁷ Auch später gehörten viele gute Bekannte Lavaters zur Herrnhuter Brüdergemeinde, so Eberhard Gaupp (1734–1796), Ludwig Carl Freiherr von Schrautenbach (1724–1783), der lange Zeit in engem Kontakt mit Zinzendorf stand, und Isabella von Wartensleben (1743–1811). Eine weitere enge Bekannte Lavaters war Susanna Katharina von Klettenberg (1723–1794), die zwar nicht zur Brüdergemeinde gehörte, aber stark mit ihr sympathisierte.²⁰⁸ Lavater hatte jedoch nicht nur viele Freunde und Bekannte, die zu den Herrnhutern gehörten, er war auch bestens vertraut mit den Werken Zinzendorfs und
207 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 74. 208 Weigelt geht ausführlich auf Lavaters Kontakte und persönliche Begegnungen mit Mitgliedern der Herrnhuter Brüdergemeinde ein (vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 77–92).
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Spangenbergs.²⁰⁹ Auf seiner Leseliste, in der alle bis 1768 gelesenen Werke eingetragen sind, finden die Predigten Zinzendorfs Erwähnung.²¹⁰ Lavater hat sie als Inspirationsquelle benutzt, wie die verschiedenen Abschriften und seine eigenen Aussagen über die Gedanken und Gefühle, die er aus ihnen schöpfte, belegen.²¹¹ Von Bedeutung war dabei wohl, dass Zinzendorf wie Lavater Christus ins Zentrum seiner Theologie stellte. Allerdings fokussierte sich Zinzendorf in seiner Christologie auf das satisfaktorische Strafleiden Christi, was Lavater zu einseitig erschien und seiner Meinung nach den wahren Kern des Christentums verdeckte.²¹² Auch das Werk Spangenbergs konnte Lavater nicht zufriedenstellen. Sowohl dessen Biographie über Zinzendorf wie auch dessen Idea fidei fratrum (1779) gefielen ihm nicht, es fehlte ihm der ‚apostolische Geist.‘²¹³ Aus dieser Beurteilung wird ersichtlich, wie stark Lavater die christliche Lehre auf die Apostel abstützte und die Anfänge des Christentums idealisierte. Ungeachtet der Spannungen und Schwierigkeiten, welche die junge christliche Gemeinde nicht nur gegen außen, sondern auch innerhalb der eigenen Gruppe bis zur Etablierung einer einheitlichen Lehre zu bestehen hatte,²¹⁴ betrachtet Lavater die Urgemeinde als Vorbild für ein unverfälschtes, reines Christentum: Mich dünkt, das war der Anfang alles Übels in der Kirche, dass man von der göttlichen Einfalt der apostolischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit abwich. Mich dünkt, der, so mehr bestimmen will, das heisst, solche Bestimmungen zu Bedingungen machen will, und der, so weniger bestimmt haben will, als die Apostel, sind beyde gleich weit von der Wahrheit und Einfalt entfernt.²¹⁵
Das apostolische Zeugnis ist Lavaters Meinung nach von besonderer Bedeutung, da in ihm das Werk Christi nach dessen Tod fortgesetzt und die Grundlage für das Christentum gelegt wurde. Diese Grundlage auch in seiner Zeit als reine göttliche Wahrheit zu verkünden war eine Absicht, die Lavater nicht nur in seinen Predigten verfolgte, sondern die er auch seinem Epos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen zugrunde legte.
209 Vgl. Horst Weigelt: Der Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Hrsg. von Martin Brecht u. a. Bd. 2. Göttingen 1995, S. 722. 210 Vgl. Caflisch-Schnetzler: Wegzuleuchten (Anm. 50), S. 525. 211 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 93. 212 Vgl. ebd., S. 96 f. 213 Vgl. ebd., S. 94. 214 So beispielsweise beim Apostelkonzil, bei dem in Bezug auf die Heidenmission diskutiert wurde, ob der Weg zum Christentum über die Beschneidung führen müsse (vgl. Apg. 15,1–21). 215 Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 63.
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Lavaters Verhältnis der Herrnhuter Brüdergemeinde gegenüber war stets zwiespältig. Er bewunderte zwar die tiefe Frömmigkeit und das vorbildliche Leben als christliche Gemeinschaft. Die damit verbundene Abschottung von der Welt lief aber Lavaters eigenem Bestreben, in und für eine breite Öffentlichkeit zu arbeiten, zuwider. Auch ergaben sich, wie bereits angetönt, dogmatische Unterschiede vor allem in Bezug auf die Satisfaktion. Lavater konnte nicht verstehen, dass die Herrnhuter so streng am Strafleiden Christi festhielten. Lavater hat sich also intensiv mit den Ideen und Gedankengut des Herrnhuter Pietismus befasst und regen Kontakt zu einzelnen Mitgliedern gepflegt, sich aber in den für ihn zentralen christologischen Aspekten klar von ihnen distanziert.²¹⁶ Prägend war Lavaters Beziehung zum niederrheinischen Pietismus, die sich vor allem auf Johann Gerhard Hasenkamp (1736–1777)²¹⁷ konzentriert, mit dem Lavater in den 1770er Jahren einen regen Briefwechsel führte. Hasenkamp war für Lavater ein Gefährte im Kampf um den wahren Glauben, den Lavater stetiger Gefahr ausgesetzt sah: O mein Freund! Es ist hohe, hohe Zeit zu wachen und sich in Bereitschaft zu halten. Es ist eine Zeit der Gährung! Der Satan hat neue Anschläge! Wir müssen zusammenhalten und unsers Herrn Sache mit doppelter Wachsamkeit vertheidigen! Lasst uns Gott unaufhörlich um den Geist der Weisheit, Kraft und Liebe bitten! Wir werden siegen; aber wir müssen kämpfen.²¹⁸
Auch Hasenkamp betrachtete Lavater als Kampfgenossen für die wahre christliche Religion. Aus diesem Grund setzte er sich dafür ein, Lavater als Prediger und Pädagogen nach Duisburg zu holen. Dieses Angebot lehnte Lavater aus familiären Gründen wie auch aus den Verpflichtungen seiner Kirchgemeinde gegenüber ab, so seine offizielle Version.²¹⁹ Theologische Vorbehalte gegen Hasenkamp mögen aber mit zu den Gründen gehört haben, die ihn abhielten, sich enger in dessen Wirkungsbereich zu begeben, denn insbesondere in eschatologischen Fragen vertraten Hasenkamp und Lavater unterschiedliche Meinungen. So gingen zwar Hasenkamp wie Lavater von einer postmortalen Weiterexistenz aus, in der die Seele nicht losgelöst von Materie, sondern von einem ätherischen Leib umgeben weiterlebt. Hasenkamp glaubte aber aus der Bibel ableiten zu können, dass das
216 Vgl. ebd., S. 99 f. 217 Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 10, S. 737–739. 218 Lavater an Hasenkamp, S. 14. Jan. 1772. In: Karl Christian Eberhard Ehmann (Hg.): Briefwechsel zwischen Lavater und Hasenkamp. Basel 1870, S. 11. 219 Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 31.
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Jenseits sieben Abstufungen aufweist, innerhalb derer sich die Seelen auf ihrem Weg zur göttlichen Vollkommenheit vorwärts bewegen.²²⁰ Lavater betrachtete Hasenkamps Stufenlehre als „poetische Träume.“²²¹ Obschon auch er davon ausging, dass sich die Vervollkommnung stufenweise ereignete, war es für ihn weder möglich noch nötig, eine genaue Zahl dieser Stufen zu bestimmen: Dass es Stufen der Tugenden und Seligkeiten gebe, darin sind wir eins. Ob es aber eben 7 oder 8 oder 12 oder 24 oder 72 oder 144 oder 144 000 gebe, l.[ieber] Fr.[eund], lässt sich ohne positive Offenbarung Gottes nicht entscheiden. Alle Willkürlichkeiten in dergleichen Dingen hasse ich.²²²
Auch kritisierte Lavater immer wieder Johann Albrecht Bengel (1687–1752)²²³ und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782),²²⁴ deren Werke Hasenkamp sehr hoch schätzte. Hasenkamp glaubte zwar nicht an Bengels Berechnungen über das apokalyptische Datum, hielt aber seine Art, „mit der Schrift umzugehen, für die erbaulichste.“²²⁵ Lavater warf Hasenkamp vor, zu stark in der trockenen und ängstlichen Weise Bengels zu denken.²²⁶ Hier spielte Lavater wohl auf Bengels Methode der Schriftauslegung an. Bengel betrachtete die biblischen Zeugnisse als verbalinspiriert. Zur Erklärung der Schrift, so ist es seine Ansicht, darf nur die Schrift selbst herbeigezogen werden. Was die biblischen Zeugnisse aussagen, sei göttliche Offenbarung und habe absoluten Wahrheitsanspruch.²²⁷ Lavaters Meinung nach ist Bengel „ein viel zu theologischer, wörtlicher, gefühlloser und nervenloser Mann. Ich glaube, dass er dem Christenthum mehr geschadet hat, als Semler und Teller.“²²⁸ Bengels wörtliche Auslegung der Schrift ist also in Lavaters Augen genauso schädlich wie diejenige Auslegung, die auf der Grundlage der historisch-kritischen Bibelexegese die übernatürlichen Offenbarungen Gottes in Frage stellt oder gar abstreitet, so Lavaters kritisches Urteil. Lavater erkennt große Differenzen in seinem und Bengels Denken und konstatiert: „Mein ganzer moralischer, biblischer, theologischer Geschmack ist dem seinigen entgegen.“²²⁹ Eine gewisse Wertschätzung Bengel gegenüber ist aber trotz-
220 Vgl. ebd., S. 32. 221 Lavater an Hasenkamp, 19. Mai 1773. In: Ehmann (Anm. 218), S. 65. 222 Lavater an Hasenkamp, 19. Mai 1773. In: ebd., S. 65. 223 Zu Bengel vgl. BBKL, Bd. XXII, 2003, S. 84–110. 224 Zu Oetinger vgl. BBKL, Bd. VI, 1993, S. 1156–1158. 225 Hasenkamp an Lavater, 16. Juni 1773. In: Ehmann (Anm. 218), S. 103. 226 Vgl. Lavater an Hasenkamp, 26. Juli 1743. In: ebd., S. 148. 227 Vgl. BBKL, Bd. XXII, S 89. 228 Lavater an Hasenkamp, 18. Juli 1773. In: Ehmann (Anm. 218), S. 130. 229 Lavater an Hasenkamp, 18. Juli 1773. In: Ehmann (Anm. 218), S. 130 f.
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dem ersichtlich. So erwähnt Lavater in seiner Apokalypse-Gebetreihe die Auslegung Bengels als die beste für diejenigen, die davon ausgehen, dass die JohannesOffenbarung die Kirchengeschichte darstellt.²³⁰ Auch verweist Lavater in seinen Aussichten in die Ewigkeit bei der Frage nach der vollständigen Erneuerung des Auferstehungsleibs auf Bengels Auslegung von 2Kor. 5,10 in dessen Gnomon Novi Testamenti (1742).²³¹ Ein häufig diskutiertes Thema zwischen Lavater und Hasenkamp bezog sich auf die Frage, inwiefern übernatürliches Eingreifen Gottes auch in der gegenwärtigen Zeit noch vorkommen könne. Obschon Hasenkamp die Wunder dem apostolischen Zeitalter zugehörend betrachtete,²³² machte er Lavater auf die Geisterseherin Dorothea Wuppermann aufmerksam. Sie gehöre zu den 144 000 Erwählten aus Apk. 14 und habe Besuch von anderen Erwählten aus dem Jenseits erhalten.²³³ Lavater, sonst sehr empfänglich für Erzählungen über Leute mit übersinnlichen Fähigkeiten, glaubte nach anfänglichem Interesse nicht an Wuppermanns Visionen. Ihre Befragung der Geister brachte keine neuen Erkenntnisse über das Jenseits, woraus Lavater schloss, dass ihre Kontakte nicht echt waren. Er ging davon aus, dass es sich bei Wuppermanns Besuchen aus dem Geisterreich lediglich um Imaginationen handelt.²³⁴ Lavater und Hasenkamp kritisierten immer wieder gegenseitig ihre exegetischen Ansätze. So rückte Hasenkamp Lavater in die Nähe der Herrnhuter, da dieser genau wie die Brüdergemeinde nichts von Ordnung und System im Reich Gottes halte.²³⁵ Hasenkamp spielte hier wohl auf die siebenstufige Ordnung des Jenseits an, die Lavater entschieden ablehnte mit der Begründung, ein solches System lasse sich in der Bibel nicht finden. Lavaters Meinung nach handelte Gott immer nach einer bestimmten Ordnung, es dürfe und könne aber weder im Streben noch in der Kraft des Menschen liegen, nach dieser Ordnung zu forschen. Darum könne auch die Zahl Sieben und darauf basierend die Siebenstufenlehre Hasenkamps nicht als regelmäßiges göttliches Ordnungssystem aus der Schrift abgeleitet werden.²³⁶ Lavater gründete seine Überlegungen auf das Studium der Natur, bei dem es nicht auf systematische Ordnung, sondern auf empirische Beobachtung ankommt: „Beobachtung der Natur; Beobachtung sag’ ich, das ist meine ganze Phi-
230 Vgl. FA Lav. Ms. 68a. 231 Vgl. JCLW II, S. 477 f. 232 Vgl. Hasenkamp an Lavater, 21. Mai 1772. In: Ehmann (Anm. 218), S. 30. 233 Vgl. ebd., S. 28. 234 Vgl. Lavater an Hasenkamp, 28. Dez. 1772. In: ebd., S. 37. 235 Hasenkamp an Lavater, 22. Dez. 1773. In: ebd., S. 173. 236 Lavater an Hasenkamp, 28. Dez. 1773. In: ebd., S. 176.
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losophie; […] Ich habe kein System; ich bin immer bereit, alles aufzunehmen, wenn es nur richtige Beobachtung ist.“²³⁷ Trotz dieser gegenseitigen Kritik gingen der ersten und einzigen Begegnung zwischen Hasenkamp und Lavater im Jahr 1774 hohe Erwartungen voraus. Hasenkamp freute sich sehr, endlich persönlich mit Lavater zusammenzutreffen, um „Zeit zu haben, mit einem der nützlichsten Schriftsteller zu reden und dazu beyzutragen, dass er noch nützlicher werde.“²³⁸ Zwar war die Begegnung, die anlässlich von Lavaters Rheinreise in Mülheim stattfand, zunächst noch kühl und distanziert. Auf der Weiterreise aber, auf der Hasenkamp Lavater begleitete, kamen sich die beiden näher. Besonders nachhaltig hat die gemeinsam erlebte Begegnung mit Goethe, Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) auf alle am Treffen Beteiligten gewirkt. Das Aufeinandertreffen dieser von ihren eigenen Meinungen zwar überzeugten, aber rege an den Ideen der anderen Interesse zeigenden bedeutenden Persönlichkeiten hat zu einem spannenden geistigen Austausch geführt, den Lavater als Zusammentreffen von Weltformat beschrieb.²³⁹ Hasenkamp begleitete Lavater nach diesem Treffen weiterhin auf dessen Reise nach Bad Ems und dokumentierte Gespräche und Gegebenheiten in seinem Tagebuch. Es gab dabei einige Meinungsverschiedenheiten, die im Wesentlichen die bereits im brieflichen Kontakt zur Sprache gekommene Kritik der siebenstufigen Ordnung zum Inhalt hatten. Für Hasenkamp war darum wohl Lavaters Tätigkeit als Erbauungsschriftsteller wichtiger als seine exegetische Ansicht, was unter anderem auch dadurch ersichtlich wird, dass Hasenkamp Lavater in seinen Briefen und Tagebüchern stets als ‚Schriftsteller‘ und nie als ‚Theologen‘ bezeichnet. Die Wertschätzung, die Hasenkamp Lavaters Dichtung entgegenbrachte, geht aus einem Tagebucheintrag hervor. Hasenkamp schreibt von einem noch unvollendeten Gedicht Lavaters, das dieser auf der Reise vorgelesen habe, es beinhalte so viel Ehre und Ruhm für den Schöpfer, dass er es in seine tägliche Fürbitte aufnehmen wolle.²⁴⁰ Auffällig ist, dass die Korrespondenz nach der persönlichen Begegnung merklich an Intensität verlor. Einer der Gründe ist wohl darin zu suchen, dass Lavater viel Zeit benötigte, seine auf der Rheinreise gemachten neuen Bekanntschaften epistolarisch weiterzupflegen. Ein weiterer Grund für die immer seltener werdenden Briefe zwischen Hasenkamp und Lavater waren möglicherweise aber
237 Lavater an Hasenkamp, 27. Jan. 1773. In: ebd., S. 40. 238 Neeb (Anm. 134), S. 5. 239 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 41. 240 Vgl. Neeb (Anm. 134), S. 40.
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auch die theologischen Differenzen respektive das fehlende Entgegenkommen und Verständnis des jeweils anderen. Der frühe Tod Hasenkamps 1777 beendete schließlich den Kontakt.²⁴¹ Auch mit dem Württembergischen Pietismus war Lavater durch Oetinger und Hahn bekannt. Seit Beginn der 1770er Jahre stand Lavater mit Oetinger in brieflichem Kontakt, der insbesondere in den ersten Jahren von vielen privaten Angelegenheiten geprägt war und zu einem freundschaftlichen Verhältnis führte.²⁴² Dies änderte sich, als sich Lavater mit dem Werk Oetingers besser vertraut gemacht hatte und diesen nicht nur in seinen Briefen an Hasenkamp, sondern auch öffentlich kritisierte.²⁴³ In den Unveränderten Fragmenten aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner selbst (1773) beurteilt er Oetingers Vom Hohenpriesterthume Christi²⁴⁴ negativ: Ich durchlas noch Oetingern vom Hohenpriesterthume Christi. Einige wenige, aber lange nicht genug entwickelte, grosse Ideen ausgenommen, habe ich wenig darinn gefunden, weniger, als der redliche und an Verstand und Herzen sonst so gesunde Hasencamp mich davon hoffen liess.²⁴⁵
Oetinger lehre nicht wie Christus auf eine sanft-überzeugende Art, sondern setze seine Ideen durch, ohne auf den Anstoß, der zuweilen daran genommen werde, einzugehen.²⁴⁶ Zwei Jahre später übte auch Oetinger, der Lavaters Erwähnung im Tagebuch wohl gelesen hatte, öffentlich Kritik an Lavater. In zwei Werken wandte er sich entschieden gegen von Lavater vertretene Überzeugungen. Es handelt sich dabei um Oetingers Reichs-Begriffe von dem Streit des Teufels und der bösen Geister wider Christum und das Würmlein Jakob, dem Herrn Lavater in
241 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 42 f. 242 Vgl. ebd., S. 48. 243 Vgl. ebd., S. 49. 244 Friedrich Christoph Oetinger: Des durch die Demuth grossen Gelehrten […] Herrn Friedrich Christoph Oetingers, höchstwichtiger Unterricht vom Hohenpriesterthum Christi, zur richtigen Beurtheilung der Nachrichten des Herrn von Schwedenborgs, in einem Gespräch nach Art des Buches Hiob, zwischen einem Mystico, Philosopho und Orthodoxo, da jedes Mal ein heutiger Hiob, ein um Wahrheit willen leidender antwortet; sammt einer Vorrede vom Neide der Frommen und Gelehrten, herausgegeben von einem Wahrheitsfreunde, der Gotte besonders über Oetinger danket. Frankfurt und Leipzig 1772. Vgl. Gottfried Mälzer: Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Verzeichnis der bis 1968 erschienen Literatur. Berlin 1972, S. 270. 245 JCLW Bd. IV, S. 797. 246 Vgl. ebd., S. 782.
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Zürich übergeben²⁴⁷ und um Gedanken über die Zeugung und Geburten der Dinge, aus Gelegenheit der Bonnetischen Palingenesie, von Herrn Lavater aus Zürich aus dem Französischen übersezt (1774).²⁴⁸ In Ersterem argumentiert Oetinger für die von Lavater abgelehnte orthodoxe Satisfaktionslehre, wobei auch die biblische Darstellung des Teufels eine Rolle spielt, und in Letzterem richtet er sich gegen Bonnets Präformationslehre.²⁴⁹ Lavater reagiert auf Oetingers Kritik, indem er ihm in einem Brief versichert, „dass ich ganz einfältig alles glaube, was dir Christ deutlich vom Satan, als dem persönlichen Urheber der Sünde und des Jochs – lehret“²⁵⁰, und auch zugibt, nicht sicher zu sein, ob sich die menschliche Entwicklung aus dem göttlichen Keim als präformiert betrachten lässt: Dass ich gantz unentschlossen bin, ob das Bonnetsche Präformationssystem anzunehmen sey oder nicht? Übrigens, dass ich, in denen Augenblicken, wo es mir wahrscheinlich vorkam, nicht die mindeste Gefährlichkeit davon wahrgenommen habe.²⁵¹
Als Lavater auch noch den Irrtum ausräumen konnte, er sei der Verfasser einer sehr negativen Rezension von Oetingers Schrift Reichs-Gedancke – „Nur mit zwei Worten muss ich Er. Hochw. melden, […], dass ich an keiner Recension der Reichsbegriffe nicht den mindesten Antheil habe“²⁵² –, hatten sich die Wogen wieder etwas geglättet. An den freundschaftlichen Briefwechsel der ersten Jahre allerdings konnte nicht wieder angeknüpft werden, zu tief waren die Unstimmigkeiten zwischen den beiden Theologen.²⁵³ Um einiges harmonischer und auch prägender gestaltete sich Lavaters Beziehung zu Hahn, der zwar ein Schüler Oetingers war und einige Monate als dessen Vikar gearbeitet hatte, sich aber in ideologischer wie auch theologischer Hinsicht von seinem Lehrer entfernt hatte und eigene Wege ging.²⁵⁴ Der erste dokumentierte Kontakt zwischen Lavater und Hahn fand in Zusammenhang mit Lavaters physiognomischen Studien statt. Der Ludwigsburger Freund Israel Hartmann (1725–1806) machte Lavater auf Hahn aufmerksam, so
247 Vgl. Mälzer (Anm. 244), S. 266. 248 Vgl. ebd., S. 277. 249 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 50. 250 Lavater an Oetinger, 2. Aug. 1774. FA Lav. Ms. 576. 251 Ebd. 252 Ebd. 253 Vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 51 f. 254 Vgl. Martin Brecht: Philipp Matthäus Hahn und der Pietismus im mittleren Neckarraum. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte. 77. Jhg. Stuttgart 1977, S 105 f.
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dass sich Lavater ein Porträt des Kornwestheimer Pfarrers erbat. Dieser Bitte kam Hahn, sehr zur Freude Lavaters, unverzüglich nach, am 4. Oktober 1773 übersandte er ihm die fertige Zeichnung, und Lavater bildete Hahn schließlich im dritten Band seiner Physiognomischen Fragmente ab.²⁵⁵ Hahn seinerseits las mit viel Interesse Lavaters Schriften, insbesondere die Aussichten in die Ewigkeit und Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner selbst. Aus der Lektüre schloss er, dass Lavater ein großer Menschenfreund sein müsse, dessen Denken und Leben zwar von einer tiefen Liebe zu Gott geprägt sei, der aber noch nicht über ein einheitliches theologisches System verfüge.²⁵⁶ Wie für Hasenkamp war Lavater auch für Hahn nicht in erster Linie Theologe; Hahn sah in Lavater „ein Mittelding zwischen dem Belletristen und wahren evangelischen Christen“, der es versteht, „manche Lichtesidee in die Weltmenschen“²⁵⁷ zu bringen. Das erste Treffen zwischen Lavater und Hahn fand 1774 statt, als Lavater nach seinem Aufenthalt in Bad Ems durch Württemberg zurück nach Zürich reiste. Hahn, der es kaum erwarten konnte, seinen Zürcher Brieffreund zu sehen, konstatierte nach der ersten Begegnung, dass Lavater in der Tat von besonderer Liebenswürdigkeit sei, ein „rechtschafener Mann, voller Andacht, Furcht Gottes.“²⁵⁸ Auch Lavater war beeindruckt von Hahn, insbesondere von dessen technischen Arbeiten. Hahn hatte eben eine astronomische Rechenmaschine fertig gestellt, die auf der Grundlage von Bengels Endzeitberechnungen das Datum des Weltuntergangs mathematisch bestimmen konnte.²⁵⁹ Lavater hat diese Maschine zwar besichtigt, es findet sich aber kein ausführlicher Kommentar in seinem Reisetagebuch, was darauf schließen lässt, dass sie ihn nicht richtig überzeugen konnte.²⁶⁰ Umso beeindruckter war er aber von einer anderen Rechenmaschine, an der Hahn arbeitete. Beim gemeinsamen Abendessen überlegte er zusammen mit Hahn, wie diese in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden
255 Vgl. Lavater: : Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 3, S. 273. 256 Vgl. Brecht/Paulus (Anm. 116), S. 243. 257 Ebd. 258 Ebd., Tagebucheintrag vom 9. Aug. 1774, S. 270. 259 Hahn war lange Zeit ein begeisterter Anhänger von Bengels Berechnung über den Untergang der Welt, die er durch die Deutung der Apokalypse als fortlaufende Kirchengeschichte gemacht hatte. 1784 aber distanzierte sich Hahn von Bengels Apokalypse-Auslegung und glaubte nicht mehr an seine Endzeitrechnung (vgl. RGG, S. 1383). 260 Im Tagebucheintrag vom 10. August beschreibt Lavater den Besuch in Hahns Werkstatt. „Die grosse astronomische Maschine“ versetze „in Erstaunen! – mehr nicht“ (FA Lav. Ms. 16a), so Lavaters Kommentar zu der Rechenmaschine, welche das Datum des Weltendes berechnen sollte.
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könnte.²⁶¹ Nach diesem ersten Zusammentreffen setzte sich die Freundschaft in einem regen Briefwechsel fort. 1779 besuchte Hahn Lavater in Zürich, wo er auch dessen Freunde kennenlernte und bei einem Treffen von Lavaters Sonntagsgesellschaft teilnahm.²⁶² Hahn rühmte Lavaters Wirken in Zürich, er war überzeugt, dass Lavater viel dazu beitrug, das biblische Christentum zu verbreiten: Mein Herz war voll von Vergnügen, weil ich mehr gefunden als ich erwartet habe. Sie haben in Zürich durchgebrochen durch das Reich der Finsternisse wenigstens für ihre Person und für die, welche sie lieben und es mit Ihnen halten.²⁶³
Lavater gab das Kompliment zurück, für ihn war Hahn „unter allen mir bekannten Theologen der – mit dem ich am meisten sympathisire – oder vielmehr dessen Theologie zunächst an die meinige gränzt.“²⁶⁴ Zentral in Hahns Christologie war das Menschsein Jesu. Hahn betonte die Erhabenheit von Christi Leben und Werk, die seiner Lehre gemäß daraus besteht, dass Gottes Sohn während seines irdischen Daseins als reiner Mensch gewirkt hat. Die Göttlichkeit Christi sei zwar präexistent in ihm angelegt, sie sei aber während seines irdischen Lebens als rein geistigen Logos zu betrachten und komme erst nach seiner Auferstehung wieder zum Ausdruck. Für Hahn war Jesus der vollkommene Mensch, der die jedem Mensch zukommende Unvollkommenheit dadurch wettmacht, dass er sich erniedrigt hat, einen sterblichen Leib anzunehmen.²⁶⁵ Obschon Lavater bei Zinzendorf und auch bei Oetinger die allzu starke Betonung der Menschlichkeit Christi kritisierte und Jesus stets in der Vereinigung seiner menschlichen und göttlichen Natur betrachtete, nahm er keinen Anstoß an Hahns Betrachtungen über das Leben und Wirken Jesu. Hahns Meinung darüber, dass Christus der vollkommenste Mensch ist, entspricht Lavaters Keimtheorie, der gemäß die Menschen mit demselben göttlichen Keim ausgerüstet sind wie Jesus und sich nur dem Grad der Entwicklung nach von ihm unterscheiden. Auch in der Wunderfrage vertraten Lavater und Hahn ähnliche Ansichten. Hahn glaubte an durch einen starken Glauben herbeigeführte übernatürliche Kräfte auch in der gegenwärtigen Zeit, die dadurch bewirkten Wunder geschahen seiner Theorie gemäß aber vor allem in der Absicht, Ungläubige zu überzeugen.²⁶⁶
261 Vgl. Tagebucheintrag vom 10. Aug. 1774. FA Lav. Ms. 16a. 262 Vgl. Kap. 3.3. 263 Hahn an Lavater, 25. Juni 1779, FA Lav. Ms. 510. 273. 264 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. 3, S. 273. 265 Vgl. Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822). Göttingen 1998, S. 57. 266 Vgl. ebd., S. 62.
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Hahn lehnte sich in seiner Exegese der Apokalypse an Bengels kirchengeschichtliche Deutung an, er konstatierte viel Übereinstimmung zwischen den in der Johannes-Offenbarung beschriebenen Ereignissen und den tatsächlichen historischen Begebenheiten.²⁶⁷ Im Zuge seiner Beschäftigung mit der Frage nach der adäquaten Exegese des letzten Buches des Neuen Testaments hat Hahn sich auch mit Herders Maran Atha auseinandergesetzt und war dabei zu einem negativen Urteil gekommen. Hahns Meinung nach identifizierte Herder die Symbole und Bilder der Apokalypse zu stark mit dem Geschehen um die Eroberung und Zerstörung Jerusalems. Auch Herders Ansatz, neben der historischen Deutung eine allgemeine, in der Zukunft liegende Prophezeiung anzunehmen, befriedigte Hahn nicht. Eine derartige Prophetie sei zu offen und ermögliche einen breiten Spielraum für Spekulationen, die nicht dem biblischen Zeugnis entsprechen würden.²⁶⁸ Leider gibt es in der Korrespondenz zwischen Lavater und Hahn keine Erwähnung von Herders Maran Atha. Wie aus Lavaters ausführlicher Beschäftigung mit Herders Paraphrase der Johannes-Offenbarung hervorgeht, stimmte er mit Hahn in dessen Urteil überein.²⁶⁹ Im Unterschied zu Lavater, bei dem Hahn schon früh auf seine unsystematische Theologie hingewiesen hatte, war Hahn darum bemüht, seine theologischen Reflexionen analog seiner mechanischen Erklärungen einer stringenten Argumentation zu unterwerfen. Hahns Abhandlungen waren logisch und in ihren Kernaussagen klar verständlich und nachvollziehbar. Da diese Kernaussagen, zum Teil versteckt in möglichst harmlosen Formulierungen, zum Teil aber auch sehr offensichtlich von der kirchlichen Lehrmeinung abwichen, kam es soweit, dass Hahn im Jahr 1781 von der Kirchenleitung in Stuttgart ein striktes Publikationsverbot erhielt. Lavater nahm in einem Brief an Hahn Stellung zu diesem Verbot, aus eigener Erfahrung konnte er Hahn beipflichten, dass es nicht immer einfach war, die Zensur zu passieren, denn: Meine Censoren sind grösstenteils, wo nicht erklärte Feinde, doch gewiss Gegner von mir. Dennoch können sie mir, wie erstaunlich ich immer von ihrem Sinn abweiche, keine Zeile durchstreichen. Eben, weil ich weiss, wie sehr sie können, gab ich mir mühe, mich immer so auszudrücken, und die Sachen in einem solchen Lichte darzustellen, dass gar nichts dagegen gesagt werden kann.²⁷⁰
267 Vgl. ebd., S. 65. 268 Vgl. ebd., S. 67. 269 Zu Lavaters Rezeption von Herders ‚Maran Atha‘ vgl. Kap. 5.6. 270 Lavater an Hahn, 18. März 1781. FA Lav. Ms. 653. 32.
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Interessant im Zusammenhang mit den Gesellschaften, die Lavater in Zürich Ende der 1770er Jahre gründete,²⁷¹ ist Hahns eigenes Stundenwesen und sein Mitwirken in einer für pietistische Geistliche gedachten Organisation, die sich unter dem Namen ‚Konferenz‘ versammelte. Hahns Erbauungsstunden, über die er selbst meinte, sie seien „gantz ohne pietistischen Anstrich“,²⁷² etablierte er mit viel Initiative und eigenen Ideen. Als Hahn 1770 nach Kornwestheim kam, beschränkte sich das religiöse Angebot auf die normale kirchliche Praxis. Um seinen Plan, Erbauungsstunden einzuführen, in die Tat umsetzen zu können, begann er, interessierte Gemeindemitglieder zu sonntäglichen ‚Stunden‘ zu versammeln, die zur Vertiefung und zur Erklärung von biblischen Texten dienen sollten.²⁷³ Bemerkenswert ist, dass Hahn in seinen ersten sonntäglichen Zusammenkünften die Offenbarung des Johannes auslegte;²⁷⁴ Er wollte sein Interesse an eschatologischen Fragen also auch mit seinen Gemeindemitgliedern teilen. Hahns Stunden stießen anfänglich auf geringes Interesse. Durch seine Beliebtheit als Pfarrer und sein Ansehen als technischer Erfinder und Mechaniker erhöhte sich aber die Mitgliederzahl innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches, so dass es sogar nötig wurde, die Stundengänger in verschiedene Gruppen aufzuteilen.²⁷⁵ Dass Hahn sein Stundenwesen von herkömmlichen pietistischen Konventikeln unterschied, hat weniger mit der Struktur als mit den vermittelten Inhalten zu tun. So legte Hahn keinen besonderen Wert auf die Sünden- und Versöhnungserfahrung, die in pietistischen Kreisen Ausgangspunkt zu Bekehrung und Heiligung waren. Hahn ging davon aus, dass der Wandel zu einem frommen Leben durch die richtige Auslegung der Schrift und durch das damit einhergehende ‚Geisteslicht‘ stattfinden werde.²⁷⁶ Aus dem Verständnis und der Verinnerlichung des Evangeliums würde die sittliche Einsicht und Besserung hervorgehen. Hahn nahm auch immer wieder Leute in seiner Stunde auf, die durch ihren liederlichen Lebenswandel Unmut bei anderen Gruppenmitgliedern auslösten.²⁷⁷ Diese Offenheit, die Bereitschaft, sich nicht auf einen engen Kreis von Erweckten zu
271 Vgl. Kap. 3.2. 272 Hahn an Lavater, 26. Apr. 1788. In: Rudolf F. Paulus: Die Briefe von Philipp Matthäus Hahn an Johann Caspar Lavater. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte. Hg. von Gerhard Schäfer und Martin Brecht. 75. Jhg. Stuttgart 1975, S. 80. 273 Vgl. Brecht (Anm. 254) S. 107. 274 Vgl. ebd., S. 108. 275 Vgl. ebd. 276 Vgl. ebd. 277 Vgl. ebd., S. 109.
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beschränken, muss Lavater beeindruckt haben und war wohl Thema, wenn Hahn in Lavaters Gesellschaft über seine Erbauungsstunden berichtete.²⁷⁸ Neben dem von ihm in Kornwestheim aufgebauten Stundenwesen, das auch viele Anhänger aus den umliegenden Dörfern fand, war Hahn in einer anderen pietistischen Vereinigung aktiv. Die 1768 gegründete ‚Konferenz‘ versammelte sich einmal monatlich, Teilnehmer waren Pfarrer, Vikare und Theologiestudenten aus unterschiedlichen Gemeinden.²⁷⁹ Neben der gemeinsamen Bibellektüre wurden bei den Treffen der Konferenz vorbereitete biblische Auslegungen zu vorgegebenen Stellen referiert, deren Beste jeweils in das Protokoll aufgenommen wurde und so zirkulieren konnte. Zu den Pflichten der Mitglieder gehörte es, Tagebuch zu schreiben und bei den Versammlungen daraus vorzulesen.²⁸⁰ Ziel der Konferenz-Teilnehmer war es, sich gegenseitig in den wichtigen biblischen Lehren zu unterweisen, sich auf etwaige irrtümliche Exegese aufmerksam zu machen und sich dadurch nicht nur theologisch weiterzubilden, sondern eine aufeinander abgestimmte einheitliche Lehre zu vertreten.²⁸¹ Obschon in Lavaters Tagebüchern keine ausführlichen Notizen über die Konferenz zu finden sind, kann davon ausgegangen werden, dass er darüber Bescheid wusste – und seine eigenen zwei kleinen Gesellschaften mit ähnlichen Absichten gründete.²⁸² Abschließend kann bemerkt werden, dass nicht nur Lavater sich von pietistischen Inhalten und Persönlichkeiten angezogen fühlte, sondern dass auch seine eigene Person und sein Werk in den unterschiedlichen pietistischen Richtungen mit viel Interesse und zum Teil großer Hochachtung bedacht wurden. Auffällig ist, dass Lavater dabei vor allem als Schriftsteller, der Erbauungsliteratur verfasst, wahrgenommen wurde. Noch Hubert Schiel schreibt 1928 in seiner Arbeit zu Lavater und Johann Michael Sailer (1726–1751),²⁸³ der zur Allgäuer Katholischen Erweckungsbewegung gehörte:
278 Im Tagebuch von Lavater wird leider nur erwähnt, dass „über Stunden“ gesprochen wurde, den genauen Inhalt des Gesprächs gibt Lavater nicht wieder (vgl. Tagebucheintrag vom 12. Aug. 1774. FA Lav. Ms. 16a). 279 Vgl. Brecht (Anm. 254), S. 121. 280 Vgl. ebd. 281 Vgl. ebd. 282 Zu Lavaters Gesellschaften vgl. Kap. 3.3. 283 Zu Lavaters Beziehung zu Sailer und der Allgäuer Katholischen Erweckungsbewegung vgl. Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande (Anm. 174), S. 139–160.
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Zu Lavaters Schriften musste Sailer notwendig greifen, wenn er sich der zeitgenössischen protestantischen Literatur zuwandte. Welcher andere Name eines Erbauungsschriftstellers hätte damals den des berühmten Züricher Predigers und ‚Propheten‘ herangereicht?²⁸⁴
Sailer selbst, der mit Lavater regen Briefkontakt pflegte, maß Lavater und seinen Schriften große Bedeutung zu: Ach wie oft hab ich schon den Vater im Himmel dankbar gepriesen, dass von der Kirche zu Zürich so viele Christusschriften ausgehen, die sind das Salz der Welt – das Publikum sonst von allen Seiten her mit romanhaften Empfindeleyen und Bibelwässerungen und Christusund Teufelverbannungen so erbärmlich heimgesucht, und dadurch zur Fäulnis befördert wird.²⁸⁵
Wie aus seinen Beziehungen mit Pietisten ersichtlich wird, ließ sich Lavater nicht maßgeblich von deren Gedankengut prägen. Er hat sich auch nicht für grundsätzliche Aspekte des Pietismus wie dem Stundenwesen begeistern können. Lavater lebte seine Glauben in und für eine breite Öffentlichkeit, die pietistischen Zirkel, abgesehen von Hahns Gruppierungen, die sich aber vom herkömmlichen Stundenwesen unterschieden, waren ihm zu isoliert. Was Lavater mit dem Pietismus verband, war sein Interesse an der Erbauung, an gefühltem, empfindsamem Christentum, an religiöser Erfahrung, die er im Dialog mit pietistischen Persönlichkeiten zu ergründen versuchte. Die theologischen Themen, die Lavater mit seinen pietistischen Freunden diskutierte, waren aber auch Inhalt seiner Gespräche mit Theologen nichtpietistischer Provenienz, und an den bereits in seinem Briefwechsel mit Spalding geäußerten Überzeugungen hielt er auch in seinem beruflichen Alltag fest.
284 Hubert Schiel: Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel. Köln 1928, S. 16. 285 Sailer an Lavater, 29. Juni 1782. In: ebd., S. 71.
3 Praktische Christologie: Lavaters berufliche Tätigkeit Wie in vorangehendem Kapitel erläutert wurde, bewegte sich Lavater aus seiner christologischen Motivation heraus in einem vielseitigen, breiten Tätigkeitsbereich. Mit seinem Wirken als Autor, als Übersetzer, als evolutionsbiologisch argumentierender Apologet und Missionar für das Christentum, als nach immanenter Transzendenzerfahrung Suchender und als Physiognomiker stand Lavater im ständigen Brennpunkt der Öffentlichkeit und war über die Landesgrenze hinaus bekannt. Seine vielen Kontakte und Beziehungen zu den unterschiedlichsten Geistesgrößen seiner Zeit trugen ebenfalls dazu bei, dass Lavaters Werk und Wirken eine breite – positive wie auch negative – Resonanz fanden. Über diese Tätigkeitsbereiche und der daraus sich ergebenden großen Popularität hinaus darf aber nicht vergessen werden, dass Lavaters hauptberuflich als Pfarrer tätig war. Lavaters Christologie ist stets auf dem Hintergrund seiner praktischen, im Alltag gelebten und gelehrten Religiosität zu betrachten und fand ihre Bewährung im Kontakt und in der Auseinandersetzung mit von ihm selbst erlebten und von seinen Gemeindemitgliedern an ihn herangetragenen Problemen, Zweifeln und Konflikten. Im Folgenden soll darum Lavaters beruflicher Werdegang als Pfarrer dargestellt und auf seine Tätigkeit in den zwei Gemeinden, in denen er jeweils zuerst als Diakon, dann als Pfarrer tätig war, eingegangen werden. Einen besonderen Stellenwert wird dabei den Berichten beigemessen, die aus Lavaters unmittelbarem Zürcher Umfeld stammen. Zu diesen gehören die Tagebucheinträge und Briefe von Johann Georg Müller. Der junge Theologiestudent weilte während eines Jahres in Zürich und berichtete ausführlich von Lavaters Wirken. Die Besonderheit von Müllers Tagebucheinträgen und Briefen liegt darin, dass sie aus der Feder eines jugendlichen, enthusiastischen Bewunderers von Lavater stammen, der seine schwärmerische Begeisterung aus dem unmittelbaren Eindruck heraus zu Papier brachte und somit die Faszination und das Charisma dokumentiert, die Lavater auf seine Anhänger ausgeübt hat. Ebenfalls zu Wort kommen soll Diethelm Schweizer (1751–1824), der sich ebenfalls im Kreis von Lavaters Anhängern bewegte, dessen Aufzeichnungen über Lavaters Wirken aber weitaus kritischer sind als diejenigen Müllers. Anhand von Schweizers Berichten sollen Lavaters Bemühungen um den theologischen Nachwuchs, der sich in der Gründung zweier Gesellschaften niederschlug, erläutert werden.
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3.1 Lavater als Pfarrer am Waisenhaus und am St. Peter Nach seinem mehrmonatigen Aufenthalt in Deutschland, bei dem Lavater längere Zeit bei Johann Joachim Spalding in Bahrdt verbracht hatte, kehrte er 1763 nach Zürich zurück, wo er bis 1769 als Exspektant auf seine erste kirchliche Anstellung warten musste. In dieser Zeit stellte Lavater, auf Grund des wohlhabenden Elternhauses ohne finanzielle Sorgen und daher nicht wie viele seiner Kollegen auf ein Einkommen als Privatlehrer angewiesen, seine Bonnet-Übersetzung fertig²⁸⁶ und gab sein erstes literarisches Großprojekt, die Aussichten in die Ewigkeit, heraus. 1769 wurde Lavater als Diakon unter Pfarrer Christoph Heinrich Hess an die zum ehemaligen Kloster Oetenbach gehörende Waisenhauskirche gewählt. Neben den zu betreuenden Waisenkindern, die seit der Schließung des Klosters dort untergebracht waren, gehörten die Zuchthausinsassen zu Lavaters seelsorgerischem Verantwortungsbereich. Lavater war ein engagierter Pfarrer und ein wortgewandter Prediger, der sich Gedanken zur Theorie und zur Praxis des Predigens machte. Er stimmte zwar mit Spaldings in dessen Schrift Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772) geäußerten grundlegenden Ansicht überein, der Pfarrer müsse die menschliche Veranlagung zu Tugend und Moral fördern und seine Gemeindemitglieder in einer gottgefälligen Lebensführung unterstützen.²⁸⁷ In Bezug auf die dabei zu vermittelnden Werte aber differenzierten die Ansichten insbesondere in demjenigen Punkt, den Lavaters Kritik an der Theologie Spaldings bestimmte: der Vernachlässigung der Heilsbringung durch Jesus Christus, die Spalding zugunsten der Erziehungsfunktion in den Hintergrund stellte. Viel näher als seinem einstigen Lehrer Spalding, der seiner Schrift mehr Nutzen hätte abgewinnen können, „wenn Sie Christo mehr Gerechtigkeit hätten widerfahren lassen“²⁸⁸, stand Lavater Herders in der Schrift An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter (1774) veröffentlichten Ansichten.²⁸⁹ Die Vermittlung und Erläuterung der biblischen Zeugnisse als das Gefühl ansprechende seelische Erbauung, die Herder zu den wesentlichen Aufgaben des Predigers zählt,²⁹⁰ sprachen Lavater
286 Vgl. Kap. 2.2. 287 Vgl. Johann Joachim Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1 1772, 2 1773, 3 1791). Hg. von Tobias Jersak. Tübingen 2002, S. 87. 288 Lavater an Spalding, 5. Mai 1772. FA Lav. Ms. 581. 74. 289 Lavaters Nähe zu Herder ist schon dadurch gegeben, dass Herder seine Schrift gegen Spaldings ‚Nutzbarkeit des Predigtamtes‘ richtete. 290 Vgl. Johann Gottfried Herder: An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter. In: Werke in zehn Bänden. Hg. von Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Frankfurt/M. 1985–2000 (im Folgenden
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aus dem Herzen und unterstützten ihn nicht nur in seiner eigenen Arbeit als Pfarrer, sondern auch in der Hoffnung, der rationalen neologischen Theologie in der Praxis Gegensteuer geben zu können.²⁹¹ Eine Hoffnung, die Lavater durch eine weitere, kurz vor Herders An Prediger erschienene Schrift nährte: In Goethes als Übersetzung aus dem Französischen bezeichneten, jedoch von ihm verfassten Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773) fand Lavater diejenige Bibel- und Christusverehrung, die ihm zwar ein falsches, folgenschweres Bild der Religiosität Goethes vermittelte – der Pastorbrief drückt weniger Goethes Übereinstimmung mit als seine Distanz zum orthodoxen Luthertum und zum Christentum überhaupt aus, was Lavater jedoch verkannte oder aber ändern zu können glaubte²⁹² –, die ihm aber, was das Amt des Geistlichen anbelangte, weitere Anhaltspunkt für eine in seinem Sinne stehende praktische seelsorgerische Tätigkeit lieferte. Lavaters Meinung nach ist der Prediger „ein Lehrer des natürlichen Sittengesetzes, das Jesus Christus erklärte.“²⁹³ Dabei sollte er ein „Stellevertreter Jesu, ein Fortsetzer seines Werks, ein Beförderer seiner Absichten“²⁹⁴ sein. Lavater betonte aber auch beim Predigen seine christologische Überzeugung, der gemäß der einzige Weg zum Vater über den Sohn führt: Bester Vater! Nicht aus uns selbst, sondern in dem Namem deines anbethenswürdigen Sohnes Jesu Christi, unsers Mittlers, kommen wir vor dein Angesicht und bitten dich, dass du uns den unendlichen Abstand unsers gewöhnlichen Christenthums von den deutlichen Vorschriften deines heiligen Evangeliums recht stark einzusehen und zu empfinden gebest.²⁹⁵
Lavater mit seiner Ausstrahlungskraft und Redegewandtheit sah sich ganz in der Rolle des moralischen Erziehers und Hinführers zu Christus, vertrat aber in
zitiert als FA für ‚Frankfurter Ausgabe‘ mit Band- und Seitenzahl). Bd. 9/I: Theologische Schriften. Hg. von Christoph Butlmann und Thomas Zippert. Frankfurt/M. 1994, S. 73. 291 Zu Lavaters Auseinandersetzung mit Spaldings und Herders Schriften über das Predigtamt vgl. Daniela Kohler: Lavaters Rezeption von Spaldings ‚Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes‘ und Herders ‚An Prediger‘ in seiner Predigtreihe zur Apokalypse. In: Zwingliana 40. Hg. von Christian Moser und Peter Opitz. Zürich 2013, S. 165–187. 292 Lavaters Rezeption des ‚Pastorbriefes‘ und seine Überzeugung, in Goethe den Glauben an das biblische Christentum wecken zu können, mündete in der Widmung des ‚Nathanael‘ (1786) und hatte den Bruch der Freundschaft zwischen Lavater und Goethe zur Folge. 293 Johann Caspar Lavater: Predigt über die Pflichten des christlichen Predigers zu der gegenwärtigen Zeit der Staatsumwälzung. Basel 1798, S. 5. 294 Ebd. 295 Lavater: Vermischte Predigten (Anm. 145), S. 4.
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seiner ersten Zeit als Prediger seine Ansichten mit einer derartigen Strenge, dass sich viele seiner Zuhörer – neben den Waisenkindern und den in einem vergitterten Teil sich aufhaltenden Zuchthäuslern wurden die Predigten auch von Anwohnern besucht – unnötig gegeißelt und angegriffen fühlten und nicht mit Kritik an ihrem Diakon zurückhielten.²⁹⁶ Nach und nach gewann Lavater aber das Vertrauen seiner Gemeindemitglieder, wie Johann Georg Müller einige Jahre später in seinem Bericht über Lavaters Arbeit am Waisenhaus bewundernd in seinem Tagebuch festhielt: Als Lavater 1770 und zu derselbigen Zeit noch Helfer am Waisenhaus, u […] ganz neu war, war er entsezlich verachtet. Würklich wieß man mit Fingern auf ihn, wo man ihn auf der Gasse sah. Auch in der Kirche lachte man überlaut über ihn. Er predigte immer lauter, wich nicht, verleugnete nicht – und viele dachten nach. Er wurde beliebt und seine Meinung als Wahrheit erkannt, und nun macht Er den Anfang, den Lohn für seine Treue zu erndten.²⁹⁷
Als Johann Jakob Hess 1775 als Diakon ans Großmünster gewählt wurde, übernahm Lavater dem an der Waisenhauskirche üblichen Brauch folgend die freigewordene Pfarrstelle. Nachfolger im Amt des Diakons wurde Lavaters Freund Johann Konrad Pfenninger (1747–1792). Neben der Betreuung der Waisenkinder und der Zuchthäusler war Lavater nun auch zu den sonntäglichen Katechismusstunden beauftragt. Lavater verwendete viel Zeit auf die christliche Unterweisung junger Leute und wirkte nachhaltig auf sie, wie der junge Theologiestudent Diethelm Schweizer in seinem Tagebuch dokumentierte. Er besuchte 1776 die von Lavater für die Konfirmanden des Waisenhauses abgehaltene Sonntagsstunde. Begeistert schrieb er, Lavaters Lehre würde „Göttlichkeit – die Erhabenheit der christlichen Religion“²⁹⁸ vermitteln und ihn zu bisher noch nie so stark empfundener religiöser Seligkeit und Bestärkung in seinem Sein als Christ führen. Doch Lavater war nicht nur um die Jugend besorgt, er kümmerte sich auch mit viel Einfühlungsvermögen um das seelische Wohl der Gefängnisinsassen. Mit seinem großen Engagement für seine Schutzbefohlenen erarbeitete er sich einen Ruf als geschätzten, engagierten Seelsorger.²⁹⁹
296 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 137 f. 297 Tagebuch vom 16. Aug. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 214. 298 Vgl. Ruedi Graf: Die Tagebücher des Pfarrers Diethelm Schweizer (1751–1824). Zürich 2010, S. 49. 299 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 174.
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Auch in seiner homiletischen Tätigkeit gelangte Lavater nach der anfänglichen Gewöhnungsphase zu Ansehen, vermochte er doch viele seiner christologischen Gedanken und Ideen mit psychologischem Geschick den Zuhörern näher zu bringen. In seiner eigenen Art, die Bedeutung biblischer Texte in einen für jeden Menschen nachempfindbaren Gefühls- und Erfahrungskontext zu bringen, vermochte er zu überzeugen und die Leute in seinen Bann zu ziehen.³⁰⁰ Lavater verstand sich als treuen „Diener des Evangeliums“³⁰¹ in der Nachfolge Christi und der Apostel. Er betonte darum immer wieder, dass das Christentum so verkündet werden soll, wie es die ersten Apostel getan haben: „Wie mehr ein Lehrer des Evangeliums dem Apostel ähnlich ist, desto mehr können seine Schüler und Zuhöhrer sich selbst als ewige Schuldner von ihm ansehen.“³⁰² Seiner Meinung nach gehörte es zum Ziel der evangelischen Predigt, die Menschen zu einer Tugend um Christi willen zu erziehen, die sie zur Teilnahme am Tausendjährigen Reich befähigen.³⁰³ Lavaters Glaube an das Millennium, den er mit Apk. 20,3 begründet, bringt er auch in seinem Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn fantasievoll zum Ausdruck.³⁰⁴ Um die Gemeindemitglieder zu einem tugendhaften Leben zu erziehen, so Lavaters Meinung, braucht es besonders eindringliche Predigten, die nicht um Wiederholungen herumkommen: „Es ist unmöglich, dass ein Prediger, zumahl wenn er auf eben dieselben Wahrheiten kömmt, sich nicht manchmahl wiederhohlen müsste, wenn er sich auch noch so sehr befleisst, seine Materie immer in ein neues, noch helleres Licht zu setzen.“³⁰⁵ Lavaters mit einiger Missgunst verbundene Wahl zum Diakon an St. Peter³⁰⁶ im Jahr 1778 brachte neben der neuen Wohnsituation – Lavater konnte endlich das Elternhaus verlassen und mit seiner Familie in die erste eigene Wohnung ziehen – vor allem in Bezug auf seine seelsorgerischen Pflichten eine große Änderung mit sich. Lavater war nun zum ersten Mal für eine eigene Parochie verantwortlich, und ein wesentlicher Teil seiner Zeit wurde davon beansprucht, sich den Sorgen und Nöten seiner Gemeindemitglieder zu wid-
300 Vgl. ebd., S. 195. 301 Lavater: Die wesentliche Lehre des Evangeliums (Anm. 103), S. 5. 302 Lavater: Predigten über den Brief des heiligen Paullus (Anm. 98), 2. Tl., S. 441. 303 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 221. 304 Vgl. Kap. 6.3. 305 Lavater: Die wesentliche Lehre des Evangeliums (Anm. 103), S. 27. 306 Als bekannt wurde, dass Lavater als Kandidat für das Amt des freigewordenen Diakonats an St. Peter vorgeschlagen war, kam es zu Drohungen gegen ihn (vgl. Sauer [Anm. 15], S. 25 f. sowie Gessner [Anm. 82], Bd. 2, S. 212).
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men.³⁰⁷ Wie sein petrinisches Tagebuch aus diesen Jahren zeigt, leistete Lavater viel seelsorgerische Arbeit.³⁰⁸ Neben den üblichen Krankenbesuchen wurde er oft gerufen, um bei Ehestreitigkeiten, Zwietracht zwischen Herrschaften und Dienstboten, aber auch Suizidabsichten und -versuchen beizustehen. Um sich nicht in seinen vielen Tätigkeiten zu verlieren, entwarf er einen fast minutiösen Wochenplan.³⁰⁹ Auf Grund der großen beruflichen Belastung sind die Predigten im Gegensatz zu denjenigen aus seiner Anfangszeit am Waisenhaus nur noch selten vollständig ausgearbeitet, häufig begnügte sich Lavater mit Notizen oder stichwortartigen Aufzeichnungen. Trotzdem vermochte er auch an St. Peter mit seinem Enthusiasmus und seinem Charisma zu überzeugen, so dass der Predigtzulauf nach seinem Amtsantritt merklich anstieg.³¹⁰ Dass dabei aber auch kritische Stimmen nicht ausblieben, zeigt ein im Jahr 1784 verfasster Brief an seine Gemeinde, in dem Lavater die Leute aufforderte, ihm jegliches Missfallen an seinen Predigten, sei es inhaltlicher oder die Vortragsweise betreffender Art, persönlich mitzuteilen und sich nicht in öffentliche Streitigkeiten darüber einzulassen.³¹¹ Charakteristisch für Lavaters theologisches Denken und den seelsorgerischen Alltag ist die ständige Reflexion über praktisches Handeln, das zur Verbesserung der Frömmigkeit beitragen konnte. Bereits zu Beginn der 1770er Jahre hatte Lavater sich mit Veränderungen befasst, die er in seiner Gemeinde einführen wollte. Sein Anliegen war es, wie er Hasenkamp in einem Brief mitteilte, allabendliche Zusammenkünfte in den Häusern seiner Gemeindemitglieder zu organisieren, bei denen nicht nur gebetet, sondern auch das Abendmahl gehalten wurde.³¹² Als Lavater Hasenkamp 1774 besuchte, sprach er wieder von dieser Idee, Hasenkamp versuchte jedoch, ihn davon abzubringen, seiner Ansicht nach sollte das Abendmahl nur bei einer besonderen festlichen Angelegenheit gehalten werden.³¹³ Hasenkamps Einwände hatten wohl Erfolg, jedenfalls gibt es keine Zeugnisse über alltägliche Abendmahlsfeiern. Erst in seinen beiden zu Ende der 1770er Jahre gegründeten Gesellschaften hielt Lavater gelegentlich das Abendmahl, wie es aus den Tagebüchern eines der Teilnehmer zu entnehmen ist.³¹⁴
307 St. Peter war eine der vier Zürcher Stadtgemeinden, die auf etwa 3200 geschätzten Gemeindemitglieder machten rund einen Drittel der Stadtbevölkerung aus. Zur Gemeinde St. Peter vgl. Sauer (Anm. 15), S. 203 ff. 308 Vgl. FA Lav. Ms. 40a. 309 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 211. 310 Vgl. ebd., S. 216 f. 311 Vgl. S. 214. 312 Vgl. Lavater an Hasenkamp, 14. März 1771. In: Ehmann (Anm. 218), S. 22. 313 Vgl. Neeb (Anm. 134), S. 38. 314 Vgl. Kap. 3.3.
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Bei seinem Amtsantritt als Diakon an St. Peter befasste sich Lavater mit Veränderungen hinsichtlich Umsetzung und Absicht der zweimal wöchentlich stattfindenden Abendgebete. Er wollte die unter seinen Vorgängern in Form einer kurzen Predigt praktizierten kirchlichen Zusammenkünfte wieder ihrem Namen gemäß gestalten; die Auslegung des Bibeltextes sollte im Kontext eines Gebets stattfinden, nach dem Vorbild frühchristlicher Gemeinschaften hätte er sich gerne allabendlich dazu zusammengefunden. Eine solche Veränderung wurde ihm zwar nicht gestattet, es gelang ihm aber zu bewirken, dass er den zu behandelnden Bibeltext über mehrere Abende hinweg besprechen durfte. Lavater ging es darum, die biblischen Zeugnisse möglichst genau und ausführlich zu erklären. Dies entspricht seiner auch mit den Messias-Epen verfolgten Absicht, die Bibel in ihrer Gesamtheit als wahres grundlegendes Zeugnis des Christentums zu erläutern und den Menschen wieder näher zu bringen. Lavater betonte in seiner Exegese sehr stark die eigenen Empfindungen, die er bei der Lektüre der jeweiligen biblischen Bücher hatte. So sprach er in der Einleitung zu den Abendgebeten über die Apokalypse von der Angst und der Ehrfurcht, die ihn bei der Lektüre und den Vorbereitungen befielen, und gab zu, dass er auch nach intensiver Beschäftigung nicht alles verstehe, was die JohannesOffenbarung mitteile: Sehr oft, da ich nun zum voraûs sah, dass es nun bald an uns komme, mit euch über dies Buch zureden, durchlas’ ich dasselbe in der Stille, u: dachte darüber vor Gott nach, aber ich gestehe aufrichtig, dass ich bey allem Lesen u: Nachdenken deßselben, noch lange nicht das völlige helle Licht habe erreichen können.³¹⁵
Während der neun Jahre als Diakon am St. Peter war Lavater der bis anhin stärksten beruflichen Belastung ausgesetzt, was ihn aber nicht daran hinderte, immer wieder mit literarischen Projekten an die Öffentlichkeit zu treten. In Lavaters Zeit als Diakon erfolgte auch der Ruf nach Bremen, den Lavater aus unterschiedlichen Gründen, unter anderem aus Verbundenheit zu seiner Heimatstadt, ablehnte.³¹⁶ Im Dezember 1787 verstarb Rudolf Freitag, so dass Lavater im folgenden Jahr zu seinem Nachfolger gewählt wurde. Als Pfarrer von einer der vier Hauptkirchen gehörte Lavater nun zu der Spitze der Zürcher Geistlichen und blieb diesem Amt bis zu seinem Tod im Jahr 1801 treu.
315 FA Lav. Ms. 68a. 316 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 258 ff.
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3.2 Lavater im Kreis seiner Anhänger aus der Perspektive Johann Georg Müllers Eine interessante Sichtweise auf Lavater und seine Ausstrahlungs- und Wirkungskraft liefert Johann Georg Müller, Bruder des Historikers Johannes von Müller (1752–1809), der stets regen Anteil an Lavaters Wirken in Zürich nahm und dieses während eines Jahres aus nächster Nähe beobachtete und in Briefen und Tagebucheinträgen dokumentierte. Müllers Berichte, die bisher noch kaum erforscht wurden,³¹⁷ liefern ein einmaliges, weil sehr persönliches Zeitzeugnis von Lavaters Wirken. Die Tagebucheinträge illustrieren die Gefühle und Empfindungen, die der junge Theologiestudent Müller gegenüber dem älteren, bereits angesehenen Pfarrer und Schriftsteller Lavater hegte. Die Begeisterung, mit der Müller Lavater beschreibt, und die Bemühungen, ihm möglichst nah zu sein, dokumentieren Lavaters Ausstrahlungskraft und seine Wirkung. Ohne zeitliche Distanz, die wohl zu einer objektiveren, seinen jugendlichen Eifer und Enthusiasmus relativierenden Sichtweise der Ereignisse geführt hätte, schreibt Müller aus dem unmittelbaren Eindruck seiner Gefühle und Wahrnehmungen heraus. Müllers Aufzeichnungen illustrieren nicht nur den großen Eindruck, den Lavater auf seine Freunde und Anhänger machte. Sie zeigen ebenfalls, wie präsent die theologischen Fragen, die Lavaters Denken dominierten, auch in seinem Alltag waren und nicht nur sein Werk, sondern sein gesamtes Leben bestimmten. Der Schaffhauser Johann Georg Müller kam 1779 nach Zürich, um sich unter namhaften Theologen, an deren Spitze er Lavater setzte, auf das theologische Studium in Göttingen vorzubereiten. Bereits als junger Mann beschloss Müller, „ein Lehrer der Religion“³¹⁸ zu werden, und versuchte sich anhand der apostolischen und evangelischen Zeugnisse mit den dazu nötigen Anforderungen auseinanderzusetzen: „Die Erfordernisse zu diesem Amt sucht ich in dem Neuen Testament kennen zu lernen.“³¹⁹ In Anbetracht der Geistlichen in seinem Umfeld, die Müllers Meinung nach ihrer christlichen Vorbildunktion nicht gerecht zu werden vermochten – „um mich her sah ich keinen, der mein Ideal erfüllt hätte“³²⁰ – und angeregt durch
317 Müllers handschriftliche Tagebücher befinden sich in der SB Schaffhausen. Seine Briefe an Familienmitglieder liegen ediert vor: André Weibel (Hg.): Johannes von Müller: Briefwechsel und Familienbriefe 1766–1789. Johannes von Müller, Johann Georg Müller. Göttingen 2009–2011. 318 Karl Stokar: Johann Georg Müller, Doktor der Theologie, Professor und Oberschulherr zu Schaffhausen, Johannes von Müllers Bruder und Herders Herzensfreund. Basel 1885, S. 27. 319 Ebd., S. 26 f. 320 Ebd., S. 27.
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einen jungen Schaffhauser, der seine in Zürich erworbenen theologischen Kenntnisse aufs Höchste zu rühmen wusste, unterbreitete Müller seiner Familie den Vorschlag, ihn vor seinem Studium in Göttingen nach Zürich reisen zu lassen. Müllers Wunsch wurde kritisch aufgenommen, was vor allem mit Lavater und seinem Kreis zusammenhing, wie aus der Korrespondenz Müllers mit seinem Bruder Johannes hervorgeht. Dieser kam bei seinen Erkundigungen über Zürich zu einem negativen Urteil über die geistliche Atmosphäre in der Limmatstadt, so dass sich Johann Georg zu einer brieflichen Apologie des Zürcher Geisteslebens veranlasst sah, um seinen Bruder zu überzeugen, wie viel er „in einer solchen Stadt, wo doch unstreitig im Ganzen weit mehr Gelehrsamkeit und also auch unter anderm weit grössere Bibliotheken sind, und im Umgange mit solchen Männern, in Absicht auf den Geist lernen könnte.“³²¹ Dass man in Schaffhausen oder aber zumindest in Müllers Familie bestens vertraut war mit den Geschehnissen in Zürich, geht aus Müllers Brief an seinen Bruder hervor. Müller illustrierte darin ausführlich Lavaters Wunderglauben und der damit zusammenhängende Vorwurf der Schwärmerei. Der Begriff der ‚Schwärmerei‘ wurde in den 1770er Jahre verwendet, um Meinungen und Ansichten zu benennen, die sich gegen die Aufklärungstheologie richteten. Als ‚Schwärmer‘ galten darum sehr unterschiedliche Gruppierungen, so beispielsweise Chiliasten, Alchemisten oder Geisterseher.³²² Im Zusammenhang mit Lavater wurde der Begriff ‚Schwärmerei‘ vor allem dann gebraucht, wenn es darum ging, seinen Wunderglauben und damit verbunden seine Suche nach transzendenter Gotteserfahrung in der Immanenz zu umschreiben. So schrieb auch Müller, dass Lavater „villeicht sehr nahe bei der Schwärmerei“³²³ war, wie sowohl in Zürich wie auch im Ausland bemerkt und nicht überall gleichermaßen gutgeheißen worden sei. Viele bekannte Zeitgenossen hätten über Lavater gespottet, ihn kritisiert und von seiner Meinung abzubringen versucht. Erst durch die Verteidigungsschriften von Johann Jakob Hess und Pfenninger sei Lavaters Werk und Wirken wieder in das rechte Licht gerückt „und die Spöttereyen und offenbare, aufs schärfste bewiesene Lügen eines gewissen Zürchergeistlichen“³²⁴ zum Verstummen gebracht worden. Bei besagtem Zürcher Geistlichen handelt es sich um Johann Jacob Hotlinger (1750–1719), der ab 1774
321 J. G. Müller an Johannes von Müller, 20. Nov. 1778. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 1, S. 488. 322 Vgl. Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne. Zürich 2003, S. 133. 323 J. G. Müller an Johannes von Müller, 20. Nov. 1778. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 1, S. 484. 324 J. G. Müller an Johannes von Müller, 20. Nov. 1778. In: ebd., S. 485.
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die Professur der Eloquenz am Zürcher Carolinum besetzte.³²⁵ Hottinger richtete sich in einem 1774/75 anonym erschienenen Sendschreiben an den Verfasser der Nachrichten von den Zürcherischen Gelehrten gegen einen Artikel, den Lavater in der Allgemeinen Theologischen Bibliothek veröffentlicht hatte.³²⁶ Es handelt sich dabei um Lavaters zwar ebenfalls anonym erschienene, aber schon bald ihm zugeordnete Beschreibung des Zürcher Geisteslebens, die mit dem Titel Nachrichten aus der Schweiz³²⁷ veröffentlicht wurde. Lavater liefert darin ein Porträt bedeutender Zürcher Gelehrten und beurteilt deren wissenschaftliche Fähigkeiten wie auch deren Charaktereigenschaften. Die Beschriebenen empfanden Lavaters Urteil, das er ohne genaue wissenschaftliche Fachkenntnis fällte, als unqualifiziert, worauf Hottinger, der zu einem der von Lavater erwähnten Gelehrten gehörte, ein Sendschreiben gegen ihn verfasste.³²⁸ Hottinger richtet sich in seiner Schrift vor allem gegen Lavaters ununterbrochene Suche nach Personen, die sich durch übernatürliche Wundergaben auszeichnen und somit das Weiterwirken den Heiligen Geistes beweisen. Sehr polemisch beschreibt er Lavaters ‚Wundersucht‘ und wirft ihm vor, sich auf biblische Zeugnisse zu stützen, die er ohne fundierte Exegese seinem eigenen Gutdünken gemäß auslege.³²⁹ Das Sendschreiben gegen Lavater hatte eine Reihe weiterer Schriften zur Folge, in denen sowohl Lavater verteidigt wie auch Hottingers Standpunkt untermauert wurde. Bei den von Müller im Brief an seinen Bruder angesprochenen Verteidigungsschriften handelt es sich um Johann Jakob Hess’ Gedanken über das Sendschreiben eines Zürcherischen Geistlichen (1775)³³⁰ und Pfenningers Appellation an den Menschenverstand, gewisse Vorfälle, Schriften und Personen betreffend (1776).³³¹ Sowohl Hess wie auch Pfenninger, die beide zu Lavaters engem Zürcher Freundeskreis gehörten, versuchten, Lavaters Ruf wieder herzustellen, wie auch Müller in seinem Brief an den Bruder festhielt. Den Schriften von Pfenninger und Hess sei es gelungen, „die Entferntheit Lavaters von der religiösen Schwärmerey mit
325 Zu Hottinger vgl. HLS Bd. 6, S. 491. 326 Vgl. Martin Ernst Hirzel: Polemik um Lavater – Der Sendschreiben-Streit von 1775/76. In: Zwingliana XXIX, Zürich 2002, 9 f. sowie Weigelt: Lavater (Anm. 13), S. 34. 327 Johann Caspar Lavater: Nachrichten aus der Schweiz. In: Allgemeine theologische Bibliothek. 1. Bd. Mietau 1774, S. 365–378. 328 Vgl. Weigelt: Lavater (Anm. 13), S. 34. 329 Vgl. Hirzel (Anm. 326), S. 14. 330 Johann Jacob Hess: Gedanken über das Sendschreiben eines Zürcherischen Geistlichen sc. von Johann Jakob Hess, V. D. M. Mitglied der Ascetischen Gesellschaft. 1775 (vgl. Hirzel [Anm. 326], S. 10). 331 Johann Konrad Pfenninger: Appellation an den Menschenverstand, gewisse Vorfälle, Schriften und Personen betreffend. 1776 (vgl. Hirzel [Anm. 326], S. 12).
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einer solchen, fast mathematischen Schärfte“³³² zu beweisen und „Lavatern in den Augen des Publikums und aller Journalisten, und insonderheit der größten Männer unserer Zeit, (in denen gewiss beinahe die wenigsten eigentliche sind) sowohl wegen seinem intellektuellen als moralischen Charakter so schäzbar und liebenswürdig“³³³ zu machen, „dass seither fast niemand mehr sich unterstanden hat, Ihn öffentlich anzugreifen.“³³⁴ Müllers Stellungnahme für Lavater schien Erfolg zu haben, seine Mutter und sein Bruder beschlossen, ihn nach Zürich zu schicken. Da es Lavaters berufliche Auslastung nicht gestattete, sich um die Unterweisung junger Geistlicher zu kümmern, wurde beim Exspektanten Johann Caspar Häfeli (1754–1811) angefragt.³³⁵ Häfeli gehörte zum nahen Freundeskreis Lavaters und galt bis zu seinem Wegzug aus Zürich als treuer Anhänger von Lavaters Theologie.³³⁶ Er war denn auch bereit, Müller bei sich aufzunehmen, „da es überhaupt mein Zwek ist, so lange ich amtlos bin, mich mit Erziehung junger Leute zu beschäftigen und sonderbar jungen Geistlichen meines Vaterlandes in diesen gefährlichen theologischen Zeiten, wenn Gott mir hilft, nüzlich zu seyn.“³³⁷ So machte sich der junge Müller kurz nach dem Tod seines Vaters im Frühjahr 1779 auf den Weg Richtung Zürich. Die geistige Atmosphäre, die er bei seiner Ankunft in der Limmatstadt vorfand und die Häfeli als „gefährliche theologische Zeiten“³³⁸ beschrieb, war geprägt von der Diskussion um die ReimarusFragmente. Die von Lessing zwischen 1774 und 1778 herausgegebenen Fragmente eines Ungenannten führten zu heftigen Auseinandersetzungen, die auch vor der Limmatstadt nicht Halt machten. Insbesondere das 1778 erschienene Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger, in dem die Auferstehung als Erfindung der Jünger beschrieben wird, erregte bei Lavater und seinen Anhängern großes Aufsehen, wie auch vor Müller nicht verborgen blieb.³³⁹ Nur kurze Zeit nach seiner Ankunft in Zürich konstatierte er, dass man sich in einer besonderen Epoche der Kirchengeschichte befinde, in der das Christentum durch die Verneinung zentraler christlicher Dogmen und die daraus folgenden Irrlehren in ernstzunehmende Gefahr geraten sei: „Die Existenz des Satans, das Reich und das Wiederkommen Christi, Glaube und Gebet, Erbsünde, Erlösung – alles wird so nach und nach
332 J. G. Müller an Johannes von Müller, 20. Nov. 1778. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 1, S. 485. 333 Ebd. 334 Ebd. 335 Zu Häfeli vgl. ADB Bd. 10, S. 314–316. 336 Zu Häfelis Wirken im Kreis Lavaters vgl. Wernle (Anm. 19), Bd. 3, S. 292–303. 337 Johann Kaspar Häfeli an Eberhard Gaupp, 25. Jan. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 176. 48. 338 Ebd. 339 Zu Lavaters Reaktion auf die Reimarus-Fragmente vgl. Kap. 6.1.
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ausgemustert“³⁴⁰, so Müllers Kommentar zum Stand der christlichen Lehre im Frühjahr 1779. Die ‚antichristlichen‘ Kräfte, die Müller zu verspüren glaubte, bezogen sich neben den Reimarus-Fragmenten auch auf die Auseinandersetzung um Gotthilf Samuel Steinbarts (1738–1809) Abhandlung System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (1778).³⁴¹ Für Steinbart ist das Christentum eine Morallehre, die auf den abstrakten, nur mit dem Verstand einsehbaren Wahrheiten über Gottes Güte, Allmacht und Vorhersehung basiert, was viele Dogmen wie die Satisfaktionslehre ausschließt.³⁴² Die Lehren Jesu würden auf der Nächstenliebe und der Liebe zu Gott als einzige, wahre Quelle für gottgefälliges Verhalten basieren, alle nicht darauf zurückzuführenden Glaubensätze seien willkürlich und falsch.³⁴³ Um dies zu zeigen, hätte Gott Jesus in die Welt gesandt.³⁴⁴ Die biblischen Zeugnisse habe es nur gebraucht, um eine Verständnishilfe zu geben; Steinbarts Theorie gemäß hatten die Menschen in der damaligen Zeit noch nicht über die nötige Abstraktionsgabe verfügt, um die abstrakten Wahrheiten der Religion begreifen zu können, darum mussten sie in Ereignissen dargestellt werden, die den damaligen Bräuchen und Sitten entsprachen. Die Bibel sei also lediglich ein historisches Dokument, das im Kontext der Verfassungszeit gedeutet werden müsse.³⁴⁵ Lavater verfasste eine Rezension von Steinbarts Schrift,³⁴⁶ in der er den Autor zwar nicht durchgängig kritisiert, ihm aber doch vorwirft, wesentliche Punkte des Christentums zu unterschlagen. Steinbart gehe es lediglich darum, die Philosophie mit der Theologie in Einklang zu bringen, darum spreche er den biblischen Zeugnissen ihren grundlegenden Wert für die christliche Religion ab.³⁴⁷ In seiner Synodalrede erwähnte er Steinbart als Vertreter einer versteckten Form
340 Tagebucheintrag vom 17. Mai 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 194. 341 Gotthilf Samuel Steinbart: G. S. Steinbart’s … System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums. Für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und andrer die nach Weisheit fragen eingerichtet. Züllichen 1778. 342 Vgl. ebd., 67. 343 „Daß Christus ausdrücklich erkläret hat, alle Anforderungen der Gottheit, und alle wahren Offenbarungen wären in den Worten: Liebe Gott über alles, und deinen Nächsten als dich selbst, enthalten: folglich muss jede Vorschrift, die hieraus nicht natürlich gefolgert werden kann, auch nicht göttlich, sondern menschliche Träumerey sein“ (ebd., S. 68). 344 Vgl. ebd., 226. 345 Vgl. ebd., 193 f. 346 Johann Caspar Lavater: Etwas über Herrn Consistorialrath Steinbarts System der reinen Philosophie und Glükseligkeits-Lehre des Christenthums. In: Christliches Magazin. Hg. von Johann Konrad Pfenninger. 2. Stück. Zürich 1779, S. 63–80. 347 Vgl. Rudolf Dellsperger: Lavaters Auseinandersetzung mit dem Deismus. Anmerkungen zu seiner Synodalrede von 1779. In: Pestalozzi/Weigelt (Anm. 14), S. 95.
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des Deismus, der unter dem Deckmantel irreführender Namen das wahre Christentum untergrabe: Ein Christenthum, dessen Mittelpunkt nicht Christus ist – das Christo seine Herrschaft, seinen Einfluss auf die menschlichen Angelegenheiten und Schiksale seine Verbindung mit den gestorbenen, lebenden u. künftigen Menschengeschlecht raubt – das zwischen dem Christus im Grabe oder im Himmel, u. der Christenheit auf Erden einen unübersteigliche Kluft befestige, die alle Anbethung seiner Person zur Thorheit u. alles Zutrauen zu ihm selbst zur Schwärmerey macht – ein solches Christenthum, so fein es immer ausgesponnen sey, ist ein Antichristenthum.³⁴⁸
Diese als ‚Antichristentum‘ bezeichnete Religionsauffassung zu bekämpfen war das Ziel, das Lavater nicht nur mit seiner Synodalrede verfolgte, sondern auch im alltäglichen Leben umzusetzen versuchte, wie Müller in seinen Tagebüchern dokumentiert. Im Zentrum von Müllers Unterricht bei Häfeli stand denn auch, ganz im Sinne Lavaters, die gemeinsame Bibellektüre und -exegese, so dass sich Müller den Vorsatz fasste: „Nun – in Gottes Namen – […] – die Bibel soll einzig mein Hauptstudium seyn, immer mehr will ich mich in der Aufopferung aller anderer Vergnügung üben u. stärken.“³⁴⁹ Die Lektüreliste, mit der sich Müller während seiner Zürcher Zeit auseinandersetzte, konzentrierte sich aber keineswegs lediglich auf die Bibel, und auch wenn Müller später festhielt, dass er im Kreis um Lavater auf keine eigentliche Kenntnisse der Antike gestoßen ist,³⁵⁰ beschäftigte er sich mit verschiedenen klassischen Werken. Müller betrachtete die Antike nicht in Konkurrenz zur Bibel, sondern meinte gar, in vielen Stellen „allenthalben bibl. Ausdrüke“³⁵¹ zu erkennen und dementsprechend dieselben, der menschlichen Natur eingeprägten „Gefühle, Grundideen, Verheißung, Erscheinungen“³⁵² ausmachen zu können, deren Unterschied lediglich darin liege, dass sie „von der h. Schrift doch am höchsten eröfnet u gefühlt und in das menschliche Leben eingewebt werden.“³⁵³ Müller las die Klassiker biblisch fokussiert: „Du mein Gott wolltest mich belehren, dass von diesen alten Meisterstücken nicht vergebens so lange habest dauern lassen, du hat sie auch für mich bereitet, in ihnen den Adel u die Göttlichkeit deiner Bibel aufs neue zu fühlen.“³⁵⁴ Neben den Unter-
348 Synodalrede 1779, FA Lav. Ms. 36.6. 349 Tagebuch vom 22. Dez. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 253. 350 Vgl. Stokar (Anm. 318), S. 36 f. 351 Tagebuch vom 10. Juli 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 208. 352 Ebd. 353 Ebd. 354 Ebd.
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richtsstunden mit Häfeli profitierte Müller von dessen sozialen Kontakten, die sich mehrheitlich auf den Kreis um Lavater konzentrierten. Wie aus Müllers Tagebuch zu entnehmen ist, pflegte Häfeli regen Umgang nicht nur mit den vielen anderen Zürcher Exspektanten, die sich häufig wie er selbst als Hauslehrer ihr Geld verdienten, sondern ebenfalls zu bereits in ihrer ersten Pfründe wirkenden Amtskollegen wie Johann Konrad Pfenninger, Lavaters Nachfolger in der Pfarrstelle am Waisenhaus. In diesen Zirkeln wurden oft theologische Fragen diskutiert. Ein prominentes Thema war die postmortale Existenz der Seele – eine Diskussion, an der Müller nicht nur in Bezug auf seinen nur kurze Zeit vor seinem Zürcher Aufenthalt verstorbenen Vater,³⁵⁵ sondern vor allem im Hinblick auf chiliastische Vorstellungen begeistert teilnahm. Wie Lavater ging auch Müller davon aus, dass die Seele sich nach ihrem Tod in einem aktiven, tätigen Zustand befindet – dementsprechend offen war er für Berichte, die ihn in seiner Überzeugung bestätigten. Immer wieder notierte sich Müller Erzählungen in sein Tagebuch, bei denen es um die Kontaktaufnahme mit Toten ging; die Tatsache, dass sie bisweilen über mehrere Ecken hinweg gehört und weitererzählt wurden, schien ihn weder zu stören noch an deren Wahrheitsgehalt zweifeln zu lassen: Herr Gaupp erzählte hier eine Geschichte, die ihm Hahn erzählt hatte, von einem seiner Freunde, den er gar wohl kannte. Diesem wäre sein verstorbener Freund einmahl würklich erschienen, hätte mit ihm geredt u gesagt, dass er unausprechlich selig aber doch noch nicht im Himmel sey. Dies, dünkt mich – wiederlege zimlich die Meinung von einem Selenschlaf, die mir noch nie gefiel.³⁵⁶
Obschon Müller in Häfeli einen bewunderten und treuen Anhänger Lavaters vorfand, der dessen Ideen mit Leidenschaft vertrat und weiterentwickelte,³⁵⁷ war es Lavater selbst, dem Müller seine innbrünstige, an Anbetung erinnernde Verehrung entgegenbrachte. Durch Lavater sei er zur religiösen Erweckung gelangt, so Müller in einem Brief, der an eine pietistische Bekenntnisschrift erinnert. Die Sünde und selbst der Satan habe nicht halt gemacht vor ihm, erst durch Lavaters Nachdenken über mich selbst³⁵⁸ sei er zu einer ersten Bekehrung gelangt, philo-
355 Im Tagebuch vom 12. Feb. 1780 fragt sich Müllers anlässlich des ersten Todestags über Aufenthaltsort und Art und Weise des Zustands seines Vaters (vgl. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 288). 356 Tagebuch vom 17. Jun. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 203. 357 Vgl. Wernle (Anm. 19), Bd. 3, S. 294. 358 Johann Caspar Lavater: Nachdenken über mich selbst. Joh. VII, 17. So jemand den Willen dessen, der mich gesendet hat, thun will, der wird dieser Lehre halber verstehen, ob sie aus Gott sey. Zürich 1770.
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sophische Schriften aber (Poésies diverses)³⁵⁹ hätten weiter zur Herabsetzung der geoffenbarten zugunsten der natürlichen Religion geführt, an die er damals geglaubt habe. Youngs Nachtgedanken,³⁶⁰ Richardsons Briefroman Clarissa und Lavaters Aussichten sowie dessen Übersetzung von Bonnets Palingénésie hätten ihn aber gänzlich zurück auf die Pfade der christlichen Religion gebracht und den Funken göttlichen Lebens, den er dank seiner christlichen Erziehung noch in sich getragen habe, erneut zum brennen gebracht.³⁶¹ Zur eigentlichen Erleuchtung sei er aber durch Lavaters Aufzeichnung der letzten Worte seines sterbenden Freundes Felix Hess gelangt.³⁶² Hess’ selbstkritische Beichte, nicht aus vollem Herzen in der Nachfolge Christi gelebt, nicht aus Liebe zu Gott, sondern aus Ehrgeiz und dem Streben nach Anerkennung heraus gehandelt zu haben, beeindruckten Müller zutiefst: Ich las das, was Ihr sterbender Freund sagte, fand alles im höchsten Grad treffend auf mich, alles wahr, mit meiner Gesinnung über einstimmend. Mit übernatürlicher Stärke und Lebhafftigkeit drang alles in meine Seele, diese Welt verschwand, und ich war am Rande der Ewigkeit. Mit gebeugtem, zerknirschtem Herzen nahte ich mich – villeicht zum ersten Male – dem, der Sünde vergibt, und er vergab mir. Alles und in allem wurde mir – nach und nach – Jesus Christus.³⁶³
359 „Eine deutsche Übersetzung der ‚poésies diverses‘ des Königs Friedrich und seiner Lobrede auf den Prinzen Heinrich kam mir in die Hände, und der Brief an Keith ‚über die eiteln Schrecken des Todes‘ überzeugte mich, dass die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen ein Wahn und leeres Schreckbild sei. Ich hielt dieselbe für den stärksten und unwiderleglichsten Einwurf gegen die christliche Religion und ich nannte in meinem Innern die Gottheit nie anders, als die ewige Liebe. Als ich später in Lavaters ‚Aussichten in die Ewigkeit‘ und andern Büchern fand, dass die Lehre von der Wiederbringung sich nach der Auslegung dieser Theologen auch in der heil. Schrift finden ließe, so wurde ich von dieser Seite her für die letztere wieder gewonnen, und der Bonnet-Lavater’sche ‚Erweis des Christentums‘ brachte mich vollends zu ihrer Verehrung zurück, die schon vor jener Zweifelsperiode unvergänglich tief in mein Herz gepflanzt war“ (Stokar [Anm. 318], S. 22). Weiter führte Müller aus, dass er selbst bereits in jungen Jahren in einem Geistesblitz aus den Büchern Mose, der Propheten und der Apokalypse die Hoffnung auf eine allgemeine Judenbekehrung herausgelesen habe, in Bonnet resp. der Lavaterschen Auslegung fand er nun die diesbezügliche Bestätigung (vgl. ebd.). 360 „Im Winter 1776–1777 traf ich auf Youngs ‚Nachtgedanken‘, eben in der passendsten Stimmung dafür, und wirklich haben wenige Bücher jemals so sehr auf mich gewirkt, wie die ersten Gesänge dieses ernsten Dichters der Zeit und der Ewigkeit“ (Stokar [Anm. 318], S. 21). 361 Vgl. Tagebuch vom 20. April 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 188. 362 Laut Lavaters Aufzeichnung gestand Felix Hess auf seinem Totenbett, weder mit Gott in seinem Herzen noch in der Gefolgschaft Christi gelebt, sondern im Ehrgeiz den Antrieb für alle seine Tätigkeit gehabt zu haben – dies habe er im Angesicht seines Todes und in der Barmherzigkeit Gottes erkannt, und davor wolle er jetzt Lavater warnen (vgl. JCLW IV, S. 126 ff.). 363 Tagebuch vom 20. April 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 188.
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Müllers Verehrung für Lavater ist in den seinen Bekenntnisbrief abschließenden Worten widerspiegelt: Das sage ich Ihnen also, dass Gott von den Menschen durch Sie hauptsächlich den Geist des Lebens in mich gesendet hat, dass unter den Menschen, die ich izt kenne, Sie der sind, dessen Schrifften, dessen Geist am meisten mit dem meingen einstimmt.³⁶⁴
Genauso enthusiastisch und von übertriebener Dankbarkeit geprägt ist Müllers Darstellung der Reaktion Lavaters auf seinen Brief im Tagebuch: „ach wie herzlich Er mir die Hand drükte – wie herzlich er sagte: Ich danke Ihnen – ach ja mein Erbarmer!“³⁶⁵ Dass Lavater und der zu seinem Kreis gehörende Häfeli nicht allerorts gleichermaßen geschätzt waren, wurde Müller bewusst, als er Häfeli zu der zweimal jährlich sich versammelnden Zürcher Synode begleiten wollte. Obschon die für die Geistlichen aus Stadt und Umgebung gedachte Synode üblicherweise auch für Außenstehende geöffnet war, wurde Müller zuerst der Zutritt verwehrt, was er mit seiner Zugehörigkeit zu Lavater und seinem Kreis erklärte: „Ihr müsset nemlich zu erste wissen“, schrieb er an Mutter und Schwester, „dass die Chorherrn, alle (die geistlichen nemlich) widerpart sind von allem, was von Lavater herkommt und mit ihm geht, also auch von Häfelj.“³⁶⁶ Die Synodalversammlung selbst, die Müller auf Grund des erschwerten Zutritts und dem Verweis auf das Stillschweigen über das Gehörte als Ort voller „Feyerlichkeiten und Heimlichkeiten“ erwartet hatte, entpuppte sich, wie Müller als Fazit seines ausführlichen Berichts darüber an Mutter und Schwester mitteilte, als Versammlung, „wo bloss leere Komplimente und Cerimonien sind.“³⁶⁷ Weit mehr als die Synode behagte Müller das anschließende Zusammensein bei Lavater und seinem Kreis, wo über die Chorherren und deren Predigt zur Toleranz, die sie, wie der von ihnen gewollte Ausschluss Müllers bewies, selbst nicht einhielten.³⁶⁸ In seiner schwärmerischen Bewunderung für Lavater ließ Müller keine Gelegenheit aus, sich in dessen Nähe zu bewegen. Wann immer möglich, besuchte er seine Predigten:
364 Ebd. 365 Tagebuch vom 1. Mai 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 191. 366 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 4. Okt. 1779. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 2, S. 103. 367 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 4. Okt. 1779. In: ebd., S. 106. 368 Vgl. ebd., S. 106 f.
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Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich gern und mehr in die Kirche gehe als zu Schafhausen, besonders in Lavaters Abendpredigten, Mitwoch und Samstag. Diese sind besonders lehrreich und erbaulich. Man liest ein halbes Kapitel aus dem Neuen Testament, der Ordnung nach, erklärt es und macht eine kurze Application.³⁶⁹
Alles, was ihm über Lavater wissenswert erschien, notierte sich Müller in sein Tagebuch. So beschreibt er die Lospraxis, der sich Lavater bediente, um Bibelstellen für seine Predigten auszuwählen,³⁷⁰ berichtet von seiner Freigiebigkeit Bettlern gegenüber³⁷¹ und macht sich Gedanken über Lavaters Gelehrsamkeit, die er als mehr von seinem Umgang mit anderen Menschen als aus Büchern stammend einstufte.³⁷² Besonderes Vergnügen bereitete es Müller, wenn er sich bei Lavater aufhalten durfte – „O wie ist mir so wohl, wenn ich allein bei Ihm bin. Er ist mein Schuzengel“³⁷³ – und dessen Briefe vorgelesen bekam oder sich in seiner Bibliothek umsehen durfte. In Bezug auf Lektüreratschläge war Lavater allerdings zurückhaltend, so zitiert Müller seinen Mentor im Tagebuch: „Ich bin in äußerster Verlegenheit, wenn ich einem jungen Menschen ein Buch rathen soll – so mangelhaft und unbestimmt sind alle.“³⁷⁴ Vor dem Hintergrund einer solchen Literaturkritik seitens Lavaters sah sich Müller gezwungen, seinen eigenen Kanon an wichtigen Büchern zu modifizieren. Besorgt schreibt er der Mutter, sie solle einiges aus seiner Bibliothek, unter anderem Werke von Charles Batteux (1713– 1780), Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792), Michaelis, aber auch von Klopstock verkaufen³⁷⁵ – „Ihr könnet nicht glauben, in welcher Verachtung dergleichen Bücher hier stehen. Es wird nur gar nichts davon geredt.“³⁷⁶ Einige Werke aber müsse die Mutter ihm unbedingt nachschicken, andere hätte er sich bereits neu erstanden, so Bengels Apokalypse-Auslegung und Hahns Einleitung zum Neuen Testament.³⁷⁷ Den Kauf des Letzteren rechtfertigt Müller der Mutter gegenüber, die Gesinnung im Lavaterschen Kreis widerspiegelnd, folgendermaßen:
369 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 22. April 1779. In: ebd., S. 20 f. 370 Vgl. Tagebuch vom 19. Sept. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 224. 371 Vgl. Tagebuch vom 26. Sept. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 228. 372 Vgl. Tagebuch vom 19. Sept. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 224. 373 Tagebuch vom 26. Sept. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 228. 374 Ebd. 375 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 22. April 1779. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 2, S. 21. 376 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 29. April 1779. In: ebd., S. 27. 377 „Es sind folgende: Scheuermann über die Offenbarung Johannis, in 4. Groenewegen über eben dieses Buch, auch in 4. und van Til Einleitung in die prophetischen Schriften, in 4. und wenn allenfalls in den Catalogus [der zu verkaufenden Bücher], wie ich aber nicht glaube, Hor-
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„Doch über Hahns Neues Testament noch ein Wort. Ihr bildet Euch vermuthlich ein, es seye eine blosse Uebersetzung des Neuen Testaments, wie etwa des Doktor Bahrts seine […]. Hahns seines ist freilich auch eine Uebersezung, aber mit so weitläufigen und vielen Hülfsmitteln und Erklärungen zum deutlichen Verstand desselben versehen, dass es mir täglich die besten Dienste thut.“³⁷⁸
Und um der Angelegenheit ihre nachdrückliche, in seinen Augen unzweifelhafte Richtigkeit zu geben, fügte Müller hinzu: „Ueber das ist Hahn – um es kurz zu sagen – ein Christ und Bahrd ein Deist.“³⁷⁹ Es handelt sich bei den angesprochenen Schriften um Bahrdts Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen (1773), einer Übersetzung des Neuen Testaments, und um Philipp Matthäus Hahns Die heiligen Schriften der guten Botschaft vom verheißenen Königsreich oder das sogenannte Neue Testament (1777),³⁸⁰ eine Übersetzung, die Hahn auf der Grundlage von Bengels griechischem Text³⁸¹ machte und in die er seine eigenen theologischen Überlegungen einbrachte.³⁸² Diese beziehen sich vor allem auf Hahns eschatologischen Ansichten. Überzeugt davon, dass das von ihm als Königreich Jesu benannte Reich Gottes bald anbrechen würde, legt er das Neue Testament als grundsätzliche Botschaft über dieses baldige Reich Gottes aus.³⁸³ Auf dem Hintergrund von Lavaters Freundschaft mit Hahn und seiner ebenfalls von eschatologischen Überzeugungen geprägten Theologie ist es kaum erstaunlich, dass Müller sich in der Gefolgschaft Lavaters die Hahnsche Übersetzung anschaffen wollte. Die Beschäftigung mit der Apokalypse nahm bei Lavater und seinen Anhängern einen großen Raum ein.³⁸⁴ Sie war geprägt von starker Gemütsbewegung, wie auch Müller feststellte. In seinem Tagebuch schreibt er von der Ergriffenheit, die ihn
chens mystische Bibel in 4 ausgezeichnet wäre, so streicht sie auch durch und behaltet sie. Ihr könnet dagegen Bahrdts neues Testament in 8. in den Catalogus sezen, welches ich hoffentlich nie brauchen werde“ (J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 29. April 1779. In: ebd., S. 28). 378 J. G. Müller an Anna Maria und Magdalena Elisabetha Müller, 8. Jun. 1779. In: ebd., S. 48. 379 Ebd. 380 Zu Hahns Übersetzung vgl. Ilse Franke: Die Übersetzung des Neuen Testaments von Philipp Matthäus Hahn (1777) im Vergleich der von ihm benutzten Übersetzungen von Luther, Bengel, Heumann und Reitz. Greifswald 1936. 381 Johann Albrecht Bengel: Gnomon novi testamenti in quo ex nativa verborum vi simplicitas profunditas, concinnitas, salubritas, sensuum coelestium indicatur. Tübingen 1742. 382 Vgl. Franke (Anm. 380), S. 19. 383 Vgl. ebd., S. 31. 384 Vgl. Wernle (Anm. 19), Bd. 3, S. 294.
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bei der gemeinsamen Lektüre und Exegese der Johannes-Offenbarung befallen hat: „Ich sezte mich, hörte zu, redte dazwischen, u. wurde ganz entzükt, Thränen standen mir in den Augen – – ach Gott ich kanns nicht beschreiben.“³⁸⁵ Bei der Diskussion um den Zeitpunkt des Wiederkommens Christi herrsche Unklarheit, man müsse aber die nötige Reife der Menschheit abwarten und auf die in der Apokalypse angedeuteten Anzeichen achten.³⁸⁶ Die Verheißung würde eintreten, wenn das Verhältnis zwischen den göttlichen und satanischen Mächten in einem scheinbaren Gleichgewicht sei und Christus es als nötig erachte, den Teufel in seiner Bosheit zu bremsen.³⁸⁷ Mit dieser Interpretation spricht Müller die in Lavaters Kreis sich immer stärker etablierende Überzeugung an, dass die Aufklärungstheologie den in der Apokalypse symbolisierten Unglauben darstelle.³⁸⁸ Schriften wie Lessings Reimarus-Fragmente oder Steinbarts Glückseligkeitslehre nährten diese Überzeugung und führten nicht selten dazu, dass bei Lavaters Anhängern trotz der von ihm vertretenen Undatierbarkeit der Parusie Christi Gedanken an die Naherwartung aufkamen. Genauso unklar, aber ebenso wichtig wie die Datierung der Wiederkunft war die Frage nach der Teilnahme am Tausendjährigen Reich unter Christi Regentschaft: „Also, wer hat Theil an dieser Glückseligkeit? Nicht alle Christen, die so gemeint werden, sondern bloss die der ersten Auferstehung. Und deren, glaube ich, werden doch nicht sogar wenige seyn.“³⁸⁹ Hinweise zu einer adäquaten Exegese der Apokalypse lieferte Lavater in seiner über mehrere Monate sich hinstreckenden Abendgebetsreihe, die Müller wie die anderen Zuhörer begeistert besuchte: Herr Lavater hat leztern Samstag die lezte Abendpredigt über die Offenbarung Johannis gehalten. Ohne Rührung gingen gewiss wenige weg. Ich gewiss auch nicht. […]. Denn vorhin wusste ich gar nicht, wie ich dieses Buch ansehen sollte. Und ich weiß, es geht noch vielen andern so.³⁹⁰
Auch die literarische Auseinandersetzung mit der Apokalypse wurde in Lavaters Gesellschaft diskutiert, wie aus Müllers Tagebuch hervorgeht. So las Lavater einen Brief Herders vor, in dem dieser seine eigenen Gedanken zur Apokalypse und deren poetologischen Einkleidung mitteilte – was doch zu einigem Erstaunen veranlasst, hatte sich Lavater zu diesem Zeitpunkt bereits von Herder dis-
385 Tagebuch vom 23. April 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 189. 386 Tagebuch vom 11. Okt. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 230. 387 Tagebuch vom 16. Feb. 1780. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 296. 388 Vgl. Wernle (Anm. 19), Bd. 3, S. 294. 389 Tagebuch vom 19. Dez. 1779. SB Schaffhausen, Fasc. 111. 249. 390 J. G. Müller an Anna Maria Müller, 28. Okt. 1779. In: Weibel (Anm. 317), Bd. 2, S. 98.
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tanziert, da ihn dessen Werk über die Apokalypse nicht überzeugte.³⁹¹ Lavaters Bemühen, eine eigene literarische Umsetzung der Johannes-Offenbarung zu verfassen, war ebenfalls Thema in Lavaters Kreis. Lavater habe die Apokalypse in Verse gedichtet, weiß Müller nach Hause zu berichten, er lasse sie nun bald „mit vielen Anmerkungen druken.“³⁹² Müller selbst sei bereits in den Genuss gekommen, das Manuskript zu lesen, er habe einige Stellen daraus abgeschrieben und würde sie gerne der Mutter und der Schwester weiterempfehlen, so Müllers Kommentar zu Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn. Obschon Müller sein Zürcher Jahr in der 1786 verfassten Selbstbiographie weit kritischer beurteilte, als es seine Tagebucheinträge tun, musste er eingestehen, Zürich unter „tausend Thränen“³⁹³ verlassen zu haben und in seiner gesamten Studienzeit in Göttingen wehmütig an seine Zürcher Freunde gedacht zu haben, in deren Umgang kein Tag vorbeigegangen sei, an dem er nicht etwas gelernt hätte, und „an ihrem feurigen Interesse an Licht und Wahrheit mich erwärmen konnte.“³⁹⁴ Diesen Umgang pflegte Müller unter anderem auch in zwei von Lavater gegründeten Gesellschaften, deren Absicht und Gepflogenheiten Aufschluss geben über Lavaters Engagement im Bereich der theologischen Unterweisung.
3.3 Lavaters Gesellschaften zur Unterweisung junger Geistlicher In den 1770er Jahren entstanden in Zürich um Lavater zwei Zirkel, die sich, ähnlich wie es die Absicht pietistischer Erbauungsstunden war, zur gemeinsamen Glaubensvertiefung und -bestärkung zusammenfanden. Lavater war daran gelegen, vor allem junge Theologen um sich zu scharen, um ihnen seine christologischen Ansichten in einem geschützten, von den gegen ihn polemisierenden theologischen Kreisen abgegrenzten Rahmen vermitteln zu können. Nach dem Sendschreibenstreit, in dem Lavaters Gegner unter der Führung von Hottinger öffentlich gegen ihn Stellung bezogen hatten, versuchte Lavater die Nähe zu seinen Anhängern in regelmäßig sich treffenden Versammlungen zu wahren
391 Zu Herders Exegese der Apokalypse und die daraus sich ergebenden Differenzen mit Lavater vgl. Kap. 5.6. 392 J. G. Müller an Anna Maria Müller, 28. Okt. 1779. In : Weibel (Anm. 317), Bd. 2, S. 98 f. 393 Stokar (Anm. 318), S. 38. 394 Ebd.
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und damit sicherzustellen, dass er auch nach der heftigen Polemik gegen ihn auf einen treuen Kreis von theologisch Gleichgesinnten zählen konnte.³⁹⁵ Die erste Gesellschaft, die Lavater gründete, traf sich jeden Freitag zur gemeinsamen Lektüre und wurde auf Grund des Tages ihrer Zusammenkünfte ‚FreitagsGesellschaft‘ genannt. Lavaters Biograph und Schwiegersohn Georg Gessner (1765–1848), der wegen seines zu dieser Zeit noch zu jungen Alters nicht zu den Teilnehmern gehörte, später aber in Kontakt zu einigen ehemaligen Mitgliedern von Lavaters Freitags-Gesellschaft stand, schrieb dazu: Er [Lavater] hatte eine kleine evangelische Lesegesellschaft von jungen Männern gestiftet, die sich dem geistlichen Stande gewidmet hatten, und wöchentlich einmal sich frühe 5 Uhr des Morgens bey ihm versammelte. Dies war zwar kein großer Kreis, aber ich weiß, dass die, welche daran Theil nahmen, diese Stunden unter die wichtigsten und lehrreichsten zählten.³⁹⁶
Einer der Teilnehmer an der Freitags-Gesellschaft war Diethelm Schweizer, der nach seiner Ordination 1777 als Exspektant auf seine erste Pfarrstelle wartete. Schweizer gehörte zu dem Kreis junger Theologen, die sich von Lavaters empfindsamer Theologie angezogen fühlten und dementsprechend offen waren für die von Lavater vermittelten Ideen und Überzeugungen.³⁹⁷ Als Lavater 1776 seine Schrift über die Zürcher Geistlichen und Gelehrten veröffentlichte, stellte sich Schweizer, der, damals am Ende seines Theologiestudiums stehend, viele der von Lavater beschriebenen Professoren zu seinen Lehrern zählte, auf die Seite der Lavater unterstützenden Theologiestudenten.³⁹⁸ Schweizers Meinung nach war dieser Sendschreibenstreit der Ausgangspunkt für Lavaters Idee, eine Gesellschaft für junge Geistliche zu gründen. Er ging davon aus, dass Lavater als Reaktion auf die heftige Polemik gegen ihn insbesondere junge Leute um sich herum versammeln wollte, um sie in seiner Lehre zu unterrichten.³⁹⁹ Die FreitagsGesellschaft diente vor allem dazu, die Bibel zu interpretieren. Darüber hinaus wurden aber auch andere Texte gelesen, so zum Beispiel Passagen aus Lavaters Korrespondenz.⁴⁰⁰
395 Vgl. Graf (Anm. 298), S. 73. 396 Gessner (Anm. 82), 2. Bd., S. 169. 397 Vgl. Graf (Anm. 298), S. 40. 398 Vgl. ebd., S. 71 f. 399 Vgl. ebd.,, S. 73. 400 Vgl. ebd.
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Zusammen mit Johann Jakob Hess gründete Lavater 1777 eine weitere Gesellschaft, die sich explizit dem Anliegen verpflichtete, die auf dem Evangelium basierende christliche Lehre zu studieren und zu verkünden, wie aus Schweizers Tagebuch zu entnehmen ist. So schreibt er anlässlich der Gründung der ‚MonatsGesellschaft‘ euphorisch: Nun ist die Gesellschaft errichtet, die ich schon lange wünschte. Sie liest das neue Testament für einmal in der Absicht, um die schweren Stellen desselben für sich verstehen zu lernen; wenn das in Richtigkeit gebracht ist; sammelt sie sich ein christliches Religionssystem, zu dem sich ieder, der Christ zu seyn bestimmt ist, bekennen muss; und gegen das der heüt zu Tag bald allherrschende Deismus nur gar nichts, auch nichts scheinbares einzuwenden vermögend seyn wird. Den Plan entwarf Lavater.⁴⁰¹
Auch Gessner erwähnt diese Gesellschaft, die auf Grund ihres jeweils am letzten Sonntag des Monats stattfindenden Treffens ‚Monats-Gesellschaft‘ genannt wurde: Sie [Lavater und Hess] verbanden sich näher zu christlichem Zwecke, und mit bestimmter Hinsicht auf ihren Beruf. Noch waren einige andre Freunde, von denen etliche in frühe wegstarben, Männer, die der Ernst sich im christlichen Lehrberufe zu ermuntern und weiter zu bringen, mit dabey. Auch Herr Häfeli und Stolz waren in dieser Gesellschaft, die sich monatlich versammelte, und durch interessante Vorlesungen und Gespräche über die wichtigsten Gegenstände des Christenthums unterhielten.⁴⁰²
Die Mitglieder der Gesellschaft waren junge Theologen,⁴⁰³ viele von ihnen noch Aspiranten, die auf ihre erste Stelle warteten und „mit ganz besonderer Innigkeit an Lavatern hiengen – wiewohl in spetern Jahren auch einige hinter ihm abgetreten sind.“⁴⁰⁴ Aus der namentlichen Erwähnung einzelner Mitglieder in Schweizers Tagebuch lässt sich schließen, dass die Theologen, die sich in der morgendlichen Freitagsrunde versammelten, zusätzlich an der sonntäglich sich treffenden Gemeinschaft teilnahmen. Auch in der Sonntags-Gesellschaft ging es um gemeinsame Bibellektüre und -auslegung, die jeweiligen Passagen wurden, um sich besser darauf vorbereiten zu können, im Voraus bekannt gegeben. Mit dieser Art der Lehre knüpfte Lavater an die ‚Konferenzen‘ an, die er von Hahn kannte.⁴⁰⁵ Wie bei Lavaters Gesellschaften gehörte es zum Ziel der Konferenzen,
401 Tagebuch vom 30. 8. 1777. In: Graf (Anm. 298), S. 74. 402 Gessner (Anm. 82), 2. Bd., S. 170. 403 In den Tagebüchern von Diethelm Schweizer werden folgende Teilnehmer erwähnt: Jakob Stolz (1753–1823), Johannes Tobler (1732–1808), Johann Heinrich Bremi (1748–1832), Johann Kaspar Häfeli (1754–1811), Ludwig Vögeli (1754–1793) und Lavaters engster Freund Konrad Pfenninger. 404 Gessner (Anm. 82), 2. Bd., S. 169. 405 Vgl. Kap. 2.7.
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junge Theologen und Theologiestudenten im praktizierten und gelehrten Glauben zu unterweisen.⁴⁰⁶ Manchmal erwähnt Schweizer das gemeinsame Abendmahl, es ist aber nicht eindeutig festzustellen, ob die Kommunion fester Bestandteil der Zusammenkünfte war. Allerdings hätte dies einem Anliegen entsprochen, das Lavater bereits 1771 in einem Brief an Hasenkamp formuliert hatte: Noch einen Gedanken im Vertrauen: Was halten Sie davon? Sollten nicht Christen, wo nicht alle Abende, doch wenigstens alle Sonntags und Donnerstags Abende in ihren Häusern (unbeschadet des kirchlichen Abendmahlhaltens) das Brod und den Trank des Herrn geniessen?⁴⁰⁷
Die Versammlungen fanden abwechselnd bei den verschiedenen Teilnehmern statt. Neben der Bibel wurden theologische Abhandlungen aus dem In- und Ausland diskutiert oder eigene Schriften vorgelegt. Bei einem Treffen im Jahr 1779, so steht es in Schweizers Tagebuch, brachte Lavater Ausschnitte aus seiner MessiasDichtung mit.⁴⁰⁸ Ziel von Lavaters Gesellschaften war die Lehre, d. h. die Unterweisung im wahren Christentum. Es ging darum, grundlegende christliche Glaubensfragen zu erörtern, schwierige oder strittige Auslegungen zu diskutieren und zu einer einheitlichen, schriftgemäßen und darum in den Augen der Teilnehmer einzig wahren Exegese zu kommen. Ein weiteres Hauptanliegen Lavaters war der Kampf gegen den Deismus, dieser „schmeichelnden Schlange“, die sich zwar „mannichfaltig mit den Farben des Christenthums“⁴⁰⁹ schmücke, die Bibel aber nur noch geschichtlich auf Tatsachen- und nicht mehr auf Glaubenswahrheit hin untersuche. Lavater wollte den jungen Theologen die ewig währende Gültigkeit und Verbindlichkeit des Evangeliums einprägen, um sie in Zukunft gelebt und gelehrt zu wissen. Er schätzte die Tendenzen seiner Zeit richtig ein, wenn er zu glauben bemerkte, dass die philologische und historische Bibelexegese, die den biblischen Zeugnissen nur noch im geschichtlichen Kontext und nicht in Bezug auf die übernatürlichen göttlichen Offenbarungen und Heilsgewissheiten Relevanz beimaß, immer stärker an Bedeutung gewann. Und genau darin sah er die große Gefahr für die wahre christliche Lehre des Evangeliums. Es sei die Idealisierung und die Toleranz der gegenwärtigen Tage, gibt Schweizer Lavaters Worte in seinem Tagebuch wieder, die aus einer falsch verstandenen Güte heraus versuche, aus allem Unchristlichen etwas Christliches zu machen.
406 Vgl. Brecht (Anm. 254), S. 121. 407 Lavater an Hasenkamp, 14. März 1771. In: Ehmann (Anm. 218), S. 22. 408 Vgl. Graf (Anm. 298), S. 80. 409 FA Lav. Ms. 36. 6.
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Das Anliegen von Lavaters Gesellschaft sei es, „den noch so guten Moralchristen und Moralpredigern einmal zu zeigen, dass sie keine Christuschristen seyen.“⁴¹⁰ Neben diesem Kampf gegen die Moralchristen, also die Neologen und die Deisten, bei dem Lavater die jungen Theologen in seinem Kreis als Verbündete rekrutierte, wurden in den Gesellschaften aber auch immer wieder alltägliche Ereignisse aus dem Zürcher Stadtleben diskutiert, die nicht viel mit dem christlichen Glauben zu tun hatten, wie der kritische Schweizer insbesondere im zweiten und dritten Jahr des Fortbestehens der Gesellschaften vermehrt bemerkte; so beispielsweise der Besuch Goethes in Zürich 1779. Sowohl Schweizer wie auch Johann Heinrich Bremi stellten missmutig fest, dass Lavater Goethe sehr viel Zeit widmete, mehr als ihm ihrer Meinung nach gebührte. In einem Brief schreibt Schweizer: „O Christus. Ist das christlich – einem, von dem man sagt, er habe kein Christentum, so viel Zeit zu opfern. Uns ist bange für Lavater um seine Creaturliebe willen.“⁴¹¹ Man könne nicht einfach einen Menschen, so Schweizer, weil dieser ein Genie sei, lieben mit dem Argument, auch Christus sei ein Genie gewesen. Schließlich sei offenkundig, dass Goethe „ein Genie aus ganz anderer Natur sei als Christus.“⁴¹² Schweizers Kritik an Lavaters Freundschaft mit Goethe geht noch einige Tagebuchseiten lang weiter, das Resümee schließlich lautet, dass Schweizer sich oft um Lavater sorge, weil er bei den Großen dieser Welt so bekannt, beliebt und geschätzt sei, was sich Schweizers Meinung nach sehr störend auf das Leben in der Nachfolge Christi auswirke, dem sich Lavater doch verpflichtet habe. Schweizer distanzierte sich im folgenden Jahr immer stärker von Lavater und seinem Kreis, der ihm zu weltlich wurde. Doch nicht nur Schweizer nahm nicht mehr an den Zusammenkünften teil, auch viele der anderen jungen Theologen verließen Lavaters Zirkel. Der Hauptgrund war dabei meistens nicht wie bei Schweizer die kritisierte Ideologie, sondern der Wegzug aus Zürich, um eigene Pfarrstellen anzutreten, oder, wie im Falle Müllers, sich des Theologiestudiums an einer ausländischen Universität zu widmen. Sowohl die Freitags- wie auch die Sonntags-Gesellschaft lösten sich nach nur wenigen Jahren des Bestehens auf, beide waren aber, so ist in der Lavater-Biographie Georg Gessners zu lesen, „nicht ohne Segen.“⁴¹³
410 Tagebuch vom 30. Aug. 1777. In: Graf (Anm. 298), S. 74. 411 Tagebuch vom 334. Tag des Jahres 1779. In: ebd., S. 61. 412 Ebd. 413 Gessner (Anm. 82), 2. Bd., S. 170.
4 Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos In den Anmerkungen zu seinem Epos Jesus Messias. Oder Die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen schreibt Lavater: Die Idee einer solchen Dichtart ist nicht neu. Lange vor der Messiade des Herrn Klopstoks haben verschiedene Dichter es versucht, die Evangelische Geschichte, wo nicht historisch darzustellen, doch in Verse überzutragen.⁴¹⁴
Unter Punkt 3 bemerkt Lavater: Das gegenwärtige Werk ist von allen vorhandenen Gedichten, die diesen oder einen ähnlichen Namen führen, äusserst verschieden. Es ist viel vollständiger, weitläufiger, ausmalender, und weniger nachahmend als alle lateinischen und deutschen Messiaden oder Christiaden von Hieronymus Vida’s bis zu Cuno’s herab. Dass die Messiade von Klopstock ein Werk von ganz anderer Art sei, ist so auffallend, dass beinahe jedes Wort, das darüber gesagt wird, zu viel ist.⁴¹⁵
Lavater stellt sein Epos zwar in die Nachfolge der langen Tradition biblischer Dichtung, distanziert sich aber gleichzeitig davon, indem er die Andersartigkeit seiner Messiade betont und damit die Absicht verfolgt, vorangehende Werke zu übertreffen. In dieser Absicht ist er mit demjenigen Dichter zu vergleichen, von dessen Messias-Epos er das seinige so deutlich unterschieden wissen wollte: Mit Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Begriff, seine Schulzeit an der Fürstenschule Pforta zu beenden, fasst der junge Klopstock in seiner Abschiedsrede die Tradition des Epos von der Antike bis in seine Zeit zusammen mit der gewagten Prognose, sich selbst mit einem Werk hervorzutun, dass alle bisherigen Epen übertreffen werde.⁴¹⁶ Lavater und Klopstock wollen mit ihren Epen diejenigen Dichtungen überbieten, die sie auf Grund gattungsspezifischer und inhaltlicher Kriterien zu ihren Vorgängern zählen. Anders ausgedrückt: Sowohl Lavater wie auch Klopstock sehen ihr Werk – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und Motiven heraus, wie noch zu zeigen sein wird – als neuartige Dichtung, als Zäsur in einer langen Tradition – der Tradition der christlichen Ependichtung. Um beurteilen zu können, ob Klopstock und Lavater mit Recht beanspruchen, diese Tradition mit neuen
414 JMEA I, S. 299. 415 Ebd., S. 299 f. 416 Vgl. Kap. 4.2.
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Aspekten verändert und belebt zu haben, soll die Geschichte des biblischen Epos von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert nachgezeichnet werden. Wichtige Anhaltspunkte, um Klopstocks Messias in die Tradition des christlichen Epos einordnen und in Bezug auf Vorbildfunktion oder Abgrenzung der Lavaterschen Messiade beurteilen zu können, gibt die Abschiedsrede, die der Schüler Klopstock bei seinem Schulabgang gehalten hat. Klopstocks Reflexionen zum Heldengedicht, die er in seiner Portenser Abschiedsrede darstellt, sollen im Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis als Dichter erläutert werden. Die poetologischen Vorgaben, die sich Klopstock für die Konzeption eines eigenen Heldengedichts setzt, gehen auf die Literaturtheorie der Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger zurück. Klopstock hat sich nicht nur intensiv mit Bodmers und Breitingers Poetik auseinandergesetzt, sondern diese in eine eigene Richtung weiterentwickelt. Es wird zu zeigen sein, wie Klopstock den Begriff der ‚Einbildungskraft‘, den er von den Schweizern übernimmt, in seine Ansichten zur religiösen Poesie einbaut. Die Argumente, mit denen Klopstock seine religiöse Poesie legitimiert, und die Anforderungen, die er daraus für den Messias als Heldenepos ableitet, stellen die Basis dar, um Klopstocks Epos interpretieren zu können. Bei dieser Interpretation stehen diejenigen Szenen im Vordergrund, die sich mit Lavaters Messiade vergleichen lassen. Es handelt sich dabei um den Kreuztod Jesu und das Jüngste Gericht.
4.1 Die Tradition des christlichen Epos von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert Klopstocks Epos Der Messias bedeutete zwar ein großes Novum in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts und stellte nicht nur eine wichtige Weiche im poetologischen Streit zwischen den Schweizern und den Leipzigern um Johann Christoph Gottsched, sondern leitete auch die Periode einer Dichtung ein, die sich von der bisherigen Normpoetik absetzte und eigene, den Affekt und die Empfindsamkeit betonende Aspekte ins Zentrum dichterischer Motivation und Absicht stellte. Trotz dieser innovativen Leistung, die Klopstock mit seiner Dichtung verwirklichte, und der Tatsache, dass Klopstocks Messias bis heute in der Literaturgeschichte als Prototyp des christlichen Epos gilt,⁴¹⁷ darf nicht außer acht gelassen werden, dass sich Klopstock und in seiner Nachfolge auch Lavater auf eine Tradition abstützten, die hinsichtlich der christlichen Epik bis ins vierte
417 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 12.
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Jahrhundert und, die Gattung des Epos im Allgemeinen betrachtet, bis ins achte Jahrhundert vor Christus zurückreicht. Wie stark sich Klopstock dieser Traditionslinie bewusst war und wie er sich damit auseinandergesetzt hat, um sie nicht nur fortzuführen, sondern in ihr mit seiner Dichtung einen neuen Höhepunkt zu setzen, wird zu zeigen sein. Vorerst soll ein Überblick gegeben werden über besagte Tradition, in dem die christliche Epik von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert anhand ihrer wichtigsten Vertretern erläutert wird. Es soll dabei nicht darum gehen, die Geschichte der christlichen Epik in ihrer facettenreichen, vor allem auch im Hinblick auf die editorischen Bemühungen um heute in Vergessenheit geratene christliche Epen spannende Entwicklung aufzurollen – dies hat Ralf Georg Czapla, mit Fokus auf die ‚Bibelepik‘,⁴¹⁸ in seiner verdienstvollen Studie Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit getan. Czaplas Arbeit steht, was die Vollständigkeit betrifft, aber auch hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Informationen, die er über die von ihm behandelten christlichen Epen gibt, singulär da in der nicht sehr umfangreichen Forschungsliteratur zur christlichen Epik.⁴¹⁹ Um sich einen Überblick über die Ependichtung der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert zu verschaffen, muss eine Begriffsdefinition vorgenommen werden, die sich allerdings in Anbetracht des literaturgeschichtlichen Randdaseins, das die christliche Epik fristet, wie bereits angetönt nicht auf grundlegende Forschungsliteratur abstützen kann.⁴²⁰ Der Begriff ‚Christliche Epik‘ wird im Folgenden als Oberbegriff für diejenigen Werke verwendet, die sich in Versen, unter denen der Hexameter der prominenteste ist, eines christlichen Inhalts annehmen. Der Unterschied zur ‚Bibelepik‘, die als Teil der christlichen Epik behandelt wird, besteht darin, dass sich das Bibelepos einem Stoff annimmt, der auf einer alt- oder neutestamentlichen Vorlage basiert, während zu der christlichen Epik auch Werke zählen, deren Figuren und Handlungen nicht direkt der Bibel entnommen, die aber in einem explizit christlichen Kontext angesiedelt sind. Für das Bibelepos kann auf Czaplas Definition zurückgegriffen werden. Czapla definiert das ‚Bibelepos‘ im engeren Sinn als Gedicht größeren Umfangs, das nach dem Schema einer ordo artificialis, also eines vom Autor selbst entworfenen künstlichen Aufbaus, gedichtet ist. Als ‚Poetische Bibelparaphrase‘ bezeichnet Czapla diejenigen Werke, in denen die biblische Vorlage ihrer natürlichen Struktur gemäß, der ordo naturalis, nacher-
418 Zur Begriffsdefinition der ‚Bibelepik‘ vgl. den folgenden Abschnitt. 419 Vgl. Kap. 1. 420 Vgl. Czaplas Forschungsüberblick zur Gattung des Bibelepos (Czapla [Anm. 30], S. 13–16, hier insbesondere S. 13).
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zählt ist. Zu diesen gehören ‚Evangelienharmonien‘, die sich neutestamentlichen Stoffen annehmen.⁴²¹ Aus Czaplas Definition geht nicht hervor, wie Werke eingeordnet werden, die zwar in ihrer Grundstruktur der biblischen Ordnung folgen, diese aber durch eigene Einschübe erweitern und verändern. Im Folgenden wird anhand der Quantität solcher dichterischer amplificatio in jedem Fall singulär entschieden, ob es sich um ein Bibelepos oder eine biblische Paraphrase handelt. Wie im Begriff enthalten, lehnt sich die christliche Epik an die Gattung des bereits im achten Jahrhundert vor Christus entstandenen heroischen Epos an, so dass deren Merkmale bis zu einem bestimmten Grad übernommen werden können.⁴²² Czapla weist allerdings darauf hin, dass in den unterschiedlichen, seit dem Mittelalter verfassten und immer wieder ergänzten, erneuerten oder überarbeiteten Poetiken variierende Kriterien maßgebend für die Bestimmung des Epos waren.⁴²³ Die christliche Epik entstand als Mittel und Instrument, die heidnische Kultur und Religion zu verbannen. Die Lehre der noch jungen christlichen Religion hatte sich gegen die durch Jahrhunderte hindurch entstandene griechische Philosophie, wie sie Sokrates, Platon und Aristoteles entwickelt und gelehrt hatten, zu behaupten. So entstanden die ersten christlichen Epen, um ein Pendant zu den formal-poetologisch zwar als unanfechtbar geltenden, inhaltlich aber verwerflichen antiken Epen zu schaffen. Der heidnische Inhalt, der nicht nur von religiöser Seite, sondern in Anbetracht der Eskapaden mythologischer Figuren auch aus moralischer und sittlicher Perspektive verwerflich war, sollte mit einem das Christentum repräsentierenden und seine Botschaft verkündenden Thematik ersetzt werden.⁴²⁴ Voraussetzung dazu waren sozial-politische Entwicklungen, in deren Zug das Christentum 313 zur Staatsreligion des weströmischen Reichs wurde, so dass der Weg frei war, die von Nationalstolz und Panegyrik geprägte römische Literatur für christliche Inhalte zu öffnen.⁴²⁵ Die durch ihre Bildung noch tief im Hellenismus verankerten ersten christlichen Epiker lösten sich jedoch lediglich inhaltlich, nicht aber formal von ihren antiken Vorgängern. Sie übernahmen deren literarische Formen, um sie mit dem zu verkündenden christ-
421 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 22. 422 Zur Begriffsbestimmung des Epos vgl. Handbuch der literarischen Gattungen, S. 204: „Ein Epos ist eine narrative Großform in Versen. Der Begriff bezeichnet eine erzählende Versdichtung gehobenen Anspruchs und größeren Umfangs, meist in mehrere Teile (Gesänge, Bücher, aventiuren, cantos) untergliedert.“ 423 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 21. 424 Vgl. ebd., S. 26. 425 Vgl. ebd.
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lichen Inhalt zu füllen, wie die Beispiele der ersten spätantiken christlichen Epen zeigen. Als Initiator der christlichen Ependichtung gilt der im vierten Jahrhundert lebende spanische Geistliche Gaius Vetius Aquilinus Juvencus.⁴²⁶ Um 330 herum verfasst er eine 3211 Hexameter umfassende Evangelienharmonie, als deren Vorlage hauptsächlich ein altlateinischer Matthäustext dient (Evangeliorum libri IV), den Juvencus aber mit Perikopen aus dem Lukas- und Johannes-Evangelium ergänzt.⁴²⁷ Die gekonnt seinen antiken Vorgängern nachgedichtete Form von Juvencus’ Werk machte den schwerfälligen Vulgatatext in neuer Gestalt für eine gebildete Leserschaft attraktiv.⁴²⁸ Im Zuge des Untergangs der griechischen Kultur gewann das christliche Epos immer stärker an Kontur und Bedeutung. Neben Juvencus avancierte der in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts lebende spanische Dichter Sedulius⁴²⁹ zum führenden christlichen Ependichter. Sein auf fünf Bücher aufgeteiltes Epos Carmen paschale, das sich thematisch auf die Heils- und Wundertaten Christi konzentriert, gehörte wie das Werk von Juvencus noch im Mittelalter zum Kanon der Schullektüre.⁴³⁰ Sedulius stellt das Leben und Wirken Jesu Christi dar, indem er im ersten Buch einige Wunder des Alten Testaments erläutert, die typologisch auf das im Neuen Testament beschriebene Wirken der Gnade Gottes verweisen. In den vier nachfolgenden Büchern erzählt er die neutestamentlichen Heils- und Wundertaten nach, die immer wieder von meditativen Reflexionen und allegorischer Exegese unterbrochen werden.⁴³¹ Sedulius’ Carmen paschale erweist sich auf Grund seiner ordo artificialis als Bibelepos im engeren Sinne, das bis ins Mittelalter zu pädagogischen und theologischen Zwecken gelesen und immer wieder neu ediert wurde. Mit Jesus als Held und Handlungsträger ist eine narratorische Linie gegeben, die als fortschreitende einheitliche Handlung betrachtet werden kann. Alcimus Ecdicius Avitus,⁴³² der von ca. 460 bis 518 lebende Bischof von Vienne, erlangte seine literarische Bekanntheit durch das biblische Epos De spiritalis historiae gestis (um 500), das in fünf Büchern die Schöpfung, den Sündenfall und
426 Vgl. Wehrli (Anm. 31), S. 266. Zu Juvencus vgl. BBKL Bd. III, S. 904–906. 427 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 27. 428 Vgl. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 2. Hrsg. von Huber Cancik und Helmut Schneider. Stuttgart, Weimar 1997/1999, S. 625. 429 Zu Sedulius vgl. BBKL Bd. IX, 1995, S. 1289–1290. 430 Vgl. Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfried von Weissenburg. München 1975, S. 41 ff. 431 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 27. 432 Zu Avitus vgl. BBKL Bd. I, S. 311.
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Gottes Richtspruch zur Vertreibung aus dem Paradies, die Sintflut und die Durchquerung des sich öffnenden Meeres beschreibt.⁴³³ Wie es der drei unterschiedlichen biblischen Vorlage entsprechend wohl kaum anders möglich ist, fehlt in Avitus’ Epos die Einheit der Handlung. Der Autor versteht es aber, eine exegetisch zu betrachtende christliche Kosmologie zu beschreiben, und führt mit dem Teufel Lucifer einen Handlungsträger in sein Werk ein, an den sich Milton bei der Konzeption seiner satanischen Protagonisten in Paradise Lost angelehnt haben dürfte.⁴³⁴ Das Bibelepos De actibus apostolorum (um 544) des ligurischen Autors Arator⁴³⁵ erzählt in zwei Büchern 43 Passagen aus der Apostelgeschichte nach. Arator verfolgte in seinem Werk weniger epische Ansprüche als exegetische Absichten, so dass er seine nacherzählten Passagen aus der Apostelgeschichte in Anlehnung an eine Predigt gestaltete.⁴³⁶ Sein Epos wurde denn auch in der Kirche San Petri ad Vincula in Rom öffentlich unter großem Beifall vorgelesen.⁴³⁷ Charakteristisch für die christlichen Epen der lateinischen Spätantike ist nicht, wie dies thematisch bedingt zu erwarten wäre, eine grundsätzliche formale Neuorientierung und damit verbunden eine Abkehr von den heidnischen Vorgängern. Vielmehr lässt sich beobachten, dass die spätlateinischen Dichter stark darum bemüht waren, ihre Dichtungen den großen Werken der Antike anzulehnen und sowohl stilistisch wie auch formal von ihnen zu profitieren. Eine vergilische Bibel zu verfassen respektive als biblischer Vergil zu gelten mag ein Gedanke sein, der alle vier erwähnten spätlateinischen Bibeldichter zu ihrem Werk motivierte. Juvencus, Sedulius, Arator und Avitus sahen sich als Verkünder der christlichen Offenbarung und ersetzten so den heidnischen poeta vates. Wie sich die antiken Dichter Ruhm versprochen hatten, wenn sie die Taten der Götter besangen, gingen die christlichen Dichter davon aus, sich durch ihr Werk die besondere Gunst Gottes erarbeiten zu können – der antike Ruhmgedanke wurde ins Christliche transformiert.⁴³⁸ Die erwähnten vier römischen Autoren gehörten vom sechsten bis zum elften Jahrhundert nahezu konstant zum literarischen Kanon und wurden von spätantiken und frühmittelalterlichen Gelehrten als zuverlässige Exempel für
433 Vgl. Kartschoke (Anm. 430), S. 50 ff. 434 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 27. 435 Zu Arator vgl. BBKL Bd. I, S. 204. 436 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 27. 437 Vgl. Kartschoke (Anm. 430), S. 53. 438 Vgl. Wehrli (Anm. 31), S. 267.
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epische Dichtung, deren Ziel die Vermittlung christlicher Glaubensätze war, aufgeführt.⁴³⁹ Neben dem aus Juvencus, Sedulius, Arator und Avitus bestehenden römischen Autorenquartett ist mit Nonnos⁴⁴⁰ ein Grieche genannt, der sich in der Spätantike mit einem christlichen Epos hervortat. Der um 400 in Panopolis (Ägypten) lebende Nonnos verfasste in zwanzig Gesängen und 3650 Hexametern eine Paraphrase des Evangeliums nach Johannes. Bemerkenswert an Nonnos dichterischem Schaffen ist, dass er fast zeitgleich zu seiner biblischen Paraphrase ein Werk verfasste, das sich innerhalb der griechischen Mythologie bewegte. In seinem Großepos Dionysiaka beschreibt Nonnos die Reise des Gottes Dionysos nach Indien und den siegreichen Kampf gegen König Deriades. Nonnos orientierte sich dabei an Homers Ilias und Odyssee, er bemühte sich um eine Verflechtung der beiden Vorgängerwerke, wie auch aus der Zahl der Gesänge respektive Bücher hervorgeht (die Dionysiaka umfasst achtundvierzig Bücher, d. h. ebenso viele wie die Ilias und die Odyssee zusammen).⁴⁴¹ Aus dieser parallelen Bearbeitung zweier so unterschiedlicher Vorlagen – Bibel und Mythologie – ist abzuleiten, dass Nonnos das Christentum nicht als eine dem hellenistischen Heidentum entgegen gesetzte Religion betrachtete, sondern beides unter der Annahme eines höchsten, einzigen Göttlichen zu verbinden versuchte. Nonnos war sich keiner inhaltlichen Konkurrenz mit den heidnischen Dichtern bewusst, er musste sich nicht von ihnen abgrenzen.⁴⁴² Da sich Nonnos in seiner Dionysiaka nicht mit den abwechselnd als Vorbild dienenden Klassikern Homer und Vergil messen konnte, geriet sein paganes Epos in Vergessenheit.⁴⁴³ Anders verhält es sich mit seiner Johannes-Paraphrase. Diese wurde von Ulrich Bollinger in fünfjähriger, 1597 fertiggestellter Arbeit ins Lateinische übersetzt. Bollingers eigenes Bibelepos, das 1597 erschienene Moseis, verstand er als Fortsetzung dieser Übersetzung, wie er in seinem Proömium zum Ausdruck bringt.⁴⁴⁴ Auch wenn die Epen von Juvencus, Sedulius, Avitus und Arator wie dasjenige von Nonnos in der Neuzeit kaum mehr Beachtung fanden, gehörten sie im Mittelalter zur kanonisierten Pflichtlektüre.⁴⁴⁵ Die christlichen Epen der spätantiken
439 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 28. 440 Zu Nonnos vgl. BBKL Bd. VI, S. 1008–1010. 441 Vgl. Der neue Pauly, Bd. 8, S. 996. 442 Vgl. ebd., S. 997 f. 443 Vgl. Kindlers neues Literaturlexikon. Hg. von Walter Jens. Bd. 12. München 1991, S. 496. 444 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 345. 445 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Aufl. Bern 1978, S. 59.
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Dichter wurden in Bezug auf ihren sakralen Inhalt analysiert, die Bibel sollte mit Hilfe der christlichen Epik einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden und in ihrer dichterischen Ausdeutung besser verständlich und einprägsamer sein. Die sich herausbildende spezifische christliche Literaturgeschichtsschreibung war ein weiterer Faktor, der die Kanonisierung der vier genannten Autoren begünstigte.⁴⁴⁶ Zudem ergab sich im Rahmen der mittelalterlichen rhetorischen Schultradition eine neue Form der Beschäftigung mit der Bibel, in der es darum ging, Gotteslob als rhetorische Übung in verschiedenen literarischen Formen auszudrücken.⁴⁴⁷ Die spätantiken griechischen Epen wurden unter historischen, metrischen, rhetorischen, grammatischen und exegetischen Aspekten erläutert und fanden Einlass in Unterrichtswerke, die diese Themen behandelten.⁴⁴⁸ Hieronymus (um 347–419)⁴⁴⁹ zeichnete sich dafür verantwortlich, dass die Bibel nicht nur rhetorischen Kriterien gemäß umgeformt, sondern selbst auf rhetorische Aspekte hin untersucht wurde. So versuchte er, die antike Rhetorik und Poetik auf die Bibel zu übertragen und dadurch deren Wert als vollendete, den klassischen Regeln gerecht werdende Dichtung zu belegen. Er verglich die Psalmen Davids mit Pindar, Horaz und Catull und kam zum Schluss, dass sie gleichwertig sind.⁴⁵⁰ Die Konkurrenz zwischen Christentum und Hellenismus löste sich vorübergehend auf, Hieronymus wurde als christlicher Humanist und Wegbereiter der späteren westeuropäischen Rückwendung zur griechischen Antike bezeichnet. Mit dem anonym erschienenen Bibelepos Heliand (zwischen 822 und 840) war im Frühmittelalter der Grundstein für eine sich ausbildende volkssprachliche Bibelepik gelegt. Diese fand ihre Motivation vor allem darin, dem großen Teil der Bevölkerung, der entweder des Lesens und Schreibens unkundig war oder aber große Mühe in der Rezension lateinischer Texte bekundete, einen Schritt näherzukommen in der Vermittlung des biblischen Inhalts.⁴⁵¹ Der altsächsische Heliand knüpft mit seinen nicht mehr in Hexametern, sondern in Stabreimen gedichteten Versen an die frühe germanische Schrifttradition an, wurden doch in der heidnischen Zeit nicht nur Heldengedichte, sondern auch Texte mantischen oder rechtlichen Inhalts in der Rhythmik des Stabreims geschrieben. Inhaltlich erzählt der Heliand umfangreich Leben und Wirken von Jesus Christus nach den
446 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 29. 447 Vgl. Wehrli (Anm. 31), S. 269. 448 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 34. 449 Zu Hieronymus vgl. BBKL Bd. II, 1990, S. 818–821. 450 Vgl. Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation. Bonn 1972, S. 28. 451 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 95.
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vier Evangelien. Die eigentliche Paraphrase wird lediglich von einem exegetischen Exkurs unterbrochen.⁴⁵² Kennzeichnend für die Hinwendung zum Volk waren nicht nur die Sprache und die Reimform, sondern auch die Bemühungen, die dargestellten Figuren und Ereignisse in die Vorstellungswelt der Sachsen hineinzuprojizieren. So weist der im Heliand beschriebene Christus zuweilen Züge eines germanischen Helden auf, was sich unter anderem darin zeigt, dass Jesus nicht auf einem Esel, sondern in einem triumphalen Königszug nach Jerusalem einzieht, oder aber seinen Jüngern als an einen germanischen Truppenführer erinnernder Vorgesetzter entgegentritt.⁴⁵³ Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wurde der Heliand kaum mehr gelesen, erst im achtzehnten Jahrhundert entflammte im Zuge der Begeisterung für volkssprachliche Dichtung das erneute Interesse am altsächsischen Epos. Auch Klopstock setzte sich mit dem Heliand auseinander, bemerkenswert ist, dass er die Dichtung nicht nur kannte, sondern als bedeutsamstes Epos auszeichnete, das in der Zeit zwischen dem Frühmittelalter und der Reformation entstanden war. Klopstocks Wertschätzung ging so weit, dass er sich um eine Edition bemühte, in der er sowohl die ursprüngliche sächsische Sprache wie eine Übersetzung anbringen wollte, wie es aus verschiedenen Briefen an Lessing, Michael Denis (1728–1800) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) aus dem Jahr 1768/69 hervorgeht. Da es Klopstock aber nicht möglich war, abgesehen von den verschiedenen nur fragmentarischen Heliand-Überlieferungen in den Besitz des gesamten Werks zu gelangen, musste er schließlich von seinem Vorhaben abkommen.⁴⁵⁴ Eine weitere bedeutsame volksprachliche Dichtung stammt vom Benediktinermönch Otfried von Weißenburg (um 790–875).⁴⁵⁵ Otfrieds Evangelienbuch ist von exegetischen Absichten geleitet, er unterbricht die an die biblische Vorlage angelehnte Handlung immer wieder mit Einschüben, in denen moralische Aspekte betont oder mystische und geistliche Auslegungen gegeben werden, so dass sich das umfangreiche Werk aus epischen, exegetischen und hymnischen Teilen zusammensetzt.⁴⁵⁶ Die Rezeption und Überlieferungsgeschichte des Evangelienbuchs ist besser dokumentiert als diejenige des Heliands. Bereits in der Literaturgeschichtsschreibung des Johannes Trithemius (1462–1516) taucht Otfrieds Name und Werk auf, Johannes stellt das Evangelienbuch neben die kanonischen
452 Vgl. Kartschoke (Anm. 430), S. 27. 453 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 96. 454 Vgl. ebd., S. 99 f. 455 Zu Otfried von Weißenburg vgl. BBKL Bd. VI, S. 1334–1335. 456 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 97 sowie Kartschoke (Anm. 430), S. 28.
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Werke der spätantiken Autoren Juvencus, Sedulius, Arator und Avitus.⁴⁵⁷ 1571 wurde das Evangelienbuch von Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) ediert. Wie beim Heliand gibt es auch beim Evangelienbuch Bezüge zu Klopstock. Allerdings war der Autor des Messias nicht primär von dessen literarischem Wert begeistert, sondern benutzte die 1727 erschienene althochdeutsch-lateinische Edition von Johannes Schilder als sprachliches Lehrbuch, um sich Althochdeutsch anzueignen.⁴⁵⁸ Da auch die italienische Epentradition von Klopstock und seinen Zeitgenossen rezensiert wurde, soll ein kurzer Blick auf ihre volkssprachlichen und neulateinischen Dichtungen geworfen werden. Mit Jacopo Sannazaro (1457/58–1530) und Marco Girolamo Vida (um 1489–1566) sind zwei Dichter genannt, deren Epen bis ins achtzehnte Jahrhundert von Bedeutung waren. Sannazaros Bibelepos De Partu Virginis (1526) lehnt sich stilistisch eng an Vergil an und erzählt die Verkündigung und Geburt von Jesus Christus.⁴⁵⁹ Marco Girolamo Vida verfasste ein sechs Gesänge umfassendes Bibelepos mit dem Titel Christias, das 1535 zum ersten Mal gedruckt und bis ins achtzehnte Jahrhundert als christliche Aeneis rezensiert und auch von Klopstock gelesen wurde.⁴⁶⁰ Vida schildert die Passionsgeschichte, beginnend bei Jesu Einzug in Jerusalem. Kennzeichnend für sein Epos sind die vielen Rückblicke, in denen unter anderem die Kindheit Jesu, aber auch die Schöpfung und der Sündenfall beschrieben sind.⁴⁶¹ Im italienischen Humanismus kam mit Torquato Tasso (1544–1595) ein Dichter zu Wort, der ein christliches Epos verfasst hat, das nicht einen biblischen, sondern einen christlichen Helden besingt. Dies und die Tatsache, dass Tassos Epen in der italienischen Volkssprache gedichtet sind, führten zu einer Zäsur in Bezug auf vorangehende Epen. Tasso nahm sich für seine Dichtung die griechische Antike respektive Homer zum Vorbild. Seine Absicht war keine geringere, als eine christliche Ilias, gefolgt von einer christlichen Odyssee, zu verfassen.⁴⁶² Die christliche Ilias verwirklichte Tasso mit seinem Kreuzzugsepos La Gerusalemme liberata (1581), das zu einem der beliebtesten Volksepen seiner Zeit gehörte. Im Gegensatz zu den vorangegangenen christlichen Epen war Tassos Werk nicht mehr unmittelbar von der Bibel als Vorlage beeinflusst, sondern von aktuellen Ereig-
457 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 113. 458 Vgl. ebd., S. 115. 459 Vgl. Kartschoke (Anm. 430), S. 36. 460 Vgl. Czapla (Anm. 30), S. 165 461 Vgl. Kartschoke (Anm. 430), S. 36. 462 Vgl. Ulrich Leo: Ritterepos – Gottesepos. Torquato Tassos Weg als Dichter. Köln/Graz 1958, S. 41.
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nissen inspiriert. Die von den Türken aufgehaltene Ausbreitung des Christentums im Orient und der daraus resultierende Fall der Vorherrschaft Venedigs regten ihn zu seinem Kreuzzug-Epos an. Um nicht nur inhaltlich, sondern auch formal zu überzeugen, setzte sich Tasso intensiv mit der aristotelischen Poetik auseinander. Die Schwierigkeit, die sich dabei ergab, resultierte aus der vom höfischen Publikum gewünschten und erwarteten Vielschichtigkeit und Abwechslung in der Handlung, die sich nicht bedingungslos in den von Aristoteles geforderten epischen Regelkanon einpassen ließ. In seinen Discorsi dell’ arte poetica schreibt Tasso, dass die Herausforderung des Dichters nicht darin besteht, Abwechslung und Vielfalt aus unterschiedlichen Parallelhandlungen zu generieren, sondern dass es viel mehr darauf ankommt, die unterschiedlichsten Ereignisse in einen einzigen großen Handlungsstrang einzufügen. Tasso war dieser Herausforderung gewachsen. In seinem Epos La Gerusalemme liberata gibt es zwar eine erhebliche stoffliche Fülle, die verschiedenen Ereignisse sind aber so geordnet, dass sie immer wieder auf die eigentliche Haupthandlung verweisen. Diese bezieht sich auf mittelalterliche Quellen, Tasso erzählt die Geschichte von Gottfried von Bouillon (ca. 1060–1100), dem Anführer des ersten Kreuzzuges. Neben dem eigentlichen Helden führt Tasso mit dem nicht urkundlich genannten Ritter Tancredi eine zweite Heldenfigur ein. Der zweite, vierundzwanzig Gesänge umfassende Teil von Tassos Epos, La Gerusalemme conquistata (1593), schildert die Eroberung Jerusalems, Tasso bezieht sich dabei nicht mehr nur auf historische Quellen, sondern greift, insbesondere bei der Darstellung der von den Christen erlittenen Leiden, auf die Bibel zurück. La Gerusalemme conquistata konnte nicht an den Ruhm des Vorgängers anknüpfen, was Tasso aber nicht daran hinderte, sich Gedanken über den Fortgang zu machen. Getreu des ursprünglichen Plans, sein Großepos nach dem Vorbild von Homers Ilias und Odyssee zu dichten, wollte Tasso in einem dritten Gerusalemme-Epos die Rückkehr Tancredis besingen.⁴⁶³ Der alternde und immer kränker werdende Tasso kam aber von seinem Plan ab und begann stattdessen mit einem Lehrgedicht, das die Schöpfung der Welt zum Thema hatte. In Le sette giornate del mondo creato, das postum 1607 erschien, berichtet Tasso in reimlosen Elfsilbern über die sieben Tage, die Gott benötigte, um die Welt zu erschaffen.⁴⁶⁴ Abgesehen von einigen mittelalterlichen Legenden hielt sich Tasso dabei strikt an die biblische Quelle, was sein Gedicht weniger phantasievoll als die vorangehenden christlichen Epen machte. Nichtsdestotrotz fand das Gedicht Anklang, ein späterer Verehrer war John Milton.
463 Vgl. ebd. 464 Vgl. ebd., S. 52.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Milton hat sich denn in seinem Epos Paradise Lost (1667) wie Tasso in seinem Schöpfungsgedicht dem ersten, paradiesischen Zustand der Erde angenommen, diesen aber zu einer von der biblischen Vorlage abweichenden Erzählung über den Sündenfall und die Vertreibung aus Eden ausgebaut. Obschon Milton mit dieser Thematik einen christlichen Topos aufgriff, der mit den eben beschriebenen Vorgängerwerken zu vergleichen ist, leitete seine Dichtung eine Diskussion ein, der sich die bisherigen christlichen Epen entziehen konnten. Es ging dabei um die Rechtfertigung, eine biblische Handlung, die auf Grund ihrer göttlichen Offenbarung absolute Gültigkeit und Wahrheit besaß und als ‚Wort Gottes‘ unantastbar war, dichterisch umzugestalten und mit eigenen Zusätzen zu versehen. Milton nämlich bediente sich der Bibel nur in dem Sinne als Vorlage, dass er sich thematisch von ihr inspirieren ließ. Dabei ging es ihm aber nicht primär um die biblischen Zeugnisse, sondern um das in der Geschichte von Adam und Eva gefundene außergewöhnliche Ereignis, das er in einen unendlichen Kosmos transferierte und mit viel Imagination zu einer sowohl teuflische Machenschaften wie auch göttliche Gegenwehr beinhaltender Handlung ausbaute. Formal ließ sich Milton wie Tasso von einem antiken Vorgänger beeinflussen. Lehnte sich Tasso an Homer an, nahm sich Milton Vergil zum Vorbild. Wie die Aeneis besteht auch das Paradise Lost aus zwölf Büchern, wie Vergil setzt Milton mitten in der Handlung ein und erzählt die Vorgeschichte in einer langen Rückschau. Musenanrufe, häufige Szenenwechsel und detaillierte, mit antiker Metaphorik versehene Schlachtbeschreibungen sind weitere Reminiszenzen an Vergil.⁴⁶⁵ Eine so offensichtlich von der Bibel abweichende Darstellung religiöser Geschehnisse führte zu herber Kritik seitens der Kirche. Doch auch aus poetologischer Perspektive heraus war Miltons Werk nicht unumstritten. Es soll an dieser Stelle nicht auf die englische, französische und italienische Diskussion darüber eingegangen, sondern lediglich ein Blick auf den deutschsprachigen Raum geworfen werden. Die in Deutschland geführte Auseinandersetzung um Miltons Paradise Lost war maßgeblich für die Entwicklung des christlichen Epos im achtzehnten Jahrhundert verantwortlich.
465 Vgl. Wolfgang Benders Nachwort in: Johann Jakob Bodmer: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Uebersetzet und durchgehends mit Anmerckungen über die Kunst des Poeten begleitet von Johann Jacob Bodmer. Zürich 1742. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965, S. 8*.
Die Tradition des christlichen Epos von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert
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Im Jahr 1723 begann Bodmer mit der Übersetzung von Miltons Paradise Lost.⁴⁶⁶ Die kirchliche Zensurbehörde und ihre Einwände gegen Bodmers Übersetzung führten dazu, dass das Epos erst im Jahr 1732 mit dem Titel Johann Miltons Verlust des Paradieses. Ein Heldengedicht. In ungebundener Rede übersetzt gedruckt wurde. Doch nicht nur inhaltlich, auch poetologisch stieß Bodmers Übersetzung auf Widerstand und wurde zum Auslöser des deutsch-schweizerischen Literaturstreits.⁴⁶⁷ Bodmer ließ sich weder vom kirchlichen noch vom literaturkritischen Tadel beeindrucken und hielt weiter an der biblischen Themenwahl und deren phantasievollen Ausgestaltung fest. In der Geschichte von Noah fand er ein Ereignis, das sich seiner Meinung nach hervorragend für ein Epos eignete. Da er sich selbst noch nicht als Ependichter sah, verfasste er lediglich einen Grundriss eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah.⁴⁶⁸ Diesen veröffentlichte er 1742 in der Sammlung critischer, poetischer und anderer geistvollen Schriften, er sollte mitunter dazu dienen, im Dichterkrieg gegen Gottsched für das biblische Epos zu argumentieren.⁴⁶⁹ Die im Grundriss festgehaltenen Beobachtungen zur ‚Heiligen Poesie‘, mit der sich Bodmer im Zuge seiner Milton-Übersetzung und in Abgrenzung gegen Gottsched beschäftigte, gründete auf seinen poetologischen Überlegungen zum Wunderbaren und Neuen in der Dichtung und weist viele Aspekte auf, die später für Klopstocks und Lavaters Epen von Bedeutung waren.⁴⁷⁰ Neben der formalen Einkleidung, die grundlegend sei für eine adäquate Darbietung der Handlung, spiele die Imagination eine wesentliche Rolle. Sie müsse dazu eingesetzt werden, eine bereits bekannte Handlung dergestalt zu ergänzen, dass sie dem Leser ein affektives Nachvollziehen ermögliche und zu seinem Vergnügen beitrage.⁴⁷¹ In seiner Critische[n] Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie⁴⁷² setzt Bodmer die Grenzen, innerhalb derer sich diese dichterischen Ergänzungen
466 Vgl. Wolfgang Bender: Johann Jacob Bodmer und Johann Miltons Verlohrnes Paradies. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Bd. XI. Stuttgart 1967, S. 231. 467 Zum deutsch-schweizerischen Literaturstreit vgl. u. a. Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007 (Spectrum Literaturwissenschaft 11), Kap. 2.3 sowie Jürgen Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Kontroversen, alte und neue. Hg. von Albrecht Schöne. Bd. 2. Tübingen 1986. 468 Vgl. Martin (Anm. 29), S. 160. 469 Vgl. Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin 2010, S. 133. 470 Vgl. Kap. 4.3. 471 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Lütteken/ Mahlmann (Anm. 22), S. 232. 472 Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese; Der beygefüget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schön-
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bewegen dürfen: Legitim seien lediglich durch die Vernunft nachvollziehbare und der biblischen Vorlage nicht widersprechende Imaginationen.⁴⁷³ 1747 veröffentlichte Bodmer in den Critischen Briefen die Anmerkungen zu dem Grundriss eines epischen Gedichts von dem geretteten Noah, in denen er das Erhabene und Wunderbare betont, das sich in der Geschichte Noahs finde und sie deshalb als geeignete Vorlage für eine dichterische Umsetzung legitimiere.⁴⁷⁴ Erst als Bodmer im Jahr 1747 Auszüge aus Klopstocks Messias zu lesen bekam und davon motivisch, stilistisch und formal angeregt wurde, fasste er den Entschluss, seinen Grundriss umzusetzen.⁴⁷⁵ Er sei begeistert gewesen von Klopstocks Umgang mit dem Hexameter und fasziniert von den poetischen Ausschmückungen in den ersten drei Gesängen des Messias, worauf er sich entschlossen habe, seinen Plan für das Noah-Epos auszuarbeiten.⁴⁷⁶ Der erstmals im Jahr 1752 vollständig erscheinende, später mehrmals überarbeitete Noah⁴⁷⁷ wurde denn auch zum Hauptwerk Bodmers als christlicher Ependichter. Daneben verfasste er weitere kürzere Epen, in denen er Episoden aus dem Alten Testament zur Vorlage nahm.⁴⁷⁸ In Zusammenhang mit Bodmer und seiner Dichtung ist Der gepryfte Abraham (1753) von Christoph Martin Wieland (1733–1813) zu nennen. Beeindruckt von Bodmers Noah, aber auch fasziniert von Klopstocks Messias, verfasste Wieland eine umfangreiche, ihn über ein Jahr lang in Anspruch nehmende Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, die er 1753 vollendete.⁴⁷⁹ Das im selben Jahr innerhalb zweier Monate geschriebene Epos Der gepryfte Abraham lässt sich als Verwirklichung der in seiner Abhandlung gewonnenen poetologischen Ansichten über Bibelepik lesen, ist aber vor allem unter dem Einfluss Bodmers, in dessen Haus Wieland während der Verfassungszeit zu Gast war, ent-
heiten in demselben Gedichte. Zürich 1740. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Hg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle. Stuttgart 1966. 473 Vgl. Bodmer: Cristische Abhandlung von dem Wunderbaren (Anm. 472), 1. Abschnitt, S. 4–29. 474 Vgl. Reiling (Anm. 469), S. 135. 475 Vgl. Martin (Anm. 29), S. 161. 476 Vgl. Reiling (Anm. 469), S. 136. 477 Weitere überarbeitete Editionen erschienen 1765, 1772 und 1781, sie wurden unter dem Titel ‚Noachide‘ veröffentlicht. Eine ausführliche Genese des ‚Noahs‘ gibt Mahlmann-Bauer (Anm. 471), S. 231–294. 478 Es handelt sich dabei um ‚Jacob und Joseph‘ (1751), ‚Jacob und Rachel‘ (1752), ‚Joseph und Zulika‘ (1753), ‚Dina und Sichem‘ (1753), ‚Die Syndflut‘ (1753). Zu ‚Jacob und Jospeh‘, das fast zeitgleich mit der Noachide entstanden ist und, insbesondere was die Charaktere der einzelnen Figuren anbelangt, viele Parallelen aufweist, vgl. Reiling (Anm. 469), S. 193–201, insbesondere S. 196 f. 479 Zu Wielands ‚Abhandlung‘, die eine detaillierte Rezension von Bodmers ‚Noah‘ im Hinblick auf die poetologische Diskussion um das Erhabene und Wunderbare enthält, vgl. Martin (Anm. 29), S. 165–184.
Klopstocks Reflexionen zur Gattung des Epos
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standen und gewissermaßen als Beitrag zu Bodmers eigener Patriarchadendichtung zu betrachten – es bleibt denn auch das einzige Werk dieser Art von Wieland und hat wenig Nachhall erzeugt.⁴⁸⁰ Wie Wieland, der sich intensiv mit der Poetik und dem epischen Werk Bodmers auseinandergesetzt hat und zu diesem Zweck von 1752 bis 1754 im Haus des Zürcher Mentors weilte, hat sich auch Klopstock von Bodmers Poetologie beeinflussen lassen. Obschon Klopstocks Aufenthalt bei Bodmer in den Jahren 1750/51 weniger befruchtend für beide Seiten wirkte als derjenige Wielands und als enttäuschend empfunden wurde,⁴⁸¹ hat sich Klopstock bei der Entstehung der ersten drei Gesängen sowohl von Bodmers und Breitingers poetologischen Werken wie auch von Bodmers Milton-Übersetzung inspirieren lassen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
4.2 Klopstocks Reflexionen zur Gattung des Epos Klopstock verließ die Landesschule Pforta⁴⁸² 1745 nach vollendeter sechsjähriger Schulzeit. Zum Abschluss hielt er, wie es für die Abgänger üblich war, eine auf lateinisch gehaltene Rede, in der er die erworbenen sprachlichen, stilistischen und rhetorischen Kenntnisse unter Beweis stellen sollte.⁴⁸³ Die als Übungsreden bezeichneten declamationes galten in der Antike als höchste Stufe der an Rhetorikschulen gelehrten Ausbildung und wurden später im Humanismus wieder aufgenommen.⁴⁸⁴ Natürlich war Klopstock bestens vertraut mit der klassischen
480 Vgl. ebd., S. 162 f. 481 Vgl. dazu Johann Kaspar Mörikofer: Klopstock in Zürich im Jahre 1750–51. Bern 1864. 482 Die Pforta war im zwölften Jahrhundert aus dem Zisterzienserkloster hervorgegangen. Der klösterliche Lebensstil wurde auch im Schulheim beibehalten. Die Lehre war streng nach klassich-humanistischen Vorgaben aufgebaut. Deutsche Literatur war kaum im Lehrplan zu finden, das Lateinische war die vorherrschende Sprache (vgl. Helmut Pape: Der halbierte Dichter? ‚Hohe Poesie‘ und profane Welt: Wandlungen einer literarischen Konzeption bei Friedrich Gottlieb Klopstock. Frankfurt/M. 2010, S. 26 f.). 483 Klopstocks Portenser Abschiedsrede ‚Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores, Recenset Friederic. Gottlieb. Klopstock‘ wurde erstmals 1780 bei F. C. Cramer (C. F. Cramer: Klopstock. Er; und über ihn. Bd. I: 1724–1747. Hamburg 1780) in Lateinisch und Deutsch gedruckt. Aus Cramers Übersetzung wird im Folgenden zitiert. Auf die Probleme dieser Übersetzung, die oft komplexen rhetorischen Strukturen vom lateinischen Original im Deutschen adäquat wiederzugeben, weist Cramer selbst hin. Diese Probleme spielen aber in der folgenden Analyse keine wesentliche Rolle, da es um inhaltliche und nicht um stilistische Aspekte geht. Cramers Rechtschreibung wurde beibehalten. 484 Vgl. Der Neue Pauly, Bd. 3, S. 350 ff.
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Vorgabe der declamatio, die als Übungsrede galt und dementsprechend mehr die stilistische Formulierung im Fokus hatte als die thematische Auswahl und die inhaltliche Darstellung. Klopstock ging es aber vor allem um den Inhalt. Diesen gestaltete er seinen eigenen Ideen gemäß, in dem er vom üblichen Schema der durchgängigen Lobrede abwich und die von ihm erörterten Aspekte einer kritischen Analyse unterzog. Auch Klopstocks zuweilen sehr emotional wirkender Stil und der in eine Appellation an die deutschen Autoren mündende Schluss weichen von der antiken Vorgabe ab, die eine argumentative Struktur vorsieht.⁴⁸⁵ Klopstock beginnt seine Rede mit einer ausführlichen Einführung, in der er die Vorzüge der Dichtkunst vor allen anderen Künsten darlegt. Indem er die Dichtkunst als „vornehmste und erste Nachahmerin der Natur“⁴⁸⁶ bezeichnet, bewertet er nicht nur das Dichten, sondern alle anderen Formen der Kunst nach der poetologischen Regel der Naturnachahmung. Neben dem in der aristotelischen Poetik maßgebenden Begriff der ‚Mimesis‘ schimmert hier auch Gottscheds Poetologie durch, die im Literaturunterricht der Pforta gelehrt wurde.⁴⁸⁷ Klopstock hatte sich aber nicht nur mit der pflichtgemäßen, von der Schule erlaubten Lektüre beschäftigt. So studierte er bereits während seiner Portenser Zeit die Poetik Bodmers und Breitingers und kannte deren poetologisches Konzept zur Erweiterung der reinen Naturnachahmung. In ihrer Poetik beschreiben die Schweizer, wie die Poesie mit Hilfe der Einbildungskraft nicht mehr lediglich die reale, sondern auch eine imaginierte Welt nachbilden kann, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird.⁴⁸⁸ Die Besonderheit der Dichtkunst aber, so Klopstock weiter in seiner Rede, die zugleich ihre Vormachtstellung belegt und zu ihrer Legitimation beiträgt, ist die Quelle ihrer Inspiration; Klopstocks Meinung nach hat Gott die Gabe des Dichtens dazu auserkoren, als Medium zur Verkündung seiner selbst zu dienen, so dass er sie, mit besonderem Glanz versehen, den ersten Berichterstattern seiner Religion in den Mund legte: Denn sie [die Poesie] besteigt nicht aus eigner Kühnheit oder Verwegenheit diesen bewundernswürdigen Gipfel des Ruhms, man sieht sie nicht bloß durch die Verehrung der Menschen auf diese Höhe gestelt, sondern Gott selbst hat sie so geehrt, dass er sie mit diesem herlichen und göttlichen Lichte hat umgeben wollen.⁴⁸⁹
485 Vgl. Helmut Pape: Klopstock: Die ‚Sprache des Herzens‘ neu entdeckt: Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750. Frankfurt/M. 1998, S. 69. 486 Cramer (Anm. 483), S. 56. 487 Vgl. Pape: Der halbierte Dichter (Anm. 482), S. 28, Anm. 35. 488 Vgl. Kap. 4.3. 489 Cramer (Anm. 483), S. 56.
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Für Klopstock enthält die Bibel göttliche Wahrheit, die in ein poetisches Kleid gepackt ist. Ohne auf einzelne sprachliche oder stilistische Aspekte einzugehen oder die besonderen Merkmale zu nennen, die ihn zu seiner Überzeugung geführt haben, zeichnet er die biblischen Bücher als erhabene göttliche Dichtung aus: Das wisst ihr selber schon längst, meine Zuhörer, die ihr das himlische Buch der Gottheit, nicht allein als die ewige Quelle unsers Heils betrachtet, sondern es auch als das volkommenste Muster des erhabnen und wahrhaftig göttlichen Ausdrucks bewundert, und vor allem, in den dichterischen Theilen desselben, die hohe Sprache und die Pracht, die sich mit heiliger Kühnheit bis zu Gott selbst emporschwingt, bemerken zu müssen glaubt.⁴⁹⁰
Klopstock scheint davon auszugehen, dass die Verfasser der Bibel ihr Werk mit Hilfe göttlicher Inspiration geschrieben haben. Mit dem ‚wahrhaftig göttlichen Ausdruck‘, den er in der Bibel findet, ist aber nicht die Verbalinspiration gemeint.⁴⁹¹ Wie seine Portenser Abschiedsrede und seine später folgenden poetologischen und theologischen Abhandlungen zeigen, betrachtete Klopstock die Bibel als zwar göttlich inspiriertes, aber von menschlicher Hand festgehaltenes Zeugnis der Offenbarungen Gottes. Die Bibel sei Dichtung, Dichtkunst somit eine Gabe Gottes.⁴⁹² Um die göttlichen Wahrheiten den Menschen näher zu bringen, hat Gott sie durch von ihm Erwählte in poetischer Sprache aufschreiben lassen, so Klopstocks Erläuterung.⁴⁹³ Dieses Argument belege, wie wichtig Poesie sei, um religiöse Wahrheiten zu verbreiten. Die so postulierte Abhängigkeit der Religion von der Poesie wird Klopstock später als gewichtiges Argument ins Feld führen, um seine dichterische Umformung religiöser Inhalte zu legitimieren.⁴⁹⁴ Die Bücher vom ersten biblischen Autor Moses würden die besondere dichterische Sprache belegen, so Klopstocks weitere Ausführungen zu der Poesie der Bibel. Wie nachhaltig das Werk von Moses wirke, zeige die Verehrung, die es durch alle Zeiten hindurch erfahren habe und noch in der Gegenwart erfahre. Die Unvergänglichkeit eines Autors und seines Werks ist für Klopstock ein wichtiges Kriterium, um Dichtung zu bemessen, wie auch später bei seinen Erläuterungen über verschiedene Epiker ersichtlich wird. Deshalb ist es Klopstock wichtig zu erwähnen, dass Moses vor allem auch darum ein großer Dichter sei, weil dessen Ruhm über die irdische Zeit hinausgehe und auch im Jenseits noch erklingen werde, wie aus der Offenbarung des Johannes ersichtlich sei:
490 Ebd., S. 57. 491 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 154. 492 Vgl. Pape: Sprache des Herzens (Anm. 485), S. 134. 493 Vgl. Cramer (Anm. 483), S. 57. 494 Vgl. Kap. 4.4.
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Aber auch jene Welt verehrte Mosen als Dichter. Denn es war der Himmel und seine glücklichen Vorhöfe, wo Johannes, dieser sehende Zeuge der wundervolsten Offenbarungen, beym Cristalmeere das neue Lied Mosis hörte.⁴⁹⁵
Klopstock spielt hier auf Apk. 15,2–3 an. Johannes sieht in seiner Vision, wie die Überwinder, an einem gläsernen Meer im Himmel versammelt, zu Ehren Gottes das Lied von Moses (5 Mos 32,1–43) singen. Die ‚Dichtung‘ von Moses ist also auch im Jenseits noch von Bedeutung, so Klopstocks Interpretation. In der Reihe der nach Moses folgenden, ihn in ihrer poetischen Sprache in nichts nachstehenden göttlichen Autoren stellt Klopstock Hiob, David und Salomon vor. Bereits Hieronymus hatte die Bücher Davids mit den Oden Pindars, Horaz’ und Catulls verglichen und, indem er die poetologischen Regeln der Antike auf die Bibel anzuwenden versuchte, ihnen einen hohen poetischen Stellenwert beigemessen.⁴⁹⁶ Hieronymus ebnete dadurch nicht nur den Weg, biblische Texte grammatisch-rhetorisch und später auch philologisch zu untersuchen, sondern ermöglichte zugleich die fruchtbare Verbindung von antiker Bildung und christlicher Theologie,⁴⁹⁷ die es ermöglichte, die Poesie mit Hilfe der Bibel als erhabene Kunst auszuzeichnen. Die weiteren „mit dichterischem Schmucke bekleidet[en]“⁴⁹⁸ Propheten will Klopstock nicht mehr namentlich nennen, um schneller zu dem größten der göttlichen Autoren zu kommen. Diesen sieht er in Jesus Christus. Jesus habe sich der poetischen Sprache bedient, um seine Botschaften zu verkünden, so Klopstock, auf die von den Evangelisten aufgezeichneten Reden und Gleichnisse rekurrierend. Mit dieser Aussage zeichnet Klopstock Jesus nicht nur als Dichter aus, sondern weist nochmals nachhaltig auf den Wert der Poesie hin. Wie er es bereits mit Moses und den nach ihm folgenden biblischen Autoren aufzeigen konnte, ist die Dichtung am besten dazu geeignet, den Menschen mit den göttlichen Wahrheiten vertraut zu machen: Der Erneuerer der ewigen Seligkeit, der Sohn Gottes selbst, hat sie [die Poesie] für so fähig geschätzt, das Volk in der himlischen Lehre zu unterrichten, dass er fast alle Vorschriften zum ewigen Leben, die von seinem Munde flossen, in weise Gleichnisse einhülte.⁴⁹⁹
495 Cramer (Anm. 483), S. 58. 496 Vgl. Gutzen (Anm. 450), S. 28. 497 Vgl. Joachim Dyck: Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation. Zur Genese und Funktion zweier Argumente in der Literaturtheorie des 17. Jahrhunderts. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt/M. 1974, S. 74. 498 Cramer (Anm. 483), S. 58. 499 Ebd., S. 60.
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Indem Klopstock immer wieder die Potenzialität der Poesie, göttliche Botschaften zu verkünden, betont, geht er indirekt auf die Kritik ein, die Bodmers Übersetzung von Miltons Paradise Lost ausgelöst hat. Kernpunkt war dabei die Frage, ob und wie religiöse Inhalte in dichterischen Werken umgeformt werden dürfen. Wie bereits angetönt, legitimiert Klopstock die poetische Umformung biblischer Texte dadurch, dass er die Bibel selbst als Dichtung betrachtet.⁵⁰⁰ Diese ersten von den biblischen Autoren verfasste Poesie nach neuen poetologischen Maßstäben umzuformen stellt in Klopstocks Augen keine Verfälschung der ursprünglichen göttlichen Offenbarung dar, sondern ist lediglich ein neueres, auf ein älteres aufbauendes literarisches Werk. Klopstock knüpft aber auch an die Dichtungsapologie des siebzehnten Jahrhunderts an, die um das Ansehen von dichterischem Schaffen bemüht war. Sigmund von Birken (1626–1681) argumentierte mit der Bibel, die er als Dichtung betrachtete, um die Poesie als Kunst zu rechtfertigen und anzuerkennen. Wenn die panegyrischen Gesänge von Moses und anderen alttestamentlichen Autoren als Dichtung betrachtet werden, so Birkens Argumentation, gehören sie zu den ältesten Künsten der Welt. Und wer das Alter einer Kunstform nicht gleichzeitig als deren gewichtigster Legitimationsgrund anerkenne, so Birkens Fazit, dürfe sich weder Kenner noch Kritiker von Kunst nennen. Birkens Argumentation diente aber nicht nur zur Rechtfertigung der Dichtung als Kunst und damit verbunden zur Legitimation des Dichterberufs, sie räumte gleichzeitig der christlichen Poesie eine Vormachtstellung der griechischen Dichtung gegenüber ein. Birken geht so weit zu behaupten, dass sich die antiken Dichter in ihren Gesängen nicht nur von der Bibel inspirieren ließen, sondern sie regelrecht kopiert haben. Als Beweis dafür führt er Orpheus an, dessen Lobgesänge auf die Götter Plagiate der biblischen Lobgesänge seien.⁵⁰¹ Birken benutzte das Argument der Bibel als ältestes poetisches Werk, um Dichtung zu legitimieren. Klopstock sah in der Tatsache, dass es sich auch bei den biblischen Autoren um Poeten handelt, die Erlaubnis, auch in neuerer Zeit dichterische Werke zu verfassen, in denen die göttliche Offenbarung dargestellt wird. Keine Rolle aber spielte in Klopstocks Rede vorerst die von Birken erwähnte und zugunsten der Bibel entschiedene Konkurrenz zwischen biblischer und antiker Dichtung, wie die nächste Passage der Portenser Abschiedsrede zeigt. Er wolle nun nämlich dazu übergehen, diejenigen nichtbiblischen Autoren zu würdigen, die sich durch ihr Werk unsterblich gemacht hätten. Es handle sich dabei um die ersten Ependichter, so Klopstocks Überleitung von der Poesie der Bibel zu der Tradition des Epos. Noch bevor er
500 Vgl. Wilhelm Grosse: Studien zu Klopstocks Poetik. München 1977, S. 82. 501 Vgl. Dyck (Anm. 497), S. 70.
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Homer als größten aller Epiker rühmt, geht er auf die Gattung des Epos ein. Klopstock nennt den Umfang, die Zahl der Menschen, die sich durch die vermittelte Handlung ansprechen lassen würde, und den Inhalt als Hauptkriterien zur Bestimmung der epischen Gattung: Daraus erhelt zuerst seine Grösse und sein Vorzug, dass es [das Epos] sich eine berühmte Handlung, die, wo nicht den ganzen Erdkreis, doch wenigstens, viele und die grössten seiner Einwohner angeht, zu besingen und mit schicklichen und bewundernswürdigen Erfindungen auszubilden erwählt.⁵⁰²
Um zu erläutern, dass sich die Gesamtheit des Epos aus verschiedenen Teilen zusammensetzt, die alle in sich selbst schön sind, die aber ihren besonderen Glanz nur dadurch erhalten, dass sie Teil eines großen Ganzen sind, vergleicht Klopstock das Epos mit der Schöpfung: Jeder ihrer Teil sei schön, ihre besondere Erhabenheit erhalte sie aber erst, wenn sie in ihrer Gesamtheit betrachtet werde. Genauso verhalte es sich mit dem Epos, darin nämlich seien die Bedeutung und die Schönheit zu finden, wie sie nur der Schöpfung in ihrer Gesamtheit zukommen würden.⁵⁰³ Mit diesem Vergleich setzt Klopstock den Ependichter mit Gott gleich; Letzterer vollbringe, indem er ein vollkommenes Ganzes verfasse, ein ähnliches Werk, wie Gott es mit der Schöpfung vollbracht habe. Der Autor eines Epos könne darum nicht nur menschlich sein und denken, sondern müsse sich, um die Gesamtheit seines Werks zu erfassen und adäquat zum Ausdruck bringen zu können, in himmlische Höhen emporheben. Den Verfasser eines Heldengedichts schätzt Klopstock denn auch ungleich höher ein als denjenigen, der in einer anderen Gattung dichtet: Darum dünkt mir, wenn auch einige es zu kühn halten möchten, die Vergleichung dennoch wahr zu sein, dass ich den, der ein Heldengedicht hervorbringt, wie einen himlischen Genius, andre Poeten aber, die kleinere Gedichte singen, für bloße Menschen achte. Denn dieser sieht, vom hohen Himmelsitze, mit einem Blicke auf die ganze Erde herab.⁵⁰⁴
Sehr geschickt spricht hier Klopstock wieder den göttlichen Aspekt von Dichtung an. Obschon er sich in seiner Rede eigentlich von der religiösen Dichtung abwendet und sich mit dem Epos einer in der heidnischen Antike entstandenen Gattung zuwendet, stellt er von vorneherein klar, dass das epische Dichten nicht ohne eine durch göttlichen Beistand oder göttliche Inspiration stattfindende Erhöhung
502 Cramer (Anm. 483), S. 61. 503 Vgl. ebd., S. 62. 504 Ebd.
Klopstocks Reflexionen zur Gattung des Epos
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geschehen kann. So hat er implizit bereits vorweggenommen, was er später explizit ausdrücken wird: dass diejenige Erhöhung, die zum besten Epos führt, nur durch den christlichen Gott passieren kann, so dass die christliche Epik unabstreitbar einen höheren Rang einnimmt als die pagane und der christliche Ependichter göttlich inspiriert ist. Vorerst aber handelt Klopstock in seiner Rede vom Ursprung der Ependichtung, der seiner Ansicht nach in der Antike zu finden ist. Als ersten großen Epiker nennt er Homer. Der griechische Autor habe das Heldengedicht nicht nur erfunden, sondern nach dem Vorbild und der Schönheit der Natur vollkommen gemacht.⁵⁰⁵ Wieder führt Klopstock die Naturnachahmung als Kriterium ein, das über die Qualität von Dichtung entscheidet. Als Homer in allen Aspekten ebenbürtiger Nachfolger nennt Klopstock Vergil, womit er die bedeutendsten Namen genannt habe, mit denen die griechische und römische Antike repräsentiert werde.⁵⁰⁶ Die angenommene Konkurrenzlosigkeit zwischen Antike und Christentum, die dadurch suggeriert wurde, dass Klopstock voller Anerkennung von den großen Epikern Homer und Vergil gesprochen hat, hebt er auf, indem er den zwar einzigen, aber gewichtigen Mangel der Werke besagter Autoren erläutert. Dieser bestehe darin, dass Homer und Vergil und mit ihnen alle Autoren der Antike sich in ihren Epen Inhalten widmeten, die der äußeren, formalen Erhabenheit des Epos nicht angemessen seien. Die Taten der heidnischen Götter zu besingen, so Klopstocks abwertendes Urteil, verschaffe lediglich irdischen, also begrenzten Ruhm. Wahre Unvergänglichkeit, die durch die formale Erhabenheit des Epos eigentlich erreicht werden könne, entstehe erst, wenn ein transzendenter Inhalt besungen werde. Und dieser findet sich, so Klopstocks Argumentation, nur in der christlichen Religion: Religion der Heiden verblendete euch [Homer und Vergil]; da ihr unserer, dieser anbetungswerthen Geheimnisse wäret würdig gewesen. Diese hättet ihr besingen, diese mit eurem hohen Genius, in solchen Liedern sollen feyern, die nicht mit ihr nur auf der Erde fortgedauert hätten, sondern auch von den Bewohnern des Himmels mit Beyfal wären empfangen worden.⁵⁰⁷
Mit dieser Aussage über den mangelhaften, weil heidnischen Inhalt der antiken Epen und über den Ruhm, der sich mit der Aufhebung dieses Mangels ergeben würde, nimmt Klopstock vorweg, was er sich für sein eigenes Heldengedicht erhofft, und auch in einem späteren Brief an Bodmer gibt Klopstock zu, bereits bei
505 Vgl. ebd., S. 64. 506 Vgl. ebd., S. 65. 507 Vgl. ebd., S. 66 f.
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der Lektüre von Bodmers Lehrgedicht Charakter der Teutschen Gedichte (1734) vom Streben nach ruhmvoller Anerkennung ergriffen worden zu sein: Wie oft habe ich das Bild des epischen Dichters, das Sie in ihrem kritischen Gedicht zeichneten, betrachtet und weinend bewundert wie Caesar das Bild Alexanders. Wie oft dann ergriff die wilde Angst das ausgelassene Herz, und es reckte sich die Begierde nach Ruhm.⁵⁰⁸
Durch die Einkleidung der christlichen Inhalte in die antike Form verspricht sich Klopstock unvergänglichen Ruhm, der sich über das Irdische ins Jenseits erstreckt. Der Unsterblichkeitsgedanke nicht nur des Werks, sondern des Verfassers selbst ist der eschatologische Nebenton, der in Klopstocks Ansicht zur epischen Poesie mitschwingt. Es habe in der Vergangenheit durchaus Autoren gegeben, die sich mit einem christlichen Inhalt befasst haben, so Klopstock weiter. Der erste unter ihnen sei Torquato Tasso – Klopstocks Meinung nach ein großer Epiker, der sich mit Homer und Vergil messen lassen könne. Indem Klopstock seinen Ruhm aber auf den „Erdkreis“⁵⁰⁹ beschränkt, tönt er an, dass es sich beim Werk Tassos noch nicht um einen Höhepunkt in der christlichen Epik handelt. Klopstock erläutert denn auch, woran es seiner Meinung nach in Tassos Dichtung mangelt. Inhaltlich würde Tasso zwar in allen Bereichen überzeugen, und mit den Handlungen rund um die heilige Stadt Jerusalem hätte Tasso sich eine erhabene Materie ausgesucht, die er mit viel Einbildungskraft und Genie schildere. Was Klopstock nicht gefällt, ist die Darstellung des Göttlichen, die ihm nicht affektiv genug ist: In der Wahl des Würdigen war er nicht zärtlich genug; bisweilen niedrig und schwach, öfter noch gross und erhaben, doch nie völlig göttlich: so dass er oft meine Bewunderung erregt, aber mir niemals Tränen eines edlen und würdigen Neides ausgeprest hat.⁵¹⁰
Trotz dieser Kritik schildert Klopstock ausführlich die Ehre, mit der Tasso in Rom bedacht wurde, und stellt seinen dichterischen Ruhm auf die Ebene Francesco Petrarcas (1304–1374), indem er erwähnt, dass Tasso mit derselben Ehrerbietung im römischen Capitol Einzug gehalten habe wie dieser. Einen weiteren italienischen Dichter, Marino, nennt Klopstock zwar, erklärt aber im selben Satz, dass er einer weiteren Erwähnung nicht würdig sei, da der von ihm besungene Adonis keinen Stoff zu einem Heldengedicht hergebe.⁵¹¹
508 Klopstock an Bodmer, 10. Aug. 1748. In: HKA Briefe I, S. 201. 509 Cramer (Anm. 483), S. 67. 510 Ebd., S. 68. 511 Vgl. ebd., S. 69.
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Giambattista Marino (1569–1625) hat 1623 ein Epos mit dem Titel L’ adone verfasst, in dem er die Liebesgeschichte von Adonis und Venus, die Marino in dem ihm eigenen, später als ‚Marinismus‘ in die Literaturgeschichte eingegangen Stil nacherzählt.⁵¹² Die heidnische Quelle hat wohl zu Klopstocks negativem Urteil geführt. Dass er ihn trotzdem erwähnt, ist auf Bodmer zurückzuführen, der in seinem Gedicht Charakter der Teutschen Gedichte einen kurzen Verweis auf Marino macht.⁵¹³ Für den nächsten Autor, den Klopstock in seiner Rede nennt, macht er nicht nur einen örtlichen, sondern auch einen zeitlichen Sprung. Von Italien wechselt er nach England und kommt zu John Milton, den er folgendermaßen einführt: Denn so weit die Offenbarung Gottes die Vernunft übertrift, eben so weit übertrift der, der über das gewöhnliche Loos der Menschen erhaben, die himlische Weisheit und Frömmigkeit besingt, den, der nur von der menschlichen Weisheit und Tugend erzählt.⁵¹⁴
Den Stoff, den Milton für sein Epos Paradise Lost ausgewählt habe, vermöge in seiner Göttlichkeit zu rühren und zu ergreifen, auch zeige sich Milton wie Homer und Vergil besonders geschickt darin, die Natur nachzuahmen; Dieser Naturnachahmung stelle Milton die Anbetung der göttlichen Schönheit zur Seite, was sein Epos vollkommen mache und ihm nicht nur jahrhundertlanger, sich steigernder Ruhm verschaffe, sondern seinem Geist Aufnahme in den Himmel ermögliche.⁵¹⁵ Klopstock nimmt, indem er das biblische Personal, das Milton in seinem Epos besingt, als erhaben und in dieser Erhabenheit über die Darstellung jeglicher menschlicher Helden hinausgehend beschreibt, Stellung für die Position Bodmers, der in der Debatte um die Übersetzung von Paradise Lost die dichterische Nacherzählung biblischer Tatsachen zu rechtfertigen hatte. Unverkennbar ist auch hier Klopstocks Anlehnung an Bodmers und Breitingers Literaturtheorie. Breitinger thematisiert in seiner Critische[n] Dichtkunst (1740)⁵¹⁶ die Bibel als stoffliche Vorlage im Zusammenhang mit dem Neuen und Wunderbaren.⁵¹⁷ Wie Klopstock erkennt er, so erläutert er anhand Miltons Paradise Lost, die biblische
512 Vgl. Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 11, S. 170 f. 513 Vgl. Johann Jakob Bodmer: Charakter der Teutschen Gedichte. In: Johann Jakob Bodmer/ Johann Jakob Breitinger: Schriften zur Literatur. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 59. 514 Cramer (Anm. 483), S. 71. 515 Vgl. ebd., S. 73–75. 516 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Mit einer Vorrede eingeführet von Johann Jacob Bodmer. Zürich 1740. 517 Vgl. ebd., 5. Abschnitt, S. 106–127.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Stoffwahl als Garanten für eine zeitlose, ruhmvolle Dichtung. Während Klopstock aber die unvergängliche Ehre des christlichen Ependichters auf die Rührung, d. h. die emotionale Ergriffenheit, die durch den dargestellten Stoff bewirkt wird, und die Schönheit, mit der Milton die göttlichen Begebenheiten schildert, zurückführt, geht Breitinger auf einen weiteren Aspekt ein. Er betont die Breite des Publikums, das mit einem Heldengedicht angesprochen werden soll. Normalerweise würden die Epiker, indem sie einen nationalen Held besingen, ihr eigenes Volk ansprechen. Ein christliches Epos hingegen vermöge, nationenübergreifend zu faszinieren: Dass sich schwerlich eine Materie zu einem ausführlichen Gedichte, da nur blosse Menschen aufgeführet werden, wird finden lassen, welches in Vorstellung der Sitten den Beyfall nicht nur einer, sondern aller christlicher Nationen wird erhalten können, und das nicht mit dem Lauffe der Zeit in diesem Puncte einen Abgang an Schönheit zu befahren habe: Da hingegen die Sitten und Gebräuche derer Wesen, die Milton aufgeführet hat, dießfalls außer Gefahr sind, weil sie nicht von mehr als einer Art seyn können, hiemit unveränderlich sind, und sich in der göttlichen Offenbarung gründen, die ewig fest bleibet, und daran alle vernünftigen Christen immerfort eine wahre Lust haben.⁵¹⁸
Klopstock schließt seine Erläuterungen zu Paradise Lost mit einem Lob auf Milton. Bemerkenswert daran ist nicht die dem englischen Dichter verliehene Unsterblichkeit – diese hatte Klopstock bereits als Belohnung für ehrwürdige christliche Dichtung angesprochen und somit seiner Poetologie eschatologische Hoffnungen untergemischt. Was erstaunt, ist die von Klopstock zwar als Entschuldigung an Milton formulierte, trotzdem mit viel Selbstsicherheit und Überzeugung geäußerte Absicht, sich über den Erfolg des englischen Dichters hinwegsetzen zu wollen: Du aber, geheiligter Schatten des Miltons! in welchem Kreise des Himmels du dich jetzo freust, und, was in deinem Liedern der Ohren der Engel wert ist, diesen dir jetzo verwandteren Geistern vorsingst, vernim es, wenn ich etwas, deiner Würdiges gesagt habe, und zürne nicht über meine Kühnheit, die nicht allein dir zu folgen, sondern sich auch an einen noch größern und herlichern Stoff zu wagen gedenkt.⁵¹⁹
Hier wird erstmals, und gewissermaßen nur im Vorübergehen geäußert, die Absicht von Klopstocks Rede ersichtlich. Er stellt die Tradition des Epos und aus ihr hervorgehend diejenige der christlichen Epik dar, um sich selbst als zukünftigen Ependichter vorzustellen. Der Aufbau seiner Rede, aus der die Priorität
518 Ebd., S. 127. 519 Cramer (Anm. 483), S. 75.
Klopstocks Reflexionen zur Gattung des Epos
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christlicher Inhalte vor allen weltlichen hervorgeht, und die Absicht, Milton mit einem „noch größeren und herrlicheren Stoff“ überbieten zu wollen, zeigt, dass sein Plan eines Epos mit Christus als Helden bereits gefasst war. Ohne daraufhin näher auf seine eigenen Ambitionen einzugehen, leitet Klopstock in seiner Rede zu den französischen Epikern über, bei denen ihm vorerst nur schlechte einfallen. Neben Jean Chapelain (1595–1674), dessen Verse in seinen Ohren „zu roh“⁵²⁰ sind,⁵²¹ nennt Klopstock eine Reihe von weiteren Autoren, die nicht seinen Ansprüchen genügen,⁵²² um schließlich auf den in seinen Augen ersten großen französischen Dichter einzugehen. Fénelon sei es mit seinem Telemach gelungen, die Schmach der vorangehenden Autoren wettzumachen. François de Salignac de La Mothe-Fénelons (1651–1715) Roman Les aventures de Télémaque fils de l’Ulysse erschien 1695/96 und erzählt die Geschichte von Telemach, dem Sohn des Odysseus. Klopstock spricht dem Werk, ohne es genauer zu beschreiben, die Qualitäten eines vergilischen Epos zu, inhaltlich übertreffe es aber den antiken Vorgänger, da Fénélon wahrhaftige, vorbildliche Tugend und Moral darstelle.⁵²³ Für Klopstock handelt es sich bei Fénelons Werk eindeutig um ein Epos; seiner Meinung nach hatte sich Voltaire (1694–1778) zum einzigen französischen Ependichter machen wollen und darum Fénelons Télémaque als Roman bezeichnet.⁵²⁴ Fraglich ist, wieso Klopstock Fénelons Werk, in dem es nicht um einen christlichen Inhalt geht, in seine Reihe aufgenommen hat. Er dürfte wiederum von Bodmer beeinflusst gewesen sein, der in seinem Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte ausführlich auf Fénelons Télémaque eingeht.⁵²⁵ Klopstocks Urteil über Voltaire ist sehr kritisch. Voltaires Dichtung komme nicht über das Mittelmaß hinaus, er verfüge nicht über den nötigen Enthusiasmus und die nötige Phantasie, seine Sprache sei kalt und „schläfrig“⁵²⁶, so Klopstocks Kritik.⁵²⁷
520 Ebd., S. 77. 521 Chapelain verfasste das Epos ‚La pucelle d’Orléon‘, das in Paris für eine kurze Zeit erfolgreich war. 522 Klopstock nennt Cardinal Perrons, Skudery, Büssier, Skanderbeg, St. Aiman und Sorbiere (vgl. Cramer [Anm. 483], S. 78). Es handelt sich dabei wohl um Madeleine de Scudéry (1607–1701) und Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704), die anderen genannten Dichter konnten nicht identifiziert werden. 523 Vgl. Cramer (Anm. 483), S. 78. 524 Vgl. ebd., S. 80. 525 Vgl. Bodmer/Breitinger: Von dem Einfluss (Anm. 513), S. 72–74. 526 Cramer (483), S. 82. 527 Vgl. ebd., S. 80–82.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Mit Blakemore, Glover und Wilhelm von Haaren nennt Klopstock zwei englische und einen holländischen Autor, deren Epen er eine gewisse, jedoch in seinen Augen nicht sehr große Potentialität zum Erlangen von Ruhm zuspricht.⁵²⁸ Danach kommt Klopstock zum wichtigsten Punkt seiner Rede, der Ependichtung im deutschsprachigen Raum. Jedes europäische Volk, so verdeutlicht Klopstock, was er mit der Darstellung bekannter Autoren verschiedener nationaler Provenienz erläutern wollte, zeichnet sich durch bedeutende Epiker und deren Werke aus. Nur die deutschen Poeten würden sich zwar mit hervorragender Dichtung hervortun, hätten sich aber noch nicht mit einem der höchsten Gattung zugehörigen Werk profilieren können: „Denn ich rede vom Heldengedichte, diesem höchsten Werke der Dichtkunst. Das hat von unseren Poeten noch keiner geschaffen!“⁵²⁹ Klopstock wünscht sich für den Dichter, der den deutschen Ruhm herstellen werde, die dafür nötige göttliche Inspiration: Mögen ihn doch, mit der himlischen Muse, Tugend und Weisheit auf zärtlichen Armen wiegen! Möge das ganze Feld der Natur ihm sich eröfnen, und die ganze, Andren unzugängliche Größe der anbetungswürdigen Religion! Selbst die Reihe der künftigen Jahrhunderte bleibe ihm nicht gänzlich in Dunkel verhült.⁵³⁰
Das Profil, das Klopstock hier für den epischen Dichter zeichnet, enthält verschiedene Komponenten. Der Poet soll von einer himmlischen Muse inspiriert sein, gleichzeitig moralische Wahrheit, Tugend und Verstand in sein Werk einfließen lassen. Mit diesen Voraussetzungen sei er befähigt, über die natürliche Welt und die metaphysische Religion zu schreiben. Darüber hinaus wünscht sich Klopstock aber eine weitere Fähigkeit, nämlich diejenige der prophetischen Voraussicht. Er stellt somit den Dichter des religiösen Epos in die Tradition des poeta vates. Wie die von Gott beauftragten biblischen Dichter soll auch der zeitgenössische christliche Ependichter religiöse Wahrheit verkünden und dadurch zur Vermittlung zwischen Gott und den Menschen beitragen.⁵³¹ In Klopstocks Selbstverständnis als Dichter ist die prophetische Funktion bedingungslos miteinbezogen und liefert dadurch sowohl Basis wie auch Zielsetzung seines Lebens und Werks. Wie in früherer Zeit die Evangelisten es waren, ist auch der moderne Dichter verpflichtet und daher legitimiert, sich religiöser Inhalte anzunehmen und diese in seiner Vermittlerfunktion dem Rezipienten näherzubringen.⁵³²
528 Vgl. ebd., S. 85. 529 Ebd., S. 87. 530 Ebd., S. 89. 531 Vgl. Pape: Sprache des Herzens (Anm. 485), S. 135 f. 532 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 136.
Klopstocks Orientierung an der Poetologie Bodmers und Breitingers
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Kennzeichnend für Klopstocks gesamte Rede ist der meist latent, aber an einigen erwähnten Stellen doch explizit zum Ausdruck gebrachte Plan, sich selbst als Dichter eines Epos zu bewähren. Obschon er noch mit keinem poetischen Werk aufwarten konnte, fühlte er sich zum Dichter berufen und schien nicht daran zu zweifeln, dieser Berufung nachkommen zu können. Daraus ergibt sich seine auf Grund der noch nicht erfolgten Bewährung etwas überheblich wirkende Kritik, die er den deutschen Dichtern seiner Zeit zuteil werden lässt.⁵³³ Eine wichtige Grundlage, die Klopstock für die eigene Bewährung als Ependichter studierte, war die Poetik der Schweizer. Inwiefern er sie adaptierte und weiterentwickelte, soll im folgenden Kapitel erläutert werden.
4.3 Klopstocks Orientierung an der Poetologie Bodmers und Breitingers Wichtig für Klopstocks Vorstellungen über die Poesie ist die Literaturtheorie, die in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum insbesondere von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger initiiert und geprägt wurde. Von französischem und englischem Einfluss geleitet, entwickelten die Schweizer Bodmer und Breitinger eine neue Poetik, deren zentrale Begriffe die ‚Einbildungskraft‘ und das ‚Wunderbare‘ sind. Wie aus dem oft zitierten Brief Klopstocks an Bodmer hervorgeht, hat Klopstock sich bei der Arbeit am Messias von Milton inspirieren und von der Poetik der Schweizer leiten lassen.⁵³⁴ Im Folgenden sollen diejenigen Aspekte aus Bodmers und Breitingers Literaturtheorie dargestellt werden, die für Klopstocks Messias von Bedeutung waren. Da diese auf den Überlegungen zum Erhabenen aufbauen, wird zuerst der diesbezügliche begriffsgeschichtliche Hintergrund aufgezeigt, um anschließend den poetologischen Ansichten Bodmers und Breitingers in diesem Aspekt auf den Grund zu gehen.
533 Vgl. Pape: Sprache des Herzens (Anm. 485), S. 64. 534 Vgl. Klopstock an Bodmer, 10. Aug. 1748. In: HKA Briefe I, S. 13, deutsche Übersetzung S. 201.
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4.3.1 Das Erhabene als Ausgangspunkt für die Poetologie der Schweizer Als Ausgangspunkt der Diskussion über das Erhabene dient Nicolas Boileaus (1636–1711) Übertragung der aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammenden Schrift Peri hypsous des Pseudo-Longins.⁵³⁵ Bei Longin wird das Erhabene auf die Redekunst bezogen, er analysiert es als rhetorisches Stilmittel, das sich in seiner Zugehörigkeit zum genus sublime respektive genus grande auf die Verwendung von tropischen Wendungen, hyperbolischen Ausdrücken und emphatischen Figuren konzentriert.⁵³⁶ Boileau verfolgt in seiner Übertragung und Neuinterpretation der longinischen Schrift eine Entfremdung von der rein rhetorischen Tradition hin zu einer ästhetischen Betrachtung. Es geht nicht mehr primär um den für die gehobene Sprache ausformulierten Regelkanon oder die mannigfaltigen Ausdrucksmittel in adäquatem sprachlichem Stil, sondern um die inhaltliche Wirkung auf den Rezipienten. Boileau bezieht sich zwar auf Longin, setzt sich aber gleichzeitig über ihn hinweg, indem er die von Longin analysierten Merkmale des Erhabenen nicht mehr als sprachliche, sondern als wirkungsästhetische Komponenten untersucht.⁵³⁷ Die von Longin postulierte, durch den sprachlichen Ausdruck verwirklichte mitreißende Dichtung erweitert Boileau um den Aspekt des aufgewühlten Gemütszustandes. Wahre Erhabenheit besteht gemäß Boileau darin, leidenschaftliche Gemütsbewegung in ihrer höchsten Form von Erregung zu erzeugen. So wird die Affektivität zum Maßstab für vollkommene, erhabene Poesie.⁵³⁸ Auch Jean-Baptiste Du Bos (1670–1742) widmete sich in seinen poetologischen Untersuchungen der seelischen Bewegung, die durch Dichtung entsteht. Er betrachtete den Begriff des Erhabenen vollständig losgelöst von der Rhetorik
535 Nicolas Boileau-Despréaux: Traité du sublime, ou Du merveilleux, Traduit du Grec de Longin. 1674. In: Oeuvres complètes. Introduction par Antoine Adams. Texte etablis et annotée par Françoise Escal. Paris 1966. 536 Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung. 2., durchg. Aufl. Stuttgart/Weimar 2001, S. 86. Ausführlich zu ‚Peri Hypsous‘ vgl. Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011, S. 28–158. Zur Longin-Rezeption in der frühen Neuzeit vgl. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 21–41. 537 Vgl. Carsten Zelle: ‚Angenehmes Grauen‘: Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 77. 538 Vgl. Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hg. von Christine Pries. Weinheim 1989, S. 60.
Klopstocks Orientierung an der Poetologie Bodmers und Breitingers
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als eigene wirkungsästhetische Kategorie.⁵³⁹ Du Bos ging davon aus, dass die menschliche Seele von Natur aus ein Bedürfnis nach emotionaler Bewegtheit verspüre. Die Kunst und damit auch die Poesie müssten darum bemüht sein, dieses Bedürfnis zu stillen. Wie Boileau betrachtet Du Bos das Erhabene als am besten dazu geeignet, leidenschaftliche Gefühle zu bewirken, so dass es der Zweck der Kunst und insbesondere der Poesie sei, dieses Erhabene darzustellen.⁵⁴⁰ Auch im englischsprachigen Raum wurde das Erhabene diskutiert. Joseph Addison (1672–1719) verbindet das schon bei Longin angesprochene Naturerhabene mit emotionalen Aspekten. Die Erhabenheit der Natur, so Addison, vermöge in geschickter poetischer Ausgestaltung das Gemüt des Lesers zu bewegen. Entscheidend dabei sei, die Natur nicht mehr in ausgeglichener, geordneter Schönheit darzustellen. Vielmehr solle sie in der Gestalt des Ungeordneten, Überdimensionalen und Unfassbaren, als dessen Überbegriff das Erhabene gilt, ihren wahren Ausdruck finden.⁵⁴¹ Die dadurch erregten gemischten Affekte wie Lust und Abscheu, Ergötzen und Entsetzen, Freude und Angst werden zur zentralen Thematik der Erhabenheitsdiskussion im achtzehnten Jahrhundert. Auch in der Poetik der Schweizer spielt das Erhabene oder vielmehr die Affekte, die es auslöst, eine wichtige Rolle. Wie die vorangehenden Dichtungstheoretiker gehen Bodmer und Breitinger von wirkungsästhetischen Aspekten aus und beschäftigen sich mit der Frage, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um die emotionale Bewegtheit des Lesers zu bewirken. Die Poetik der Einbildungskraft, die sie aus dieser Frage entwickeln, hat die Erweiterung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zur Grundlage. Wie die zeitgenössischen Poetiken, allen voran diejenige Gottscheds, gehen auch die Schweizer vom Konzept der Naturnachahmung aus. Dichterische Wahrscheinlichkeit entstehe durch naturgetreue Nachahmung, so beschreibt es Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst (1740). Sowohl für Sinne und Verstand nachvollziehbar werde dasjenige, „was nach unsren Begriffen eingerichtet zu seyn, mit unsrer Erkenntniß und dem Wesen der Dinge und dem Laufe der Natur übereinzukommen, scheinet.“⁵⁴² Eine auf empirische Nachprüfbarkeit beruhende Wahrscheinlichkeit ist gemäß Breitinger mit dem Verstand einsehbar und darum unbedingt glaubwürdig: „Dieses Wahrscheinliche ist von dem Wahren alleine darinnen unterschieden, dass es
539 Vgl. Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2001, S. 282. 540 Vgl. ebd. 541 Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. In: Ernst Cassirer. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 15. Hamburg 2003, S. 343. 542 Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 516), S. 134.
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kein genugsames Zeugnis der Würklichkeit hat.“⁵⁴³ Über das herkömmliche Verständnis von Naturnachahmung hinausgehend und dadurch den Boden für die Poetik des Wunderbaren und Erhabenen ebnend ist Bodmers und Breitingers Ansicht, dass dichterische Nachahmung sich nicht nur mit der wirklichen Welt auseinandersetzen, sondern auch imaginäre Welten nachzuzeichnen versuchen soll. Der theoretische Ansatz, der diesem Gedanken zugrunde liegt, ist in Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) Postulat der möglichen Welten begründet.⁵⁴⁴ Dem Dichter kommt die Freiheit zu, eine solche mögliche Welt nach eigenen Regeln und Gesetzen zu gestalten, „da nun die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen ist.“⁵⁴⁵ Diese dichterische Kreativität bedarf einer besonderen Fähigkeit, deren Ursprung Bodmer und Breitinger in der schöpferischen Kraft der Einbildung sehen.
4.3.2 Die Bedeutung der Einbildungskraft Im Jahr 1727 publizierten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger die Abhandlung Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, die als erster Band einer fünf Bände umfassenden Poetologie mit dem Titel Vernünfftige Gedancken und Urtheile von der Beredtsamkeit geplant war.⁵⁴⁶ Bodmer und Breitinger geben in dieser kurzen Schrift eine Definition der Einbildungskraft, bei der sie sowohl auf die Philosophie wie auch auf die Theologie rekurrieren. Wolffianisch konnotiert ist ihre Definition, welche die Einbildung als eine besondere ‚Krafft‘ bezeichnet, die dafür verantwortlich ist, Abwesendes als anwesend vorzustellen. So steht bei Christian Wolff (1679–1754): „Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die EinbildungsKraft.“⁵⁴⁷ Bodmer und Breitinger formulieren es folgendermaßen:
543 Ebd., S. 136. 544 Vgl. Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1975, S. 75. 545 Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 516), S. 136. 546 Vgl. Carsten Zelle: ‚Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Lütteken/Mahlmann (Anm. 22), S. 27. 547 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). 9. Aufl. 1751. Nachdr. Hildesheim 1983 mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr, § 235.
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Darum hat er [Gott] die Seele mit einer besondern Krafft begabet, dass sie die Begriffe und die Empfindungen, so sie einmal von den Sinnen empfangen hat, auch in der Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit der Gegenstände nach eigenem Belieben wieder annehmen, hervor holen und aufwecken kann: diese Krafft der Seele heißen wir die EinbildungsKrafft.⁵⁴⁸
Wolffs Begriffserklärung ist aber erkenntnistheoretisch und metaphysisch zu betrachten, während es bei Breitinger und Bodmer um eine poetologische Konstante geht. Theologisch motiviert wird die Einbildungskraft bei Bodmer und Breitinger, wenn sie, wie eben zitiert, als von Gott gegeben und seiner schöpferischen Leistung nachgebildet betrachtet wird.⁵⁴⁹ Eine wichtige Komponente der Einbildungskraft besteht laut Bodmer und Breitinger darin, nicht nur Gegenständliches in der Imagination wiederaufleben zu lassen, sondern auch die damit verbundenen Gefühle neu zu beleben. In der Kompetenz der Einbildungskraft stehe es, schöne und schlimme Emotionen wie Freude, Glück, aber auch Entsetzen, Furcht und Abscheu beim Leser hervorzurufen.⁵⁵⁰ Die Absicht, welche die Einbildungskraft mit den durch sie evozierenden Gefühlen verfolgt, erörtert Breitinger ausführlich in seiner Critischen Dichtkunst. Der Autor muss, so beschreibt es Breitinger, den Rezipienten von der Schönheit eines Werks überzeugen, in dem er ihn in emotionale Bewegung versetzt.⁵⁵¹ Um diese Wirkung zu erreichen, spiele die Wahl der dargestellten Materie eine wichtige Rolle. Problematisch seien Beschreibungen, die das Gewohnte, Altvertraute zum Inhalt hätten, sie würden keine Affekte provozieren.⁵⁵² Würde man den Leser aber mit etwas Neuem und Unerwartetem überraschen, könne man die verschiedensten Emotionen hervorrufen – als Voraussetzung gelte aber auch hier die Wahrscheinlichkeit, denn sie sei der Kern jeder Dichtung. Mit dem Neuen, das den Rezipienten emotional bewegt, ist in Breitingers Theorie das Wunderbare verbunden: Das poetische Wahre ist der Grundstein des Ergetzens, weil das Unnatürliche und Unmögliche uns niemahls gefallen kan; Aber die Neuheit ist eine Mutter des Wunderbaren, und hiemit eine Quelle des Ergetzens.⁵⁵³
548 Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Von dem Einfluss (Anm. 513), S. 32. 549 Vgl.ebd., S. 31. 550 Vgl. ebd., S. 32. 551 Vgl. Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 516), S. 107. 552 Vgl. ebd.,S. 107 f. 553 Ebd., S. 110.
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Die Verbindung des Neuen mit dem Wunderbaren erläutert Breitinger weiter, wenn er Letzteres als höchste Stufe der Affekte, die durch das Neue erreicht werden, beschreibt. Das Wunderbare entstehe aus dem Neuen, es beinhalte keinerlei bekannte Vorstellung und überrasche durch seine scheinbar der Natur widersprechenden Merkmale: Wenn denn die Entfernung [von den „Sitten“, also dem Gewohnten] so weit fortgehet, biss eine Vorstellung unsern gewöhnlichen Begriffen, die wir von dem ordentlichen Laufe der Dinge haben, entgegen zu stehen scheinet, so verliehret sie den Nahmen des Neuen, und erhält an dessen statt den Nahmen des Wunderbaren.⁵⁵⁴
Wenn nun aber Gegenstände dargestellt werden, die der Natur zu widersprechen scheinen und daher weder der Vernunft noch dem Gefühl nachvollziehbar sind, ist die poetische Wahrscheinlichkeit in Gefahr, so Breitingers Erläuterungen. Um dem zu entgehen, unterzieht er das Wunderbare einer genauen Analyse. Während das Neue auch bei noch so großer Abweichung von Gewohnheiten und Bekanntem stets innerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit nachvollziehbar sei, würde das Wunderbare nicht mehr den natürlichen Gesetzmäßigkeiten gehorchen und sei somit eigentlich als unwahr zu beurteilen.⁵⁵⁵ Diese Widersprüchlichkeit zu den Naturgesetzen und somit zum Verstand sei aber nur eine sehr geschickte Tarnung, eine Einkleidung, die so phantasievoll sei, dass die tatsächliche Wahrheit unerkennbar gemacht werde. Würde man das Wunderbare bis auf seinen Kern entschlüsseln, könne man erkennen, dass es immer noch auf der Wahrscheinlichkeit fuße. Die Falschheit des Wunderbaren ist also lediglich vorgetäuscht: Allein dieses ist nur ein Schein, und zwar ein unbetrüglicher Schein der Falschheit; das Wunderbare muss immer auf die würckliche oder die mögliche Wahrheit gegründet seyn, wenn es von der Lügen unterschieden seyn und uns ergetzen soll.⁵⁵⁶
Breitingers Begriff des ‚Wunderbaren‘ ist, insbesondere was die affektive Wirkung anbelangt, eng verwandt mit dem bereits erörterten Begriff des ‚Erhabenen‘. Da Breitinger in seinen literaturtheoretischen Schriften dem Erhabenen keine eigene Definition zukommen lässt, sondern es vor allem zusammen mit dem Wunderbaren nennt, ist davon auszugehen, dass er die beiden Begriffe als Synonyme oder als ineinander enthalten versteht.
554 Vgl. ebd., S. 129. 555 Vgl. Breitinger: Critische Dichtkuns (Anm. 516), S. 130. 556 Vgl. ebd., S. 131.
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Obschon auch Bodmer nie begriffserläuternd auf das Erhabene einging, beschäftigte er sich weitaus differenzierter mit der damit zusammenhängenden Phänomenologie als Breitinger.⁵⁵⁷ In seiner Abhandlung Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (1741) beschreibt Bodmer drei Kategorien, die vom Poeten dichterisch umgesetzt werden können. Es handelt sich dabei um „das Schöne, das Große, und das Heftige oder Ungestüme.“⁵⁵⁸ Schönheit charakterisiert sich für Bodmer dadurch, dass sie in ebenmäßiger Gestaltung ein harmonisches, geordnetes Bild produziert. Bei der Betrachtung des Schönen werde das Gemüt mit Entzücken, Freude und Zufriedenheit erfüllt.⁵⁵⁹ Bodmer deckt somit einen Teil des Gefühlsspektrums ab, das Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst bei der Darstellung des Neuen beschreibt. Der andere von Breitinger unter das Neue subsumierte Teil an Emotionen entsteht bei Bodmer bei der Darstellung des Großen. Wie Bodmer in seinen Critischen Betrachtungen erläutert, löst das Große, das in seiner Überdimensionalität eine ganzheitliche Betrachtung verunmöglicht, so dass die Gesamtzusammenhänge und die ordnende Struktur nicht mehr erkennbar sind, Bewunderung, Erstaunen und stilles Betrachten aus.⁵⁶⁰ Unter dem Heftigen oder Ungestümen versteht Bodmer das Wirken von Naturgewalten, die auf den Menschen „widrige Eindrücke machen, und das Gemüthe etwann gänzlich daniederschlagen.“⁵⁶¹ Die dadurch ausgelösten affektiven Wirkungen sind vielfältig und unberechenbar, sie erschüttern dergestalt, dass sich der Mensch in seiner sinnlich erfahrbaren Existenz bedroht fühlt.⁵⁶² Der Gegensatz zwischen dem Wohlwollen und Gefallen verursachenden Schönen und dem unfassbaren Großen in seiner Steigerung zum bedrohlichen Ungestümen wird von Bodmer klar formuliert, wobei der wirkungspoetischen Absicht besondere Bedeutung beigemessen wird.⁵⁶³ Betrachtet Bodmer in seiner Abhandlung über die poetischen Gemälde der Dichter das Erhabene vorwiegend als Qualität der Natur, schreibt er später von einer im sittlichen und moralischen Bereich anzusiedelnden Erhabenheit. In seinen zusammen mit Breitinger verfassten Critischen Briefen (1746) betont Bodmer, dass das Erhabene auch „in wunderbaren Handlungen der Menschen, als in heftigen und begeisterten Gemüthsbewegungen, hohen Proben der Großmut und Dapferkeit, oder in Gesinnungen,
557 Vgl. Alt (Anm. 536), S. 86 sowie Zelle: Angenehmes Grauen (Anm. 537), S. 275. 558 Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Faksimiledruck der Ausgabe Zürich 1741. Frankfurt/M. 1971, S. 152. 559 Ebd., S. 153. 560 Vgl. ebd., S. 153 f. 561 Vgl. ebd., S. 154. 562 Vgl. Zelle: Angenehmes Grauen (Anm. 537), S. 276. 563 Vgl. ebd., S. 261.
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welche sich über die gewöhnliche Beschaffenheit des menschlichen Gemühtes erheben“⁵⁶⁴, zu finden ist. Diese moralische Erhabenheit macht Klopstock zu einem wichtigen Kriterium der ‚Höheren‘ und ‚Heiligen Poesie‘. Klopstock knüpft in seiner Abhandlung Von der Heiligen Poesie (1755) denn auch immer wieder an die Poetik der Schweizer an, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
4.4 Inhaltliche Erhabenheit: Die ‚Höhere‘ und die ‚Heilige Poesie‘ Nach dem Erscheinen der ersten drei Gesänge des Messias war Klopstock heftiger Kritik ausgesetzt, deren Hauptstreitpunkt vor allem die Legitimation und die Umsetzung religiöser Stoffe in poetischen Werken betraf. Mit seinem Aufsatz Von der Heiligen Poesie, der erstmals 1755 im ersten Band der Kopenhagener Messias-Ausgabe gedruckt wurde,⁵⁶⁵ versuchte Klopstock, seine stoffliche Wahl sowie die inhaltliche und formale Umsetzung des Messias zu rechtfertigen. Indem Klopstock diejenigen Aspekte erläutert, die es in seinen Augen nicht nur rechtfertigen, sondern sogar verlangen, sich dichterisch biblischer Inhalte anzunehmen, ist seine Abhandlung als Apologie der christlichen Dichtung zu betrachten. Daneben illustrieren Klopstocks Ausführungen aber auch seine zentralen poetologischen Vorgaben, aus denen heraus er seine religiös orientierte Affektästhetik und den von ihm eingeführten Begriff der ‚Heiligen Poesie‘ entwickelt.⁵⁶⁶ So kann Klopstocks Abhandlung als apologetisch motivierte Poetik der christlichen Dichtung betrachtet werden. Die Gründe, die es Klopstocks Meinung nach erlauben und sogar erfordern, biblische Dichtung zu verfassen, sind primär theologischexegetischer Natur. Indem er aber die ‚Heilige Poesie‘ als Steigerung der ‚Höheren
564 Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Critische Briefe. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1747. Hildesheim 1969, S. 94 f. 565 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Heiligen Poesie. In: Der Messias. Ges. I-III. Text des Erstdrucks von 1748. Hg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Bibl. Erg. Ausg. Stuttgart 2000, S. 114. Klopstocks Aufsatz ‚Von der Heiligen Poesie‘ ist in Höpker-Herbergs Ausgabe gedruckt, ohne jedoch anzugeben, ob er nach dem Erstdruck oder nach einer anderen Ausgabe ediert wurde. Da ‚Von der Heiligen Poesie‘ nicht in die entsprechenden Bände der HKA (IV, 1–6) aufgenommen wurde, wird trotz dem fehlenden Nachweis von Höpker-Herberg im Folgenden aus ihrer Ausgabe zitiert. 566 Zu Klopstocks Begriff der ‚Heiligen Poesie‘ vgl. grundlegend Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997, S. 111–171. Zu Klopstocks Aufsatz ‚Von der Heiligen Poesie‘ ebd., S. 135–150. Ausführlich über Klopstocks Reflexionen zur ‚Heiligen Poesie‘ ist auch: Grosse (Anm. 500), S. 80–144.
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Poesie‘ betrachtet, verbindet er sein religiöses Anliegen mit seinem in der Portenser Abschiedsrede erstmals formulierten Anforderungen an ein poetisches Werk, das in seiner Vollkommenheit alle bisherigen Dichtungen übertrifft. Klopstock will in seiner Abhandlung nicht auf die grundsätzliche Frage eingehen, ob es gestattet sei, biblische Stoffe dichterisch umzuformen. Es gebe, so seine Erklärung, keinen triftigen Einwand, der gegen religiöse Dichtung gemacht werden könne. Denn um die einzelnen Texte verstehen zu können, müsse der Dichter darum bemüht sein, aus den Fragmenten der Bibel ein Ganzes zu machen.⁵⁶⁷ Der Dichter knüpfe an die Zeugnisse der biblischen Dichter an und führe diese in neuen, von Gott inspirierten Werken fort.⁵⁶⁸ Dabei von Bedeutung sei die profunde Bibelkenntnis, die es ihm erlaube, trotz poetischer Imagination theologisch unangreifbar zu schreiben: „Ein Dichter studiert diesen reichen Grundriss [der Offenbarung], und mahlt ihn nach den Hauptzügen aus, die er in demselben gefunden zu haben glaubt.“⁵⁶⁹ Zentral ist der Ausdruck des Malens, der auf die Horazsche ut-pictura-poesis Formel zurückgeht und in Bodmers und Breitingers Poetik weiterentwickelt wurde.⁵⁷⁰ Beim dichterischen ‚Malen‘ braucht es die Einbildungskraft des Dichters, der mit Worten und Sätzen erreichen soll, was der Maler mit Pinsel und Farbe macht: eine Fiktion als entweder gemalte oder gedichtete wahrscheinliche Realität darstellen.⁵⁷¹ Klopstock ist überzeugt, dass der Autor, auch wenn er die biblischen Zeugnisse umformt und sogar ergänzt, dies stets im Sinne der Religion tut. Es sei weder verächtlich noch blasphemisch, wenn dem Rezipienten durch geschickte poetische Ausgestaltung ein Ereignis dergestalt vorgeführt werde, dass er es für wahrscheinlich halte, auch wenn es nicht den biblischen Tatsachenwahrheiten entspreche.⁵⁷² Wieder wird deutlich, wie stark sich Klopstock auf Breitingers
567 Vgl. Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 115. 568 Vgl. ebd. 569 Vgl. ebd. 570 Zu Klopstocks Verständnis der ut-pictura-poesis Formel vgl. Hildegard Benning: Ut Pictura Poesis – Ut Musia Poesis. Paradigmenwechsel im poetologischen Denken Klopstocks. In: Klopstock an der Grenze der Epochen. Hg. von Kevin Hilliard und Katrin Kohl. Berlin u. a. 1995. Benning geht davon aus, dass es Klopstock nicht um die (ab)bildende Poesie geht, sondern um die musikalische: Er will nicht das zweidimensionale Bild in Sprache fassen, sondern die Kraft der Empfindung musikalisch respektive rhythmisch ‚singen‘ (vgl. Benning, Ut Pictura Poesis, S. 90). 571 In der ‚Critischen Dichtkunst‘ Breitingers wird es folgendermaßen formuliert: „[…] also stehet es in dem Vermögen der poetischen Mahler-Kunst, alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kann nachgeahmet und der Phantasie, als dem Auge der Seele, eingepräget werden, nach dem Leben und der Natur abzuschildern“ (Breitinger: Critische Dichtkunst [Anm. 516], S. 53). 572 Vgl. Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 115.
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Begriff der Einbildungskraft stützt, deren Aufgabe es ist, erfundene Begebenheiten dem Verstand und den Sinnen einsehbar zu gestalten, so dass sie sich nicht von realen Ereignissen unterscheiden. Wenn die poetische Darstellung also dergestalt erfolge, dass sie genauso wahrscheinlich sei wie die tatsächlich in der Bibel geschilderten Ereignisse, gebe es keine Einwände gegen sie. Klopstock sieht auch keine Gefahr darin, dass der Rezipient durch die geschickte poetische Ausgestaltung nicht mehr zwischen den in der Bibel beschriebenen Begebenheiten und der Dichtung unterscheiden könne. Denn dies geschehe nur dann, wenn die Erdichtung, was Tugendhaftigkeit und emotionale Bewegung anbelange, dieselbe religiöse Bedeutung erhalte wie die Bibel selbst. Sei dies der Fall, würde der Religion nicht geschadet, sondern ihr gedient.⁵⁷³ Klopstock stellt die poetische Ausgestaltung der Bibel in den Dienst der Exegese. Jede Art von „Erdichtungen“⁵⁷⁴, mit denen der Autor die Vorlage ergänze, sei dadurch gerechtfertigt, dass sie auf Überlegungen und Interpretationen zur Religion basiere, so dass es bedenkenlos sei, „auch nach poetischer Denkungsart, dasjenige, was uns die Offenbarung lehrt, weiter zu entwickeln.“⁵⁷⁵ Der Autor als profunder Kenner der Bibel stelle lediglich die göttliche Offenbarung in seinen eigenen Worten dar, entwickle aus dem Quellenmaterial ergänzende Darstellungen, die es erlauben würden, die biblische Vorlage aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und im Kontext der gegenwärtigen Zeit besser verstehen zu können.⁵⁷⁶ Klopstocks Meinung kann als eine Art von poetologisch-theologischer Akkomodationstheorie verstanden werden, wie sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts innerhalb der historisch-kritischen Bibelexegese entwickelt wurde. Wie die ersten biblischen Autoren ihre Botschaften in historisches Kolorit kleiden mussten, damit das Volk sie verstehen konnte, versuchte auch Klopstock seine Messiade dergestalt zu dichten, dass die ihr zugrunde gelegten biblischen Zeugnisse seinen Zeitgenossen zugänglich wurden. Die ‚Anpassungen‘ an seine Zeit waren aber primär poetologischer, nicht kultureller Natur: Durch Bodmers und Breitingers Poetik erhielt Klopstock die Lizenz, phantasievolle, wunderbare und affektorientierte religiöse Dichtung zu schaffen, die seinen Zeitgenossen die Religion und die Bibel wieder näher bringen sollte. Indem sich Klopstock als Vermittler der biblischen Zeugnisse darstellt, sieht er sich in derselben Funktion wie die Evangelisten und Apostel. Wie die Autoren der neutestamentlichen Bücher die christliche Lehre schilderten, will auch Klopstock Christus darstellen, und zwar
573 Vgl. ebd., S. 115 f. 574 Ebd., S. 115. 575 Ebd., S. 116. 576 Vgl. ebd., S. 116.
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in einer neuen, von Empfindsamkeit und Enthusiasmus geprägten Form. Der zeitgenössische religiöse Dichter, so Klopstocks Ansicht, findet seine Inspiration in der auf Bibelkenntnis basierenden Einbildungskraft und wird dadurch zum neuen Propheten von in Poesie gekleideter religiöser Offenbarung.⁵⁷⁷ Nach diesen Ausführungen über die Gründe, die religiöse Erdichtungen legitimieren, spricht Klopstock das in seiner Abhandlung verfolgte Hauptanliegen an. Er wolle die für ihn zentrale Frage klären, „unter welchen Bedingungen man von Materien der Religion dichten dürfe.“⁵⁷⁸ Um hier eine Antwort zu finden, müssten zuerst einige allgemeine poetische Erläuterungen gemacht werden, in denen grundsätzliche Anforderungen an die Poesie geklärt würden. Ohne große Umschweife führt Klopstock den Geniebegriff ein und setzt ihn in direkte Verbindung zum von ihm verwendeten Begriff der ‚Höheren Poesie‘. Unter Letzterem versteht Klopstock vollkommene, insbesondere in der Gattung des Epos verwirklichte Dichtung. Nur dem Genie sei es möglich, diese vollkommene Poesie zu verfassen. Klopstocks Meinung nach zeichnet sich das Genie dadurch aus, dass es beim Dichten zugunsten anderer ‚Kräfte‘ den ‚Witz‘, also den Verstand, nur in reduziertem Maß anwendet, und zwar lediglich dann, wenn es um das ‚Ausmalen‘ geht. Indem Klopstock die mit dem ‚Ausmalen‘ gemeinte Naturnachahmung zwar als Komponente, nicht aber als Hauptanliegen von Poesie und als für das dichterische Genie verzichtbar bezeichnet, wird deutlich, wie weit er von der rationalen Poetik Gottscheds entfernt ist und auch über die Schweizer hinausgeht, die dem Verstand stets eine wichtige Funktion beigemessen haben. Für Klopstock kommt dem ‚Herzen‘ eine viel bedeutendere Funktion zu als dem Verstand, da es Affekte erregen kann. Obschon bei Bodmer und Breitinger der Begriff des ‚Herzens‘ nicht auftaucht und er auch bei Klopstock nicht scharf umrissen ist,⁵⁷⁹ sind Klopstocks Reflexionen, die er damit verbindet, auf die affektive Poetik der Schweizer abgestützt. Das ‚Herz‘ nämlich, so Klopstocks Ausführungen, gehört zu einer der drei die Seele bewegenden ‚Kräfte‘, die alle in ihrer Art konstitutiv für die ‚Höhere Poesie‘ sind. Dem Verstand obliege es, Tatsachenwahrheiten zu erfassen und zu beschreiben; hier findet also nochmals die bereits erwähnte mimesis Beachtung. Die ‚Einbildungskraft‘ brauche der Dichter, um das Naturerhabene und das Naturschöne nachzuzeichnen. Dem ‚Herzen‘ als der „gewaltigsten Kraft der
577 Vgl. Grosse (Anm. 500), S. 80, S. 85. 578 Vgl. Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 116. 579 Klopstock setzt das Herz mitunter mit dem Willen gleich: „Und in dem Willen, oder dem Herzen, dieser vielseitigen und gewaltigsten Kraft der Seele, sucht er [der Dichter] vorzüglich diejenigen Empfindungen zu treffen, die es erweitern, die es groß und edel seyn lehren“ (Klopstock: Heilige Poesie [Anm. 565], S. 119). Da Klopstock den Begriff ‚Herz‘ öfter braucht als ‚Wille‘, wird im Folgenden immer Ersterer verwendet.
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Seele“⁵⁸⁰ ist es zu verdanken, „dass wir ausrufen, uns laut freuen; tiefsinnig stehn bleiben, denken, schweigen; oder blass werden, zittern, weinen.“⁵⁸¹ In dieser Beschreibung liegt das gesamte Spektrum an Emotionen, das sich gemäß der Poetik der Schweizer im ‚Wunderbaren‘ oder ‚Erhabenen‘ vereinigt.⁵⁸² Daneben spricht Klopstock aber noch einen weiteren Aspekt an. Indem das ‚Herz‘ vermag, „schnell, groß und wahr zu denken“⁵⁸³, knüpft Klopstock an die zeitgenössische Ausdruckslehre an. Die Schnelligkeit galt als wichtiges Merkmal des Affekts, ließ sich doch die heftige Gemütsbewegung vor allem dadurch beschreiben, dass sie vor jeder Verstandesleistung tätig wurde. Je schneller ein Affekt auftaucht, desto stärker wirkt er, so auch Johann Georg Sulzers (1720–1779) Meinung in seinen Vermischten Philosophischen Schriften (1773/81).⁵⁸⁴ Die häufige Verwendung von „schnell“ und „schneller“ ist ein auffälliges Merkmal in Klopstocks Dichtung und tritt immer dann auf, wenn es Klopstock darum geht, das Auftreten eines Affekts zu markieren.⁵⁸⁵ Die Seele als Ganzes in emotionale Bewegung zu versetzen ist Klopstocks Meinung nach gleichzeitig Ziel wie auch Merkmal der ‚Höheren Poesie‘. Daraus entsteht ‚Erhabenheit‘, die Klopstock als höchste seelische Erregung definiert: „Die lezten und höchsten Wirkungen der Werke des Genies sind, dass sie die ganze Seele bewegen. Wir können hier einige Stufen der starken und der stärkern Empfindungen hinaufsteigen. Dieß ist der Schauplatz des Erhabnen.“⁵⁸⁶ In direktem Zusammenhang zu dem ‚Erhabenen‘, das durch die größtmögliche seelische Bewegung bewirkt wird, steht für Klopstock die ‚moralische Schönheit‘. Aus Klopstocks Erläuterungen wird ersichtlich, dass das eine nicht ohne das andere vorhanden sein kann.⁵⁸⁷ Handelt es sich seiner Meinung nach beim ‚Erhabenen‘
580 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 119. 581 Ebd. 582 Jacob führt Klopstocks Verständnis des ‚Erhabenen‘ auf Longin zurück, ohne die Schweizer zu erwähnen (vgl. Jacob [Anm. 566], S. 139 f.). Jacob geht es vor allem auch um die rhetorische Erhabenheit des Ausdrucks, bei dem der Wohlklang Affekte erregt. Da sich aber auch Bodmer und Breitinger auf Longin abstützen, lässt sich meiner Meinung nach nicht genau festlegen, ob Klopstock sich direkt auf Longin bezieht oder die Poetik der Schweizer als Grundlage für seine Ansichten über das Erhabene nimmt. 583 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 121. 584 Johann Georg Sulzer: Vermischte Philosophische Schriften. 2 Bde. Leipzig 1773 und 1781. Repr. Nachdruck in einem Band. Hildesheim 1974, S. 115. 585 Vgl. Inka Müller-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 172. 586 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 117. 587 Jacob interpretiert aus der Erhabenheit und der moralischen Schönheit, die sich in der ‚Höheren Poesie‘ vereinen, die ‚Höhere Poesie‘ als genus sublime. Klopstocks Begriff der ‚Heiligen
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um das Ziel der ‚Höheren Poesie‘, umschreibt er die ‚moralische Schönheit‘ als deren Zweck und zugleich Wert.⁵⁸⁸ Der durch die moralische Schönheit entstandene Wert orientiert sich an den zeitgenössischen Glückseligkeitslehren, in denen das Glück des Menschen mit dem Grad seiner Tugendhaftigkeit respektive seiner Moral bemessen wird. Wer höchste diesseitige und im Jenseits weiter zu vervollkommnende Glückseligkeit erreichen will, muss sein Leben tugendhaften, moralisch guten Prinzipien verpflichten. Nur dadurch erreicht er größtmögliche moralische Glückseligkeit, die als höchste moralische Schönheit gilt.⁵⁸⁹ Dementsprechend zeigt die in der ‚Höheren Poesie‘ enthaltene moralische Schönheit tugendhafte Handlungen und Figuren, die dem Rezipienten als Vorbild dienen können und ihn zu einem glückseligen Leben führen: Der Poet, den wir meinen, muss uns über unsre kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strome entreissen, mit dem wir fortgezogen werden. Er muss uns mächtig daran erinnern, dass wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben viel glückseliger seyn könnten.⁵⁹⁰
Klopstock richtet also wie die vor allem von den neologischen Theologen vertretenen Glückseligkeitslehren das menschliche Streben darauf aus, bereits im Diesseits höchstmögliche Stufen der Vollkommenheit zu erreichen. Der Poet funktioniert als moralischer Lehrer, der mit seiner Dichtung die nötigen Anleitungen zu einem tugendhaften Leben gibt. Bemerkenswert ist, dass es Klopstocks Meinung nach für die diesseitige Vervollkommnung lediglich die ‚Höhere‘ und nicht die ‚Heilige Poesie‘ benötigt. Um im irdischen Leben glückselig zu werden, reichen dichterisch dargestellte Tugend und Moral und die dadurch versicherte Bestätigung der Unsterblichkeit. Erst wenn ebendiese Unsterblichkeit in ihrer auf das Jenseits und die Transzendenz sich konzentrierenden und somit wahrhaftig erhabenen Bedeutung erläutert werden soll, wird die religiöse Dichtung ins Spiel kommen.
Poesie‘ versteht er als Unterkategorie der ‚Höheren Poesie‘ und demzufolge zum genus sublime zugehörig (vgl. Jacob [Anm. 566], S. 139). In der vorliegenden Arbeit wird zwar die ‚Heilige Poesie‘ als Steigerung der ‚Höheren Poesie‘ verstanden, was Jacobs Interpretation widerspricht. Es wird aber nicht bezweifelt, dass sowohl die ‚Heilige‘ wie auch die ‚Höhere Poesie‘ zum genus sublime gehören. 588 „Der lezte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werths, ist die moralische Schönheit“ (Klopstock: Heilige Poesie [Anm. 565], S. 118). 589 Zu den Glückseligkeitslehren im achtzehnten Jahrhundert vgl. Kap. 2.1. 590 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 118.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Als Beispiel für einen Poeten, der mit seinem Werk vollkommene moralische Schönheit erreicht hat, nennt Klopstock Homer. Er zeichnet den antiken Epiker, den er bereits in seiner Portenser Abschiedsrede genannt und gerühmt hatte, als Autoren aus, der affektiv, erhaben und moralisch schön dichtet – auch wenn er lediglich die paganen Mythen behandelt, wie Klopstock schon in seiner Rede bemängelt hatte und es auch in seiner Abhandlung über die ‚Höhere‘ und ‚Heilige Poesie‘ nicht zu erwähnen unterlässt.⁵⁹¹ Nach den Ausführungen über die Merkmale, das Ziel und den Zweck der ‚Höheren Poesie‘ erläutert Klopstock, welche Aspekte dazu in gestalterischer, konzeptioneller Hinsicht berücksichtigt werden müssen. Die schwerste Aufgabe des Dichters bestehe darin, einen Grundriss für die Gesamtkonzeption zu entwerfen: „Das wesentlichste dieses Grundrisses ist, Einfalt und Mannichfaltigkeit auf eine Art [zu] verbinden, die großen Endzwecken angemessen ist.“⁵⁹² Dazu müsse der Dichter die Ereignisse und Figuren dergestalt beschreiben, dass sie neu und wunderbar seien, jedoch nie die Grenzen der Wahrscheinlichkeit überschreiten würden. Mit dieser Auflage übernimmt Klopstock die Anforderungen und Grenzen, die Bodmer und Breitinger für die Einbildungskraft abgesteckt haben. Auf die poetologischen Regeln von Aristoteles rekurriert Klopstock mit seinem Verweis, dass die Haupthandlung in sich geschlossen sein muss und die Nebenhandlungen sich nicht zu weit von ihr entfernen dürfen.⁵⁹³ Wenn der Dichter diese Regeln befolge und zusätzlich die Szenen in der nötigen Abwechslung anzuordnen verstehe und in harmonischer Ausgeglichenheit die verschiedenen Seelenkräfte anspreche, vermöge sein Werk den Rezipienten in ungeahnte Höhen der Emotionalität und Erhabenheit zu führen. Die dadurch erreichte Sphäre sei aber noch nicht die höchste Stufe, die zu erklimmen die Seele strebe, so Klopstocks geschickte Überleitung zur ‚Heiligen Poesie‘: Aber dieser unsrer Erhebung hängt oft noch eine gewisse Mittelmässigkeit an. Wir fühlens, wir wollten uns noch höher erheben. Unsre Seele ist noch weiter. Sie kann noch mehr fassen. Uns fehlte die Religion noch. Wir waren nur noch in der Sphäre, wo wir selbst die Wahrheiten erfunden haben. Wie glücklich ist gleichwohl derjenige, der hier viel weis, viel denkt, und viel empfindet. Aber wie glückselig der, der auch nur angefangen hat, die viel höhern Wahrheiten der Religion zu verstehn, und zu empfinden.⁵⁹⁴
591 Vgl. ebd. 592 Ebd., S. 120. 593 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1982, S. 19. 594 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 122.
Inhaltliche Erhabenheit: Die ‚Höhere‘ und die ‚Heilige Poesie‘
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In Klopstock Theorie kann der Dichter mit einem Werk der ‚Höheren Poesie‘, auch wenn er mit dem größten Genie begabt ist, die Seele nur bis zu derjenigen Höhe erheben, die durch das Verkünden und Empfinden ‚irdischer Wahrheiten‘ möglich ist. Zu den über diese Höhe hinausgehenden Sphären vermögen einzig die in der Religion enthaltenen metaphysischen Wahrheiten zu führen. Nachdem Klopstock implizit die zu starke dogmatische Auslegung des Christentums seiner Zeit kritisiert – „Unsere Religion ist, in der Offenbarung selbst, ein gesunder männlicher Körper. Unsre Lehrbücher haben ein Gerippe daraus gemacht“⁵⁹⁵ – kommt er zu den Anforderungen, die er an religiöse Dichtung stellt. Oberstes Prinzip des Poeten sei es, die Religion nachzuahmen. Dabei gehe es nicht darum, sprachliche Besonderheiten der Bibel zu übernehmen; Klopstock geht also nicht mehr auf den dichterischen Wert der Bibel ein, wie er es noch in seiner Portenser Abschiedsrede getan hatte: „Die Nachahmung der Propheten, so fern ihre Werke Meisterstücke der Beredsamkeit in Absicht auf den Ausdruck sind, ist etwas anders.“⁵⁹⁶ Die Nachahmung, die Klopstock anspricht, hat die religiöse Grundbotschaft zur Absicht. Wie er dies im Zusammenhang mit der Legitimation religiöser Dichtung bereits vorgeführt hatte, sei es das Ziel der poetischen Ausschmückung, dieselben religiösen Wahrheiten zu vermitteln, wie sie in der Bibel anzutreffen seien: Da ich vorher sagte, der Dichter müsse der Religion nachahmen, wie er der Natur nachahmen soll; so meinte ich nicht die Schreibart der Offenbarung. Ich meinte den Hauptplan der Religion: Große wunderbare Begebenheiten, die geschehen sind, noch wunderbarere, die geschehen sollten! ebensolche Wahrheiten! diesen Anstand! diese Hoheit! diese Einfalt! den Ernst! diese Liebenswürdigkeit! diese Schönheit! so weit sie sich durch eine menschliche Nachahmung erreichen lassen.⁵⁹⁷
Klopstock setzt also die inhaltliche Nachahmung der Bibel als höchstes dichterisches Ziel fest. Damit knüpft er wiederum an sein Verständnis des Dichters als Propheten an und kann gleichzeitig die ‚Heilige Poesie‘ legitimieren. Die Dichtung, die vom Poeten geschaffen wird und die Religion nachahmt, ist wie die Bibel selbst zur Verkündigung göttlicher Wahrheit bestimmt. Klopstock setzt die ‚Heilige Poesie‘ mit der Bibel gleich, was sie nicht nur legitimiert, sondern sie wie ihr biblisches Vorbild zur religiösen Offenbarung macht.⁵⁹⁸ Dadurch sakralisiert Klopstock die Dichtung und gibt der Offenbarung einen ästhetischen
595 Ebd., S. 122. 596 Ebd., S. 125. 597 Ebd. 598 Vgl. Grosse (Anm. 500), S. 82.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Wert.⁵⁹⁹ Klopstocks Ansicht nach hat die Wahl der biblischen Quelle Konsequenzen für die poetische Bearbeitung. Bei der dichterischen Ausschmückung von alttestamentlichen Zeugnissen wäre noch „eine Art Weltlichkeit erlaubt“⁶⁰⁰, wohingegen bei Poesie, die auf neutestamentlichen Quellen beruhe, das „Innre der Religion“⁶⁰¹ betrachtet werden müsse. Aus dieser Aussage wird deutlich, wieso Klopstock nicht wie Bodmer, den er in den ersten Jahren seiner Arbeit am Messias noch als Mentor und Vorbild betrachtet hatte, eine Figur des Alten Testaments zum Helden seines Epos machte. Die sogenannten ‚Patriarchaden‘, mit denen Bodmer und sein Umfeld ihre dichterischen Erfolge feierten, waren Klopstock zu weltlich, zu sehr dem Irdischen verhaftet. Sein Figurenarsenal sollte wie dasjenige von Miltons Paradise Lost einer metaphysischen Wirklichkeit angehören und sich durch Unsterblichkeit und Transzendenz auszeichnen. Das ‚Innere der Religion‘ besteht für Klopstock aus der soteriologischen Lehre Jesu Christi, der gemäß den Menschen Erlösung und ewiges Leben versprochen werden – den Sohn Gottes als Helden für sein Epos zu nehmen lag darum für ihn auf der Hand. Klopstock hat sich zwar auch mit alttestamentlichen Figuren dichterisch auseinandergesetzt, wie sein Drama Adams Tod (1757) zeigt. Nicht von ungefähr aber hat er den ersten Menschen zur Hauptfigur seines Werks gemacht. Die Referenz zu Milton ist lediglich ein Grund; Der andere besteht darin, dass Adam ursprünglich zur Unsterblichkeit bestimmt war, wie Klopstock es auch im Messias beschreibt: „Ach, da der Tod noch nicht war! da noch die Stille des Vaters / Ruht’ auf dem Sohne! da Adam gemacht ward, unsterblich zu leben.“⁶⁰² Die Unvergänglichkeit des paradiesischen Zustands und damit einhergehend die Unsterblichkeit verlor Adam erst mit dem Essen der verbotenen Frucht; zudem steht Adam als ‚Verursacher‘ der Ursünde in direktem Zusammenhang zum neutestamentlichen Heilsversprechen, in dem die Unsterblichkeit enthalten ist, was ihn wiederum der den alttestamentlichen Vätern attestierten irdischen Verhaftetheit enthebt.⁶⁰³ Die biblischen Begebenheiten und insbesondere die neutestamentlichen Zeugnisse, so Klopstocks Ausführungen, sind nur der Grundriss des Gesamtbildes, „die Geschichte der Bibel, besonders die, so das Innre der Religion näher angeht, enthält nur einige der großen Thaten […]. Einige andre entwirft sie mit so
599 Vgl. Bernadette Malinowski: ‚Das Heilige sei mein Wort‘. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman. Würzburg 2002, S. 51. 600 Ebd., S. 122. 601 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 122. 602 MA, V, V.410 f. 603 Zu Klopstocks Drama ‚Adams Tod‘ vgl. Volker Leppin: Adams und Abels Tod. Unspielbare Dramen von Friedrich Gottlieb und Meta Klopstock. In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Albrecht Beutel u. a. Leipzig 2010.
Inhaltliche Erhabenheit: Die ‚Höhere‘ und die ‚Heilige Poesie‘
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wenigen Worten, dass wir nothwendig Umstände hinzudenken müssen, um sie uns vorzustellen.“⁶⁰⁴ Die Bibel lade mit ihren vielen Andeutungen förmlich dazu ein, eigene Erdichtungen zu formulieren: Gewisse Wahrheiten, deren völlige Erkenntniß uns in diesem Leben noch nicht nothwendig ist, sind uns so offenbart, dass sie so viel Winke zu seyn scheinen, weiter über diese Wahrheiten nachzudenken. Entdeckungen, die wir auf diese Art machen, gehören in das heilige Gedicht. Und oft können wir Erdichtungen darauf gründen.⁶⁰⁵
Klopstock beschreibt einmal mehr, dass die dichterischen Erfindungen, indem sie in der Bibel angedeutete Wahrheiten aufnehmen und weiterentwickeln und dadurch verdeutlichen, von exegetischen Ansichten geleitet und darum theologisch fundiert sind. Erneut weist er darauf hin, dass der Dichter sich stets an der biblischen Offenbarung orientiert und nichts erfindet, was der Religion entgegenläuft. Ein wichtiger Aspekt, den Klopstock in seiner Abhandlung erläutert, ist die ‚Würde‘. Klopstock macht deutlich, dass sich biblische Figuren und Handlungen durch absolute göttliche Würde auszeichnen, die nicht nur in Bezug auf ihre Göttlichkeit, sondern auch, was ihre Wahrscheinlichkeit anbelangt, von unbedingter Bedeutung sind. Denn würde es dem Autor nicht gelingen, diese Würde darzustellen, käme es unweigerlich zu Zweifeln an der Wahrscheinlichkeit seiner Dichtung.⁶⁰⁶ Mit dem Begriff der ‚Würdigkeit‘ bezeichnet Klopstock den Verdienst und das Ansehen einer göttlichen Figur, wie es auch im Grimmschen Wörterbuch verzeichnet ist.⁶⁰⁷ Im Messias zeigt Klopstock, wie schwierig es ist, diese Würde darzustellen: Immer weiter komm ich auf meinem furchtbaren Wege, Immer näher zum Tode des Sohns. Ach, wärs nicht der Liebe Tod, den sie starb vom Anbeginne der Welt; so erläg ich Unter der Last der Betrachtung! Auf beiden Seiten ist Abgrund! Da zur Linken; Ich soll nicht zu kühn von dem Göttlichen singen! Hier zu der Rechten; Ich sol ihn mit feierlicher Würdigkeit singen!⁶⁰⁸
604 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 123. 605 Ebd. 606 „Eine Handlung, die an sich selbst wahrscheinlich ist, wird, durch den Mangel der Würdigkeit, unwahrscheinlich“ (ebd.). 607 Bei Grimm steht: „Würde, in religiöser Beziehung, sowohl für rang oder funktion göttlicher personen wie für qualität und stellung des menschen vor gott“ (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 14. Bd. 2. Abtl., S. 2066). 608 MA, X, V.1–6.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Den Aspekt der Würde ist in Bodmers und Breitingers Ausführungen zum Wahrscheinlichen nicht zu finden, es scheint, als habe Klopstock ihn eingeführt, um die zum Teil sehr plastische Darstellung des eigentlich unsichtbaren Gottes zu rechtfertigen. Denn, so Klopstock weiter, diese Würde müsse der Dichter poetisch beschreiben, wenn er Gott handelnd bzw. sprechend vorstellen wolle. Gott sei der Schöpfer der Welt und der Erbarmer der Menschen, in dieser seiner höchsten Würde müsse er geschildert werden.⁶⁰⁹ Mehr Freiheiten hat der Dichter Klopstocks Ansicht nach in der Darstellung der Geistwesen. Diese seien der philosophischen Erkenntnis gemäß zwar im metaphysischen Bereich anzusiedeln; da Gott sie aber brauche, um die Menschen selig zu machen, sei es wahrscheinlich anzunehmen, dass er ihnen eine Körperlichkeit gegeben habe, die derjenigen von Jesus Christus ähnlich sei. In den Ausführungen zu der poetischen Darstellung der englischen Wesen zeigt Klopstock sehr deutlich sein Programm der gleichzeitig Verstand wie auch Herz ansprechenden Poesie: Der Verfasser des heiligen Gedichts ist hier auf eine ganz neue Scene der Einbildungskraft geführt. Hier kann er besonders seinem großen Zwecke am nächsten kommen, den Bildern solche Züge zu geben, dass er zugleich den Verstand beschäftigt, oder die Empfindungen des Herzens in Bewegung setzt.⁶¹⁰
Der Autor muss also darum bemüht sein, die himmlischen Wesen dergestalt zu beschreiben, dass sie wahrscheinlich, also nicht dem Verstand widersprechend erscheinen. Gleichzeitig aber soll er sie durch Handlungen auszeichnen, die auf Grund ihrer moralischen Schönheit das Herz bewegen. Klopstocks Meinung nach ist es durchaus gerechtfertigt, religiöse Dichtung mit strengen Richtlinien zu beurteilen, schließlich spielt sie auf dem „erhabnen Schauplatz der Religion.“⁶¹¹ Dabei dürfe aber nicht, so Klopstocks Seitenhieb auf die zeitgenössische Literaturkritik, den Kunstrichtern geglaubt werden, da es sich bei ihren Urteilen nicht selten um „Kurzsichtigkeit, Eigensinn, Einseitigkeit, oder gar nur Mode“⁶¹² handle. Klopstock will seine kritischen Leser „auf eine Stelle führen, von welcher, wie ich glaube, Gedichte von dieser Art, in ihrem wahren Gesichtspunkte, angesehn werden“⁶¹³ und dabei auf ein Urteil vertrauen, das durch die Zeit reif geworden war und auf einem reinen Herz und natürlichen
609 Klopstock: Heilige Poesie (Anm. 565), S. 123. 610 Ebd., S. 126. 611 Ebd., S. 114. 612 Ebd., S. 116 f. 613 Ebd., S. 114.
Formale Erhabenheit: Klopstocks Anpassung des antiken Hexameters
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Empfindungen beruht. Programmatisch erklingt hier Klopstocks literarische Absicht, nicht ein dem aktuellen poetologischen Diskurs entsprechendes Werk zu verfassen, sondern sich einer zeitlos wertvollen und anerkannten Dichtung zu verschreiben. Dieses in seiner Abhandlung Von der heiligen Poesie beschriebene Konzept hat er bereits in seiner Portenser Abschiedsrede formuliert und in seinem Messias zu verwirklichen versucht. Ein zu diesem Konzept gehörender Aspekt, der bis jetzt vernachlässigt wurde, ist die formale Ausgestaltung. Im nächsten Kapitel soll aufgezeigt werden, wie Klopstock der bisher erläuterten inhaltlichen Erhabenheit der ‚Heiligen Poesie‘ die formale zur Seite stellt.
4.5 Formale Erhabenheit: Klopstocks Anpassung des antiken Hexameters an die deutsche Sprache Klopstocks Messias war nicht nur auf Grund des christlichen Inhalts ein Novum in der Epik des achtzehnten Jahrhunderts. Auch der Entschluss, nicht den sowohl in französischen wie auch in deutschen Epen dominierenden Alexandriner zu wählen,⁶¹⁴ sondern auf das antike Versmaß des Hexameters zurückzugreifen, stellte eine Besonderheit in der deutschen Ependichtung der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts dar. Mit der Übernahme des Hexameters in die deutsche Sprache initiierte Klopstock eine neue Richtung in der Ependichtung, die insbesondere von den Autoren im Kreise Bodmers weitergegangen wurde und die auch Lavater mit seiner Messiade einschlug. Klopstocks Reflexionen zum deutschen Hexameter bildeten aber auch den Ausgangspunkt für eine rege Diskussion um die deutsche Verwendung des Hexameters, die vor allem auch hinsichtlich der Übersetzung antiker Epen bedeutsam war. Sowohl Herders Kommentar von Karl Wilhelm Ramlers (1725–1798) Überlegungen zum Hexameter wie auch Gottfried August Bürgers (1747–1794) metrische Theorie zeigen die Bedeutung, die dem antiken Versmaß im Zusammenhang mit der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beigemessen wurde. Im Folgenden sollen die wichtigsten Aspekte aus Klopstocks Theorie zum deutschen Hexameter erörtert und diese in den Kontext von Herders, Ramlers und Bürgers Ansichten gestellt werden. Die Debatte um eine angemessene HomerÜbersetzung wird im Zusammenhang mit Klopstocks 1779 gedruckter Abhandlung Vom deutschen Hexameter, in der er sich gegen Bürgers Ansichten wendet, erläutert.
614 Vgl. Martin (Anm. 29), S. 96.
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Klopstock betont in seiner Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen, die 1755 als Vorrede zum zweiten Band der Messiade erschien, die Erhabenheit der antiken Dichtung, die insbesondere dem Hexameter zu verdanken sei. Klopstocks Meinung nach braucht es die an die Antike angelehnten hexametrischen Verse auch in der deutschen Sprache, um sich eines größeren Werks, also eines Epos, anzunehmen: Wir können den Griechen und Römern in ihren Sylbenmassen so nahe nachahmen, dass diese Nachahmung, besonders grössern Werken, einen Vorzug gebe, den wir, durch unsre gewöhnliche Versarten, noch nicht haben erreichen können.⁶¹⁵
Die wichtigsten Merkmale, die in Klopstocks Augen einen guten Vers ausmachen, sind die Dynamik und die Harmonie. Der Dichter müsse darum bemüht sein, die Handlung in einem abwechslungsreichen, fließenden Rhythmus zu präsentieren, der die Rezipienten mitreiße und in spannungsvolle Erwartung versetze. Sind diese Kriterien erfüllt, erreicht der Vers den ‚Wohlklang‘, der für Klopstock das zu erreichende Ziel in der Verskunst darstellt. Mit dem Ohr, das sich am ‚Wohlklang‘ erfreut, hat Klopstock auch das Instrument benannt, das am wichtigsten ist für die Beurteilung des Hexameters: das Gehör. In der Deklamation werde deutlich, ob der Hexameter abwechslungsreich, fließend und harmonisch töne und „das Ohr unterhält, und füllt.“⁶¹⁶ Mit dem ‚Wohlklang‘ bezeichnet Klopstock also die im Rezitieren hörbaren Merkmale der Harmonie und des fließenden Rhythmus, die der deutsche Hexameter zu erfüllen habe, um dieselbe Vollkommenheit zu erreichen wie der antike. Klopstock ist sich bewusst, dass die Übernahme des griechischen und römischen Metrums ins Deutsche einige Schwierigkeiten bereitet, da sich die deutsche Sprache in wesentlichen Merkmalen von der Griechischen und Römischen unterscheidet. Der Hauptunterschied liegt Klopstocks Meinung nach darin, dass es im Deutschen keine Regeln gibt, die ‚Längen‘ und ‚Kürzen‘ festlegen und es daher schwierig ist, der sich durch eine ‚Länge‘ und zwei ‚Kürzen‘ charakterisierende, den antiken Hexameter prägenden Daktylus zu bilden. Klopstock spricht hier den Unterschied von quantitierenden und akzentuierenden Sprachen an. Zu Ersteren gehören das Altgriechische und das Lateinische, zu Letzteren das Deutsche. In seiner Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deut-
615 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen. In: Der Messias. Gesang I-III. Text des Erstdrucks von 1748. Hrsg. mit einem Nachwort von Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 1986, S. 127. 616 Ebd., S. 128.
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schen konstatiert Klopstock lediglich, dass sich die Regeln zur Bestimmung von ‚Längen‘ und ‚Kürzen‘ im Griechischen nicht auf die deutsche Sprache anwenden lassen.⁶¹⁷ In seiner Abhandlung Vom deutschen Hexameter hingegen analysiert er sehr genau die metrischen Unterschiede vom quantitierenden Griechischen zum akzentuierenden Deutschen und versucht, eine eigene Terminologie für die metrischen Besonderheiten im deutschen Hexameter zu entwickeln. Klopstock kommt zum Schluss, dass sich deutsche Silben nicht quantitativ, sondern prosodisch voneinander unterscheiden: Die Länge entsteht durch Anhalten, und durch Anstrengung der Stimme, die hierbey nothwendig muss erhoben werden. Wenn wir sagen, dass die Länge den Ton habe, so meinen wir die Erhebung der Stimme.⁶¹⁸
Für Klopstock ist also die Tonhöhe das maßgebende Kriterium, um eine deutsche Silbe hinsichtlich ihrer metrischen Qualitäten zu bestimmen. Die deutschen und die griechischen ‚Längen‘ würden sich darin unterscheiden, dass es bei Ersteren um die „Anstrengung oder Erhebung der Stimme“⁶¹⁹ gehe, bei Letzteren um die Silbenzeit, also die Zeitspanne, in der eine Silbe ausgesprochen werde.⁶²⁰ Die von Klopstock verwendeten Bezeichnungen ‚Ton‘ oder ‚Erhebung der Stimme‘ entsprechen der in der heutigen Verslehre gebräuchlichen ‚Hebung‘. Klopstock unterscheidet in seinen Erläuterungen zwischen den Längen und Kürzen, die es nur im Griechischen gibt,⁶²¹ den Hebungen und Senkungen, die er im Deutschen findet, und dem Akzent, der sowohl auf langen wie auch kurzen Silben im Griechischen und, je nach inhaltlicher Betonung, auf Hebungen und Senkungen im Deutschen liegen kann.⁶²² Wie Klopstock bereits in seinem 1755 veröffentlichten Aufsatz Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen richtig bemerkt, machen sich die von ihm konstatierten Unterschiede in den Längen und Kürzen respektive Hebungen und Senkungen vor allem bemerkbar, wenn es um den in der antiken hexametrischen Dichtung oft anstelle des dreisilbigen Daktylus verwendeten, durch zwei lange Silben bestimmten Spondeus geht.
617 Vgl. ebd., S. 130. 618 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstocks sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften, nebst den übrigen bis jetzt noch ungesammelten Abhandlungen, Gedichten, Briefen etc. Hg. von August Lebrecht Back und A. R. Carl Spindler. Leipzig 1830, S. 117. 619 Ebd., S. 120. 620 Vgl. ebd. 621 „Die Griechen setzten den steigenden Accent auch auf kurze Sylben. Dieser Accent also, und unser Ton sind etwas ganz Verschiednes“ (ebd., S. 119). 622 Ebd., S. 102.
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Da sich im Deutschen auf Grund der nicht eindeutig bestimmbaren respektive fehlenden Längen und Kürzen nur schwer Spondeen bilden lassen, so Klopstocks Analyse, soll anstelle des Spondeus der Trochäus gewählt werden. Er verhelfe dem deutschen Hexameter zum benötigten Fluss und verleihe ihm Abwechslung: Wir haben Daktylen, wie die Griechen, und ob wir gleich wenige Spondeen haben; so verliert doch unser Hexameter dadurch, dass wir statt der Spondeen meistentheils Trochäen brauchen, so wenig, dass er vielmehr fliessender, durch die Trochäen, wird.⁶²³
Die Ersetzung des Spondeus durch den Trochäus im deutschen Hexameter ist eine metrische Innovation, die auf Klopstock zurückgeht. Wie bereits in den ersten, 1748 erschienen drei Gesängen des Messias ersichtlich wird, hat Klopstock diese selbsterteilte metrische Freiheit rege benutzt, um den Vers abwechslungsreich und dynamisch zu machen. Klopstock verwendet den Trochäus im ersten, zweiten, dritten oder vierten Versfuß, er weicht dabei aber nicht von der antiken Regel ab, der gemäß im fünften Versfuß immer der Daktylus stehen muss: Voll un | sterblicher | Kraft, in ver | klärter | Schönheit, ent | gegen.⁶²⁴ Hört mich, und | singt den | ewigen | Sohn durch ein | göttliches | Leben.⁶²⁵ Des ihm be | gegnenden | Volks; zwar | klang dort ihr | lautes Ho | sanna⁶²⁶ Nah an der | heiligen | Stadt, die sich | itzt durch | Blindheit ent | weihte⁶²⁷
In den eben zitierten Bespielen wird die von Klopstock konstatierte Schwierigkeit, ‚Längen‘ und ‚Kürzen‘ zu bestimmen, ersichtlich, können doch die in den letzten beiden Versen als Trochäus bezeichneten Versfüße auch als Spondeen gelten, wenn die Silben lang ausgesprochen werden. Wie wichtig für Klopstock die Verwendung des Trochäus ist, um die nötige Abwechslung und Vielfalt im Vers zu erreichen, zeigen seine Überarbeitungen an den ersten Gesängen. Die im Jahr 1748 erschienenen Verse weisen nur halb so viele Trochäen auf wie die letzte, vollständige von Klopstock überarbeitete Fassung von 1773, wie der Vergleich der Verse 18 bis 22 zeigt:
623 Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses (Anm. 615), S. 130. 624 HKA IV, 3, I, V.12. 625 HKA IV, 3, I, V.22. 626 HKA IV, 3, I, V.31. 627 HKA IV, 3, I, V.23.
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Sterbliche, | kennt ihr die | Ehre, die | euer Ge | schlechte ver | herrlicht, Da der | Schöpfer der | Welt, als Er | löser, auf | Erden ge | kommen: So hört | meinen Ge | sang, ihr be | sonders, ihr | wenigen | Edlen, Theure ge| sellige | Freunde des | liebens | würdigen | Mittlers, Ihr mit der | Zukunft des | grossen Ge | richts ver | trauliche | Seelen.⁶²⁸
Menschen, wenn | ihr die | Hoheit | kennt, die ihr | damals em | pfangen. Da der | Schöpfer der | Welt Ver | söhner | wurde; so | höret Meinen Ge | sang, und | ihr, vor | allen, ihr | wenigen | Edlen Teure, | herzliche | Freunde des | liebens | würdigen | Mittlers Ihr mit dem | kommenden | Weltge | richte ver | traulichen | Seelen.⁶²⁹
Klopstock betont die Vielfalt, die sich in der deutschen Sprache auf Grund ihrer spezifischen Merkmale bei der Wahl von verschiedenen Versfüßen ergibt. Für ihn ist der leidenschaftliche Ausdruck, der bei der Deklamation hörbar wird, am wichtigsten. Der deutschen Sprache, die sich nicht den festgelegten Regeln einer quantitierenden Metrik beugen muss, misst er viel mehr Potentialität zur Erregung von Leidenschaft zu.⁶³⁰ Aus dieser Tatsache lässt sich auch Klopstocks sehr freier Umgang mit dem Hexameter im Messias erklären. Klopstock geht es nicht darum, einem festgelegten metrischen Schema zu folgen. Vielmehr will er mit seinen Versen Dynamik, Affekt und Harmonie erreichen. Wie bereits erwähnt, bildete Klopstocks 1755 gedruckte Abhandlung zum Hexameter den Anfang einer Diskussion um das antike Versmaß, die von Herder in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Litteratur kritisch beurteilt und mit eigenen Überlegungen ergänzt wurde. Herder kommentiert im ersten seiner drei 1766 und 1767 erschienenen Fragmente Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend⁶³¹ die Eignung des Hexameters in der deutschen Sprache und kommt zum Schluss, dass es vor allem die prosodischen Merkmale des Deutschen sind, die bei der hexametrischen Versbildung Schwierigkeiten verursachen. Herder rühmt zwar vorerst Klopstocks Bemühungen um das antike Versmaß in der deutschen Sprache, wie jedoch seine späteren Erläuterungen zeigen, steht er dem deutschen Hexameter kritisch gegenüber. Ohne ausführlicher auf Klopstocks Reflexionen einzugehen, attestiert Herder dem Messias–Dichter eine große sprachliche Sensibilität, die es
628 HKA IV, 3, I, V.18–22, erste Ausgabe von 1748. 629 MA, I, V. 18–22, Ausgabe letzter Hand. 630 Vgl. Klopstock: Vom deutschen Hexameter (Anm. 618), S. 135. 631 Vgl. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. In: FA 1, S. 161–649.
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ihm möglich gemacht habe, unter Berücksichtigung der prosodischen Eigenarten des Deutschen in seiner Versbildung sehr nahe an die griechischen und römischen Vorbilder herangekommen zu sein.⁶³² Andere Autoren jedoch, insbesondere die Schweizer, seien davon ausgegangen, das hexametrische Metrum lasse sich beliebig anwenden und erzeuge unabhängig von der Sprache die poetische Erhabenheit der Epen Homers und Vergils: Nirgends ward er so sehr Mode, als in der Schweiz: sie sahen ihn vor so vollkommen an, ‚dass es nichts weiter bedörfe, als ihn zu gebrauchen, um sich der seltensten Wirkungen des Wohlklanges und des Poetischen Ausdrucks zu versichern.‘ Ein Gedicht in Hexametern folgte auf das andere. Noah und Jacob und Joseph und Rahel und Abraham und Telemach und Sündfluthen und Fragmente und Hymnen und Briefe, lebendige und todte – keinem Menschen kam es ein, ihn gegen den Hexameter der Alten recht zu prüfen.⁶³³
Was Herder an der hexametrischen Versdichtung am Exempel der aus der Schweiz respektive aus Zürich stammenden Epen kritisiert,⁶³⁴ ist die mechanische Anwendung des Hexameters als rein technisches Versmaß, dessen Versfüße unabhängig von den sprachlichen Eigenheiten eingesetzt werden. Dass insbesondere Bodmer in seinen verschiedenen Überarbeitungen der Noachide intensiv am Hexameter gefeilt hat und, wie dies von Mahlmann-Bauer gezeigt wurde, in seiner letzten Fassung bewusst inhaltliche Kriterien stärker gewichtete als prosodische Merkmale, hat Herder nicht zur Kenntnis genommen.⁶³⁵ Neben Klopstocks mit Lob bedachten Bemühungen um den deutschen Hexameter ist es in Herders Augen vor allem Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), der sich um die metrischen Besonderheiten der deutschen Sprache verdient gemacht hat.⁶³⁶ Für Herder ist Ramler „einer der Einsichtvollesten Kunstrichter Deutschlandes, dem – und dem fast allein – wir die feinsten Anmerkungen über den Wohlklang Deutscher Gedichte zu verdanken haben.“⁶³⁷ Wie Klopstock hat Ramler die griechische und römische
632 Vgl. ebd., S. 224. 633 Ebd. Zu den im Zitat angesprochenen Epen von Bodmer vgl. Anm. 478. 634 Zu den im Kreise Bodmers entstandenen Epen vgl. Kap. 4.1. 635 Zu Bodmers Bemühungen um gute hexametrische Verse mit einer ausführlichen Analyse der Veränderungen, die Bodmer in seinen verschiedenen Fassungen von der Noachide vorgenommen hat, vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide (Anm. 471), S. 240 f. 636 Später kam Herder aber von seiner Begeisterung für Ramler ab, vgl. dazu Barbara Mahlmann-Bauer: Herders Balde-Übertragungen und die Poetik der ‚Terpsichore‘. Eine Reaktion auf das Programm der ‚Horen‘ und auf Goethes ‚Römische Elegien‘. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. Hg. von Thorsten Burkard u. a. Regensburg 2006, S. 411. 637 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 226.
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Sprache im Vergleich mit der deutschen analysiert und kommt zum Schluss, dass es in Ersteren im Gegensatz zu Letzterer eindeutig bestimmbare ‚Längen‘ und ‚Kürzen‘ gebe, dank denen sich die metrischen Vorgaben des Hexameters erfüllen lassen würden.⁶³⁸ Im Deutschen hingegen gebe es sehr viele Wörter, insbesondere auch einsilbige, deren Silben sowohl als ‚Kürzen‘ wie ‚Längen‘ eingesetzt werden könnten, so dass es keine eindeutigen Daktylen gebe und der Spondeus mit einem Trochäus ersetzt werden müsse.⁶³⁹ Aus diesen Beobachtungen Ramlers folgert Herder, dass ein deutscher Vers „ohnmöglich eben derselbe Vers der Alten seyn kann, in dem jedes Sylbenmaas aufs genauste bestimmt war.“⁶⁴⁰ Dieses negativ konnotierte Urteil – wie noch zu zeigen sein wird, spricht sich Herder trotz des anfänglichen Lobes für Klopstock gegen die Verwendung des Hexameters im Deutschen aus – mag dafür verantwortlich sein, dass Klopstock immer wieder darauf aufmerksam machte, dass es sich beim antiken und beim deutschen Hexameter um zwei unterschiedliche Versmaße handelt. In seiner 1779 gedruckten Abhandlung weist er nachdrücklich darauf hin, dass es nicht darum gehe, den griechischen Hexameter ins Deutsche zu übertragen, sondern einen eigenen deutschen Hexameter zu entwickeln: „Ein völlig griechischer Hexameter im Deutschen ist ein Unding. Kein deutscher Dichter hat je solche Hexameter gemacht, oder machen wollen.“⁶⁴¹ Wo Klopstock also einen nach neuen Regeln bestimmten deutschen Hexameter einführt, handelt es sich für Ramler wie auch für Herder lediglich um eine dem Original nicht gerecht werdende Nachahmung. So zeichnet Klopstock den Trochäus, wie bereits eingehend erläutert, im deutschen Hexameter als Mittel für Abwechslung und Versfluss aus. Demgegenüber steht Ramlers und Herders Urteil, die beide der Meinung sind, dass das Ersetzen des Spondeus durch einen Trochäus dem deutschen Hexameter abträglich ist: Aus Mangel der Spondäen müssen wir oft Trochäen gebrauchen. Das Ohr verliert etwas dabei, und der Hexameter bekommt einen weniger männlichen Klang, wir müssen ihn also durch Trochäen so vollklingend zu machen suchen, als es möglich ist.⁶⁴²
Anders auch als Klopstock, der im neuen deutschen Hexameter nicht die Anpassung an die antike Vorlage sucht, sondern ihm metrische Freiheiten zugesteht, sind Ramlers Richtlinien zur Bildung des deutschen Hexameters an den antiken Vers angelehnt und daher viel strenger:
638 Vgl. ebd. 639 Vgl. ebd. 640 Ebd., S. 226 f. 641 Vgl. Klopstock: Vom deutschen Hexameter (Anm. 618), S. 117. 642 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 228.
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Folgendes sind also die allgemeinen Regeln des Deutschen Hexameters. Die Länge und Kürze muss nach dem Accente, der Aussprache gemäss, genau beobachtet werden; die Daktylen müssen insbesondere, so viel möglich, rein seyn; keine Endung muss einer andern, oder der Mitte des Verses allzusehr ähnlich seyn; kein Hexameter muss auf zweierlei Art können scandiret werden.⁶⁴³
Auf Ramlers Kritik folgt Herders eigene Meinung, die er mit den folgenden rhetorischen Fragen einleitet: Frägt man denn: können wir Hexameter machen? Nein! Wir haben ja schon gnug! Frägt man: können wir welche nach der Prosodie der Alten machen? Nein! […] Sondern ists unsrer Sprache natürlich, Hexameter zu machen? Und wie weit müssen wir Zwang grossen Zwecken aufopfern?⁶⁴⁴
Herder ging davon aus, dass die Regeln des antiken Hexameters die deutsche Sprache und somit die deutsche Dichtung verformt, sie ihrer Natürlichkeit beraubt. Der Hexameter respektive der darin bestimmende Daktylus entspreche nicht „der Natur der Sprache“⁶⁴⁵, so sein Urteil. Wie wichtig ihm diese nicht durch metrische Vorgaben in ihrem Fluss gebremste natürliche Sprache war, kommt in seiner Paraphrase der Johannes-Apokalypse zum Ausdruck, die er zuerst in Jamben, in späteren Fassungen in Prosa gedichtet hat.⁶⁴⁶ Um zu erklären, wie die „Natur der Sprache“ die Eignung zu einem Metrum bestimmt, geht Herder auf das Hebräische ein, das er mit dem Griechischen und mit dem Deutschen vergleicht. Die hebräische Sprache würde sich genau wie die Deutsche nicht zur Bildung des Hexameters eignen, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Auf Robert Lowth’ (1710–1787) diesbezügliche Analyse rekurrierend und die Entwicklung der jeweiligen Sprachen berücksichtigend, kommt Herder zur Überzeugung, dass das Hebräische in seinen Ausdrücken viel stärker von Emotionen geprägt ist, was sich in einer einfachen, natürlichen, sich nicht in das künstliche Versmaß des Hexameters passenden Satzstruktur und Wortwahl zeigt. Das Deutsche dagegen sei zwar weit entfernt von der Einfachheit des Hebräischen, was sich aber gleichsam nicht zu hexametrischer Dichtung eigne: Auf Grund ihrer vielen Flexionen und einsilbigen Begriffen bestehe die deutsche Sprache aus zu vielen zusammengesetzten Teilen, aus denen sich keine wohlklingenden Hexameter zusammenfügen lassen würden:
643 Ebd., S. 227. 644 Ebd., S. 229. 645 Ebd. 646 Vgl. Kap. 5.4.
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Nach Lowths Bemerkungen ist selbst die hebräische Sprache zu feurig und in ihren Formen zu einfach, als dass sie so einem abgemessenen Polymetrischen Numerus, als die Griechen nachher hatten, sich hätte bequemen können. Und trift nicht das Gegentheil auf unsere Sprache vielleicht? Viel zu volltönig und in ihren Formen zu zerstückt und zusammengesetzt, als dass sie sich dem Polymetrischen Numerus bequemen könnte. Jene und unsere enthalten beide Extreme; nur beide entfernen sich von der Mitte.⁶⁴⁷
Herders Meinung nach eignet sich die deutsche Sprache nicht zum daktylischen Vers. In der zweiten Auflage seiner Fragmente schreibt er: „Spondäen, Trochäen und Jamben wird jedes Naturgenie antreffen; Daktylen – wird es nur in Partizipien und wenig andern Wörtern finden; und zu den übrigen vielsylbigen Tritten sind unsre einsilbigen Wörter würklich zu unbestimmt, und Prosaisch.“⁶⁴⁸Aus dieser Bemerkung lässt sich erklären, wieso Herder bei seiner Paraphrase der Johannes-Offenbarung, die er in einer ersten Fassung jambisch gedichtet hatte, in den späteren Überarbeitungen zu Prosa wechselt.⁶⁴⁹ Herders Erläuterungen zum deutschen Hexameter, die er anhand von Ramlers diesbezüglichen Studien machte, gehen von denselben sprachanalytischen Beobachtungen aus, wie sie auch Klopstock vorgenommen hatte. Während Herder und Ramler sich aber daran abarbeiteten, die Möglichkeiten des deutschen Hexameters an den Regeln des antiken zu messen und zum Schluss kamen, dass sich die deutsche Sprache nicht für hexametrische Dichtung eigne, führte Klopstock neue Maßstäbe ein, denen gemäß er den Hexameter in der deutschen Dichtung gestaltete. Zu diesen gehörte der freie, der sprachlichen Melodie gehorchende Einsatz von Trochäen anstelle der Spondeen, der, so ist es Klopstocks in seiner Abhandlung von 1779 implizit vertretene Meinung, ihn zum Initianten eines neuen Verses machte. In seinem Aufsatz Vom deutschen Hexameter schreibt er über die Anfänge des deutschen hexametrischen Verses, die er nicht von ungefähr auf die Zeit datiert, in der er die ersten drei Gesänge des Messias veröffentlicht hat: Es sind etwa dreyssig Jahre, dass einige deutsche Dichter den Hexameter der Griechen, dessen Regel die Verbindung des Daktyls und des Spondeen, als künstlicher Füsse, ist, durch die Annahme des Trochäen zum neuen künstlichen Fusse, verändert, und in diesem Sylbenmasse geschrieben haben. Die Veränderung ist wesentlich. Denn sie setzt einen Hauptzug zur Bildung des Verses hinzu; und nicht nur das, sie will auch, dass dieser Haupt-
647 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 229. 648 Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe (1768). In: Werke. Hg. von Wolfgang Pross. Bd. 1: Herder und der Sturm und Drang. 1764–1774. München 1984, S. 99. 649 Vgl. Kap. 5.4.
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zug, der Trochäe nämlich, merklich öfter, als der Spondee, vorkomme. Unser Hexameter ist also nicht so wohl eine griechisch-deutsche Versart, sondern vielmehr eine deutsche.⁶⁵⁰
Zu den deutschen oder jedenfalls deutschsprachig schreibenden Dichtern, die Klopstock zu denjenigen zählt, die den neuen Vers in ihren Werken eingeführt haben, dürfte auch Bodmer gehören, der mit seinem 1752 erstmals erschienenen, immer wieder überarbeiteten Epos Der Noah den Beginn der von Herder konstatierten ‚schweizerischen Epenproduktion‘ machte. Bodmer übernahm von Klopstock die Ersetzung des Spondeus durch den Trochäus, war jedoch in späteren Fassungen wieder vermehrt darum bemüht, Spondeen einzusetzen, auch wenn sie nicht immer den prosodischen Vorgaben des Deutschen entsprachen.⁶⁵¹ Doch nicht nur für Bodmers eigene Epen, sondern auch für seine Homer-Übersetzungen war Klopstocks Abhandlung Vom deutschen Hexameter von Bedeutung.⁶⁵² Obschon der Aufsatz in den Fragmenten über Sprache und Dichtkunst (1779) veröffentlicht wurde und eine generelle Abhandlung über Klopstocks metrische Theorie sein sollte, war er vor allem auch ein wichtiger Beitrag in der Diskussion um die adäquate Übersetzung antiker Epen. So richtet sich der erste Teil von Klopstocks Abhandlung gegen Gegner des deutschen Hexameters, insbesondere gegen Bürger.⁶⁵³ Klopstock zitiert, ohne Autor oder Titel zu nennen, zehn Einwände aus Bürgers Schrift An einen Freund über seine teutsche Ilias, die 1776 in Wielands Teutschem Merkur⁶⁵⁴ veröffentlicht wurde.⁶⁵⁵ Auch Herder hat sich in seinen Fragmenten über die neue deutsche Literatur bereits mit der Frage beschäftigt, ob die antiken Epen hexametrisch übersetzt werden können, und dies entschieden verneint.⁶⁵⁶ Herder ging davon aus, dass Homer „in seiner Poetischen Sprache unnachahmlich“⁶⁵⁷ sei und darum nicht mit derselben metrischen Schönheit und Ausdruckskraft, wie sie das Original aufweist, übersetzt
650 Klopstock: Vom deutschen Hexameter (Anm. 618), S. 87. 651 Vgl. Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide (Anm. 471), S. 240 f. 652 Zu dem Wettstreit über eine adäquate Homer-Übersetzung, der in den 1770er Jahren ausgetragen wurde, vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Bodmers Homerübersetzung und die Homerbegeisterung der Jüngeren. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Zürcher Taschenbuch 2007, S. 478–511, hier S. 484–490. 653 Vgl. Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973, S. 47. 654 Der Teutsche Merkur. Weimar 1776, 4. Viertelj., S. 46–67. 655 Die drei anderen Zitate stammen von Albrecht von Haller (1708–1777), Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) und Johann Adolf Schlegel (1721–1793) (vgl. Hellmuth [Anm. 653], S. 47, S. 51). 656 Vgl. Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 201–203. 657 Ebd., S. 177.
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werden könne. Im Gegensatz dazu steht Bürgers Meinung, der dem deutschen Jambus dieselben poetischen Schönheiten wie dem antiken Hexameter beimisst und demzufolge keine Probleme darin sieht, antike Epen jambisch zu übersetzen. Nicht möglich und geradezu verwerflich sei es aber, wie Bürger polemisch in seiner Abhandlung erläutert, anstelle des Jambus den Hexameter zu verwenden.⁶⁵⁸ Dieser Ansicht widersprachen die nur zwei Jahre später fast gleichzeitig veröffentlichten hexametrischen Homer-Übersetzungen Johann Jakob Bodmers⁶⁵⁹ und Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs (1750–1819),⁶⁶⁰ denen 1781 die ebenfalls in Hexametern gedichtete Übersetzung Johann Heinrich Voss’ (1751–1826) folgte.⁶⁶¹ Wie stark sich Bürger für den Jambus einsetzt, wird aus den Zitaten deutlich, die Klopstock aus Bürgers An einen Freund über seine teutsche Iliade in seiner eigenen Abhandlung wiedergibt. Der Jambus sei „‚das einzige, wahre, ächte, natürliche, heroische Metrum unserer Sprache‘“⁶⁶², und das Verwenden der hexametrischen Verse sei lediglich eklektisch, getrieben vom Gedanken der Nachahmung: „‚Nichts als Nachahmungssucht, verdammte, Nachahmungssucht hat uns auch hier wieder von der Natur abgezogen, und gegen den Genius der Sprache empöret‘“⁶⁶³, so die Meinung Bürgers, die Klopstock zitiert. In einem sachlichen, im Kontrast zu Bürgers polemischen Äußerungen stehenden Stil erläutert Klopstock seine Einwände gegen den Jambus. Es könne zwar nicht abgestritten werden, dass es im Deutschen viele zweisilbige Wörter gebe, die sich hervorragend für das jambische Metrum eignen würden. In vielen Sätzen aber gebe es Wörter und Wortkonstruktionen – Klopstock nennt als Beispiele verschiedene Partizipien wie „wiedergegeben, untergegangen“ oder Satzkonstruktionen mit Präpositionen wie „neben, über den Bergen“⁶⁶⁴ –, die dazu führen würden, dass sich das jambische Metrum als Zwang erweise. Auch lasse sich im Jambus wie in allen
658 Bürgers Abhandlung entstand auf Wielands Bitte hin. Wieland befürwortete zuerst, wie Goethe, den antiken Hexameter mit dem Jambus zu ersetzen. Erst als Wieland und Goethe von Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Arbeit an einer hexametrischen Homer-Übersetzung erfuhren, distanzierten sie sich von Bürgers Meinung (vgl. Hellmuth [Anm. 653], S. 48). 659 Johann Jakob Bodmer: Homers Werke. Aus dem Griechischen übersetzt von dem Dichter der Noachide. 2 Bde. Zürich 1778. Vgl. dazu Mahlmann-Bauer: Bodmers Homerübersetzung (Anm. 652), S. 478. 660 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Homers Ilias, verdeutscht durch Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. 2 Bde. Flensburg und Leipzig 1778. 661 Johann Heinrich Voss: Homers Odyssee übersetzt von Johann Heinrich Voss. Hamburg, auf Kosten des Verfassers 1781. 662 Klopstock: Vom deutschen Hexameter (Anm. 618), S. 91. 663 Ebd., S. 91 f. 664 Ebd., S. 94.
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alternierenden Versmaßen wenig Abwechslung erreichen; der Vers sei monoton und müsse auf zu viele Wörter der deutschen Sprache verzichten: Und dieß ist denn doch wohl der höchste Grad der Unschicklichkeit einer Sprache zu einem Sylbenmasse, wenn sie um seinetwillen eine Menge solcher Wörter und Wortstellungen, als so viele Reichthümer, deren Gebrauch größtentheils so gar zur Leibes Nahrung und Nothdurst gehört, gleichsam im Kasten muss verrosten lassen.⁶⁶⁵
Wieder sind es die Merkmale der Dynamik, der Bewegung und der Leidenschaft, die Klopstock als Kriterien für einen guten Vers einführt und die der Jambus seiner Meinung nach nicht besitzt. Obschon Klopstock, wie zusammenfassend konstatiert werden kann, sich intensiv mit dem Hexameter auseinandergesetzt hat, ging es ihm nicht darum, eine Poetik zum Hexameter zu schreiben. Vielmehr waren seine Überlegungen von der Praxis des Dichtens her geleitet, er versuchte induktiv zu erschließen, nach welchen Kriterien der Hexameter in deutschen Versen zu verwenden war. Er wollte aufzeigen, dass der adäquat gebrauchte Hexameter auch in der deutschen Dichtung die Erhabenheit, die griechischen und römischen Epen eigen ist, bewirken konnte. Dadurch verteidigte er einerseits seine Wahl, den Messias in Hexametern zu dichten, und versuchte zugleich, seine eigenen Vorstellungen einer von harmonischem Rhythmus und Wohlklang geprägten Poesie zu veranschaulichen. Wie aus seinen 1755 und 1779 gedruckten Abhandlungen ersichtlich wurde, ging Klopstock bei seiner Theorie über den deutschen Hexameter vor allem von der Deklamation aus. Seiner Meinung nach bestimmte das Gehör, ob der Vers den Klang erreichte, den gute Poesie auszeichnete. Indem Klopstock die deutsche Prosodie zum Maßstab des Metrums machte und sich nicht an der quantitierenden Metrik der griechischen und römischen Sprache orientierte, hatte er einen Weg gefunden, die antiken Vorbilder zwar nachzuahmen, sich aber nicht an ihren auf die deutsche Sprache nur schwer übertragbaren Regeln abzuarbeiten.⁶⁶⁶ Er bediente sich zwar ihres Metrums, veränderte es aber seinen prosodischen und wirkungsästhetischen Vorgaben gemäß, die sich auf die harmonische, wohlklingende und Leidenschaft erzeugende Deklamation konzentrierten. Aus der Erkenntnis heraus, dass sich die deutsche Sprache in wesentlichen Punkten von der griechischen unterscheidet, verwarf Klopstock nicht wie Ramler und
665 Ebd. 666 Vgl. Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart/Weimar 2000, S. 63.
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Herder den deutschen Hexameter. Vielmehr schaffte er sich die Legitimation, die strengen Regeln des antiken Metrums über Bord zu werfen und in einem auf die deutsche Sprache zugeschnittenen Hexameter zu dichten. Somit hatte er sich neben den inhaltlichen, in dem Aufsatz Von der heiligen Poesie dargelegten Voraussetzungen auch die formalen Bedingungen erarbeitet, auf deren Grundlage er seinen Messias dichten konnte.
4.6 Soteriologie und Eschatologie im Messias Die folgenden Ausführungen gehen auf grundlegende gattungstheoretische und inhaltliche Besonderheiten von Klopstocks Messias ein. Der besondere Fokus richtet sich auf soteriologische und eschatologische Aspekte, die Klopstocks Verständnis der christlichen Heilsgeschichte illustrieren. Anhand konkreter Beispiele soll gezeigt werden, wie Klopstock die Erlösungstat Jesu Christi mit der Eschatologie, verstanden als Grundhoffnung auf die endgültige Erlösung beim Jüngsten Gericht, verbindet. Die umfangreiche Forschungsliteratur zum Messias, die ein breites Spektrum an poetologischen, theologischen, rhetorischen, gattungsspezifischen und kulturgeschichtlichen Untersuchungen abdeckt, wird nur dann erwähnt, wenn sich in ihrem Licht auch die hier zu erläuternden Aspekte zeigen. Wie in seiner Portenser Abschiedsrede ersichtlich wird, hat Klopstock seit seiner Schulzeit die Absicht verfolgt, ein Heldenepos zu verfassen, und sich dazu intensiv mit der Geschichte und der Gattung des Epos auseinandergesetzt. Sein Gattungsverständnis entsprach seiner klassisch-humanistischen Schulbildung und orientierte sich an den Epen der Antike. Die von Klopstock in seiner Portenser Rede aufgezählten Epen lassen sich denn auch mühelos dem klassischen Regelkanon unterwerfen, wie ihn die Poetik des Aristoteles beschreibt.⁶⁶⁷ Gemäß Klopstock hat Aristoteles die Regeln des Epos „nach der Natur und nach dem Homer, vorgeschrieben.“⁶⁶⁸ Mit dem auf die deutsche Sprache adaptierten Hexameter, in dem Klopstock seinen Messias dichtete, hat er zwar ein im Ursprung klassisches Versmaß gewählt, dieses aber seinen eigenen metrischen Vorstellungen gemäß umgeformt. Eine solche Umformung hat Klopstock nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht vorgenommen. Er hat sich zwar mit den poetischen Regeln zur Wahl und Darstellung des Inhalts eines Heldengedichts
667 Vgl. Aristoteles (Anm. 593), S. 79 ff. 668 Cramer (Anm. 483), S. 78.
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auseinandergesetzt und sie in einigen Aspekten auch befolgt. Daneben ist er aber bei der Ausgestaltung seines Epos eigene Wege gegangen, wie insbesondere in der Auflösung der Raum- und Zeitverhältnisse und in der Umformung des Handlungsbegriffs ersichtlich wird. Klopstock besingt in seinem zwanzig Gesänge umfassenden Epos Passion, Tod und Auferstehung Christi sowie dessen Rückkehr zum Vater. Der dadurch abgesteckte Handlungszeitraum beginnt zwischen Palmsonntag und Karfreitag und endet mit Christi Himmelfahrt, was gemäß dem Kirchenjahr etwas mehr als vierzig Tage ausmacht. Dies entspricht den aristotelischen Vorgaben, wonach das Epos einen überschaubaren Zeitraum umfassen soll.⁶⁶⁹ Dieser zeitliche Rahmen wird aber immer wieder gesprengt. In unzähligen Vor- und Rückblicken besingt Klopstock vergangene und künftige Ereignisse, die sich in beide zeitliche Richtungen nicht beschränken lassen. Die göttliche Ewigkeit ist die ‚Zeit‘, in der sich Klopstocks Epos abspielt. Dass es sich dabei nicht um Zeit handelt, die sich messen und einteilen lässt, zeigt Klopstock, indem es in seinem Werk keine verfolgbare und erkennbare Chronologie gibt. Gott umfasst die Vergangenheit wie auch die Zukunft in einem Augenblick, für ihn existiert nur die ewige Gegenwart. In dieser ewigen Gegenwart spielen sich die Ereignisse ab, Gott und mit ihm sein Sohn können sie sowohl als vergangen wie auch als zukünftig betrachten. So hat Jesus die Herrlichkeit, die er durch den Kreuztod erlebt, bereits bei der ‚Planung‘ der Erlösung ‚gesehen‘, die Ereignisse waren also seit jeher festgelegt und passieren nur scheinbar an einem bestimmten Zeitpunkt: Sie [die Tage der Erlösung] verklären sich mir so schön und herrlich, als damals, Da wir die Reihen der Zeiten durchschauten, und sie in der Zukunft, Durch mein göttliches Anschaun vorzüglich erblickten. Dir nur ist es bekannt, mit was für Einmuth wir damals, Du, mein Vater, und ich, und der Geist die Erlösung beschlossen. In der Stille der Ewigkeit, einsam, und ohne Geschöpfe, Waren wir beisammen. Voll unserer göttlichen Liebe.⁶⁷⁰
Doch nicht nur die hier zusammen mit dem Heiligen Geist trinitarisch dargestellte Einheit von Gott Vater und Gott Sohn kennt keinen Zeitbegriff. Auch die übrigen himmlischen Wesen verfügen über die Fähigkeit, die Zeit als ewigen Moment zu erfassen.⁶⁷¹ Zusätzlich brauchen sie für ihre Handlungen einen Zeitraum, der
669 „Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die angegebene: Man muss das Werk von Anfang bis Ende überblicken können“ (Aristoteles [Anm. 593], S. 81). 670 HKA IV, 3, I, V.86–92. 671 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 228.
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nicht nur die Zeit des menschlichen Lebens, sondern der Schöpfung überhaupt überschreitet. Der Engel Gabriel meditiert im sechsten Gesang während Jahrtausenden, um über das künftige Wunder der Auferstehung zu lernen.⁶⁷² Der oberste Engel Eloa kann zurückschauen in Ewigkeiten⁶⁷³ und wird Jahrtausende brauchen, um das Passionsgeschehen vollständig zu erfassen,⁶⁷⁴ trotzdem kennt er bereits die Namen der zukünftigen Christen, da sie in den Büchern des Lebens stehen.⁶⁷⁵ Mit der Auflösung der Zeit entgeht Klopstock dem Milton immer wieder gemachten Vorwurf, sein Werk sei theologisch nicht vertretbar, da es das Dogma der Trinität aufhebe. Milton versucht in Paradise Lost die Ewigkeit Gottes als zeitliche Einheit zu erfassen, die er zwar auch als unendlich beschreibt, die er aber gleichwohl in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilt. In der Bodmerschen Übersetzung, die Klopstock bereits als Schüler an der Portenser Fürstenschule gelesen hat, heißt es: „Die Zeit misst in der Ewigkeit selbst, in Absicht auf die Veränderung, alle Dinge, die eine Dauer haben, bey dem Gegenwärtigen, dem Vergangenen, und bei dem Künftigen ab.“⁶⁷⁶ So gibt es in Paradise Lost im Gegensatz zum Messias eine chronologisch ablaufende Zeit, in der alles einen Anfang und ein Ende hat. Die Schöpfung begann nach einer langen Ewigkeit,⁶⁷⁷ selbst der Messias wurde, nicht als Mensch, sondern als göttlicher Sohn an einem bestimmten Tag geschaffen, wie es im fünften Buch beschrieben ist: „Auf diesen Tag habe ich denjenigen gebohren, den ich für meinen einigen Sohn erkläre.“⁶⁷⁸ Demnach ist gemäß Milton die Existenz des Sohnes nicht ewig, sondern von Gott ausgehend. Da Ewigkeit aber ein Gottesattribut ist, verliert der Sohn einen Teil seiner Gottheit, was Konsequenzen hat für die Lehre von der Trinität, die als totale Einheit (in Verschiedenheit) von Vater, Sohn und Heiligem Geist verstanden wird. In Bezug auf die Ewigkeit Gottes, die der Sohn verliert, kann bei Milton deshalb nicht von einer Dreieinigkeit, sondern höchstens von einer Zweieinigkeit des Vaters und des Heiligen Geists gesprochen werden.⁶⁷⁹ Auch bei den örtlichen Begebenheiten hält sich Klopstock nicht durchgehend an die biblische Vorlage. Die Passionsgeschichte spielt sich an klar bestimmbaren Orten ab, zu ihnen gehören der Ölberg mit dem Garten Gethsemane, Jerusalem und Golgatha. Diese Örtlichkeiten werden im Messias zwar genannt und zum
672 Vgl. MA, VI, V.22. 673 Vgl. MA, V, V.37. 674 Vgl. MA, VII, V.22. 675 Vgl. HKA IV, 3, I, V.373. 676 Bodmer: Miltons episches Gedichte (Anm. 465), S. 235. 677 Vgl. ebd., S. 306. 678 Ebd., S. 237. 679 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 224 f.
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Teil so dargestellt, wie es im Neuen Testament beschrieben ist, darüber hinaus dienen sie aber auch als Handlungsorte für erdichtete Szenen. So ist zum Beispiel der Berg Tabor, auf dem Jesus seine Verklärung erlebt,⁶⁸⁰ auch der Ort, an dem Gott ihn zum Kreuztod verurteilt, wie noch ausführlicher gezeigt werden wird. Neben diesen irdischen, dem Neuen Testament entnommenen Lokalitäten spielt sich Klopstocks Epos aber vor allem in einem grenzenlosen, zwar an das kopernikanische Weltbild angelehnten, aber in seiner phantasievollen Ausgestaltung weit über es hinausgehenden Kosmos ab.⁶⁸¹ So gibt es neben den vielen Planeten und Sternen auch verschiedene Himmel, die als Wohnsitz der Engel dienen. Einer von ihnen, auf dem die irdischen Schutzengel wohnen, liegt im Innern der Erde und ist über eine Öffnung am Nordpol zu erreichen, so Klopstocks fantasievoller Einfall.⁶⁸² Zum Klopstockschen Universum gehört auch die Hölle, sie befindet sich irgendwo in unvorstellbarer Tiefe.⁶⁸³ Wichtig ist Klopstock zu zeigen, dass sich nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum ins Unendliche und darum für den Menschen Unfassbare ausdehnt.⁶⁸⁴ So legt Klopstock auch keinen Wert darauf, dass seine Handlungen an lokalisierbaren Orten stattfinden. Häufig kann der Leser nicht genau bestimmen, wo sich das Geschehene abspielt, da es entweder nicht genau beschrieben ist oder sich durch widersprüchliche Aussagen nicht eindeutig eruieren lässt. Wie bereits im Titel des Epos vorweggenommen, ist Jesus die Hauptfigur, also der Held in Klopstocks Werk. Ein von Jesus getragener Handlungsstrang, der sich chronologisch in den einzelnen Gesängen fortsetzt, gibt es aber im Messias nicht.⁶⁸⁵ Im Verhältnis zum zwanzig Gesänge umfassenden Gesamtumfang des Werks wird Jesus nur in einigen wenigen Episoden als aktiv Handelnder beschrieben. Die Ereignisse werden denn auch nicht als Handlungen im eigentlichen Sinn, sondern als Augenzeugenberichte, in denen neben biblischen Figuren auch gute und abgefallene Engel wie von Klopstock erfundene Personen zu Wort kommen, geschildert. In den Reden dieses unterschiedlichen Figurenarsenals und der daraus sich ergebenden Perspektivenvielfalt hat Klopstock ein Mittel gefunden, um das Geschehene in einer sich durch emphatische Emotionalität auszeich-
680 Mk. 9,2–13 par. 681 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 217. 682 Vgl. HKA IV, 3, I, V.587 ff. 683 Vgl. MA, X, V.150 f. 684 Wie Kaiser anhand von Beispielen zeigt, braucht Klopstock, um die Unendlichkeit des Raums zu veranschaulichen, häufig negierte Adjektive. Es gibt im ‚Messias‘ den „unermesslichen Raum“ (HKA IV, 3, I, V.234; HKA IV, 3, II, V.308, die „unendliche Leere“ (HKA IV, 3, II, V.253) etc. (vgl. Kaiser [Anm. 28], S. 217 f.). 685 Vgl. Martin (Anm. 29), S. 134.
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nenden Intensität zu vermitteln. Nicht die eigentliche Handlung steht dabei im Zentrum, sondern die von den Teilnehmenden empfundenen Affekte.⁶⁸⁶ Der Passionsgeschichte gemäß, welche die Grundstruktur des Messias bildet, entstehen diese Affekte vor allem in der Betrachtung des Leidens Jesu. Dieses wird in einer Dimension dargestellt, die weder für die Menschen noch für die Engel nachvollziehbar ist: Bald aber wird mich dein tödtend Gerichte Blutig entstellen, und unter den Staub der Todten begraben. Schon hör ich dich, du Richter der Welt, allein und von ferne Kommen, und unerbittlich in deinen Himmeln dahergehn. Schon durchdringt mich ein Schauer, dem ganzen Geistergeschlechte Unempfindbar; und wenn du sie auch im grimmigen Zorne Tödtetest, unempfindbar!⁶⁸⁷
Das Erdulden Jesu und das Mitfühlen der am Geschehen beteiligten Figuren ersetzen also eine eigentliche, aktive Handlung respektive beschreiben die Handlung als inneren Vorgang.⁶⁸⁸ Aus dieser Verinnerlichung des Handlungsbegriffs ergibt sich auch eine Umdeutung des ‚Tätigseins‘ oder der ‚Tat‘, die im herkömmlichen Sinn als Teil der Handlung verstanden wird, wie es im Grimmschen Wörterbuch steht: „die that ist im allgemeinen eine handlung (das thun sowohl als das gethane) und zwar eines wesens, das freien willen hat, sie ist das verwirklichte wort, der ausgeführte gedanke, plan, vorsatz, entschlusz oder rat.“⁶⁸⁹ Diese Erklärung des Begriffs ‚Tat‘ beinhaltet eindeutig die aktive Handlung. Zwar wird der innere Vorgang angesprochen, er ist aber der eigentlichen Tätigkeit vorgelagert und nicht Teil davon, erst seine aktive Verwirklichung wird als Tat verstanden. Klopstock interpretiert den Begriff anders, indem er die Aussage in einem gewissen Sinne umdreht. Für ihn ist der Entschluss zur Handlung wichtiger als die Handlung selbst. So schreibt Klopstock im Messias, dass „die Handlung nur sichtbarer Leib, die Absicht ihr Geist sey“⁶⁹⁰, und in der Versammlung der abtrünnigen Engel in der Hölle wird denn auch der Entschluss, den Messias zu töten, bereits als ‚That‘ bezeichnet:
686 Vgl. ebd., S. 132 sowie Kaiser (Anm. 28), S. 241. 687 HKA IV, 3, I, V.111–117. 688 Martin schreibt, dass Klopstock das Leid durch seine potenzierte Darstellung vom passiven Erdulden in aktives Erleben umwandelt und somit zu einer Form von Handeln macht (vgl. Martin [Anm. 29], S. 133 ff.). 689 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 11. Bd., S. 307. 690 MA, X, V.307.
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Ein entsetzliches Getöse von Stimmen. Die giengen vom Aufgang Bis zum Niedergang hin; der Satane ganze Versammlung Willigt darein, den Messias zu tödten. Dergleichen That sahe seit der Schöpfung der Ewigkeit nicht.⁶⁹¹
Klopstocks Tatbegriff umfasst eine weitere Spanne als nur die sichtbare, ausgeführte Handlung. Die Tat hat einen gedanklichen, in der Seele zu lokalisierenden Ursprung und ist demzufolge als psychischer Vorgang zu betrachten. Dieser wird von Klopstock bereits als Handlung verstanden und führt somit zu einer Verinnerlichung des gesamten Begriffs.⁶⁹² Daraus lässt sich erklären, dass Klopstocks Held nicht als passive Figur verstanden werden darf. Indem der Messias seine eigentliche Handlung, die Erlösung der Menschen, in einem zeitlich nicht definierten Moment, nämlich in der Ewigkeit, immer wieder plant und überdenkt und entschließt, ist er aktiv im Sinne des von Klopstocks so gedeuteten Tatbegriffs.⁶⁹³ Den Helden seines Epos, Jesus Christus, den Messias,⁶⁹⁴ gestaltet Klopstock so, wie es einerseits seiner Christologie, andererseits seinen dichtungstheoretischen, affektästhetischen Vorstellungen entspricht. Der wichtigste Aspekt von Klopstocks Christologie ist die Satisfaktion. Im Einklang mit der lutherischorthodoxen Theologie geht er davon aus, dass der Mensch nach dem Sündenfall nur durch Christi Tod am Kreuz mit Gott versöhnt werden kann. Anders als die neologische Theologie, die dem Kreuzestod und der damit verbundenen Versöhnung kaum mehr Beachtung schenkt, sondern den moralischen Aspekt der Unterweisung des irdischen Jesus betont, sieht Klopstock in der Satisfaktion die wichtigste Lehre der christlichen Religion, wie im Messias eindrücklich verdeutlicht wird.⁶⁹⁵ Der von Klopstock beschriebene Gott ist über die Sündhaftigkeit der Menschen erzürnt, er kann nur durch das Sühneopfer Christi versöhnt werden: „ […] Unendlich ist des Gerechtesten Zürnen! / Sohn! du hast dem unendlichen
691 HKA IV, 3, II, V.736–739. 692 Vgl. Martin (Anm. 29), S. 136. 693 Vgl. ebd., S. 137. 694 ‚Christus‘ (griechisch) resp. ‚Messias‘ (hebräisch) bedeutet ‚Der Gesalbte‘. 695 Zur Bedeutung, die Klopstock der Lehre von der Satisfaktion beimisst, vgl. Johann Anselm Steiger: Aufklärungskritische Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi und Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Christian Friedrich Daniel Schubarts. In: Pietismus und Neuzeit. Bd. 20. Göttingen 1994. Steiger geht davon aus, dass Klopstocks Christologie, insbesondere was die Satisfaktion betrifft, sehr stark an die lutherischorthodoxe Dogmatik angelehnt ist und dass er in der Dichtung ein Mittel gefunden hat, die von der Aufklärungstheologie aus der Kirche verdrängte orthodoxe Dogmatik in einer neuen Form zu vermitteln (vgl. Steiger, Aufklärungskritische Versöhnungslehre, S. 165 f.).
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Zorne dich unterworfen!“⁶⁹⁶ Der Betonung von Gottes Zorn entspricht die Betonung Jesu als Versöhner, die Klopstock im Messias immer wieder einbringt, wenn Jesus angesprochen wird: „Mein Versöhner! / Leite mich, mein Versöhner, und wenn ich strauchle, vergib mirs!“⁶⁹⁷, „Von dem Throne schaute, mit unverwendetem Antlitz, / Auf den göttlichen Sündenversöhner Jehova herunter.“⁶⁹⁸ Gottes Gnade in der Erlösungstat Christi ermöglicht, dass sich die Menschen Gott annähern und in ihrer stufenweisen Entwicklung versuchen, sich zur göttlichen Vollkommenheit emporzuheben.⁶⁹⁹ Damit ist neben der Erlösung die zweite wichtige Funktion umrissen, die der Messias zu erfüllen hat. Klopstocks Christologie entsprechend ist Jesus der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Nur über ihn sei es dem Menschen möglich, sich der göttlichen Vollkommenheit anzunähern. Dass der Mensch diese Annäherung anstrebt, erklärt Klopstock analog der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sehr verbreiteten Glückseligkeitslehre, die in der moralischen, durch die Religion geleiteten Vollkommenheit das höchste Ziel und Glück des Menschen erkennt.⁷⁰⁰ Auch bei Klopstock sehnt sich der Mensch nach Glück, das er nur durch die Annäherung an Gott erreicht: Gott, vollende dein Tun in deiner Erschaffnen! Erfülle Ihr entflammtes, immer empfundnes, frommes Verlangen Nach Glückseligkeit! Dir sich nahen ist ewige Wonne!⁷⁰¹
Anders aber als in den zeitgenössischen Glückseligkeitslehren, die den Menschen animierten, aktiv an einem moralisch guten, sündenfreien Leben zu arbeiten, geht Klopstock von einem passiven, nur durch Gottes Gnade erreichbaren Konzept aus. Der Mensch ist lediglich verlangend, sehnt sich nach der Annäherung zu Gott, seine einzige Aktivität besteht darin, dieses Verlangen in Form von Gebeten Gott darzulegen und auf seine Erfüllung zu hoffen. Wie stark der Mensch von Jesus Christus abhängig ist, um sich nicht nur Gott anzunähern und ‚ewige Wonne‘ zu verspüren, sondern in dieser Annäherung auch neu erschaffen zu werden, wird in den Worten des neben Jesus Gekreuzigten deutlich, dem Jesus der biblischen Vorlage gemäß das Paradies verspricht:⁷⁰²
696 MA, X, V.1018 f. 697 MA, X, V.11 f. 698 MA, X, V.22 f. 699 Vgl. Kohl: Klopstock (Anm. 666), S. 71. 700 Zu der Glückseligkeitslehre des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Kap. 2.1. 701 MA, X, V.209–212. 702 Lk. 23,42 f.; vgl. MA, VIII, V.321.
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[…] Itzo, da ich ich dem Tode Unterliege, da schuf er mich neu. So sei denn auf ewig Angebetet von mir, obwohl ich dich nicht begreife! Du bist göttlich, und mehr, mehr als der erste der Engel! Denn ein Engel konnte mich so von neuem nicht schaffen! Konnte meine Seele zu Gott so hoch nicht erheben!⁷⁰³
Die Neuerschaffung wird hier als Voraussetzung eingeführt, um sich in göttliche Höhen zu erheben. Die pietistische Reminiszenz, die dieser Konzeption zugrunde liegt, ist unübersehbar, braucht es doch, so ist es eine im Pietismus weit verbreitete Annahme, die durch inniges Gebet, Buße und Erkundung des eigenen Seelenlebens bewirkte ‚Wiedergeburt‘, um sich auf dem Weg hin zu Gott fortbewegen zu können. Klopstock war zwar kein Pietist, hat aber viele Kontakte zu Pietisten oder dem Pietismus nahestehenden Persönlichkeiten gepflegt, woraus sich schließen lässt, dass er zwar nicht deren Überzeugungen übernommen, sich in gewissen Bereichen aber von ihnen hat inspirieren lassen.⁷⁰⁴ Neben seinen Eigenschaften als Versöhner respektive Retter und als Vermittler zwischen Gott und den Menschen wird Jesus auch häufig als ‚Richter‘ beschrieben: „Aber es wandte der hohe Messias sein Antlitz, und sah ihn / An, mit der Miene des Weltgerichts.“⁷⁰⁵ Auch Gott wird immer wieder richtend dargestellt und damit auf das Jüngste Gericht verwiesen.⁷⁰⁶ In der Funktion des Richters verschränkt Klopstock Vater und Sohn und betont dadurch die Trinität als Subjekt des Heilsgeschehens: Gott ist Mensch geworden, um seine Schöpfung zu erlösen und über sie zu richten. Die häufige Nennung des Richtens zeigt aber auch, wie stark Klopstocks Messias von einem eschatologischen Grundzug geprägt ist. Das Richten findet jedoch nicht nur am Jüngsten Tag statt, es hat bereits Bedeutung beim Kreuzestod Jesu. Denn mit Gottes Gericht verbindet Klopstock eine zweifache Erlösung, die wiederum die zwei wichtigsten Ereignisse der christlichen Religion vereinigt: In seinem Tod am Kreuz trägt der Messias stellvertretend für die sündige Menschheit das Gericht des Vaters. Beim Jüngsten Gericht wird die Schöpfung gerichtet und endgültig vom Bösen befreit, so dass sie in einen Zustand der ewigen Erlösung übergehen kann; Satisfaktion und Eschatologie stehen für Klopstock also in engstem Zusam-
703 MA, VIII, V.338–342. 704 Zu Klopstock und seinem Verhältnis zum Pietismus vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 123–203. Kaiser grenzt zwar Klopstock von der Idee der Wiedergeburt ab, glaubt aber, in dessen ‚Gebet eines Christen‘ und in dem ‚Gebet eines Freigeistes‘ Reminiszenzen an pietistische Bekehrungsversuche nachweisen zu können (vgl. Kaiser [Anm. 28], S. 165 f.). 705 MA, V, V. 439 f. 706 vgl. z. B. MA, VIII, V.3; MA, IX, V.1; MA, X, V.618–620, V.741, V.836, V.990.
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menhang. Im Messias wird dieser Zusammenhang dadurch illustriert, dass Klopstock die Kreuzigung Jesu als Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts beschreibt. Wie Gott beim Ende der Welt über die Menschen und ihre Sünden richten wird, tut er dies bereits jetzt, wobei sein menschgewordener Sohn stellvertretend die Schuld der Menschen trägt und dadurch eine erste Erlösung herbeiführt. Immer wieder wird die Erhabenheit betont, die sich in dieser Opferung zeigt: „Sohn des Vaters! Wie groß musst du sein, dies Gericht zu ertragen!“⁷⁰⁷ Klopstock lässt Gott auf den Tabor hinunterkommen, um angesichts der Sünden der Menschen über seinen Sohn als Stellvertreter der Menschheit zu richten: Gott ging nach dem Tabor hinab, und schaute die Erd’ an Aus der Mitternacht, in die er einsam gehüllt war. Und er sah das Antlitz der Erde mit Götzenaltären, Sahs mit Sündern bedeckt; aus ihren weiten Gefilden Ausgebreitet den Tod, des Richters ewigen Zeugen!⁷⁰⁸
Die eben beschriebene Szene könnte das Weltgericht einleiten, sie beschreibt aber, wie bereits erwähnt, das Gericht über Jesu. Noch stärker vermischt Klopstock das Richten des Vaters über den Sohn mit dem Jüngsten Gericht, wenn er bei der himmlischen Verkündigung über den bevorstehenden Tod Jesu Bilder und Symbole aus der Johannes-Offenbarung verwendet: Und der Gesendete stand auf einer Mitternacht still, Schaute zum Ölberg nieder, erhub die Donnerposaune, Blies des Weltgerichts Entsetzen in die Posaune, Rufte gegen die Erd’, und sprach: bei dem furchtbaren Namen Des, der ewig ist, und seiner Gerechtigkeit Dauer Mit Unendlichkeit mass! Der hält die Schlüssel des Abgrunds, der mit strafendem Feuer die Hölle, den Tod mit Allmacht, Und mit Gericht bewaffnet: Ist einer unter den Himmeln, Welcher, statt des Menschengeschlechts! Im Gericht will erscheinen, Dieser komme vor Gott! So ruft Eloa vom Himmel.⁷⁰⁹
Die Gerichtsposaune, die der zur Verkündigung auserkorene Engel Eloa bläst, ist diejenige aus Apk. 11,15, die zum Weltgericht einläutet, und mit dem Schlüssel des Abgrunds aus Apk. 20,1–3 wird das neue Heil auf Erden angesprochen, das
707 MA, V, V.282. 708 MA, V, V.289–293. 709 MA, V, V.332–341.
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durch das Verschließen des Satans im Abgrund eintreten wird. Gott richtet zwar Jesus, spricht aber, wie es die apokalyptischen Bilder zeigen, in seinem Urteil zugleich auch die Menschheit an, die sich beim Jüngsten Gericht zu stellen hat. Der Richtspruch Gottes über seinen Sohn ist also eine Vorwegnahme des Richtspruchs über die Welt beim Jüngsten Gericht oder aber in diesem enthalten. Auch beim Gang von Jesus nach Golgatha und bei seinem Tod am Kreuz wird das letzte Gericht angesprochen. Unter dem Kreuz, das Jesus trägt, spürt er nicht nur die Last des bevorstehenden Todes, sondern auch diejenige des Weltgerichts, an der er schwerer trägt als am Kreuz.⁷¹⁰ Als Jesus stirbt, fühlt Satan die Macht, die vom Erlösungstod ausgeht und Jesus zum endgültigen Richter im Weltgericht machen wird: „[…] Seitdem der Gottversöhner am Kreuze / Blutete, fühlte die Hölle des Überwinders Gerichte!“⁷¹¹, und ängstlich fragt Satan: „[…] was vor ein neues Gericht ists, / Das mir drohet?“⁷¹² In dieser Furcht Satans tönt Klopstock an, was er seinem Epos als große christliche Hoffnung zugrunde legt: Der endgültiger Sieg des Guten über das Böse, der im Untergang Satans und in der Auferstehung der Gläubigen zum ewigen Leben ausgedrückt wird, ist die Hauptaussage von Klopstocks Messias und die ‚Heldentat‘ seines Protagonisten. Dieser Sieg wird mit dem Erlösungstod eingeleitet und findet im Jüngsten Gericht seine Vollendung. Doch noch bevor Klopstock diesen zweifachen Sieg und damit einhergehend die Auferstehung Christi und sein endgültiges Richten über die Welt schildert, fügt er eine Auferstehungsszene ein, die sich theologisch nur schwer interpretieren und einordnen lässt. Es handelt sich dabei um die ‚Auferweckung‘ einer Reihe biblischer und nichtbiblischer Figuren, die unmittelbar nach dem Kreuzestod Jesu und noch vor dessen eigener Auferstehung erfolgt. Im elften Gesang machen sich die Seelen der alttestamentlichen Urväter bereit, um auferweckt zu werden. Phantasievoll erzählt Klopstock, wie der Engel Gabriel die Seelen dazu aufruft, von der Sonne auf die Erde herabzusteigen, um dort in ihren Gräbern auf die Erweckung zu warten.⁷¹³ Die Urväter sind, so erläutert es Klopstock am Beispiel Adams, erstaunt über diesen Befehl, deuten ihn aber als besondere Ehre: Adam hatte sein Grab mit seinen Geliebten betreten. Also entriss er sich seinem Erstaunen: Ihr fühltet, ich sah es, Wie ich heiligen Schrecken empfand, als Gottes Befehl kam. Aber freut euch mit mir! Wir sind gewürdiget worden,
710 Vgl. MA, VIII, V.30 f. 711 MA, X, V.93 f. 712 MA, X, V.122 f. 713 Vgl. MA, XI, V.134–143.
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Diese Zeit, da im Tode des Göttlichen Leichnam schlummert, Mit dem Schlummern bis zu dem Grab’ erniedert zu werden.⁷¹⁴
Bevor Adam und die anderen alttestamentlichen Urväter erweckt werden, müssen sie im Grab die Erniedrigung nachempfinden, die der menschgewordene Gott erlebt, so stellt es Klopstock in Adams Worten dar. Die Kondeszendenz beginnt mit der Inkarnation Christi, geht weiter mit seinem Leid, seinem Tod und endet mit seinem Begräbnis. Indem Klopstock Adam und die anderen Urväter im Grab, in das sie sich begeben müssen, den Todesschlaf schlummern lässt, erleben sie die letzten zwei Stufen der Erniedrigung Christi. Die dabei empfundenen Gefühle spiegeln diejenigen, die Jesus selbst erlebt, und ergeben dadurch die bereits angesprochene Perspektivenvielfalt, die Klopstock immer dann verwendet, wenn er ein Geschehen besonders intensiv und bewegend darstellen will. Ob Klopstock bei der auf Mt. 27,52 f. beruhenden Einführung der Szene von den ersten Auferweckten die in der Apokalypse beschriebene erste Auferstehung⁷¹⁵ anspielt, lässt sich nur schwer beurteilen. Die Tatsache, dass es sich bei den ersten Auferstandenen um Adam und die Urväter, also um Juden, handelt, die aber, so stellt es Klopstock in seinem Messias dar, den Kreuzestod Jesu miterlebt haben und ihn als den verheißenen Messias anerkennen, entspricht der weit verbreiteten Meinung, das Millennium und die ihm vorangehende erste Auferstehung sei unter anderem zur Bekehrung der Juden gedacht.⁷¹⁶ Allerdings gibt es keine klaren Hinweise auf die biblische Vorlage und auch keine eindeutigen zeitlichen Bestimmungen, die auf ein Tausendjähriges Reich Christi, an dem die ersten Auferweckten teilnehmen, schließen lassen. Vielmehr beabsichtigt Klopstock bewusst, eine eindeutige Interpretation der ersten Auferstandenen zu verunmöglichen, wie die vielen Widersprüche und Unklarheiten zeigen, die sich aus seiner Erzählung ergeben. So geht zwar aus dem Geschehen – Jesus selbst ist noch nicht auferstanden – hervor, dass die Auferweckung an einem unbestimmten Zeitpunkt vor dem Jüngsten Gericht auf Erden passiert. Allerdings denkt Adam bei seiner bevorstehenden Auferweckung an das Ende der Welt, also an das Jüngste Gericht, und sowohl Satzkonstruktion wie auch der Gebrauch der Tempi verunmöglichen, die Ereignisse chronologisch zu ordnen: Und noch einer [Gedanke] entzückt mich: Ich werde jenen Gerichtstag, Wenn er, zum Eden die Erde nun umzuschaffen, herabkommt
714 MA, XI, V.184–189. 715 Apk. 20,4 f. 716 Zur Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert vgl. Kap. 5.1.
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Lavaters Modell: Klopstocks Messias in der Geschichte des christlichen Epos
Und ihr, meine Kinder, mit mir, wir werden vom Tode Hier erwachen! Erwachen bis hin an das Ende der Erde Alle, die liegen, und schlafen, zu Ewigkeiten erwachen.⁷¹⁷
Indem Klopstock die Auferweckung sowohl als dem Jüngsten Gericht vorangehend wie auch, in der Form von Adams Gedanke, als Teil davon deutet und somit eine eigentlich unmögliche Verschränkung von zwei verschiedenen Zeiten macht, verdeutlicht er, dass er weder die Bibel exakt nacherzählen noch sie exegetisch auslegen will. Wie bereits erläutert, geht es ihm darum, seine soteriologische und eschatologische Grundüberzeugung auszudrücken, der gemäß jegliche Auferstehung die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts ist. In der Erzählung über die Auferweckung Adams wird deutlich, wie sich Klopstock den postmortalen Zustand der Seele vorstellt. Die Seele werde nach ihrem Tod in einen ätherischen Lichtleib gehüllt, dieser vereine sich nun bei der Auferstehung mit dem ursprünglichen körperlichen Leib, so Klopstocks Schilderung.⁷¹⁸ Wie Adams Zustand vor der Auferweckung zeigt, warten die Seelen Klopstocks Meinung nach nicht, wie es in der lutherischen Orthodoxie gelehrt wird, in einem empfindungslosen, schlafähnlichen Zustand auf das Jüngste Gericht. Vielmehr haben sie einen durchsichtigen Leib, der ihnen geistgleiche Eigenschaften gibt. Eine ähnliche Beschreibung der Beschaffenheit der Seelen nach ihrem Tod findet sich in Lavaters Aussichten in die Ewigkeit. Für Lavater wird die graduelle Vervollkommnung, in der sich die menschliche Seele bereits im Diesseits Gott anzunähern versucht, im Jenseits fortgesetzt. Wie bei Klopstock erhalten die Seelen nach ihrem Tod einen ätherischen Lichtleib, der die sensitiven Eigenschaften des menschlichen Körpers besitzt, sie aber, was die Funktionalität der einzelnen Sinne anbelangt, bei weitem übertrifft.⁷¹⁹ Im Zuge der ersten großen Auferstehung, an der neben den alttestamentlichen Personen auch nichtbiblische, von Klopstock erfundene Figuren teilnehmen, wird der Gedanke an eine künftige Welt angesprochen. Im fünfzehnten Gesang wünscht sich der Sänger, einen Blick darauf erhalten zu können. Wie die folgenden Verse zeigen, ist seine Seele bereits mit Ahnungen und Erwartungen davon erfüllt und wird dadurch in affektive Bewegung versetzt:
717 MA, XI, V.192–196. 718 „[…]Es ward mit dem auferstehenden Leibe / Sein ätherischer Leib, der seit dem Tod’ ihn umhüllte, / Jetzo vereint“ (MA, XI, V.237–239). 719 Vgl. JCLW II, S. 90 f.
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Komm, die meine Seele mir oft mit sanfterer Wehmut, Und mir ihrer großen Erwartungen Schauer erfüllte, Komm, Betrachtung der künftigen Welt.⁷²⁰
Deutlich kommt hier das in der zeitgenössischen Unsterblichkeitslehre postulierte Streben nach einer in der zukünftigen Welt zu erreichenden, aber schon im Diesseits verspürten oder geahndeten Vollkommenheit zum Ausdruck. Was die Seele in der Zukunft erreichen kann, ahnt sie schon im Diesseits, so beschreibt es auch Lavater, und macht diese Empfindungen über das Jenseits zur Antriebskraft, sich bereits im Diesseits daraufhin auszurichten und zur Vollkommenheit zu streben.⁷²¹ Was genau Klopstock mit der ‚künftigen Welt‘ anspricht, kann nicht eindeutig bestimmt werden. „Die künftige Welt war / Auf der Erde, da das, wovon ich singe, geschahe“⁷²², so Klopstocks Angaben zur Lokalisation und zum Zeitpunkt. Hier werden wiederum Gedanken an das Millennium wach. Diese können aber nicht bestätigt werden, sondern verlieren ihre Plausibilität, wenn Klopstock als Einblick in die zukünftige Welt eine eng an die Apokalypse angelehnte Szene, die sich eindeutig im Himmel und nicht wie das Millennium auf Erden abspielt, beschreibt: […] Die Hundertundvierzigtausend, Alle Versöhnte! das Heer ohne Zahl am krystallenen Meere, Alle Versöhnte! Die Schar der Hundertundvierzigtausend Sangen, als sie der Himmlische sah, der bis ans Gericht blieb Über das Schautal, sangen das neue Lied vor dem Throne, Welches keiner zu lernen vermag. Sie waren Erkaufte Von der Erde, von keiner Liebe des Eiteln beflecktet, Folger des Lamms, wohin es auch ging, die Erstlinge Gottes, Und des Lamms, unsträflich vor Gott in Worten, und Taten!⁷²³
Mit dem Kristallmeer rekurriert Klopstock auf Apk. 15,2. Dort singen die Gerechten das Lied von Moses an einem gläsernen Meer. Die unbefleckten Erstlinge Gottes sind in Apk. 4,4–5 beschrieben, die Zahl der Gerechten in Apk. 14,1,3. Dass Klopstock die Zahl der Gerechten nicht dem biblischen Text entsprechend mit hundertvierundvierzigtausend wiedergibt, ist auf metrische Gründe zurückzuführen. In den eben zitierten Versen füllt das Zahlenwort „Hundertundvierzigtausend“ den fünften und sechsten Fuß des Hexameters. Trotz der Freiheiten, die
720 MA, XV, V.1–3. 721 Vgl. Kap. 2.2. 722 MA, XV, V.3 f. 723 MA, XV, V.9–17.
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sich Klopstock in seinem deutschen Hexameter nimmt, wenn es um prosodische Anpassungen geht, hält er sich strikt an die antike Vorlage, der gemäß im fünften Versfuß immer ein Daktylus verwendet werden muss. Mit „Hundertundvierzigtausend“ hat Klopstock einen Daktylus im fünften Fuß und kann seinen Hexameter mit einer weiblichen Endung abschließen. Die Zahl „Hundertvierundvierzigtausend“ lässt sich prosodisch gesehen nicht in einen Daktylus passen, und bei „Hundertundvierundvierzigtausend“ hätte Klopstock eine Hebung zu viel. Dass der Ausblick in die künftige Welt, obschon sich seine Beschreibung eng an die Johannes-Offenbarung anlehnt, keine eindeutige Interpretation zulässt, ist auf die bereits erläuterte Charakteristik der Erzählweise zurückzuführen. Klopstock lässt zwar immer wieder biblische Passagen einfließen, indem er diese aber nicht der biblischen Chronologie folgend erzählt und die biblischen Reminiszenzen keine eindeutigen Anhaltspunkte zur Deutung geben, nimmt er ihnen den Kontext, der zur Interpretation benutzt werden könnte. Im achtzehnten Gesang geht Klopstock ausführlich auf das Jüngste Gericht ein. Die Grundidee für diese Szene übernimmt er von Milton, ändert sie aber in einigen Komponenten. Wie aus einem Brief Klopstocks an Bodmer hervorgeht, hatte Klopstock schon von Anfang an geplant, eine Szene vom Weltgericht einzubauen:⁷²⁴ Das Weltgericht wird auf diese Weise in den M eingetragen. Adam ist mit unter den auferstehenden Heiligen. Der wird sich beim Messias sehr genau nach den Schicksalen seines Geschlechts erkundigen, u auf sein Anhalten ein Gesicht vom Weltgerichte sehen.⁷²⁵
Wie bei Milton verfällt Adam in paradiesischen Schlummer und hat eine Vision von der Zukunft. Klopstocks Adam ist aber in einer anderen Ausgangslage als derjenige in Paradise Lost. Bei Milton ist es tiefe Niedergeschlagenheit und Scham über die begangene Ursünde, die das Gemüt des ersten Menschen drückt. Um seine Verzweiflung zu lindern, unterweist der Erzengel Raphael ihn über die Erlösung, die der Kreuzestod Jesu bewirkt, und das letzte Gericht, das endgültig über das Böse richten wird.⁷²⁶ Bei Klopstock hat Adam bereits den Kreuzestod Jesu miterlebt und seine Bedeutung erkannt. Auch weiß er vom letzten Tag der Welt, der Gedanke daran hat ihn mit Freude erfüllt.⁷²⁷ Klopstocks Adam ist also bestens bekannt mit den neutestamentlichen Geschehnissen, mit der Erlösung und dem Heilsversprechen, er ist gewissermaßen, im Gegensatz zum jüdischen Adam Miltons, ‚christianisiert‘. Dementsprechend hat Klopstocks Szene vom
724 Zur Textgenese der Weltgerichtsszene vgl. HKA IV, 3, S. 309–314. 725 Klopstock an Bodmer, 2. Dez. 1748. In: HKA Briefe I, S. 30. 726 Vgl. Bodmer: Miltons episches Gedichte (Anm. 465), S. 564; vgl. auch Kap. 6.4. 727 Vgl. MA, XI, V.192.
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Weltgericht nicht den Zweck, Adams Gewissen zu beruhigen, sondern die eschatologische Dimension der Erlösungstat Christi zu betonen: Adam sank zu den Füssen des Mittlers nieder, und fleht’ ihm: Hab’ ich Gnade vor dir gefunden; so lass, o Messias, Einige Blicke mich thun in die Folgen deiner Erlösung. Adam, im Weltgericht vollend’ ich es Alles. Entferne Dich in jene Schatten der Cedern. Du sollst von der Tage Letztem dort der milderen Schimmer einige sehen.⁷²⁸
Auch in der Erzählstruktur- und situation unterscheidet sich Klopstock von Milton. Während bei Milton der Erzengel Raphael in einer Art Unterweisung die wichtigsten Begebenheiten von Christi Leben und Auferstehung sowie dem Jüngsten Gericht schildert, lässt Klopstock Adam aus seinem Schlummer erwachen und zu den Engeln und ersten Auferstandenen zurückkehren, die ihn erwartungsvoll über seine Vision befragen. Der Leser erfährt nun aber noch nicht, was Adam seinen Zuhörern erzählt. Vielmehr ist es der Sänger, der sich einbringt und beschreibt, wie er von den Visionen Adams Bericht bekam: Einst am Tage des Herrn, als auf der kommenden Dämmerung Flügel vor mir die einsamen freudigen Stunden vorbeyflohn, Und als ich forschete; kam die heilige Sionitinn Gegen mich her. So war mir noch nie die Prophetinn erschienen, So viel Ewigkeit hatt noch nie ihr Antlitz getragen! Und sie sang mir Adams Gesicht. Sie selber verstummte Oft, da sie sang. Die Wang glüht’ ihr, es stieg zusehends In die glühende Wang’ ihr schnelle Blässe. Die Lippe Rufte stammelnde Donner, und ernst her schaute das Auge, Fast entsank die Harfe der starrenden Hand, und die Krone Bebt’ um ihr fliegendes Haar. […].⁷²⁹
Das Stammeln, das Blasswerden und das Beben sind Affekte, die zum Erhabenen gehören, sie drücken die seelische Bewegung aus, die durch den Gesang ausgelöst wird. Die emotionale Situation der Sionitin gibt also bereits Anhaltspunkte über das zu Erwartende. Sowohl Adam wie auch die Sionitin und mit ihr der Sänger wissen noch vor dem Leser über die Ereignisse beim Weltgericht Bescheid, in ihrer Gemütsbewegung tönen sie deren Erhabenheit an. Es gibt also einen zweifachen Vorbericht, der die Spannung und Erwartung des Rezipienten
728 MA, XVIII, V.1–6. 729 MA, XVIII, V.15–25.
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steigert und ihm gleichzeitig Anhaltspunkte über den zu erwartenden Inhalt gibt. Die Szene vom Weltgericht stellt Klopstock in der Rede Adams dar. Er sei, so Adam, von einem Engel zu dem „Schaarenheere der auferstandenen Todten“⁷³⁰ geführt worden, in deren Mitte „der auf dem Throne sass, die Kinder Adams zu richten.“⁷³¹ Bei diesem Anblick empfindet Adam, „was die Unsterblichkeit sey!“⁷³² Klopstocks Adam wohnt dem Jüngsten Gericht nicht von Anfang an bei, „lange, so daucht’ es mich, dauerte schon die Zeit der Entscheidung; / Viele waren schon, als ich mich nahte, gerichtet.“⁷³³ Die zeitliche Ausdehnung der Ereignisse ist nicht eingegrenzt, sie wird als subjektive Empfindung Adams angegeben; er hat mehrmals den Eindruck, dass schon Jahre vergangen sind. Genauere Angaben lassen sich über den Ort des Geschehens finden. Der Gerichtsplatz befindet sich auf der Erde,⁷³⁴ die Seelen der Verstorbenen warten auf einer grenzenlos weiten Ebene auf ihr Urteil. Die Sonne, so Klopstocks Anspielung auf den baldigen Untergang der Welt, ist nicht mehr sichtbar, das einzige Licht am Schauplatz geht vom Thron des Richters aus, der in seinem sowohl schönen wie auch schrecklichen Glanz erstrahlt.⁷³⁵ Die Gerichtsszene stellt Klopstock in Form von unterschiedlichen Reden dar, in denen angeklagt, verteidigt und über das Urteil lamentiert, aber auch gelobt, gepriesen und gejubelt wird. In den Anklagen gegen die von Gott abgefallenen, sündhaften Seelen schimmert religiös-moralische Unterweisung durch. Immer wieder betont Klopstock den Götzendienst, den Abfall von Gott: „[…] Ihr bautet Euch selbst Glückseligkeiten, / Tempel Eurer Erfindung, auf schmeichelnder Ruhe gegründet, / Aber nicht auf der heiligen Pflicht.“⁷³⁶ Doch nicht nur den durch äußerlichen Götzendienst zum Ausdruck gebrachten Unglauben will Klopstock illustrieren. Es geht ihm auch darum zu zeigen, dass die innere, äußerlich nicht sichtbare Abkehr von Gott Sünde ist: „Wer sich selber nicht mehr entrann; und dennoch um Gnade / Zu dem erhabnen Versöhner nicht rief? Und dennoch zum Stolze / Wiederkehrte, zur eigenen Größe? Sich selber versöhnte?“⁷³⁷ Klopstock weist hier auf die Gefahr hin, die mit der neuen Eigenverantwortung, die der Mensch im Zuge der Aufklärung erhält, entsteht. Das zu starke
730 MA, XVIII, V.37. 731 MA, XVIII, V.41. 732 MA, XVIII, V.43. 733 MA, XVIII, V.53 f. 734 Vgl. MA, VIX, V.31. 735 Vgl. MA, XVIII, V.55–57. 736 MA, XIX, V.51–53. 737 MA, XIX, V.65–67.
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Vertrauen auf die eigene Perfektibilität entferne die Menschen von Gott und der Religion; die Erlösung aber geschehe einzig und allein durch Christus, wie spätestens beim Jüngsten Gericht ersichtlich werde. Dem zu stark auf seine eigene Größe vertrauenden Menschen stellt Klopstock den frommen Gläubigen gegenüber, der durch inniges Gebet sein Vertrauen auf Gott stärkt und bewahrt und zum ewigen Leben auserkoren wird: „Demut, mehr Menschlichkeit, heissre Gebete / Haben bis hin zu der Krone den Schritt der Sieger geleitet!“⁷³⁸ Die in den Anklagen gegen die Sünder dargestellten Vergehen erinnern an die Zustände der verschiedenen Gemeinden, an welche die apokalyptischen Sendschreiben gerichtet sind. Auch gibt es immer wieder Passagen, in denen Anspielungen auf die Johannes-Offenbarung vorkommen. So wird einer der Ältesten des himmlischen Thronrats aus Apk. 4,4 genannt,⁷³⁹ ein treuer Zeuge Christi erhält als Belohnung die Aussicht, in Anspielung auf Apk. 3,12 ein „goldner Pfeiler des Tempels, / Der ganz Allerheiligstes ist“⁷⁴⁰ zu werden. Das Buch des Lebens aus Apk. 20,12 wird genannt,⁷⁴¹ die Engel tragen Schalen, aus denen sie Blut, Tränen und Flammen gießen,⁷⁴² die an die Zornschalen aus Apk. 15,7 erinnern, in Anlehnung an Apk. 14,14–16 gibt es bei Klopstock die „Schnitter der Ernte“⁷⁴³, denen die Aufgabe zukommt, die begnadigten Seelen zum Gerichtsplatz zu führen. Auch eine Anspielung auf eines der Tiere aus Apk. 13 ist bei Klopstock zu finden, wenn in einer Rede diejenigen angeklagt werden, die sich von Gott abkehrten: […] allein ihr waret zu voll von euch selber, Vor dem Erhabenen euch zu neigen, vor welchem ihr Staub wart; Machtet euch elend genug, darin noch Grösse zu finden, Stifter des neuen Wahnes zu sein, und Führer der Menschen: Solltet ihr auch Unsterbliche lehren, das Tier zu vergöttern, Welches kaum Tage kroch!⁷⁴⁴
Diese verschiedenen Anspielungen auf die Apokalypse dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Klopstock seine Weltgerichtsszene in ein frei von ihm erfundenes Geschehen einbaut, dessen Hauptinhalt die bereits angesprochenen Reden der Gerichteten ist. Wichtiger, als auf die Bibel Bezug zu nehmen, ist Klopstock die theologische Botschaft, die er mit dem Jüngsten Gericht verkünden will.
738 MA, XIX, V.84 f. 739 Vgl. MA, XVIII, V.147–149. 740 MA, XVIII, V.382 f. 741 Vgl. MA, XVIII, V.433, V.748. 742 Vgl. MA, XVIII, V.65 f., V.568. 743 MA, XIX, V.14. 744 MA, XVIII, V.596–601.
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Im Jüngsten Gericht sieht Klopstock Ziel und Endzweck der christlichen Lehre, seinem Glauben gemäß muss alles darauf ausgerichtet sein, diese letzte Bewährung zu bestehen. Wie in den eben gezeigten Beispielen ersichtlich wurde, sind die biblischen Anspielungen und Verweise im Messias vielfältig und vom Dichter in eigener Konzeption gewählt. Sie erfolgen nicht in dem von der Bibel vorgegebenen Zusammenhang oder der darin enthaltenen Chronologie. Klopstocks Arbeitsweise entspricht seinem in der Abhandlung Von der Heiligen Poesie vorgegebenen Postulat des freien dichterischen Umgangs mit der Bibel. Er nimmt sich zwar ein biblisches Ereignis zur Vorlage, macht daraus aber eine eigene Handlung, in der er nicht nur außerbiblisches Personal auftreten lässt, sondern auch die Handlung in eine weit über die Quelle hinausgehende eigene Richtung bringt. In einer Art Montagetechnik führt er dabei biblische Szenen und Reminiszenzen ein, die sich nicht zwingend auf das als Ausganglage gewählte biblische Ereignis beziehen. Die in diesem ungewöhnlichen Kontext der eigenen Erdichtungen verwendeten Bibelparaphrasen sind theologisch oft schwierig zu deuten und werfen viele Fragen auf, was die zeitliche oder räumliche Logik anbelangt. Dies aber entspricht der Absicht, die der Autor seinem Werk zugrunde legt: Klopstock will seine Überzeugung von der christlichen Hauptbotschaft, die er in der Erlösung der Menschen sieht, verkünden. Der gesamte Messias ist darauf ausgelegt, in unterschiedlichen Facetten und Aspekten die Erlösungstat Christi und die in deren Folge zu erwartende Erlösung beim Jüngsten Gericht, die dem Menschen ewiges Leben verspricht, zu verdeutlichen. Dass diese Erlösungstat in einer Dimension stattfindet, die den menschlichen Verstand überschreitet, zeigt Klopstock in der Auflösung jeglicher Logik. Dazu gehört nicht nur der Zerfall der Zeit-Raum-Struktur, sondern auch die Auflösung respektive neue Zusammensetzung der Gliederung der biblischen Vorlage. Um die christliche Heilsbotschaft verstehen zu können, sind keine weltlichen Koordinaten, zu denen Zeit und Raum, aber auch die in diesem Koordinatensystem angesiedelte, vom Menschen verfasste Bibel gehören, ausreichend. Lediglich die affektive Bewegung, das seelische Nachempfinden, das die Ausschaltung jeglicher vom Verstand geleiteten Tätigkeit bedarf, vermag die Bedeutung der Heilsbotschaft zu erkennen und den gläubigen Christen auf seinem Weg hin zu Gott zu bestärken.
5 Herders Apokalypse-Nachdichtungen und deren Bedeutung für Lavaters erstes Messias-Epos In den 1770er Jahren verfasste Johann Gottfried Herder insgesamt sieben Manuskripte einer kommentierten Paraphrase der Apokalypse, deren letztes er 1779 mit dem Titel Maran Atha in den Druck gab. Obschon eines der Manuskripte und Maran Atha gedruckt vorliegen und Herder Letzteres als „Schwanengesang“⁷⁴⁵ und „Meisterstück“⁷⁴⁶ bezeichnete, wurde seine intensive Beschäftigung mit der Johannes-Offenbarung bis jetzt in der germanistischen und theologischen Forschung weitgehend übergangen. Eine ausführliche Analyse Herders Maran Atha und dessen Manuskript gebliebenen Vorstufen sollen Kontext und Bedeutung seiner Arbeit am letzten Buch des Neuen Testaments erläutern und dadurch eine für Herder bedeutende Station in Bezug auf seine theologische und poetologische Entwicklung beleuchten. Da Lavater das dritte Manuskript gekannt hat und es wichtige Impulse liefert für seine eigene Nachdichtung der Johannes-Offenbarung, steht es im Zentrum der textimmanenten Interpretation. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Apokalypse-Exegese ist unerlässlich, um Herders und auch Lavaters Verständnis der Johannes-Offenbarung im zeitgenössischen Kontext einordnen zu können. Sie geht darum den Kapiteln über Herders Bibelpoesie und seiner Nachdichtung der Apokalypse voraus. Wie viel Wert Herder der nach seinen poetischen, exegetischen und historischen Vorstellungen umgesetzten Bibeldichtung beimaß, kommt im Briefwechsel mit Lavater zum Ausdruck. Es wird zu zeigen sein, wie Herder sich differenziert mit Lavaters Werk auseinandersetzte und immer wieder versuchte, den Zürcher Freund von seinen Ansichten zu überzeugen. Die Reaktion Lavaters, die sich im Spektrum von Bewunderung für Herder, Bereitschaft, die Ratschläge anzunehmen bis hin zur Ablehnung und heftigen Kritik bewegten, liefern wichtige Hinweise zu Motivation und Absicht von Lavaters eigener Apokalypse-Nachdichtung.
5.1 Die Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert Die vielen Aufsätze und Abhandlungen über die Apokalypse zeigen, dass das letzte Buch des Neuen Testaments auch im achtzehnten Jahrhundert noch im Brennpunkt theologischen Interessens stand und Herder und Lavater mit ihren
745 Herder an Hartknoch, 6. Mai 1779. In: WA Bd. 4, S. 88. 746 Herder an Hartknoch, 10. Okt. 1779. In: ebd., S. 103.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Dichtungen in eine Diskussion um die Exegese der Johannes-Offenbarung eingriffen, die auf eine lange Vergangenheit zurücksah. Im Fokus der Beschäftigung mit dem letzten Buch des Neuen Testaments stand seit dem ersten Jahrhundert der christlichen Kirche die Frage nach der Verfasserschaft, die auch den Exegeten des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht beantwortet war. Die Identifikation des Sehers Johannes, der seine Offenbarung auf Patmos erhalten hat, war deshalb von Bedeutung, weil sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Kanonizität der Apokalypse hatte. Nur eine apostolische Verfasserschaft legitimierte in den Augen der Exegeten von der Frühzeit bis ins achtzehnte Jahrhundert die kanonische Zugehörigkeit. Unter dem Begriff ‚Kanon‘ (griech: Messlatte, Richtschnur) wird eine normative Auswahl und Sammlung von als heilig oder inspiriert betrachteten Schriften bezeichnet, die autoritative Geltung besitzt. Ab der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts trat der Begriff ‚Kanon‘ für die von der Kirche anerkannten heiligen Schriften auf.⁷⁴⁷ Obschon der jüdische Kanon im ersten Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war, anerkannten die Christen und mit Sicherheit Jesus die alttestamentlichen Schriften als absolute Autorität. Die neutestamentlichen Schriften, die um das Jahr 200 zur Bibel zusammenwuchsen, stützten sich auf die von Jesus interpretierten alttestamentlichen Texte. Die Kanonbildung war im vierten Jahrhundert größtenteils abgeschlossen, Unsicherheiten gab es nur bei der Apokalypse und dem Hebräerbrief.⁷⁴⁸ Neben der Identifikation des Verfassers der Apokalypse und damit zusammenhängend der Frage nach der Kanonizität dieser letzten Schrift des Neuen Testaments war mit dem Zeitpunkt ihrer Niederschrift eine weitere Frage offen, über die sich die Exegeten durch die Jahrhunderte hindurch Gedanken machten und zu unterschiedlichen Resultaten kamen. Mit diesen Fragen, über deren Antworten in der aktuellen Bibelexegese weitgehend Konsens herrscht – beim Verfasser handelt es sich nicht um den Evangelisten Johannes, sondern um einen in den frühen christlichen Gemeinden Kleinasiens hoch angesehenen und respektierten Theologen;⁷⁴⁹ der Zeitpunkt der Nieder-
747 Vgl. TRE Bd. XVII, S. 562. 748 Vgl. RGG Bd. 4, S. 767–769. 749 Vgl. Ingo Broer in Verbindung mit Hans-Ulrich Weidemann: Einleitung in das Neue Testament. 3. völlig überarbeitete Auflage. Würzburg 2010, S. 676; Jörg Frey, James A. Kelhoffer, Franz Tóth (Hg.): Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption. Tübingen 2012, S. 4 f.; Traugott Holtz: Die Offenbarung des Johannes. Übersetzt und erklärt von Traugott Holtz. Hg. von Karl-Wilhelm Niebuhr. Göttingen 2008, S. 7; Eduard Lohse: Die Offenbarung des Johannes. 10. Auflage. 3., neubearbeitete Auflage dieser Fassung. Göttingen 1971, S. 6; Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.): Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung. 4., durchgesehene Auflage. Göttingen 2011, S. 357 sowie RGG Bd. 4, S. 541.
Die Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert
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schrift wird auf das Ende der Regierungszeit Domitians, also 95 oder 96 nach Christus, festgelegt⁷⁵⁰ – ist das Feld beschrieben, auf dem sich die Exegeten durch die Jahrhunderte hindurch bis in Herders und Lavaters Zeit bewegten. Im Zuge der sich entwickelnden historisch-kritischen Bibelexegese hatten die Ausleger des achtzehnten Jahrhunderts aber im Gegensatz zu ihren Vorgängern ein neues Werkzeug zur Hand, um dieses Feld bearbeiten zu können. Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Apokalypse-Exegese wird zeigen, auf welche Forschung die historisch und philologisch arbeitenden Exegeten im achtzehnten Jahrhundert zurückgreifen konnten. Wie bereits erwähnt, beschäftigten sich schon die Ausleger der alten Kirche mit der Frage nach der Identität des Autors und damit zusammenhängend mit der Rechtfertigung, die Johannes-Offenbarung als dem biblischen Kanon zugehörig festzulegen. Neben der verbreiteten Annahme, beim sich als Verfasser nennenden Johannes handle es sich um den Sohn des Zebedäus, dem das Johannes-Evangelium und die Johannes-Briefe zugeschrieben werden, ließen andere Theorien, die von einem nichtapostolischen Verfasser ausgingen, gerechtfertigte Zweifel an der Kanonizität des letzten Buchs des Neuen Testaments aufkommen. Eine dieser Theorien stammte vom römischen Presbyter Gajus (um 210). In einem durch Euseb (260/64–339/40) überlieferten, um 200 geschriebenen Traktat macht Gajus auf den Gnostiker Kerinth aufmerksam. Dieser habe Visionen aufgeschrieben, von denen er behauptete, sie seien ihm durch einen göttlichen Engel offenbar geworden. Es gehe darin um ein zukünftiges Reich Christi auf Erden mit einem neuen Jerusalem, das in diesem Reich zur Blüte kommen solle. Es sei also durchaus möglich, so Gajus, dass es sich beim letzten Buch des Neuen Testaments um eine von Kerinth vorgetäuschte, d. h. erfundene Vision handle, die dieser aber dem Apostel Johannes zuzuschreiben versucht hätte, um mehr Glaubwürdigkeit zu erlangen.⁷⁵¹ Die Annahme, der Gnostiker Kerinth habe die Apokalypse verfasst und sie absichtlich Johannes in den Mund gelegt, um Anhänger für seine theologische Überzeugung zu gewinnen, ist auf dem Hintergrund der ChiliasmusDiskussion⁷⁵² in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche zu betrachten. Die Vertreter des Urchristentums, die nicht an die Lehre vom Tausendjährigen
750 Vgl. Broer (Anm. 749), S. 682; Holtz (Anm. 749), S. 9; Niebuhr (Anm. 749), S. 361 f. sowie RGG Bd. 4., S. 542. Diese Eindeutigkeit der Datierung wird aber in der neusten Forschung wieder in Frage gestellt und unterschiedlich beurteilt (vgl. Frey [Anm. 749], S. 8 f.). 751 Vgl. Georg Kretschmar: Die Offenbarung des Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend. Stuttgart 1985, S. 71. 752 Zum Chiliasmus vgl. RGG Bd. 2, S. 136–142.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Reich Christi auf Erden glaubten, standen der Kanonizität der Apokalypse kritisch gegenüber und sahen in ihr eine jüdische oder eben durch Kerinth erfundene Irrlehre.⁷⁵³ Zu ihnen gehörte Dionysius von Alexandrien († 264/65), der die identische Verfasserschaft von Apokalypse und Johannes-Evangelium und -Briefen in Frage stellte.⁷⁵⁴ Allerdings nennt er nicht mehr Kerinth als möglichen Verfasser, sondern einen Johannes genannten Presbyter, dessen Grab ebenfalls in Ephesus gefunden worden sei. Dionysius begründet seine These der ungleichen Verfasserschaft mit inhaltlichen und stilistischen Kriterien. Die theologischen Begriffe, die in der Apokalypse gebraucht werden, würden sich von denjenigen des Evangeliums und der Briefe in ihren Aussagen und Gehalten unterscheiden, große Differenzen seien auch bei der Verwendung alttestamentlicher Bilder zu beobachten, die im Evangelium und in den Briefen nur selten, in der Apokalypse aber in einer Vielzahl anzutreffen seien.⁷⁵⁵ Auch bemerkt Dionysius, dass sich das Griechische der Johannes-Offenbarung in wesentlichen Aspekten von demjenigen des vierten Evangeliums und der Johannes-Briefe unterscheidet. Während Letztere gemäß der Analyse von Dionysius in einwandfreiem Griechisch verfasst seien, fänden sich in der Apokalypse viele grammatische Fehler, daneben sei eine Vielzahl ‚barbarischer‘ und vulgärer Ausdrücke anzutreffen.⁷⁵⁶ In der frühen Neuzeit war Martin Luthers (1483–1546) Auslegung der Apokalypse sowohl für seine Zeitgenossen wie auch für nachfolgende Exegeten von großer Bedeutung. Seine 1530 verfasste Vorrede der Johannes-Offenbarung fand bis ins achtzehnte Jahrhundert Beachtung. Luther tat sich schwer, das letzte Buch des Neuen Testaments zu erläutern, weil er an dessen Kanonizität zweifelte. In seiner ersten Vorrede zur Apokalypse aus dem Jahr 1522 gibt er unumwunden zu, dass er die Apokalypse „weder für apostolisch noch prophetisch“⁷⁵⁷ hält und ihm darum auch nichts an einer Exegese liegt. Dieses negative Urteil revidiert er in der zweiten Vorrede, und obschon er auch darin die nicht eindeutig festzustellende Verfasserschaft als problematische Voraussetzung der Exegese konstatiert, bemüht er sich um ein differenzierteres Bild. Bei seinen immer noch bestehenden Zweifeln über die Kanonizität stützt sich Luther auf Euseb, dessen Kirchengeschichte vermöge keinen Aufschluss über die Verfasserschaft zu geben, so dass nicht mit Sicherheit von einer apostolischen Herkunft ausgegangen werden
753 Vgl. ebd., S. 138. 754 Vgl. Lohse: Offenbarung (Anm. 749), S. 4. 755 Vgl. ebd., S. 5. 756 Vgl. ebd. 757 Heinrich Bornkamm (Hg.): Luthers Vorreden zur Bibel. 3. Aufl. Göttingen 1989, S. 218.
Die Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert
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könne.⁷⁵⁸ Damit die Johannes-Offenbarung trotzt dieser Unklarheiten „zu irem nutz und frucht komen“⁷⁵⁹ kann, versucht Luther eine in seinen Augen einleuchtende Deutung zu geben. Seiner Meinung nach sind die von Johannes prophezeiten Ereignisse mit Hilfe der Kirchengeschichte zu deuten: Wie es sol eine Offenbarung sein künfftiger Geschicht / und sonderlich künfftiger Trübsaln / und Unfal der Christenheit / Achten wir / das sollte der neheste und gewisseste griff sein / die Auslegung zu finden / So man die ergangen Geschicht und unfelle in der Christenheit bisher ergangen / aus den Historien neme / und dieselbigen gegen diese Bilde hielte / und also auff die wort verglieche.⁷⁶⁰
In Luthers Auslegung beziehen sich die in der Apokalypse beschriebenen Ereignisse vor allem auf die durch die Reformation ausgelöste Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, was der während der Konfessionalisierungszeit weit verbreiteten Naherwartung entsprach. Wie eindrücklich am Beispiel der Flugschriftenpublizistik aus der besagten Zeit ersichtlich wird, ist der Glaube an das bevorstehende Ende der Welt ein omnipräsentes, vor allem auch von den Anhängern Luthers verbreitetes Phänomen.⁷⁶¹ Luther applizierte die apokalyptischen Symbole auf die bereits vergangene und auf die gegenwärtige Zeit, was zeigt, dass auch seine eschatologischen Vorstellungen von der Naherwartung geprägt waren. So setzte er die in den Visionen des Johannes in verschiedener Gestalt auftretende, die Gottheit bedrohende Weltmacht mit der Katholischen Kirche und dem Papsttum gleich.⁷⁶² Der Engel aus Apk. 10,1 ist „das heilige Bapstum mit seinem großen geistlichen schein / Die messen und fassen den Tempel mit jren Gesetzen / stossen den Chor hin aus / und richten eine Larvenkirche oder eusserliche Heiligkeit an.“⁷⁶³ Im dreizehnten Kapitel sei die Verbindung der katho-
758 Vgl. Martin Luther: Biblia: Das ist: Die gantze heilige Schrift / Deutsch / Auffs new zugericht. D. Mart. Luth. Begnadet mit kurfürstlicher zu Sachsen Freiheit. Gedruckt zu Wittemberg / Durch Hans Lufft. 1545, S. CCCXVr. 759 Vgl. ebd., S. CCCXCVr. 760 Ebd., S. CCCXCVr. 761 Zu der in den Flugschriften des sechzehnten Jahrhunderts verbreiteten Apokalyptik vgl. Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil der apokalyptischen Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999. Dass die als Apokalyptik bezeichnete Erwartung vom unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt vor allem im Luthertum verbreitet war, zeigt sich an den von Leppin bibliographierten Flugschriften, deren Zahl sich auf 112 lutherische, neun katholische und vier bis fünf reformierte beläuft (vgl. Leppin, Antichrist, S. 45 f.). 762 Vgl. Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007, S. 85 f. sowie TRE Bd. 3, S. 280. 763 Luther (Anm. 758), S. CCCXCVIr.
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lischen Kirche mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ausgedrückt, die zwei Tiere würden das Kaisertum und das Papsttum darstellen, die Stärke von Letzterem werde ersichtlich dadurch, dass „der Bapst beide geistliche und weltliche Schwert in siner macht habe.“⁷⁶⁴ Der mit seiner Auslegung beabsichtigte Nutzen der Apokalypse sieht Luther in der Tröstung, die in der Gewissheit des endgültigen Siegs der Christen besteht: So sollen wir nicht zweifeln / Christus sey bey und und mit uns / wens gleich auffs ergeste gehet / Wie wir hie sehen in diesem Buch / das Christus durch und uber alle Plagen / Thiere / böse Engel / dennoch bey und mit seinen Heiligen ist / und endlich obligt.⁷⁶⁵
Daneben sei die Apokalypse aber auch eine Warnung für diejenigen, und hier spricht Luther wohl sein noch 1522 geäußertes kritisches Urteil an, die der biblischen Wahrheit nur mit der Vernunft auf die Spur kommen wollen. Die Offenbarung lehre, dass die christliche Botschaft mitunter den menschlichen Verstand übersteige und in ihrer Deutung nicht immer eindeutig sei.⁷⁶⁶ Luthers Unsicherheit bei der Exegese der Johannes-Offenbarung war auch im achtzehnten Jahrhundert noch präsent; immer wieder wurde auf den Reformator verwiesen, wenn die eigene Unfähigkeit einer sinngebenden Auslegung oder das Unvermögen, ein abschließendes Urteil über die Kanonizität zu geben, eingestanden werden mussten.⁷⁶⁷ Mit der historisch-kritischen Bibelexegese entwickelte sich aber im achtzehnten Jahrhundert ein neuer Ansatz, um die Apokalypse sowie die anderen biblischen Texte zu beurteilen. Wie die übrigen altund neutestamentlichen Bücher wurde auch die Johannes-Offenbarung textkritischen Untersuchungen unterzogen, mit Hilfe philologischer Studien sollten die Visionen in den Kontext der Ausbreitung des Christentums und den benachbarten älteren Religionskulturen eingebettet und erklärt werden. Die Vertreter der historisch-kritischen Bibelexegese versuchten, das Zeitgeschehen miteinzubeziehen, um tatsächliche Wahrheiten von kulturbestimmten und -diktierten Aussagen zu unterschieden und somit die Religion respektive ihre Dogmen von historischem Ballast zu befreien. Im Folgenden sollen anhand der Studien von Johann David Michaelis, der mit seinen philologischen Arbeiten mitverantwortlich für die Entwicklung der historisch-kritischen Exegese war, und anhand des Werks von Johann Salomo Semler, der als Begründer dieses Ansatzes in der Bibelausle-
764 Ebd. 765 Ebd., S. CCCXCVIIr. 766 Vgl. ebd. 767 Vgl. hierzu die nachfolgenden Erläuterungen zur Apokalypse-Exegese von Michaelis und Semler.
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gung gilt, die Diskussion um die Apokalypse im achtzehnten Jahrhundert vorgestellt werden. Im Jahr 1750 verfasste Michaelis seine 1765/66 erheblich erweiterte und bis 1788 immer wieder neu aufgelegte Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes,⁷⁶⁸ in der er sich umfangreich mit der Philologie und der Exegese des Neuen Testaments beschäftigte. Auch die Apokalypse wurde einer kritischen Untersuchung unterzogen, die Diskussion um deren Kanonizität stand dabei im Vordergrund. Michaelis hält in seiner Einleitung fest, dass die für die Apokalypse zentralen Fragen wie die Identität des Verfassers oder das genaue Datum ihrer Abfassung erst beantwortet werden können, wenn die Kanonizität eindeutig geklärt ist.⁷⁶⁹ Michaelis muss aber eingestehen, dass er nicht in der Lage ist, ein eindeutiges Urteil darüber abzugeben, und entschuldigt sein Unvermögen mit der Referenz auf Luther, der in seiner Vorrede von 1530 die Zweifel über die Kanonizität auch nicht habe ausräumen können.⁷⁷⁰ Um verschiedene Argumente pro und contra die Kanonizität aufzulisten, geht Michaelis auf die Geschichte der Apokalypse ein. Als Kritiker der Johannes-Offenbarung nennt er Euseb, der trotz seiner exakten kirchengeschichtlichen Recherche keine eindeutigen Fakten gefunden habe, welche die Apokalypse zweifelsfrei als dem Kanon zugehörig ausweisen würden.⁷⁷¹ Neben den Zeugnissen der Kirchenväter gebe es aber noch eine andere Möglichkeit, um sich Aufschluss über die Kanonizität eines Buches zu verschaffen. Bei einem Buch, das Prophezeiungen enthalte, die auf ihre Göttlichkeit und damit verbunden auf ihre eindeutige Zugehörigkeit zum biblischen Kanon zu untersuchen seien, könne die Kirchengeschichte Auskunft geben: „Denn man darf fragen: sind die Weissagungen erfüllet, oder nicht?“⁷⁷² Das größte Problem in der Geschichte der Apokalypse-Exegese bestehe darin, dass die verschiedenen Ausleger keine übereinstimmende Meinung gefunden hätten, wie die in den einzelnen Visionen angesprochenen Begebenheiten auf realhistorische Ereignisse zu beziehen seien. Diese Uneinstimmigkeit verunmögliche es, Angaben darüber zu machen, ob sich die Prophezeiungen bereits erfüllt hätten und somit wahr und göttlich inspiriert gewesen seien.⁷⁷³ Wie Herder dies später auch tut, zieht
768 Johann David Michaelis: Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes: zweite und vermehrte Auflage. Zweiter Theil. Göttingen 1766. 769 Vgl. Michaelis (Anm. 768), S. 1843. 770 Vgl. ebd. 771 In den Paragraphen 208 und 209 geht Michaelis ausführlich darauf ein, was die Kirchenväter über die Apokalypse geschrieben haben (vgl. Michaelis [Anm. 768], S. 1847–1912). 772 Ebd., S. 1912. 773 Vgl. ebd., S. 1914.
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Michaelis die Möglichkeit in Betracht, mit einer kirchengeschichtlichen Deutung, der die Annahme zugrunde liegt, die auf die nähere Zukunft sich beziehenden Prophezeiungen des Johannes hätten sich bereits erfüllt, Wahrheit über das letzte Buch des Neuen Testaments zu erhalten. Anders als Herder aber, der sich an der Geschichtsschreibung des Flavius Josephus (37–ca. 101) orientiert und die apokalyptischen Visionen zweifelsfrei geschichtlichen Ereignissen zuordnen kann,⁷⁷⁴ findet Michaelis keine eindeutigen Bezüge zwischen den Johannes offenbarten Bildern und den historischen Fakten. Eine Art der Deutung, bei der die Referenz zur Kirchengeschichte wegfällt, sieht Michaelis in der Möglichkeit, dass die Prophezeiungen sich ausschließlich auf eine immer noch bevorstehende Zukunft beziehen. Doch eine solche Exegese widerspreche dem Wortlaut des Textes; Johannes würde von nahen Ereignissen sprechen, dementsprechend unplausibel sei es, dass die Prophezeiung erst mehr als 1700 Jahre nach ihrer Offenbarung eintreffen würde.⁷⁷⁵ Es kann aber auch sein, so räumt Michaelis ein, dass die Schuld über die Zweifel an der Apokalypse bei den Auslegern zu suchen sei. Ein guter Exeget müsse nämlich nicht nur Griechisch beherrschen, sondern sich auf Grund der vielen Hebraismen auch sehr gut im Hebräischen auskennen, so der von Michaelis vorgeschlagene philologische Ansatz zur Exegese und die damit einhergehende Kritik: „Wie wenig grammaticalisches und philologisches in der Erklärung der Offenbarung bisher geleistet sey, […] sollte man wohl kaum glauben.“⁷⁷⁶ Wieso Michaelis nicht selbst, obschon er ein hervorragender Kenner des Griechischen und Hebräischen war, eine seinen Anforderungen gerecht werdende grammatikalische und philologische Analyse der Apokalypse verfasst hat, geht nicht aus seinem Kommentar hervor. Neben den sprachlichen Kenntnissen, die bei der Deutung der Apokalypse relevant seien, verfolgt Michaelis einen weiteren exegetischen Ansatz, dem seiner Meinung nach Bedeutung beigemessen werden muss und der für Herder und Lavater richtungsweisend gewesen sein dürfte. Michaelis geht davon aus, dass in der Offenbarung sehr viel Poesie enthalten sei, so dass sie unter poetologischen Gesichtspunkten analysiert werden müsse: Die andere Fo[r]derung würde doch wol bey einem Buch, das ungeachtet des rauen Griechischen seine ins poetische fallende Schönheiten hat, seyn müssen, dass der Ausleger einen gewissen feinen Geschmack an Dichtkunst und Mahlerey habe. Ein Gesichte folget, wenn es schön ist, den Regeln der Mahlerey und Dichtkunst, und wird daher auch nach ihnen zu erklären seyn.⁷⁷⁷
774 Vgl. Kapitel 5.3 und 5.4. 775 Michaelis (Anm. 768), S. 1918. 776 Ebd., S. 1921 f. 777 Ebd., S. 1923.
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Michaelis spricht der Apokalypse einen literarästhetischen Wert zu und befreit sie so teilweise vom Anspruch, historisch kontextuell gedeutet werden zu müssen. Im weiteren Verlauf seines ausführlichen Kommentars geht Michaelis auf die Datierung der Apokalypse ein, diese kann er aber auf Grund der ungeklärten Frage nach der Kanonizität nicht mit Gewissheit klären. Bedeutend sei, ob Johannes seine Offenbarung vor oder nach der Zerstörung Jerusalems empfangen habe: Dreyerley Zeitpuncte werden angegeben, in denen Johannes seine Offenbarung gesehen haben soll: die Regierung des Kaysers Claudius, des Nero, und des Domitians. Die ersten beiden Regierungen fallen vor die Zerstörung Jerusalems, und sind an Zeugen arm. Vor die dritte Meinung, welche die Offenbarung Johannis unter Domitiani Regierung setzt, ist der ganze Haufe der alten Schriftsteller.⁷⁷⁸
Leider gibt Michaelis auch hier keine Auskunft über seine eigene Ansicht, sondern leitet in seinem Kommentar zu der Frage nach der Identität des Autors über, die seiner Meinung nach in engem Zusammenhang mit der Datierung steht. Michaelis erwähnt die stilistischen Besonderheiten der Johannes-Offenbarung, die sich von den anderen Büchern des Neuen Testaments unterscheiden. Aus seiner Analyse des Griechisch, das Johannes verwendet, kommt Michaelis zum Schluss, dass Johannes die Offenbarung als junger Mann empfangen hat: In seiner Jugend, und da Johannes noch nicht lange unter Griechen gewohnt hatte, schrieb er also vielleicht so lebhaft und rührend, und zugleich so morgenländisch und ungriechisch, als wir die Offenbahrung finden: in seinem Alter verlohr sich das Feuer der Schreibart und sie ward gleichsam einem stillen Bach ähnlich, zugleich aber ward das Griechische Johannis durch den langen Aufenthalt zu Ephesus reiner, und der Grammatik gemässer. Dis kann man sagen, wenn die Offenbahrung unter dem Nero geschrieben ist; setzt man sie aber unter Domitian, so wird ihre Schreibart ein unüberwindlicher Einwurf dagegen, dass sie ächt, und von dem Evangelisten sey.⁷⁷⁹
Michaelis rekurriert hier auf die vielen Solözismen, die bereits schon Dionysius von Alexandrien aufgefallen sind. Die Sprache der Apokalypse weist in der Tat einige Besonderheiten auf, die in der heutigen Forschung durch den auf Grund des hebräisch-jüdischen Hintergrunds des Verfassers entstandenen Bilinguismus erklärt werden. Zu den in der Apokalypse vorgefundenen Hebraismen gehören die Vernachlässigung der Kongruenz, Appositionen im Nominativ, ein nicht üblicher Genuswechsel und die grammatikalisch unkorrekte, aber dem Sinn
778 Ebd., S. 1938. 779 Ebd., S. 1970.
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nach verständliche constructio ad sensum. Auch der Zeitgebrauch der Verben und der gegen alle Regeln verstoßende Moduswechsel sind verwirrend.⁷⁸⁰ Einen Erklärungsansatz für dieses sprachliche Unvermögen findet Michaelis im jugendlichen Alter des Johannes; Lediglich dem jungen Johannes, der noch nicht wie später beim Abfassen des Evangeliums auf seine langjährige Erfahrung mit der griechischen Sprache in Ephesus zurückgreifen konnte, gesteht er eine derart fehlerhafte Ausdrucksweise zu. Was Michaelis und die ihm vorangehenden Exegeten auf sprachliches Unvermögen des Verfassers zurückführen, wird in einer neueren wissenschaftlichen Studie zur Johannes-Offenbarung gegenteilig beurteilt. Traugott Holtz geht davon aus, dass es sich bei den grammatikalischen Fehlern um bewusst eingesetzte stilistische Eigenarten handelt, die der Verfasser verwendet, um auf inhaltliche Besonderheiten hinzuweisen. Die Sprache werde in den Dienst des Inhalts gestellt, und gerade aus der Gravität der Regelverstöße gegen die griechische Grammatik müsse auf die sprachliche Fähigkeit des Autors geschlossen werden.⁷⁸¹ Die ältere Forschung geht aber wie Michaelis davon aus, dass es sich durchaus um auf Grund des Bilinguismus entstandene Inkompetenz handelt.⁷⁸² In seinen Überlegungen zur Johannes-Offenbarung geht Michaelis auch auf inhaltliche Aspekte ein, im Fokus seines Interessens stehen Aussagen, die dem Christentum fremd oder gar heterodox sind und dadurch die Glaubwürdigkeit der Apokalypse in Frage stellen. Die wohl befremdlichste derartige Lehre sei das Tausendjährige Reich Christi auf Erden, sie habe im Verlaufe der Geschichte am meisten Kritik heraufbeschworen und die Offenbarung am ehesten wie eine Erdichtung aussehen lassen.⁷⁸³ Michaelis unterscheidet dadurch eindeutig zwischen der äußeren Form der Apokalypse, der er einen ästhetisch-poetischen Wert beimisst, und den inhaltlichen Aussagen, die nicht theologisch, sondern dichterisch betrachtet werden müssen. Zu seinem eigenen Unvermögen, Klarheit über die Exegese der Johannes-Offenbarung geben zu können, meint er abschließend: So viel habe ich von den Lehren der Offenbahrung mehr historisch als selbst urtheilend sagen müssen, weil bey Untersuchungen ihres canonischen Ansehens doch allerdings gefraget werden kann, ob sie die in der übrigen Bibel enthaltene Lehre habe, oder derselben widerspreche: und sie wircklich aus dogmatischen Gründen bisweilen verworfen ist. Bey
780 Vgl. TRE Bd. 3, S. 180. 781 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 8. 782 Vgl. TRE Bd. 3, S. 181. 783 Vgl. Michaelis (Anm. 768), S. 1973.
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dieser ganzen Untersuchung ist mir freilich ihr göttliches Ansehen nicht gewisser geworden als es vorhin war; und das Urtheil muss ich, wie schon Luther gethan hat, den eigenen Einsichten der Leser überlassen, ohne ihnen vorzugreifen.⁷⁸⁴
Michaelis bekennt also, lediglich die Tradition der Apokalypse-Exegese untersucht zu haben, ohne daraus aber inhaltliche Antworten ableiten zu können, und enthält sich eines eindeutigen Urteils über die Kanonizität der Apokalypse. Auch Semler hat sich ausführlich mit der Apokalypse auseinandergesetzt und mit seinem Urteil über das letzte Buch des Neuen Testaments eine mit verschiedenen Schriften und Gegenschriften ausgetragene exegetische Auseinandersetzung initiiert. Semler fühlte sich durch die Schrift Dissertatio theologica de auctore Apocalypseos (1767) des Tübinger Theologen und Bengel-Schülers Jeremias Friedrich Reuß (1700–1777), den er zu den „neuesten eifrigen Vertheidigern“⁷⁸⁵ der Apokalypse zählte, veranlasst, seine eigenen Ansichten über die Verfasserschaft und damit zusammenhängend die Bedeutung der Johannes-Offenbarung festzuhalten.⁷⁸⁶ Anstelle einer eigenen Abhandlung gab Semler aber vorerst eine ihm zuhanden gekommene Schrift des 1760 verstorbenen Theologen Georg Ludwig Oeder (1694–1760) heraus, die er umfangreich kommentierte.⁷⁸⁷ Bemerkenswert ist, dass in Oeders Abhandlung und Semlers Kommentar bereits eingehend auf die Aspekte eingegangen wird, die Semler auch in späteren diesbezüglichen Schriften wieder aufgenommen hat, was den Schluss zulässt, dass Semler anfänglich davon ausgegangen war, mit der Edition von Oeders Schrift eine eigene diesbezügliche Abhandlung überflüssig zu machen. Oeders Abhandlung und Semlers im Umfang den Haupttext übertreffenden Kommentar stellten in einem kirchengeschichtlichen und einem exegetischen Teil Gründe gegen die Kanonzugehörigkeit der Apokalypse dar. Im ersten Teil versucht Oeder zu beweisen, dass es kirchengeschichtlich keine eindeutigen Fakten gibt, welche die Kanonizität belegen. Wie für Michaelis ist auch für Oeder Euseb die entscheidende Autorität. Oeder findet in Eusebs Kirchengeschichte keine eindeutigen Aussagen über die Verfasserschaft, so dass es seiner Meinung nach nicht gerechtfertigt ist, die Johannes-Offenbarung als apostolisch und damit ver-
784 Ebd., S. 1978. 785 Johann Salomo Semler: Christliche freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis, aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten herausgegeben. Mit einigen Anmerkungen von D. Joh. Salomo Semler. Halle im Magdeburgischen. 1769, S. 13. 786 Vgl. ebd., S. 12v. 787 Semler: Christliche freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis (Anm. 785).
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bunden kanonisch zu betrachten. Im zweiten Teil versucht Oeder, den Inhalt der Apokalypse auf ihre Wahrheit beziehungsweise Göttlichkeit zu überprüfen. Er geht dabei vor allem auf Bengels Deutung ein und verwirft diese als chiliastische Spekulation, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird. Das Fazit der Abhandlung, das Semler in seinem und im Namen des Autors gibt, lässt keine Zweifel über die Kanonizität der Apokalypse offen: Ich unterlasse also eine umständliche Rechtfertigung davon anzubringen, dass ich eine solche Schrift drucken lasse, und ihren Hauptinhalt durch meine eigenen Anmerkungen, ohne Rückhalt, bestätige: wodurch ein bisher für göttlich gehaltenes Buch aus dem so genannten Canone, oder Verzeichnisse der Schriften, so unter den Christen alter Zeiten für göttlich gehalten worden, von uns nun ausgestrichen werden muss.⁷⁸⁸
Anders als Michaelis, der sich noch scheute, das zwischen den Zeilen erkennbare ablehnende Urteil der Apokalypse gegenüber konsequent weiterzuführen und dem letzten Buch des Neuen Testaments die Kanonzugehörigkeit abzusprechen, formuliert Semler seine Meinung ohne Zurückhaltung. Seine mögliche Hoffnung aber, damit der Diskussion um die Kanonizität der Johannes-Offenbarung ein Ende gesetzt zu haben und diese aus dem Kanon streichen zu können, erfüllte sich nicht. Durch die heftige Kritik an seiner Schrift – diese stammte neben Reuß unter anderem auch von Johann Melchior Goeze (1717–1786) – war Semler gezwungen, die in Aussicht gestellte eigene Abhandlung über die Johannes-Offenbarung auch wirklich zu verfassen. 1771 fügte Semler dem ersten Band seiner vierbändigen Untersuchung zum Kanon die Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Göttlichkeit von dem Buche so Apocalypsis genannt wird⁷⁸⁹ bei, um seinen Standpunkt zu untermauern. Die Schrift war wiederum gegen Reuß gerichtet, Schützenhilfe erhielt Semler von seinem Schüler Friedrich Andreas Stroth (1750–1785),⁷⁹⁰ zu dessen ebenfalls 1771 erschienen Freimüthigen Untersuchungen, die Offenbarung Johannis betreffend Semler ein Vorwort beisteuerte. Stroth führte in der Auseinandersetzung um die Exegese der Apokalypse gewissermaßen einen Parallelkampf zu demjenigen zwischen Semler und Reuß, richtete sich seine Schrift doch gegen den Leipziger Theologieprofessor Christian Friedrich Schmidt (1741–1778), der in seiner Untersuchung Ob die Offenbarung Johannis ein ächtes göttliches Buch ist (1771) wie Reuß die Kanonizität der Apokalypse verteidigte. Doch auch Reuß
788 Vgl. ebd., S. 2v. 789 Johann Salomo Semler: Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Göttlichkeit von dem Buche so Apocalypsis genannt wird. In: D. Joh. Salomo Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; nebst Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Apocalypsis. Halle. 1771. 790 Zu Stroth vgl. ADB Bd. 36, S. 624–627.
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beteiligte sich weiter an der literarisch geführten Fehde um das Ansehen der Apokalypse, er veröffentlichte 1772 die Schrift Vertheidigung der Offenbarung Johannis gegen den berühmten Hallischen Gottesgelehrten Hrn. D. Semler, die auch Lavater mit viel Interesse las.⁷⁹¹ Semlers letzte ausführliche Schrift zur JohannesOffenbarung stammt aus dem Jahr 1776, es sind seine Untersuchungen über Apocalypsin.⁷⁹² Wie präsent die Diskussion um die Kanonizität der Apokalypse in den 1770er Jahren war, zeigt auch Lessings unvollendete Schrift Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis, die 1784 postum herausgegeben wurde.⁷⁹³ Lessings lediglich fünf Seiten umfassende Abhandlung entstand wohl im Zusammenhang mit seinem geplanten Werk zur Kanonbildung, in dem er sich insbesondere mit der Rezeptionsgeschichte der Apokalypse auseinandersetzen wollte.⁷⁹⁴ Lessing versucht die Diskussion um die Kanonizität der Apokalypse von verschiedenen Seiten zu beleuchten. In den biblischen Zeugnissen, die nach den Evangelien verfasst worden seien, gebe es keine Hinweise auf eine Offenbarung von Johannes, daraus würden sich aber noch keine eindeutigen Schlüsse ziehen lassen.⁷⁹⁵ Bei der Frage nach dem Verfasser erwähnt Lessing Kerinth, der versucht habe, die Lehre vom Tausendjährigen Reich Christi auf Erden unter den Christen zu verbreiten, allerdings gebe es keine eindeutigen Beweise, dass die Johannes-Offenbarung aus seiner Feder stamme.⁷⁹⁶ Justin der Märtyrer († 165) sei der erste gewesen, der sich entschieden dafür ausgesprochen hätte, der Apostel Johannes sei der Verfasser der Apokalypse, so Lessings Referenz auf die Kirchengeschichte, bevor sein Manuskript abbricht.⁷⁹⁷ Obschon Lessings Schrift inhaltlich nicht über auch von Michaelis und Semler referierte kirchenhistorische Aspekte hinauskommt und sich zudem nicht eindeutig festlegen lässt, ob es sich dabei lediglich um den Anfang einer Übersetzung von Firmin Abauzits (1679–1767) Discours historique
791 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 136. 792 Johann Salomo Semler: D. Joh. Sal. Semlers neue Untersuchungen über Apocalypsin. Dem verdienten Chorherrn in Zürich Herrn Breitinger zugeeignet. Halle 1776. 793 Martin Mulsow: Lessing, Paalzow und die ‚Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis‘. In: Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt (Hg.): Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011, S. 338. 794 Vgl. ebd. 795 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis. In: Werke und Briefe in 12 Bde. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt/M. 1989, S. 656. 796 Vgl. ebd., S. 657. 797 Vgl. ebd., S. 658 f.
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sur l’ Apocalypse (1770) handelt,⁷⁹⁸ weist ihr bloßes Vorhandensein auf das große Interesse hin, das der Johannes-Offenbarung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entgegengebracht wurde. Wie bei Lessing war es auch bei Semler die Kanonbildung, die ihn zu der Beschäftigung mit der Apokalypse veranlasste. Semler hat sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte und der gegenwärtigen Gültigkeit des Kanons auseinandergesetzt. In seiner vierbändigen Abhandlung von der freien Untersuchung des Canon (1771–1776) sucht Semler nach historischen Zeugnissen, die belegen, dass der biblische Kanon nicht seit Beginn des Christentums in der gegenwärtigen Form vorliegt und die biblischen Bücher im Kontext ihrer Entstehungszeit gelesen werden müssen. Der so formulierte historisch-kritische Ansatz in der Bibelexegese, als dessen Begründer Semler gilt,⁷⁹⁹ führte zu heftiger Kritik, verneinte er doch unwiderruflich sowohl Verbalinspiration wie auch die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit des biblischen Kanons. Semlers Untersuchungen zufolge ist der Kanon eine Sammlung kirchlicher Schriften, die im Verlaufe der Geschichte als Ergebnis der Übereinkunft der verschiedenen christlichen Provinzen entstanden ist.⁸⁰⁰ Der Maßstab für die Bedeutung der biblischen Bücher sei darum nicht die durch die historische Entstehung als willkürlich ausgewiesene Kanonzugehörigkeit, sondern der Inhalt, so Semlers seine gesamte Theologie bestimmende Meinung. Seiner Ansicht nach sind diejenigen Schriften wichtig, die den christlichen Heilsglauben mit der Sendung Christi und der Ausgießung des Heiligen Geistes enthalten.⁸⁰¹ Den sittlich-moralischen Aspekt der Religion betonend, geht Semler davon aus, dass ein göttliches Buch „zur leichten Anleitung, alle christliche Tugenden zu bewerkstelligen“⁸⁰², dienen muss. Aus dem Inhalt der Apokalypse würden sich keine derartigen Anleitungen finden lassen; ganz im Gegenteil sei das letzte Buch des Neuen Testaments voller Aussagen, die dem Christentum zuwider laufen wür-
798 Ausführlich dazu: Mulsow (Anm. 793). Mulsow kann in seiner Studie aufzeigen, dass Lessing mit größter Wahrscheinlichkeit durch einen Artikel von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zur Apokalypse in der ‚Encyclopédie‘ auf Abauzit aufmerksam geworden ist. Rousseau zitiert Passagen aus Abauzits 1770 postum veröffentlichtem Aufsatz ‚Discours historique sur l’Apocalypse‘. Lessings Schrift über die Apokalypse, so Mulsows Forschung, ist mit größter Wahrscheinlichkeit die angefangene Übersetzung von diesem Aufsatz (vgl. Mulsow [Anm. 793], S. 345–349). 799 Grundlegend zu Semler und seiner Bibelauslegung: Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996. 800 Vgl. ebd., S. 50. 801 Vgl. ebd., S. 51. 802 Semler: Christliche freye Untersuchung über die sogenannte Offenbarung Johannis (Anm. 785), S. 5r.
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den.⁸⁰³ Semler kritisiert insbesondere den in der Apokalypse zum Ausdruck gebrachten Chiliasmus, den er als jüdische Irrlehre abtut. Unter den griechischen Juden seien Spekulationen über das Ende der Welt, das sich durch die Entschlüsselung komplizierter Zahlensymbole berechnen lasse, populär gewesen, wie die vielen im Judentum verbreiteten apokalyptischen Schriften beweisen würden.⁸⁰⁴ In der Tat sind in den zwei Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt viele jüdische Apokalypsen, d. h. visionäre Aufzeichnungen über die letzten Dinge der Welt, verfasst worden,⁸⁰⁵ so dass Semlers Meinung, auch bei der Johannes-Offenbarung könne es sich um eine jüdische Apokalypse handeln, historisch gerechtfertigt ist. Der daraus zu folgernde Schluss steht für Semler unwiderruflich fest: So ist also die Hauptsache dieses Buches eine fanatische Hypothesis der griechischen Juden, und kann folglich nicht Gott der Urheber von dem Inhalte dieses Buchs, durch eine eigentliche Mittheilung dieser Aussprüche und Beschreibungen, mit Recht heißen.⁸⁰⁶
Semler scheint hier implizit auszudrücken, dass der Gott der Juden, Jahwe, nicht der Christengott ist, was den antisemitischen Unterton illustriert, der sich durch Semlers gesamte Exegese der Apokalypse zieht. Einen eindeutigen Beweis für die jüdische Herkunft der Apokalypse sieht Semler im Vergleich mit dem vierten Buch Esra, der aufzeigt, dass die chiliastischen Vorstellungen der JohannesOffenbarung diesem pseudoepigraphischen Werk entstammen: Ich hoffe darzuthun, dass die ganze Vorstellung von 1000 Jahren, als Zeiten der Glückseligkeit und Ruhe auf Erden, ein Gedicht griechischer Juden ist, so aus dem Aberglauben von Zahlen herrühret; dergleichen Beschäftigungen mit Fabeln man in mehrern apocryphischen Büchern, besonders in dem 4ten Buch Esra antrifft, woraus ein grosser Theil der Beschreibung, die in apocalypsi so wunderlich lauten, geradehin entlehnet und genommen sind.⁸⁰⁷
Obschon Semler hier die Apokalypse als Gedicht bezeichnet, lassen sich bei seinen Erläuterungen, anders als bei Michaelis, keine Urteile finden, die auf den literarästhetischen Wert der Johannes-Offenbarung eingehen. Abgesehen davon, dass Semler seine Analyse im Sinne der Theologie und nicht der Literatur machte, hätte es ihm wohl seine rigorose Ablehnung und Abwertung des Buchs als jüdi-
803 Vgl. ebd. 804 Vgl. ebd., S. 7r. 805 Vgl. Eduard Lohse: Die Einheit des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments. Göttingen 1973, S. 125. 806 Semler: Christliche freye Untersuchung über die sogenannte Offenbarung Johannis (Anm. 785), S. 7v. 807 Ebd., S. 102.
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scher Aberglaube verunmöglicht, einen objektiven Blick für die poetischen Besonderheiten des letzten Buchs des Neuen Testaments zu entwickeln. Bei der inhaltlichen Analyse der einzelnen Visionen bezieht sich Semler auf Bengels Auslegung, die er zu widerlegen versucht. Bengel hat sich intensiv mit der Exegese des letzten Buchs des Neuen Testaments befasst. In seiner 1740 verfassten Erklärte[n] Offenbarung Johannis,⁸⁰⁸ in der er jedes einzelne apokalyptische Kapitel mit einer exegetischen Einleitung versieht, kündet er die spätere lateinische Auslegung an, die als Ergänzung zu seiner ersten diesbezüglichen Schrift dienen soll: „In meinen lateinische Anmerkungen über das neue Testament unter dem Titel, Gnomon, werden zu seiner Zeit auch Bemerkungen über die Apokalypse zum Vorschein kommen.“⁸⁰⁹ Die immer wieder, insbesondere auch von Semler kritisierte genaue Applikation der Visionen des Johannes auf die Weltgeschichte ist denn auch erst im Gnomon erläutert. Darin deutet Bengel die Apokalypse, die für ihn nicht ein dunkles, geheimnisvolles Buch, sondern eine von Jesus Christus in die Feder des Johannes diktierte klare Offenbarung ist, als Geschichte der Welt, die deren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthält.⁸¹⁰ Wichtig sind ihm dabei die zeitlichen Berechnungen zu den jeweiligen weltlichen Altersstufen, die seiner Meinung nach den Schlüssel zur Deutung liefern. Bengel verfasst den „Versuch einer apokalyptischen Zeittafel“⁸¹¹, den er in die „Vorstellung nach dem Text“⁸¹² und in die „Vorstellung nach der Geschichte“⁸¹³ unterteilt. In einer Tabelle legt er anhand des Alters der Welt und des später einsetzenden dionysischen Kalenders die wichtigsten Eckdaten der christlichen Religion fest. Laut Bengel ist Jesus im Jahr der Welt 3940 geboren worden, der dionysische Kalender begann drei Jahre später, im Jahr 30 der dionysischen Zeitrechnung starb Jesus, im Jahr 96 hatte Johannes seine Offenbarung empfangen. In den auf die Offenbarung folgenden zwei Jahren wurden die sieben Siegel aus Apk. 4–8 geöffnet, die weiteren Prophezeiungen haben sich in der Folgezeit erfüllt und
808 Johann Albrecht Bengel: Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi. Aus dem revidierten Grund-Text übersetzt durch die prophetischen Zahlen aufgeschlossen und allen, die auf das Werk und Wort des Herrn achten, und dem, was vor der Thür ist, würdiglich entgegen zu kommen begehren, vor Augen geleget durch Dr. Johann Albrecht Bengel. Stuttgart 1740. 809 Ebd., S. XVII. 810 Vgl. Dr. Johann Albrecht Bengels, weiland herzogl. württembergischen Prälats und Consistorialraths Gnomon oder Zeiger des Neuen Testaments, eine Auslegung desselben in fortlaufenden Anmerkungen. In deutscher Sprache herausgegeben von C. F. Werner, Pfarrer in Kirchenkirnberg im Königreich Württemberg. 2. Bd. Stuttgart 1854, S. 666 f. 811 Ebd., S. 666. 812 Ebd. 813 Ebd.
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erfüllen sich noch in der Gegenwart, bis im Jahr 1836 die Parusie Christi eintreffen wird.⁸¹⁴ In einer weiteren Tabelle listet Bengel die geschichtlichen Ereignisse auf, die den apokalyptischen Visionen entsprechen. Als erstes genannt wird die im zweiten Jahrhundert stattgefundene „Zerstreuung der Juden durch Adrian“⁸¹⁵, ein Ereignis, das Bengel in Apk. 8,7 widerspiegelt findet.⁸¹⁶ Das sechzehnte Jahrhundert mit der Reformation ist laut Bengel in Apk. 13,9 ausgedrückt, mit dem siebzehnten Jahrhundert verbindet er „Evangelische Lehrer“⁸¹⁷, die laut seinen Angaben in Apk. 14,6–8 beschrieben sind. Mit diesen Angaben endet die Tabelle.⁸¹⁸ Bengel geht also davon aus, dass sich die Ereignisse ab Apk. 15 in der Zukunft ereignen werden. Wie seine späteren Erläuterungen zu den einzelnen Kapiteln der Apokalypse zeigen, glaubt er auch an das Millennium als zukünftigen Zustand vor dem Jüngsten Gericht: Auf solche Weise will ich lieber dafür angesehen seyn, dass ich den 1000 Jahren, welche die Weissagung so hoch preiset, Beifall gebe, als es mit den indiskreten Antichiliasten halten, die eben mit diesem ihrem Namen sogar den klaren Buchstaben der Weissagung anfechten.⁸¹⁹
Bereits in seiner Erklärte[n] Offenbarung Johannis hatte sich Bengel eindeutig für den Chiliasmus ausgesprochen,⁸²⁰ allerdings gibt er weder in dieser Schrift noch im Gnomon nähere Erläuterungen darüber, wie er sich das Millennium vorstellt. Es handle sich dabei um ein Geheimnis Gottes, es sei absichtlich undurchschaubar dargestellt und müsse als bald eintreffendes Ereignis abgewartet werden.⁸²¹ Semler kritisiert Bengels endzeitliche Berechnungen und insbesondere dessen Glauben an das Millennium. Seiner Meinung nach handelt es sich beim Tausendjährigen Reich Christi auf Erden wie bei der Johannes-Offenbarung insgesamt um aus der jüdischen Tradition und Kultur genommene Vorstellungen, die sich nicht mit dem Christentum vereinbaren lassen: Es ist blos eine jüdische Idee, und beruhet auf einer nach und nach entstandenen Theorie, von den Veränderungen in der Körperwelt, dem 1000jährigen Reiche, dem Zustand der Todten, […]. Es bezieht sich also sichtbar auf Leser, welche mit diesen elenden Ideen aufgewachsen sind, und dieselbe mit der christlichen Lehre zu ihrer offenbaren Verfälschung
814 Vgl. ebd. 815 Vgl. ebd., S. 667. 816 Vgl. ebd. 817 Ebd. 818 Vgl. ebd. 819 Ebd., S. 803. 820 Vgl. Bengel: Erklärte Offenbarung Johannis (Anm. 808), S. XXIIf. 821 Vgl. Bengel: Gnomon (Anm. 810), S. 803.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
verbinden. Christen wissen nichts dabey zu denken; aber bey den Rabbinern ist es was Bekanntes; es haben aber Christen an den rabbinischen Theorien, sie mögen Scherz oder Ernst seyn, nicht zu lernen.⁸²²
Über andere Deutungsansätze, die nicht primär auf der jüdischen Vorstellungswelt basieren, urteilt Semler genauso negativ. Es gebe keine inhaltliche Auslegung, die sich mit den wahren Aussagen der christlichen Religion decken würde: Einfälle und Gedanken haben alle Ausleger genug angebracht, aber dass dis der Verstand der so dunklen jüdischen Bilder wirklich seye, hat keiner bewiesen; es ist vielmehr an dem, dass man keinen rechtschaffenen Grund und Hypothese zu einer solchen Auslegung angeben könne, die leicht, und doch dem Inhalt nah, dem Geiste Christi und des Evangelii gemäss, hingegen rein seye, von fleischlicher jüdischer Denkungsart.⁸²³
Semlers ablehnende und häufig antisemitisch begründete Haltung kommt in allen seiner Schriften zur Apokalypse zum Ausdruck. So schreibt er in der Antwort auf Reuß’ Abhandlung zum Abschluss: Dis ist die Hauptsache in der weitläufigen Schrift des Herrn Kanzlers; worauf ich ehrlich und nach gutem Gewissen, auch ganz freimüthig geantwortet habe. Lesern lieget nun ob, in wahrer Gewissenhaftigkeit, die wahre geistliche Lehre Christi, Pauli, Johannis, gegen den rohen jüdischen Feuer- und Zorngeist zu halten, der dieses Buch ausgehauchet hat; finden sie den sanften Geist Gottes: so müssen sie das Buch zu nutzen suchen, wie sie können; wir aber, die wir Christi Geist haben, wollen dieses Buch fernerhin ungelesen lassen.⁸²⁴
Auf dem Hintergrund von Semlers in die Beurteilung der Apokalypse eingeflochtener antijüdischer Polemik ist Herders Wertschätzung des Judentums umso bemerkenswerter. Herder benutzt nicht nur die jüdische Kabbala als Schlüssel zur Deutung der Johannes-Offenbarung,⁸²⁵ sondern nimmt mit Flavius Josephus einen jüdischen Geschichtsschreiber als Gewährsmann für seine historische Exegese. Herders in der Johannes Offenbarung sich niederschlagenden Studien zur Geschichte des Judentums dürften Semler bekannt gewesen sein, erwähnt er ihn doch in seiner letzten Abhandlung zur Apokalypse aus dem Jahr 1776 als unparteiischen Gelehrten, dessen Meinung er zwar nicht teile, aber respektiere.⁸²⁶ Es lässt sich jedoch nicht festlegen, ob Semler sich in dieser Äußerung auf
822 Semler: Christliche freye Untersuchung (Anm. 785), S. 123. 823 Ebd., S. 17. 824 Semler: Antwort auf die tübingische Vertheidigung (Anm. 789), S. 252 f. 825 Vgl. Kap. 5.5. 826 Vgl. Semler: Neue Untersuchungen über Apocalypsin (Anm. 792), S. 88.
Die Apokalypse-Exegese im achtzehnten Jahrhundert
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das Manuskript der Apokalypse-Paraphrase⁸²⁷ bezieht oder aber Herders grundsätzliche, in fast allen theologischen Schriften zum Ausdruck gebrachte Kenntnis und Wertschätzung der jüdischen Geschichte und Nation anspricht. Im Gegenzug zu der Toleranz, die er Herder entgegen bringt, bittet Semler um Verständnis für seine eigene Ansicht: Aber es muss doch auch mir und allen Forschern der alten christlichen Historie eben so frey stehen, ein ganz entgegenstehendes Urtheil von diesem Buche zu fällen; man mus einsehen, dass die mit dem eigenen Christenthum gar nicht wesentlich zusammen hängt.⁸²⁸
Semler argumentiert in seiner letzten Abhandlung denn auch vor allem als ‚Forscher der alten christlichen Historie‘ und analysiert die Kanonfrage anhand der Kirchengeschichte. Semlers Untersuchungen gemäß gibt es keine historischen Zeugen, die belegen, dass die Apokalypse bereits im Frühchristentum als Teil des Kanons existiert hat. Weder Polycarp (69–155) noch Papias († um 140), die beide Schüler des Evangelisten Johannes gewesen seien, würden von einer Prophezeiung des Johannes berichten, „kein Zweifel also, dass zur Zeit Polycarpi in Smyrna und klein Asien kein katholischer Lehrer noch etwas von Apocalypsi gehört und gewusst habe.“⁸²⁹ Hier sind Semlers Forschungen nicht ganz gründlich, finden sich doch bereits bei Papias, dem Bischof von Hierapolis, der als Zeitgenosse des Apostels Johannes gilt, Zeugnisse über eine Beschäftigung mit der Apokalypse. Papias spricht sich darin für die Kanonizität der Apokalypse aus, indem er den Zebedaiden Johannes als Verfasser auszuweisen versucht.⁸³⁰ Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung liefert Semler historische Beweise, die zeigen, dass in vielen frühchristlichen Gemeinden und Regionen und vor allem in Asien die Offenbarung des Johannes unbekannt war. Die Apokalypse sei erst, so das Ergebnis von Semlers Forschung, vor der Regierungszeit Domitians niedergeschrieben worden.⁸³¹ Um sein kritisches Urteil zu begründen, bezieht er sich, wie bereits schon Michaelis, auf Luther. Sogar Luther habe an der Kanonizität der Offenbarung gezweifelt, deshalb sei ihm unverständlich, wieso in seinem Jahrhundert soviel darauf angewendet werde, es als kanonisch zu bewerten.⁸³²
827 Abgesehen von der hier erwähnten Bemerkung sind weder im Briefwechsel noch in anderen Werken Hinweise zu finden, die Aufschluss über Semlers Kenntnis des Manuskripts geben. 828 Semler: Neue Untersuchungen über Apocalypsin (Anm. 792), S. 4. 829 Ebd., S. 39. 830 Vgl. Gerhard Maier: Die Johannesoffenbarung und die Kirche. Tübingen 1981, S. 62 f. 831 Semler: Neue Untersuchungen über Apocalypsin (Anm. 792), S. 68. 832 Vgl. ebd., S. 6.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Die Frage nach der Kanonizität, welche die Exegeten seit Beginn des Christentums beschäftigte, konnte also auch mit der historisch-kritischen Bibelexegese nicht zweifelsfrei geklärt werden. Wie die in verschiedenen Auslegungen und Bibelkommentaren, aber auch in Streitschriften zum Ausdruck gebrachten Urteile über das letzte Buch des Neuen Testaments zeigen, lieferten die vielen offenen Fragen zu den geheimnisvollen Visionen des Johannes einen nährstoffreichen Boden für theologische Auseinandersetzungen. Auch Herder bewegte sich auf diesem Boden und versuchte, ihn mit neuen Werkzeugen zu beackern. Ausgehend von den Untersuchungen zum Ursprung von Poesie und Sprache kam Herder zu einer besonderen Wertschätzung der ursprünglichen biblischen Texte als älteste Form von Dichtung, die auch Auswirkungen für seine Exegese der Apokalypse hatte. Um den diesbezüglichen Zusammenhang zu verstehen, sollen im Folgenden Herders Theorie vom Ursprung der Poesie und die daraus abgeleiteten Anforderungen an die Bibelpoesie erörtert werden.
5.2 Herders poetologische und theologische Reflexionen zur Bibeldichtung Herder hat keine eigenständige Arbeit zu poetologischen Fragen oder zur Bibeldichtung verfasst. Überhaupt ist der Begriff ‚Bibeldichtung‘ relativ jung und wurde im achtzehnten Jahrhundert selten oder aber pejorativ verwendet.⁸³³ Im Folgenden wird der Begriff oder die daraus abgeleiteten Formen ‚biblische Dichtung‘, ‚biblische Poesie‘ oder ‚Bibelpoesie‘ gattungsübergreifend als Oberbegriff verwendet für diejenigen poetischen Werke, die sich eines biblischen Inhalts annehmen oder einen biblischen Text nacherzählen. Zur biblischen Dichtung gehört somit auch die christliche Epik mit der darin enthaltenen Gattung des ‚Bibelepos‘.⁸³⁴ Herder hat sich in seinen Fragmenten, die neueste deutsche Litteratur betreffend erstmals am Beispiel von Klopstocks Messias mit Bibeldichtung auseinandergesetzt. Die Hauptkritik, die er an Klopstocks Nachdichtung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu trotz der Achtung seiner dichterischen Leistung anzubringen hatte, bezieht sich auf die zu starke Gewichtung der eigenen Imaginationen, die Klopstock zugunsten der biblischen Vorlage in den Vordergrund rückt. Herder bemängelt, dass im Messias vom eigentlichen biblischen Inhalt nur sehr schwache Spuren zu finden seien, die von den phantasiereichen Erdichtun-
833 Vgl. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800. Paderborn 2011, S. 287. 834 Zur Definition vom Begriff ‚Christliche Epik‘ und ‚Bibelepos‘ vgl. Kap. 4.1.
Herders poetologische und theologische Reflexionen zur Bibeldichtung
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gen des Autors fast völlig ausgelöscht würden, was Herders Meinung nach den Wert der Bibel bedenklich abschwäche. Herder geht es nicht nur um die religiöse Aussage, die seiner Meinung nach nicht mehr in ihrer ursprünglichen Absicht erkennbar sei. Ausgangspunkt seiner Ansicht zur verfälschten religiösen Aussage ist die Betrachtung der Bibel von einem poetologischen Standpunkt aus. Herder geht nämlich davon aus, dass die Bibel per se Dichtung enthält, er betrachtet sie als Sammlung poetischer Zeugnisse aus der Frühzeit der Menschheit, wie er in seiner Theorie über den Ursprung von Dichtung erläutert. Herders Ansicht nach entstand Dichtung durch äußere Umwelteinflüsse, die in Form von Empfindung und Gefühl auf den Menschen einwirkten und die er ohne Abstraktion und durch den Verstand bestimmte Umgestaltung in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit ausdrücken wollte. Zuerst sah Herder diese ursprüngliche Form von Dichtung in der Gattung der Ode verwirklicht.⁸³⁵ Später übertrug er seine Theorie zur Ode zuerst auf Gen. 1, dann auf alle biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments. Die Einfachheit der Sprache, die Ursprünglichkeit des Ausdrucks, in der die unmittelbare Erfahrung der äußeren Welt widerspiegelt sei, würden die alttestamentlichen Zeugnisse als früheste Form von dichterischer Betätigung ausweisen.⁸³⁶ Die Theorie über die hebräische Poesie des Alten Testaments als Ursprung von Dichtung war nicht neu. Wegweisend in der Erforschung der alttestamentlichen Texte als poetische Zeugnisse war der in Oxford als Professor für Poesie und Rhetorik lehrende Bischof Robert Lowth. Wie die späteren Vertreter der historisch-kritischen Methode der Bibelexegese geht bereits Lowth davon aus, dass die Bibel nicht durch Verbalinspiration entstanden ist, sondern ein Zeugnis frühester literarischer Tätigkeit darstellt.⁸³⁷ Lowth analysiert die Bibel unter philologischen und poetologischen Gesichtspunkten und kommt zur Überzeugung, in den alttestamentlichen poetischen Texten die älteste Dichtung der Menschheit vorliegen zu haben, wie er in De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones von 1753 erläutert.⁸³⁸ Interessant sind Lowth’ formale Analysen der hebräischen Poesie. Seiner Meinung nach gibt es keine Vergleichsbasis zu anderen literarischen
835 Irmscher geht davon aus, dass Herders Reflexionen zur Ode nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, eine gattungsspezifische Abhandlung zur Ode darstellen, sondern dazu dienten, dem Wesen von Dichtung überhaupt auf die Spur zu kommen. Herders Analyse der Ode als älteste Dichtung des Menschengeschlechts nimmt denn auch viele Merkmale vorweg, mit denen er später die Genesis und hebräische Dichtung überhaupt charakterisiert (vgl. Irmscher [Anm. 38], S. 149). 836 Vgl. Christoph Bultmann: Die Biblische Urgeschichte in der Aufklärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999, S. 20. 837 Vgl. Gutzen (Anm. 450), S. 80. 838 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 75.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Texten, auf der die stilistischen Merkmale der orientalischen Dichtungen untersucht werden können. Es erübrige sich, wie bei der griechischen und römischen Poesie nach dem Versmaß zu fragen, da die Kenntnis über den Rhythmus und das Silbenmaß, die sich in der frühesten hebräischen Sprache naturgemäß ergeben hätten, im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen sei.⁸³⁹ Abgesehen davon sei die erste hebräische Poesie nicht im Schema eines durchgängigen Versmaßes verfasst worden, der strukturelle Unterschied zur Prosa hätte sich durch die besonderen Satzzusammenstellungen ergeben.⁸⁴⁰ Obschon Lowth die Bibel als Dichtung betrachtet, geht er davon aus, dass es sich in ihren dargestellten Inhalten um historische Begebenheiten handelt und nicht um allegorisch zu deutende dichterische Imaginationen.⁸⁴¹ Lowth’ Werk erfuhr eine breite Rezeption auch im deutschsprachigen Raum und wurde von den philologisch arbeitenden Bibelinterpreten mit viel Interesse aufgenommen. So übernahm Michaelis Lowth’ Ansicht, dass es sich beim Buch Hiob auf Grund der dichterischen Einfachheit und Erhabenheit um das älteste Zeugnis menschlicher Dichtung handelt und stellte es in seiner Übersetzung des Alten Testaments, die er 1769 begann und 1785 abschloss,⁸⁴² an den Anfang. Anders aber als Lowth, der das Buch auf vormosaische Zeit datierte, kam Michaelis durch seine philologischen und historischen Studien zum Schluss, dass Moses das Buch während seines Exils in Midian verfasst habe.⁸⁴³ Auch in der exegetischen Konsequenz, die Michaelis aus der Überzeugung zieht, beim Buch Hiob handle es sich um das älteste poetische, von Moses verfasste Zeugnis, ergeben sich Unterschiede zu Lowth. Während Lowth, wie bereits angesprochen, in den alttestamentlichen Zeugnissen dichterisch eingekleidete Geschichtswahrheit zu erkennen glaubt, sucht Michaelis nach dem moralischen Aussagegehalt. Poetologisch an Gottsched anknüpfend, geht er davon aus, dass es der Zweck und die Absicht von jeder Form von guter Dichtung ist, moralische Wahrheiten in ein poetisches Gewand zu kleiden und dergestalt den Leser nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu belehren. Im Buch Hiob sieht Michaelis eine moralische Lehre über die Gerechtigkeit Gottes, die nicht mit weltlichen Maßstäben ergründet und erfasst werden kann.⁸⁴⁴
839 Vgl. ebd., S. 78. 840 Vgl. ebd. 841 Vgl. Daniel Weidner: Johann David Michaelis’ Übersetzung des Alten Testaments: Doppelte Übersetzung und Dialektik der Säkularisierung. In: Beutel, Aufgeklärtes Christentum, S. 62. 842 Johann David Michaelis: Johann David Michaelis’ deutsche Übersetzung des Alten Testaments: mit Bemerkungen für Ungelehrte. 13 Bde. in 16 Teilen. 1769–85. Teil 1: Das Buch Hiobs. Göttingen 1769. 843 Vgl. ebd., S. 61. 844 Vgl. ebd. S. 62.
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Herder war von Michaelis und von Lowth gleichermaßen beeinflusst, als er begann, sich mit dem biblischen Ursprung von Dichtung auseinanderzusetzen.⁸⁴⁵ Seiner Ansicht nach ist es aber nicht das Buch Hiob, sondern die Genesis, die er als ältestes Zeugnis menschlicher Dichtung auszeichnet. 1774 erschien Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, in der er seine poetologischen und exegetischen Reflexionen zur Genesis ausführlich erläutert.⁸⁴⁶ Das erste Buch des Alten Testaments enthalte eine Sammlung vormosaischer Urkunden, die zuerst mündlich tradiert, dann von Moses aufgeschrieben worden seien. Aus der einfachen Sprache schließt Herder, dass Moses selbst nicht der Verfasser sein könne, die Zeit, in der er gelebt und gedichtet habe, sei von einem anderen dichterischen Geist geprägt gewesen.⁸⁴⁷ Obschon Herder davon ausgeht, dass es sich bei Gen. 1 um ein historisches Zeugnis handelt, das die Gedankenwelt des Orients widerspiegelt, muss die Interpretation seiner Meinung nach über die lediglich geschichtliche Einordnung hinausgehen und nach einer religiösen Aussage suchen.⁸⁴⁸ Mit dieser Ansicht steht Herder in Konfrontation zu Michaelis’ Analysen bezüglich der ältesten alttestamentlichen Dichtung. In Herders Augen zeigt Michaelis auf dem Hintergrund seiner historisch-philologischen Interpretation lediglich die morgenländischen Bräuche und Traditionen auf, die er als im Kontext der Zeit zu lesende orientalische Mythologie darstellt; den religiösen Sinn und Gehalt würde er aber entweder nicht erörtern oder als bedeutungslos für das Christentum abwerten.⁸⁴⁹ Um diesen Sinn und Gehalt, der Herders Meinung nach wesentliche Ansätze für das Verständnis auch der neutestamentlichen Texte bereithält, verstehen zu können, schlug er einen eigenen hermeneutischen Weg ein. Es ging ihm nicht darum, die biblische Dichtung als von Gott inspiriert zu betrachten und aus dieser Inspiration den religiösen Wahrheitsgehalt abzuleiten. Herders Meinung nach brachte der biblische Autor nicht einfach von Gott eingegebene, in den Bildern seiner Kultur und Tradition ausgedrückte religiöse Wahrheiten zu Papier; die biblischen Texte sind also nicht als direkte Berichte über das Handeln Gottes
845 Das Manuskript zur ‚Ältesten Urkunde‘, das Herder bereits zu Ende der 1760er Jahre verfasst hatte, war Michaelis gewidmet (vgl. Bultmann [Anm. 836], S. 39 f.), später allerdings polemisierte Herder heftig gegen Michaelis’ theologische Ansichten, denen gemäß nur noch diejenigen biblischen Bücher Bedeutung für das Christentum hatten, die moralische Aussagen enthielten. Lowth hingegen und seinem Werk brachte Herder zeitlebens Bewunderung und Achtung entgegen. 846 Grundlegend zu Herders Genesis-Interpretation: Bultmann (Anm. 836). 847 Vgl. ebd., S. 149. 848 Vgl. ebd., S. 133. 849 Vgl. ebd.
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zu lesen.⁸⁵⁰ Vielmehr sind sie, so Herders religiöse Hermeneutik, Ausdruck der Anschauung und der Erkenntnis Gottes. Um den theologischen Gehalt der Genesis und der biblischen Zeugnisse überhaupt verstehen zu können, müsse die Situation respektive die Beweggründe des Autors ins Blickfeld gerückt werden.⁸⁵¹ Herder ging also bei der Erschließung biblischer Texte nicht mehr von Gott, dem Offenbarer aus, sondern vom Menschen, der die göttlichen Offenbarungen zu verstehen versucht.⁸⁵² Daraus abgeleitet verstand er den Begriff der ‚göttlichen Offenbarung‘ nicht als supranaturale Einwirkung Gottes in die Natur.⁸⁵³ Göttliche Offenbarung bedeutete für ihn, dass der Mensch über die affektive Erfahrung sowohl die materielle wie auch die immaterielle Welt als Ausdruck Gottes zu verstehen lernt. Gott offenbare sich nicht in wunderbaren, übernatürlichen Ereignissen, sondern in den Emotionen und Leidenschaften, die der Mensch beim Erleben und Erkennen seiner Umwelt mache.⁸⁵⁴ Um die dergestalt verstandene göttliche Offenbarung zum Ausdruck zu bringen, brauche es die poetische Sprache. Nur mit Hilfe der Dichtung sei es möglich, die besondere seelische Bewegtheit in ihrer ursprünglichen, unveränderten Form wiederzugeben.⁸⁵⁵ Herders Einordnung von Gen. 1 als älteste Urkunde menschlicher Dichtung, und sein Verständnis von in Dichtung ausgedrückter göttlicher Anschauung und Erfahrung flossen in seiner Abhandlung Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) zusammen. Herder erörtert darin nicht lediglich die Genesis als älteste Form von Dichtung, sondern verortet deren Ursprung grundsätzlich in den hebräischen Zeugnissen des Alten Testaments. Anknüpfend an seinen Offenbarungsbegriff betrachtete Herder auch den Ursprung von Poesie und damit zusammenhängend den Ursprung von Sprache nicht als direkte göttliche Einwirkung.⁸⁵⁶ Wie es zum Verständnis der Offenbarung Gottes die Empfindung braucht, ging Herder auch beim Entstehen von Poesie und Sprache von der seelischen Bewegung und somit von einer mensch-
850 Vgl. ebd., S. 137. 851 Vgl. ebd. 852 Vgl. ebd. 853 Vgl. Claas Cordemann: Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlage von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal. Tübingen 2010, S. 191. 854 Cordemann erläutert ausführlich, dass Herder den Begriff ‚Göttliche Offenbarung‘ frei von supranaturalen Implementen verstanden haben will. Auch weist er darauf hin, dass Herder ihn in seinen Schriften selten verwende und ihn schon im Frühwerk zur eben gemachten Interpretation umgedeutet habe. Auf diesem Hintergrund bezweifelt Cordemann Zipperts Ansicht, der gemäß der Offenbarungsbegriff eine Leitkategorie in Herders Werk sei (vgl. Cordemann S. 191, Anm. 140). Die in der vorliegenden Studie gemachten Quellenuntersuchungen bestätigen Cordemanns Feststellung. 855 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 138 sowie Cordemann (Anm. 853), S. 193. 856 Wie alle alten Sprachen ist auch die Hebräische für Herder eine ‚menschliche Sprache‘.
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lichen ‚Eigenleistung‘ aus. Göttlich sei aber die Voraussetzung dazu, habe doch Gott dem Menschen die Empfindung gegeben: Man kann diesen [den Ursprung der Poesie] also menschlich und göttlich nennen, denn er ist beides. Gott wars, der die Quelle der Empfindung im Menschen schuf, der das Weltall mit seinen Strömen rings um ihn her sezte, der diese Ströme auf ihn leitete, und mit den innern Empfindungen seiner Brust mischte. Er gab ihm also dichterische Kräfte und Sprache: und so fern ist der Ursprung der Poesie göttlich. Er ist aber menschlich nach dem Maas, nach der Eigenheit dieser Empfindung und ihres Ausdrucks: denn nur menschliche Organe genossen und sprachen.⁸⁵⁷
Herder betont also wie bereits bei seinen Erläuterungen zu Gen. 1 die Bedeutung der Empfindung, die für ihn die wichtigste Voraussetzung für jede Form von menschlichen Ausdrucksweisen ist. Die ersten dichterischen Zeugnisse sind seiner Meinung nach ursprünglichste, in Bildern ausgedrückte seelische Emotionen des seine Umwelt und in ihr Gott erfahrenden und erlebenden Dichters. Die dabei benutzte Sprache zeichnet sich durch ihre intuitive Affektgeladenheit aus und ist von schnörkelloser Einfachheit, wie es Herder bereits bei Gen. 1 analysiert hat und in seiner Abhandlung Vom Geist der Ebräischen Poesie auf alle alttestamentlichen Texte ausweitet. Als Folge der Emotionen, welche die hebräische Sprache in ihrer ursprünglichen Form ausdrückt, besteht sie Herders Meinung nach aus Dynamik, Bewegung und Lebendigkeit: „Alles in ihr ruft: ‚ich lebe, bewege mich, wirke. Mich erschuffen Sinne und Leidenschaften‘.“⁸⁵⁸ Die besondere Kraft der Dichtungen aus alter Zeit bestehe darin, dass sie in kraftvollen, unmittelbar der seelischen Bewegtheit entsprungenen Bildern arbeite. Die ersten Autoren seien in ihrer dichterischen Welterschließung mit Kindern zu vergleichen, welche die sie umgebende Umwelt mit natürlicher Neugierde sinnlich erfassen: Sie [Kinder] wissen noch nicht zu vergleichen, und also durch die Vergleichung zu verkleinern; ihre Zunge strebt sich auszudrücken und drückt sich stark aus, weil ihre Sprache noch nicht durch hundert leere Worte und gemein gewordne Ähnlichkeiten schwach und geläufig gemacht ist; sie sprechen also oft, wie Morgenländer, wie Wilde sprechen, bis sie endlich mit dem Gange der Natur und Kunst wie geschliffene und abgeschliffene Menschen sprechen lernen.⁸⁵⁹
857 Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung. 2. Teil. In: FA Bd. 5, S. 962. 858 Ebd., S. 676. 859 Ebd., S. 965.
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Herder knüpft hier an seine Theorie der menschlichen Zeitalter an. Die ersten Menschen würden in ihrer Sprache und somit in ihrer Dichtung eine sinnliche Welterfahrung ausdrücken, die sich durch eine Vielfalt an synonymischen Begriffen und Umschreibungen auszeichne, die hebräische Sprache „hat eben deswegen so viele Synonyme von Einer und derselben Sache, weil diese jedes Mal in ihrer ganzen Beziehung mit allen begleitenden sinnlichen Umständen genannt und gleichsam gemahlt wurde.“⁸⁶⁰ Neben den vielen Synonymen sind es vor allem die Verben, die Herders Meinung nach die besondere poetische Kraft und Dynamik der hebräischen Sprache ausmachen. Alles in der Poesie der Hebräer sei Bewegung, fließe in einem ununterbrochenen, sinnlichen Fluss von Bild zu Bild, von Affekt zu Affekt.⁸⁶¹ Ähnlich verhalte es sich mit den Nomina, sie seien direkt aus den Verben gebildet, würden also noch deren Dynamik enthalten.⁸⁶² Auch die vielen Pronomen seien Ausdruck von Leidenschaft, und zusammengesetzte Begriffe würden den Mangel an Adjektiven ersetzen.⁸⁶³ Eine besondere Bedeutung spricht Herder dem hebräischen Tempusgebrauch zu. Indem es keine klare Unterteilung der verschiedenen Zeiten gebe, würden die Hebräer in poetischer Form auf die Immergültigkeit ihrer Aussagen hinweisen: „also hilft diese Unbestimmtheit oder Verschwebung der Zeiten ausdrücklich der Evidenz, der hellen und klaren Gegenwart dessen, was beschrieben, erzählet oder verkündigt wird.“⁸⁶⁴ Herder betont, dass sich seine Untersuchungen nur auf die Sprache der ersten Hebräer beziehen: „Wir reden vom Ebräischen, da es die lebendige Sprache Kanaans war und auch hier nur von ihren schönsten reinesten Zeiten, ehe sie mit der Chaldäischen, Griechischen u. a. vermischt ward.“⁸⁶⁵ Im Verlaufe der Zeit hätte sich die Sprache nicht nur durch andere sprachliche Einflüsse modifiziert und sei in ihrer Grammatik, vor allem was das spätere Hinzufügen von Vokalen anbelange, von den Rabbinern weiterentwickelt worden,⁸⁶⁶ sie hätte sich auch von der sinnlichen hin zu einer rationalen Ausdrucksweise verändert. Einhergehend mit der Entwicklung des Menschen und seinem immer stärker sich ausprägenden Verstand und der komplexer werdenden Denkstruktur sei die affektive Wahrnehmung der Dinge in den Hintergrund getreten. Herders Theorie gemäß erklärt sich der Mensch nun die Welt auf vernünftige Weise, damit verfalle er aber ins Abstrakte, Metaphysische, was sich auch auf seiner Sprache und
860 Ebd., S. 676. 861 Vgl. ebd., S. 679. 862 Vgl. ebd., S. 698. 863 Vgl. ebd. 864 Ebd., S. 682 f. 865 Ebd., S. 678. 866 Vgl. ebd., S. 689.
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Dichtung auswirke. Herder teilt das menschliche Zeitalter und die menschliche Dichtung analog der menschlichen Entwicklung vom Kind über den Erwachsenen zum Greisen ein. Anders aber als der mit der Aufklärung einhergehende Fortschrittsglaube, in dem die Entwicklung vom primitiven zum vernunftgeleiteten Individuum positiv betont wird, bedauert Herder der in seinem Zeitalter konstatierte Verlust an Sinnlichkeit, Ursprünglichkeit und Einfachheit – zumindest, was die sprachliche Ausdrucksform und damit verbunden die Fähigkeit zu poetischer Dichtung anbelangt. Herders große Wertschätzung der frühen hebräischen Poesie gegenüber und seine Ansicht, dass sich nur in ihr wahre poetische Schönheit findet, hatte Konsequenzen für seine Ansicht darüber, ob und wie die Bibel nachgedichtet werden kann. Da er die Bibel selbst als literarisches Werk betrachtete, stand er jeder Nachdichtung kritisch gegenüber. In seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend fühlte er sich auf Grund der vielen neuen biblischen Nachdichtungen, die in seiner Zeit verfasst wurden – Herder nennt Klopstock, Bodmer, Lavater und Milton als Autoren von Bibeldichtung⁸⁶⁷ – dazu veranlasst, auf biblische Poesie und den Nutzen oder die Gefahren, dem ein Student der Theologie dabei begegnet, einzugehen. Einen äußerst kritischen Blick warf Herder auf die biblische Ependichtung und auf deren prominentesten Vertreter im achtzehnten Jahrhundert, auf Klopstock. Bereits Herders erste Äußerung zum biblischen Epos rekurriert auf Klopstock und dessen Theorie zur ‚Heiligen Poesie‘: Allein darinn muss ich Sie, einen zu eifrigen Freund der Poesie missverstanden haben, dass das Christenthum der Geschichte seines grossen herrlichen Plans wegen, auch prächtige, über alle Dichtungen der Heyden erhabne Epopeen und Mythologien gewähre.⁸⁶⁸
Während Klopstock dem Inhalt wie auch der Anlage der biblischen, insbesondere der neutestamentlichen Zeugnisse eine Erhabenheit beimaß, die es erforderte, die höchste Gattung des Epos zu bemühen und antike Vorgänger auf Grund des christlichen Inhalts zu überbieten, ging Herder von anderen Voraussetzungen aus. An seine Theorie über die Ursprünglichkeit und die damit verbundene sprachliche Einfachheit der hebräischen Poesie anknüpfend, sah Herder den besonderen Wert der evangelischen und apostolischen Zeugnisse darin, dass sie in simpler, klarer und darum umso einleuchtenderer und fassbarerer Sprache über das Leben Jesu berichten.⁸⁶⁹ Die darin zu findende poetische Schönheit mache es
867 Vgl. Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend. In: FA Bd. 9/I, S. 559 f. 868 Ebd., S. 324. 869 Vgl. ebd., S. 271.
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überflüssig, über das Leben Jesu „prächtige Bücher und Beschreibungen“⁸⁷⁰ zu verfassen. Zudem stelle es eine an Dreistigkeit grenzende Kühnheit dar, wenn der religiöse Dichter sich die Selbstbefugnis erteile, die in der Bibel festgehaltenen göttlichen Wahrheiten mit seinen eigenen Imaginationen anzureichern: Wollte ein Christ so kühn seyn, die Phantasien seines Kopfs den Thaterweisen Gottes einzumischen, oder zwischen zu schieben, das ist, wenn er es auch wider Wissen und Willen thäte, sie nach seiner Gedankenweise zu vergestalten?⁸⁷¹
Besonders schwierig war es Herders Meinung nach, und hier sprach er implizit Klopstocks Messias an, Christus als Helden darzustellen und aus seiner Lebensgeschichte ein Epos zu machen.⁸⁷² Das Evangelium sei in seiner ursprünglichen Gestalt die beste Beschreibung,⁸⁷³ und Christus selbst könne nicht nach poetologischen Vorgaben dargestellt werden: Der Menschensohn ist, wie mich dünkt, viel zu einfältig, schlecht und geringe, dass seine Knechtsgestalt Epopee werden wollte; der Sohn Gottes, der auferweckte König der Ehre aber ist viel zu erhaben über unsern Gesichtskreis, als dass ihn das Auge verfolgen, die Phantasie dichterisch schildern könnte.⁸⁷⁴
In der ersten Ausgabe der Briefe geht Herder auf weitere, von ihm in der zweiten Auflage gestrichene Aspekte ein, aus denen heraus die Unmöglichkeit eines Epos über Jesus aufgezeigt werden könne.⁸⁷⁵ Seiner Meinung nach gab es keine Gründe, die es rechtfertigen, „dass wenn auch nackte Geschichte der Evangelisten nicht Epischer Stoff sei“⁸⁷⁶, diese mit erdichteten Ereignissen, Personen und Handlungen zu ergänzen. Es sei falsch, solche Imaginationen als besonderes dichterisches Können zu betrachten, denn aus diesem Gedanken heraus seien Dichter „auf den Abweg gekommen, Epopeen über Dinge zu schreiben, wovon sie gerade nichts wussten und kein Sterblicher etwas weiß, z. E. die Schöpfung der Hölle, den
870 Ebd. 871 Ebd., S. 324. 872 Bereits in seinen Fragmenten ‚Ueber die neuere deutsche Litteratur‘ hatte Herder in seiner Messias-Kritik darauf hingewiesen, dass sich Jesus nicht als Held eignet, weil seine göttliche Natur zu erhaben und seine menschliche zu niedrig ist (vgl. dazu Kap. 5.6.). 873 Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 329. 874 Ebd. 875 Zu den geringfügigen Veränderungen, die Herder in der zweiten Ausgabe vorgenommen hat, vgl. den Kommentar von Bultmann und Zippert (Herder: Briefe [Anm. 867], S. 986 f.). 876 Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Anhang. Drei Briefe aus der ersten Ausgabe. Stücke aus älteren Redaktionen. 1780. In: SWS XI, S. 131.
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Abfall der verdammten Geister u.s.f. Das sey Epische Kunst! Dichtung! […]“⁸⁷⁷ Hier rekurriert Herder wohl auf Milton, der in seinem Paradise Lost die Hölle zu einem wichtigen Schauplatz macht und den Kampf im Himmel, der mit dem Abfall der abtrünnigen Engel endet, episch ausgestaltet. Doch auch Klopstocks Erfindungen erwähnt Herder und verurteilt sie als unangemessen, er zählt die vielen Episoden auf – unter anderem das Gericht Gottes auf dem Tabor und die Erscheinung der Auferstandenen –, die Klopstock frei erfunden habe und die ohne jeden Zusammenhang mit der biblischen Geschichte dastehen würden.⁸⁷⁸ Die von Klopstock verfolgte Absicht, seine Hauptaussage über die sowohl im Kreuzestod wie auch im Jüngsten Gericht erfolgte Erlösung möglichst vielfältig darzustellen und somit besser verständlich zu machen,⁸⁷⁹ ist in Herders Augen eine willkürliche Verfremdung des Ursprungstexts. Dasselbe Urteil lässt Herder den vielen von Klopstock eingeführten Personen und deren Empfindungen zukommen. Diese Empfindungen müssten nicht erfundenen Figuren angedichtet werden, sondern sollten sich aus der beschriebenen Handlung selbst ergeben, so Herders Meinung: Empfindungen, die die umstehenden Personen, Engel, Teufel, Menschen, über den Vorgang der Geschichte äussern, sind gut; noch besser aber, wenn sie sie nicht äussern dörfen, wenn jene aus dem facto selbst zu uns sprechen und sich in unser Herz lagern.⁸⁸⁰
Herder kommt denn auch zur Überzeugung, dass der Messias lediglich aus erfundenen Szenen besteht, die sich auf ein sehr rudimentäres, nicht mit den Zeugnissen der Evangelisten und Apostel vergleichbares biblisches Fundament abstützen. Würde man den Messias von allen Erdichtungen befreien, bliebe lediglich ein unanschauliches Gerüst übrig, das wenig mit den geschichtlichen und religiösen Wahrheiten des Christentums zu tun habe, so hat es Herder in seinem Manuskript noch ausgeführt, später aber durchgestrichen⁸⁸¹ – die Kritik an Klopstock bleibt aber trotz dieser Weglassung in der Druckversion scharf und unmissverständlich. Für Herder stand fest, dass sich Dichtung nicht religiöser Inhalte bedienen soll. Es sei weder der Religion noch der Poesie zuträglich, sie auf dieselbe Ebene zu setzen und mit denselben Kriterien zu betrachten:
877 Ebd. 878 Vgl. Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 559 f. 879 Vgl. Kap. 4.6. 880 Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 132. 881 Bei Suphan ist besagte durchgestrichene Stelle des Manuskripts gedruckt, vgl. Johann Gottfried Herder: Herders sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan (im Folgenden zitiert als SWS für ‚Sämtliche Werke Suphan‘ mit Band- und Seitenzahl), Berlin 1877–1913, Bd. X, S. 229, Anm. 5.
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Bibel und Gedicht, Fiktion und Geschichte stehen in keinem Betracht auf gleichem Grunde: der Dichter selbst wird erwürgt, wenn man ihn als Verbesserer der Bibel, als Geschichtsschreiber behandelt. Sie, bitte ich, lesen Klopstock, Lavater, Bodmer und wer sonst über Geschichten der Bibel gedichtet hat, ja nicht, damit Sie die Bibel aus ihnen verschönern; sie aus- oder vielmehr mit dem Dichter anschauen und betrachten lernen – das mögen Sie, wenn sich die Vorstellungsart des Dichters mit der Ihrigen paaret.⁸⁸²
Doch nicht nur die biblische Dichtung, auch das Paraphrasieren von biblischen Texten verunglimpfte Herder. Seiner Meinung nach ist es überflüssig, aus den ursprünglichen Zeugnissen moderne Paraphrasen zu machen. Diese würden lediglich die Vorlage verwässern oder sie in einem falschen Zusammenhang darstellen, so Herder in seinen Briefe[n], das Studium der Theologie betreffend. Es handle sich bei dieser „Gattung von Exegese“ um einen „Gängelwagen“⁸⁸³, der mit großer Vorsicht zu betreten sei, da er nicht zum wahren Aussagegehalt der biblischen Texte führe. Wie auch ein poetisches Werk seine ursprüngliche Schönheit und Aussagekraft verliere, wenn es in anderen Worten nachgedichtet werde, verändere sich der Sinn und Gehalt der Bibel durch eine Umformung ihrer ursprünglichen Sprache: Fangen Sie an, einen Poeten zu paraphrasieren, zu prosaisieren; er ist kein Poet mehr, hat Geist und Kraft verlohren, man lieset sich an ihm matt und müde. So ists mit der Paraphrase der Propheten, Lieder, Psalmen, selbst der Lehrbücher des A. T., die doch alle Poetisch sind.⁸⁸⁴
Herder sieht im Paraphrasieren die Gefahr, Inhalte so umzudeuten, dass sie nicht mehr ihrem beabsichtigten Aussagegehalt entsprechen. Jede Umschreibung eines biblischen Zeugnisses sei zu stark vom Denken und Befinden des Verfassers beeinflusst, was die Leser und insbesondere die Studenten der Theologie, an die Herder seine Briefe richtet, auf falsche Spuren führen könne: Der Paraphrast nimmt oft dem Zusammenhang der Rede Licht und Schatten; entweder wässert er alles in Eine langweilige Brühe, oder er giebt dem Text seine d. i. eine ganz neue Verbindung.⁸⁸⁵
882 Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 559. 883 Ebd., S. 356. 884 Ebd., S. 297. 885 Ebd.
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Um sich die Unzulänglichkeit der modernen Sprache beim Nachdichten biblischer Texte zu vergegenwärtigen, soll der Vergleich gemacht werden, so empfiehlt es Herder dem Theologiestudenten: Nun lesen Sie beydes in Vergleichung: Ein Kapitel der Passionsgeschichte und viele Gesänge darüber; und sagen, wo ist mehr Natur, ursprüngliche Wahrheit, reiner Begriff der Sache, Convenienz des Styls zu ihr und endlich gewiss auch mehr unverfälschte, ewig dauernde Wirkung?⁸⁸⁶
Doch nicht nur das Nachdichten und Paraphrasieren verändere den ursprünglichen biblischen Text in einem nicht tolerierbaren Rahmen. Herder stellt auch dem Übersetzen seine Vorbehalte gegenüber, wie aus den Briefe[n] an Theophron, die er als fünften Teil der Briefe, das Studium der Theologie betreffend verfasste, hervorgeht: Vermeiden Sie, so viel Sie können, die schönen neuen holprigen Uebersetzungen, zumal in Jamben, oder in noch künstlichern Sylbenmaaßen, die meistens den Sinn und Geist des Originals rein wegnehmen.⁸⁸⁷
Auf der Grundlage seiner Ansicht über die fortschreitende Entwicklung der menschlichen Sprache von einer affektgeleiteten hin zu einer vom Verstand gelenkten, abstrakten Ausdrucksform versagt Herders Meinung nach der sprachliche Duktus seiner Zeit, um den Ursprungstext adäquat wiederzugeben: Zum Übersetzen scheint mir unser neuestes Zeitalter nicht das bequemste. Wir verstümmeln die Sprache, schreiben kraftlos oder geziert; kurz, das reine, ächte Deutsch, das unsre Vorfahren schrieben, ehe so viel fremde Sprachen in Deutschland bekannt waren, hat sich in der neuesten Zeit ziemlich verlohren. […] Vor der Hand lassen Sie Luthers Uebersetzung gelten.⁸⁸⁸
Wie bereits anhand des Hebräischen erläutert, ist Herder überzeugt davon, dass eine Sprache, je weiter sie zeitlich von derjenigen des Originals entfernt ist, dieses nicht mehr adäquat wiederzugeben vermag. Das „reine, echte Deutsch“⁸⁸⁹, so Herders Meinung, hat sich in seiner Zeit verloren. Zu finden sei es noch bei Martin Luther, so Herders zeit seines Lebens gehegte Wertschätzung dem Reformator gegenüber, woraus sein Rat entspringt, sich an Luthers Bibelübersetzung zu halten. Um die Vorzüge des lutherischen Textes zu sehen, solle der Vergleich gemacht werden, so rät Herder in den Briefe[n] an Theophron:
886 Ebd., S. 325. 887 Johann Gottfried Herder: Briefe an Theophron. In: SWS XI, S. 166. 888 Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 599. 889 Ebd.
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Lesen sie die meisten neuen geschraubten Übersetzungen des A. und N. T., die auf Stelzen gehen und ordentlich nicht wissen, wie hoch sie ihre Füsse setzen sollen: Sie werden gern zur alten simpeln Übersetzung Luthers zurückkehren.⁸⁹⁰
Gleich verhalte es sich bei den Bibelkommentaren, es sei, ohne dabei auf die Bezüge zu den jeweiligen politischen Streitigkeiten zu achten, auf diejenigen der Reformationszeit zurück zu greifen. In ihnen seien die der Bibel zugrundeliegenden ursprünglichen Affekte erkannt und erläutert.⁸⁹¹ Das Manko, das Herder sowohl bei zeitgenössischen Kommentaren wie auch Übersetzungen feststellte, führte zu seinem Plan, diesbezüglich selbst Abhilfe zu verschaffen: Sie wünschen eine Ausgabe der Bibel zu haben, in der jedes Buch und jedes Stück eines Buchs ohne Kapitel- und Versabtheilung in sein ursprüngliches Licht gesetzt, Poesie und Geschichte sorgfältig abgetrennt, und auch wo ihre Farben zusammenfliessen, diese durch den Druck oder durch kurze Anmerkungen richtig unter schieden wären. Ich wünsche es auch, und noch mehr, ich muss Ihnen sagen, dass ich seit Jahren schon mit diesem Gedanken umgegangen bin, und, wenn nicht, wie ich schwerlich glaube, durch den Druck und für die Welt, wenigstens für mich und meine Freunde, sie nicht als Bibel, sondern als Sammlung alter Schriften also zu übersetzen und zu vollenden wünsche.⁸⁹²
Inwiefern er diesen Plan, zumindest auf das letzte Buch des Neuen Testaments bezogen, bereits umgesetzt hat, soll in der Analyse und Interpretation von Herders Maran Atha gezeigt werden.
5.3 Die Genese von Herders Nachdichtung der Apokalypse Herder hat seine Theorie zur Bibeldichtung, die eine Verschränkung von Poesie, Geschichte und Kommentar ist, im Werk Maran Atha umgesetzt. Wie schwer es ihm fiel, in der Nachdichtung der Apokalypse seinen eigenen Vorgaben gerecht zu werden, zeigt die über ein Jahrzehnt dauernde Arbeitsphase, während der sich Herder mit seiner Dichtung beschäftigte. Aus dieser Zeit resultieren sechs Vorstufen, die sich formal, inhaltlich und in Bezug auf ihre Vollständigkeit unterscheiden. Diese sollen im Folgenden nach Aussagen über Herders Arbeitsweise und nach seinen Problemen dabei befragt und untersucht werden. Die Grafik zeigt die Genese von Maran Atha im Hinblick auf ihre Gattung, auf das Vorhandensein eines Kommentars und einer Kapiteleinteilung und auf ihre Vollständigkeit.
890 Herder: Briefe an Theophron (Anm. 887), S. 169. 891 Vgl. ebd., S. 167. 892 Ebd., S. 170 f.
Die Genese von Herders Nachdichtung der Apokalypse
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Abbildung 1: Die Genese von Maran Atha Quelle: Eigene Darstellung.
Die genauen Jahreszahlen von Herders Arbeit an den verschiedenen Vorstufen zu Maran Atha lassen sich nur schwer rekonstruieren. In den Briefen, das Studium der Theologie betreffend (1780) gibt sich Herder unsicher über den Anfang seiner Beschäftigung mit der Apokalypse-Nachdichtung, es müsse zwischen 1773 und 1774 gewesen sein.⁸⁹³ Aus Herders Korrespondenz geht hervor, dass Herder das Manuskript Johannes Offenbarung 1774 fertig gestellt hat und in seinem Freundes- und Bekanntenkreis zirkulieren ließ. Ebenfalls aus den Briefen lässt sich rekonstruieren, dass dieses Manuskript noch bis 1776 im Umlauf war.⁸⁹⁴ Leider finden sich aber in Herders Korrespondenzen nur sehr wenige Hinweise auf die Rezeption und keine direkten auf die Bearbeitungsphasen. 1778 teilte Herder seinem Freund Johann Georg Hamann mit, dass er alle bis anhin noch unvollendeten Werke, zu denen die Johannes-Offenbarung zählte, bis zu Ende des Jahres 1779 fertig haben wolle, um das nächste Jahrzehnt ohne Altlasten beginnen zu können und womöglich ganz mit dem Schreiben aufzuhören.⁸⁹⁵ Herders Ankündigung muss auf dem Hintergrund seiner beruflichen Situation gelesen werden, die Anlass gibt zu Vermutungen über die Entstehungszeit der verschiedenen Vorstufen. Im Herbst des Jahres 1776 trat Herder seine neue Stelle als Generalsuper-
893 Vgl. Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 139. 894 Vgl. Lenz an Herder, Anfang März 1776. In: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. Bd. 3. München/Wien 1987, S. 390. 895 Herder an Hamann, 29. Dez. 1778. In: WA Bd. 4, S. 76.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
intendent in Weimar an. Der damit verbundene berufliche und gesellschaftliche Aufwand, der sich wesentlich von demjenigen in Bückeburg unterschied,⁸⁹⁶ ließ ihn kaum mehr zum Schreiben kommen, wie er immer wieder in seinen Briefen beklagte. So schrieb er im September 1777 an seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch (1740–1781), dass er keine Zeit für seine schriftstellerischen Arbeiten finde,⁸⁹⁷ um ihm im März und Mai des folgenden Jahres mitzuteilen, dass sich an diesem Zustand nichts geändert habe.⁸⁹⁸ Diese Belastung legt die Vermutung nahe, dass Herder seine verschiedenen Entwürfe noch während seiner einsamen und ruhigen Bückeburger Zeit geschrieben hat. Dem steht jedoch die Meinung der Bearbeiter des Herder-Nachlasses gegenüber, welche die Entwürfe auf das Jahr 1777 datieren, ohne dafür aber Gründe zu nennen.⁸⁹⁹ Auch Johann Georg Müller, der 1810 Maran Atha im zwölften Band seiner Herder-Ausgabe druckte und dabei Passagen aus der Johannes-Offenbarung und aus einer weiteren, in Prosa geschriebenen Vorstufe zitiert, datiert diese Prosa-Fassung auf das Jahr 1778.⁹⁰⁰ Ein Argument für eine solche Datierung könnte die Tatsache sein, dass Herders Manuskript Johannes Offenbarung, wie bereits erwähnt, noch bis 1776 unter seinen Freunden und Bekannten zirkulierte und er sich erst an die Überarbeitung machte, als er deren Urteil kannte. Auch könnten die Abbrüche in den Entwürfen durch Herders anhaltende berufliche Überbelastung in Weimar erklärt werden, zusätzlich litt Herder im Sommer 1777 an Gelbsucht und musste sich zur Kur nach Pyrmont begeben. Abgesehen von diesen Unklarheiten über die Jahre, in denen Herder seine Vorstufen verfasst hat, lässt sich aus deren Vorhandensein schließen, dass ihm die Paraphrase der Apokalypse ein wichtiges Anliegen war, das er trotz großer beruflicher Belastung nicht unvollendet lassen wollte.
896 Ab 1773 war Herder literarisch sehr produktiv, er beendete bisweilen ein Manuskript pro Monat, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass er in Bückeburg beruflich weder ausgelastet noch herausgefordert war (vgl. Zippert [Anm. 36], S. 213, S. 218). 897 Vgl. Herder an Hartknoch, Ende Sept. 1777. In: WA Bd. 4, S. 42. 898 Vgl. Herder an Hartknoch, März 1778. In: WA Bd. 4, S. 61; vgl. Herder an Hartknoch, Mai 1778. In: ebd., S. 65. 899 Vgl. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler. Wiesbaden 1979, S. 20 f. Das Nachfragen bei den Herausgebern des Katalogs war mir leider nicht möglich, da diese inzwischen verstorben sind. 900 Vgl. Johann Gottfried Herder: Johann Gottfried von Herders Sämmtliche Werke zur Religion und Theologie. Hg. durch Johann Georg Müller. 18 Bde. Stuttgart u. a. 1827–1830. Bd. 12. 1. Teil. Stuttgart 1829.
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Die erste Version der Apokalypse-Nachdichtung, die Herder 1773 oder 1774 verfasste, ist ein vollständiges Gedicht in Jamben, das sich eng an die biblische Vorlage anlehnt. Daneben gibt es ein weiteres jambisches Gedicht, das sich nicht wesentlich vom ersten unterscheidet, lediglich, so die stichprobeartigen Untersuchungen, zum Teil eine andere Satzstellung innerhalb der Verse oder eine andere Wortwahl aufweist. Beide Gedichte sind von zahlreichen Überstreichungen geprägt, was Herders intensive kritische Arbeit und seine Unzufriedenheit belegt. Ein drittes Manuskript enthält zusätzlich zu der jambischen Paraphrase, die sich weder mit der ersten noch mit der zweiten Version vollständig deckt, aber zu beiden ähnlich ist, einen Kommentar. Dieses Manuskript hat Herder ab 1774 mit dem Titel Johannes Offenbarung verschiedenen Bekannten zur kritischen Durchsicht zugeschickt. Suphan hat es in die Werksammlung Herders aufgenommen,⁹⁰¹ zu Herders Lebzeiten wurde es nicht gedruckt. Herder hat die ersten drei Nachdichtungen der Apokalypse mehrheitlich in fünfhebigen Jamben geschrieben. Er spricht zwar den alternierenden Versmaßen eine gewisse Monotonie zu, wie er in seinen Fragmenten über die neueste deutsche Litteratur erläutert.⁹⁰² Dass er in seiner Johannes Offenbarung aber größtenteils den fünfhebigen Jambus verwendet, ist wohl auf Shakespeare zurückzuführen, dessen Blankversen Herder eine hohe poetische Schönheit zusprach. Gleichzeitig knüpfte Herder aber auch an Milton an, der sein Paradise Lost in Blankversen dichtete. Wie Lowth, der Miltons an Psalm 148 angelehnten Lobgesang auf Gott, den Adam im fünften Buch singt, als erhabene Poesie betrachtet, rühmt auch Herder Miltons diesbezüglichen Verse.⁹⁰³ In seiner Abhandlung Vom Geist der Ebräischen Poesie meint Herder: Meines Wissens giebts nur Einen Ton des Lobgesanges in allen jetzt lebenden Europäischen Sprachen; und der ist der Ton Hiobs, der Propheten und Psalmen. Milton hat ihn insonderheit in sein unsterblich Gedicht eingewebet.⁹⁰⁴
Herder bezeichnet Milton als Vater des „Jamben-Hymnus“⁹⁰⁵, was seine Wertschätzung der miltonschen Verse zum Ausdruck bringt. In den ersten drei Fassungen seines Gedichts sucht Herder nach einer metrischen Form, die an die poetische Schönheit des Ursprungstextes herankommt. Die Veränderungen, die er in den ersten Versionen vornahm, waren denn auch, abgesehen von dem in
901 Vgl. SWS IX. 902 Vgl. Kap. 4.5. 903 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 23 f., S. 79. 904 Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie (Anm. 857), S. 731. 905 Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 335.
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der dritten Fassung zwischen die Verse eingeschobenen Kommentar, metrische Verbesserungen, wie der Vergleich des ersten mit dem dritten Entwurf zeigt. 1. Fassung, Apk. 1,1: Enthüllung Jesu Christi, die ihm gab Gott! Dass er zeige seinen Knechten, was schnell soll geschehen. […]⁹⁰⁶
3. Fassung, Apk. 1,1: Enthüllung Jesu Christi, die ihm gab Gott! Dass er zeige seiner Schaar, was schnell geschehen soll. […]⁹⁰⁷
Im zweiten Vers der ersten Fassung verwendet Herder das Wort „Knechte“, daraus ergibt sich aber, dass der Jambus, der das „was“ betont, der Prosodie zuwider läuft. Auch in der zweiten Fassung benutzt Herder noch „Knechte“, in der dritten Version ersetzt er es durch „Schaar“, so dass die Wortfolge „was schnell“ dem Jambus entspricht. Auch die Umstellung der Verbform von „soll geschehen“ zu „geschehen soll“ ist darauf zurückzuführen, dass sie an der von Herder verwendeten Stelle besser in das jambische Metrum passt. Die Jamben scheinen Herder schon bald unpassend für seine Nachdichtung der Johannes-Offenbarung. An Lowth’ Analyse anlehnend, der gemäß sich die ersten Dichtungen der Hebräer nicht durch Metrik, sondern durch besondere Satzstellungen auszeichnen,⁹⁰⁸ kommt Herder zur Überzeugung, dass die als Fortsetzung der hebräischen Poesie betrachtete griechische Johannes-Offenbarung nicht nach einem festgelegten Metrum nachgedichtet werden kann.⁹⁰⁹ Herders einige Jahre später in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend gemachte kritische Äußerung über neue jambische Bibelübersetzungen⁹¹⁰ ist also die Schlussfolgerung, die er aus seiner Nachdichtung der Apokalypse zog. Herders Meinung nach muss die Sprache originalgetreu in ihrem natürlichen Fluss und ihrer ursprünglichen Dynamik erhalten bleiben. So hält er bereits in der dritten Fassung in einer Randbemerkung fest, dass die Verse wie Prosa gelesen werden sollen,⁹¹¹ und ab der vierten Fassung verzichtet er ganz auf Verse. Es gilt
906 Herder Nachlass SB Berlin, Kapsel VI, S. 27. 907 Johann Gottfried Herder: Johannes Offenbarung. In: SWS IX, S. 5. 908 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 78. 909 Zu Herders Überzeugung, dass die Apokalypse das letzte Zeugnis und zugleich der Höhepunkt der orientalischen Poesie ist, vgl. Kap. 5.4. 910 Vgl. Herder: Briefe an Theophron (Anm. 887), S. 166. 911 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 5, Fussnote 1.
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allerdings zu bemerken, dass sich die Sätze der vierten Fassung noch sehr eng an die Verse der vorangehenden Fassungen anlehnen, was Herders Bemühung illustriert, bereits in den jambischen Versen möglichst nahe an der Prosa zu dichten. Herder lässt seine vierte Fassung vor dem Blasen der siebten Posaune (Apk. 11,14) enden, im Titel vermerkt er, dass es sich um „des Buchs erste Hälfte“⁹¹² handelt. Wieso Herder abbricht, wird nicht eindeutig ersichtlich, er bemerkt lediglich: Und hier mag meine Feder ruhen. Ich breche in der Mitte ab, und lasse ihn schöpfen, den entwickelnden Theil des Buchs, der Himmel weiss, wann? folgen. Wer ihn nicht erwarten will, fahre fort und erkläre, sich ihr selbst jedes Bild, als Bild, das ist als Zeichen, das seinen Sinn, seine Klarheit und Schöne in ihm selbst hat und spricht, wie es dasteht.⁹¹³
Wie aus der Grafik hervorgeht, endet in Maran Atha das dritte Kapitel an derselben Stelle, an der die vierte Fassung abbricht, allerdings gibt Herder dort keine Hinweise darauf, dass es sich um den ersten Teil der Johannes-Offenbarung handelt. Eine mögliche Erklärung für die Zweiteilung ist in der Exegese zu suchen: Die siebte Posaune beinhaltet das dritte Weh, die sieben letzten Plagen der Welt. Bei ihrem Blasen wird die Regentschaft Christi angekündigt und auf das bevorstehende Gericht verwiesen.⁹¹⁴ Es wird deutlich, dass die zweite Ankunft Christi unmittelbar bevorsteht; die Prophezeiung Gottes ist bald erfüllt.⁹¹⁵ Die von Herder als erste Hälfte der Offenbarung beschriebenen Ereignisse weisen zwar bereits auf das bevorstehende Ende hin, dieses scheint aber noch in einer gewissen Distanz zu sein. Mit dem geöffneten Himmel und dem Versprechen auf das Reich Christi verschwindet diese Distanz, so dass Herder an dieser Stelle die zweite Hälfte der Offenbarung anbrechen sieht, so eine mögliche Erklärung der Einteilung in zwei Hälften. Wieso Herder dieser ersten Hälfte des Buchs nicht die zweite Hälfte beifügt, lässt sich nicht rekonstruieren. Die fünfte Fassung von Herders Apokalypse-Nachdichtung ist noch kürzer als die vierte, sie endet bei Apk. 5,9. Das Ende erfolgt ohne Erklärung, es gibt keinen Grund, aus dem heraus Herders Abbruch ersichtlich wird. Auch bei der letzten Vorstufe, die bei Apk. 20,2 endet, lassen sich keine Anhaltspunkte für das Abbrechen finden. Aus den Überstreichungen, die in beiden Versionen zu finden sind, lässt sich schließen, dass Herder immer noch nicht zufrieden war und in einer neuen Version seine eigenen Verbesserungsvorschläge umsetzen wollte.
912 Herder-Nachlass SB Berlin, Kapsel VI, 32. 913 Herder-Nachlass SB Berlin, Kapsel VI, 32, S. 92r. 914 Apk. 11,15;18. 915 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 88.
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Wie die Grafik zeigt, hat Herder nicht nur bei der formalen Gestalt ständig Änderungen und Verbesserungen vorgenommen, sondern auch bei der Kapiteleinteilung. Die Unterteilung in sieben Kapitel ist für Herder von größter Wichtigkeit, da die Zahl Sieben seiner Meinung nach das Grundschema der Apokalypse bildet, wie er ausführlich im Anhang von Maran Atha erklärt. Die Sieben sei die Zahl der Vollendung, nicht nur die Schöpfung der Welt, sondern die gesamte Weltzeit entwickle sich in sieben Stufen, von denen die letzte der Ruhetag, der Sabbat sei.⁹¹⁶ Daraus entstehe die Ordnung der Johannes-Offenbarung, „das ganze Buch ist von überdachtester Anordnung und Beziehung im Großen und Kleinen“⁹¹⁷, so dass die einzelnen Teile zu einer „wunderbaren Einheit“⁹¹⁸ werden. Bereits in seiner Ältesten Urkunde ist Herder auf das ordnungsgebende Prinzip der Siebenzahl eingegangen. Die sieben Tage, die in Gen. 1 das Erschaffen der Schöpfung darstellen, sind Herders Meinung nach symbolisch zu verstehen im Bezugsrahmen des morgenländischen Lebensrhythmus, der sich in sechs Arbeitstage und einen Ruhetag aufteilt.⁹¹⁹ Herder legt somit dem ersten wie dem letzten biblischen Buch dieselbe Ordnungsstruktur zugrunde, was zeigt, wie stark er das Neue Testament auf das Alte bezog und wie überzeugt er war, dass die Apokalypse des Johannes die Weiterführung morgenländischer Dichtung und gleichzeitig das letzte Zeugnis davon sei.⁹²⁰ Herders Deutung rekurriert aber auch auf chiliastische Auslegungen vom Tausendjährigen Reich Christi auf Erden, die von einer ‚Weltwoche‘ ausgehen, als deren letzter ‚Tag‘ das Millennium betrachtet wird. Da nach Psalm Ps. 90,4 ein Tag tausend Jahren entspricht, lässt sich die Dauer der Regentschaft Christi als Sabbat der Weltwoche, als deren letzte tausend Jahre verstehen.⁹²¹ Obschon sich die sieben Kapitel bei den verschiedenen Fassungen in ihrer Unterteilung unterscheiden, folgen sie einer gewissen Systematik, die Herder aus dem Inhalt ableitet. So sind trotz der unterschiedlichen Einteilung der Kapitel 3 und 4 sowohl im Manuskript wie auch in der Druckversion das dritte und das vierte Kapitel symmetrisch angeordnet: Die Johannes Offenbarung endet jeweils nach dem Öffnen des sechsten Siegels respektive nach dem Blasen der sechsten Posaune, ohne die danach offenbarten, in ihrer Struktur ähnlichen Visionen einzuschließen. Maran Atha schließt ebendiese Visionen mit ein und endet erst vor dem Anbruch des mit dem siebten Siegel respektive mit
916 Vgl. Johann Gottfried Herder: Maran Atha. In: SWS IX, S. 237. 917 Ebd. 918 Ebd. 919 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 146. 920 Vgl. Gutzen (Anm. 450), S. 101 f. 921 Vgl. Thomas Johann Bauer: Das tausendjährige Messiasreich der Johannesoffenbarung. Eine literarkritische Studie zu Offb. 19,11–21,8. Berlin 2007, S. 19.
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der siebten Posaune beginnenden Bildes, was Herder folgendermaßen erklärt: „Vor jedem Siebenden erscheint ein Bote, der an den Anfang erinnert und auf das Ende weiset.“⁹²² Wie bereits erläutert, will Herder mit seinem Wechsel von Versen zu Prosa vor allem verhindern, dass die ursprüngliche Dynamik und der natürliche Fluss des Textes einer durch das alternierende Versmaß entstehenden Monotonie zum Opfer fallen. Seiner eigenen Theorie über Bibeldichtung Rechnung tragend, versucht Herder aber sowohl in den jambischen Fassungen wie auch in den späteren Prosa-Versionen, möglichst nahe am biblischen Text zu dichten. Herders Theorie gemäß sind die biblischen Zeugnisse Dichtungen per se, so wie sie ursprünglich aufgeschrieben worden sind. Um sie in dieser Ursprünglichkeit wiederzugeben, brauche es nicht der zeitgenössischen Poetologie entsprechendes dichterisches Können, sondern die Fähigkeit, die ursprünglichen sprachlichen Eigenheiten zu erkennen und adäquat wiederzugeben. Herders Vorgaben an eine gute biblische Nachdichtung lassen sich mit denjenigen vergleichen, die an eine gute Bibelübersetzung gestellt werden. Es ist darum davon auszugehen, dass Herder, der über ausreichende Griechisch-Kenntnisse verfügte, seiner Apokalypse-Nachdichtung neben der Luther-Bibel, die er für ihren klaren, schnörkellosen Stil rühmte, auch den griechisch Originaltext zugrunde legte. Der Vergleich der jambischen Johannes Offenbarung mit Maran Atha auf dem Hintergrund der Luther-Übersetzung und einer griechischen Interlinear-Übersetzung zeigt Herders Arbeitsweise, bei der er in erster Linie darum bemüht war, dem originalen Text möglichst nah zu kommen, bei der er aber auch seine eigenen Deutungen einbrachte. Johannes Offenbarung Enthüllung Jesu Christi, die ihm gab Gott! Das er zeige seiner Schaar, was schnell geschehen soll. Bildbedeutend sandt’ er sie durch seinem Engel seinem Knecht Johannes, der bezeugt hat Gottes Wort und Zeugniß Jesu Christi, das er sah. Heil ihm, der lieset! Heil den Hörenden die Worte der Weissagung! Wer bewahrt was sie verkünden: denn die Zeit ist nah!⁹²³
922 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 239. 923 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 5.
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Maran Atha: Enthüllung Jesu Christi, die Gott ihm gab, zu zeigen seinen Knechten, was in Schnelle geschehn muss. Andeutend in Bildern sandt’ er sie durch seinen Engel seinem Knecht Johannes, der das Wort Gottes bezeugt hat und das Zeugnis Jesus Christi, was er sah. Selig, der da lieset und die hören die Worte der Weissagung und behalten, was in ihr geschrieben ist: denn die Zeit ist nah.⁹²⁴
Luther 1545, Apk. 1,1–3: DJs ist die Offenbarung Jhesu Christi / die jm Gott gegeben hat / seinen Knechten zu zeigen / was in der kürtz geschehen sol / Vnd hat sie gedeutet / vnd gesand durch seinen Engel / zu seinem knecht Johannes / der bezeuget hat das wort Gottes / vnd das zeugnis von Jhesu Christo was er gesehen hat. Selig ist / der da lieset / vnd die da hören die wort der Weissagung / vnd behalten was darinnen geschrieben ist / denn die zeit ist nahe.
Griechischer Originaltext: Offenbarung Jesu Christi, die gegeben hat ihm – Gott, zu zeigen – seinen Knechten, was muss geschehen in Bälde, und er hat (es) kundgetan, gesandt habend, durch – seinen Engel – seinem Knecht Johannes, der bezeugt hat das Wort – Gottes und das Zeugnis Jesu Christi, alles, was er gesehen hat. Selig (ist) der Lesende und die Hörenden die Worte der Weissagung und Bewahrenden das in ihr Geschriebene, denn die Zeit (ist) nahe.⁹²⁵
Herder ersetzt das bei Luther stehende Modalverb „sollen“, das er auch bei seinen jambischen Versionen verwendet, mit „müssen“, das im griechischen Original steht. Anstelle des Wortes „Schaar“, das er auf Grund des Metrums dem Wort „Knechten“ in der ersten Fassung vorzieht, wird wieder das originale Wort verwendet. „Heil“, das er in allen jambischen Vorstufen verwendet, wird zu „Selig“ wie im griechischen Original. Bei der Übersetzung der Partizipien wird deutlich, dass Herder sowohl um die originale Sprache und der darin enthaltenen formalen Einfachheit bemüht ist, wie auch inhaltlich die adäquate Bedeutung wiedergeben will. „Gesandt habend“ macht er zu einem Präteritum, „kundgetan“ wird zu „Andeutend in Bildern“, was Herders Meinung nach eher dem Inhalt entspricht als Luthers „gedeutet.“ Herder betrachtet die Bilder der Apokalypse nicht als bereits gedeutet, wie in der Analyse seiner Kommentare noch zu zeigen sein wird.⁹²⁶ In der jambischen Fassung hat Herder die substantivierte Form „Hörende“ verwendet, was dem Original entspricht. Die Verwendung der verbalen Form, die
924 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 105. 925 Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch. Griechischer Text nach der Ausgabe von Nestle-Aland (26. Aufl.) übersetzt von Ernst Dietzfelbinger. 6., vom Übersetzer korrigierte Auflage. Neuhausen-Stuttgart 1998, S. 1063. 926 Vgl. Kapitel 5.4 und 5.5.
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auch Luther macht, wählt Herder wohl in Zusammenhang mit seinen Beobachtungen zur hebräischen Sprache. Herder geht davon aus, dass sich die poetische Schönheit einer Sprache unter anderem durch die häufige Verwendung von Verben konstituiert, weil dadurch Bewegung und Dynamik entsteht: Also die Sprache, die viel ausdrückende, mahlende Verba hat, ist eine poetische Sprache: je mehr sie auch die Nomina zu Verbis machen kann, desto poetischer ist sie. Ein Nomen stellt immer nur die Sache todt dar; das Verbum setzt sie in Handlung; diese erregt Empfindung, denn sie ist selbst gleichsam mit Geist beseelet.⁹²⁷
Auch im Gebrauch der Zeiten erlaubt sich Herder keine Anpassung, sondern verwendet wie Luther die im griechischen Original gewählten Tempi, auch wenn sie grammatikalisch oder inhaltlich nicht nachvollziehbar sind, wie das folgende Beispiel zeigt: Und wenn die tausend Jahr vollendet sind, wird der Satan los werden aus seinem Gefängnis und ausgehn zu verführen die Völker in den vier Ecken der Erde, den Gog und den Magog, sie zu versammlen zum Kriege, derer Zahl ist, wie der Sand des Meeres. Hinauf zogen sie auf die Breite der Erde und umschlossen die Schutzwehr der Heiligen, die geliebte Stadt.⁹²⁸
Den ungewöhnlichen Zeitwechsel vom Futur ins Präteritum, der inhaltlich nicht nachvollziehbar ist, entstammt dem griechischen Original. Auch bei Luthers Ausgabe letzter Hand ist dieser ungewöhnliche Zeitgebrauch ersichtlich: Vnd wenn tausent jar volendet sind / wird der Satanas los werden aus seinem Gefengnis / vnd wird ausgehen zu verfüren die Heiden in den vier örtern der Erden / den Gog vnd Magog / sie zu versamlen in einem streit / welcher zal ist / wie der sand am Meer. Vnd sie traten auff die breite der Erden / vnd vmbringeten das Heerlager der Heiligen / vnd die geliebte Stad. (Apk. 20,7–9).
Ein weiteres Beispiel, in dem Herder wie auch Luther das ungewöhnliche Nebeneinander von Präsens, Futur und Präteritum verwenden, ist Apk. 11,7–13. Wie aus den eben erläuterten Vergleichen ersichtlich wurde, hat Herder die LutherÜbersetzung wie auch das Original beigezogen, um mit seiner Nachdichtung sinngemäß und formal zu überzeugen. In anderen Passagen ist Herder aber ausschließlich vom griechischen Original ausgegangen, wie anhand von Apk. 11,12 ersichtlich wird:
927 Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. In: FA Bd. 5, S. 657. 928 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 217 f.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Sie hörten eine große Stimme aus dem Himmel, zu ihnen sagend […]⁹²⁹
Luther: Vnd sie höreten eine große stim vom Himel zu jnen sagen […]⁹³⁰
Griechisch: Und sie hörten eine laute Stimme aus dem Himmel sagende zu ihnen: Kommt herauf. Hierher! Und sie stiegen hinaus […]⁹³¹
Herder behält die für das Deutsche ungewöhnliche Verwendung des Partizips als Adjektiv, die „sagende“ Stimme, bei, während Luther daraus ein aktiv konjugiertes Verb macht. Die bisherigen Untersuchungen sind den formalen Veränderungen der ApokalypseParaphrase nachgegangen. Es wurde aufgezeigt, wie Herder der Ursprünglichkeit des Originals, das er als Fortsetzung und zugleich Abschluss der ältesten hebräischen Dichtung betrachtete, mit einer jambischen Einkleidung gerecht werden wollte, später aber zur Überzeugung gelangte, diese Absicht in Prosa besser erfüllen zu können. Bis jetzt unerwähnt gelassen wurden die Kommentare, die Herder ab der dritten Fassung in seine Paraphrase eingeschoben hatte. Herders darin erläuterte Exegese der Johannes-Offenbarung soll im folgenden Kapitel dargelegt werden.
5.4 „Das Manuskript ist bereits in halb Deutschland herumgereicht“: Herders erste kommentierte Versfassung der Apokalypse Um zu erläutern, welche Bedeutung Herder den eben umrissenen Hauptaspekten seiner Ansichten zur Apokalypse beigemessen hat, soll der erste von Herder verfasste Kommentar, den er dem Manuskript Johannes Offenbarung beigegeben hat, mit dem letzten aus der Druckversion Maran Atha verglichen werden. Dadurch wird ersichtlich, in welchen Aspekten Herder zu anderen Interpretationsansätzen gelangt ist und in welchen Bereichen er neue exegetische Akzente gesetzt hat. Die Konzentration auf das dritte Manuskript rechtfertigt sich dadurch, dass
929 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 162. 930 Luther-Bibel 1545. 931 Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch (Anm. 925), S. 1097.
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es den Ausgangpunkt für Lavaters Kritik an Herders Apokalypse-Exegese bildet. Da Lavater beim Verfassen seiner eigenen Nachdichtung der Apokalypse, dem Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, lediglich die Johannes Offenbarung gekannt hat, soll diese im Folgenden als Basis nicht nur für den Vergleich mit Maran Atha, sondern auch für denjenigen mit Lavaters Epos analysiert und interpretiert werden. In den Briefe[n], das Studium der Theologie betreffend schreibt Herder: Bereits vor 6. oder 7. Jahren entwarf ich eine Erklärung – nicht der Offenbarung Johannis, sondern ihrer Bilder, als symbolische Sprache, als Poesie betrachtet. Diese schien oder scheint mir, (so wenig ichs übernahm, sie auf Sachen zu deuten, die sie ausschliessend und unfehlbar bedeuten müssten) so leicht und dabei so schön, so gross, so edel: die Bilder der Propheten erscheinen hier neu, fein und lehrreich; dass ich, begeistert vom Buch, es ganz in Jamben kleidete und mit einem leichten Commentar versah, der die Bilder, insonderheit aus dem A.[alten] T.[estament] nur entwickeln, in ihrem sprechenden Zusammenhange nur vorführen sollte.⁹³²
In diesen Erläuterungen zu Herders Manuskript Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht ohn’ einzelne Zeichendeutung verständlich findet sich Herders poetologisches und theologisches Programm, das er seiner Arbeit an der Apokalypse zugrunde legte. Ausgangspunkt für Herders Interpretation der Johannes-Offenbarung sind die Bilder, deren besondere Ästhetik und große Aussagekraft er für erhabene Poesie hält und aus denen heraus er die theologische Bedeutung der Apokalypse ableitet. Hier kommt sein Verständnis der biblischen Zeugnisse als erste, ursprüngliche Dichtung zum Ausdruck, versteht Herder doch unter ‚Bildern‘ den aus einem unmittelbaren Gefühl heraus entwickelte Ausdruck von Emotionen und Leidenschaften. Diese ‚Bilder‘ gestaltet Herder in seiner Johannes Offenbarung als Strophen, die er mit Kommentaren zu ihrer Erläuterung unterbricht, wie im Folgenden ausführlich gezeigt werden soll. Zur besseren Verständlichkeit und Einordnung der exegetischen Ansichten, die Herder in seinen Kommentaren festhält, werden jeweils Verweise auf aktuelle, zur neusten Exegese der Apokalypse gehörende Arbeiten gemacht. Im ersten Kapitel erzählt Herder in acht Strophen die ersten drei Kapitel der Apokalypse nach. In der ersten Strophe paraphrasiert er den Eingang der Apokalypse (Apk. 1,1–8). Die Offenbarung des Johannes werde angekündigt, so Herders Kommentar, sie stamme von Gott selbst und sei durch Jesus vermittelt. Zu ihrem Inhalt meint Herder: „Sie [die Offenbarung des Johannes] betrift Dinge, die seinen Knechten wissenswerth sind, darüber sie, wenn sie sie lesen, hören,
932 Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 139.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
bewahren, Preis der Glückseligkeit empfangen.“⁹³³ Mit der zu erwartenden Glückseligkeit nimmt Herder vorweg, dass die Johannes-Offenbarung nicht lediglich historisch zu lesen ist, sondern mit einer zukünftigen Hoffnung auf eine endgültige Seligkeit in Verbindung gebracht werden muss. Obschon sich die Offenbarung des Johannes, wie zu zeigen sein wird, Herders Meinung nach in jedem Bild und in jeder Aussage auf ein geschichtliches Ereignis bezieht und dadurch zweifelsfrei gedeutet werden kann, muss die Hauptaussage der Apokalypse als übergeordnete Bedeutung gelesen werden. Die Parusie Christi sei die Botschaft, die der Johannes-Offenbarung zugrunde liege: „Nur Ein Wort im doppelten Sinne Jesu war der Schlüssel: der Herr kommt.“⁹³⁴ Wichtig zu klären für Herders historische Kontextualisierung ist der Zeitpunkt, in dem Johannes die Offenbarung empfangen hat. Johannes habe seine Visionen gesehen, als er bereits ein alter Mann gewesen sei. Zu dieser Zeit habe Kaiser Domitian (51–96) regiert, Jerusalem sei bereits zerstört worden, so meint Herder und rekurriert auf die Geschichtsschreibung von Irenäus von Lyon († um 200) und von Euseb.⁹³⁵ Die von Herder gemachte Datierung entspricht der auch in der neueren Apokalypse-Forschung vertretenen Meinung. Die Verweise auf die Zustände in den mit den sieben Sendschreiben angesprochenen Gemeinden rekurrieren auf die Zeit unter Domitian, auch der sich intensivierende Kaiserkult und die damit verbundenen Probleme und Konflikte für die Judenchristen entsprechen den historischen Tatsachen zwischen 90 und 95 nach Christus, die das Ende der Regierung Domitians markieren.⁹³⁶ Auch wenn das Ausmaß der Verfolgung und Bedrängnis, unter der die Christen unter der Regierungszeit Domitians litten, in der neusten Forschung relativiert wird,⁹³⁷ ist es ein allgemeiner Konsens, die Apokalypse auf diese Zeit zu datieren.⁹³⁸ Die Identität des Verfassers, deren Klärung neben der Bestimmung des Abfassungs-Zeitpunkts das zweite exegetisch umstrittene Problem darstellt, steht für Herder zweifelsfrei fest. Seiner Meinung nach handelt es sich beim in der Apokalypse angesprochenen Johannes um den Evangelisten und Apostel: „Wir hören den vielleicht Einig überbliebnen Apostel, den vielerfahrnen Greis Johannes, in seinem letzten Zeugniß.“⁹³⁹ Die stilistischen Unterschiede zwischen dem Evange-
933 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 5. 934 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 32. 935 Vgl. ebd., S. 6. 936 Vgl. Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. Göttingen 1994, S. 591. Zum Kaiserkult vgl. Broer (Anm. 749), S. 680–682 sowie Niebuhr (Anm. 749), S. 261 f. 937 Vgl. Schnelle (Anm. 936), S. 607. 938 Vgl. Broer (Anm. 749), S. 682 sowie Schnelle (Anm. 936), S. 607. 939 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 6.
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lium und der Apokalypse erklärt Herder durch den Zeitpunkt und die Umstände des Verfassens wie durch den Inhalt und den Zweck, in denen sich die beiden Werke grundsätzlich unterscheiden würden.⁹⁴⁰ In der zweiten Strophe paraphrasiert Herder die an Johannes gerichtete Aufforderung, Sendschreiben zu verfassen und diese an sieben Engel von sieben kleinasiatischen Christusgemeinden zu versenden (Apk. 1,9–20). Um die sieben Sendschreiben zu verstehen, brauche es keine über das Geschriebene hinausgehende Deutung, Johannes habe keine diesbezüglichen Anweisungen erhalten: Es ist also kein Zweifel, dass Jesus hier nicht Mystisch, sondern sehr genau, einzeln, und bestimmt spreche. So war der Zustand jeder Gemeine in ihrem Innersten. Dass Jesus es traf und wusste und Gutes und Böses und Herz und Nieren mit zweischneidigem Schwert schied, war eben der auf dringende Beweis seines Flammenauges.⁹⁴¹
Die verschiedenen Symbole seien aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen, es handle sich dabei um Bilder aus der chaldäischen Kultur.⁹⁴² In der dritten, vierten, fünften und sechsten Strophe werden die ersten vier Sendschreiben beschrieben (Apk. 2,1–29), das fünfte und das sechste Sendschreiben sind in der siebten Strophe zusammengenommen (Apk. 3,1–13), das siebte Sendschreiben wird in der letzten Strophe nacherzählt. Die Sendschreiben würden zwar explizit auf die in den angesprochenen Gemeinden herrschenden Zustände hinweisen, hätten aber trotzdem eine symbolische Gesamtaussage, so Herders Interpretation. Sie spiegeln das Gemüt jedes Christen, so meint Herder abschließend zum ersten Kapitel seiner Offenbarung: Gibts Zustand Eines Gemüths, Eines Christen, Einer Gemeinde und ihres Engels, der sich nicht in Einem dieser Briefe mit Flammenblick ins Herz, Auferweckung, Warnung, Rath, Lohn finde? Wahrlich, offne Briefe vom Himmel, an seine Gemeinden, bis ans Ende der Tage! Wer sie durchblickt, in ihnen nichts, als Eins und Sieben, Flammenblick der Sieben Fackeln und Läuterung zu Sieben Sternen sieht, nur das einige ewige ‚ich komme!‘ in ihnen hört: der ist vorbereitet, die ganze Offenbahrung so leicht zu verstehn, wie wir sie verstanden.⁹⁴³
Herder ist mit seiner Ansicht, dass sich die Sendschreiben an jedes Individuum der christlichen Kirchen richten, einen Schritt weitergegangen als die gegenwärtige Exegese. Dort wird erläutert, dass die sieben Briefe, obschon sie an unter-
940 Vgl. ebd., S. 7. 941 Ebd., S. 10. 942 Vgl. ebd. 943 Ebd., S. 18.
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schiedliche Gemeinden gerichtet sind, trotzdem ein Ganzes im Blick haben, nämlich die Gesamtheit der damaligen Christen, also die christliche Kirche.⁹⁴⁴ Das zweite Kapitel teilt Herder in fünf Strophen ein, in denen er in der ersten Strophe zuerst die Einleitung paraphrasiert, in der Gott als der Grund und die höchste Macht der Welt vorgestellt wird (Apk. 4,1–11), und dazu meint: „Das Gesicht ist die Erscheinung Deß, der war und ist und seyn wird, des Alllebenden, Allumfassers: also der Offenbahrung tieffster Grund und Anblick.“⁹⁴⁵ Indem Herder immer wieder explizit die Göttlichkeit des Geschehenen betont, nimmt er implizit Stellung zur Kanondiskussion. Für ihn gibt es keinen Grund, an der Kanonizität der Johannes-Offenbarung zu zweifeln, seiner Meinung nach ist das letzte Buch des Neuen Testaments trotz seiner Geheimnisse eine in seinem Sinne verstandene göttliche Offenbarung.⁹⁴⁶ Bei der Interpretation der vier Tiere, die sich um den Thron Gottes befinden, rekurriert Herder wie auch die heutige Exegese auf Ezechiel und Jesaia⁹⁴⁷ und deutet sie als Ganzheit alles Lebendigen in Gottes Schöpfung.⁹⁴⁸ In der zweiten Strophe geht es um Jesus als Opferlamm (Apk. 5,1–14). Polemisch fragt Herder, wieso man nicht verstehen könne, dass Jesus als geschlachtetes Lamm dargestellt werde. Jesus bringe ein Blutopfer, wenn er zur Erlösung der Menschheit sterbe; das sei die Aussage dieses Bildes, zu dem er meint: „Konnte der Gottmensch und Menschenheiland werther gefeiert werden, als in diesem Einen Bilde?“ Die Wichtigkeit, die der Bezeichnung „Lamm“ für Jesus in der Apokalypse zukommt, wird an der Häufigkeit der Nennung ersichtlich, wird doch Jesus insgesamt neunundzwanzig Mal als „Lamm“ genannt.⁹⁴⁹ In der dritten Strophe werden die Öffnung der ersten vier Siegel und ihre Auswirkungen beschrieben (Apk. 6,1–8), sie stellen den Anfang des mit Christus anbrechenden endzeitlichen Geschehens dar.⁹⁵⁰ Herder weist in seinem Kommentar darauf hin, dass nicht nach weit hergeholten Bedeutungen gesucht werden soll, sondern dass die ersten vier Siegel in ihren dargestellten Aussagen zu verstehen sind als Abbilder vom Elend, das auf die Menschen zukommen wird.⁹⁵¹ Die vier ersten Siegel seien in ihrer allgemeinen universalen Bedeutung über die Schrecken der Endzeit zu lesen, es dürfe nicht nach konkreten Anhaltspunkten auf historische Ereignisse gesucht werden:
944 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 34. 945 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 20. 946 Zu Herders Verständnis der göttlichen Offenbarung vgl. Kap. 5.2. 947 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 55. 948 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 21. 949 Vgl. Schnelle (Anm. 936), S. 588 sowie Holtz (Anm. 749), S. 60. 950 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 63. 951 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 26 ff.
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Die vier Siegel sind also so wenig der und jener Kaiser, dies oder jenes Zugvolk, die oder jene Schlang’ und Kröte, nach selbstbeliebigem Zeitenkalender […]. Es sind vier bekannte, allverständliche, anschaubare Symbole in Vorstellungen und Handlung nach dem ganzen Universum. Hier zeucht der Sieg, dort der Würger, hier Hunger, dort Pest und Tod.⁹⁵²
Auch in der zeitgenössischen Exegese wird vom Ende der Welt gesprochen, das sich mit Schrecken ankündigt und irreversibel voran schreitet.⁹⁵³ Die vierte Strophe widmet Herder dem fünften Siegel, in dem von den Märtyrern und ihrem Leid berichtet wird (Apk. 6,9–11). Herder stellt die Dramatik der Situation dar, indem er impliziert, dass Gott die für seinen Namen Verstorbenen vergessen hat, und zweimal mit den Worten „Schreckliches Siegel des Buchs Gottes“ einleitet, wie schlimm und aussichtslos die Situation für die Gläubigen aussieht. Jeder Prophet Gottes musste sterben, so Herders Kommentar, und polemisch meint er, dass es sich nicht zu lohnen scheint, für die Wahrheit zu kämpfen: Schreckliches Siegel des Buchs Gottes. Was ist das Edelste in der Welt? Was schreien wir alle, dass es das Edelste, Göttlichste, Verdienstlichste sei, als Wahrheit, Güte, Weltüberwindende Unschuld? Wohlan! […] Und du Heiliger! Gerechter! Vater der Wahrheit, der sie sandte, für den sie, in seinem Werke, todt oder lebendig starben, richtest fort, hast sie vergessen – schweres Siegel der Weltregierung Gottes.⁹⁵⁴
Die Erlösung werde aber kommen, sie sei im weißen Gewand, das den Märtyrern gegeben wird, symbolisiert.⁹⁵⁵ Diese Erlösung wird auch in der aktuellen Exegese angesprochen, sie ist gemäß Holtz die Hauptaussage dieser Verse.⁹⁵⁶ In der letzten Strophe wird die Öffnung des sechsten Siegels nacherzählt (Apk. 6,12–17), in dem der Untergang der Welt beschrieben ist. Die Ereignisse nähern sich mit raschem Tempo dem Ende, so erläutert Herder in seinem Kommentar. Nichts sei zur Ewigkeit gemacht, so Herder in pathetischem Duktus, in Apostrophen an Sonne, Mond, Himmel und Berge fragt er, was sein wird, wenn sie nicht mehr existieren: Du ewige Sonne, und du unser unabtrennbarer, sanfter Freund, o Mond! Und ihr Grundfesten der Erde, ihr hohen Berge der Vorwelt – seid Ihr ewig? […] Was wird seyn, wo du, leuchtende Sonne, thronest, und du freundlicher Mond und du Himmel, voll unzählbarer Schaaren?⁹⁵⁷
952 Ebd., S. 27. 953 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 65. 954 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 29. 955 Vgl. ebd. 956 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 66. 957 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 30.
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Allerdings vergisst Herder nicht darauf hinzuweisen, dass es sich nur um die Siegel des Buches und somit um äußere Tatsachen handelt. Der eigentliche Inhalt müsse erst noch offenbar werden, er würde die zum Teil unverständlichen Andeutungen und Symbole erklären.⁹⁵⁸ Am Ende des zweiten Kapitels weist Herder nochmals auf die seiner Meinung nach bereits stattgefundene Zerstörung Jerusalems hin. Nur indem Johannes diese miterlebt habe, könne er die ihm vermittelten Bilder nachvollziehen und den Sinn der Offenbarung verstehen, da sich in der Zerstörung Jerusalems die Zerstörung der Welt widerspiegle: Zeugen nicht blos, wovon die Geschichte zeugt: denn welch Zeugnis wäre das? Sondern lange nach der Zerstörung, die er als Ankunft Jesus gewiss bemerkt haben wird, die ihm lebhaft in der Seele schwebte, sah er mit Bildern und Vorstellungen ihrer, ihr Gegenbild, die zweite grössere Zukunft […] Schöne Probe, wie Gott offenbahret. Er verrückt nicht den Kopf: Johannes hatte gesehen; er kannte die Bilder, konnten in ihnen den höhern Sinn der Weissagung fassen und weil er davon gewiss innig gerührt war, auch schildern.⁹⁵⁹
Herder webt in seiner Erklärung zur Art und Weise, wie Johannes die ihm offenbarten Bilder aufgeschrieben hat, seine Ansichten über den Ursprung von Dichtung mit ein. Analog der alttestamentlichen Zeugnisse, die aus den sinnlichen Eindrücken über die Welt und Gott entstanden sind, ist auch das letzte Buch des Neuen Testaments der Ausdruck von Affekten. Tief berührt von den Ereignissen, die Johannes in der kriegerischen Auseinandersetzung um Jerusalem erlebt hat, erscheinen sie ihm wieder, um die bevorstehende, von Gott offenbarte Zukunft zu prophezeien, so Herders Theorie. Das dritte Kapitel ist in sieben Strophen eingeteilt. In der ersten Strophe werden die mit einem Siegel gekennzeichneten Erretteten beschrieben (Apk. 7,1–17). Herder erzeugt besondere Spannung, indem er die erste Strophe mit dem Brechen des siebten Siegels enden lässt, so dass der Leser noch im Unklaren darüber ist, welche Ereignisse die Öffnung dieses letzten Siegels zur Folge hat. Im Kommentar deutet Herder die ersten Verse aus Apk. 7 als Trost spendende Vorbereitung auf die bevorstehenden schrecklichen Ereignisse. Danach paraphrasiert er das Öffnen des siebten Siegels. Das Buch, das die Geschichte der Welt enthält, ist nun vollständig geöffnet, alles kommt für eine halbe Stunde zum Stillstand, danach erhalten sieben Engel ihre Posaunen (Apk. 8,1–2). Doch bevor diese blasen, so Herder in einem kurzen Kommentar, wird ein weiteres Bild eingeschoben, nämlich der Engel mit der Räucherpfanne, dessen Rauch zu Gott emporsteigt und der gleichzeitig Erdbeben und Gewitter auf die Erde sendet (Apk. 8,3–5), wie Herder
958 Vgl. ebd., S. 31. 959 Ebd., S. 32.
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in der dritten Strophe nacherzählt. In der vierten Strophe werden die ersten vier Posaunen geblasen (Apk. 8,6–12), in der fünften Strophe zeichnet Herder das Bild des Adlers nach, der die dreimaligen Wehen der Erde verkündet (Apk. 8,13). Die Ereignisse, die durch das Blasen der fünften und sechsten Posaune geschehen, beschreibt Herder in den Strophen sechs und sieben des dritten Kapitels (Apk.9, 1–12; Apk.9, 13–21). Im Kommentar weist er auf den Aufbau der Apokalypse hin, indem er die vier Trompeten mit den ersten vier Siegeln vergleicht und somit wie die aktuelle Forschung bemerkt, dass die Visionen von Johannes einem bestimmten Schema folgen.⁹⁶⁰ Die fünfte Trompete übertreffe in ihrer Gravität die ersten vier, da sie nicht mehr nur die Natur zerstöre, sondern auf die Menschheit selbst ziele.⁹⁶¹ Bei der sechsten Posaune werde es noch schlimmer, in ihrer Absicht liege es nicht nur zu quälen, sondern zu töten.⁹⁶² Indem Herder immer wieder auf das Vorangehende verweist und die Steigerung der Ereignisse in ihrer Grausamkeit betont, macht er die Dramaturgie der Apokalypse deutlich. Herders Deutung gemäß sind alle Bilder aufeinander bezogen und entwickeln Schritt für Schritt in immer schneller voranschreitendem Tempo die Ereignisse bis zum Ende der Welt. Das vierte Kapitel teilt Herder in elf Strophen. Die erste Strophe paraphrasiert den Engel, der ein Buch vom Himmel bringt und ankündigt, dass die Frist beim Posaunen des siebten Engels abgelaufen sei (Apk. 10,1–7). Herder unterbricht hier einerseits, um die Spannung über die Bedeutung des Engels aufrechtzuerhalten, andererseits aber auch, um seiner Meinung nach falschen Interpretationen vorzubeugen. Aus seinem Kommentar lässt sich schließen, dass die Identität des Engels früheren Exegeten diverse, in Herders Augen nicht haltbare Thesen entlockt habe: „Wer ist der Engel? Arndt, Luther, Spener, Bengel? – Lästerung! Ein Engel! Der Engel, als den ihn Johannes darstellt.“⁹⁶³ In der neueren Auslegung wird darauf hingewiesen, dass Johannes keine eindeutigen Merkmale liefert, mit denen der Engel identifiziert werden kann, so dass in Frage gestellt wird, ob es Johannes überhaupt um eine exakte Identifikation des Engels ging.⁹⁶⁴ Wieder wird Herders Ansatz deutlich, das Dargestellte möglichst in seinem ursprünglichen Sinn zu belassen und nicht mit zu Zweifeln und Unklarheiten führender Symbolik aufzuladen. Das Bild zeige den ewigen Bund Gottes, so Herder, und er zitiert dabei die ersten zwei Verse der dreizehnten Strophe aus Paul Gerhardts (1607–1676) Lied Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich. Herder macht
960 Vgl. ebd., S. 38 sowie Holtz (Anm. 749), S. 64. 961 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 41. 962 Vgl. ebd., S. 43. 963 Ebd., S. 45. 964 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 80.
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dadurch auf die Erbauung und Bestärkung aufmerksam, die in der Apokalypse wie auch in Gerhardts Lied ausgedrückt werden. Die zweite Strophe paraphrasiert die vom Himmel kommende Aufforderung an Johannes, ein sowohl süß wie auch bitter schmeckendes Buch zu verspeisen und erneut Prophezeiungen auszusprechen (Apk. 10,8–11). Herder vergleicht an dieser Stelle Johannes mit einem Dichter, der kurz davor ist, den traurigsten Teil seines Werks niederzuschreiben, und verweist somit einmal mehr auf die poetische Gestalt der Apokalypse.⁹⁶⁵ Die dritte Strophe hat die Vermessung des Tempels zum Thema (Apk. 11,1–2), in der zerstörten Stadt, die ebenfalls angesprochen wird, sieht Herder Jerusalem,⁹⁶⁶ was auch in der zeitgenössischen Exegese nicht in Frage gestellt wird.⁹⁶⁷ In den Erläuterungen zur dritten Strophe, die Apk. 11,3–8 paraphrasiert, geht Herder auf die zwei Zeugen ein, die 1260 Tage auf Erden als Propheten tätig sind. Er kann ihre Identität noch nicht festlegen, kündigt aber an, sie vielleicht mit dem nächsten Bild respektive der nächsten Strophe, die Apk. 11,9–13 zum Inhalt hat, erläutern zu können. Aus diesen Versen, in denen die Zeugen begraben werden und auferstehen, schließt Herder, dass es sich nicht um zwei bestimmte Propheten handelt, sondern um Stellvertreter für alle gläubigen Christen: „Wir sehen, es ist nicht Der und Der: es ist das allgemeine Bild der Zeugen Jesu.“⁹⁶⁸ Herders Meinung wird auch in der neusten Auslegung vertreten, in der davon ausgegangen wird, dass Johannes zwar bei der Beschreibung der Zeugen traditionelle, auf verschiedene alttestamentliche Propheten zutreffende Elemente verwendet, dass er dabei aber keine ausdrückliche Identifikation im Visier gehabt hat.⁹⁶⁹ In der nächsten Strophe ertönt die siebte Posaune, und die Bundeslade erscheint durch den geöffneten Tempel Gottes im Himmel (Apk. 11,14–19). Hier ist gemäß Herder die zentrale Stelle der Apokalypse dargestellt, aus der er ihre allgemeine Bedeutung ableitet: Fasse die Trommeten zusammen. Er kommt! Ist ihre Stimme. Der Engel schwurs. Die Siegel bereitetens vorher. Die Briefe aller Gemeine ruffen: ich komme! Des Verkündigers Erstes Wort, und wird sein letztes seyn im Buche.⁹⁷⁰
Die Bundeslade lasse auf den ewigen Bund, d. h. das versöhnliche Ende schließen, doch bevor dieses eintreffe, müsse mit schrecklichen Ereignissen gerechnet werden:
965 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 47. 966 Ebd. 967 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 83. 968 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 49. 969 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 85. 970 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 52.
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Die Bundeslade wird gesehen: der Bund ist ewig. Aber durch welche Schmerzen noch zu gebären! Aus welchem Kriege muss erst der Sieg werden, dass Gott herrsche, Einer in Allem. Wapne dich, Leser, auf den Weg: das Ende ist desto grösser.⁹⁷¹
Es folgen die Geburt des Kindes, der himmlische Kampf, den der Engel Michael gewinnt, und der Sturz des Drachens aus dem Himmel (Apk. 12,1–12). Herder kommentiert die Frau, die das Kind zur Welt bringt, mit der zweiten und dritten Strophe aus Martin Luthers Lied Ein Lied von der heiligen christlichen Kirche, aus dem 12. Kapitel der Offenb. Joh. (1535), er lässt aber die Verse „sie ist die Braut, / dem Herrn vertraut“ aus der zweiten Strophe weg, was wohl das Resultat der unterschiedlichen Interpretation ist. Für Luther handelt es sich, wie bereits der Titel des Lieds ausdrückt, bei der Braut um die von Gott auserwählte christliche, genauer ausgedrückt die reformierte Kirche, die sich fortan gegen das Böse durchsetzen muss.⁹⁷² Herder hingegen will keine spezifische Deutung geben, er erwähnt lediglich, dass es sich bei der Gebärenden nicht um Maria handelt. Wichtiger als die Identifikation der Frau ist ihm die Bedeutung der Gesamtszene, die zusammen mit dem nachfolgenden Kampf im Himmel den „härteste[n] Mittelpunkt der Offenbarung“⁹⁷³ darstellt: „Gebrochen wird die Schale, die den ganzen sicht- und unsichtbaren Kern fasset: Licht und Finsternis kämpfen um die Herrschaft der Welt im Ursitz, aus dem sich Alles spiegelt.“⁹⁷⁴ Gemäß der heutigen Exegese handelt es sich beim Kind unverkennbar um den Messias, allerdings ist die gebärende Frau nicht Maria, die Mutter von Jesus, sondern sie symbolisiert das wahre Gottesvolk, das aus einem Zusammenschluss der Gemeinden des Alten Bundes mit den neuen christlichen Gemeinden besteht.⁹⁷⁵ Im himmlischen Kampf sieht Herder das Urbild des Kampfes zwischen dem Guten und Bösen, das den Sieg des Ersteren auch auf der Erde prophezeit.⁹⁷⁶ Die Erde müsse aber noch viel Schlimmes ertragen, so Herders zur nächsten Strophe überleitenden Worte. Es folgt die Flucht in die Wüste und die Verfolgung durch den Drachen (Apk. 12,13–17). Die Zeit, welche die Frau in der Wüste verbringt, identifiziert Herder als „die 3½ Jahre der Jüdischen Verwüstung, da die Christen in der Wüste jenseits des Jordans sich retteten und kümmerlich ernährt wurden. […] Die Zahl hat also wieder nichts Mystisches, sie ist vergangene Geschichte.“⁹⁷⁷ Herders
971 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 52. 972 Vgl. Maier (Anm. 830), S. 298. 973 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 54. 974 Ebd. 975 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 92. 976 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 54. 977 Ebd., S. 55 f.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Meinung nach deutet alles auf die Zerstörung Jerusalems hin, der Empfang der Offenbarung ist auf die Zeit danach zu datieren. Herder hält aber fest, dass die Apokalypse nicht einfach die Geschichte nacherzählt, sondern in deren Einkleidung als Allegorie auf die Zukunft zu lesen ist: Eben aber, weil sie [die Geschichte] so oft und unter mancherlei Gestalten neu und fortgehend vorkommt, siehet man: dass diese vergangene Geschichte nicht Johannes Zweck sei (schlechte Geschichte!) sondern Einhüllung in sie! Schöpfung aus ihr zu einem fortgehenden wie höhern Sinne!⁹⁷⁸
Aus der Sicht der heutigen Exegese lässt sich Herders Deutung nicht halten, da die Johannes-Offenbarung vor die Zerstörung Jerusalems datiert wird. Die Zeit lasse sich aber trotzdem aus der Geschichte bestimmen, und zwar aus der jüdischen. Die Wüste sei seit jeher der Rettungsort für das bedrohte Gottesvolk gewesen, die Zeit, die es darin verbringe, variiere und knüpfe hier an die Zeit der zwei Gotteszeugen aus Apk. 11,3 an.⁹⁷⁹ In der neunten Strophe erscheint ein böses Tier aus dem Wasser, das von allen angebetet wird, lediglich diejenigen verwehren das Gebet, die in das Buch des Lebens eingeschrieben sind (Apk. 12,18; 13,1–10). Herder sieht hier eine Vorwegnahme des römischen Reichs, das in seiner Grausamkeit den Christen gegenüber geschildert wird,⁹⁸⁰ was auch die zeitgenössische Exegese bestätigt.⁹⁸¹ Ein weiteres Ungeheuer erscheint, dessen Namen die Zahl 666 trägt (Apk. 13,11–18), wie Herder in der zehnten Strophe paraphrasiert. Diese Zahl, die gemäß heutiger Bibelforschung immer noch zu einem exegetischen Rätsel gehört,⁹⁸² interpretiert Herder als Kennzeichen für Rom.⁹⁸³ In der letzten Strophe des dritten Kapitels werden die 144 000 beschrieben, die das Siegel Gottes tragen und zu den Erstlingen Gottes und des Lamms gehören. Sie symbolisieren gemäß Herder Hoffnung und Bestärkung für die Gläubigen,⁹⁸⁴ Johannes versichere den treuen Nachfolgern Jesu Christi bereits die eschatologische Gewissheit auf Heil und ewiges Leben, so sieht es auch die heutige Exegese.⁹⁸⁵ Das fünfte Kapitel beginnt Herder nicht paraphrasierend, sondern mit einem eigenen Kommentar. Er weist auf das im Bild des Lamms als Erlöser vorwegge-
978 Ebd., S. 56. 979 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 92. 980 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 58. 981 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 97. 982 Vgl. ebd., S. 100. 983 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 60. 984 Vgl. ebd., S. 62. 985 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 103.
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nommene gute Ende hin. Trotz der vielen Kampf und Leid darstellenden Visionen gebe es dank den Gesichtern, in denen Jesus erscheint, keine Zweifel über den Sieg des Guten, lediglich die Zeit seines Eintreffens sei unklar.⁹⁸⁶ Bereits fordern drei Engel in ihren Verkündigungen die Gottgetreuen zum Durchhalten auf, so paraphrasiert die erste Strophe Apk. 14,6–13. Herder kommentiert dieses Bild wieder mit dem Lied Paul Gerhardts, er zitiert die zwei ersten Verse aus der zehnten und Vers drei und vier aus der elften Strophe, in denen der Trost, der vom Geist Gottes ausgeht, und die Beständigkeit des Himmels gepriesen werden. Wieder betont Herder die Erbauung, die in der Apokalypse vermittelt werde und die auch Gerhardt in seinem Lied ausdrücke. Die zweite Strophe beschreibt den auf einer Wolke vom Himmel kommenden Jesus, der zusammen mit Engeln zur letzten Ernte auf der Welt schreitet (Apk. 14,14–20). Herder beendet die Strophe mit Johannes’ Vision von den sieben Engeln, welche die letzten sieben Plagen bereithalten (Apk. 15,1). In seinem Kommentar weist Herder auf die Eile hin, die nun zu verspüren ist. Das Ende sei nahe, zuerst aber müssten die sieben letzten Plagen kommen. Da sie viel schlimmer sein würden als die im Alten Testament Beschriebenen, die das ägyptische Volk über sich hatte ergehen lassen müssen, schiebe Johannes Worte der Stärkung ein, so Herders Übergang zur dritten Strophe. Diese erzählt von den ‚Überwindern‘, die am gläsernen Meer vor Gottes Thron das Lied von Moses singen (Apk. 15,2–4).⁹⁸⁷ Sie hätten, so Herders Erläuterung, bereits überstanden, woran die Erde noch leide, sie seien sich des guten Endes gewiss. Bevor dieses aber eintrete, würden die letzten sieben Plagen kommen.⁹⁸⁸ Die nahende Erlösung, so sieht es auch die aktuelle Interpretation, werde angesprochen und solle erbauen und bestärken in Anbetracht der schlimmen Ereignisse, die noch bevorstehen.⁹⁸⁹ In der dritten Strophe paraphrasiert Herder die ersten vier Plagen, die von den Schalen der sieben Engel ausgehen (Apk. 15,5–16,9). Herder weist wieder darauf hin, dass die Apokalypse symmetrisch aufgebaut ist, so dass die vier Plagen in ihrer Struktur den vier Posaunen und den vier Siegeln entsprechen.⁹⁹⁰ Dann gießt der fünfte Engel seine Schale aus, wie Herder in der siebten Strophe paraphrasiert (Apk. 16,10–11). Noch immer lästern die Ungläubigen, so Herders Kommentar. In der achten Strophe wird das Ausgießen der Schalen der letzten beiden Engel nacherzählt (Apk. 16,12–21). Alles laufe nun zusammen, so Herders Erläuterung zur sechsten
986 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 63. 987 Vgl. ebd., S. 65 f. 988 Vgl. ebd., S. 66. 989 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 106. 990 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 68.
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Plage, das Böse, das sich zuvor im Drachen, im Tier und im falschen Propheten gezeigt habe, werde zu Einem.⁹⁹¹ Auch in der zeitgenössischen Exegese wird die Einheit der drei gottwidrigen Gestalten betont.⁹⁹² Die Stadt, die beim Ausgießen der siebten Schale in drei Teile zerfällt, ist Herders Meinung nach Jerusalem.⁹⁹³ Was mit dem ebenfalls angesprochenen Babel gemeint sei, erkläre der Engel, so Herders Überleitung zur nächsten Strophe, die Apk. 17,1–9 paraphrasiert. Herders Deutung gemäß drückten die vorangegangenen Visionen das Ende der Welt in Bildern von der Zerstörung Jerusalems aus. Nun werde mit Babylon eine alttestamentliche Referenz gemacht, um Zerstörung zu symbolisieren. Dadurch könne Johannes, dessen Gemüt durch die wiedererweckte Erinnerung an den Untergang seines Volkes bereits arg in Mitleidenschaft gezogen sei, in seinen Empfindungen geschont werden.⁹⁹⁴ Auch in der heutigen Exegese wird Babylon als Deckname für Rom erklärt, allerdings ohne auf die von Herder gemachte Erklärung über die seelische Befindlichkeit von Johannes zurückzugreifen.⁹⁹⁵ Im Tier aus Apk. 17,8, das gleichzeitig existiert und nicht existiert, sieht Herder ein Symbol für Schein und Trug, das in direkter Opposition zur Gottesprädikation stehe: In einem Buche, wo Gott immer und ewig Der heisst, der ist und war und seyn wird: wie kannst du den Ungott besser beschreiben, als der nicht ist, nicht war, nicht seyn wird? Und wie das Blendwerk, den Abgott besser, als: der nie ist, aber immer war, und seyn wird – Schatte aus dem Abgrund’ aufsteigend und ins Verderben fahrend? Kein Platoniker, (die so viel über das Seyn und die vorbeifließenden Gestalten geredet) hat eine wahrere, edlere Beschreibung des Blendwerk geben können, als diese: nie ists: immer wars und wird seyn – ein verderbender, nichtiger Schatte des Undings.⁹⁹⁶
Auch die aktuelle Exegese charakterisiert das Tier, das mit der Frau gleichgesetzt wird, als Parodie und als Negation Gottes.⁹⁹⁷ Dass dieser auf Trug und Schein basierende ‚Ungott‘ mit der Weltmacht Rom zu identifizieren sei, erläutert Herder mit Versen aus Horaz, Carm III (45, 46 und 53–56), in denen auf die Stärke und die Unbesiegbarkeit Roms hingewiesen wird. Danach paraphrasiert Herder in einer weiteren Strophe, was der Engel zu der Interpretation des Tieres sagt (Apk. 17,9–11), und sieht in dessen Worten seine Meinung bestätig, dass die Weltmacht Rom angesprochen ist. Gleichzeitig werde die Reihenfolge der römischen Kaiser
991 Ebd., S. 69. 992 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 111. 993 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 70. 994 Vgl. ebd., S. 71 f. 995 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 114. 996 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 72. 997 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 115.
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August, Tiber, Kaligula, Claudius und Nero genannt, sie seien vor der Zerstörung Jerusalems gefallen. Als Jerusalem erobert wurde, war Vespasian an der Macht, danach kam die zweijährige Regierungszeit von Titus. Der Christenverfolger Domitian ist gemäß Herders Interpretation der achte Kaiser, während dessen Regierungszeit Johannes seine Offenbarung empfing.⁹⁹⁸ Die heutige Exegese ist sich zwar gewiss, dass das Zahlenrätsel auf dem Hintergrund der historischen Ereignisse entstanden ist, verweist aber darauf, dass keine eindeutige Lösung gefunden werden kann, was unter Umständen der Intention von Johannes durchaus entsprechen könne.⁹⁹⁹ Herder fährt mit der neunten Strophe fort, in der es um die Hörner des Tieres geht (Apk. 17,12–14). Herder deutet sie als Vasallen Roms, die zusammen mit dem Kaiser gegen die Christen kämpfen.¹⁰⁰⁰ In der zehnten Strophe geht Herder weiter auf Rom als die Welt beherrschende Macht ein (Apk. 17,15–17).¹⁰⁰¹ Die zwölfte Strophe besteht aus nur zwei Versen, es geht um die Stadt, die in der Johannes-Offenbarung als Hure bezeichnet wird (Apk. 17,18) und die Herder als untergehende Stadt Babylon deutet, was seiner Meinung nach den endgültigen Untergang der Welt impliziert. Herder betont, dass die Bilder zwar auf dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse gelesen werden müssen, jedoch nicht auf absolute Faktizität geprüft werden dürfen: Und nun, wenn wir diesen Untergang sehen, Wehklagen über ihn mit allen Stimmen, Posaunen und Trommeten aller Wehruffenden Propheten hören: lasset uns nicht ans Politische Rom und wenn? Und denn? Und so und also denken. Das ist nicht Zweck Johannes, sondern Bild der Fassung aus der Geschichte seiner Zeit.¹⁰⁰²
Im zwölften Abschnitt wird der Untergang der Stadt Babylon/Rom beschrieben (Apk. 18,1–24), was Herders Kommentar gemäß wiederum auf die vorher angesprochene übergeordnete Deutung des Bildes anspricht, der gemäß alles auf der Welt vergeht.¹⁰⁰³ Das sechste Kapitel unterteilt Herder in sieben Strophen. In der ersten wird die Siegesfeier paraphrasiert, die Gott und das Lamm im Himmel zelebrieren (Apk. 19,1–10). Herders Meinung nach kommt in diesem Lobgesang die Botschaft des Buches mit den sieben Siegeln, die darin besteht, das Böse aus der Welt zu
998 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 73 f. 999 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 116. 1000 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 75. 1001 Vgl. ebd., S. 75 f. 1002 Vgl. ebd., S. 76. 1003 Vgl. ebd., S. 79.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
verbannen, so dass nur noch Gott als Alleinherrscher übrigbleibt, zusammengefasst zum Ausdruck: Gott, der da ist Ein und Alles, A. und O., der Allumfasser, das Einige, was ist und würkt in der Schöpfung, muss Ein und Alles werden, auch als solches erkannt, gefühlt, verherrlicht werden, wo und wie es nur erkannt, gefühlt, verherrlicht werden kann: Abgötter, Trug, Schatten und Blendwerk muss weg aus der Schöpfung.¹⁰⁰⁴
In der Hochzeit des Lammes mit seiner Braut, der christlichen Feier, werde die endgültige Herrschaft Gottes zelebriert, so sieht es auch die aktuelle Exegese.¹⁰⁰⁵ In der zweiten Strophe erscheint ein Reiter auf einem weißen Pferd mit einem Schwert im Mund (Apk. 19,11–16), der von Herder wie auch der neueren Exegese als Jesus erkannt wird.¹⁰⁰⁶ Herder kommentiert dieses Bild, indem er Jesaja 63,1–6 paraphrasiert und einmal mehr darauf verweist, dass viele der Bilder des Johannes aus dem Alten Testament stammen.¹⁰⁰⁷ In der nächsten Strophe werden das Tier und der falsche Prophet in den Feuerpfuhl gestürzt (Apk. 19,17–21). Das Böse unterliegt, so Herders Kommentar, das versöhnliche Ende kommt einen großen Schritt näher.¹⁰⁰⁸ Dann wird, so Herder in der vierten, Apk. 20,1–4 paraphrasierenden Strophe, der Satan tausend Jahre lang verbannt, und das Reich Christi auf Erden bricht an. Die „Urquelle des Bösen“¹⁰⁰⁹ sei zwar noch nicht vernichtet, aber für eine gewisse Zeitspanne untätig gemacht. Wie lange die Verbannung Satans andauere, sei ungewiss, denn die in der Apokalypse genannten tausend Jahre könnten wie keine der von Johannes angegebenen Zahlen wörtlich genommen werden. Es handle sich um eine von Gott festgelegte, für die Menschen unbestimmte Zeit, eine Art von Sabbat nach den vielen Jahren des Kampfes und Schreckens.¹⁰¹⁰ Wie genau das Tausendjährige Reich Christi auf Erden zu verstehen sei, kann auch in der heutigen Exegese nicht eindeutig erklärt werden.¹⁰¹¹ Die realistisch-endgeschichtliche Deutung geht davon aus, dass der Verfasser der Apokalypse mit einem realen Tausendjährigen Reich Christi auf Erden rechnet, das am Ende der Weltzeit anbricht.¹⁰¹² Die symbolisch-endgeschichtliche Aus-
1004 Ebd., S. 81. 1005 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 122. 1006 Vgl. ebd., S. 124. 1007 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 83. 1008 Ebd., S. 84. 1009 Ebd., S. 85. 1010 Vgl. ebd. 1011 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 128. 1012 Vgl. Bauer (Anm. 921), S. 25 f.
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legung sieht die Aussage des Millenniums in der symbolisch zu verstehenden Belohnung, die auf die gläubigen Christen wartet.¹⁰¹³ Mit der Diskussion um das Millennium verbunden ist die Frage nach der ersten Auferstehung aus Apk. 20,4–6, der Herder eine eigene Strophe widmet. Er meint dazu: Deutlicher kann wohl nichts seyn, als dass hier noch nicht von der letzten großen Auferstehung sondern von einem frühern Erwachen zur Seligkeit mit Christo die Rede sei. […] In dem Sinne, da die andern Todten aufleben werden, leben diese zuerst auf, offenbar, als die erkohrnen, würdigsten Erstlinge des Menschengeschlechts, der Natur Jesu, in ihrem Leben und Zeugnisse ähnlich, nun auch mit ihm in Entwicklung der Welt, Herrlichkeit und Freude.¹⁰¹⁴
Die ersten Auferstandenen seien auf Grund ihrer Reinheit, ihrer Verdienste für Gott und ihrer Christusähnlichkeit auserkoren worden, sie seien als Märtyrer gestorben und würden nun den Lohn für ihr Leid empfangen,¹⁰¹⁵ so Herders Ausführungen, die der neueren Exegese entsprechen.¹⁰¹⁶ In der nächsten Strophe kehrt Satan zurück, um erneut die Völker zu verführen, bevor er schließlich endgültig verbannt wird (Apk. 20,7–10). Im Kommentar zu dieser Stelle verweist Herder darauf, dass das Zukünftige, das nicht mit geschichtlichen Referenzen bestimmt werden kann, nicht mit über den Text hinausgehenden Spekulationen gedeutet werden darf. So ist seiner Meinung nach auch das Millennium eine nicht näher bestimmbare Prophezeiung über die Reinigung der irdischen Welt vor ihrem Untergang.¹⁰¹⁷ In der siebten Strophe paraphrasiert Herder das Weltgericht (Apk. 20,11–15). Er verweist darauf, dass diese Szene nicht mehr mit der Erweckung der ersten Auferstandenen zu vergleichen sei. Im Zentrum stehe der Thron des Weltrichters, vor seinem Blick verschwinde Erde und Himmel, alles vergehe, das Ende der Sichtbarkeit sei da. Um zu beschreiben, wie die Welt durch einen Blick des „Allvollenders“¹⁰¹⁸ verschwindet, zitiert Herders aus Shakespeares The tempest (Akt 4, Szene 1),¹⁰¹⁹ und um das Gericht und die auf ihr Urteil wartenden Toten zu beschreiben, führt er Stellen aus Shakespeares Julius Caesar (Akt 2, Szene 1) ein.¹⁰²⁰ Wieder verwendet Herder poetische Bilder aus anderen Werken, um die dichterische Schönheit der Apokalypse zu untermauern. Alles
1013 Vgl. ebd., S. 26 f. 1014 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 85. 1015 Vgl. ebd., S. 86. 1016 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 129. 1017 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 87. 1018 Ebd., S. 88. 1019 Vgl. ebd. 1020 Vgl. ebd.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Schreckliche ist vergangen, das Böse gerichtet und in den endgültigen, zweiten Tod geschickt, so Herders Kommentar. In eigenen Bildern und Vergleichen stellt er dar, wie die alte, schreckliche Welt vergangen ist und nicht mehr auferstehen wird. Diejenigen, die nicht im Buch des Lebens verzeichnet seien, würden wie eine verdorrte Rebe zum Unkraut geworfen und verbrannt, endgültig vernichtet „in ewigem unabsehlichen Abgrunde von Aeonen zu Aeonen.“¹⁰²¹ Das siebte und letzte Kapitel, das Herder in fünf Strophen aufteilt, beginnt mit der Beschreibung des Neuen Jerusalems (Apk. 21,18). Herder weist darauf hin, dass es sich nicht um ein zweites, irdisches Jerusalem handelt; vielmehr sei das Bild der einstmals heiligen Stadt genommen worden, um es im Horizont einer neuen, christlichen Zukunft darzustellen.¹⁰²² In der zweiten Strophe werden Jesus und Gott als Tempel der neuen Stadt beschrieben, die Auserwählten sind mit einem Siegel gekennzeichnet (Apk. 22,1–5). Herder erklärt die in der Vision des neuen Jerusalems dominierende Zahl Zwölf, er bezieht sie auf die zwölf Stämme des jüdischen Volks und die zwölf Apostel. Zudem ergebe zwölf multipliziert mit zwölf 144 000, wodurch die Zahl derjenigen erklärt sei, die den Namen des Lammes auf ihrer Stirn trügen (Apk. 14,1). Auch den Zusammenhang mit der Sieben als Grundstruktur der Apokalypse erscheint Herder logisch, er leitet sie aus der Multiplikation der im Siebener-Schema enthaltenen Zahlen Drei und Vier ab: In der Entwicklung der Offenbahrung lief alles durch sieben, die Geheimnisvolle, aber ungerade Zahl, wo Vier- und Dreieck noch vereint war und aus einander gesondert werden musste. Jetzt ists gesondert. Die heilige Stadt liegt in ihrem grossen Vier und Zwölf da!¹⁰²³
In der zeitgenössischen Exegese fehlen solche Zahlenspiele, vielmehr wird das Neue Jerusalem mit dem Paradies verglichen, was an den von Johannes gesehenen Bäumen des Lebens ersichtlich werde, das zwölfmalige Fruchttragen stehe im Zusammenhang mit dem paradiesischen Zustand, in dem es an nichts mangle.¹⁰²⁴ Gott und das Lamm sind Mittelpunkt der neuen Stadt, wie Herder in der dritten Strophe paraphrasiert (Apk. 22,1–5). Der Geist des Christentums, so Herders Kommentar, ergießt sich von Gott und dem Lamm als erquickender Lebensstrom, der die Menschen selig macht.¹⁰²⁵ In der vierten Strophe ist die Prophezeiung vollständig eröffnet, nachdrücklich ist darauf hingewiesen, dass sie sich in naher
1021 Ebd., S. 89. 1022 Vgl. ebd., S. 91. 1023 Ebd., S. 95. 1024 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 140. 1025 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 96.
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Zeit erfüllen wird (Apk. 22,6–17). Für Herder schließt sich der Anfang und das Ende der Apokalypse in der Botschaft Jesu, der sein Kommen und Richten ankündigt: Die Offenbahrung ist ein Buch, das in jedem Wort Himmel und Erde zusammenfasst, Zeit und Ewigkeit in einander flösset, und der Mittelpunkt, der entwickelnde Kraftkeim von allem ist Jesus, unser Bruder, und unser Richter.¹⁰²⁶
Der Schluss von Herders Paraphrase ist denn auch das Zeugnis Jesu Christi, das Herder nicht weiter erläutert (Apk. 22,18–21). Wie ausführlich gezeigt wurde, ist Herders Apokalypse-Paraphrase eine Nacherzählung der von Johannes empfangenen Visionen, die seiner Meinung nach eine Reihe von durch den kulturellen und historischen Kontext erklärbaren Bildern darstellen. Die besondere Aussagekraft dieser Bilder liegt in der affektiven, durch sinnliche Eindrücke bestimmten Sprache und Ausdrucksweise. Wie die alttestamentlichen Bilder sind sie Ausdruck eines unmittelbaren Gefühls, einer tiefgreifenden Erfahrung, die sich in größter Emotionalität eine sprachliche Darstellungsform sucht, die im frühsten menschlichen Zeitalter noch ein Bild ist und keine rational gemachte Abstraktion. Die Kommentare grenzen die einzelnen Bilder als in sich geschlossene emotionale Einheiten voneinander ab und erklären ihre Bedeutung. Wie dargestellt wurde, unterliegt die Unterteilung von Kommentar und jambischer Paraphrase keiner Regelmäßigkeit, sondern richtet sich einzig nach den von Herder erkannten bildlichen und affektiven Texteinheiten.¹⁰²⁷ Der die einzelnen Bilder verbindende Kerninhalt der Apokalypse ist Herders Meinung nach die zu erwartende Parusie Christi und davon ausgehend die Erlösung der Menschen zur ewigen Seligkeit. Herder verschränkt seine poetologischen Reflexionen über die affektive Wirkungsästhetik der einzelnen Visionen mit seiner theologischen Überzeugung, der gemäß jedes biblische Buch eine in der Seele empfundene und darum nur im Glauben sich bestätigende göttliche Wahrheit enthält. Für Herder bestand kein Zweifel darin, dass die Offenbarung des Johannes in jedem einzelnen Bild und in ihrer Gesamtaussage von dieser göttlichen Wahrheit durchtränkt war. Da Herder aber die Kritik, bei den Visionen von Johannes handle es sich um eine willkürliche, zusammenhangslose Anhäufung von nicht entschlüsselbaren Symbolen und Darstellungen, nicht entkräften
1026 Ebd., S. 98. 1027 Auch beim Hohelied, das Herder 1778 jambisch nachgedichtet hat, richtet sich seine Unterteilung von Kommentar und Paraphrase nach dem Prinzip der affektiven Texteinheit (vgl. Weidner: Bibel und Literatur [Anm. 833], S. 274).
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
konnte, versuchte er, die einzelnen Bilder noch stärker im Alten Testament und in den historischen Ereignissen der damaligen Zeit zu verankern, wie anhand von Herders letzter Fassung der Apokalypse, dem gedruckten Werk Maran Atha, gezeigt werden soll.
5.5 Maran Atha oder der Versuch, bibelpoetische Vollendung verständlich zu machen Herder hat in seiner 1779 unter dem Titel Maran Atha veröffentlichten Nachdichtung der Apokalypse einige exegetische Änderungen vorgenommen, die sich auf den ersten Blick nicht mehr mit den vorangehenden Deutungen in Einklang bringen lassen. Im Folgenden sollen diese Änderungen erläutert und auf neue Perspektiven in Herders Apokalypse-Exegese befragt werden. Es wird zu zeigen sein, dass Herder zwar andere Akzente setzt, wenn es um die historische Situierung der Offenbarung und ihrer einzelnen Bilder geht, dass sich dabei aber keine Veränderungen hinsichtlich der Gesamtbotschaft der Apokalypse ergeben und Herders Exegese somit nicht von Widersprüchlichkeiten geprägt ist. Als Herder Maran Atha am 18. August 1779, dem Geburtstag seiner Frau Caroline Herder-Flachsland (1750–1809),¹⁰²⁸ vollendet hatte, war er sich des Erfolgs des Werks gewiss. Das Manuskript sei schon in halb Deutschland gelesen worden, darum würde auch das gedruckte, verbesserte Werk auf viel Interesse und Zustimmung stoßen, so Herder in einem Brief an seinen Verleger Hartknoch.¹⁰²⁹ Die Kritik, die Herder in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek vom Rezensenten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1727) erhielt, war in der Tat durchaus positiv.¹⁰³⁰ Eichhorn kritisierte zwar die allzu detaillierten historischen Bezüge,¹⁰³¹ fand aber viele lobende Worte für die eigenen Wege, die Herder in seiner Exegese gegangen war.¹⁰³² Eichhorns Meinung nach trage Maran Atha dazu bei, „dass an statt der bisherigen thörigten und unchristlichen, andere vernünftige und christliche Ideen davon [von der Offenbarung Johannes] in Umlauf kommen, damit endlich
1028 Vgl. Herder an Caroline Herder-Flachsland, 18. Aug. 1779. In: WA Bd. 4, S. 99; vgl. Herder an Hamann, 29. Aug. 1779. In: ebd., S. 100. 1029 Vgl. Herder an Hartknoch, 10. Okt. 1779. In: ebd., S. 103. 1030 Vgl. Johannes Gottfried Eichhorn: Herder, J. G.: Maranatha. Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel. Rezension. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Hg. von Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1765–96. 1782. 51. Bd., 2. St. S. 315–335. 1031 Vgl. ebd., S. 321 f. 1032 Vgl. ebd., S. 317.
Maran Atha oder der Versuch, bibelpoetische Vollendung verständlich zu machen
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einmal der Unsinn, wo möglich, verbannt, oder doch gemindert werde, der bisher in dem Buch ohne seine Schuld gefunden worden ist.“¹⁰³³ Obschon Eichhorn Herders Exegese nicht in allen Belangen teilt, wie noch zu zeigen sein wird, konstatiert er: „Unsre Leser sehen, dass der Rec. von den Verdiensten unsers Verf. um die Apokalypse und um die christliche Welt große Begriffe habe.“¹⁰³⁴ Doch nicht nur die Rezension von Maran Atha, sondern bereits die Reaktionen auf das Manuskript sind, genau wie dies Herder in seinem Brief an Hartknoch angetönt hatte, positiv ausgefallen, einzig Lavater hat sich kritisch dazu geäußert, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird.¹⁰³⁵ Lobende Worte erhielt Herder von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792): Dass Du doch immer so geistlich deutest und so einfach wer hat Lob genug dafür? […] Am meisten freut mich die behutsame schöne Deutung des Endes der Dinge. Der heilige mystische Schleier – Gott segne Dich.¹⁰³⁶
Auch die Gräfin Maria Barbara Eleonore zu Schaumburg-Lippe (1744–1776), der Herder das Manuskript wohl schon kurz nach der Fertigstellung zum Lesen gab, sei begeistert gewesen, so schreibt Herder später anlässlich des Todes der Gräfin an deren Ehemann.¹⁰³⁷ Zu den Überarbeitungen, die Herder vorgenommen hat, gibt es keine Aussagen in der Korrespondenz. Einzig auf die Kritik Lavaters antwortete Herder, dass er das Manuskript zwar umarbeiten wolle, es aber schwierig sei, daraus mehr zu machen als einen poetischen Kommentar.¹⁰³⁸ In den Briefen, das Studium der Theologie betreffend weist Herder denn vor allem auch auf die formalen Veränderungen hin, die er vorgenommen hat: Ich nahms [das Manuskript „Johannes-Offenbarung“] nach Jahren vor, strich zuerst die Jamben weg, und liess den Commentar, wie er gewesen. Je mehr ich die Bilderreihe des Ganzen mit der Weissagung Christi Matth. 24.25 und ihrer schrecklichen Erfüllung nach Josephus verglich, desto mehr dünkte mich Aehnlichkeit, Analogie, Auffschluss der Gesichte und ihrer Bilder.¹⁰³⁹
1033 Ebd., S. 316. 1034 Ebd. 1035 Vgl. Herder an Lavater, Ende Dez. 1775. In: WA Bd. 3, S. 241. 1036 Lenz an Herder, Anfang März 1776. In: Lenz (Anm. 894), S. 390. 1037 Vgl. Herder an Graf Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode, Juni 1776. In: WA Bd. 3, S. 275. 1038 Vgl. Herder an Lavater, Ende Dez. 1775. In: WA Bd. 3, S. 241. 1039 Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 139.
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Wie Herder erwähnt, war es vor allem die Geschichtsschreibung vom jüdischrömischen Historiker Flavius Josephus,¹⁰⁴⁰ aus der heraus er andere exegetische Schlussfolgerungen zog. Die von Herder als Referenz benutzten Werke von Josephus, De Bello Judaico und Antiquitates Judaicae, haben zu einer neuen Betrachtungsweise geführt, die insbesondere die Datierung der Apokalypse betrifft. Bereits in den ersten Prosaversionen weist Herder auf die Möglichkeit hin, dass Johannes seine Offenbarung schon vor der Zerstörung Jerusalems empfangen hat¹⁰⁴¹ und nicht erst in den Jahren danach, wie er es im Manuskript Johannes Offenbarung erläutert. Im Anhang zu Maran Atha erklärt Herder ausführlich, dass es sich bei der Apokalypse, wie sich aus dem feurigen Ton erkennen lasse, um das Jugendwerk von Johannes handle. Durch den genauen Vergleich der Johannes offenbarten Gesichtern und den tatsächlichen Ereignissen gelangt er zum Schluss, dass Johannes ein Abbild der jüdischen Geschichte bis etwa sieben Jahre vor der Zerstörung Jerusalems liefert.¹⁰⁴² Diese unterschiedliche Datierung kommt in der Interpretation von Apk. 17,9–12 zum Ausdruck. In der Johannes Offenbarung interpretiert Herder das Tier als Weltmacht Rom und sieht in den sieben Königen die Reihe der römischen Kaiser symbolisiert, woraus er schließt, dass Johannes seine Offenbarung unter Domitian empfangen habe.¹⁰⁴³ Eine andere Deutung gibt Herder in Maran Atha. Bei den Häuptern handle es sich um die jüdischen Hohenpriester, die das Synedrium anführen. Die Zeitrechnung und die Datierung der Apokalypse, die sich daraus ergibt, beschreibt Herder folgendermaßen: Fünf von ihnen [Hohepriester] waren unter diesen Händen schon gestürzt: Jonathan, Ismael, Joseph, Ananus, Anani Sohn, Jesus; einer war damals, da Johannes das Bild sah, Jesus, Gamaliels Sohn, der U. C. 63. aufkam, und sonach wäre in diesem oder dem folgenden Jahr, unter Nero, sechs oder sieben Jahr vor der endlichen Zerstörung Jerusalems, Ein oder zwei Jahre nach Jacobus, des Bischofs von Jerusalem Tode, das Buch geschrieben.¹⁰⁴⁴
Herder rekurriert auf Josephus und lässt keine Zweifel offen, dass er die richtige historische Einordnung gefunden hat. Abschätzig bringt er seine Verwunderung über diejenigen Exegeten zum Ausdruck, die diese in seinen Augen dergestalt offensichtliche und zutreffende Interpretation übersehen haben.¹⁰⁴⁵ Indem Herder in Maran Atha den Zeitpunkt der Offenbarung vor den Untergang Jerusalems
1040 Zu Josephus vgl. RGG Bd. 4, 2001, S. 585 f. 1041 Vgl. Herder-Nachlass SB Berlin, Kapsel VI, 32, 41, 43. 1042 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 250. 1043 Vgl. ebd., S. 74. 1044 Ebd., S. 201. 1045 Vgl. ebd.
Maran Atha oder der Versuch, bibelpoetische Vollendung verständlich zu machen
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festsetzt, ergibt sich exegetisch eine neue Gewichtung. Herder kann nun die Prophezeiung als doppelte, zweifach sich erfüllende interpretieren. Die erste Erfüllung sei bereits in der Zerstörung Jerusalems passiert, der Zeitpunkt der zweiten kenne niemand, er müsse immer noch erwartet werden. Für die Gesamtinterpretation sei der Zeitpunkt der Offenbarung aber ohnehin nicht von entscheidender Bedeutung, so relativiert Herder seine Datierung. In den Briefen, das Studium der Theologie betreffend meint Herder: Vor oder nach Jerusalems Zerstörung geschrieben, für Inhalt und Zweck bleibts immer dasselbe, ein Bilderbuch vom Ausgange der Sichtbarkeit und der Zukunft des Reichs Jesu in Bildern und Gleichnissen seiner ersten schrecklich-tröstlichen Ankunft.¹⁰⁴⁶
Die als unbedeutsam betrachtete Datierung der Apokalypse zeigt Herders exegetische Ausrichtung. Es geht ihm nicht darum, wie Michaelis das Neue Testament als historisches Zeugnis des frühen Christentums auszuwerten, um den Wahrheitsgehalt mit historischen Fakten festzulegen. Vielmehr ist er darum bemüht, die Visionen des Johannes in ihrer Wirkungsästhetik zu erläutern. Wichtig ist Herder zu zeigen, dass Johannes Bilder benutzt, die aus seiner unmittelbaren Erfahrung stammen. Diese erhalten seiner Theorie gemäß ihren Wahrheitsgehalt nicht durch die faktische Überprüfbarkeit, sondern durch die darin ausgedrückte Empfindung.¹⁰⁴⁷ Johannes erlebe in seinen Visionen die versprochene Ewigkeit, den Anbruch einer neuen Welt, und zwar in den unterschiedlichsten Symbolen und Allegorien. Zu ihrem Verständnis brauche es weder eine exakte Datierung des Abfassens noch eine Angabe darüber, wann genau die Prophezeiung sich erfüllen würde, sondern einen durch das Nachempfinden der von Johannes geschilderten Ereignisse als wahr sich bestätigenden Glauben.¹⁰⁴⁸ Im Zusammenhang mit der zweifelsfreien Zugehörigkeit zum Kanon ist Herder auch in Maran Atha wichtig zu betonten, dass es sich bei Johannes dem Evangelisten und Johannes dem Apokalyptiker um dieselbe Person handelt: Und dies, dünkt mich, ist würklich der Geist Christi, insonderheit der Geist Christi bei Johannes. Fast jedes Wort, jeden wiederkommenden Lieblingsausdruck könnte ich mit ähnlichen Reden im Evangelisten belegen, und wollte fast sagen, dass ein Fremder, zumal ein Betrüger, so nicht nachahmen könne. Wie dort Christus immer wägt und prüft, was im Menschen ist, so auch hier.¹⁰⁴⁹
1046 Ebd., S. 141. 1047 Vgl. ebd. 1048 Vgl. ebd., S. 245. 1049 Ebd., S. 124.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Um zu beweisen, wie stark sich das Johannes-Evangelium und die Apokalypse aufeinander beziehen, finden sich in Maran Atha zahlreiche, in den Fußnoten festgehaltene Angaben zu Referenzstellen aus dem Johannes-Evangelium. Auch in der heutigen Exegese, so zum Beispiel bei Schnelle, werden thematische Verbindungen erläutert. Schnelle erwähnt das Lebenswasser-Motiv, das sich in Apk. 7,16 f.; 21,6; 22,1,17 und in Joh. 4,10,13 f.; 7,37–39 findet, in Apk. 19,13 wird der wiederkehrende Jesus Christus ähnlich bezeichnet wie in Joh. 1,1, und die Vorstellung Christi als Lamm Gottes ist für die Christologie der Offenbarung und des Evangeliums von Bedeutung (Joh. 1,29,36).¹⁰⁵⁰ Allerdings wird aus diesen Übereinstimmungen nicht auf die identische Verfasserschaft geschlossen, sondern auf eine mögliche gemeinsame Schule, aus der die Verfasser der Apokalypse und des Evangeliums möglicherweise stammen.¹⁰⁵¹ Herder begründet die Identität von Johannes dem Evangelisten und Johannes dem Apokalyptiker mit der stilistischen Übereinstimmung, die er im Evangelium und in der Offenbarung festzustellen glaubt. Es seien in beiden Texten „dieselbe starke und zarte Seele, der liebliche Deutungsgeist, die Gabe fein zu verstecken und vorzubereiten, nur durch Winke anzudeuten, und Licht und Schatten in große Massen zu theilen“¹⁰⁵², festzustellen. Auch in der Grundstruktur der beiden Texte sieht Herder Gemeinsamkeiten: „Sein [Johannes’] Evangelium ist nach einem so dichterischen Plan angelegt und mit so reicher Sparsamkeit ausgeführet, als die Offenbarung.“¹⁰⁵³ Im Evangelium und in der Apokalypse würden sich zwar auch sprachliche Differenzen ausmachen lassen, diese seien aber dadurch zu erklären, dass es sich inhaltlich wie auch formal um zwei völlig verschiedene Texte handle. Die Johannes-Offenbarung sei als „Prophezeiung die höchste Poesie“¹⁰⁵⁴, während das Evangelium des Johannes „die einfachste Geschichte, die Lebensbeschreibung eines Lehrers“¹⁰⁵⁵ enthalte. Nicht nur bei der Datierung der Apokalypse, sondern auch bei der Deutung der unterschiedlichen Botschaften, die Herder in den Johannes offenbarten Bildern symbolisiert sieht, lehnt er sich in Maran Atha viel stärker an die historischen Zeugnisse von Josephus an. Während Herder die Eröffnung der ersten vier Siegel in der Johannes Offenbarung als symbolische Darstellung der generellen Geschichte des Universums betrachtet,¹⁰⁵⁶ wird er in Maran Atha mit Hilfe von
1050 Vgl. Schnelle (Anm. 936), S. 588. 1051 Vgl. Broer (Anm. 749), S. 678. 1052 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 278. 1053 Ebd. 1054 Ebd., S. 277. 1055 Ebd. 1056 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 27 f.
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Josephus konkreter. Die Bilder des ersten Siegels würden die jüdische Niederlage gegen die Araber symbolisieren, so Herder, auf Antiquitate Judaicae verweisend. Mit dem zweiten Siegel seien die innerjüdischen Uneinigkeiten und Aufstände ausgedrückt, die in der Folgezeit die von den Römern besetzte Provinz Judäa beherrschten. Das dritte Siegel verweise auf die Teuerung und die Hungersnot, die das jüdische Volk unter Kaiser Claudius zu ertragen hatte.¹⁰⁵⁷ Das Elend, das die Juden fortan erlebten, sei im vierten Siegel ausgedrückt.¹⁰⁵⁸ Hier widerspricht ihm der sonst Herders Werk sehr zugetane, aber durchaus kritische Eichhorn in seiner Rezension. Es sei historisch unplausibel, die Bilder als Ausdruck von Ereignissen aus der Zeit Claudius’ darzustellen, wenn doch Johannes seine Visionen, wie Herder postuliere, unter Nero erhalten habe.¹⁰⁵⁹ Das fünfte Siegel bezeichnet Herder sowohl in der Johannes Offenbarung wie auch in Maran Atha als Schlimmstes: Die Erscheinung ist, meinem Gefühl nach, schrecklicher, als die vier Ersten. […] Hier ruffen Menschenleben an heiliger Stäte, als Opfer der Wahrheit, von Menschen geschlachtet. Sie liegen im Blut, das hingegossen ward, als wäre es Blut der Thiere.¹⁰⁶⁰
Im sechsten Siegel sieht Herder den bevorstehenden Weltuntergang symbolisiert, der in verschiedenen Anzeichen des sich ankündigenden Untergangs Judäas widerspiegelt ist.¹⁰⁶¹ Er weist jedoch nicht, wie er dies in der Johannes Offenbarung ausführlich tut, auf die Zerstörung Jerusalems hin, was mit der bereits erläuterten Umdatierung zu erklären ist. Bei den ersten sechs Trompeten, bei deren Blasen sich Plagen über die Erde ergießen, kommt Herder in Maran Atha auf den jüdischen Krieg zurück. Wie bereits in der Johannes Offenbarung sieht er auch in Maran Atha Bilder aus der jüdischen Geschichte. Während im Manuskript aber nur darauf hingewiesen wird, dass die Visionen Ereignisse aus der „Zerstörungsgeschichte Jerusalems“¹⁰⁶² darstellen, also das Jahr 70 n. Chr. beschreiben, geht Herder in der Druckversion anhand der Beschreibungen von Josephus ausführlich auf die der Zerstörung vorangehenden historischen Ereignisse ein.¹⁰⁶³ Aus dem Vergleich der beiden Kommen-
1057 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 138. 1058 Vgl. ebd., S. 139. 1059 Vgl. Eichhorn (Anm. 1030), S. 320. 1060 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 139. 1061 Vgl. ebd., S. 141 f. 1062 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 41. 1063 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 149–157.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
tare zu besagter Stelle wird deutlich, dass sich Herder intensiv mit der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt hat. In Johannes Offenbarung spricht Herder sehr vage von den Ereignissen, er erwähnt lediglich das römische Heer, das fünf Monate in Galiläa gekämpft hat und vor dem die Auserwählten über den Jordan geflohen sind.¹⁰⁶⁴ In Maran Atha symbolisieren die Heuschrecken nicht mehr das Römische Heer, sondern eine Gruppe von rebellierenden Juden um ihren Anführer Manaim (Menahem), die Judäa von der römischen Besatzung befreien wollten und zu deren Kontrolle der damalige Heerführer, spätere Kaiser Vespasian geschickt wurde, wie Herder aus Josephus weiß: Dies ist das Bild; Seine Bedeutung in der Geschichte ist unverkennbar. Es waren die Räuber und Meuchelmörder, die fünf Monate durch, in denen Vespasian in Judäa zögerte, dem ganzen Lande so schrecklich fielen. Bald zu anfange des Kriegs nehmlich fiel ein Stern vom Himmel auf die Erde, dem der Schlüssel zum Schlunde des Abgrunds ward: es war Manaim, Judä Sohn), der den Haufen Gesindels an sich hängte, gen Masada zog, in Herodes Fürsthaus brach und sich und die aufrührische Rotte bewaffnete. Kann ein eigentliches Bild vom Einbruch dieser Räuber und ihrer fürchterlichen Bewaffnung gegeben werden, als es Johannes hier im Bilde gepanzerter Heuschrecken gibt? […] Jerusalem war von Tyrannei, Krieg und Aufruhr bedrängt, die Römer ruhten; […] Jede Stadt, jede Provinz, jeder Flecken bekam seine Heuschrecken, die quälten, raubten und in die Wüsten flohen; die Einwohner des Landes fürchteten sie mehr, als den Tod oder die Römer.¹⁰⁶⁵ x) Joseph. L. 2. c. 17.
Die symbolische Einkleidung der Ereignisse deutet Herder im kulturellen Kontext, in dem die Apokalypse verfasst wurde. Aus den Reisebeschreibungen von Carsten Niebuhr (1733–1815) kennt Herder ein arabisches Sprichwort, in dem die Heuschrecke so beschrieben ist, dass der Kopf dem Pferd, die Brust dem Löwen, die Füße dem Kamel, der Körper der Schlange, der Schwanz dem Skorpion und die Fühler den Haaren der Jungfrau ähneln.¹⁰⁶⁶ Mit dem englischen Naturforscher George Shaw (1751–1813) stützt er seine Theorie, dass ein Skorpion einer Heuschrecke ähnlich ist, was seiner Meinung nach die durch die Heuschrecken ausgelösten Skorpionqualen erklärt.¹⁰⁶⁷ Dem kritischen Rezensenten Eichhorn scheint diese Darstellung zu stark auf einzelne historische Begebenheiten bezogen, seiner Meinung nach muss von einer allgemeineren Deutung ausgegangen werden. Der vom Himmel fallende Stern symbolisiere nicht Menaim, wie Herder annimmt, sondern gehöre „blos zum Bild; weil die Heuschrecken aus dem
1064 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 41. 1065 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 153 f. 1066 vgl. ebd., S. 153. 1067 vgl. ebd.
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Brunnen des Abgrunds steigen, und Brunnen und Ströhme, besonders nach den Vorstellungen des Orients, unter dem Einfluss der Gestirne stehen: So musste ihnen ein Stern den Ausgang öfnen.“¹⁰⁶⁸ Eine von der Johannes Offenbarung wesentlich abweichende Deutung liefert Herder in Maran Atha im Kommentar zum Ungeheuer, das aus dem Meer steigt (Apk. 13,1). In Johannes Offenbarung ist Herder überzeugt, dass es sich beim Tier um das römische Reich handelt.¹⁰⁶⁹ In Maran Atha geht er davon aus, dass die verschiedenen Aufstände, vor allem auch derjenige der Zeloten, und die großen innerjüdischen Spannungen durch das Ungeheuer symbolisiert sind.¹⁰⁷⁰ Trotz dieser sehr ausführlichen historischen Schilderungen weist Herder immer wieder darauf hin, dass es in der Apokalypse nicht um eine eigentliche Geschichtsschreibung geht: Nun zeigt es aber das ganze Buch, dass dem Seher Johannes eigentlich nicht an einer Geschichte des Aufruhrs oder seiner Urheber, als solcher, liege; sie sind ihm bloss Symbole zu höherem Zweck, die Geschichte der Zerstörung nur Anlass der Zukunft eines höheren Reiches.¹⁰⁷¹
Herder kommt also wieder auf die bereits bei der Johannes Offenbarung gemachte Feststellung zurück, dass Johannes kein politischer Berichterstatter,¹⁰⁷² sondern ein Offenbarer zukünftiger Ereignisse sei. Neben der starken Anlehnung an die Geschichtsschreibung von Josephus hat Herder in Maran Atha auch viel häufiger als in Johannes Offenbarung auf die Bezüge zum Alten Testament hingewiesen. Doch nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Exaktheit der Angaben unterscheidet sich vom Manuskript. In Maran Atha macht Herder Referenzen, die nicht nur wie in der Johannes Offenbarung auf das biblische Buch verweisen, sondern auch Kapitel und Vers angeben. Herder versucht, jedes in der Apokalypse verwendete Symbol und jede Metapher in einen typologischen Bezug zum Alten Testament zu stellen und somit sein im Untertitel aufgestelltes Postulat, die Apokalypse mit biblischen „Parallelstellen“¹⁰⁷³ zu erläutern, zu erfüllen. So beschreibt er der im Himmel Thronende, von dem es kein Bild gibt, und erklärt die von Johannes verwendete Allegorie aus dem Alten Testament:
1068 Eichhorn (Anm. 1030), S. 326. 1069 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 57 ff. 1070 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 176 ff. 1071 Ebd., S. 181. 1072 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 75 f. 1073 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 103.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Der da saß, war im Anblick gleich dem Stein Jaspis und Sardis. (Röthlicher Feuerglanz also, schrecklich, unanschaubar. Ihn zu nennen hat die Seele kein Bild, kein Wort die Sprache. „Innwendig, spricht Ezechiel, war Gestalt, wie Feuer um und um: verzehrend Feuer ist der Herr, wer kann ihn anschauen, der nicht stürbel?).¹⁰⁷⁴ l) Ezech. 1, 26. 27. 10, 1. 5 Mose 4, 11.12.
Die Referenz, die Herder zwischen der apokalyptischen und alttestamentlichen Bildsymbolik herstellt, ermöglicht ihm, diejenige Kritik zu entkräften, die in den Visionen des Johannes auf Grund ihrer Heterogenität ein willkürliches, undeutbares Gewirr an Symbolen und mystischen Figuren ohne christlichen Aussagegehalt sieht. Herder findet für jede noch so unerklärbar scheinende Inszenierung in den Visionen des Johannes einen Bezug zum Alten Testament, so dass jedes Element als in den alttestamentlichen Zeugnissen präfiguriert erklärt werden kann.¹⁰⁷⁵ Indem Herder die Bilder als Amalgame der alttestamentlichen Symbolvielfalt erklärt, werden die fantastisch und unerklärbar anmutenden apokalyptischen ‚Fabelwesen‘ zu einem Figurenarsenal, das sich als christliche Mythologie verstehen lässt. Dass Johannes seinen Visionen eine dem Alten Testament entnommene ‚Einkleidung‘ gibt, ist Herders Meinung nach durch seine jüdische Sozialisation zu erklären. Im Judentum groß geworden und mit der jüdischen Tradition und Kultur auf das Engste vertraut, äußert sich die große seelische Bewegtheit, die Johannes beim Empfang der Visionen empfindet, im Ausdruck derjenigen Bilder, die er aus der Tradition seiner früheren Religion kennt. In der neueren Forschung zur Apokalypse geht Hübner davon aus, dass Johannes die Botschaften, die in den Bildern der alttestamentlichen Propheten enthalten sind, in seine Christologie aufgenommen und sie in seinem Sinne angewandt hat. Das Bildmaterial des Alten Testaments gehöre zum geistigen Horizont von Johannes, und obschon er dessen Bedeutung durch die in seiner Offenbarung gemachte Verlagerung in den Himmel inhaltlich verändere, bleibe seine übernommene äußere Gestalt bestehen.¹⁰⁷⁶ Wie wichtig es Herder war, die Johannes offenbarten Bilder im jüdischen Kontext zu sehen, wird in seiner Korrespondenz mit Mendelssohn ersichtlich. Um eine ‚jüdische Beurteilung‘ von Maran Atha zu haben – Herder unterwarf sich also denselben Kriterien, mit denen er in den Literaturbriefen den Messias beurteilt hatte¹⁰⁷⁷ – schickte er sein Werk dem Juden Moses Mendelssohn. Herder
1074 Ebd., S. 128. 1075 Vgl. ebd., S. 269. 1076 Vgl. Hans Hübner: Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 3. Göttingen 1995, S. 207. 1077 Herder beurteilte den ‚Messias‘ in den Fragmenten ‚Ueber die neuere deutsche Litteratur‘ aus der von ihm fingierten Perspektive eines Rabbis und eines Christen (vgl. Kap. 5.6).
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hatte wohl den Lavaterschen Bekehrungsversuch im Bewusstsein, wenn er sich in seinem Brief an Mendelssohn einleitend dafür entschuldigt, dass er ihn „mit diesem Christlichen Buche beschwere“¹⁰⁷⁸, und ihm versichert, dass es sich nicht um einen Versuch handle, ihn vom Christentum zu überzeugen. Vielmehr sei es seine Absicht, „dem rechtschaffenen Israeliten, den ich von Herzen hochschätze, als ein Zeichen dieser Hochachtung und als ein Buch in seiner Sprache, in den Bildern seiner Propheten und Lehrer geschrieben“¹⁰⁷⁹, sein Werk zu übergeben. Weiter erklärt Herder in seinem Brief an Mendelssohn: Sie können, mein Herr, der beste Richter sein, ob die Bilder, rein und klar, das bedeuten, was ich sie bedeuten lasse, und ob ich den Zusammenhang des Buchs, der eben auch aus den Ideen Ihrer Nation ist, getroffen. Was bei uns in diesem Fache kahle, leicht zu verdeutelnde, weithergeholte Gelehrsamkeit ist, ist bei Ihnen, wie mich dünkt, angenommene heilige Sprache.¹⁰⁸⁰
In diesem letzten Satz verunglimpft Herder die Theologen seiner Zeit, deren allzu gelehrte und moralische Exegese er auch im Briefwechsel mit Lavater besorgt erwähnt.¹⁰⁸¹ Herders Abneigung gegen die aufgeklärte Theologie, die nur der Vernunft einsehbare Begebenheiten als religiöse Wahrheiten gelten lässt, kommt immer wieder zum Ausdruck und richtet sich nicht gegen einzelne Strömungen wie die Neologie oder der Deismus, sondern generell gegen ein nicht auf die seelische Empfindung eingehendes Verständnis von Religion.¹⁰⁸² Wie für Lavater war auch für Herder die Religion ein Bestandteil des Gefühlslebens, sie musste vor allem die Seele ansprechen und als innere Grundlage für ein frommes, gottgefälliges Leben dienen. Das moralische Predigen mit einer auf die Vernunft ausgerichteten Exegese widersprach Herders Anliegen, die Religion als sinnliches Kraftmoment vermitteln zu wollen, das aus der innersten Empfindung des
1078 Herder an Moses Mendelssohn, 10. Okt. 1779. In: WA Bd. 4, S. 103. 1079 Ebd. 1080 Ebd. 1081 Vgl. Kap. 5.4. 1082 Zu Herders Theologie vgl. Irmscher (Anm. 38), S. 29–33. Irmscher weist darauf hin, dass Herders Theologie bislang in der Forschungsliteratur nur aspektbezogen behandelt wurde, was meiner Meinung nach fast nicht anders möglich ist, da sich Herders theologische Überlegungen immer mit historischen, philosophischen und literaturkritischen Aspekten verbinden. Auch in der vorliegenden Arbeit wird Herders Theologie nur dann erörtert, wenn sie Grundlage oder Erklärung von seinen poetologischen und exegetischen Überlegungen ist, und diese Erörterungen verstehen sich immer als auf die Zeit der jeweiligen Äußerung bezogen und nicht als generelle Aussagen, da Herder seine Theologie in verschiedenen Situationen seines Lebens weiterentwickelte und veränderte.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Herzens kam und auch dorthin gerichtet sein sollte.¹⁰⁸³ Moses Mendelssohn hat sich nicht zu Herders Maran Atha geäußert, er fühle sich dazu nicht in der Lage, so seine Antwort.¹⁰⁸⁴ Im Gegenzug aber schickte er Herder seine Übersetzung von den ersten fünf Büchern Mose zur Beurteilung, was seine Anerkennung von Herders Kenntnissen der jüdischen Kultur und Sprache zum Ausdruck bringt: Sie, mein Herr, haben gezeigt, dass Sie das Hebräische sehr gut versehen. Vielleicht haben Sie auch einige Kenntnis des Rabbinischen. Wenigstens scheinen Sie es nicht ganz zu verachten. Sie besitzen auch die Gabe, sich, so oft Sie wollen, in die Lage und Denkungsart Ihres Nebenmenschen zu versetzen, um ihn zu richten. Sie sind also befugter Richter und Beurtheiler dieser gedruckten Bogen; gewiss mehr als ich von den Ihrigen über die ‚Offenbarung Johannis.‘¹⁰⁸⁵
Wie stark Herders Deutung dem Alten Testament und somit dem Judentum verpflichtet ist und dabei auch, wie dies Mendelssohn anspricht, rabbinische Schriften und Lehren mit einbezieht, zeigt ein weiterer neuer Deutungsansatz, den Herder im Unterschied zur Johannes Offenbarung in Maran Atha anwendet. Herder hat sich in den Jahren, die zwischen dem Manuskript und der Druckversion liegen, intensiv mit der jüdischen Kabbala beschäftigt,¹⁰⁸⁶ was ihn zum Schluss kommen lässt, dass die Apokalypse in engem Zusammenhang damit steht: Endlich das grosse Ganze des Buchs – ich habe lange darauf bereitet, ich habe es um damit nicht zu stören, bis ans Ende versparet, und vielleicht kommts unserm Anti-Jüdischen Vorurtheilen noch zu früh – das Ganze des Buchs, sage ich, die Anlage, aus der ich alles bis auf jede Erscheinung, jeden Engel, jedes Zeichen, fasst jedes Wort möchte ich sagen, auf seiner Stelle erklären kann, und ohne die im Plane vieles ein Wald bleibt; sie ist – die Gestalt Christi im anfange des Buchs, in den Glanz der Sephiroth gekleidet.¹⁰⁸⁷
Obschon er es als gewagt bezeichnet, im Zeitalter der antijüdischen Vorurteile deren kabbalistische Lehre zur Deutung eines christlichen Buches zu Hilfe zu nehmen, bezieht sich Herder in seiner Interpretation auf die Kabbala und insbesondere auf das kabbalistische Ziffernsystem des Sefirots. Herder kannte die Kabbala nach eigenen Angaben durch Christian Knorr von Rosenroths (1636–1689)
1083 Vgl. Martin Kessler: Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen Weimar. Teil 2. Berlin 2007, S. 976. 1084 Vgl. Mendelssohn an Herder, 20. Juni 1780. In: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Bd. 12: Briefwechsel II, 2. Tl. Bearb. von Alexander Altmann. Stuttgart 1976, S. 194. 1085 Ebd. 1086 Im Nachlass finden sich Notizen, in denen Herder kabbalistische Interpretationen ausprobiert (vgl. Herder-Nachlass SB Berlin, Kapsel VI, 40). 1087 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 281.
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Kabbala denudata (1677–1684) und durch Johann Jakob Bruckers (1696–1770) Arbeiten zur Philosophiegeschichte, auch Christian Schöttgens Jesus der wahre Messias aus der alten und reinen Jüdischen Theologie dargethan und erläutert (1748) nennt er.¹⁰⁸⁸ Wie insbesondere der letzte der eben genannten Titel zeigt, ist die Bezugnahme auf die Kabbala als Deutungsprinzip von biblischen Texten nicht nur im Judentum, sondern auch bei den Christen weder ungewöhnlich noch neu. Bereits in der Renaissance und im Humanismus studierten christliche Theologen die Kabbala und entdeckten in ihr geheime Offenbarungen, in denen ihrer Meinung nach fundamentale christliche Glaubenssätze wie die Lehre von der Trinität und der Präexistenz des Gottessohns ausgedrückt waren.¹⁰⁸⁹ Auch im achtzehnten Jahrhundert stießen kabbalistische Lehren auf Interesse.¹⁰⁹⁰ So versuchte beispielsweise Oetinger mit Hilfe der Kabbala Jesus nicht nur aus dem Glauben, sondern auch aus der Vernunft heraus zu erklären.¹⁰⁹¹ Mit dem Begriff ‚Kabbala‘ wurden in der talmudischen Sprache ursprünglich die prophetischen und hagiographischen Schriften der Bibel bezeichnet, ab dem zwölften Jahrhundert verstand man darunter eine mystische, theosophische Lehre.¹⁰⁹² Aus dieser Zeit stammt auch die Endredaktion der zentralen, oft mündlich überlieferten kabbalistischen Texte, die auch heute noch als Grundlage der kabbalistischen Lehre dienen.¹⁰⁹³ Herder hatte sich bereits in seiner Ältesten Urkunde über das Menschengeschlecht in seinem Kapitel zur jüdischen Philosophie mit der Kabbala auseinandergesetzt, kommt dort allerdings zu einem mehrheitlich negativen Urteil, was die Aussagekraft der kabbalistischen Lehren anbelangt.¹⁰⁹⁴ Insbesondere die zehn Sefirot, denen er in Maran Atha große Bedeutung beimisst, bezeichnet er in der Ältesten Urkunde als „chaldäisches Kunststück.“¹⁰⁹⁵ Das jüdische Ziffernsystem der zehn Sefirot basiert auf dem anonym verfassten, nur schwer datierbaren, sehr wahrscheinlich aus der Zeit zwischen dem zweiten und fünften
1088 Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: FA Bd. 5, S. 463. 1089 Vgl. TRE Bd. 17, S. 501. 1090 Ausführlich zur Deutung der Kabbala im achtzehnten Jahrhundert vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit. Stuttgart u. a. 1998. 1091 Vgl. ebd., S. 200. 1092 Vgl. TRE Bd. 17, S. 487. 1093 Vgl. Klaus S. Davidowicz: Die Kabbala. Eine Einführung in die Welt der jüdischen Mystik und Magie. Wien 2009, S. 11. 1094 Vgl. Emil Adler: Die Kabbala in der ‚Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts.‘ In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder. 1988. Hg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 167. 1095 Herder: Älteste Urkunde (Anm. 1088), S. 464.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Jahrhundert stammenden Buch Jezira, in dem die Schöpfung mit Hilfe von zehn ‚Grundziffern‘, den Sefirot, erklärt wird.¹⁰⁹⁶ Herder kannte das Buch Jezira, das im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in verschiedenen lateinischen Ausgaben ediert wurde, wohl aus Athanasius Kirchers Oedipus Aegypticus (1653), das er in der Ältesten Urkunde mehrmals erwähnt.¹⁰⁹⁷ Auf Grund der genannten Werke, welche die Grundlage von Herders Auseinandersetzung mit der kabbalistischen Lehre bilden, und auch auf Grund der Tatsache, dass Moses Mendelssohn der Kabbala ablehnend gegenüber stand, ist davon auszugehen, dass Herder lediglich christliche und nicht jüdische kabbalistische Quellen gekannt hat.¹⁰⁹⁸ In den ausführlichen Erläuterungen zum System der zehn Sefirot, die Herder in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts macht, erwähnt er die Vielseitigkeit der Anwendungen der kabbalistischen Ziffern, in ihrer Verbindung lasse sich das gesamte Universum erklären, so Herders Beschreibung: Es erscheinen nehmlich die Zehn in allen Gestalten, Bedeutungen und Formen. Bald als Kreise über- bald als Linien, Kanäle, Buchstaben, Zahlen im Stammbaum neben und unter einander: mit Bedeutungen der Eigenschaften Gottes, der Offenbarungen seiner Herrlichkeit, der Engel, Weltkräfte, Elemente, Formen, Massen, Räume, der Buchstaben, Zahlen, Metaphysischen Prädikamente – Man kann in Himmel und Erde, Sichtbares und Unsicht bares, Geistiges und Körperliches fast nichts finden, was nicht darauf angewendet wäre.¹⁰⁹⁹
Herder steht aber diesen vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten und damit verbundenen Erklärungsansätzen über Gott und die Welt, die das Sefirot zur Verfügung stellt, kritisch gegenüber. Seiner Meinung nach handelt es sich dabei nicht mehr um die ursprüngliche Lehre; Diese würde zwar jeder der angesprochenen Deutungen zugrunde liegen, sei aber kaum mehr erkennbar hinter den in neueren Zeiten hinzugekommenen kabbalistischen Ansichten und Theorien. „Metaphysik, Physik, Amuleten- und Deutkunst“¹¹⁰⁰ hätten während Jahrtausenden – hier wird ersichtlich, dass Herder den Zeitpunkt des Entstehens des Buches Jezira falsch einschätzt, stammt es doch aus dem dritten bis sechsten Jahrhundert nach Christus¹¹⁰¹ – die ursprüngliche Lehre zu einem abstrakten Denksystem verformt. Deutlich kommen hier Herders Ansichten über die Entwicklung der Sprach- und Menschheitsgeschichte zum Ausdruck, deren Fortschritte bewirken, dass jeg-
1096 Vgl. TRE Bd. 16, S. 658. 1097 Vgl. Adler (Anm. 1094), S. 170. 1098 Vgl. ebd., S. 162. 1099 Herder: Älteste Urkunde (Anm. 1088), S. 461. 1100 Ebd., S. 463. 1101 Vgl. Adler (Anm. 1094), S. 163.
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liche Ursprünglichkeit verlorengehe und durch eine allzu rationale Denkweise verformt und verändert werde. Vor diesem Hintergrund ist Herders in der Ältesten Urkunde gefälltes negatives Urteil verständlich. Für ihn ist die Kabbala keine ursprüngliche Lehre, sondern eine mit der Zeit sich entwickelnde, auf rationale Erklärungsschemata aufbauende gelehrte Wissenschaft. Statt die zehn Sefirot als Grundlage für religiöse Erklärungsansätze zu nehmen, solle auf die Siebenzahl zurückgegriffen werden, die in den Schriften Mose zu finden sei und die Basis für jede christliche Deutung darstelle: So ist, ohne alle die spätere, hinzugeschrobne Kopfglosse Chaldäas, die schlichte Urkunde Moses der Text, der ältere Text, an dem wir uns halten, und eben sie, diese blos siebenfache einfältige Abbildung des Weltalls in der ursprünglichen Gestalt der Woche, zeugt wieder sie. Ist ihr Moses mit seinem harmonischen Sieben, aus dem alles in der Urwelt entstanden ist, wahr und allein wahr: so sind ihre zehn Sephiroth mit allen Heiligthümern der Kabbala nur späte, fremde, hinzugeträumte Metaphysische Glossen.¹¹⁰²
In Maran Atha ist eine ganz andere Beurteilung der Sefirot zu finden, was wohl damit zusammenhängt, dass es Herder möglich wird, eine Synthese zwischen der mosaischen Struktur der Siebenzahl und dem Sefirot herzustellen. Herder findet in der Apokalypse die Namen der zehn Sefirot auf Christus angewandt, wie er anhand von Apk. 1,13–16 erläutert. In einer graphischen Darstellung zeigt er die ersten drei Sefirot als Haupt, das vierte und fünfte Sefira als Arme, das sechste als Rumpf, das siebte und achte als Beine und die zwei letzten als Fundament.¹¹⁰³ Die ‚Gestalt‘, die sich aus dieser Darstellung ergibt, hat sieben ‚Teile‘, womit Herder wieder bei der Siebenzahl als grundlegendes Ordnungsprinzip angelangt ist. Auf der Grundlage dieser siebenteiligen ‚Gestalt‘ Jesu ist Herders Meinung nach die gesamte Apokalypse erklärbar. Jesus sei das Haupt, das sich erniedrigen müsse, von oben nach unten komme und die sieben Sendschreiben in Auftrag gebe (Apk. 1–3), im verschlossenen Buch (Apk. 4) spiegle sich der göttliche Verstand, die Weisheit werde im eröffneten Buch (Apk. 5–7) sichtbar, so deutet Herder die Apokalypse mit Hilfe der ersten drei Sefirot. Durch Jesus respektive die sieben Sendschreiben werde Gott immer sichtbarer, wirke durch den „Arm der Stärke und Gnade“¹¹⁰⁴, so dass sich das vierte und fünfte Sefira auf Apk. 8,9 und Apk. 10,11 beziehen. Den Mittelpunkt des Buchs, also den Rumpf in der Gestalt Jesu, sieht Herder in der Frau mit dem Kind aus Apk. 12,1 ff.: „Mit Sonne, Mond und Sternen gestickt, erscheint der Gurt seines Reichs, die Gebährerin am Himmel,
1102 Herder: Älteste Urkunde (Anm. 1088), S. 466. 1103 Vgl. Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 282. 1104 Ebd., S. 285.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
vom Drachen verfolgt, von Gott beschützet.“¹¹⁰⁵ Den Sieg und die Ehre als die zwei Beine der Figur sei in Apk. 19 mit dem Fall des Tieres und des falschen Propheten dargestellt. Das Millennium und das „ewige Reich“, das Herder „Schechina“ nennt, bilden die letzten beiden Sefirot.¹¹⁰⁶ Die Anwendung des Sefirot zur Deutung der Apokalypse zeigt nicht nur, wie stark Herder an der Betonung des jüdischen Hintergrunds gelegen ist, auf dem die Johannes offenbarten Bilder zu lesen sind. Sie illustriert ebenfalls, wie stark Herder darum bemüht war, trotz der vielen historischen Referenzen eine Exegese vorzulegen, die nicht als Kirchengeschichte, sondern als Prophezeiung über die Endzeit verstanden werden sollte: Die Offenbarung ist also, auch wenn man die erste und nächste Geschichte ihrer Deutung nicht verstände, ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten: denn sie enthält das Wesen des Christenthums und der Weltgeschichte, sie hat durch alle Veränderungen und Zeitumstände das Gepräge auf sich; der Herr ist nahe! Sein Reich kommt!¹¹⁰⁷
Die Nähe dieser Ereignisse wird durch den sprachlichen Stil und die emotionale Situation von Johannes ausgedrückt. Johannes schreibe stilistisch einfach in kurzen Sätzen, er entwerfe Bild um Bild und reihe diese Bilder ohne Übergänge oder chronologische Ordnung aneinander, die Apokalypse sei temporeich, alles dränge vorwärts, es herrsche eine Atmosphäre der Eile.¹¹⁰⁸ Dass die apokalyptischen Bilder oft schwer zu deuten sind, hänge mit der psychischen Verfassung von Johannes zusammen, so Herders Analyse. Johannes habe seine Offenbarung in den Jahren vor oder nach der Zerstörung Jerusalems empfangen. Seine Visionen drücke er in Bildern und Erfahrungen aus, die er während des römisch-jüdischen Krieges in den Jahren 66 bis 74 erlebt habe. Seine traumatischen Erfahrungen würden ihm ermöglichen, den mit dem Ende der Welt einhergehenden Schrecken zu apprehendieren. In diesem Sinne, so appliziert Herder die Apokalypse auf seine Zeit, müssen sich zeitgenössische Leser in Johannes hineinversetzen können, sie müssen seine Furcht und seine Angst spüren, nur so können sie die Bedeutung des Jüngsten Gerichts und die zeitlose Wahrheit der Apokalypse begreifen. Diese zeitlose Wahrheit, in der die Hoffnung auf die endgültige Erlösung enthalten sei, mache die Apokalypse zu einem Erbauungsbuch. Johannes spende mit seiner Offenbarung Vertrauen, Hoffnung und Kraft, ihre Botschaft verspreche, dass jeder den Lohn erhalte, der ihm zustehe. In diesem Sinne habe die Apokalypse ungeachtet der Tatsache, dass Herkunft und Datum nicht genau
1105 Ebd. 1106 Vgl. ebd. 1107 Ebd., S. 241. 1108 Vgl. ebd., S. 234.
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bestimmbar seien, einen erhabenen und wahren Inhalt, der göttlich per se sei, so Herders Meinung.¹¹⁰⁹ Mit dieser Meinung, die ihn zu einem nicht nur die Fakten, sondern auch die gefühlten Glaubenswahrheiten und die christliche Heilsbotschaft betonenden Exegeten macht, steht Herder Lavaters exegetischen Grundsätzen und seiner empfindsamen Theologie nahe. Dass sich Lavater zwar von Herders theologischen Ansichten bestätigt und auch inspiriert fühlte, in der Auslegung der Apokalypse aber trotzdem eine andere, ihn von Herder entfernende Richtung einschlug, soll anhand der Korrespondenz zwischen Herder und Lavater aufgezeigt werden.
5.6 Bibelpoetologische Reflexionen im Briefwechsel zwischen Lavater und Herder Herder wandte sich im Jahr 1772 erstmals brieflich an Lavater, die darauffolgende Korrespondenz war bis ins Jahr 1776 sehr intensiv und behandelte neben den Werken Herders und Lavaters, die gegenseitig rezensiert wurden, vor allem auch theologische und bibelpoetologische Fragen. Indem Herder ausführlich Lavaters Werk analysierte und detailliert auf die verschiedenen darin kritisierten Aspekte einging, versuchte er dem Zürcher Freund, seine Theorie zu biblischer Dichtung zu erläutern. Aus Lavaters Antworten, die in den ersten Briefen vor allem einen überschwänglichen Ton der Freude über den zustande gekommenen Briefwechsel zum Ausdruck bringen und weniger auf die Kritik Herders eingehen, lassen sich in späteren Episteln seine eigenen Vorstellungen von biblischer Dichtung erkennen. Durch die chronologische Auswertung der Briefe wird ersichtlich, dass Lavaters sich von Herders Vorstellungen differenzierende Meinung zu einer Entfremdung zwischen den beiden Theologen geführt und gleichzeitig den Anstoß zu Lavaters Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn geliefert hat. Im Zuge seiner Beschäftigung an den ursprünglich als Lehrgedicht geplanten, später jedoch in Briefform veröffentlichten Aussichten in die Ewigkeit hatte sich Lavater erstmals bereits 1768 an Herder gewandt, um ihn, den er als Literaturkritiker schätzte,¹¹¹⁰ bei der Wahl des Versmaßes um Rat zu bitten. Dieser erste Brief Lavaters wurde von Herder zwar beantwortet, kam aber nie in Zürich bei
1109 Vgl. ebd., S. 245. 1110 In einem Brief an Felix Hess vom 12. Juli 1763 lobte Lavater Herders Fragmente ‚Ueber die neuere deutsche Litteratur‘, deren Verfasser bezeichnete er als „Genie von erstem Rang“ (vgl. Janentzky [Anm. 40], S. 57).
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Lavater an, wie aus dem erst vier Jahre später einsetzenden Briefwechsel hervorgeht.¹¹¹¹ In seinem ersten Brief an Lavater beklagte sich Herder über den Zustand des Christentums. Es fehle das religiöse Gefühl, und die Folge davon sei, dass die Religion zu einem rationalen Moralsystem verkomme. Es habe sich „ein gewisser kalter, nervenloser Ton, wie über manches andre, sich auch über das Christenthum ausgebreitet und die Moral ist, zufolge insonderheit Englischer Philosophen in der Theologie, mehr eine gewisse gesunde Politik von außen und leere Ruhe von innen geworden.“¹¹¹² Herder verurteilte diejenigen Exegeten, welche die Bibel mit „orientalischem Geschwätz“¹¹¹³ zu erklären versuchten und „alles in laue Umschreibung, kalte Definition, philosophische Moral auflösen.“¹¹¹⁴ Dadurch, so Herder, „tilgen wir sogar das letzte Vehiculum des Worts der Gottheit aus unserm Jahrhundert weg, um unser Wort zu sagen.“¹¹¹⁵ Herders Kritik zielte auf die historisch-kritische Bibelexegese und deren Hauptvertreter Michaelis und Semler. Er studierte zwar anfänglich mit regem Interesse Michaelis’ orientalische Forschungen und hat, wie gezeigt wurde, wesentliche Aspekte der historischen Bibelbetrachtung in seine eigene Exegese aufgenommen.¹¹¹⁶ Trotzdem hielt er sich nicht zurück, Michaelis und Semlers neologische Ansätze, die Bibel lediglich auf Vernunftwahrheiten hin zu untersuchen und zu bewerten, heftig zu kritisieren. Für Herder haben nicht lediglich diejenigen biblischen Zeugnisse einen religiösen Wert, die moralische Lehren enthalten und demzufolge mit dem Verstand begreifbar sind. Er spricht den durch die Ursprünglichkeit der Bibel bewirkten Affekten und Empfindungen sowohl religiösen wie auch ästhetischen Wert zu. Neben dieser Kritik an Semler und Michaelis distanzierte sich Herder, wie aus seinem Brief hervorgeht, auch von Spaldings theologischen Überzeugungen. Auch dieser verkenne, dass die Religion, genau wie die Natur, „ein Ganzes sehr vieler würkenden Kräfte“¹¹¹⁷ und nicht ein „kaltes Abstractum“¹¹¹⁸ sei. Hier stimmt Herder
1111 Herder schrieb: „Den Brief, den ich Ihnen aus Liefland vor 4 Jahren über das Silbenmaß Ihres Gedichts und andre Sachen der Art zuschrieb, werden Sie erhalten haben“ (Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 252). Lavaters Antwort lautete: „Den Brief aus Lievland, Deinen ersten, hab’ ich nicht erhalten“ (Lavater an Herder, 10. Nov. 1772. In: Heinrich Düntzer (Hg.): Aus Herders Nachlass. Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius, Lavater, Jacobi und andern bedeutenden Zeitgenossen. 2 Bde. Frankfurt/M. 1856/57. Bd. 2, S. 29). 1112 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 253. 1113 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 259. 1114 Ebd. 1115 Ebd. 1116 Vgl. Bultmann (Anm. 836), S. 49. 1117 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 253. 1118 Ebd.
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mit Lavater überein, der das Christentum zu einer leeren Hülle verkommen sah, in der er „nirgends auch nur ein Funken der wahren Erkenntnis Gottes und des wesentlich damit verknüpften Lebens, der wesentlich damit verknüpften Liebe Gottes“¹¹¹⁹ mehr auszumachen vermochte. Zur wahren Erkenntnis Gottes gelange man, so Lavaters Meinung, nur durch das Studium der biblischen Zeugnisse. Lavater betrachtet die Bibel als zeitlos gültiges Dokument über Gotteserfahrung, das den Rezipienten zur wahren religiösen Empfindung und zum Glauben führt. Herder hingegen sucht in den biblischen Zeugnissen nach den Bedingungen und Umständen, mit denen sich die Verfasser bei der Niederschrift ihrer Texte auseinanderzusetzen hatten. Der Leser aus Herders Zeit, der diese Texte hunderte von Jahren nach ihrer Entstehung rezipiert, soll die Affekte des Verfassers nachempfinden können, um dadurch das ursprüngliche, immergültige Gefühl zu erkennen, aus dem heraus sie geschrieben wurden – bei der Apokalypse, wie bereits erläutert, die von Johannes erlebte Furcht und den Schrecken, deren historischer Ursprung die Zerstörung Jerusalems war, deren immergültige Aussage sich aber auf die zu erwartenden Ereignisse beim Ende der Welt beziehen. Vor diesem Hintergrund ist auch Herders Kritik an Lavaters Aussichten in die Ewigkeit zu verstehen, die er in seinem ersten Brief an Lavater äußerte. In seinen Aussichten stellt Lavater eine plastische Darstellung des Lebens nach dem Tod dar, in der sowohl physische Eigenheiten des der Seele nun als Gefäß dienenden ‚ätherischen Leibs‘ wie auch das Jenseits selbst und die darin stattfindenden Tätigkeiten phantasievoll beschrieben sind. Mit diesem spekulativen Blick in die Ewigkeit wollte Lavater zeigen, was den Auserwählten als Belohnung wartete, und dadurch Ansporn schaffen für ein gottesgefälliges, den Pfaden Christi folgendes Leben. Lavater sieht in der Gefolgschaft Christi die Bestimmung des Menschen. Da diese erst im Leben nach dem Tod vollkommen sein werde, richtet er seinen Fokus auf diesen zukünftigen Zustand. Anderer Meinung ist Herder, der es als nutzlos empfindet, die Bestimmung des Menschen im Leben nach dem Tod zu suchen und alle Bestrebungen darauf zu konzentrieren. In seinen vor allem in den 1760er Jahren gemachten Studien über Anthropologie untersuchte Herder das menschliche Sein im Vergleich mit dem tierischen und gelangte zum Schluss, dass der Mensch auf Grund seines Mangels an Instinkten keine eigentliche Bestimmung in der Welt habe.¹¹²⁰ Er müsse sich diese selbst konstruieren, Leitplanken seien ihm Kultur, Gesellschaft und Religion. Dazu solle er seine ihn umgebende, reale Welt studieren; Spekulationen über das Jenseits würden keinen Nutzen bringen. So lobte Herder in Lavaters Aussichten
1119 Lavater an Herder, 24. Feb. 1773. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 35. 1120 Vgl. Irmscher (Anm. 38), S. 62 f.
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denn auch vor allem diejenigen Passagen, in denen Lavater die christliche Frömmigkeit in ihrem Wert für die Gegenwart beschreibt: „Alles, was sich von Ihren ‚Aussichten‘ würklich auf dies Leben bezieht, was mich würklich hier entwickelt, aufmuntert, weiter bringt, was hier schon den moralischen Sinn, den künftigen Engel in mir unmittelbar rühret, liebster Freund, wie manchmal hätte ich Sie darüber umarmen mögen!“¹¹²¹ Außerdem dürfe die Ewigkeit als „größte Sache Gottes“¹¹²² nicht über die biblischen Zeugnisse hinausgehend mit eigenen Spekulationen ausgefüllt werden, sondern müsse mit maßvollem Respekt dem göttlichen Geheimnis gegenüber in ihrer allgemeinen Bedeutung bestehen bleiben. Diese Äußerung wurzelt in Herders bibelpoetologischem Verständnis, wonach es einem Poeten nicht gestattet ist, die Bibel neuen Normen gemäß, geschieht dies in poetologischer oder theologischer Absicht, umzuschreiben. Jegliches Wissen über religiöse Wahrheiten habe nur eine Quelle, die Bibel, die in ihrer Ursprünglichkeit ohne eigene Erdichtung genutzt werden müsse. Da es aber in der Bibel keine Zeugnisse gebe über den Zustand der Seele nach dem Tod – Herder verweist auf Paulus, der im Korintherbrief explizit darauf hinweise, dass keinem Menschen Vorstellungen über die göttliche Ewigkeit gegeben sind (1Kor 2,9) –, empfinde er Lavaters Ausschmückungen sowohl in theologischer wie auch in poetologischer Hinsicht als unangebracht.¹¹²³ Herder erkennt in den Aussichten zwar Lavaters Absicht, den Menschen in seiner gradweisen Entwicklung hin zur göttlichen Vollkommenheit zusätzlich zu motivieren, indem er ihm die Früchte des zu Erreichenden besonders schmackhaft vor Augen führt. Er sieht aber darin die Gefahr von einem unreflektierten, von jeglicher theologischen Grundlage entwurzelten Mystizismus, wie er es in seinem Brief an Lavater erläutert. Herders Meinung nach enthält die Bibel Lebensweisheit, die er als ethische Anleitung zu einer von Gott prädestinierten und in Christus vorgelebten Humanität versteht. Lavaters Bonnet-Studien aufnehmend, spricht auch Herder von einem inneren Keim als Grundprinzip des menschlichen Seins. Die in diesem Keim sich bündelnden Kräfte, zu denen Vernunft, Gefühl, Leidenschaft und Affekt, nicht aber „speculative Neugier“¹¹²⁴ gehören würden, hätten eine moralische Funktion, sie seien die Grundlage dafür, dass der Mensch sein Handeln und Wirken in der Gegenwart tugendhaften Prinzipien gemäß entwickeln könne. Die in der Bibel zu findenden „Abstractionen, Schattenideen, allgemeine[n] Begriffe“¹¹²⁵ über die
1121 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 259. 1122 Ebd., S. 254. 1123 Vgl. ebd. 1124 Ebd., S. 255. 1125 Ebd., S. 256.
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Ewigkeit seien nicht als „Spielzeug der Muse“¹¹²⁶ zu verstehen, sondern würden mit dem Versprechen auf eine letzte Gerechtigkeit die Entwicklung dieses moralischen Keims in der Gegenwart befördern: Man fühlt, man ahndet, man wittert künftige Kräfte und Zustande und Seligkeiten, aber alles nur, sofern sie uns wahrhaftig hier schon vervollkommnen, sofern sie Saiten rühren und Töne wecken, von denen wir hier innig fühlen, das sie dort lauter tönen können und werden.¹¹²⁷
Auch die Apokalypse findet Erwähnung in Herders Reflexionen über die Art und Weise, wie die Bibel über das jenseitige Leben spricht. Bemerkenswert ist, dass Herder lediglich in der Johannes-Offenbarung und in keinem anderen biblischen Buch konkrete Andeutungen zur Ewigkeit zu erkennen glaubt: Ich weiß, liebster Lavater, dass Sie mir hier mit hundert Stellen widersprechen werden, wo Erscheinung, wo Bild, wo ordentlich detaillierte Aussicht zu sein scheint: ich nehme die Offenbarung Johannis aus, und ich glaube, Ihnen gerade widersprechen zu können. Immer nur Erläuterungen aus jenem Leben, Beziehungen desselben auf den moralischen Sinn, der bis ins Ewige fühlen, ahnden, sich hinbilden soll auf die würkliche Pflanze, die dorthin wachsen wird: weiter nichts, weder für Neugierde noch Speculation, noch Spielzeug der Muse.¹¹²⁸
Die Apostel und Evangelisten würden sich in ihren Lehren auf das gegenwärtige Leben konzentrieren, nur Johannes sehe in seinen Visionen angedeutete Bilder eines jenseitigen Zustandes. Diese spärlichen Andeutungen in der JohannesOffenbarung aber als Quelle für eigene Imaginationen zu nutzen verwirft Herder. Für ihn ist die Apokalypse, so schreibt er an Lavater, „ein poetisches Buch […], was ich nicht verstehe.“¹¹²⁹ Ein Jahr später hat sich Herder mit diesen ‚Unklarheiten‘ intensiv auseinandergesetzt, wie die Genese seines Werks Maran Atha gezeigt hat. Herders Beurteilung der Aussichten neben der mit großem Pathos geäußerten Freude über den endlich zustande gekommenen Briefwechsel wenigstens „im Vorbeigang“¹¹³⁰ zur Kenntnis nehmend, versprach Lavater, sich die Kritik des neuen Freundes zu Herzen zu nehmen, „lass dir für jedes Wort himmlischer Weisheit die Hand küssen, womit Du meine Eigenheit tödtest.“¹¹³¹ Viel wichtiger
1126 Ebd. 1127 Ebd., S. 255. 1128 Ebd., S. 256. 1129 Ebd., S. 255. 1130 Lavater an Herder, 10. Nov. 1772. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 27. 1131 Lavater an Herder, 10. Nov. 1772. In: ebd.
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aber als Herders Rezeption der Aussichten war Lavater dessen Äußerungen über die durch die neologische Theologie in Bedrängnis geratene christliche Religion. Lavater glaubte, in Herder einen theologischen Verbündeten zu erkennen, der sich wie er selbst gegen ein nur von moralischen Grundsätzen geleitetes Christentum richtete. Herders Äußerungen über die fehlende Emotionalität, mit der religiöse Themen behandelt werden, ließ Lavater davon ausgehen, dass sein Bückeburger Amtskollege dieselben theologischen Anliegen vertrat wie er selbst. Lavater hatte aber einen besonderen Aspekt im Fokus: Für ihn war es nicht wie für Herder die Bibel im Allgemeinen, die durch die rationale Ausmusterung von moralisch nicht nutzbaren Texten eine gefährliche Verschmälerung erlitt. Lavaters Augenmerk richtete sich auf die Rolle Jesu Christi, dessen Bedeutung in der neologischen Theologie auf einen vorbildhaften Lehrer der Gottesfrömmigkeit und Tugend reduziert wurde. Dementsprechend war Lavaters Anliegen, das er in seinem ersten Brief an Herder äußerte, aus einer christologischen Perspektive heraus formuliert. Spalding und die neologischen Theologen Semler, Wilhelm Abraham Teller, August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Johann August Eberhard (1739–1809) ansprechend, beklagte sich Lavater über das in seinen Augen nicht adäquat bewertete Ansehen Jesu Christi: Spalding – mein lieber, frommer Spalding – ist – nicht begeistert von Christus – Christus sag’ ich, und meine nicht Vorschriften von ihm. – Ach Gott! Wohin kömmts! Ihn, ihn will niemand sehen – Semler und Teller und Sack und Eberhard – und die ganze Schaar der Denker nicht mehr. O Herder – ich beschwöre Dich: Hilf mir ihn, ihn darstellen.¹¹³²
Herder jedoch kümmerte sich im Fortgang des Briefwechsels weniger um die Darstellung Jesu Christi als um die Darstellung der Ewigkeit. Seine Erläuterungen dazu wollte er Lavater als Rat für den dritten Teil der Aussichten mitteilen. Herders Hauptanliegen war es, Lavater darüber aufzuklären, dass die biblischen Zeugnisse zwar Hinweise und Winke über Ewigkeitsvorstellungen enthalten, diese aber im Kontext der Tradition und Zeit, in der sie aufgeschrieben worden sind, gelesen werden müssen. Wie die Genesis zeige, entspreche es durchaus der menschlichen Natur, sich Gedanken über das Leben nach dem Tod zu machen. Mit der Androhung Gottes nämlich, Adam würde den Tod empfangen, wenn er von der verbotenen Frucht esse,¹¹³³ sei eine erste Andeutung darüber gemacht worden, dass dem Menschen etwas passieren könne, worüber er keine Vorstellung habe. Adam hätte den Inhalt dieser Drohung zwar noch nicht verstehen
1132 Lavater an Herder, 10. Nov. 1772. In: ebd., S. 28. 1133 Vgl. 1 Mos 2,17.
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können, sie sei ihm aber bewusst geworden, als sich in der Erschlagung Kains durch Abel der erste dokumentierte Todesfall ereignet habe.¹¹³⁴ Der real gewordene Tod hätte zur Frage geführt, was danach komme, so Herders Erläuterungen. Eine erste biblische Antwort dazu, die „das Kinderbild der Unsterblichkeit“¹¹³⁵ darstelle, finde sich in der Erzählung über Henoch, der von Gott weggenommen und nicht mehr gesehen worden war.¹¹³⁶ In der Folge dieser ersten Erfahrungen hätten sich die Menschen Gedanken zum Leben nach dem Tod gemacht und diese in eigenen Bildern und Andeutungen zum Ausdruck gebracht, wie die alttestamentlichen Texte zeigen würden: Alle älteste Morgenländische Vorstellungen vom Tode u. Todtenreiche durch das ganze Alte Testament hindurch, in Hiob, Propheten, Psalmen sind allein in diesem Gefühl u. für mich das Rührendste, was ich in der Art kenne.¹¹³⁷
Wichtig sei nun aber, diese Andeutungen im Alten Testament im Kontext der Tradition und Kultur, die zu der Zeit der Niederschrift herrschten, zu deuten. Wie die Begräbniszeremonien, die Totenrituale, der Ahnenkult, die Gebete und die Psalmen der Hebräer zeigen würden, hätten sich aus den Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod vielfältige rituelle Praxen ergeben, die von Volk zu Volk variieren würden. Die Lehren über die Unsterblichkeit sei in Nationalbildern und Geschichten weiterentwickelt und auf eine Art und Weise ins menschliche Herz eingeprägt worden, die es verstehen könne. Abrahams Gefühle bei der Opferung Isaaks zum Beispiel seien sehr patriarchalisch, hätten etwas Großes, Einfältiges, das nur verstanden werden könne, wenn man sich in die Patriarchenzeit hineinversetze. Hier ist die Apokalypse-Exegese vorweggenommen, bei der Herder ebenfalls davon ausgeht, dass die in den Visionen des Johannes ausgedrückten Bilder aus dessen Erfahrungshorizont stammen und nur im Kontext der damaligen Zeit verstanden und nachempfunden werden können. Herder imaginierte das Werk, das entstehen würde, wenn man die verschiedenen Vorstellungen über das Jenseits von allen Völkern zusammennehmen würde: Das wäre ein Menschliches Nachtstück der Unsterblichkeit u. Zukunft im Heiligsten Schimmerlichte; wo ich alle angeführte Hülfsmittel aus Bibel, Alterthum u. Geschichte des Menschlichen Geschlechts zu nutzen es mir für Pflicht hielt – aber Bibel bleibe auch hier die Quelle der Weisheit u. Dichtkunst, wo das andre nur als sehr abgeleitete Ströme erschiene.¹¹³⁸
1134 Vgl. 1 Mos 4,8. 1135 Herder an Lavater, Ende März/Anfang April 1773. In: WA Bd. 2, S. 332. 1136 Vgl. 1 Mos 5,24. 1137 Herder an Lavater, Ende März/Anfang April 1773. In: WA Bd. 2, S. 331. 1138 Ebd.
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Herder forschte aber nicht nur nach alttestamentlichen Berichten über das Leben nach dem Tod, er ging auch auf die neutestamentlichen Zeugnisse ein. Christus sei gekommen und habe Tote zum Leben erweckt und in seinen Andeutungen über das Jenseits vorsichtig die jüdischen Meinungen, Hoffnungen und Erwartungen von ihrem traditionellen Ballast befreit und christianisiert: Und nun wie Christus kam, und Leben und unsterblich Wesen ans Licht brachte! Mit welcher Vorsicht und Weisheit er die Jüdischen Meinungen, Hoffnungen und Erwartungen reinigte, bestimmte, über und außer Judäa erweiterte und idealisirte! Bei welchen Gelegenheiten und wie er Unsterblichkeit, Auferstehung der Todten, Gericht lehrte, thätlich und redend.¹¹³⁹
Die Apostel hätten weiter die Lehre Jesu von der Auferstehung verbreitet und die Ewigkeitsvorstellungen von jüdischen kulturellen Elementen gereinigt. Die Offenbarung von Johannes stelle den Höhepunkt der Jenseitsvorstellungen dar. Zusammenfassend zu den neutestamentlichen Zeugnissen über eine Unsterblichkeitslehre meint Herder: Ich kann mir kaum was Schöners denken, als die Bemerkungen u. Entwicklung jedes Winks auf seiner Stelle, unter seinen Umständen u. im Bilde seiner Würkungen, u. die Verbindung aller dieser Göttlichen Winke unter alle den Umständen zu Einer Lehre.¹¹⁴⁰
Wie man dies nun poetisch verbinden könne, fragt Herder rhetorisch in Bezug auf Lavaters Aussichten. Es gebe manche Einkleidung, die Vorstellungen selbst seien Poesie, und Missverständnissen könnten vorgebeugt werden, wenn man die Vorstellungen in Bezug setze zum kulturellen Kontext, in dem sie entstanden seien – so Herders Rat an Lavater für weitere ‚Aussichten‘ in die Ewigkeit.¹¹⁴¹ Lavater war begeistert von Herders Brief und entnahm ihm nicht nur Anregungen für die Aussichten, sondern auch Erbauung für seinen persönlichen Glauben.¹¹⁴² In seinem Antwortbrief ging er aber nicht mehr weiter auf Herders Ausführungen über das Leben nach dem Tod ein, sondern gelangte mit einem anderen Problem an ihn. Klopstock komme nach Zürich, und er wisse nicht, über welche Themen er mit dem Dichter sprechen könne.¹¹⁴³ Er müsse Herder nämlich
1139 Ebd., S. 332 f. 1140 Ebd., S. 333. 1141 Vgl. ebd., S. 333 f. 1142 Vgl. Lavater an Herder, 21. April 1773. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 55 f. 1143 Vgl. ebd., S. 57.
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gestehen, dass der vollendete Messias nicht seinen Erwartungen entspreche, er sich aber noch nicht getraut hätte, dies offen zu äußern.¹¹⁴⁴ Bereits Anfang März 1773 war Lavater in den Besitz einiger Bögen des letzten Bandes der vollendeten Messiade gekommen und kritisierte trotz der Genialität Klopstocks, die Lavaters Meinung nach das dichterische Können Pindars und Homers übertreffe, seine prosodischen Theorien über das Silbenmaß: „Mit Widerwillen und Ekel überschlag’ ich die ‚prosodischen Gespräche‘ voll Sylbenzählung und Tonmasse. Herr Jesu! Prosodische Zergliederungen vor den höchsten, allerheiligsten Gesängen!“¹¹⁴⁵ Diese Kritik nimmt Lavater wieder auf, wenn er Herder schreibt, dass er Klopstocks Reflexionen zum Hexameter als kleingeistig empfinde. Dies sei aber nur ein Aspekt, der ihn am Messias störe. Was ihm am meisten missfalle, sei die Tatsache, dass Klopstocks Werk „so modern, so universitätsgerecht, so theologisch“¹¹⁴⁶ sei und dabei alles Prophetische und Evangelische vermissen lasse. Lavater macht hier eine Trennung zwischen Religion und Theologie, wobei er diejenigen Lehren als theologisch betrachtet, die den Glauben nicht mehr direkt mit den biblischen Zeugnissen untermauern, sondern die Bibel auf ihre moralische Aussagekraft hin untersuchen.¹¹⁴⁷ Das Schlimmste am Messias aber sei, dass Klopstock Christus nur leidend und nicht handelnd zeige und dabei nicht ihn selbst ins Zentrum stelle: Man sieht […] immer alles um ihn herum – und ihn, ihn selber nicht – kein Licht, kein Zusammenhang, keine Beziehungen in den Begriffen, die er poetisch auskleidet – und ebendeswegen in Absicht auf ihn keine Herzenssentiments – nur Imaginationsdeclamationen.¹¹⁴⁸
Die Darstellung von seelischen Empfindungen und Gefühlen aus der Sicht unterschiedlicher, am Geschehen beteiligter Personen, ein wichtiges Merkmal von Klopstocks Wirkungsästhetik,¹¹⁴⁹ vergleicht Lavater mit der tatsächlichen biblischen Handlung und spricht ihr jegliche religiöse Aussagekraft ab. Dass ihre Besonder-
1144 Vgl. ebd. 1145 Lavater an Herder, 12. März 1773. In: ebd., S. 40. 1146 Lavater an Herder, 21. April 1773. In: ebd., S. 57. 1147 Über die Bedeutung, die Lavater der Bibel beimisst und die er in der von der ‚Religion‘ unterschiedenen ‚Theologie‘ nicht findet, gibt auch folgende Stelle Auskunft: „Hundert Situationen Jesu hat er [Klopstock] überhüpft, die uns, in zehn Zeilen beschrieben, mehr gesagt hätten als ganze Gesänge voll Episoden, wo jeder dies oder jenes von ihm sagt, das entweder aus der Theologie entlehnt oder willkürlich ist, und sich gar nicht aus ihm selbst ergibt.“ (Lavater an Herder, 21. April 1773. In: ebd., S. 58). 1148 Lavater an Herder, 21. April 1773. In: ebd., S. 57. 1149 Vgl. Kap. 4.6.
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heit darin liegt, durch poetologische Mittel die Seele in Bewegung zu versetzen und dadurch zur Erhabenheit des eigentlichen Geschehens beizutragen, verkennt Lavater als ausschweifende, nichtssagende „Imaginationsdeclamationen“¹¹⁵⁰, an deren Stelle Klopstock besser die vielen ausgelassenen, in Bezug auf die wahre Darstellung Jesu Christi aber um so aussagekräftigeren historischen Episoden gesetzt hätte. Lavaters Fazit über den Messias fällt dementsprechend zwiespältig aus: Klopstocks poetisches Genie erscheine ihm zwar unvergleichbar, auch gebe es unzählige Passagen, die er nicht missen möchte,¹¹⁵¹ doch auf das Ganze betrachtet sei ihm das Werk „unerträglich.“¹¹⁵² Dass Lavater Herder gegenüber so negativ von Klopstocks Messiade urteilte, mag mit Herders eigener Kritik am Messias zusammenhängen. Herder bezeichnete zwar im Briefwechsel mit Lavater Klopstock als „himmlische[r] Genius in menschlicher Gestalt“¹¹⁵³ und riet Lavater in Bezug auf dessen Aussichten, an Klopstocks Dichtung „des individuellsten Gefühls im Sinne der Offenbahrung“¹¹⁵⁴ anzuknüpfen, hatte sich aber bereits sechs Jahre früher kritisch zu Klopstocks damals noch unvollendetem Messias-Epos geäußert. Im der zweiten Sammlung der 1767 erschienen Fragmente Ueber die neuere deutsche Litteratur, von deren Kenntnis seitens Lavaters auszugehen ist, analysierte Herder Klopstocks Werk aus der Perspektive eines Rabbis und eines Christen.¹¹⁵⁵ Indem Herder seine Kritik am Messias einem Rabbi und einem Christen in den Mund legte, sprach er die zwei verschiedenen Aspekte an, die seiner Meinung nach bei biblischer Dichtung zu betrachten sind: Einerseits die historischen, im Judentum verankerten Wurzeln des Christentums und andererseits der Inhalt der christlichen Religion. Für Herder steht außer Frage, dass Inhalt und Bedeutung des Christentums nur auf der Grundlage des Judentums verstanden werden können. Jüdischer Geist, Kultur und Tradition seien auch aus der christlichen Dichtung nicht wegzudenken, „da Jesus doch einem Volke erschien, das ihn unter diesen Bildern erwartete.“¹¹⁵⁶ Diese Überzeugung, die zentral ist bei der Exegese und Nachdichtung der Apokalypse, lag bereits Herders Beurteilung des zu diesem
1150 Lavater an Herder, 21. April 1773. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 57. 1151 Zu diesem Lob passt folgende Bemerkung von Lavater aus einem Brief an Herder: „Klopstock ist mir immer Riese oder Kind – doch kann ich mich an der ‚Messiade‘ nie satt lesen.“ (Lavater an Herder, 7. Juni 1774. In: ebd., S. 105). 1152 Lavater an Herder, 21. April 1773. In: ebd., S. 58. 1153 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 254. 1154 Vgl. Herder an Lavater, 18. Jan. 1773. In: ebd., S. 297. 1155 Vgl. Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 295–302. 1156 Ebd., S. 297.
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Zeitpunkt noch unvollendeten Messias zugrunde.¹¹⁵⁷ Neben der in der zeitgenössischen Messias-Rezension üblichen Kritik an der Handlungsarmut beziehen sich die Haupteinwände des Rabbis auf poetologische und historische Aspekte. Klopstocks Sprache sei nicht im Stile der Propheten, der Dichter habe deren erhabenen Ton nicht ins Epische übernehmen können. Dass Klopstock seiner Dichtung die Erhabenheit zugrunde legt, geht aus seinem Aufsatz Von der Heiligen Poesie hervor.¹¹⁵⁸ Herder beurteilte Klopstock also nicht nach den in diesem Aufsatz festgelegten Maßstäben, diese scheinen ihm ungenügend, „ueberhaupt verdient in vielen Stücken die Klopstocksche Abhandlung von der heiligen Poesie gründlich geprüft zu werden.“¹¹⁵⁹ Die poetologischen Differenzen zwischen Herder und Klopstock liegen vor allem im unterschiedlichen Verständnis von biblischer Dichtung. Klopstock bewertet die Erhabenheit von Dichtung anhand ihrer sprachlichen und formalen Ausgestaltung. Die traditionelle Vormachtstellung des Epos in der Gattungshierarchie weiterführend und auf die Epen Homers rekurrierend, ist ihm allein das Epos und der darin seit der Antike dominierende Hexameter geeignet, um sprachliche Erhabenheit zu generieren. Um den erhabenen Inhalt der Religion dichterisch angemessen umsetzen zu können, eignet sich seiner Meinung nach nur das Epos. Auch Herder hat sich mit der Gattung des Epos auseinandergesetzt und ihm stets eine besondere, mit dem Wirken Gottes in Zusammenhang gebrachte Dignität zugesprochen.¹¹⁶⁰ Allerdings sieht Herder im Epos nicht wie Klopstock die würdigste Form, Gott zu singen, sondern das am besten geeignete poetische Gefäß, um das Wirken Gottes in der Geschichte der Menschheit zu illustrieren. Herders nie losgelöst von Religion betrachtetem Geschichtsverständnis gemäß ist die Entwicklung der Menschheit eine stetige, im Handeln der Menschen sich zeigende Offenbarung Gottes, die in den unterschiedlichen Zeitaltern unterschiedlich zum Ausdruck kommt: „Thatsache ist der Grund alles
1157 Zu seinem Vorhaben, den ‚Messias‘ trotz seiner noch nicht erfolgten Vollendung zu kritisieren, meinte Herder: „Ueber Fragmente, denke ich, soll man am ersten urtheilen, um dem Verfasser zu helfen, oder wenigstens seine Stimme auch zu geben; dadurch allein arbeitet ein Künstler vor den Augen des Publikums: er hat ein unvollendetes Tagwerk hingestellt und steht hinter demselben, um nach den Urtheilen der Kenner begangene Fehler zu verbessern, und künftigen zuvorzukommen. Hätte Klopstock gleich im Anfange, statt eines posaunenden Lobredners, einen kritischen Freund gefunden: hätte er nicht gleich so viel blinden Beifall, und noch blindere Nachahmung gesehen: vielleicht würde manches in seinem vortreflichen Gedicht noch vortreflicher seyn“ (ebd., S. 293 f.). 1158 Vgl. Kap. 4.4. 1159 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 301. 1160 Zu Herders Beschäftigung mit dem Epos vgl. Irmschers Kapitel ‚Epos‘ in: Irmscher (Anm. 38), S. 168–177.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Göttlichen der Religion, und diese kann nur in Geschichte dargestellt, ja sie muss selbst fortgehend lebendige Geschichte werden.“¹¹⁶¹ Diesem Postulat könne dichterisch im Epos entsprochen werden. Dabei geht es aber nur um die Handlung, um die Epik als erzählende Dichtung, und nicht um die der Antike angepasste sprachliche Form – was erklärte, dass, obschon sich in Herders Nachlass das Fragment eines Epos Gottes Rat und Tat über das Menschengeschlecht¹¹⁶² und ein nach dem zweiten Gesang abgebrochenes Werk Epos der Gottheit im Fortgange der Menschheit¹¹⁶³ befinden und die häufige metaphorische Verwendung des Begriffs ‚Epos‘ in Herders geschichtsphilosophischen Werken auffällig ist¹¹⁶⁴ – ihm die sprachliche, Erhabenheit beabsichtigende Form von Klopstocks Messias missfiel. Für Herder ist die Sprache der Bibel bereits Poesie, diese Poesie entfaltet ihre Erhabenheit in der ihr eigenen Simplizität als erstes affektiv bestimmtes dichterisches Zeugnis der Menschheit und darf nicht, wie dies Klopstock tut, in eine künstliche Form gebracht werden. Es erstaunt also nicht, wenn Herder in seinem Gespräch über den Messias den Rabbi sich wundern lässt, dass Klopstock die Werke der Propheten als „Meisterstücke der Beredsamkeit“¹¹⁶⁵ bezeichnet. Die prophetischen Schriften sind Herders Meinung nach „Meisterstücke alter orientalischer Gedichte“¹¹⁶⁶, die sich nicht durch Eloquenz, sondern durch Einfachheit auszeichnen und denen Klopstock sprachlich hätte folgen sollen. Dass es Nachahmer Klopstocks gebe, die seine Sprache mit derjenigen der Propheten vergleichen und als besser erachten würden, erregte bei Herder großen Unmut, wie er in seinen Briefe[n], das Studium der Theologie betreffend zum Ausdruck bringt. Herder kann nicht verstehen, dass junge biblische Dichter sich nicht die Evangelisten oder die Propheten zum Vorbild nehmen, sondern Klopstock nacheifern. Solchen Leuten sei nicht zu helfen, und darum wolle er sich auch nicht weiter darauf einlassen, Klopstocks Messias und sein Bezug zur Bibel zu erläutern: Ja was hülfe es endlich, sein [Klopstocks] Gedicht mit der Geschichte, den Dichter mit den Evangelisten zu vergleichen, da neulich Einer seiner Schüler laut gesagt hat, Klopstock habe den Hesekiel verbessert, so augenscheinlich verbessert, dass dieser ihm danken würde, wenn er sein Prophetenstück in dieser Verbesserung läse. Dieselbe Stimme (denn
1161 Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium (Anm. 867), S. 362. 1162 Vgl. Johann Gottfried Herder: Gottes Rat und Tat über das Menschengeschlecht. In: FA Bd. 3, S. 815–824. 1163 Vgl. Johann Gottfried Herder: Adrastea. In: FA Bd. 10, S. 814. 1164 Vgl. Irmscher (Anm. 38), S. 169. 1165 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 300. 1166 Ebd.
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ein Kopf kann es wohl nicht gesagt haben) würde ausruffen: was schadets? Auch die Evangelisten hat er verbessert, Christum verbessert – also ….überheben Sie mich der misslichen Arbeit.¹¹⁶⁷
Eng verbunden mit der sprachlichen Kritik am Messias ist die historische, kann doch dem prophetischen Stil nicht gerecht werden, so die Überzeugung des Rabbis, weil Klopstock den historischen Aspekt vernachlässige und zu wenig auf die biblische Vorlage eingehe. Die Offenbarung trete zugunsten eigener Erdichtungen in den Hintergrund, so dass wichtige historische Zeugnisse verlorengehen würden und der orientalische Geist, der aus einem biblischen Gedicht, auch wenn es ein christliches sei, nicht entfernt werden dürfe, fehle bei Klopstock weitgehend: Wenn der Schauplatz und die meisten Auftritte in einem Christlichen Gedichte nicht recht Jüdisch sind: so wundere ich mich nicht eben; ein Christ, wie die meisten sind, halten unsern Staat, Sitten und Gebräuche für zu niedrig, als sie zu studiren, und sie müssen doch studirt werden, weil sie von dem Geist der heutigen Zeit sich so weit entfernen.¹¹⁶⁸
Weniger umfangreich fallen die Einwände des Christen aus, in dessen Kritik theologische und poetologische Aspekte vermischt sind. Seiner eigenen Religionsauffassung folgend lässt Herder den Christen kritisieren, Klopstocks Messias lasse jegliche menschliche Komponente vermissen, er sei in seiner Darstellung zu erhaben, eine dem Menschen ferne, nicht fassbare göttliche Macht und in seiner Supranaturalität unvermögend, seelische Empfindung zu verursachen, was weder dem Geist der Offenbarung noch poetologischen Kriterien entspreche: Der Messias erscheint nach den Weissagungen des A.[alten] und den Erzählungen des N.[euen] Testaments viel Menschlicher, als ihn K.[lopstock] malet. Die Epopee fordert nicht ein Ideal, was übermenschlich wäre, sondern was die höchste Rührung verursacht: nun entgeht aber dem Gedichte des K.[lopstock] viel von diesem Leben, weil wir den Heiland zu wenig Menschlich sehen; und es bleibt doch immer wahr; nichts bewegt eine Menschliche Seele, als was selbst in ihr vorgehen kann.¹¹⁶⁹
Im Gespräch zwischen dem Rabbi und dem Christen wünscht sich der Christ eine sprachliche Anlehnung an die Apostel. Während der Rabbi davon ausgeht,
1167 Diese Sätze finden sich nur im Manuskript der ‚Briefe, das Studium der Theologie betreffend‘. In der Ausgabe von Suphan sind sie gedruckt: SWS X, S. 229, Anm. 5. 1168 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 297 f. 1169 Ebd., S. 296 f. Diese Kritik hat Herder in den ‚Briefen, das Studium der Theologie betreffend‘ wieder aufgenommen (zitiert in Kap. 5.2).
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
dass der Duktus eines Jesajas der Darstellung des Messias hätte gerecht werden können, ist es beim Christen der Apostel Johannes, der „mit dem feurigen Pinsel der Apokalypse“¹¹⁷⁰ ein adäquates Bild des Messias hätte malen können.¹¹⁷¹ Hier liegt Herders Überzeugung zugrunde, in der Offenbarung die einzige geltende Anleitung für Dichtkunst vorliegen zu haben, da in ihr „gewiss noch die neuste u. ältste, u. gröste u. der Quell aller Dichtkunst schläft.“¹¹⁷² Klopstocks Wirkungsästhetik wenig Rechnung tragend und die rabbinische Kritik an Klopstocks Aufsatz Von der heiligen Poesie aufnehmend, kritisiert der Christ die moralische Komponente, die im Gedicht zu stark betont sei, die aber der Mode der Zeit entsprechen würde: Es mag immer wahr seyn, dass K.[lopstock] oft das Erhabene und Moralische auf Kosten des Episch rührenden treibt; aber das ist schon theils die Schwäche, theils die Mode unserer Zeit, oder beides zusammen. Wer kann davor, dass K.[lopstock] es für den lezten Endzweck der höhern Poesie hält, nicht ‚alle unsre sinnliche Kräfte zu bewegen‘, sondern ‚die Moralische Schönheit‘.¹¹⁷³
Herder vertritt nicht wie Klopstock die Überzeugung, dass moralische Schönheit durch einen höchsten Grad an Emotionalität zu erreichen sei. Klopstock verfolgt eine an die neologische Glückseligkeitslehre angelehnte Theorie, der gemäß diejenige Tugend, die es zur vollkommenen moralischen Schönheit benötigt, nur durch einen affektiven Glauben erreicht wird.¹¹⁷⁴ Herder verbindet Emotionalität mit dem ursprünglichen Eindruck; dahingegen ist die Moral seiner Meinung nach eine Verstandesleistung, die sich der Mensch erst im Verlaufe seiner Entwicklung angeeignet hat und die dementsprechend nicht als Komponente von höchster seelischer Bewegung betrachtet werden kann. In seinem Fazit, das unter dem Vorbehalt gezogen wird, dass die Messiade, da noch nicht vollendet, auf eine Verbesserung hoffen lasse, schließt sich der Rabbi dem Christen an, der meint: „Alles, alles ist bei K.[lopstock] in Theilen schön, sehr schön, nur im Ganzen nicht der rechte Epische Geist.“¹¹⁷⁵ Lavater erhoffte sich wohl von Herder Unterstützung in seinen Argumenten gegen Klopstock. Diese erhielt er auch, jedoch als Folie für Kritik an seinem
1170 Ebd., S. 297. 1171 Herder setzte den Apostel Johannes mit dem Apokalyptiker gleich, vgl. hierzu die Erläuterungen zu Herders Apokalypse-Paraphrase in Kapitel 5.4. und 5.5. 1172 Herder an Lavater, 18. Januar 1773. In: WA Bd. 2, S. 299. 1173 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 301. 1174 Vgl. Kap. 4.4. 1175 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 631), S. 302.
Bibelpoetologische Reflexionen im Briefwechsel zwischen Lavater und Herder
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biblischem Drama Abraham und Isaak,¹¹⁷⁶ das er Herder als Manuskript mit der Bitte, ihm kritisch alle Mängel anzuzeigen, zugeschickt hatte:¹¹⁷⁷ „Was sie letztens von Klopstock schrieben, war so wahr, so meist aus meinem Herzen, aber wenn Sie sich nun prüfen?“¹¹⁷⁸ Herder bemängelt an Lavater wie auch an Klopstock die Darstellung der biblischen Figuren, die aus einem gegenwärtigen Kontext heraus nicht mehr in ihrer ursprünglichen Natur beschrieben werden könnten. Die Stärke und Ausstrahlung, die von einem Abraham und seinesgleichen ausgegangen sei, könne nur im damaligen Gefühls-, Lebens- und Geisteshorizont in ihrer Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit nachempfunden und erfasst werden. Diesbezügliche Versuche aus der Gegenwart würden die großen Helden des Alten Testaments mit der matten, sich verwässernden Farben des kalten, philosophischen Zeitalters, in dem man sich befinde, bestreichen und ihnen ihre natürliche Erhabenheit nehmen.¹¹⁷⁹ Die Bibel solle weder als Epos noch als Drama nachgedichtet werden, so versucht Herder seine Meinung zur Bibeldichtung Lavater unmissverständlich näherzubringen. Die Bibel als Dialog zu gestalten hieße, sie auf seichtes Geschwätz zu reduzieren, nicht umsonst seien bei Klopstock einige Schwierigkeiten festzustellen, wenn er seinen Messias sprechen lassen müsse – „haben Sies in Klopstock bemerkt, wie verlegen er immer wird, wenn nun Jesus mitten im Lauf seiner Epopee sprechen soll, was in der Bibel steht?“¹¹⁸⁰ Darum, so Herders Fazit: „was verwirren wir also Regeln, missbrauchen Griechische Bretter u. Namen – und missbrauchen nur immer mehr die Bibel.“¹¹⁸¹ Herder versucht Lavater die Verfälschung der biblischen Zeugnisse zu erklären, die entstehe, wenn die Bibel in künstliche, nach erst im Verlaufe der Zeit entstandenen und somit die Ursprünglichkeit unterlaufenden poetologischen Normen und Regeln umgeformt werde. Für Herder gibt es keine literarische Gattung, in der biblische Texte adäquat nacherzählt werden können. Die Bibel in ihrer Erhabenheit mit der antiken Mythologie zu vergleichen und sie, wie die großen griechischen und römischen Dichter es getan hatten, als Epos wiederzugeben, scheint Herder stark verfehlt. Er verurteilte mit dieser Meinung nicht nur Klopstocks Messias, sondern die lange Tradition der christlichen Epik, als deren letzten großen Höhepunkt
1176 Johann Caspar Lavater: Abraham und Isaak Ein religiöses Drama von Johann Caspar Lavater. Winterthur 1776. 1177 „Mit der Feder in der Hand lies ihn, behandel‘ ihn wie Dein Manuscript. Zerstöre, verwirf, bau’ an, bau’ drüber und drunter – und wenn er das alles nicht werth ist, so schreib’ nur freimüthig drein: ‚Taugt nichts‘“ (Lavater an Herder, 21. April 1773. In: Düntzer [Anm. 1111], S. 56). 1178 Herder an Lavater, 7. Aug. 1773. In: WA Bd. 3, S. 38. 1179 Vgl. ebd. 1180 Ebd., S. 39. 1181 Ebd.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Klopstocks Epos stand – und konnte nicht verhindern, dass Lavater einige Jahre später versuchte, diese Tradition mit einem eigenen Epos fortzusetzen. Lavater verstand Herders Theorie zur Bibeldichtung nicht, und dem schon in einem vorangehenden Brief geäußerten Wunsch Herders für Lavaters Dichtung – „Am allermeisten aber, o könnt’ ich Sie in die wahre Sprache des Orients hinreißen“¹¹⁸² – konnte er nicht nachkommen. Vorerst aber, so ist es dem Antwortbrief zu entnehmen, schien Lavater Herders Kritik ernst zu nehmen und versprach, Abraham und Isaak zu überarbeiten. Allerdings waren Lavaters Äußerungen mehr von seinem pathetischen Überschwang gekennzeichnet als von einer produktiven Auseinandersetzung mit Herders Kritik. Lavater ging nicht auf die einzelnen Punkte ein, schrieb nur generelle Zustimmung – „Ich finde in allem, was Du sagst, so viel Wahres“¹¹⁸³ – und versprach, Herders Anregungen Ernst zu nehmen: „,Abraham‘ wartet auf einen stillen Winterabend – und, ich will nicht viel versprechen, ich werde Dein Ideal niemals erreichen – nicht einmal meines und – er soll dennoch besser, Abrahamischer werden.“¹¹⁸⁴ Lavater kündete hier bereits an, was später zur Entfremdung zwischen ihm und Herder führte: dass er zwar Herders Kriterien zur Bibelpoesie eine gewisse Bedeutung beimaß, dass er diese aber nicht in seiner eigenen biblischen Dichtung umsetzten konnte und wollte. Anders lässt sich nicht erklären, dass Lavater trotz der expliziten Meinung darüber, biblische Texte dürften nicht in eine literarische Gattung umgeformt werden, seine Apokalypse-Nachdichtung als Epos verfasste. Herder aber gab die Hoffnung nicht auf, Lavater von seiner eigenen Theorie überzeugen zu können, und brachte Lavater weiterhin hohe Wertschätzung entgegen, wie sich nicht nur an Herders innigem freundschaftlichen Ton erkennen lässt, sondern auch durch die Tatsache ersichtlich wird, dass er ihm als erstes seine Älteste Urkunde über die Geschichte des Menschengeschlechts zuschickte: Sie sind der erste Mensch in Europa, ders ausser meiner Frau und meinem Landesherrn und etwa dem Censor und Corrector liest! – Und sobald, liebster Lavater, Dus und Dein Pfenninger es liest, so verdopple die Eile, mit der ganzen Fülle der Seele an mich zu schreiben. Denn wisse, es ist Monument der Gottesoffenbarung, wovor ich – Autor, Leser, Finder, wir all verschwinden! Wo also, so fern Ost und Süd, an keine Empfindlichkeit zu denken. Ich nichts und – Gott alles! Das wirst Du mir, wenn Dus liest, glauben! Das weiss ich!¹¹⁸⁵
1182 Herder an Lavater, 30. Okt. 1772. In: WA Bd. 2, S. 253. 1183 Lavater an Herder, 4. Nov. 1773. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 65 f. 1184 Ebd., S. 66. 1185 Herder an Lavater, 15. Jan. 1774. In: WA Bd. 3, S. 67.
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In Herders sehr dezidiert geäußerten Feststellung, Lavater werde glauben, was Herder schreibe, mag die Hoffnung mitschwingen, Lavater verstehe seine poetologisch-theologische Ansichten, die er in der Ältesten Urkunde anhand der Genesis erläutert, und werde sich auf dem von Herder vorgeschlagenen Weg in der Bibeldichtung fortbewegen. Lavater bejubelte die Älteste Urkunde denn auch wirklich, nannte Herder einen „prophetische[n] Geist“¹¹⁸⁶, obschon er nicht alles verstehe. Er erhoffe sich Aufschluss in der Fortsetzung des Werks.¹¹⁸⁷ Auch Lavater schien die Hoffnung nicht zu verlieren, in Herder trotz der immer wieder zum Ausdruck gebrachten Differenzen in den Ansichten zur Bibelpoesie denjenigen Verbündeten zu haben, dem es gegeben war, der Bibel ihr Ansehen zurückzugeben, wie seine Erwartungen über Herders Arbeit am Johannes-Evangelium zeigen: „Johannes, Deinen Bruder, willst Du – aus den Händen der – Hunde – retten? Danke Dir Gott und das angebellte Evangelium – auch dessen Dich annehmen? Ich drücke Dich an mein Herz.“¹¹⁸⁸ Die Arbeit an der Apokalypse, mit der Herder 1774 beschäftigt war, fand nur am Rande Einlass in die Briefe an Lavater, was wohl wiederum durch die geahnte, aber noch nicht explizit zum Ausdruck gekommene und seitens Herders wie auch Lavaters abzuwenden versuchte Entzweiung, die sich unweigerlich ergeben musste, wenn beide an ihren divergierenden Ansichten zur Bibeldichtung festhalten würden, zu erklären ist. Als Herder im Mai 1775 die Apokalypse-Nachdichtung erwähnte, die zu dieser Zeit als jambisches Gedicht mit Kommentar vorlag, erhoffte er sich dennoch, seinen Freund damit erfreuen zu können.¹¹⁸⁹ Seine Befürchtung aber, Lavater könne nicht verstehen, zeigt sich in den Lektüre-Hinweisen, die Herder Lavater im nächsten Brief gab: Meine ‚Apocalypse‘ wird Dir Goethe schicken, oder geschickt haben. Siehe nicht Schale an, sondern Kern, und auch nur dessen Mittelpunkt fasse mit einigender Empfindung. Das ganze Buch ist ein Wort, Kommen Christi, A O, Anfang Ende. Worte, Zeiten, Bilder, Abschnitte, Silben müssens theilen: Herz und Seele, die außer der Zeit im Himmel schwebt, es wieder einen. Schreib’ mir, was Du in Pathmoshöhle sahest. Seitdem hab ich nichts gedacht, nichts geschrieben.¹¹⁹⁰
1186 Lavater an Herder, 6. Apr. 1774. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 91 1187 Vgl. ebd., S. 91–94. 1188 Lavater an Herder, 22. April 1774. In: ebd., S. 95. 1189 „Vielleicht schicke ich dir bald eine Arbeit im Manuscript, die Dich erfreuen soll“ (Herder an Lavater, Mai 1775. In: WA Bd. 3, S. 186). 1190 Herder an Lavater, Ende Sept. 1775. In: ebd., S. 213 f.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Als Lavater schließlich – wie von Herder angetönt durch Goethe überbracht – in den Besitz von Herders Manuskript Johannes Offenbarung kam, beschränkte sich sein Kommentar auf drei Sätze. Im ersten bezeichnete er das Werk als „erquicklich“¹¹⁹¹, im zweiten rügte er das Fehlen von erhellenden Paraphrasen¹¹⁹², und im dritten fügte er an, dass wesentliche Fundamentalgedanken wie der Zeitpunkt des Eintreffens des Jüngsten Tages nicht angesprochen seien.¹¹⁹³ Trotz dieser Mängel fragte er bei Herder nach, ob er das Manuskript drucken lassen solle, was Herder aber mit der Begründung, es müsse „umgeackert“¹¹⁹⁴ werden, ablehnte. Auf Lavaters Kritikpunkte eingehend, meinte Herder, er werde die Apokalypse zwar umarbeiten, könne daraus aber nichts anderes machen als einen poetischen Kommentar.¹¹⁹⁵ Auch bei den zeitlichen Angaben beharrte Herder auf seinen Ausführungen und verwies auf den jüdischen Geschichtsschreiber Josephus und auf Mt. 23,24: Die Gründe, dass sie unter Diocletian geschrieben, sind überwiegend; die andre Hypothese ist nur eine extorquirte Stelle, die ein Schulknabe besser versteht, wenn er nicht den Sinn hat, dem Johannes den Blick auf alle Zeiten zu rauben, wie’s die Leute ja offenbar nur im Sinne gehabt haben. Mit der Zerstörung Jerusalems soll alles aus sein und nicht wahr! Er hat sie nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben, von ihr alle Bilder genommen. Der Jünger musste bleiben, bis der Herr kommt, um in dieser Begebenheit die grössere Zukunft zu sehen. Joseph ‚vom judäischen Krieg‘ und Matth. 23, 24 sind klarester Commentar und Bildergruben der Offenbarung.¹¹⁹⁶
Dass Herders Apokalypse respektive Lavaters fehlendes Verständnis dafür zu einer ersten Distanzierung führte, wird augenfällig an der beinahe abgebrochenen Briefkorrespondenz. Im Mai des Jahres 1776 wunderte sich Herder über Lavaters Schweigen, er führte es auf seine aufwendige Arbeit an der Physiognomik zurück,¹¹⁹⁷ im Oktober desselben Jahres war Herder überzeugt davon, dass sich Lavater in seinen Briefen, die nur noch sehr kurz waren und über Alltägliches berichteten, nicht mehr mit derselben Herzlichkeit an ihn wandte: Du schreibst an mich entweder als Götzen, dummen übertriebenen Dank, u. nicht das, was ich am liebsten wissen möchte, oder referirst so peinlich u. drängst, als ob Du Referenda-
1191 Lavater an Herder, 8. Nov. 1775. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 149. 1192 Vgl. ebd. 1193 Vgl. ebd. 1194 Herder an Lavater, 30. Dez. 1775. In: WA Bd. 3, S. 241. 1195 Vgl. ebd. 1196 Ebd. 1197 Herder an Lavater, 11. Mai 1776. In: WA Bd. 3, S. 267.
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rius des Inquisitionsgerichts wärest: lass ruhen, bis Du wieder aus voller Seele schreiben kannst. Ich will gern warten.¹¹⁹⁸
Nach Lavaters Brief vom 8. März 1777 erfolgte eine zweijährige Korrespondenzpause, die von Herder in seinem Brief vom 3. Februar 1779 beendet wurde. Der Grund dafür war die Geburt der Prinzessin Luise Auguste Amalie (1779–1784), der Tochter von Herzog Karl August (1757–1828) und Herzogin Luise (1757–1830) von Sachsen-Weimar-Eisenach, die Herder Lavater im Auftrag von Goethe mitteilen sollte.¹¹⁹⁹ Erst als Lavater im Jahr 1779 dem Predigtzyklus folgend die Apokalypse erläutern sollte, wandte er sich wieder in einem ausführlicheren Brief an Herder. Lavater ärgerte sich über das von Lessing herausgegebene Reimarus-Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger¹²⁰⁰ und bat Herder um Erklärungen zur Apokalypse.¹²⁰¹ Im Antwortbrief besprach Herder Lessings Schrift als in vielen Teilen widersprüchlich, vor allem die Ansichten über Christi Wiederkunft sah Herder nicht der Apokalypse gemäß gedeutet.¹²⁰² Herder hatte zu dieser Zeit die endgültige Version seiner Apokalypse-Paraphrase beinahe vollendet,¹²⁰³ die darin gemachte neue Datierung und die daraus sich ergebende zweifache Prophezeiung hielt er auch im Brief an Lavater fest: „Aus dem Zusammenhange des Buchs ist unläugbar oder fast unläugbar, dass sein Verfasser, wenn er Johannes war, mit dem Untergang Judäas auch die Rückkunft Christi gehofft und erwartet.“¹²⁰⁴ Über den Zeitpunkt der Parusie könne er aber zu seiner eigenen Enttäuschung nichts sagen, allerdings hätte Jesus selbst die Ungewissheit der Stunde seiner Rückkehr erwähnt.¹²⁰⁵ Herder forderte Lavater auf, ihm seine diesbezüglichen Gedanken mitzuteilen.¹²⁰⁶ Dieser Aufforderung kam Lavater nach. Für ihn bezog sich die Apokalypse, wie er an Herder schrieb, in jeder ihrer Visionen auf zukünftige Bilder, die in einer teleskopischen Darstellung in die Nähe gerückt seien:
1198 Herder an Lavater, 13. Okt. 1776. In: WA Bd. 4, S. 20. 1199 Herder an Lavater, 3. Feb. 1779. In: WA Bd. 4, S. 80. 1200 Zu Lavaters Rezeption der von Lessing herausgegebenen Reimarus-Fragmente vgl. Kap. 3.2 und Kap. 6.1. 1201 Vgl. Lavater an Herder, 26. Juni 1779. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 182. 1202 Vgl. Herder an Lavater, Juli 1779. In: WA Bd. 4, S. 98. 1203 Herder beendete ‚Maran Atha‘ am 18. Aug. 1779, vgl. dazu Kap. 5.5. 1204 Herder an Lavater, Juli 1779. In: WA Bd. 4, S. 98. 1205 Vgl. ebd. 1206 Vgl. ebd.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
Das Telescop des Gesichtes bringt das Fernste nahe. Was einmal gross scheint, ist nahe. Ich setze alles in die letzten Jahre. Geburtswehen des grossen Tages und seine Geburt möchte’ ich das Buch nennen. – Der letzte Tag, Messiade, das Reich der Reiche, der kommende Vollender – der Seher Johannes!¹²⁰⁷
Mit der Ansicht, die Visionen des Johannes würden sich ausschließlich auf zukünftige Ereignisse beziehen, ging Lavater neue Wege in der Exegese der Apokalypse, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird.¹²⁰⁸ Ohne sich mit Herder über seine Nachdichtung der Johannes-Offenbarung besprochen zu haben, sandte Lavater ihm sein Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, das bald in Druck kommen sollte. Vorher wünschte sich Lavater aber noch, dass Herder ihm „sogleich alles anzeigtest, was dich schwach, matt, unwahr, unwürdig und dem Geiste des Buches widerwärtig dünkte.“¹²⁰⁹ Herders eigene Nachdichtung der Apokalypse, Maran Atha, kannte Lavater wohl noch nicht, es gibt keinen diesbezüglichen Kommentar in der Korrespondenz. Die Briefe, das Studium der Theologie betreffend, in denen Herder exegetische Hinweise zur Apokalypse gibt, las Lavater jedoch mit großem Interesse und rezensierte sie im nächsten Brief. Er empfinde die in den Briefen erläuterten Überlegungen zum Alten Testament in ihrer Auswahl und Gewichtung als disproportioniert, die Exegese der Evangelien sei jedoch gelungen,¹²¹⁰ er sehe dort seine eigene Ansicht ausgedrückt: „Glauben an den historischen Christus allein ist Glaube, alles andre ist Unglaube.“¹²¹¹ Der Teil, in dem Herder die JohannesOffenbarung erläuterte, erschien Lavater wenig einleuchtend: Nur halb, kaum halb und nicht sicher genug begreif’ ich, was Du über Johannes und Deine Apocalypse sagst. […] Alles in der ‚Apocalypse‘ ist so gezählt, gemessen, gewogen, rund, ganz und voll – so um und um scharf bestimmt, dass mir jede Generalisirung, Verduftung so unanwendbar auf so viele Particularitäten, die so absichtlich dastehen! So tief, so fest geheftet sind – schrecklich zuwider ist und mit dem Tone des Buches wie sehr, sehr zu antipathisiren scheint! Ich weiss, Du willst nicht Prophet sein, und nur der Prophet (und vielleicht auch der nicht) kann allenfalls sagen: ‚Dies Particulare deutet auf dieses, jenes Individuum!‘ Aber gibt’s denn kein Mittel zwischen beengendem Individualisiren und Deinem Universalisiren? Mir schwebt eins ganz deutlich vor – – Paraphrase des Bildes.¹²¹²
1207 Ebd. 1208 Vgl. Kap. 6.2. 1209 Lavater an Herder, 16. Feb. 1780. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 190. 1210 Vgl. ebd., S. 193 f. 1211 Ebd., S. 194. 1212 Ebd., S. 200.
Bibelpoetologische Reflexionen im Briefwechsel zwischen Lavater und Herder
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An dieser Stelle kommt die große exegetische Differenz zwischen Herder und Lavater zum Ausdruck. Herder ging in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend auf seine Arbeit an der Apokalypse-Nachdichtung und der darin enthaltenen Exegese ein. Er habe im Manuskript und in der Druckversion alles erläutert, was es zur Johannes-Offenbarung zu erklären gebe, sei dabei aber wiederholt falsch verstanden worden.¹²¹³ Er hätte immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um eine doppelte Prophezeiung handle und nicht lediglich um eine sich bereits erfüllte Vorhersage.¹²¹⁴ Wichtiger als die erste Erfüllung, die sich auf die Zerstörung Jerusalems beziehe, sei die zweite, noch ausstehende Prophezeiung, diese sei aber lediglich in ihrer Hauptbotschaft, der Parusie Christi, verständlich, ansonsten aber verschlüsselt: „Die zweite [Erfüllung] detailliren kann und mag ich nicht; denn ich bin kein Prophet.“¹²¹⁵ Für Lavater hingegen bezog sich jedes Gesicht der Johannes-Offenbarung auf ein zukünftiges Ereignis.¹²¹⁶ Jede Darstellung habe ihre eigene Botschaft, und zu deren Verständnis schlug er die „Paraphrase des Bildes“¹²¹⁷ vor. Paraphrasieren war für Lavater eine häufig angewendete exegetische Methode, um sich Klarheit über die Auslegung eines biblischen Textes zu verschaffen.¹²¹⁸ Herder gegenüber sprach Lavater von der Paraphrase als einem erklärenden Kommentar, der „hie und da ein Zwischenwort, ein Einlenken, Nachholen, Umschreiben“¹²¹⁹ in den Text der Vorlage bringe. Herder versuchte, Lavaters Art des Paraphrasierens zu verstehen, und versicherte ihm, dass er es durchaus gerechtfertigt finde, eine Paraphrase im Sinne einer Erklärung zu verfassen. Die Art des Paraphrasierens, die Herder verunglimpfte, bezog sich auf eine ständig fortlaufende Verwässerung des Inhalts. Es ging ihm um „Klares u. Dunkles in ein willkührliches neues tertium verwässernden u. auflösenden Paraphrasen, die das Ganze der Gestalt eines lebendigen Körpers in einen weichen Brei einer Gallerte paraphrasiren.“¹²²⁰ Zudem war Herder überzeugt, dass es eine Art von Unverständlichkeit gab, die keines Lichts bedürfe: „Dunkle Sachen, wo
1213 Vgl. Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 139 ff. 1214 Vgl. ebd., S. 139. 1215 Ebd. 1216 Zu Lavaters Exegese der Apokalypse vgl. Kap. 6.2. 1217 Lavater an Herder, 23. Okt. 1780. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 201. 1218 Johann Georg Müller schrieb über das Paraphrasieren in Lavaters Kreis: „Ich übte mich im Paraphrasieren der paulinischen Briefe, einer gefährlichen Art von Exegese, die damals bei den Zürichern sehr beliebt war. Da musste nun Paulus alles sagen, was ich dachte, und woran ihm schwerlich je der Sinn kam“ (Stokar [Anm. 318], S. 36). 1219 Lavater an Herder, 23. Okt. 1780. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 195. 1220 Herder an Lavater, 3. Nov. 1780. In: WA Bd. 4, S. 139.
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Herders Apokalypse-Nachdichtungen
die Dunkelheit nicht in den Worten liegt, paraphrasirt man nicht hell, sondern noch dunkler.“¹²²¹ Lavaters Kritik an Herders Briefe[n], das Studium der Theologie betreffend und das Unverständnis, mit dem er ihm begegnete, enttäuschten Herder, auch war er gekränkt vom Ton, in dem Lavater seine Kritik anbrachte. Unter diesen Umständen wage er sich nicht, Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn zu lesen. Herder wollte zuerst seine Enttäuschung sich legen lassen, um dann unvoreingenommen an die Lektüre zu gehen.¹²²² Abgesehen von der in einem Brief an Hamann gemachten Bemerkung, er habe Lavaters Messiade erhalten und auf Grund der schönen Kupfer seinem Sohn zu Weihnachten geschenkt,¹²²³ lassen sich aber keine Hinweise zur Rezeption finden. Lavater reagierte beleidigt auf Herders Brief, er forderte Herder in einer von Selbstüberschätzung gefärbten Äußerung auf zu bedenken, dass es sich bei seinem Unverständnis schwerlich um fehlende Geistesgabe, aber vielleicht doch eher um wirkliche, vom Verfasser unzureichend geklärte Unklarheiten handeln müsse, so dass er schließe, „dass die Schuld so gut auf Deiner als meiner Seite sein kann.“¹²²⁴ Zur Erklärung seines scharfen Tons in der Kritik Herders Briefe schrieb er: „Mir fehlte die Klarheit, die Einfalt, die Lichtreinheit – auf da, wo Du Licht geben wolltest. – So was kann mich verwunden – und ein Verwundeter ist empfindlich.“¹²²⁵ Obschon Lavater abschließend einmal mehr seine große Verehrung, Bewunderung und Liebe für den Freund kundtat, ließ sich im Ton des Briefes erkennen, dass eine nicht mehr zu überbrückende Entfremdung stattgefunden hatte, deren Ursache die unterschiedliche Exegese der Apokalypse und das sich nicht deckende Verständnis von Bibelpoesie war.¹²²⁶ An die einstige Erkenntnis, „immer hundert Schritte hinter Dir [Herder] zurück“¹²²⁷ zu sein und weder Herders noch sein eigenes Ideal – hier in Bezug auf den Abraham – jemals erreichen zu können,¹²²⁸ schien sich Lavater nicht mehr zu erinnern. Die bislang in den Briefen nur am Rande aufgeflammte oder absichtlich nicht wahrgenommene Gegensätzlichkeit wurde zu groß und führte zu der geistigen Entfremdung, der auch die erste und letzte persönliche Begegnung in Weimar bei Goethe im Jahr 1786 und der einige Jahre vorher stattgefundene Vermittlungsversuch Müllers
1221 Ebd., S. 139 f. 1222 Vgl. ebd., S. 140 f. 1223 Vgl. Herder an Hamann, 18. Dez. 1780. In: ebd., S. 150. 1224 Lavater an Herder, 6. Dez. 1780. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 207. 1225 Ebd., S. 208. 1226 Ebd. 1227 Lavater an Herder, 4. Nov. 1773. In: ebd., S. 66. 1228 Vgl. ebd.
Bibelpoetologische Reflexionen im Briefwechsel zwischen Lavater und Herder
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nicht abhelfen konnten.¹²²⁹ Was Müller über das Ende der Freundschaft zwischen Lavater und Herder an Herder schrieb, ist durch eben gemachte Erläuterungen offensichtlich: Die Ursache Ihrer Trennung such ich bloss darin, dass ehemals Lavater Sie ganz abgöttisch, fast möchte ich sagen anbetete, und zwar wegen Sachen, die Ihnen seine feurige Phantasie andichtete und die eigentlich gar nicht Ihre Individualität ausmachen. Jeder Aberglaube muss ich mit Unglauben enden, und diese Revolution verursachte 1779 Ihre Apokalypse, wo er sich kindisch betragen hat.¹²³⁰
1229 Vgl. hierzu ausführlich: Eduard Haug: Aus dem Lavater’schen Kreise. Joh. Georg Müller als Student in Göttingen und als Vermittler zwischen den Zürchern und Herder. 2 Bde. Schaffhausen 1896/97 sowie Daniela Kohler: Zürich – Göttingen – Weimar: Der Lavaterschüler und Göttingen-Student Johann Georg Müller als Vermittler zwischen Lavater und Herder. In: Europa in der Schweiz. Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert. Hg. von Heidi Eisenhut, Anett Lütteken und Carsten Zelle. Göttingen 2013. 1230 Müller an Herder, 13. Sept. 1793. In: Haug (Anm. 1229), Bd. 2, S. 120.
6 Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder Im Jahr 1780 verfasste Lavater ein Epos mit dem Titel Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, in dem er die Johannes-Offenbarung nacherzählt. Nur drei Jahre später wagte er sich an ein weiteres Epos, ebenfalls eine Messias-Dichtung, die nun aber die Evangelien und die Apostelgeschichte zum Inhalt hatte. Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen erschien in vier Bänden zwischen 1783 und 1786. Das Epos als Gattung für biblische Dichtung wurde seit der Mitte der 1750er Jahre vielfach und in Lavaters nächstem Umfeld ausprobiert, wie Johann Jakob Bodmers Arbeit an der Noachide zeigt. Angeregt durch John Miltons Paradise Lost, das Bodmer übersetzte und 1732 in einer ersten, 1742, 1759 und 1769 in weiteren, überarbeiteten Fassungen veröffentlichte,¹²³¹ und auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für ein erhabenes deutsches Nationalepos, das in die Reihe der fremdsprachigen Nationalepen eingereiht werden konnte, setzte sich Bodmer mit der Figur und der Geschichte des alttestamentlichen Noahs auseinander. Dass sowohl seine Milton-Übersetzungen wie auch seine eigenen Epen vor allem auch zu Waffen im Kampf gegen Gottscheds Poetologie wurden,¹²³² ändert nichts an den besonderen wirkungsästhetischen Vorzügen, die Bodmer einer biblischen Vorlage zur epischen Ausgestaltung einräumte. Bodmer ging davon aus, dass die Erhabenheit der alttestamentlichen Helden und ihre Eigenheit, Vorfahren nicht nur eines bestimmten Geschlechts, sondern der ganzen Menschheit zu sein, sie zur idealen Hauptfigur eines epischen Gedichts machten.¹²³³ Die besondere Tugendhaftigkeit und Gottesfrömmigkeit, die Noah zum göttlichen Auserwählten für den zweiten Bund machten, eigneten sich in Bodmers Augen hervorragend für die Hauptfigur seines Gedichts, zudem hatte er in der Begebenheit der Sintflut dasjenige übernatürlichee Element gefunden, das seiner Poetologie des Wunderbaren gerecht wurde.¹²³⁴ Klopstock hat sich zwar in seinem Epos keinen alttestamentlichen Helden ausgewählt, war aber in seinen poetologischen Überlegungen maßgeblich von Bodmer beeinflusst. Klopstock legte seinem Epos dieselben Kriterien in der Wahl des Stoffes zugrunde und entwickelte auf deren Basis seine eigene Wirkungsästhetik, die sich stärker
1231 Zu den verschiedenen Fassungen von Bodmers Milton-Übersetzung vgl. Daniela Kohler: Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzungen zu Klopstock und einer neuen Ästhetik. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr2008. Zürich 2007, S. 441–461, hier S. 446–451. 1232 Vgl. Reiling (Anm. 469), S. 133. 1233 Vgl. Mahlmann-Bauer: Bodmers Noachide (Anm. 471), S. 234. 1234 Vgl. ebd., S. 235 sowie Reiling (Anm. 469), S. 135.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
noch als Bodmers Poetik auf die affektive Wirkung konzentrierte. Mit seiner am Zürcher Umfeld wie auch an Klopstock orientierten Gattungswahl hatte Lavater die formale Frage, die ihn bei früheren Werken beschäftigte und die er nicht immer erfolgreich lösen konnte, überwunden. Bereits in seinen Aussichten in die Ewigkeit hatte Lavater nach einer dichterischen Ausdrucksform gesucht, um das zukünftige Heil darzustellen. Die gekonnte stilistische Ausgestaltung ist ihm nicht gelungen, der ursprüngliche Plan, ein Gedicht zu verfassen, hat er nie ausgeführt, stattdessen ist sein Werk in der nur als Entwurf vorgesehenen Briefform geblieben – was ihn notabene zu einem Vorläufer der Gattung des Briefromans machte.¹²³⁵ Andere literarische Formen wie die des Dramas hat Lavater mit Abraham und Isaak (1776) ausprobiert und sich dabei wiederum in eine Reihe mit Bodmer und Klopstock gestellt, die mit dem Tod Adams (Klopstock, 1757) und Tod des ersten Menschen (Bodmer, 1763) ebenfalls religiöse Dramen verfasst haben. Mit Bodmer und Klopstock sind also die formalen Leitlinien gegeben, an die sich Lavater bei seiner Epen-Dichtung anlehnte. Dass er dabei weniger auf Bodmer als auf Klopstock zurückgriff, ist auf inhaltliche Gründe zurückzuführen und mit dem doch beträchtlichen zeitlichen Abstand, der in Bodmers und Lavaters Schaffen lag, zu erklären. Lavater hatte zwar die Werke Bodmers gekannt und auch geschätzt, beschäftigte sich aber in seinen Messiaden mit einem neutestamentlichen Inhalt, den er nicht mit den alttestamentlichen Epen Bodmers verglich. Auch legte er seiner Dichtung eine andere poetologische Theorie zugrunde, die sich stärker auf den Inhalt als auf die literarische Form fokussierte. Die hexametrische Form diente Lavater als Gefäß, um einen besonderen Inhalt auszudrücken. Dass sich dieser im ersten Epos auf die Apokalypse bezog, hing mit Herders Nachdichtung zusammen. Wie im Briefwechsel ersichtlich wurde, fand Lavater in Herders Ansichten zur Bibeldichtung und zur Exegese der Apokalypse nicht die relevanten Aspekte ausgedrückt, die es seiner Meinung nach benötigte, um der Johannes-Offenbarung gerecht zu werden. In seinem Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn wollte Lavater eine Nacherzählung der Apokalypse vorlegen, die im Sinne seiner Absicht stand. Wie zu zeigen sein wird, diente Lavater die poetische Einkleidung der besseren Verständlichkeit und der Erbauung. Gleichzeitig erhoffte er sich, dass die Bibel auf dem Weg der dichterischen Umformung wieder Einlass fand in das losgelöst von biblischen Zeugnissen praktizierte Christentum seiner Zeit. Lavaters Auseinandersetzung mit wichtigen theologischen Schriften, die in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre erschienen, ist der Ausgangspunkt für
1235 Wie innovativ Lavater war, wenn es darum ging, mit neuen literarischen Formen an die Öffentlichkeit zu treten, zeigen auch seine zwei fiktiven Tagebücher, mit denen er großes Aufsehen erregte.
Lavaters Messias-Epen als Reaktion auf die theologischen Strömungen seiner Zeit
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seine Motivation, der Bibel in dichterischem Gewand die in seinen Augen unabdingbare, aber verlorengegangene Relevanz für das Christentum zurückzugeben. Eine zeitgleich mit seiner Arbeit an Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn stattfindende Gebetsreihe zur Apokalypse, in der er das letzte Buch des Neuen Testaments in kurzen Predigten auslegte, zeigen Lavaters und Herders exegetische Differenzen und bilden die Grundlage, auf der Lavaters erstes Epos interpretiert werden soll. Bei Lavaters zweitem Epos, dem vierbändigen Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, steht der Vergleich mit Klopstock im Vordergrund. Klopstocks freier Umgang mit der biblischen Vorlage forderte Lavater zu einer eigenen Nachdichtung heraus, bei der es ihm um die Verschmelzung der vier Evangelien und die genaue Nacherzählung der Apostelgeschichte ging, wie eine Interpretation von einigen ausgewählten Textstellen illustrieren wird.
6.1 Lavaters Messias-Epen als Reaktion auf die theologischen Strömungen seiner Zeit Die von Lavater mit viel Besorgnis zur Kenntnis genommene Entwicklung der aufgeklärten religiösen Strömungen, in denen die biblischen Zeugnisse lediglich als historische Zeugnisse und Jesus als tugendhafter Morallehrer betrachtet wurden, war ein wichtiger Motivationsgrund für seine Messiaden, erreichte sie doch in Lavaters Augen zu Ende der 1770er Jahre, als er Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn verfasste, einen bedenklichen Höhepunkt. Lavater sah die Grundpfeiler des Christentums in gefährlicher Weise untergraben, wie aus seiner Synodalrede hervorgeht. Die am 4. Mai an der Zürcher Synode¹²³⁶ gehaltene Rede, die Lavater an seine Amtskollegen richtete, ist einerseits eine durch sorgfältige Beobachtung gemachte Analyse der in seinem Umfeld herrschenden, von Schriften angesehener zeitgenössischer Theologen geprägten Zustände der christlichen Religion, andererseits eine Apologie des Neuen Testaments, dessen Wert Lavater in Gefahr sah und das in neuem Gewand darzustellen seine Epen bemüht waren. Wie ernsthaft Lavater um den Inhalt der christlichen Religion besorgt war, zeigt sich schon alleine durch sein Wortergreifen an der Synode, zu dem zwar dem Ablauf entsprechend nach den obligatorischen Traktanden als Frage nach in theologischen Belangen Auffälligem oder Bemerkenswertem regelmäßig aufgefordert wurde, von dem aber normalerweise niemand Gebrauch machte.¹²³⁷ Es sei der bedenk-
1236 Zu der Institution der Synode vgl. Sauer (Anm. 15), S. 45–49. 1237 Vgl. ebd., S. 46 f.
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liche Zustand seiner „theuren vaterländischen Kirche“¹²³⁸, der Lavater dazu veranlasse, das übliche Stillschweigen zu brechen, so seine einleitenden Worte. Diesen folgt die allgemeine Beurteilung, dass man sich in einer „in Ansehung des Christenthums höchst bedenklichen Zeit“¹²³⁹ befinde, in der die christliche Religion zusehends in den Hintergrund gerate und insbesondere die für das Christentum konstitutiven neutestamentlichen Zeugnisse an Wert und Anerkennung verloren hätten. In der Abwertung der Evangelien sieht Lavater die Hauptgefahr in allen von ihm beobachteten theologischen Richtungen, wie aus seiner danach folgenden Erläuterung hervorgeht. Lavater analysiert die Werke derjenigen Theologen, die zu Ende der 1770er Jahre mit einschlägigen Schriften an die Öffentlichkeit gelangt sind, im Hinblick auf ihre dem Christentum schädlichen Aspekte. Er erfahre es in seinem nächsten Umfeld, so Lavater auf seine Arbeit als Seelsorger rekurrierend, dass Erbauung und Bestärkung nicht mehr in der Bibel gesucht würden, woraus sich „die Gefahr eines immer allgemeiner werdenden Unglaubens an das allein beruhigende Evangelium unsers Herrn“¹²⁴⁰ ergebe. Daraus folge, dass auch nicht mehr an die im Neuen Testament bezeugte Funktion Jesu Christi als göttlicher Gesandter zur Rettung der Menschen geglaubt werde. Im Fortgang der Rede wird deutlich, gegen wen sich Lavaters Kritik richtete. Lavater spricht von zwei theologischen Richtungen, die für den christologischen Unglauben verantwortlich seien, und obschon er diese unter dem Begriff ‚Deismus‘ subsumiert, wird anhand der namentlichen Erwähnung von Teller, Steinbart und Semler deutlich, dass er unter der zweiten, die er im Gegensatz zur ersten, „roh und gewaltthätig“¹²⁴¹ genannten Richtung als „fein und höflich“¹²⁴² charakterisiert, die Neologie versteht. Das Werk, das er mit dem ‚rohen und gewalttätigen Deismus‘ verbindet, sind die seit 1773 von Lessing veröffentlichten Fragmente eines Ungenannten, deren letztes, das 1778 publizierte Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger Lavaters besondere Besorgnis erregte und zu einem der Gründe gehörte, wieso Lavater sich gezwungen sah, an der Zürcher Synode das Wort zu ergreifen. In den Jahren 1773 bis 1778 veröffentlichte Lessing in seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der herzöglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, die er als Bibliothekar in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel herausgab, sieben Fragmente aus Hermann Samuel Reimarus’ (1694–1768)
1238 Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. von Ernst Staehelin. Bd. 3. Zürich 1943, S. 3. 1239 Ebd., S. 4. 1240 Ebd., S. 5. 1241 Ebd., S. 6. 1242 Ebd.
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Schrift Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, die dieser in den Jahren 1735 und 1767/68 verfasst hatte, ohne sie aber zu seinen Lebenszeiten zu veröffentlichen. Reimarus argumentiert in seiner Schrift gegen die Göttlichkeit Jesu, stellt aber nicht dessen historische Existenz in Frage, sondern seine Verherrlichung als Messias. Die Verdienste Jesu seien vor allem moralischer Natur, er habe versucht, eine auf ethische Werte fokussierte natürliche Religion zu verbreiten: „Es sind keine hohe Geheimnisse oder Glaubens-Punkte, die er erkläret, beweiset, und prediget; es sind lauter moralische Lehren und Lebens-Pflichten, die den Menschen innerlich und von ganzem Herzen bessern sollen.“¹²⁴³ Die Jünger und Evangelisten hätten in Jesus einen „weltlichen Erlöser des Volkes Israel“¹²⁴⁴ gesehen, der die in ihn gesetzte Hoffnung auf Erlösung nicht erfüllen konnte und darum nach seinem Tod zu „einem geistlichen leidenden Erlöser des ganzen menschlichen Geschlechts“¹²⁴⁵ hochstilisiert worden sei. Die Auferstehung ist von den Jüngern und Aposteln erfunden worden, so Reimarus’ die soteriologischen und eschatologischen Versprechen der christlichen Religion radikal in Frage stellende Theorie: Es ist bisher gezeiget worden, dass das Neue veränderte Systema der Apostel von einem geistlichen leidenden Erlöser, der vom Tode auferstehen sollte, und nach seiner Himmelfahrt bald mit grosser Kraft und Herrlichkeit vom Himmel wiederkommen werde, in seinem ersten Hauptgrunde, nemlich der Auferstehung von den Toten, erdichtet und falsch sei: 1) weil das vorgegebene auswärtige Zeugnis der Römischen Wache, bei dem Matthäo, in sich höchst ungereimt ist, und von keinem der übrigen Evangelisten und Apostel jemals erwähnt, sondern ihm durch vielerlei Umstände widersprochen wird, so dass es vielmehr ganz möglich und höchst wahrscheinlich bleibt, was eine gemeine Rede bei den Juden worden war, dass nemlich die Jünger Jesu des Nachts gekommen und den Leichnam gestohlen, und darnach gesagt, er sei auferstanden.¹²⁴⁶
Es ist nicht erstaunlich, dass Lavater in den Reimarus-Fragmenten eine kaum zu übertreffende Bedrohung für das Christentum sah und insbesondere dem letzten, von Lessing unter dem Titel Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger veröffentlichten Fragment eine „an Bosheit und Zweklosigkeit, an List und taschenspielerscher Raisonnirkunst“¹²⁴⁷ nicht zu übertreffende Absicht unterschob. Lavater erläutert
1243 Gotthold Ephraim Lessing: Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger. In: Werke und Briefe in 12 Bde. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt/M. 1993, S. 230. 1244 Ebd., S. 272. 1245 Ebd. 1246 Ebd., S. 298. 1247 Staehelin (Anm. 1238), S. 9.
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bildhaft, wie sich die Schrift durch alle Gesellschaften unabhängig von Stand, Alter und Geschlecht, vom Buchbinder, der sie während des Bindens lese, über die Dienstboten, die sie zwischen den Häusern hin und her bringen würden, über die Hausherren, Nachbarn bis hin zum weiblichen Geschlecht, verbreite und großen Schaden anrichte. Dabei betont er immer wieder, dass er seine Amtsbrüder nicht mit paranoiden Erfindungen belästigen wolle, sondern lediglich die tatsächliche Lage, wie er sie in seiner Gemeinde beobachte, schildere.¹²⁴⁸ In seiner Rede mahnt er seine Berufskollegen, die durch Lessings Schrift verursachte „Flamme des Unglaubens“¹²⁴⁹ zu löschen oder wenigsten abzuschwächen, indem sie in ihrer Arbeit als Pfarrer nicht müde darin werden sollen, auf die göttliche Wahrheit der Bibel hinzuweisen. Die Deisten würden die biblischen Zeugnisse demontieren, indem sie einzelne Ereignisse und Figuren ohne den Gesamtzusammenhang der biblischen Offenbarung kommentieren. Lavaters Überzeugung nach muss die Bibel in ihrer sich durch göttliche Botschaften konstituierenden Ganzheit betrachtet werden, ihre Einzelglieder lassen sich dadurch verbinden und verstehen, dass sie als Teile eines Ganzen gesehen werden. Es müsse darum, so Lavaters Appell an seine Berufskollegen, das Anliegen jedes Theologen sein, sowohl in der Praxis wie auch in den gelehrten Abhandlungen nicht einzelne Begebenheiten zu kommentieren, sondern die evangelischen Zeugnisse in ihrer Gesamtaussage als Grundpfeiler des Christentums zu betonen: Werden wir nicht viel mehr ausrichten, wenn wir statt jede einzelne Einwendung mühsam und ängstlich zu beantworten, erst das ganze historisch lehrende, historisch moralische Gebäude des Christenthums, obgleich vor den Augen des wankenden Glaubens oder der Zweifelsucht oder des Unglaubens, dennoch so aufführen und darstellen, wie die biblischen Verfasser, als ob kein Deist und kein Zweifler in der Welt wäre? Darstellung des Ganzen, des historischen Ganzen, Darstellung der ununterbrochnen, schlechterdings nicht wegzuraisonnierenden Geschichte, wie es auch immer mit diesem oder jenem einzelnen Umstande beschaffen seyn mag, Darstellung der in einander greifenden Dinge, der grossen, durch Jahrhunderte fortgehenden Kette, wird die nichts wirken?¹²⁵⁰
Indem Lavater den geschichtlichen Hintergrund betont, vor dem die christliche Religion gelesen werden muss, belegte er die Wahrheit und Bedeutung der Bibel mit den Argumenten der historisch-kritischen Bibelexegese. Lavater sieht aber in der Bibel nicht lediglich faktische Belege über längst vergangene Ereignisse. Die Kirchengeschichte, deren Anfang in den neutestamentlichen Zeugnissen
1248 Vgl. ebd. 1249 Ebd., S. 10. 1250 Ebd., S. 11.
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dokumentiert sei, müsse in ihrem Fortgang bis hin zum Ende der Welt betrachtet werden. Die Bibel sei nicht lediglich Historie – hier setzt Lavater seine Kritik der nur historischen Exegese an –, sondern von Gott offenbarte Lehre und Weisheit, nach denen der Mensch verlange, da in ihm als von Gott geschaffenes Wesen das Bedürfnis zur Entwicklung und Vervollkommnung eingepflanzt sei. In den in alten Zeiten verkündeten, in der Bibel festgehaltenen Zeugnissen sind Lavaters Meinung nach nicht nur die historischen Eckdaten des Christentums festgehalten, sondern die für alle nachfolgenden Jahrhunderte geltenden göttlichen Wahrheiten. Nach diesen verlange der Mensch, sie würden Grundbedürfnisse decken, die das menschliche Sein ausmachen und bestimmen, so Lavaters anthropologische Begründung der Notwendigkeit von biblischer Offenbarung. Zu diesen durch die göttlichen Offenbarungen befriedigten menschlichen Grundbedürfnissen gehören auch die moralischen Wahrheiten des Christentums, so Lavaters Erläuterungen, womit er den Kern der deistischen und neologischen Theologie in seine eigene Überzeugung aufnimmt. Das mit der menschlichen Glückseligkeit gleichgesetzte Streben nach einem tugendhaften, moralischen Leben dürfe aber nicht lediglich als allgemeine religiöse Wahrheit gelehrt werden. Nur der Glaube an die in der Bibel festgehaltenen Offenbarungen ermögliche die immergültige christliche Sinnstiftung, die darin bestehe, Christus als Versprechen auf eine jenseitige, mit seiner Parusie eingeleitete Glückseligkeit zu erkennen. Rationale moralische Wahrheit muss also mit übersinnlicher Verheißung und Offenbarung synthetisiert werden, so wehrt sich Lavater gegen die Nichtbeachtung der Bibel, denn lediglich die von begrenztem menschlichen Verstand verfassten Schriften würden es nicht vermögen, den Bedürfnissen des Menschen gerecht zu werden.¹²⁵¹ Lavaters Erwiderung auf den durch Lessings Reimarus-Fragmente verkörperten ‚rohen und gewalttätigen‘ Deismus spricht also das Wesen des Menschen an, das sich Lavaters Meinung nach durch das Bedürfnis nach Transzendenz auszeichnet und in den göttlichen Offenbarungen sowohl Anweisung wie Bestärkung für ein gottgefälliges, glückseliges Leben im Diesseits und Hoffnung auf eine ewige Weiterexistenz im Jenseits findet. Diese Ansicht basiert auf Lavaters anthropologischer Überzeugung, der gemäß der Mensch sich lediglich dem Grad der Entwicklung, nicht aber dem Wesen nach von Jesus Christus unterscheidet,¹²⁵² so dass er in seiner Veranlagung zum Vollkommenheitsstreben sowohl natürliche wie göttliche Einflüsse braucht. Diese Tatsache müsse den Deisten und den durch ihre Schriften verblendeten Christen nahegebracht werden, damit ihnen der Wert
1251 Vgl. ebd., S. 12 f. 1252 Vgl. dazu Kap. 2.2.
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des Neuen Testaments wiederentdeckt würde, so Lavaters Appell, mit dem er den ersten Teil seiner Rede abschließt. Den zweiten Teil widmet Lavater dem ‚feineren‘ Deismus, dem er eine viel größere Gefahr beimisst als dem zuvor erläuterten ‚rohen‘, da er zwar vordergründig auf die Evangelien und Jesus Christus baue, diese aber in einem falschen Licht darstelle. Bei den Werken, die diese von Lavater als „schmeichelnde Schlange, gleißend mit manichfaltigen Farben des Christenthums“¹²⁵³ geschmückte Art des Deismus illustrieren würden, handle es sich um Schriften einiger „neuern (Berlinischen, Frankfurtischen, Hallischen) Gottesgelehrten, die man uns als Orakel, als das Non-plus-ultra menschlicher Weisheit, Redlichkeit, Frömmigkeit aufdringen will.“¹²⁵⁴ Wie aus späteren Erwähnungen hervorgeht, spricht Lavater Tellers Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre (1772), Steinbarts System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums (1778)¹²⁵⁵ und Semlers Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten, insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779)¹²⁵⁶ an.¹²⁵⁷ Die Gefahr, die Lavater in der theologischen Ausrichtung der eben genannten Neologen zu erkennen glaubt, bezieht sich vor allem auf die Betrachtungsweise von Jesus Christus. Hat Lavater im Hinblick auf den ‚rohen‘ Deismus noch die historischkritische Bibelexegese ins Feld geführt, um mit ihr den geschichtlichen Wahrheitsgehalt und damit die Bedeutung der Bibel als Grundlage für das Christentum zu beweisen, rügt er an den Vertretern ebendieser Art der Auslegung, dass sie in ihrer Deutung der Rolle und Funktion Jesu Christi nicht gerecht würden. In den Abhandlungen Tellers, Steinbarts und Semlers seien Leben und Wirken Christi lediglich im historischen Kontext erwähnt, so dass er zu einem „localen Christus, zu einem Christus der damahligen Zeit, dessen ganzes Verdienst es sey, Judenthum und Heidenthum aufzuheben“¹²⁵⁸, degradiert werde. Die durch die
1253 Staehelin (Anm. 1238), S. 15. 1254 Ebd. 1255 Lavater rezensierte Steinbarts Abhandlung einen Monat zuvor im ‚Christlichen Magazin‘, er lobte Steinbarts allgemeine moralische Anleitungen für ein glückseliges Leben, kritisierte aber, dass keinerlei christologischen Aspekte eine Rolle spielten und der Bezug zu den Evangelien fehlte, was Lavater zum Schluss kommen ließ, dass Steinbart in seiner Glückseligkeitslehre einen – zwar christlich gefärbten, aber dennoch vorhandenen – ‚feinen‘ Deismus vertritt (vgl. Dellsperger [Anm. 347], S. 95). 1256 Zu Semlers Widerlegung der Reimarus-Fragmente vgl. Dirk Fleischer: Lebendige Geschichte. Hermann Samuel Reimarus und Johann Salomo Semler auf der Suche nach der biblischen Wahrheit. In: Beutel, Aufgeklärtes Christentum, 2010, S. 75–92. 1257 Vgl. Staehelin (Anm. 1238), S. 18. 1258 Ebd., S. 15.
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evangelischen Zeugnisse belegte Parusie und Soteriologie würden völlig ausgeblendet, wodurch das Christentum seiner Kernbotschaft, die nicht nur aus Leben und Leid, sondern vor allem aus der Auferstehung Christi und der Verheißung auf die Wiederkunft und die endgültige Erlösung beim Jüngsten Gericht bestehe, beraubt würde. Auf die vielen biblischen Zeugnisse aber, die von der Erhabenheit, Macht und Göttlichkeit Jesu sprechen, hätten die Neologen keine passenden Antworten parat, sie würden in den neologischen Schriften entweder umgangen oder in ungenügender oder unnatürlicher Weise erklärt: Winden und drehen sie [die Schriften Tellers, Steinbarts und Semlers] sich nicht auf die künstlichste Weise, wenn sie zu den unzähligen Schriftstellen kommen, wo mit der unwiderstehlichsten Deutlichkeit von der göttlichen Hoheit, von der Herrschaft, von der königlichen Würde Jesu, von seiner persönlichen Macht und Herrlichkeit, von seinem himmlischen und ewigen Reich, von seiner Wiederkunft zum Gerichte, von seinem Einflusse auf die Angelegenheiten und Schiksale der Menschen, von den Folgen und Wirkungen, dem Endzweke und dem Verdienste seines Todes die Rede ist?¹²⁵⁹
Lavater unterscheidet zwischen Glaubens- und Tatsachenwahrheiten. Dass Jesus der Urheber des Christentums sei, der die Juden und Heiden zur wahren Gotteserkenntnis geführt habe, dass seine Gottes- und Sittenlehre alle anderen übertreffe, er mit besonderen Talenten ausgerüstet gewesen sei und in besonderem göttlichen Schutz gestanden habe, seien nicht Fragen des Glaubens, sondern unter anderem mit der historisch-kritischen Bibelexegese gestützte Tatsachenwahrheiten, die nicht einmal die Deisten bezweifeln würden. Einen solchen Christus darzustellen und aus seinem Leben und Wirken eine dogmatische Tugendlehre abzuleiten, sei weder ein moralischer noch ein logischer Verdienst und habe nichts mit Glauben zu tun, so Lavaters Ansicht. Die christliche Lehre hänge unmittelbar mit der positiven Offenbarung zusammen, die über die Vermittlung Jesu Christi verstanden werden könne. Der Dreh- und Angelpunkt des Christentums sei Jesus Christus. Um dies zu untermauern, liefert er eine ausführliche Aufzählung aller Eigenschaften, die Christus zum Träger der christlichen Religion machen. Mit Verweisen auf die biblischen Prädikationen, die Jesu Allmacht und Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur erwähnen, und unter Betonung der durch ihn offenbarten Verheißung auf endgültige Gerechtigkeit und Unsterblichkeit bezeichnet Lavater die der Soteriologie keine Beachtung schenkenden Theologen als „Verfälscher und Verdreher des Christenthums.“¹²⁶⁰ Auch an dieser Stelle seiner Rede kommt Lavater nochmals auf die menschlichen Grundbedürfnisse
1259 Ebd., S. 16. 1260 Ebd., S. 18.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
zurück, zu deren Deckung die Lehre vom Heil in Christus, von seiner Wiederkehr zum Gericht und von seiner Verheißung der endgültigen Gerechtigkeit und der jenseitigen Weiterexistenz von unbedingter Notwendigkeit sei.¹²⁶¹ In polemischer Zuspitzung auf den Punkt gebracht bedeutet dies für Lavater: Ein Christenthum, dessen Mittelpunkt nicht Christus ist, das Christo seine Herrschaft, seinen Einfluss auf die menschlichen Angelegenheiten und Schiksahle seine Verbindung mit den gestorbnen, lebenden und künftigen Menschengeschlecht raubt, das zwischen dem Christus im Grabe oder im Himmel und der Christenheit auf Erden eine unübersteigliche Kluft befestiget, die alle Anbethung seiner Person zur Thorheit und alles Zutrauen zu ihm selbst zur Schwärmerey macht, ein solches Christenthum, so fein es immer ausgesponnen sey, ist ein Antichristenthum.¹²⁶²
Etwas gemäßigter wird Lavater, wenn er betont, dass er durchaus die guten Absichten in der Arbeit Tellers, Steinbarts und Semlers anerkenne, gehe es ihnen doch in ihrer Exegese darum, die durch die aufgeklärte Ratio in Bedrängnis geratene christliche Religion zu retten, indem sie ebenfalls auf der Vernunft basierende Argumente verwenden würden, was sich mit der historischen Einordnung der biblischen Zeugnisse sehr gut bewerkstelligen lasse. Allerdings dürfe daraus nicht gefolgert werden, dass die Bibel lediglich für die frühen Zeiten, in denen sie geschrieben wurde, von Bedeutung sei. Lavaters Meinung nach führen die Auslegungen der Neologen zu einem ‚doppelten‘ Evangelium, einem historischen und einem moralischen. Ersteres schrieben die Apostel, um die göttlichen Offenbarungen festzuhalten und zu verbreiten. Letzteres entstand aus den zeitgenössischen theologischen Lehren, die sich nur noch für die aus der Bibel abgeleiteten und nicht auf sie aufbauenden Morallehren interessierten. Für Lavater ist das apostolische Evangelium ein unvergängliches Zeugnis des Christentums, das vom Beginn seines Bestehens bis in alle Zeiten ultimative Gültigkeit besitzt.¹²⁶³ Zum Schluss seiner Rede gibt sich Lavater als Kämpfer für das Christentum, der sich zum Glück unter anderen Mitstreitern wisse, zu erkennen; er würde alles dafür tun, dem Ansehen Christi wieder die nötige Erhabenheit und Würde zu geben, und er wisse, dass er auf Mitbrüder mit der selben Ansicht zählen könne. Von Hoffnung getragen sind seine Hinweise, dass die schlimmsten zu befürchtenden Zustände für das Christentum noch nicht eingetroffen seien:
1261 Vgl. ebd. 1262 Ebd., S. 19. 1263 Vgl. ebd., S. 24.
Lavaters Auseinandersetzung mit der biblischen Vorlage
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Gott Lob, an dem ist’s noch nicht, und es sind noch manche sehr entschlossne Christusverehrer unter uns, die ihre Seele daran sezen und freudig ihr Blut darüber versprizen mögten, ehe sie gestatteten, dass Christus von neuem unter uns gekreuzigt würde!¹²⁶⁴
Lavater verweist in seiner Rede auf drei Punkte, die seiner Meinung nach die Hauptproblematik der zeitgenössischen theologischen Richtungen, unter denen er den Deismus und die Neologie versteht, ausmachen: die grundsätzliche Vernachlässigung des Neuen Testaments, die Loslösung Jesu Christi von soteriologischen und eschatologischen Aspekten und die Trennung zwischen den historischen Zeugnissen der Bibel und den aus ihnen abgeleiteten moralischen Lehren. Lavater anerkennt zwar durchaus die Leistung der neologischen Theologie, die insbesondere mit der historischen und philologischen Einordnung und Erläuterung der biblischen Texte einen wichtigen Beleg für die geschichtliche Faktizität und damit Wahrheit der christlichen Religion liefert. Der damit einhergehenden Vernachlässigung der Rolle Christi als Vermittler und Erlöser aber kann Lavater nicht tatenlos zusehen, gehören doch seiner Meinung nach die historischen Tatsachen zu den Prämissen für den positiven Glauben.¹²⁶⁵ Mit dem Appell an seine Berufskollegen hatte Lavater einen Weg eingeschlagen, der es ihm ermöglichte, über die Pfarrerschaft Zürichs zu einer großen Gemeinde zu sprechen. Seine eigene Gemeinde erreichte er in der persönlichen alltäglichen Arbeit als Pfarrer, insbesondere in den Predigten und Gebetsreihen. Im Hinblick auf die Arbeit an Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn sind Lavaters Abendgebete, in denen er sich mit der Exegese der Apokalypse auseinandersetzte, von Bedeutung.
6.2 Lavaters Auseinandersetzung mit der biblischen Vorlage in seiner Apokalypse-Gebetsreihe Im Jahr 1779 hielt Lavater als Diakon an St. Peter eine auf vierundvierzig Abende ausgedehnte Gebetsreihe,¹²⁶⁶ in der er sich, wie es die Predigtordnung Zürichs festhielt, der Offenbarung des Johannes widmete.¹²⁶⁷ Lavater gestaltete seine
1264 Ebd., S. 27. 1265 Vgl. Dellsperger (Anm. 347), S. 98. 1266 Jeden Mittwoch und Samstag fanden in den Zürcher Kirchen von den Diakonen gehaltene Abendgebete statt, die einer festgelegten Reihenfolge gemäß im Sinne einer ‚Lectio continua‘ das Neue Testament auslegten (vgl. Sauer [Anm. 15], S. 71). 1267 Eine Konfirmandin Lavaters war so begeistert von seinen Abendgebeten über die Apokalypse, dass sie sie aufschrieb (vgl. Guinaudeau [Anm. 9], S. 237). Aus ihrer Schrift, die sich im Lavater-Nachlass (FA Lav. Ms. 68) befindet, wird im Folgenden zitiert.
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Abendgebete, die ursprünglich in der Form kurzer Predigten gehalten wurden, als in das Gebet verpackte Exegese, die dazu beitragen sollte, den biblischen Text besser verstehen zu können und dadurch Erbauung und Bestärkung zu stiften.¹²⁶⁸ Die Offenbarung des Johannes sei ihm „das Wichtigste, Geheimnissvollste, erhabenste Buch der ganzen Bibel“¹²⁶⁹, so Lavaters einleitende Worte an seine Gemeinde, er müsse aber gestehen, dass ihm die Exegese einige Schwierigkeiten bereite. Es seien zwar schon unzählige Schriften zum letzten Buch des Neuen Testaments verfasst worden – und hierzu zählt Lavater, ohne Namen zu nennen, nicht „das abgeschmakte, unvernünftige, beynahe lästerliche, was schon über diese Offenbarung geredt, gepredigt, geschrieben worden seyn mag“¹²⁷⁰, sondern nur die auch nicht namentlich genannten, aber als reflektiert bezeichneten Schriften christlicher Gelehrter –, trotzdem würden sich in der Offenbarung des Johannes noch immer viele ungelöste Rätsel und dunkle Geheimnisse verbergen. Auch nach seinem intensiven Studium der Apokalypse würden ihm bei der Exegese immer noch „Lichtlosigkeit, û: Ûnwahrscheinlichkeit û: Schwierigkeiten häufig begegnen.“¹²⁷¹ Von vorneherein klarstellen will Lavater, und hier richtet er sich implizit gegen Semlers negatives Urteil über die Johannes-Offenbarung, dass die vielen noch unbeantworteten oder nicht zweifelsfrei geklärten Fragen, die das letzte Buch des Neuen Testaments aufwerfe, nicht dazu führen können und dürfen, an dessen Kanonizität zu zweifeln: „aber gibt das Dunkle, Schwere, dem Menschenverstand Unverständliche dieses Buchs uns einiges Recht, ihm seine Wahrheit u: Göttlichkeit abzusprechen?“¹²⁷² Lavater nimmt somit eindeutig Stellung gegen die seit Hieronymus bis in sein Jahrhundert immer wieder aufgekommene Kritik, ein dergestalt von Geheimnissen und Rätseln durchdrungenes Buch entbehre jeglichen Nutzen für die religiöse Lehre des Menschen und könne daher weder Gottes Willen entstammen noch entsprechen.¹²⁷³ Der Weg, den Lavater für begehbar hielt, um trotz der schwer verständlichen Stellen einen Zugang zur Johannes-Offenbarung zu finden, erfolgte über den Affekt. Nur wer sich vorbehaltlos dem ersten, von Erhabenheit und Göttlichkeit bestimmten Eindruck, den die Apokalypse auslöse, hingebe, habe die Voraussetzung geschaffen, um zu Erkenntnis zu gelangen über dieses „alle menschlichen Geistes Kräfte weit übersteigende Buch.“¹²⁷⁴ Wer dieses Gefühl aber nicht empfinde, dem könne
1268 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 218. 1269 FA Lav. Ms. 68a. 1270 Ebd. 1271 Ebd. 1272 Ebd. 1273 Zur Geschichte der Apokalypse-Exegese vgl. Kap. 5.1. 1274 FA Lav. Ms. 68a.
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nur schwer erklärt werden, welche Besonderheiten in der Apokalypse anzutreffen seien. Lavaters hermeneutischer Ansatz, dem gemäß die Bibel nur in der affektiven Erfahrung erschlossen werden kann, lehnt sich an die pietistische Bibelexegese an. Die subjektive Empfindung und das persönliche Erlebnis, das im Pietismus sowohl Voraussetzung wie Ziel der adäquaten Bibellektüre war, verschloss sich der wissenschaftlichen Theologie und betonte einen sensualistischen, die persönliche Erfahrung ins Zentrum der religiösen Auseinandersetzung stellenden Glauben.¹²⁷⁵ Um in die apokalyptischen Geheimnisse vorzudringen, so Lavaters Ansicht, braucht es wie für jedes evangelische Buch die seelische Empfindung, die auf einem inneren, gefühlten Glauben als erste Voraussetzung für religiöse Wahrhaftigkeit jeder wissenschaftlichen Auslegung vorangeht.¹²⁷⁶ Zudem benötige es die Einsicht in die Eingeschränktheit des menschlichen Verstandes, die demütig die Dunkelheiten der Apokalypse als göttliche Geheimnisse ehren solle: Wäre es nicht stolze Anmaßung, Ûnbescheidenheit, wenn wir alles das, was wir nicht verstehen, uns nicht im hellsten Licht einleuchtet, geradezu als unwahr, unbraûchbar ansehen, oder angeben wollen, ist es nicht billiger Weise Bescheidenheit, wenn wir was klar ist, auffassen, Gott für jeden Funken des Lichts danken, u: ohne Grübeley, oder irgend einer Ausschweifung, unter redlichem, stillem, einfältigem Forschen u: Gebeth, so viel Licht u: Aufschluss, als uns nöthig, u: nützlich ist, erwarten.¹²⁷⁷
Lavater setzt den Affekt über jedes von der Ratio geleitetes Interpretieren als unabdingbare Voraussetzung, um sich an die apokalyptischen Geheimnisse heranzutasten. Er sieht sich dabei vor das Problem gestellt, die von ihm empfundenen Gefühle der Erhabenheit und Göttlichkeit nachvollziehbar zu vermitteln: Ich fühle, dass die erhabne Gottheit Geheimnisse hier in diese Gegend einschloss, die nur Er, u: kein Menschenverstand aufschliessen kann, u: dass dieß Dunkel der Geheimnisse gleichsam mit Lichtstrahlen untermengt ist, damit nicht das Ganze dem schwachen kurzsichtigen Menschenverstand unauflösliches Geheimnis sey. Wie ich aber dieß fühle, könnte ich außer mir schlechterdings keinem Menschen begreiflich machen, der noch nie in seinem innwendigsten etwas davon selbst gefühlt hat.¹²⁷⁸
1275 Vgl. Thomas Tillmann: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin 2006, S. 20. 1276 Vgl. Sauer (Anm. 15), S. 223. 1277 FA Lav. Ms. 68a. 1278 Ebd.
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Durch diese ausschließlich subjektive, nicht mitteilbare und daher auch nicht erklärbare Emotionalität erwarb sich Lavater eine gewisse Immunität rationaler Kritik gegenüber, konnte ihm doch niemand seine persönlichen Voraussetzungen absprechen noch kritisieren. Er untermauerte aber auch seine Einstellung, dass die Apokalypse und jedes biblische Buch mit dem gefühlten Glauben und nicht mit dem Verstand erschlossen werden muss. Indem Lavater im Gefühl den Schlüssel zur Apokalypse sieht, knüpft er an Herders Affekt-Ästhetik an. Allerdings geht Herder von der Affektivität des Autors, also von Johannes, aus und will es dem Rezipienten seiner Zeit mit den nötigen historischen Erklärungen möglich machen, sich in die damaligen Umstände hineinzuversetzen und die Emotionalität des Geschehens nachzuvollziehen. Lavater hingegen legt den Fokus auf den Rezipienten und dessen emotionale Offenheit für die tiefen religiösen Wahrheiten. Er betont die subjektive, unabhängig von der Zeit und den Umständen im Glauben erfahrbare seelische Bewegung, die zum Verständnis nicht nur von der Apokalypse, sondern von jedem biblischen Buch notwendig sei. Die Bedeutung der Seele als wichtigstes Beurteilungsinstrument über religiöse Wahrheit, die das Grundprinzip von Lavaters Christologie bildet, kommt also auch in seiner Exegese der Johannes-Offenbarung zum Tragen. Neben der durch das ‚religiöse Gefühl‘ erreichten Anerkennung der Apokalypse als wahrhaftiges göttliches Buch gibt es Lavaters Meinung nach, wie er seiner Gemeinde weiter erläutert, historisch bestimmbare Eckdaten, die in der Auslegung der Apokalypse von Bedeutung sind, so zum Beispiel deren Datierung. Die Exegeten seien sich weitgehend einig, so Lavaters Einschätzung der Diskussion über den Zeitpunkt der Apokalypse, dass Johannes seine Offenbarung vor der Zerstörung Jerusalems empfangen habe – eine Ansicht, der auch er sich anschließe.¹²⁷⁹ Aus diesem weitgehenden Konsens über die Datierung seien die Exegeten aber zu unterschiedlichen Meinungen über die Auslegung gekommen. Eine weit verbreitete Überzeugung sei es, die Visionen des Johannes auf die Zerstörung Jerusalems und den Untergang Judäas zu beziehen, womit sich die Prophezeiung bereits erfüllt habe. Diese Exegese wird Lavaters Meinung nach durch Apk. 1,1–3 gestützt: Diese Worte, was in Kürze geschehen soll, u: die Worte im 3ten Vers: denn die Zeit ist nahe: sind es, auf welche sich diejenigen berufen, welche der Meinung, dass sich diese Weissagung einzig nur auf den Untergang der Stadt u: des Volkes Israels beziehen, zugethan sind.¹²⁸⁰
1279 Vgl. ebd. 1280 Ebd.
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Lavater nennt den Zürcher Pfarrer Johann Caspar Ulrich (1705–1768) als Vertreter dieser Meinung, er bezieht sich dabei auf die von Ulrich mit Kommentaren versehene Neuausgabe des Alten und Neuen Testaments aus den Jahren 1755/56.¹²⁸¹ Andere Exegeten würden die Apokalypse als Kirchengeschichte betrachten: Die erste Zeit des Frühchristentums bis in die Gegenwart und eine noch bevorstehende Zukunft seien der Inhalt der Johannes-Offenbarung. Hier nennt Lavater Bengel, der die beste Auslegung dieser Deutung geschrieben habe.¹²⁸² Die dritte Gruppe von Exegeten gehe davon aus, dass sich die in den Visionen beschriebenen Ereignisse auf eine zukünftige, noch zu erwartende Zeit beziehen würden: Eine dritte, u: lezte Meinung die mir bekannt ist, ist diese, dass die Erfüllung dieser Weissagung die allerlezte zusammengedrängte Geschichte, die lezte Catastrophe, den Ausgang, die endliche Entwicklung der christlichen Kirche ausmachen werde, dass sie also ein zusammengedrängtes prophetisches u: poetisches Gemählde von der allerlezten Geschichte des Christenthums sey.¹²⁸³
Wie bereits im Briefwechsel mit Herder zum Ausdruck gebracht, geht Lavater davon aus, dass sich die Visionen von Johannes trotz der angesprochenen Nähe auf eine noch nicht eingetroffene Zukunft beziehen würden. Die apokalyptischen Bilder, so Lavaters Meinung, stellen symbolisch die das Ende der Welt einleitenden Ereignisse dar. Obschon Lavater nicht auf Joachim Lange (1670–1744) verweist, ist davon auszugehen, dass er sich in seiner Exegese auf dessen Werk Apocalyptisches Licht und Recht (1730)¹²⁸⁴ stützt. Wie Lavater deutet Lange die apokalyptischen Bilder als Symbole über die zu erwartende Endzeit. Mit Aus-
1281 Johann Caspar Ulrich: Biblia: Das ist: Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments / aus den Grundsprachen treulich wol verdeutschet; aufs Neue und mit Fleiss übersehen. Mit dienstlichen Vorreden, begreiflichen Abtheilungen der Capitel, vielen Auslegungen und Nuzanwendungen, auch genauer Anmerkung der Parallelstellen, und notwendigen Concordanzen […]. Versehen und herausgegeben durch Johann Caspar Ulrich. Zürich 1755/56. 1282 Zu Bengels Auslegung vgl. Kap. 5.1. 1283 FA Lav. Ms. 68a. 1284 Joachim Lange: Apocalyptisches Licht und Recht. Das ist Richtige und erbauliche Erklärung, Des Prophetischen Buchs Der heiligen Offenbahrung Johannis: Darinn, Nach dem bisher auch bey der Evangelischen Kirche sehr beliebt gewordenen Systemate Vitringiano, Nach einem nöthigen Vorbericht, Erstlich eine Ausführliche Einleitung, Und nach der Exegetischen Abhandlung, Zur mehrern Erläuterungen und Bevestigung des richtigen Verstandes eine Genaue Übereinstimmung gedachter Offenbahrungen mit den Propheten des alten Testaments, sonderlich Jesaia 7 aus des niederländischen hochberühmten Theologi, Campegii Vitringae, Grossen und vortrefflichen Commentario über den Jesaiam / dargelegt wird von D. Joachim Lange, S. Theol. Prof. Ordin. Hall. 1730.
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nahme der Sendschreiben, die zwar auch Andeutungen auf die Zukunft enthalten, ansonsten aber auf die zu Johannes’ Zeit anzutreffenden Zustände in den Gemeinden verweisen würden,¹²⁸⁵ könne die Offenbarung nicht mit historischen Ereignissen erklärt werden, so Langes Überzeugung.¹²⁸⁶ Wie ein Vergleich zwischen Langes Einleitung und Lavaters einführenden Worten an seine Gemeinde zeigt, hatte Lavater wohl Langes Auslegung zur Seite liegen, als er sich auf seine Gebetsreihe vorbereitete. Lange betont die „Tiefe und Höhe“¹²⁸⁷, die in der Apokalypse zu finden sei und „vom menschlichen, obgleich nicht ungeübten, Verstande nicht wol in allen Stücken völlig kann erreichet werden.“¹²⁸⁸ Auch Lavater spricht von der unermesslichen Dimension der Apokalypse, zu deren Erfassung der menschliche Verstand zu begrenzt sei: Auf der einen Seite erhebt es [das Buch Johannes-Offenbarung] uns weit über die Erde, weit über die Menschheit, u: versezt uns gleichsam in weite offne Himelshöhen, û: auf der andern Seite drükt es den Menschen mit allen seinen Geisteskräften u: Fähigkeiten tief in den Staub zurük, macht ihn verstumen, u: bringt ihn an die Grenzen alles Wissens, u: alles Lichtes.¹²⁸⁹
Wie Lange aber, der ausdrücklich darauf verweist, dass die Schwierigkeiten in der Exegese nicht davon abhalten sollen, „durch genauere Erforschung den richtigen Verstand dieses Buchs zu erreichen“¹²⁹⁰, betont auch Lavater, dass man sich durch die vielen unlösbar scheinenden Rätsel der Apokalypse nicht den Mut nehmen lassen soll; hingegen müsse man „mit aller Bescheidenheit nach dem Licht, das Gott uns gibt, darüber reden.“¹²⁹¹ Angelehnt an Lange, der jede Exegese der Apokalypse tolerieren will, solange an die mit der Kanonizität gleichgesetzte Göttlichkeit des Buchs geglaubt wird,¹²⁹² gibt sich auch Lavater offen für andere Meinungen. Trotz der Differenzen zu Herder rekurriert Lavater, ohne ihn jedoch zu nennen, auf dessen Exegese, wenn er der Möglichkeit, in den Visionen des Johannes sei eine zweifache Prophezeiung enthalten, eine gewisse Wahrscheinlichkeit zuspricht. Wie die Propheten des Alten Testaments jeweils ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis vorhergesagt, immer aber auch von dem kommenden Messias prophezeit hätten, könne auch in der Apokalypse eine
1285 Vgl. ebd., 12 f. 1286 Vgl. ebd., S. 2. 1287 Ebd., S. A2r. 1288 Ebd., S. A2v. 1289 FA Lav. Ms. 68a. 1290 Lange (Anm. 1284), B. 1291 FA Lav. Ms. 68a. 1292 Vgl. Lange (Anm. 1248), D.
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zweifache Prophezeiung verborgen sein, die sich auf die Zerstörung Jerusalems wie auch auf den endgültigen Untergang der Welt beziehe.¹²⁹³ Lavater erscheint es aber wahrscheinlicher, in der Apokalypse lediglich das Endzeitgeschehen ausgedrückt zu sehen. Johannes offenbart Bilder, in denen symbolisch die endzeitlichen Ereignisse dargestellt sind, so seine Exegese, die ihm bei Herder zu wenig stark zum Ausdruck gekommen ist: Wenn mich jemand fragte, was die Summe, der Hauptinhalt der Offenbarung Joh. sey, wie ich die Hauptgedanken derselben in einen einigen fasse u: ausdrüke? So würde ich ihm nach meiner jezigen Überzeügung, nach meinem Licht antworten: es ist die Geschichte des Lammes Jesu zum Gericht, es ist Zubereitung zur herrlichen Offenbarung J. Chr. Seines Reiches, Zurüstung zum Ende der Welt, es ist der Anfang u: das Ende des Lammes Jesu; es ist eine ununterbrochne Reise von wichtigen außerordentlichen noch unerfolgten Begebenheiten, die den Richter zum Weltgericht hinzudrängen. Alle Bilder, alle Auftritte, alle Umstände der Offenbarung Joh. sind Vorboten, Vorspiele, Zeichen der Erscheinung J. Chr. u: der Folgen derselben.¹²⁹⁴
Mit dem ‚Lamm Jesu‘, dessen ‚Geschichte zum Gericht‘ in der Offenbarung erzählt ist, macht Lavater eine ähnliche Verbindung von der Passion und der Apokalypse wie Klopstock. Die im Messias betonte Erlösung durch den Kreuzestod, also die Opferung des Lamms für die Menschheit, die Klopstock als Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts sieht, ist auch Lavaters Meinung nach der in der apokalyptischen Darstellung Jesu als Lamm ausgedrückte Aussagegehalt. Wie stark Lavater darum bemüht war, die Apokalypse als göttliches, die Zukunft der Menschen enthaltendes Buch einem breiten Publikum zugänglich zu machen, zeigt seine zusätzlich zu der in der Gebetsreihe gemachten Exegese verfasste hexametrische Nacherzählung der Johannes-Offenbarung. In seinem Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn lehnte sich Lavater formal an Klopstock an, versuchte inhaltlich aber, seine eigenen Vorstellungen von Bibelpoesie und von der Exegese der Apokalypse einzubringen, wie im Folgenden gezeigt wird.
1293 Vgl. FA Lav. Ms. 68a. 1294 Ebd.
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6.3 Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn als poetische Bibelexegese Lavater beginnt sein in vierundzwanzig Gesänge aufgeteiltes Epos in einem als ‚Thema‘ übertitelten Proömium, in dem er sich selbst als Sänger einführt und damit von Klopstock abweicht, der die Muse anruft: Wie der höchste der Seher Ihn sahe, der Nächst’ an der Brust Ihm, Herrlich kommen Ihn sah’ und schnell wie der blendende Blitz eilt, Streb’ ich zu singen Jesus Messias, der Könige König.¹²⁹⁵
Für Lavater gilt der Grundsatz: „Alle ächte Poesie ist ächte Prophezei“¹²⁹⁶, und wie die biblischen Propheten stets die Wahrheit sagen würden, mögen ihre Weissagungen noch so geheimnisvoll und unverständlich sein, gehöre es auch zur wichtigsten Maxime des Dichters, in seinem Werk Wahrheit zu verkünden: Jeder Dichter ist es nur dadurch, dass er das Verborgenste hervorholt, das Dunkelste klar macht und dem Unerweislichsten ohne Beweis durch blosse Darstellung volle Gewissheit gibt. Mit einem Worte: Wer nicht Prophet ist, der ist nicht Poet. Wie die Ahnungsgabe für Unsichtbares, Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges, so die Dichtungsgabe. Der schlechte Dichter ist ein falscher Prophet; kein wahrer Prophet (oder Divinator) ist ein schlechter Dichter.¹²⁹⁷
Die Gleichsetzung des Dichters mit dem Propheten erinnert an Klopstocks Selbstdarstellung als prophetischen Autor und hat denselben Ansatz für die Funktion von religiöser Dichtung im Fokus: Die Propheten wie auch die Dichter tragen, in unterschiedlichem sprachlichen Gewand, zur Verkündigung der Religion bei. Mit seiner das Werk eröffnenden expliziten Anlehnung an Johannes, den in Lavaters Augen höchsten in der Reihe der biblischen Propheten, erklärt er seine Art der Paraphrase, die nicht wie Klopstock mit Zuhilfenahme von erfundenen Begebenheiten die religiöse Botschaft verkünden will, sondern sich in der Grundstruktur an die biblische Vorlage hält. Indem Lavater vom „hohen Gesang“¹²⁹⁸ des Johannes schreibt, an dem er sich in seiner Nacherzählung der Apokalypse
1295 Johann Caspar Lavater: Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn. [Zürich] 1980 (im Folgenden zitiert als JMZH), S. 3. 1296 Johann Caspar Lavater: Johann Caspar Lavaters ausgewählte Schriften. Hg. von Johann Kaspar Orelli. Bd. 8. Zürich 1844, S. 217. 1297 Ebd., S. 218. 1298 JMZH, S. 3.
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orientieren will, anerkennt er die Visionen des Johannes als göttliche Poesie, allerdings nur, was den Inhalt betrifft, wie Lavaters hexametrische Umdichtung zeigt. So erweist sich die auf den ersten Blick gleiche Motivation wie diejenige Herders, nämlich die biblische Vorlage als erhabene Dichtung zu betrachten, bei der formalen Ausgestaltung als komplett andere Vorstellung über biblische Dichtung. Herder geht es um den unmittelbaren Ausdruck von göttlicher und naturerlebender Empfindung, er beurteilt den dichterischen Wert anhand der Ursprünglichkeit, aus der heraus ein Text entstanden ist. Ästhetische Schönheit konstituiert sich für ihn nicht im Dichten nach kunstvollen poetischen Regeln, deren Anwendung dichtungstheoretisches Wissen und handwerkliches Können voraussetzen, sondern in der natürlichen, ungekünstelten Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die als direkte Wiedergabe affektiver Bewegung entsteht.¹²⁹⁹ Wenn Lavater die biblischen Bücher als erhabene Poesie bezeichnet, geht es ihm nicht wie Herder um formale Kriterien. Für Lavater ist es allein der Inhalt, dem er auf Grund seiner religiösen Aussage Erhabenheit beimisst. Wie Herder will zwar auch Lavater den biblischen Text möglichst der Bibel getreu wiedergeben, es geht ihm dabei aber nicht darum, deren Ästhetik in ihrer ursprünglichen Diktion zu erhalten, sondern deren Wert als wahrhaftiges göttliches Zeugnis zu betonen. Die Erhabenheit, die er der Bibel zuspricht, bezieht sich allein auf deren göttlichen Inhalt, wie er in einem Gespräch mit Hasenkamp zum Ausdruck bringt.¹³⁰⁰ Hasenkamp notierte 1774 in sein Tagebuch die mit Lavater geteilten Gedanken über die Erhabenheit als poetologische Kategorie¹³⁰¹ und ihre Anwendbarkeit auf biblische Texte. Lavater und Hasenkamp vertreten die Meinung, dass das Werk Horaz’ und Vergils dichterische Erhabenheit beinhaltet, die als gewisse Ausdrucksform des Göttlichen gelten kann; diese „poetische Göttlichkeit“ aber finde sich nicht in der Bibel, diese zeichne sich durch einfache Wahrheiten aus, die der Mensch als Anleitung zu einem gottgefälligen, tugendhaften Leben verstehen müsse, so dass er sie zur Formulierung einer religiösen Lehre nutzbar machen könne: Jene poetische Göttlichkeit [der Werke Horaz’ und Vergils] ist nicht oft in der heiligen Schrift; die würde der Haupt-Absicht zuwider gewesen seyn. Aber Wahrhaftigkeit, Nutzbarkeit, auch nur zur Bestätigung anderer Wahrheiten, wohin manche seltsame Vorfälle und auch Geschlechts-Register gehören; Einfalt, dehmüthige Bequemung nach dem unwissen-
1299 Zu Herders Poetologie vgl. Kap. 5.2. 1300 Zu Lavaters Beziehung zu Hasenkamp vgl. Kap. 2.7. 1301 Zum Erhabenen in der poetologischen Diskussion des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Kap. 4.3.1.
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den Haufen. Sollte man die nicht eben so sehr, ja vielmehr bey der Frage der Göttlichkeit schätzen als dichterische und rednerische Erhabenheit?¹³⁰²
Einige Jahre später definierte Lavater das Erhabene dergestalt, dass es sich mit der sprachlichen Simplizität der Bibel in Einklang bringen und sich nicht mehr auf die antike Dichtung übertragen ließ. Wie aus seinem diesbezüglichen Kapitel im Pontius Pilatus (1782–1785) hervorgeht, hatte Lavater sich mit der zeitgenössischen Diskussion um das Erhabene auseinandergesetzt, darin aber „keine völlig reine, allgenugsame Idee vom Erhabenen“¹³⁰³ gefunden. Lavater erwähnt Longin, Johann Georg Schlosser (1739–1799), Johann Georg Sulzer, Mendelssohn und Kant, deren Erläuterungen zum Erhabenen ihn nicht überzeugen würden.¹³⁰⁴ Auch die Encyclopédie vermöge nicht, einen adäquaten Aufschluss zu geben.¹³⁰⁵ Lavater hat sich also sowohl mit der pseudo-longinischen Schrift Pery hypsous oder aber mit der von Schlosser gemachten, mit Anhang versehenen Übersetzung aus dem Jahr 1781¹³⁰⁶ auseinandergesetzt, Sulzers diesbezüglichen Artikel in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774), Kants Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Mendelssohns Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758) studiert und den Artikel über das Sublime in Diderots Encyclopédie gelesen.¹³⁰⁷ Auch Bodmer und Breitinger nennt Lavater,¹³⁰⁸ findet jedoch in ihren vielseitigen Erläuterungen über das Erhabene genauso wenig wie in den vorher genannten Schriften eine Definition, die ihn zu überzeugen vermag. In seinen eigenen diesbezüglichen Erläuterungen, die zum Ziel hatten, ebendiese noch fehlende Definition zu liefern, geht Lavater zuerst auf die „Natur des Erhabenen“¹³⁰⁹ ein, die seiner Meinung nach genau bestimmt werden muss, um darunter nicht „ähnlichste und verwandteste Begriffe“¹³¹⁰ zu subsumieren. Er erläutert die Adjektive „gut, schön, zierlich, prächtig, herrlich, edel, außerordent-
1302 Neeb (Anm. 134), S. 31 f. 1303 JCLW VI/I, S. 967. 1304 Vgl. ebd., S. 966. 1305 Vgl. ebd. 1306 Johann Georg Schlosser: Longin: Vom Erhabenen. Mit Anmerkungen und einem Anhang versehen von Johann Georg Schlosser. Leipzig 1781. Zu Schlossers Verständnis des Erhabenen vgl. Till (Anm. 536), S. 267–270. 1307 Vgl. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de lettres. Mis en ordre et publié par Diderot. Tome 15. 1751, S. 566–570. 1308 Vgl. JCLW VI/I, S. 996. 1309 Ebd., S. 968. 1310 Vgl. ebd.
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lich, gros, feyerlich, wunderbar, erstaunenswürdig“¹³¹¹, die zwar seiner Meinung nach durchaus das Erhabene charakterisieren, jedoch nicht in jedem Falle einen durch sie bestimmten Gegenstand erhaben machen.¹³¹² Lavaters Abgrenzung von Bodmers und Breitingers Erläuterungen über das Sublime wird an seiner Definition des Wunderbaren ersichtlich. Während Bodmer und Breitinger den Begriff des ‚Erhabenen‘ synonymisch mit dem Begriff des ‚Wunderbaren‘ verwenden,¹³¹³ macht Lavater eine eindeutige Unterscheidung. Das Wunderbare definiert sich seiner Meinung nach durch die Unerklärbarkeit seiner Ursache.¹³¹⁴ Dass es sich dabei aber nicht um Erhabenheit handle, werde ersichtlich, wenn man die Kunst des Mechanikers oder des Taschenspielers betrachte; deren ‚Werke‘ seien nicht nachvollziehbar und würden dementsprechend wunderbar anmuten, niemand käme aber auf die Idee, sie als erhaben zu bezeichnen.¹³¹⁵ Nachdem Lavater die verschiedenen Attribute erläutert hat, die zwar Bestandteil des Erhabenen sein können, es aber nicht in seinem eigentlichen Wesen bestimmen und darum nicht mit ihm verwechselt werden dürfen, kommt er zu seiner eigenen Definition. Erhabenheit bestehe darin, die verschiedensten Aspekte und Extreme zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen: „Unendliches sinnlich vereinfacht – Harmonie des Unerschöpflichen in Einem – klar erkannt, heißt erhaben.“¹³¹⁶ Lavaters Meinung nach besteht wahre Erhabenheit in der Fähigkeit, für die Vernunft schwer nachvollziehbare, den Verstand und die Sinne verwirrende oder außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegende Begebenheiten einfach und verständlich auszudrücken. Die aus einer solchen Darstellung resultierende Betrachtungsweise zeichnet sich durch eine harmonische und ruhige Wirkung aus: Ohne Einfalt, Einfachheit, innige Harmonie lässt sich nichts Erhabnes gedenken – Denn was nicht einfach und Ruhevoll ist, kann nicht Ruhe wirken, und nichts, was nicht Ruhe wirkt, ist wahrhaft erhaben.¹³¹⁷
Indem Lavater dem Erhabenen eine beruhigende, die verschiedenen Eindrücke harmonisch in einem einfachen Ganzen zusammenfassende Wirkung zuspricht, setzt er sich von herkömmlichen Definitionen ab. Die emotionale Bewegung, die
1311 Ebd. 1312 Ebd., S. 678–972. 1313 Vgl. Alt (Anm. 536), S. 84. Ausführlich zum Erhabenen in der Poetik von Bodmer und Breitinger vgl. Kap. 4.3.1. 1314 Vgl. JCLW VI/I, S. 972. 1315 Vgl. ebd., S. 973. 1316 Ebd., S. 974. 1317 Ebd., S. 975.
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als zentrale wirkungsästhetische Komponente des Erhabenen gilt, ersetzt Lavater mit der seelischen Ausgeglichenheit, die trotz der verschiedenen auf sie wirkenden Kräfte und Affekte vorhanden sein müsse. In den weiteren Paragraphen verfolgt Lavater sein Konzept des einfachen Erhabenen, das in sich die unzusammengesetzte harmonische Einheit der Vielheit repräsentiere, anhand der unterschiedlichsten Beispiele. So ist seiner Meinung nach derjenige Mensch erhaben, der „mit der einfachsten Ruhe unermessliche Dinge erkennt, verändert, trägt“¹³¹⁸, besondere Erhabenheit sieht er auch in jeder Art der Darstellung, die in einer auf ein Minimum reduzierten Form die volle Bedeutung und Aussagekraft eines Inhalts wiederzugeben vermag: „Ein Zeichen, eine Zifer, ein Symbol, Sinnbild, Hieroglyphe, Monument, Inskription ist erhaben, wenn sie höchst einfach und von unendlichem Sinne sind.“¹³¹⁹ In den vielfältigen Beispielen, die Lavater auflistet, um die im Erhabenen ausgedrückte Simplizität des Komplexen, Unfassbaren und Unermesslichen darzustellen, bereitet er seine Erläuterungen über das umfangreichste und älteste Werk der Erhabenheit vor: die Bibel. Das Traktat von Longin, das als Ausgangspunkt für die Erörterung über das Erhabene genommen wurde, und die stetige Abwertung im Zuge der Aufklärungstheologie hätten dazu geführt, dass in keinem der zeitgenössischen Werke auf die Bibel als wahre und ursprünglichste Quelle der Erhabenheit eingegangen werde,¹³²⁰ so Lavaters Einschätzung der Diskussion, in der er ästhetisch-poetologische Aspekte mit der Kritik an den theologischen Strömungen seiner Zeit verbindet. Wie stark Lavater seine Definition des Erhabenen in den Dienst der Theologie im Allgemeinen und der Auslegung der Bibel im Besonderen stellt, zeigt sich in seiner Bestimmung des Göttlichen als ultimativen Ausdruck und gleichzeitig Maßstab des Erhabenen: Alles Rein-Göttliche ist erhaben, weil alles Göttliche äußerst einfach und ewig unerschöpflich ist, und eben darum ein frohernsthaftes Erstaunen in unserm Innersten erregt – Aber nur, wenn es von uns anschauend erkannt wird. Wir stellen uns Gott als das allereinfachste und unermesslichste Wesen vor; Als das Reinste und Unerschöpflichste; Als das Ruhigste und Wirksamste; Als die einfachste Summe, Ursach und Quelle unendlicher Größen – Darum nennen wir Ihn mit froher Ehrfurcht das erhabenste Wesen.¹³²¹
Indem Lavater die zuvor bestimmte Charakteristik des Erhabenen, die im wesentlichen aus der Vereinigung einer unermesslichen Vielheit zu einer harmonischen Einheit besteht, in ihrer kumuliertesten Erscheinungsform im Göttlichen sieht,
1318 Ebd., S. 977. 1319 Ebd. 1320 Vgl. ebd., S. 988. 1321 Ebd., S. 992.
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hat er die Erklärung vorweggenommen, warum es sich bei den biblischen Zeugnissen um die erste Quelle der Erhabenheit handelt. Die Bibel drücke in einfachen Botschaften die höchste göttliche Weisheit und Wahrheit aus, so Lavaters Ansicht. Obschon es ihm primär um die inhaltliche Erhabenheit geht, bezieht er auch die Einfachheit und Klarheit der biblischen Sprache mit ein, was in seiner Einschätzung der Genesis zum Ausdruck kommt: „Ich öffne das älteste und kindlichste aller Bücher, und neige mich vor der hohen Einfalt, womit es sich anhebt! Schon auf den ersten Blätern find’ ich Stellen, die ich in den gepriesensten Schriften der Vorzeit umsonst suche.“¹³²² Hier knüpft Lavater an die von ihm geschätzte Älteste Urkunde Herders¹³²³ und die darin erläuterten Beobachtungen zu der Ursprünglichkeit des sprachlichen Ausdrucks in der Genesis an.¹³²⁴ Obschon Lavater keine Analyse der biblischen Sprache macht, verweist die hier in Bezug auf die Genesis geäußerte Betonung der Einfachheit und der Kindlichkeit im Zusammenhang mit Herders diesbezüglicher Theorie auf die sprachliche Gestalt des Textes. Schon im Gespräch mit Hasenkamp ist Lavater auf die sprachliche Einfachheit der Bibel eingegangen, hat sie zu dieser Zeit aber noch nicht mit Erhabenheit, sondern mit der Nutzbarkeit für die religiöse Lehre in Verbindung gebracht.¹³²⁵ Ziel der göttlichen Offenbarung sei die Führung und Belehrung des Menschen, durch die er sich vervollkommne und die ihm Erbauung gewähre. Die dazu gewählte sprachliche Einkleidung, derer sich die Verfasser biblischer Texte bedienten, sei stilistisch schnörkellos und dementsprechend klar verständlich.¹³²⁶ Obschon Lavater und Hasenkamp konstatierten, dass die einfache biblische Sprache bereits der Erbauung förderlich sei, sah Lavater in der poetischen Umformung der ursprünglichen Vorlage ein Mittel, die biblischen Texte noch nutzbarer zu machen, indem er sie in neuem dichterischen Glanz und in epischer Form einem breiten Publikum näherzubringen versuchte. Das Problem, vor das sich Lavater dabei seit seinen ersten literarischen Versuchen gestellt sah, war die Wahl des geeigneten Versmaßes. Bei seinem ersten größeren Werk, den Aussichten in die Ewigkeit war Lavater noch unschlüssig in stilistischen Fragen, wie er in der Einleitung des ersten Bandes erläutert. Deutlich schimmert aber seine Bevorzugung der Versdichtung durch, aus der heraus sich gewisse poetische Ansprüche herauslesen lassen. Aus Lavaters Ansichten über die prosaische Sprache wird ersichtlich, dass er ihr lediglich inhaltliche, nicht aber poetische
1322 Ebd., S. 994. 1323 Vgl. Lavater an Herder, 6. Apr. 1774. In: Düntzer (Anm. 1111), S. 91–94. 1324 Vgl. Kap. 5.2. 1325 Vgl. Neeb (Anm. 134), S. 31. 1326 Vgl. ebd.
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Qualitäten zuspricht. In Prosa lasse sich ein vielfältiges Spektrum an Absichten und Inhalten ausdrücken, ihr ‚Einsatzbereich‘ schließe sowohl das nachvollziehbare Erklären vernünftiger Argumente wie auch die Darstellung affektiver Regungen mit ein.¹³²⁷ Ohne die Gründe dafür zu nennen, gesteht Lavater aber, Schwierigkeiten zu haben, in Prosa zu formulieren, viel leichter falle ihm das Dichten in Versen. Da Lavater keinerlei ästhetischen Kriterien nennt, mit denen sich Prosa auszeichnet, ist davon auszugehen, dass er ihr vor allem didaktisch-funktionalen Anspruch beimaß. Ganz anders betrachtete er die Lyrik, bei deren Analyse er ausgiebig auf die literarischen Qualitäten einging und dadurch seine eigenen dichterischen Ambitionen anklingen ließ. Das Nachdenken über Verse und Reime führe zu vielen aussagekräftigen Gedanken, Bildern und Ausschmückungen, von denen sich „feurige Köpfe und junge Genies“¹³²⁸ ansprechen lassen würden. Wie aus einem Brief Christoph Trümpis (1739–1781) an Lavater hervorgeht, muss der ‚Verseschmied‘ ein „gebohrner, feüriger Dichter [sein], dessen Feür vermuthlich, wenn auch das Werk etliche Jahr dauert, nicht erkaltet.“¹³²⁹ Der Genie-Gedanke der Sturm und Drang-Epoche, dem gemäß der Poet von seiner Einbildungskraft beflügelt arbeitet, liegt dieser Dichter-Charakterisierung zugrunde. Von ihm ist wohl auch Lavaters dichterische Motivation geleitet. Indem Lavater unbescheiden anmerkt, dass ihm das lyrische Dichten keinerlei Schwierigkeiten bereitet, tönt er an, sich in die von Trümpi angesprochene Reihe genialischer Dichter stellen zu wollen. Doch neben diesen poetischen Anforderungen waren Lavaters Reflexionen über das lyrische Dichten vor allem auch von theologisch-praktischen Überlegungen geleitet: Verse lassen sich leichter dem Gedächtnis einprägen, leichter und angenehmer zur Erquickung und Ermunterung christlicher Leser recitiren; – Und endlich, lässt sich in Versen gedrängter, rührender und herzerhebender singen.¹³³⁰
Dem vagen poetischen Anspruch, der abgesehen von der ‚Feurigkeit‘ nicht genau ausformuliert, was die Qualität der Dichtung ausmachen soll, steht die religiöse Motivation gegenüber, bei der Lavater genau ausdrückt, um was es ihm geht. In Versen gemachte theologische Aussagen würden seiner Absicht der Erbauung und Bestärkung im christlichen Glauben, die eine emotionale Bewegtheit in religiösen Fragen zum Ziel habe, besser gerecht werden.
1327 Vgl. JCLW II, S. 189. 1328 Ebd., S. 189. 1329 Ebd., S. 190, Anm. 19. 1330 Ebd., S. 189 f.
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Dass er dazu den Hexameter als besonders geeignet erachtet, kommt bereits in seinen frühen Reflexionen in den Aussichten, aber auch in späteren Überlegungen zum Ausdruck. In den Aussichten erwägt Lavater den Versuch, verschiedene Versmaße zu verwenden, die er dem Inhalt gemäß wählen und variieren will, spricht er doch keinem die Fähigkeit zu, unterschiedliche inhaltliche Absichten auszudrücken: „Und doch ist mir noch keine einförmige Versart bekannt, die sich eben so gut zum Beweisen, zum Raisonniren, als zum Mahlen und Empfinden schickt.“¹³³¹ Wieder wird explizit, wie stark Lavater den Inhalt bewertet und diesen stärker als das Dichten nach poetologischen Regeln in den Vordergrund stellt; die Einkleidung in Verse dient stets der besseren Vermittlung des Inhalts, poetologische Reflexionen wie diejenigen Klopstocks, die der Gattungswahl literaturgeschichtliche und poetologische Überlegungen zugrunde legen, finden sich bei Lavater nicht. Auch auf Herders Erläuterungen zum Hexameter nimmt Lavater keinen Bezug. Lavaters Verse sind vom strengen hexametrischen Schema geprägt, in dem der Daktylus dominiert. Anders als Klopstock, der seine Hexameter der Prosodie des Deutschen anzupassen versuchte und seine Verse dergestalt schmiedete, dass sie abwechslungsreich und fließend klangen, orientierte sich Lavater am daktylischen Versfuß. Viele seiner Hexameter bestehen aus reinen Daktylen, was ihnen eine gewisse Monotonie gibt: Und er entwand sich der Roll’ und entfloh mit der tönenden Wage. Und aus dem heiligen Kreise der lebenden Wundergestalten¹³³² Aber der übrige Haufe, der ihrem Verderben entfloh’n war¹³³³ Himmlischer Harfen. Im Jubelgetöne zerschmolz mir die Seele.¹³³⁴
Um das daktylische Versmaß einhalten zu können, störte sich Lavater nicht an der dem Wortlaut zuwiderlaufenden Betonung, wie im folgenden Vers anhand der Präposition „an“ ersichtlich wird: Fesseln sich an die Fersen des furchtbar erschütternden Tages¹³³⁵
1331 Ebd., S. 190. 1332 JMZH, S. 42. 1333 Ebd., S. 66. 1334 Ebd., S. 116. 1335 Ebd., S. 49.
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Die häufigen apokopierten Endungen sind ebenfalls ein Tribut, den Lavater der strikten Einhaltung des Daktylus zu zollen hatte: In der Linken den Zaum, und eine Wag’ in der Rechten.¹³³⁶ Die entsiegelte Roll’ und ich sah’ am Fusse des Altars.¹³³⁷
In vielen Versen beginnt Lavater mit einem „Und“, um den Auftakt des Hexameters zu machen, was weder der ursprünglichen Wortbetonung noch der Flüssigkeit und Abwechslung der Verse zugute kommt: Und der Bote des ernsten Gerichtes, der Rache des Herrn stand Unsichtbar noch – auf einem Gebürg’ hoch über dem Abgrund. Und Er begann zu regen die Wetterleuchtende Kette Voll von Göttlichen Flammen, vor denen kein Satan bestehn kann. Und es sahe zurück mit dem Blicke der Wuth und des Schrecken¹³³⁸
Der mechanische Hexameter Lavaters wird selten, aber auffällig durchbrochen. Trotz des dominierenden Daktylus sieht Lavater keine Bedenken darin, Verse mit lediglich dem nach der Regel des antiken Hexameters im fünften Fuß geforderten Daktylus zu bilden und in den anderen Füssen den Trochäus zu verwenden: Und die Hand des Herrn kam über mich. Mir erschienen¹³³⁹ Engel ohne Zahl, die alle sanken aufs Antlitz¹³⁴⁰
Die dadurch bewirkte Unterbrechung des strengen daktylischen Schemas wirkt zu abrupt, als dass sie zu einer harmonisch klingenden Abwechslung im Versrhythmus führen könnte. Lavaters Hexameter wurden denn auch kritisch rezensiert. Der anonyme Rezensent von Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn bezeichnet Lavaters Verse als holprig,¹³⁴¹ und auch beim zweiten Messias-Epos wird in der Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek auf die metrischen Unzulänglichkeiten verwiesen: „Seine Hexameter sind höchst unharmonisch, und der Ausdruck oft steif und ohne Fülle.“¹³⁴² Die Abgrenzung zur Antike und zu
1336 Ebd., S. 42. 1337 Ebd., S. 44. 1338 Ebd., S. 182 f. 1339 Ebd., S. 49. 1340 Ebd., S. 52. 1341 Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek. 1781. 47. Bd., 2. Stück, S. 372. 1342 Ebd., 1786. 67 Bd., 2. Stück, S. 435.
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Klopstock betonend, gab es aber auch lobende Worte: „Ihr Hexameter, der weder Homerisch noch Virgilisch noch Klopstockisch ist, wie er es auch vermöge Ihres Gegenstandes nicht seyn musste, ist gleichwohl rein, fließend, klingend.“¹³⁴³ Lavaters Verse brachten zum Teil inhaltliche Ausdrucksschwierigkeiten mit sich. Durch die ausschweifenden hexametrischen Umschreibungen, die nicht immer dem Verständnis zuträglich waren, veränderte Lavater die biblische Vorlage in derjenigen Weise, die Herder im Zusammenhang mit dem Paraphrasieren als Verwässerung des ursprünglichen Inhalts bezeichnete¹³⁴⁴ und die ihn bei der Nachdichtung der Apokalypse davon abkommen ließ, in Jamben zu dichten. Inwiefern Lavaters Hexameter die von Herder kritisierten Mängel aufweisen, soll der Vergleich mit Herders Nachdichtung der im ersten Kapitel angekündigten Erscheinung Jesu zeigen. In der biblischen Vorlage wird das Erscheinen auf einer Wolke, das für alle Menschen sichtbar sein wird, folgendermaßen beschrieben: Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen haben; und werden heulen alle Geschlechter auf der Erde. Ja, amen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, spricht Gott der HERR, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige (Apk. 1,7–8).
Lavater reichert die knappen und schnörkellosen Worte der Vorlage, um sie in einen Hexameter zu bringen, mit verschiedenen Zusätzen an, so dass die zwei Verse der Apokalypse in seinem Epos zu elf werden: Sieh! Er kommt! – Auf blendenden Wolken! Ihn siehet das Auge Aller Kinder von Adam, die sterben werden, und starben, Athmeten Odem der Erd’ – O – dich wird, Herrlicher Gottes! Sehn der Kreuziger Aug, und der durchborrte das Herz Dir! Amen! Amen! Er kommt! Ihm heulen der Erde Geschlechter Bleicher Schrecken des Todes erhebt die gefalteten Hände – Und der Gebeine Mark verdorrt dem Kommenden! Amen. Ich bin Alpha! Ich bin Omega! Der Anfang, das Ende! Spricht Jehovah, der ist, Jehovah, der war, und der seyn wird. Er, Dess ewiges Seyn ein ewiges Kommen Sein Selbst ist! Spricht, der Himmel gewölbt, und flieht! Den Himmlen einst zuruft!¹³⁴⁵
Herders endgültige Form der Apokalypse-Nachdichtung ist zwar in Prosa geschrieben, um der durch metrische Anforderungen bedingten Abweichung vom Ori-
1343 Haschka an Lavater, 22. Aug. 1783. In: Hegner (Anm. 3), S. 160. 1344 Herder an Lavater, 7. Aug. 1773. In: WA Bd. 3, S. 38. 1345 JMZH, S. 8 f.
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ginal vorzubeugen, doch bereits in den Vorstufen, in denen er noch jambisch übersetzte und paraphrasierte, bemühte er sich, in Wortwahl und Syntax dem griechischen Original zu entsprechen: Sieh’ in den Wolken kommt er! ihn wird sehn all’ Aug’! und die ihn stachen! Heulen wird ob ihm all’ Erdgeschlecht! Ja! Amen! ‚Ich bin das A und O! spricht Gott, der Herr, der ist und war und kommt! Der Allumfasser!‘¹³⁴⁶
Exemplarisch für den unterschiedlichen Umgang mit der biblischen Vorlage ist die Bezeichnung Gottes, die Herder in der eben zitierten Stelle mit „Allumfasser“ übersetzt. Wie sehr ihm daran gelegen war, einen adäquaten Ausdruck zu finden, zeigen die Vorstufen, in denen er „Allerhalter“¹³⁴⁷ und „Allmacht“¹³⁴⁸ ausprobiert, um dem griechischen Begriff pantokrator gerecht zu werden, der sich aus den Teilen Panta (alles) und Krator (Herrscher) zusammensetzt. Ohne sich um die originale Begrifflichkeit zu kümmern, paraphrasiert Lavater das eine Wort „Pantokrator“, also Herrscher über Alles, zu einem Hexameter, der nicht nur grammatikalisch einige Schwierigkeiten aufweist, sondern auch den eigentlichen Aussagegehalt ändert. So müsste die grammatisch korrekte Form des zweitletzten der zitierten Verse heißen: „Er, dessen ewiges Sein ein ewiges Kommen seiner selbst ist“, was die göttliche Transzendenz ausdrückt, die sich in immer neuen Offenbarungen dem Menschen zeigt. Bei Lavaters Satzkonstruktion kann nur aus dem Inhalt abgeleitet werden, wer denn nun flieht: Sich auf Apk. 20,11 beziehend, wird für Lavater aus dem Pantokrator ein Gott, der die Himmel zum Fliehen bringt. Die so verstandenen Verse bilden eine Reminiszenz zu Klopstock, der im Messias beim Kreuzestod Christi schreibt: „Die Himmel der Himmel […] fliehn.“¹³⁴⁹ Abgesehen vom Metrum weist Lavaters Epos wenige gattungsspezifische Merkmale auf. So ist im Vergleich zu Klopstocks häufigen Musenanrufen Lavaters Hinwendung zum Lied, das er anstelle der Muse um Beistand bittet, eher selten.
1346 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 5. Ähnlich schreibt Herder in ‚Maran Atha‘: „Siehe, er kommt mit den Wolken und wird ihn sehen jegliches Auge, auch die ihn stachen, und werden weinen über ihn alle Geschlechter der Erde. Ja! Amen. Ich bin das A und das O, spricht Gott der Herr, der ist und der war und der kommt, der Allbeherrscher“ (Herder: Maran Atha [Anm. 916], S. 106.). 1347 Erster Entwurf, vgl. Herder-Nachlass-Berlin, Kapsel VI, 27. 1348 Zweiter Entwurf, vgl. ebd., Kapsel VI, 28. 1349 MA, VIII, V.58 f.
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Nach dem Eingang spricht Lavater sein „Heiliges Lied“¹³⁵⁰ erst im fünften Gesang wieder an. Die dritte und zugleich letzte Erwähnung findet sich im 23. Gesang.¹³⁵¹ Dass sich neben diesen drei Anrufungen an das Lied und dem Versmaß des Hexameters keine weiteren typischen Merkmale des Epos finden, hängt einerseits mit der Vorlage, andererseits mit Lavaters poetologischer Bildung und dichterischem Anspruch zusammen. Anders als Klopstock hat sich Lavater nicht intensiv mit der Gattung des Epos auseinandergesetzt, neben den wohl im Carolinum pflichtgemäß erworbenen Kenntnissen über die lateinische Epik lassen sich bei ihm keine diesbezüglichen Studien nachweisen. Mit den visionären Bildern der Apokalypse aber ist auch stofflich keine Vorlage gegeben, die sich epischen Kriterien unterwerfen lässt. Die einzelnen Visionen erlauben zwar innerhalb ihrer Darstellungssymbolik eine Handlung, es gibt jedoch keinen linearen Handlungsablauf, der die Apokalypse als Erzählstrang durchzieht. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, von verschiedenen Parallelhandlungen zu sprechen; auch gibt es keine eigentlichen Rückblicke, hingegen ist die Johannes-Offenbarung, wie es ihrem Charakter als Prophezeiung entspricht, eine einzige Vorausschau in die Zukunft. Lavaters Epos ist eine Nacherzählung der Apokalypse, die sich im Aufbau und in der Gliederung eng an der Vorlage orientiert,¹³⁵² was ihn von Klopstock unterscheidet, dessen Messias Lavater als fehlerhaft im Plan und im System bezeichnet.¹³⁵³ Innerhalb dieser an die Offenbarung des Johannes angelehnten Gliederung nimmt sich Lavater aber viele dichterische Freiheiten, vor allem, was die in seinen Augen besonders wichtigen Kapitel betrifft, die er in mehrere Gesänge aufteilt. Lavater versucht, in ihnen Handlungsabläufe darzustellen, bei denen aus den apokalyptischen Symbolen eine Folge von Ereignissen wird, die in ihrem emotionalen Zusammenhang geschildert werden. Er orientiert sich also an Herders Bemühungen, die Apokalypse in affektiven Einheiten darzustellen.¹³⁵⁴ Anders aber als Herder, der die Emotionen im Ausdruck der Bilder sieht, versucht Lavater sie in eigenen Erdichtungen zum Ausdruck zu bringen, was an die Perspektivenvielfalt Klopstocks erinnert.
1350 Vgl. JMZH, S. 39. 1351 Vgl. ebd., S. 213. 1352 Lavater übernimmt die chronologische Abfolge der Apokalypse, fasst aber einige Kapitel in einem Gesang zusammen, um andere in mehrere zu unterteilen. So sind Kapitel 2 und 3 im zweiten Gesang zusammengefasst, das achte und neunte Kapitel im siebten Gesang. Das elfte Kapitel paraphrasiert Lavater in den Gesängen neun und zehn, das Kapitel 19 wird in den Gesängen 18 und 19 besungen, das zwanzigste Kapitel teilt Lavater in die Gesänge 20 bis 23 auf. 1353 Vgl. Caflisch-Schnetzler: Wegzuleuchten (Anm. 50), S. 522. 1354 Vgl. Kap. 5.4.
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Ziel von Lavaters Ausschmückungen ist es nicht nur, die jeweiligen Ereignisse besser verständlich zu machen. Er will auch die in theologischen Belangen besonders bemerkenswerten Aussagen markieren, um sie für seine Christologie nutzbar zu machen. Neben umfassenden dichterischen Ausschmückungen, die weit über die Schilderung in der Bibel hinausgehen, ergänzt er die biblische Vorlage auch in eng an die Johannes-Offenbarung angelehnten Gesängen, wenn er diese für erklärungsbedürftig hält. Die für ihn wichtigen biblischen Verse werden häufig mit durch Analogien exemplifizierenden oder epithetisch ausschmückenden Passagen ergänzt: In die Seele des Fürsten – Ergoss ein Schauer, wie Ein Hauch Über den flachen Spiegel, verschwindend indem Er gehaucht wird, Über die Morgenröthe des Heldenangesichts.¹³⁵⁵ […] Gebrüll war, Wie der Löwen Gebrüll, wie vieler Heere Geschrey war Ihres Jammers Rufen.¹³⁵⁶
Ausführlicher wird Lavater vor allem in der Beschreibung der von Gott oder Jesus ausgehenden Erhabenheit, Allmacht oder Allgüte. Der besondere Fokus richtet sich dabei auf die Erlösungstat Jesu, wie bereits im ersten Gesang ersichtlich wird. Lavater macht die Erwähnung Jesu als Zeugen, ersten Auferstandenen und Fürsten der irdischen Könige, der die Menschen liebt und sie von ihren Sünden reinwäscht (Apk. 1,5), zu einer hymnischen Anbetung: Ihm, der Könige Fürsten, dem Herrscher der Erdebeherrscher, Ihm – Wie hat Er geliebt! Dem Ewigliebenden Liebe! Ewige Lieb’ Ihm und Ehr’! Es rann am Pfahle des Opfers Allversöhnendes Blut! Entsündigung floss mit dem Blute! Aller Sterblichen Leben entquoll des Geopferten Tode! Ewige Lieb’ Ihm und Ehr’! […] Sein ist die Herrlichkeit aller Herrlichen! Sein ist der Mächtigen Macht! Die Höhe der Hohen! Erd’ und Himmel ist Sein, des Erstgebohrnen des Vaters! Ehre von Ewigkeit Ihm, und Ehr’ in die Ewigkeit! Amen!¹³⁵⁷
1355 JMZH, S. 172. 1356 Ebd., S. 177. 1357 Ebd., S. 8.
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Der sehr pathetische Duktus, die vielen Superlative und Wiederholungen sind charakteristisch für Lavaters Stil, gleich wie die häufigen Exklamationszeichen, die zu einer permanenten Verstärkung jeder Äußerung führen. Lavaters Ergänzungen zu den biblischen Versen sind häufig auch exegetischer Natur. Nahtlos in Hexameter zwischen die Paraphrase eingebaut versucht Lavater, seinen Lesern bestimmte Stellen der Apokalypse zu erläutern. Einige dieser Auslegungen decken sich mit Herders Kommentaren, wie die Verse des zweiten Gesangs zeigen. Da Lavater beim Verfassen seiner ersten Messiade nur Herders drittes, Johannes Offenbarung genanntes Manuskript kannte, wird dieses dem Vergleich zugrunde gelegt. Lavater beschreibt die vierundzwanzig Ältesten, die sich um den Thron Gottes versammeln (Apk. 4,4), als „Erstling’ aller Erstling’, und aller Erwählten / Auserwählteste; Häupter des Menschengeschlechtes.“¹³⁵⁸ Auch Herder teilt den vierundzwanzig Ältesten eine besondere Rolle zu: „Da würdigt sie Gott, als Erlesene des Menschengeschlechts mit Ihm, dem Ewigen, zu herrschen und zu richten – konnte die Krone des Menschengeschlechts mehr geadelt werden?“¹³⁵⁹ Lavater wie auch Herder bezeichnen die Thronältesten als Urahnen des menschlichen Geschlechts, die von Gott auf Grund ihrer besonderen Taten auserwählt worden sind, sich um ihn zu versammeln. Allerdings stammt der Begriff ‚Erstlinge des Menschengeschlechts‘, den Lavater zu ihrer Bezeichnung verwendet, zwar von Herder, dieser benutzt ihn aber erst für die ersten Auferstandenen.¹³⁶⁰ Die neuere Exegese verweist darauf, dass das Bild der vierundzwanzig Ältesten um den Thron dem Thronrat eines orientalischen Herrschers entspricht, betont aber, dass aus den weißen Gewändern und der Krone, die auch in Apk. 3,5; 2,10 und 3,11 vorkommen, ersichtlich wird, dass die vierundzwanzig Ältesten nicht, wie dies Herder und Lavater annehmen, zum Mitregieren bestimmt sind, sondern zu Gottes Erwählten gehören, die im Buch des Lebens stehen und diejenigen Vorzüge besitzen, die allen Gläubigen zukommen.¹³⁶¹ Auch die vier Lebewesen um den Thron, die Herder als „Sinnbild Alles dessen, das da lebt, in Gottes Schöpfung“¹³⁶² beschreibt, finden sich bei Lavater in einer ähnlichen Darstellung: Rings um den Thron erblickt’ ich wunderherrliche Wesen, Viere; Voll des lebendigsten Lebens – Die Kräfte der Gottheit Ruhten und regten sich schnell im Urbild’ aller Naturen,
1358 Ebd., S. 23. 1359 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 21. 1360 Vgl. ebd., S. 85. 1361 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 56. 1362 Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 21.
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Denen Odem der Herr und ein schlagendes Herz in die Brust gab; In der Könige Leben, dem alle Leben der Thierheit Waren entquollen.¹³⁶³
Wo Herder allerdings die gesamte Schöpfung inklusive dem Menschen abgebildet sieht, findet Lavater lediglich das Tierreich mit seinen Urbildern dargestellt. In der heutigen Deutung werden die vier Lebewesen auf Ez. 1,5 ff. und Ez. 10,15,20 zurückgeführt und mit den Keruben des Tempels, dessen Untergang Ezechiel sieht, identifiziert.¹³⁶⁴ In der älteren Apokalypse-Exegese, so etwa bei Irenäus, wurden die vier Tiere mit den Evangelisten gleichgesetzt, der Löwe war Markus, der Stier Lukas, der Mensch/Engel Matthäus und der Adler Johannes.¹³⁶⁵ Für Lavater christologisch von besonderer Bedeutung und deshalb nicht nur exegetisch ergänzt, sondern dichterisch ausgeschmückt sind diejenigen Szenen der Johannes-Offenbarung, in denen Gottgetreue in ihrem Leid und in der früher oder später folgenden Rettung durch Gott oder den Messias beschrieben werden. Die Hoffnung, als Belohnung für ein gottgefälliges, durch Glaube und Gebet bestimmtes Leben einer besonderen Form der Gnade und Erwählung anheim zu werden, gehörte zu der Erbauung und Stärkung, die Lavater in seiner Christologie verkündete. Biblische Zeugnisse, die eine solche Hoffnung nährten, waren für ihn von besonderem Interesse. Zu diesen gehörte die Szene aus Apk. 11,3–13. In seiner Vision sieht Johannes zwei lediglich als namenlose ‚Zeugen‘ erwähnte, von Gott geschickte Figuren, die mit Wunderkräften begabt 1260 Tage göttliche Prophezeiungen verkünden. Dann aber tötet sie das Tier aus dem Abgrund, ihre Leichname bleiben dreieinhalb Tage unbegraben und verspottet von den Gotteslästern auf dem Marktplatz liegen, um schließlich vom Heiligen Geist erfüllt und zur Auferstehung erwählt zu werden. Lavater macht aus dieser Szene, die mit den nicht namentlich genannten Zeugen, der numeralen Symbolik, dem als eine Stadt mit dem Namen „Sodom und Ägypten“ bezeichneten Schauplatz und den alttestamentlichen Anspielungen, was die göttlichen Gaben der Zeugen betrifft – sie vermögen es, Dürre zu bewirken, Wasser in Blut zu verwandeln und die Erde mit allen möglichen Plagen zu versehen – eine Reihe von geheimnisvollen Äußerungen aufweist, eine dramatische Handlung, in der er die für ihn christologisch wichtigen Aspekte betont. Er identifiziert die beiden Standhaften, die in der Apokalypse identitätslos bleiben, als Propheten Enoch und Elias. Dazu regte ihn womöglich die jüdische Elias-Apokalypse an, in der die beiden Genannten gegen
1363 JMZH, S. 24. 1364 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 56 f. 1365 Vgl. ebd.
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den Antimessias kämpfen und tot dreieinhalb Tage auf dem Marktplatz liegen.¹³⁶⁶ Da auch Lange in seinem Kommentar zur Apokalypse davon ausgeht, dass es sich bei den Zeugen um Enoch und Elia handelt,¹³⁶⁷ ist die Annahme naheliegend, dass sich Lavater in seiner Exegese an dessen Auslegung anlehnte. In seinen Ausführungen geht Lavater vor allem auf den Tod der beiden Zeugen, ihre Verspottung und ihre Auferstehung ein.¹³⁶⁸ Herder nimmt in seinem Kommentar keinen Bezug auf die jüdische Elias-Apokalypse, vielmehr stehen für ihn die beiden Zeugen in der Johannes Offenbarung als allgemeine Symbole für das Schicksal aller Gottgetreuen. In Maran Atha jedoch identifiziert er sie anhand von Josephus als Hohepriester Ananus und Jesus, die bei einem Aufstand der Zeloten in Jerusalem ums Leben gekommen sind.¹³⁶⁹ In der heutigen Apokalypse-Auslegung symbolisieren die beiden Zeugen das letzte Alarmzeichen, das zur Umkehr und zur Rettung vor dem Jüngsten Gericht rufen sollte. Die Zeugen werden in den Zusammenhang zum jüdischen Recht gesetzt, dem gemäß es zum Erweis von Wahrheit zwei Zeugen braucht. Die zwei Zeugen anhand der Elias-Apokalypse als Enoch und Elias zu identifizieren, wie dies Lavater und Lange tun, wird in der heutigen Exegese ausgeschlossen, da die Apokalypse des Elias in ihrer Überlieferung mehrfach christlich bearbeitet wurde und wohl erst aus dem dritten Jahrhundert nach Christus stammt, sich dementsprechend also an der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes orientiert und nicht umgekehrt.¹³⁷⁰ Die Wichtigkeit, die Lavater der Vision von den zwei Zeugen bemisst, steht im Zusammenhang mit seiner christologischen Hoffnung: Die Gottgetreuen werden zwar verspottet, ihr Lohn ist ihnen aber gewiss. Auch sind die zwei Zeugen die ersten, die nach Jesus wieder zum Leben erweckt werden und auferstehen.¹³⁷¹ Das zwölfte Kapitel der Apokalypse stellt für Lavater einen ersten Höhepunkt der Offenbarung des Johannes dar, den er dichterisch ausgestaltet und exegetisch erläutert. Auch Herder sieht in den Visionen aus Apk. 12 oder aber in dem diese Visionen einleitenden Blasen der siebten Posaune aus Apk. 11,15–19 den Anfang eines neuen Geschehens, ist doch die vierte Fassung, die bei Apk. 11,14 endet, als erste Hälfte der Johannes-Offenbarung betitelt.¹³⁷² In der gebärenden Frau kommen die exegetischen Unterschiede zwischen Lavater und Herder deutlich zum Ausdruck. Lavater identifiziert sie mit dem israelischen Volk:
1366 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 85 sowie Lohse: Offenbarung (Anm. 749), S. 65. 1367 Vgl. Lange (Anm. 1284), S. 105. 1368 Vgl. JMZH, S. 76–82. 1369 Herder: Maran Atha (Anm. 916), S. 163 ff. 1370 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 85 sowie Lohse: Offenbarung (Anm. 749), S. 65. 1371 Vgl. JMZH, S. 81, Apk. 11,11–12. 1372 Vgl. Kap. 5.3.
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Sieh! Ich sah’ ein Weib; Auf der Brust die strahlende Sonne; Unter den Füssen den Mond; Zwölf Sternen über dem Haupte. Allso prächtig erschien mir der Israelen Gemeine Schmachtend nach der Erscheinung und voll von Ahndung Messias.¹³⁷³
Herders Deutung in Johannes Offenbarung ist weniger konkret als diejenige Lavaters. Für ihn symbolisiert die Szene die Geburt des Guten, die mit viel Schmerz und Mühsal vonstatten geht.¹³⁷⁴ In Maran Atha jedoch deutet er die gebärende Frau als „Jüdische Kirche, aus der der kommen sollte, der alle Völker beherrschte.“¹³⁷⁵ Johannes habe die Geburt Christi miterlebt als „innigste Geschichte seines Lebens“¹³⁷⁶, sie sei im „Bildersaal seines Herzens“¹³⁷⁷ aufgehoben, aus dem er nun schöpfe, um die darin enthaltenen Bilder in einer neuen, höheren Bedeutung sprechen zu lassen. Die in der Johannes Offenbarung erläuterte allgemeine Bedeutung dieses Bildes kommt aber auch in Maran Atha zum Ausdruck: In allen Zügen kann die mühselige Geburt, die frühe Gefahr, die Verfolgung, Flucht und dürftige Gestalt des Guten auf der Erde; aber auch seine hohe Abkunft, seine verborgne Macht, sein gewisser Sieg im Himmel der Wahrheit, nicht schöner geschildert werden, als in diesem vortreflichen Symbol des Weibes und ihres himmlischen Knaben.¹³⁷⁸
Sowohl Lavater wie auch Herder sehen in der Frau die jüdische Nation, allerdings in einer anderen Bedeutung. Herder bringt der jüdischen Kirche viel Achtung entgegen, seiner Meinung nach ging das Christentum aus ihr hervor, wie die Apokalypse und die in ihr dargestellte Kirchengeschichte belegt. Da Lavater die Offenbarungen des Johannes nicht als Kirchengeschichte, sondern als Visionen über zukünftige Ereignisse deutet, kommt er zu einer anderen Interpretation. Er betrachtet die Szene mit der gebärenden Frau als Symbol der kommenden Zeit: In der schwierigen Geburt sieht Lavater die lange Epoche des Unglaubens und der Zweifel, in der sich das jüdische Volk im Hinblick auf die Anerkennung Jesu Christi als Messias noch befindet. Die Juden werden sich aber in der Zukunft bekehren lassen, so Lavaters Interpretation: „Die Israelitische Gemeine, unter dem Bild eines himmlischen Weibes, gelangt mit hartem Drange zur Erkenntnis Jesus Messias.“¹³⁷⁹ Bereits in seiner Apokalypse-Gebetsreihe hat Lavater die
1373 JMZH, S. 91. 1374 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 54. 1375 Ebd., S. 169. 1376 Ebd. 1377 Ebd. 1378 Ebd., S. 171. 1379 JMZH, S. 90.
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Schwierigkeiten der jüdischen Nation, von ihrem Warten auf den Messias wegzukommen und an Christus als Erlöser zu glauben, erläutert: U: obgleich es also offenbar ist, das unser Herr aus Juda aufgegangen, so wisst ihr doch, es liegt auf dieser Nation eine Deke, es ist ihr unbegreiflich, dass in dem Jesus von Nazaret alles vereinigt sey, was sie von einem Messias erwarten.¹³⁸⁰
Auf 2 Kor 3,12–16 und 2 Mose 34,33–35 anspielend, geht Lavater davon aus, dass das jüdische Volk erst von seiner ihm den Anblick Gottes verunmöglichenden Decke befreit wird, wenn es sich zum Christentum bekehrt. Diesen Gedanken nimmt er wieder auf bei den Erläuterungen zur ersten Auferstehung und zum Tausendjährige Reich Christi auf Erden, wie noch zu zeigen sein wird. Der heutigen Exegese gemäß sind in der Frau sowohl das Gottesvolk des Alten Bundes wie auch die neue Gemeinde Christi symbolisiert.¹³⁸¹ Beim Kind handle es sich unverkennbar um den Messias.¹³⁸² Einen weiteren christologischen Akzent setzt Lavater in seiner Nachdichtung von Apk. 12,7–13. Den himmlischen Kampf zwischen den Heeren Michaels und des Drachens führt Lavater „dichterisch“¹³⁸³ aus, wie er es bereits in der Inhaltsangabe besagten Kapitels vorwegnimmt. Lavater dramatisiert die Ausgangslage und den Grund des Kampfes bis zu dessen Höhepunkt und Ende und versucht, eine zusammenhängende Struktur hineinzubringen, in dem er vor allem die Bewusstseinsvorgänge betont, die seine Figuren während des Geschehens bewegen und zu ihren Handlungen motivieren. Lavater stellt den Kampf in eine kausale Beziehung zum vorangehenden Geschehen und schafft damit eine Verbindung zum in der biblischen Vorlage ohne Zusammenhänge zu anderen Visionen geschilderten Bild aus Apk. 12,1–6. Der Drache wolle sich dafür rächen, dass ihm das Kind entrissen worden sei, so Lavaters Motivierung des himmlischen Kampfes. Alternierend berichtet er über den physischen und psychischen Zustand der beiden Heere, die sich zum Kampf rüsten. Während Satan „bis zur Ohnmacht schwellend in mächtiger Rachwuth“¹³⁸⁴ sein Heer versammelt und seinen Dienern gebietet, „Heldenschritte des Sieges zu wagen gegen den Himmel“¹³⁸⁵ und ihnen die unmissverständliche Botschaft „Tödten oder Sterben“¹³⁸⁶ auf den Weg gibt, fragt
1380 FA Lav. Ms. 68c. 1381 Vgl. Holtz (Anm. 749), S. 92. 1382 Vgl. ebd. 1383 JMZH, S. 90. 1384 Ebd., S. 92. 1385 Ebd., S. 93. 1386 Ebd.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
der über das ungehobelte Betragen erboste Erzengel Michael Gott, wie lange er den satanischen Engel noch im Himmel dulden wolle, und bittet: Lass uns! Lass uns! Halt uns nicht länger! Erlaube den Kampf uns! Gönne den Sieg uns! Alleingewaltiger! Schlage durch Uns Ihn Ferne weg von der heiligen Stätte, herab in die Tiefe.¹³⁸⁷
Gott stimmt Michaels Vorschlag zu, den Kampf zu beginnen, bemerkenswert ist Lavaters diesbezügliche Formulierung, die gekonnt die von Herder geäußerte Kritik umgeht, Klopstock verstehe es nicht, Jesus sprechen zu lassen.¹³⁸⁸ Bei Lavater wird weder von Gott noch von Jesus direkt das Wort ergriffen, um Michael den Kampf zu erlauben, sondern „Huldestrahlend antwortet Jehovah / Ihrem stehenden Blicke die volle Erhörung!“¹³⁸⁹ Um sich für den großen Kampf vorzubereiten, so führt Lavater seine Dichtung weiter, versammeln sich Michael und sein Heer zum Gebet und werden durch einen von Gott gesendeten Lichtstrahl mit göttlicher Kraft erfüllt.¹³⁹⁰ Pathetisch beschreibt Lavater das Gefühl der Brüderlichkeit und des Stolzes, das die Engel beim Anblick von Michael, der im Glanz der Kraft Gottes erstrahlt, befällt. Michaels eigene Emotionen bestehen aus Liebe und Demut dem göttlichen Vater gegenüber und benennen somit zwei der wichtigsten christlichen Tugenden.¹³⁹¹ Nach dem Gebet nähert sich Michael dem Thron Gottes, um „das hohe Orakel, / das Ihn lehren sollte den Weg zum höchsten Triumphe“¹³⁹² zu empfangen. In diesem Orakel erfährt Michael wohl auch von dem bevorstehenden Sieg, denn als er vor seine Engel tritt, lesen diese „im Angesicht des Fürsten [Michael] / Grosse Thaten des Kampfs und Freuden des Siegs und Triumphes.“¹³⁹³ Nicht nur der Erzengel Michael, sondern auch die Leser werden durch diese Offenbarung auf die göttliche Prädestination verwiesen, der gemäß der Sieg bereits seit jeher feststeht. Michaels Engel folgen ihrem Anführer denn auch furchtlos in den Kampf, sie werden geleitet von einem einzigen, sie ausfüllenden und bereits zum Helden machenden Gedanken:
1387 Ebd. 1388 „Haben Sies in Klopstock bemerkt, wie verlegen er immer wird, wenn nun Jesus mitten im Lauf seiner Epopee sprechen soll, was in der Bibel steht?“ (Herder an Lavater, 7. Aug. 1773. In: WA Bd. 3, S. 38). 1389 JMZH, S. 93. 1390 Vgl. ebd., S. 94. 1391 Vgl. ebd. 1392 Ebd. 1393 Ebd.
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Und Er [Michael] gieng mit gelassenem Schritte, mit Ernst und mit Hoheit; Gieng mit schweigendem Blicke voll hoher Gottesgedanken […] Ihm dem Schweigenden folgte mit schweigendem Schritte die Heerschaar; Jeder ein Held voll Gottesgedanken; Ein Bild von Ihm Jeder.¹³⁹⁴
Mit der emphatisch hervorgehobenen Gotteserfülltheit, mit der die Engel nach ihrer Andacht dem Kampf entgegensehen, betont Lavater die Kraft des Glaubens und des Gebets, die eine wichtige Grundlage seiner Christologie bildet.¹³⁹⁵ Daraufhin beginnt, der biblischen Vorlage entsprechend, das Gefecht der himmlischen Heere. Lavater macht aus dem einen Vers in der Johannes-Offenbarung, in dem der Kampf des Drachens mit dem Heer Michaels erwähnt wird (Apk. 12,7), eine Kriegsszene, die deutliche Reminiszenzen zu John Miltons Paradise Lost aufweist, in dem Michael und Gabriel als Anführer des göttlichen Heeres in den Kampf geschickt werden. Bei Lavater erfolgt der Kampf unter Donnergebrüll und Feuerströmen, Satans Wüten übersteigt die Gewalt eines Vulkans: […] So schrecklich Tobt kein flammender Berg, der Meilenlängen mit Fluthen Unentfliehbarer Eile, mit allverderbender Gluth tränkt; Wie die satanische Kraft des Urverführers Gewitter Zürnender Kraft aus sich tobt.¹³⁹⁶
In Lavaters phantasievoller Ausgestaltung tritt Michael Satan und seinem Heer entgegen, entsendet Blitze aus seiner Hand, die auf die Augen seiner Kontrahenten zielen, zusammen mit dem göttlichen Licht, das aus den Stirnen des Heers Michaels strahlt, weisen die himmlischen Heerscharen um Michael Satan und seine Armee in die Schranken, „sie fühlen / Allzugewaltig die Übergewalt der Göttlichen Heerschaar“¹³⁹⁷, und Satan versinkt schließlich in der Lava des eigenen Schwefels, die er und sein Heer aus sich heraus „gedonnert“¹³⁹⁸ haben. Milton respektive Bodmer in seiner Übersetzung, die Lavater gekannt hat,¹³⁹⁹ stellt sich den himmlischen Kampf der Engelheere nach dem Vorbild irdischer Kriegssze-
1394 Ebd., S. 95. 1395 Vgl. Kap. 2.5. 1396 JMZH, S. 96. 1397 Ebd., S. 97. 1398 Ebd., S. 98. 1399 In Lavaters Leseliste wird Miltons Epos in der Übersetzung von Bodmer aus dem Jahr 1732 aufgeführt. Lavaters Kritik: „Ungeheure Vorstellungen beleben das sonst unsterbliche Werk“ (Caflisch-Schnetzler: Wegzleuchten [Anm. 50], S. 525).
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narien vor. Er lässt die beiden Heere in gewaltigem Sturm aufeinander treffen, schildert das Klirren der Schwerter und beschreibt die feurigen Pfeile, die den Kampfplatz in ein Flammenmeer verwandeln: Izo erhub sich ein rasender Sturm, und ein Geschrey, dergleichen man im Himmel niemahls zuvor gehöret hatte, Waffen stießen auf Waffen, und polterten abscheulich auf einander, die knarrenden Räder der ehrenen Wagen wütheten, das Getümmel in diesem Gefechte war erschrecklich.¹⁴⁰⁰
Bei Milton verliert das satanische Heer in der Folge des schrecklichen Kampfes zusehends an Stärke. Um die drohende Niederlage gegen Michael und seine Krieger abzuwenden, macht sich Satan Gedanken über eine die gegnerische Kraft übertreffende Waffe. Vom göttlichen Donner inspiriert, erfindet er das Schießpulver. Detailliert beschreibt Milton, wie Satans Engel nach Schwefel- und Salpetererz suchen, um dieses zu Schießpulver zu verarbeiten.¹⁴⁰¹ Lavater führt diesen phantasievollen Einschub Miltons zwar nicht aus, spielt aber darauf an. Er beschreibt Satan als „Räuber des Donners Jehovah’s“¹⁴⁰², womit er die Reminiszenz zu Miltons Satan herstellt, der durch die Erfindung des Schießpulvers zwar den göttlichen Donner nicht stiehlt, ihn aber kopiert und damit eine ähnlich effiziente Waffe zur Verfügung hat. Miltons wie auch Lavaters Ereignisse des Kampfes enden der Apokalypse entsprechend mit dem Sturz Satans und seines Heers aus dem Himmel. Wie aus diesem Sturz und seiner Weiterführung in Gesang 19 ersichtlich wird, stellt sich Lavater wie Klopstock ein unermessliches, in seiner Grundstruktur aber vertikales Universum vor,¹⁴⁰³ an dessen oberster Stelle sich der Himmel, in der Mitte die Erde und zuunterst die Hölle befindet: Satan und seine Anhänger „stürzten und stürzten, / Neben Sternen herab, und neben der Sonn’ und dem Monde, / Auf die tieffste der Schöpfungen Gottes, die Erde.“¹⁴⁰⁴ Klopstocks fantasievolle Idee eines englischen Wohnraums im Innern der Erde wird von Lavater jedoch nicht aufgenommen.¹⁴⁰⁵ Milton vereinigte in Paradise Lost die Kampfszenen aus Apk. 12 und 19 zu einem großen himmlischen Kampf, den er zeitlich vor der Schöpfung der Erde
1400 Bodmer: Miltons Episches Gedichte (Anm. 465), S. 264. 1401 Ebd., S. 277 f. 1402 JMZH, S. 171. 1403 Zu Klopstocks Beschreibung des Universums vgl. Kap. 4.6. 1404 JMZH, S. 98. 1405 Vgl. HKA IV, 3, I, V.587 ff.
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ansiedelt.¹⁴⁰⁶ Durch die bereits erwähnte Erfindung des Schießpulvers gelangen die abtrünnigen Engel zu einem ersten Sieg, ihre Macht kann nur durch das Eingreifen Jesu Christi gebremst werden, wodurch Milton eine Verbindung herstellt zwischen dem Kampf im Himmel aus Apk. 12 und dem endgültigen Sieg über die satanische Macht, die vom Erscheinen Jesu im offenen Himmel (Apk. 19,11) eingeleitet wird.¹⁴⁰⁷ Wie schon die Zusammenfügung dieser Kapitel, aber auch die zeitliche Einordnung des himmlischen Kampfes zeigen, entspricht Miltons Umgang mit der biblischen Vorlage nicht Lavaters Konzept, das letzte Buch des Neuen Testaments den Visionen des Johannes folgend wiederzugeben. Milton bedient sich zwar in seiner Dichtung der Bilder aus der Apokalypse, verwendet diese aber in einem ganz anderen Bedeutungszusammenhang, was Konsequenzen für die Exegese hat. Indem Milton den himmlischen Kampf vor der Schöpfung der Erde ansiedelt, nimmt er ihm die eschatologische Bedeutung. Die Apokalypse als Vision über die endzeitlichen Ereignisse mit dem Jüngsten Gericht findet zwar in Miltons Gedicht Erwähnung, als der Erzengel Raphael Adam einen Blick in die Zukunft gewährt, um die Last seiner Schuld zu erleichtern. Raphael lässt Adam das Jüngste Gericht sehen, die apokalyptischen Zustände der Endzeit aber und der endgültige Sieg des Guten über das Böse werden nicht mehr erwähnt, Adam sieht lediglich den in Ketten gelegten Satan, und schließlich erscheint ihm Jesus als höchster Richter und Retter der Menschheit.¹⁴⁰⁸ Milton erwähnt die Apokalypse also nicht in ihrer Bedeutung als endzeitliches Geschehen vor dem Untergang der Welt, zu dessen Zuspitzung der aus dem Himmel gestürzte und nun
1406 Milton knüpft damit an eine im Mittelalter verbreitete und auch im sechzehnten Jahrhundert weitergeführte Tradition an, wonach der Engelsturz als der Erschaffung des Paradieses und des Menschen vorangestellte Begebenheit in die Schöpfungsgeschichte integriert wird (vgl. Hildegard Elisabeth Keller [Hg.]: Jakob Ruf. Werke 1550–1558. Kritische Gesamtausgabe, Teil 3. Einleitung zu ‚Adam und Eva‘. Zürich 2008, S. 15). 1407 Vgl. Bodmer: Miltons Episches Gedichte (Anm. 465), S. 291. 1408 „Dann wird er, als ein Ueberwinder, siegprangend in den Himmel der Himmel auffahren, und durch die weite Luft hinaus über seine und deine [Adams] Feinde triumphieren. Da wird er die Schlange, den Fürsten der Luft, plötzlich anfallen und in Ketten gebunden durch seine gantzes Reich hinschleppen, und ihn erschlagen und beschämt liegen lassen. Hierauf wird er in seine Herrlichkeit eingehen, und seinen Thron an der rechten Hand seines Vaters wieder einnehmen, hocherhaben über alle Majestäten in dem Himmel. Von da wird er, wann die Auflösung der Welt nun reif ist, mit Macht und Herrlichkeit wiederkommen, alle lebendigen und Todten zu richten, die unglaubigen Todten zu richten, und die glaubigen zu belohnen, und in die Seligkeit aufzunehmen, es sey im Himmel oder auf Erden, denn die Erde soll dann allenthalben ein Paradies seyn, ein glückseligerer Aufenthalt, als dieser hier in Eden ist, und mit glückseligern Tagen bekrönet seyn. So sagte der Erzengel Michael, und schwieg, weil er izo zu dem lezten Weltalter gekommen war (Bodmer: Miltons Episches Gedichte [Anm. 465], S. 564).
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auf der Erde wütende Satan beiträgt. Dass Lavater trotzdem auf ihn rekurriert, geschieht wohl aus der Absicht des ‚Verbesserns‘ heraus. Lavater lässt sich zwar von Miltons dichterischer Ausgestaltung des himmlischen Kampfes inspirieren, stellt aber, indem er die Szene im richtigen biblischen Kontext einbringt, die vor allem bei Klopstock kritisierte willkürliche zeitliche Folge und Ausgestaltung der biblischen Vorlage richtig. Einen weiteren exegetischen Einschub macht Lavater, um auf der Grundlage von Apk. 17,7–13 die Datierung der Apokalypse zu erklären. Er interpretiert die sieben Köpfe respektive Hügel der Frau als sieben Königreiche, die er namentlich benennt: Sieben Berge bedeuten die sieben Köpfe des Thieres! Denn auf Sieben Hügeln gebaut ist die Stadt, die das Weib ist. Aber die Sieben Köpfe verschliessen noch tiefres Geheimnis Weiteren Umfangs! Sieben Könige! Reiche der Sieben, Die das Volk des Herrn vom Beginn an drängten. – Mizraim, Babylon, Medien, Persien, Griechenland, Rom wie Es izt ist. Schon sind Fünfe gefallen. Das Sechste drängende Reich ist. Noch ein Anderes kommt; Ein Volk ohn’ Ordnung und Sitten.¹⁴⁰⁹
Anders als Herder, der in Johannes Offenbarung in der diesbezüglichen Vision die Reihe der römischen Kaiser abgebildet sieht¹⁴¹⁰ und später in Maran Atha davon ausgeht, dass es sich um Hohepriester handelt,¹⁴¹¹ deutet Lavater die Symbolik des Bildes an Daniel 2,36–44 angelehnt als fünf vergangene und zwei bevorstehende Königreiche. Lavaters Interpretation ist eine Modifizierung der bereits in der Alten Kirche entwickelten, im Mittelalter und im sechzehnten Jahrhundert weiter ausgebauten Monarchienlehre, in der, aufbauend auf den Visionen von Daniel 2 und 7, die Weltgeschichte in vier sich ablösende Weltreiche eingeteilt wird.¹⁴¹² Lavater erweitert diese vier Monarchien um das ägyptische Reich, trennt die Reiche Medien und Persien und hat somit die seiner Meinung nach in der apokalyptischen Vision ausgedrückten fünf vergangenen Weltmächte. Im sechsten Reich sieht er das Heilige Römische Reich seiner Gegenwart. Die letzte Epoche der Welt, in der der Antichrist die Macht übernimmt, könnte das siebte Reich repräsentieren, Lavater gibt aber keine erklärenden Hinweise dazu.
1409 JMZH, S. 145. 1410 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 73 f. 1411 Vgl. ebd., S. 201. 1412 Vgl. Christian Moser: Die Dignität des Ereignisses. Studien zu Heinrich Bullingers Reformationsgeschichtsschreibung. Bd. 1. Leiden, Boston 2012, S. 28 f.
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Eine für Lavater in vielerlei Hinsicht wichtige biblische Szene stellt Apk. 19,11– 21 dar. Mit dem Erscheinen von Jesus im geöffneten Himmel sieht Lavater „den Morgen des Tages der Tage“¹⁴¹³ angebrochen, bereitet sich doch nun der Messias persönlich darauf vor, die satanische Macht zu vertreiben und ihre Anhänger im Jüngsten Gericht zu verurteilen, wie Lavater Johannes in seiner Vision sehen lässt: „Ihn, Ihn selber sah’ ich gerüstet zum Streit und zum Siege.“¹⁴¹⁴ Das diesem Sieg vorangehende Geschehen und der Kampf, die in der biblischen Vorlage lediglich symbolhaft angetönt sind, macht Lavater im neunzehnten Gesang von Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn zu einer einheitlichen, minutiös und detailreich beschriebenen Handlung, in der alternierend die beiden gegnerischen Parteien in ihren Kampfvorbereitungen geschildert werden. Schauplatz dieser Handlung ist die Erde, wie Lavater durch ein neues Bild, das Johannes sieht, explizit festlegt: „Und ich [Johannes] wandte mich um – und erblickte wieder die Erde.“¹⁴¹⁵ Im Gegensatz zum himmlischen Krieg aus Apokalypse 12, in dem vor allem das eigentliche Kampfgeschehen geschildert ist, legt Lavater viel Wert auf die vorangehenden Ereignisse. Diese sind ihm wichtig, weil sie in ihrer ultimativen Steigerung vom sündigen Verfall der von antimessianischen Kräften bestimmten Menschheit die Bedingungen schaffen, unter denen das Einschreiten Gottes keinen Aufschub mehr duldet. Satan und sein Machtapparat kontrollieren das Volk, ziehen es in ihren Bann, und wer ihm den Gehorsam verweigert, wird verfolgt und auszurotten versucht, so die Ereignisse, die Lavater phantasievoll in einem dramaturgisch inszenierten Spannungsbogen als Endzeit vor dem Auftreten von Jesus Messias beschreibt. Im Autoritätsverlust der christlichen Kirche sieht Lavater den apokalyptisch imaginierten Tiefpunkt vor Christi Wiederkunft verwirklicht. Der Bedeutungsverlust der Bibel als heiligen Text, die Reduktion Jesu Christi auf einen Morallehrer und die nicht mehr gefühlten und geglaubten, sondern rational erklärten religiösen Wahrheiten deutet Lavater als Vorstufe zu den apokalyptischen Zuständen vor dem Jüngsten Gericht. Die antimessianische Führung konstituiert sich aus dem Fürsten, der identisch ist mit dem Tier aus Apk. 13, und seinem Berater, dem ebenfalls zuerst in Apk. 13 als Tier auftretenden, in Apk. 16,13; 19,20 und 20,10 aber als falschen Propheten bezeichneten Beistand des Tieres, so schildert es Lavater. Dieser falsche Prophet agiert intrigierend, er ist „Satans / Mächtiger Zeug’ und Prophet, der schlaue Verführer der Völker“¹⁴¹⁶, den die Menge fürchtet und stärker verehrt
1413 JMZH, S. 165. 1414 Ebd. 1415 Ebd., S. 167. 1416 Ebd., S. 171.
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als den wahren Fürsten. Indem Lavater den Propheten als von Satan beeinflusst darstellt, hat er in seiner Handlung die drei in der Apokalypse genannten diabolischen Kräfte – den Satan, das Tier und den falschen Propheten – in der letzten Szene vor dem Anbrechen des Jüngsten Gerichts vereint und somit den höchsten denkbaren Zustand an Verderbtheit und Bosheit geschaffen, der in seinen Augen die Bedingung für das Anbrechen der Endzeit darstellt. Unter der Macht des satanischen Fürsten und des falschen Propheten, die zusammen die Erde regieren, leiden die Anhänger Christi schwer, sie sind auf eine kleine, zum Schweigen verurteilte Gruppe reduziert; so führt Lavater seine dichterische Handlung weiter. Mut schöpfen sie erst wieder, als sie den englischen Boten vernehmen (Apk. 19,17–18), seine Worte bewirken, dass sich die an Christus Glaubenden wieder zusammenfinden. Pathetisch beschreibt Lavater, wie sie sich in der neu erworbenen Gewissheit und Vorfreude auf den bevorstehenden Sieg bestärkt fühlen und die Ankunft des Herrn ausrufen, „laut erschollen auf Gassen der Stadt, erschollen an Pforten / Frohe Stimmen der Seher – ‚Er kommt mit dem himmlischen Heere – / Er! Der Könige König! Das Reich der Reiche!‘“¹⁴¹⁷ Und obschon diese Rufe brutal unterdrückt werden von der immer noch die Welt beherrschenden satanischen Macht, wecken sie neue Hoffnung unter den Gläubigen, so Lavater in seiner dichterischen Ausgestaltung. Von den eigenen Hoffnungen und Bemühungen um eine christliche Gemeinschaft, die sich gegenseitig trotz Anfeindung bestärkt und erbaut, sind die folgenden Verse geprägt, in denen Lavater die durch das Rufen aufmerksam gewordenen stillen Gläubigen beschreibt: In den Tiefen der Brust erwachte die schlummernde Menschheit; Wollt’ erwachen der Muth, sich loszuwinden vom Joche Des gefürsteten Abgotts – Augen begegneten Augen; Die sich leise klagten, die zu verstehen sich glaubten; Jezt von brennenden Thränen geröthet, und feurig von Muth dann. Menschen, die nie sich gekannt, sie ahndeten sich und sie giengen Säumenden Schrittes einander vorüber, und weilten mit Blicken An einander, suchten Gelegenheit, fanden sie – Sprachen Seufzender Sprache; Wovon? Vom kommenden Ende! Vom Lezten Aller Tage! Von Dir! Du Allvergelter! Zertreter Des Satanischen Reichs und des Allmonarchen der Erde.¹⁴¹⁸
Diese neue Gemeinschaft, die sich hinter verschlossenen Türen und vorgehaltener Hand über das eventuelle Kommen des Messias und dem damit einhergehenden Misstrauen am Fürsten und seinem falschen Propheten unterhält, wird von
1417 Ebd., S. 168. 1418 Ebd., S. 169.
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den Anhängern der bösen Macht, so Lavaters spannungsvoll inszenierte Weiterführung der Handlung, ausgespäht und als große Gefahr erkannt, so dass der Fürst sich und seine Anhänger zum Kampf rüstet und die unmissverständliche Botschaft verbreiten lässt: Schließe Mann sich an Mann zur Allvertilgung von jedem, Auch dem leisesten Nenner des Namens Jesus Messias!’ Ach! Welch lauter Triumph! Welch Jubelrufen der Menge! Angescheurt vom Hauche der Höll’: ‚Es sterbe der Name Jesus Messias! Der Name, der diesem Namen nicht Hohn spricht; Wider der Könige König, den Thron der Thronen der Erde, Wider die Allgewalt des Christusvertilgers sich auflehnt!¹⁴¹⁹
Die Zuspitzung der Handlung in der angedrohten Vernichtung der Christen durch den von Lavater eingeführten Neologismus ‚Christusvertilger‘ erfolgt, als der zum Kampf gerüstete Fürst auftritt. Die Tore des satanischen Palastes öffnen sich, bildhaft beschreibt Lavater den mit zwölf Pferden angespannten Kampfwagen und die ihn umgebenden Magnaten, die sich auf dem Vorhof des Palastes versammeln.¹⁴²⁰ Zu einem Aufschub vor dem Auszug zum Gefecht kommt es, weil der Fürst von plötzlichen Zweifeln über den bevorstehenden Sieg befallen wird. Der falsche Prophet an seiner Seite muss ihm Mut zusprechen, er tut dies zuerst, indem er seine Macht und Gewalt in den eigenen Reihen demonstriert. Mit einem Blitz zerschmettert er einen aus der Ordnung getretenen Soldaten.¹⁴²¹ Eine lange Rede über die Schwachheit des Christentums und dessen unsichtbaren Gott soll den Fürsten endgültig vom Sieg überzeugen: Alle – Wem huldigen sie? Die Nationen, und durch Wen? Wenn mein Arm an den Deinen sich schließt; Und welcher der Götter Wird uns Unzertrennliche trennen? Unserer Rechten Wer entreißen das Völklein des Glaubens an den Messias? Sieh! Uns sehen die Völker – von Jenem seh’ n Sie nicht Einen Fliehenden Schatten! Wer wird dem schauenden Auge nicht glauben?¹⁴²²
Das Christentum werde verschwinden, so der Prophet weiter, wenn nur die Stätten des Glaubens und die Gläubigen selbst vernichtet sein werden; übrig bleiben werde der Fürst als alleiniger Herrscher. Der Fürst lässt sich von der siegessiche-
1419 Ebd., S. 170. 1420 Vgl. ebd., S. 170. 1421 Vgl. ebd., S. 172. 1422 Ebd., S. 173.
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ren Rede des falschen Propheten überzeugen. Während sie in Bildern des bevorstehenden Triumphs schwelgen, merken sie nicht, dass sich ein immenses Heer an Kriegern auf weißen Pferden formiert hat, an dessen Spitze Jesus reitet.¹⁴²³ Um der biblischen Vorlage gerecht zu werden, ist es aber nicht der Sohn Gottes, der sich in das irdische Geschehen einmischt. Vielmehr schickt er seine ihn zur Linken und Rechten flankierenden Engel, die sich, so Lavaters phantasievolle Vorstellung, zuerst in den Himmel erheben, um dann mit großer Geschwindigkeit auf den Wagen des Fürsten zu stürzen, der sofort in Flammen aufgeht und unter sich einen großen, Lava ausströmenden Abgrund frei werden lässt. In diesen Abgrund werden die beiden satanischen Führer geworfen, und Jesus spricht über sie das Urteil ihrer ewigen Verdammnis, dessen Endgültigkeit jedes Kampfgeschehen überflüssig macht.¹⁴²⁴ Die Anhänger Satans erstarren unter den Worten Jesu. Der Glanz, der von der satanischen Regentschaft ausging, erlischt, „welch’ Entsetzen entströmte mit jedem zermalmenden Worte! / Welche neue Fluth von kalter tödtender Ohnmacht / Auf die horchenden Heer’ und auf die Götter der Heere!“¹⁴²⁵ Diese alleinige Kraft des Urteils Jesu ist von Lavater geschickt inszeniert, um zu verhindern, dass Jesus den Sieg durch den Kampf herbeiführt. Dies nämlich hätte bedeutet, Jesus vom Himmel herabsteigen zu lassen, findet doch das Geschehen, wie Lavater am Anfang explizit betont hat, auf der Erde statt. Die Parusie Christi kann aber erst mit dem Millennium erfolgen, so entspricht es Lavaters Christologie, und auch in der biblischen Vorlage finden sich keine Anhaltspunkte, dass Jesus am Kampf teilgenommen hätte. Lavater beendet die antimessianische Herrschaft auf Erden somit durch die Macht des göttlichen Wortes und verstärkt dadurch die Bedeutung, die er der gesamten dichterisch ausgeschmückten Szene zugrunde legt: Sie kündigt das Jüngste Gericht mit dem endgültigen Urteilsspruch nicht nur über die antimessianische Macht, sondern über die Welt selbst in ihrer Verdorbenheit an, nimmt deren Untergang vorweg. Bevor dieser Untergang erfolgt, beschreibt die Offenbarung des Johannes das Millennium (Apk. 20,4), auf dessen bevorstehenden Anbruch sich Lavaters Hoffnungen gründen. Den zweifelsfreien Glauben an die erste Auferstehung und die damit verbundene tausendjährige Regentschaft Christi auf Erden vertrat Lavater Zeit seines Lebens ungeachtet der Tatsache, dass er damit immer wieder eine Zielscheibe für Angriffe gegen seine Theologie bot. Für Lavater stellt die in Aussicht gestellte Teilnahme am Tausendjährigen Reich Christi auf Erden eine religiöse Grundmotivation dar. Der Glaube an diese Idee führt laut Lavater zu der „best-
1423 Vgl. ebd., S. 174. 1424 Vgl. ebd., S. 177. 1425 Ebd., S. 176.
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möglichsten Anwendung unserer moralischen Kräfte“¹⁴²⁶, da seiner Meinung nach das Millennium als Belohnung für ein gottgetreues, sich dem Vorbild Jesu verpflichtetes Leben wartet. Lavater postuliert einen Zwischenzustand, in dem sich die Seelen nach ihrem Tod befinden und auf das Jüngste Gericht, ihre Erlösung und ihre ewige Existenz im Himmel warten. Würden sie aber durch ein gottgefälliges Leben bereits zur ersten Auferstehung auserkoren, hätten sie teil am dem Jüngsten Gericht vorangehenden irdischen Leben unter der Regentschaft Christi.¹⁴²⁷ Bereits in seiner Gebetsreihe zur Apokalypse hat Lavater seine Gemeinde dazu aufgefordert, alles dafür zu tun: Ob wir vielleicht gewürdigt würden an der ersten Auferstehung theilzunehmen; denn, dass nicht nur die Märtyrer, die um des Bekenntnisses Jesu Chr. gewaltthätig Getödeten, an dieser hohen Ehre Antheil nehmen sollen, ist wohl keinem Zweifel ausgesezt; jeder wird davon Theil zunehmen gewürdigt werden, in dessen Herz der Glaube u: die Liebe, die Treüe lebt für Chr. wie in den Herzen der Märtyrer.¹⁴²⁸
Der von Lavater vertretene, als Chiliasmus bezeichnete Glaube an ein Tausendjähriges Reich Christi auf Erden lässt sich historisch bis ins Frühchristentum zurückverfolgen und spielte in den Anfängen der christlichen Religion, insbesondere auch bei der Frage nach der Kanonizität der Apokalypse, eine entscheidende Rolle.¹⁴²⁹ Vertreter des Chiliamsus waren Exegeten wie Papias, Justin und Irenäus, die sich gleichzeitig für die Kanonizität des letzten Buches des Neuen Testaments einsetzten.¹⁴³⁰ Ausleger wie Gajus von Rom, Dionysius von Alexandrien und Origenes († 254) hingegen, welche die kanonische Zugehörigkeit der Apokalypse in Frage stellten, betrachteten das Millennium als jüdische Irrlehre.¹⁴³¹ Augustin (354–430) erläutert das Tausendjährige Reich Christi auf Erden als eine bezüglich der Dauer und der genauen Bedeutung symbolisch-spirituell zu verstehende Lehre über den zu erwartenden geistigen Genuss, der mit dem Regieren der Heiligen als Erscheinung der gereinigten, wahren Kirche einhergeht und in der letzten Epoche der Geschichte zu erwarten ist.¹⁴³² Joachim von Fiore (1130/1135–1202) teilt die Weltgeschichte in das vergangene Zeitalter des alten
1426 JCLW II, S. 116. 1427 Vgl. Burkhard Dohm: ‚Aussichten in die Ewigkeit.‘ Johann Kaspar Lavater und die Hermetik im Kontext von Pietismus und Aufklärung. In: Hermetik. Literarische Figuren zwischen Babylon und Cyberspace. Hg. von Nicola Kaminski u. a. Tübingen 2002, S. 109. 1428 FA Lav. Ms. 68d. 1429 Vgl. Bauer (Anm. 921), S. 2. 1430 Vgl. ebd. sowie RGG Bd. 2, S. 138. 1431 Vgl. Bauer (Anm. 921), S. 3 f. sowie RRG Bd. 2, S. 138. 1432 Vgl. Bauer (Anm. 921), S. 6.
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Bundes mit dem Vater, das gegenwärtige des neutestamtlichen Bundes mit dem Sohn und das zukünftige des Bundes mit dem Heiligen Geist ein. Seiner Meinung nach haben die symbolisch zu verstehenden tausend Jahre vor dem Zeitalter des Geistes mit der Auferstehung Christi begonnen und werden mit dem Untergang der Welt enden.¹⁴³³ Im Zuge seiner intensiven Beschäftigung mit der JohannesOffenbarung und seinem zu deren Gunsten revidierten Urteil setzte sich auch Luther mit dem Millennium auseinander. Die tausend Jahre haben kurz nach der Abfassung der Offenbarung begonnen, so Luthers These: Und die tausend jar anzusahen sind / umb die zeit / da dis Buch geschrieben ist / und zur selbigen zeit auch der Teufel gebunden sey. Doch mus die Rechnung nicht so gnaw / alle minuten treffen.¹⁴³⁴
Die Relativierung der Zeitangaben und die Tatsache, dass Luther in seinen Schriften zur Apokalypse keine explizite Angabe zur Abfassungszeit macht,¹⁴³⁵ lassen keine genaue historische Festlegung der Epoche des Millenniums zu.¹⁴³⁶ Zweifelsfrei aber betrachtet Luther die tausend Jahre als Epoche der bereits vergangenen Kirchengeschichte. Deren Ende sieht er im Loslassen von Gog und Magog (Apk. 20,7), die er mit den „Türcken“¹⁴³⁷ und den „roten Juden“¹⁴³⁸ identifiziert und als Ausdruck der zu seiner Zeit herrschenden Bedrohung des türkischen Reichs deutet: Denn der Türck ist aller erst nach tausent jaren komen / In des sind die Christen blieben / und haben regiert / on des Teuffels danck. Aber nu will der Türck dem Bapst zu hülffe komen / und die Christen ausrotten / weil nichts helffen wil.¹⁴³⁹
Zu einem stark verbreiteten Chiliasmus, in dem die tausend Jahre nicht mehr wie bei Luther in die vergangene Kirchengeschichte eingeordnet, sondern in der
1433 Vgl. ebd., S. 8. 1434 Luther (Anm. 758), S. CCCXVIv. 1435 Vgl. Hans-Ulrich Hofmann: Luther und die Johannes-Apokalypse. Dargestellt im Rahmen der Auslegungsgeschichte des letzten Buches der Bibel und im Zusammenhang der theologischen Entwicklung des Reformators. Tübingen 1982, S. 451. 1436 Gemäß Hofmann erschien es Luther plausibel, dass die Apokalypse im Jahr 95 verfasst wurde. Die tausend Jahre der Fesselung Satans wären dementsprechend um 1095 zu einer Zeit zu Ende, in der die ersten Kreuzzüge begonnen haben und die Christen mit der Macht der Türken konfrontiert wurden. Hofmann erwähnt aber, dass nicht eindeutig bestimmbar ist, ob Luther in seiner Exegese auf diese Ereignisse rekurriert (vgl. Hofmann [Anm. 1435], S. 451). 1437 Luther (Anm. 758), S. CCCXIv. 1438 Ebd. 1439 Vgl. ebd., S. CCCCXr.
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Zukunft erwartet wurden, kam es im Pietismus. Philipp Jacob Spener (1635–1705) sieht im Sturz des antichristlichen Roms und in der Judenbekehrung die zu erwartenden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Tausendjährige Reich Christi auf Erden einsetzt.¹⁴⁴⁰ Unter dem Millennium versteht er ein der apostolischen Kirche verpflichtetes Christentum, das sich auf die endgültige Vollkommenheit im Jenseits vorbereitet.¹⁴⁴¹ Eine genaue Datierung vom Beginn dieses Zustands ist bei Spener nicht zu finden.¹⁴⁴² Bengel, der insgesamt neunzehn Schriften zur Apokalypse verfasste,¹⁴⁴³ erläutert in seiner Erklärten Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi (1740) die Theorie eines zweifachen Millenniums. Nach den ersten tausend Jahren, in denen Christus auf Erden weilt (Apk. 20,4–6), beginnt eine zweite kleine Zeit der tausend Jahre, in denen Satan losgelassen ist (Apk. 20,2,3,7).¹⁴⁴⁴ Gegen die Verbreitung der Lehre vom Millennium richtete sich der Zürcher Theologe Heinrich Corrodi (1752–1793) in seiner kritischen Untersuchung Geschichte des Chiliasmus (1781/83).¹⁴⁴⁵ Corrodi bekämpfte den Chiliasmus als eine in seiner Zeit weit verbreitete Irrlehre, die größere Zustimmung findet, „als es für das Wachsthum der vernünftigern Erkenntnis zu wünschen wäre.“¹⁴⁴⁶ Der neologisch geprägte Semler-Schüler Corrodi unterscheidet in seiner Theologie zwischen der Entstehung und Bekanntmachung der Religion und den durch sie vermittelten Inhalten.¹⁴⁴⁷ Die Bibel gebe Belege für die Anfänge des Christentums und enthalte dementsprechend historische Wahrheiten. Wer in den nicht historisch verifizierbaren biblischen Zeugnissen nach spekulativen Deutungen suche, verfalle in religiöse Spekulationen, die dem vernünftigen Christentum zuwiderlaufen würden. Einen derartigen religiösen Fanatismus sieht Corrodi im Chiliasmus, den er als „Kern der spekulativen Schwärmerey“¹⁴⁴⁸ beurteilt. Das schwärmerische Gedankengut, das immer wieder als zentraler Aspekt von Lavaters Christologie kritisch in den Fokus genommen wurde, hatte Corrodi veranlasst, Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn in seiner Geschichte des Chiliasmus aufzunehmen und kritisch zu rezensieren. Bereits zuvor hatte
1440 Vgl. Maier (Anm. 830), S. 358. 1441 Vgl. ebd., S. 359, S. 362 1442 Vgl. ebd., S. 360. 1443 Vgl. ebd., S. 426. 1444 Vgl. Bengel: Erklärte Offenbarung Johannis (Anm. 808), S. XXV. 1445 Heinrich Corrodi: Kritische Geschichte des Chiliasmus. 3 Thle. in 4 Bde. Frankfurt/Leipzig 1781–1783. 1446 Ebd., 3. Teil, 1783, S. VII. 1447 Vgl. Zurbuchen (Anm. 322), S. 139. 1448 Corrodi (Anm. 1445), 3. Teil, S. VII.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
sich Corrodi mit Lavaters theologischem Standpunkt auseinandergesetzt. Anlass dazu gab ihm Lavaters in der Synodalrede von 1779 geäußerte Kritik an Steinbarts System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums (1778).¹⁴⁴⁹ In der 1780 veröffentlichten Schrift J. C. Lavaters und eines Ungenannten [=Corrodi] Urtheile über Herrn C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Mit vielen Zusätzen von Joh. Sal. Semler entkräftet er Lavaters Einwände gegen Steinbarts System, indem er auf die fehlende Argumentation verweist. Lavater liefere keine Beweise, sondern äußere lediglich seine im Kanzelton vorgetragene Rüge, so Corrodis Ansicht.¹⁴⁵⁰ Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn macht Lavater, so stellt es Corrodi in seiner Kritischen Geschichte des Chiliasmus dar, zu einem „der merkwürdigern Kommentatoren der Apokalypse, die im achtzehnten Jahrhundert den Chiliasmus begünstiget.“¹⁴⁵¹ Wie Lange, an den sich Lavater in seiner Auslegung anlehne, vertrete Lavater einen aus den alttestamentlichen Prophezeiungen entnommenen Chiliasmus, der sich durch die vielen auf die Propheten abgestützten Beweise als jüdisch orientierte Lehre erweise.¹⁴⁵² Die Apokalypse wie Lavater und Lange als zukünftige Prophezeiung zu verstehen, sei eine für das achtzehnte Jahrhundert ungewöhnliche Exegese, der er aber, falls es sich bei der Johannes-Offenbarung wirklich um ein kanonisches Buch handle, eine gewisse Wahrscheinlichkeit nicht absprechen könne.¹⁴⁵³ In seinen Erläuterungen zu Langes Exegese zeigt Corrodi, dass er sich selbst differenziert mit der Johannes-Offenbarung auseinandergesetzt hat. Mehr aber als der theologische Aussagegehalt interessieren ihn die mit Hilfe der neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erklärbaren Naturkatastrophen, die er in der Apokalypse ausgedrückt glaubt. So steht für Corrodi zweifelsfrei fest, dass es sich beim Stern aus Apk. 8,10 um einen Meteor handelt, der auf der Erde eine Naturkatastrophe auslöst.¹⁴⁵⁴ Dass Johannes von einer anderen Deutung ausging, erklärt Corrodi durch dessen naturwissenschaftliche Unkenntnis: Diese Erklärung drückt freylich die Meinung des V.[erfassers] der Apokalypse nicht aus. Denn nach dieser soll ohne Zweifel ein natürlicher Stern vom Himmel fallen, da er das kopernikanische System eben nicht kannte, und die Grösse, und Distanz der Himmelskörper nicht wusste.¹⁴⁵⁵
1449 Vgl. Kap. 6.1. 1450 Vgl. Zurbuchen (Anm. 322), S. 139. 1451 Corrodi (Anm. 1445), 3. Teil, S. 107. 1452 Vgl. ebd., S. 111. 1453 Vgl. ebd., S. 111, S. 119. 1454 Vgl. ebd. 1455 Vgl. ebd., S. 112.
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Auch Lavater sei von einem Meteor ausgegangen, so erläutert Corrodi, ohne allerdings die betreffenden Stellen in Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn zu nennen. Überlegungen zu Kometen als Ursache von in der Bibel beschriebenen Naturkatastrophen hat sich schon Bodmer im Zusammenhang mit seiner Noachide gemacht,¹⁴⁵⁶ so dass sich Lavater daran orientieren konnte. Corrodis Bemühungen, die in der Apokalypse geschilderten Ereignisse als natürliche Erscheinungen zu beschreiben, werden in seinen Spekulationen über mögliche andere naturwissenschaftliche Erklärungen zum hinunterfallenden Stern ersichtlich: Es wäre auch wohl möglich, dass ein ungeheurer Klumpen von einem entzündbaren giftigen Stoffe sich in der Luft generierte, der mit der Natur der Sternschnuppen, und Feuerkugeln etwas gemein hätte, und die trinkbaren Wasser verderbte.¹⁴⁵⁷
Da es aber schwierig sei zu bestimmen, welche Größe der Klumpen habe und wo er sich genau bilden müsse, um das in der Apokalypse beschrieben Ausmaß der Wasserverschmutzung auszulösen, sei es naheliegender, von einem Meteor auszugehen, so Corrodis Überlegung.¹⁴⁵⁸ Da Corrodi die Apokalypse von naturwissenschaftlicher Seite zu deuten versuchte, gefiel ihm Lavaters Auslegung der Heuschrecken aus Apk. 9,3. Lavater würde in ihnen „furchtbare Ungeheure von der Natur giftiger Insekten sehen“¹⁴⁵⁹, was sehr wahrscheinlich sei. Auch im Zusammenhang mit den zwei Zeugen aus Apk. 11,3–12 geht Corrodi auf Lavaters Auslegung ein. In Anlehnung an Lange identifiziere er sie in Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn als Moses und Elia.¹⁴⁶⁰ Ohne zu berücksichtigen, dass Lavater, wie bereits von Corrodi konstatiert, die Apokalypse auf zukünftige Ereignisse bezieht, kritisiert Corrodi die Todesart der Zeugen, die nicht gemäß den historischen Begebenheiten geschildert sei: Er [Lavater] lässt sie zu Jerusalem auf Räder flechten, welches gleichwohl ein Fehler gegen das Kostume ist, da diese Todesart den Morgenländern unbekannt, und das Spießen vielmehr an ihrer statt üblich ist.¹⁴⁶¹
Da Lange in seiner Exegese keine Erklärungen zur Todesart macht, ist davon auszugehen, dass Lavater diesbezüglich auf seine eigenen Imaginationen zurück-
1456 Vgl. Mahlmann (Anm. 471), S. 234 f. 1457 Ebd. 1458 Vgl. ebd. 1459 Ebd., S. 113. 1460 Vgl. ebd., S. 115. 1461 Ebd.
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griff, die möglicherweise angeregt wurden durch den 1762 zu unrecht geräderten Jean Calas (1698–1762), dem sich Voltaire in seinem Traité sur la tolérance (1763) angenommen hatte. Lavaters Auslegung von Apk. 17,9–14 als Königreiche ist gemäß Corrodi falsch, da es sich beim Beschriebenen nicht um Reiche, sondern um Anführer handle.¹⁴⁶² Fraglich ist, wieso Corrodi lediglich auf die eben erläuterten Stellen in Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn einging, ohne die Vorstellungen zum Millennium zu thematisieren, deren Erläuterung in einer kritischen Untersuchung des Chiliasmus zu erwarten wären. Corrodi erwähnt lediglich das von Pfenninger herausgegebene Christliche Magazin, das Lavater und seinem Kreis als Plattform zur Verbreitung ihrer chiliastischen Ideen diene.¹⁴⁶³ Im 21. Gesang von Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn betont Lavater das Märtyrertum der ersten Auferstandenen. Für das Leid, das sie auf Grund ihres Glaubens an Gott ertragen mussten, werden sie mit der besonderen Seligkeit der ersten Auferstehung belohnt, die sie zu Verkündern der göttlichen Allmacht macht: Priester Jehovas sind sie, die Söhne der ersten Erstehung! Priester seines Messias! Mit Ihm hochherrschende Fürsten! Einst des Lachers Gespött, der Bosheit schweigendes Ziel einst! Diese Söhne der Wahrheit – Gottes Lieblinge – Wer spricht Ihre Seeligkeit aus? Und ihre Würde vor Gott? Wer?¹⁴⁶⁴
Bereits in seiner Predigtreihe zur Apokalypse hat sich Lavater Gedanken über das Leben der ersten Auferstandenen und deren Tätigkeiten gemacht: Obschon wir eigentlich nicht wissen, noch bestimmen wollen, worinn die Herrschaft der Heiligen in diesen tausend Jahren bestehe, so wird doch ohne anders auch das Wesentliche zu ihrer Herrschaft gehören. Macht über das Böse, Sieg über das Laster u: Irrthum, allgemeine Ordnung, u: Sicherheit im Reiche Christi zuverbreiten.¹⁴⁶⁵
In Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn werden Lavaters Imaginationen zur Tätigkeit der Teilnehmer am Millennium konkreter. Anders als Herder, der zwar auch von einem Tausendjährigen Reich Christi auf Erden ausgeht, dieses aber nicht weiter beschreibt,¹⁴⁶⁶ führte Lavater in verschiedenen Visionen aus, wie
1462 Vgl. ebd., S. 120. 1463 Ebd., S. 217. 1464 JMZH, S. 190. 1465 FA Lav. Ms. 68d. 1466 Vgl. Herder: Johannes Offenbarung (Anm. 907), S. 85 f.
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die ersten Auferstandenen ihre Tage verbringen. In ihrer Funktion als Priester Gottes seien sie nicht mehr lediglich, wie er es noch in seiner Auslegung zur Apokalypse-Gebetsreihe beschrieben hat, verantwortlich für die Einhaltung der göttlichen Gesetze, sondern sie seien selbst mit göttlichen Fähigkeiten begabt. Mit der Einleitung: „Und mir wurde geöffnet mein inneres Auge, zu schauen / Seeligkeiten der Ersten Erstandnen! Von Tausenden weilte / Immer nur Eine vor mir“¹⁴⁶⁷ beschreibt Lavater verschiedene Bilder des Tausendjährigen Reichs, die Johannes offenbar wurden. In einem Gesicht sieht Johannes, wie ein erster Auferstandener einen Toten erweckt, In einer nächsten Vision ermöglicht einer der Auferstandenen, der auf einer Wolke vorbeifliegt, einem von Sehnsucht nach dem Messias erfüllten Betenden den Blick auf den Erlöser. Im dritten Gesicht verwandelt ein Auferstandener Armut in Reichtum, und ein anderer löscht die Zweifel eines Jünglings über das ewige Leben, indem er ihn erweckt.¹⁴⁶⁸ Über die Taten, welche die ersten Auferstandenen vollbringen, schreibt Lavater: „Jeder ihrer Tag’ ist ein Tag der Beseeligung andrer, / Die nach Lichte des Herrn und seinen Erquickungen schmachten.“¹⁴⁶⁹ Ambivalent ist Lavaters Meinung über die im Millennium möglicherweise stattfindende Bekehrung der Juden. In seinen Aussichten kritisiert Lavater Daniel Withby (1638–1726),¹⁴⁷⁰ der den Zweck der tausend Jahre Christi auf Erden einzig darin sehe, die Israeliten von Christus zu überzeugen. Lavater verneint, dass es sich bei den ersten Auferstandenen um Juden handelt, da diese eindeutig als Christen, die für ihren Glauben an Jesus in den Tod gehen mussten, bezeichnet werden: Am meisten befremdet es mich, dass der gelehrte und scharfsinnige Witby in seinem Commentar über das Neue Testament beygefügten, Abhandlung von dem wahren tausendjärigen Reich, den unbuchstäblichen Sinn dieser Stelle mit so seichten Gründen vertheidiget, und sich wo weit vergessen kann, dass er unter dieser ersten Auferstehung nichts anders verstanden wissen will, als die herrliche und allgemeine Judenbekehrung. […] Es ist mir ordentlich unbegreiflich, wie Männer von so großer Einsicht und Freyheit in der Schriftauslegung, hier an die Bekehrung der Juden denken können, wo so offenbar die Rede ist von Seelen der Enthaupteten, um des Zeugnisses Jesu, und um des Wortes Gottes willen; diese Seelen sind also die unbekehrten Juden; diese sollen auferstehen, das heißt, bekehrt werden. – Wie kann doch nun, um aller Liebe willen, ein unbekehrter Jude der erst noch lebendig gemacht, oder bekehrt werden soll, ein Märtyrer um des Wortes Gottes, ein Blutzeug Jesu heißen?¹⁴⁷¹
1467 JMZH, S. 190. 1468 Vgl. ebd., S. 190–193. 1469 Ebd., S. 194. 1470 Es handelt sich dabei um Daniel Withbys Werk ‚Dissertatio de s. scripturarum interpretatione secundum patrum commentarios‘ aus dem Jahr 1714. 1471 JCLW II, S. 107 f.
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Diese eindeutige Meinung modifiziert Lavater einige Seiten später. Er schreibt, dass das Tausendjährige Reich neben vielen anderen Vorzügen und Seligkeiten „zur Bekehrung der auserwählten Israeliten“¹⁴⁷² dient. Wobei zu bemerken ist, dass Lavater in der zweiten, 1770 erschienenen Ausgabe statt „Bekehrung“ den Ausdruck „Vervollkommnung“ wählt. Es ist davon auszugehen, dass ihn die heftige Polemik um den vermeintlichen Bekehrungsversuch Mendelssohns zur Vorsicht gemahnte¹⁴⁷³ – von dieser Vorsicht ist aber in Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn nichts mehr zu spüren. Zu einem von den Verdiensten der ersten Auferstandenen gehöre es, die Juden zu Anhängern Christi zu machen: Ihrer tausendmal tausend Seeligkeiten ist Eine: Israels heilig Geschlecht aus allen Winden zu sammeln; Wer versenkt schon lag in tiefer Vergessenheit Abgrund; Zu entreißen der Nacht; Zu stellen ins helleste Licht ihn; Todte Gottes zu wecken, nur wenige Tage, nachdem sie Hatte verlassen der lezte der Hauche – Zu Christus die neuen Auferstandnen zu führen durch Bahnen und Pfade der Läut’rung¹⁴⁷⁴
Lavaters Beschreibung des Millenniums spiegelt eine Idylle des friedvollen, gemeinsamen Zusammenlebens im Lichte der christlichen Nächstenliebe, die seiner Meinung nach die Zustände nach dem Jüngsten Gericht vorwegnimmt. Er sieht im Millennium angedeutet, was später beim Anbrechen der neuen Welt respektive der Ewigkeit eintreten wird, was aber in der Offenbarung des Johannes nicht mehr dargestellt ist. Da er mit seinen Aussichten in die Ewigkeit bereits ein Werk verfasst hat, in dem das jenseitige Leben beschrieben wird, und da in der Apokalypse keine diesbezüglichen Hinweise gegeben werden, kehrt Lavater in seinem Epos wieder zur biblischen Vorlage zurück und dichtet seine letzten Gesänge in enger Anlehnung an die Kapitel der Johannes-Offenbarung. In seinem Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn hat Lavater die für ihn christologisch zentrale Botschaft der Parusie anhand der Visionen des Johannes erläutert. Indem Lavater in seiner Nacherzählung der Grundstruktur der biblischen Vorlage folgte, erfüllte er sein Postulat, die Bibel ihrem ursprünglichen Inhalt entsprechend in einer poetischen Form wiederzugeben. Dass er zuweilen dichterische Ausschmückungen und Ergänzungen einflocht, legitimierte er durch deren Funktion als Erklärung schwieriger oder unverständlicher Stellen. Auch
1472 Ebd., S. 116. 1473 Zum Bekehrungsstreit vgl. Kap. 2.3. 1474 JMZH, S. 194.
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vermochte er mit seinen eigenen Erdichtungen die in der Johannes-Offenbarung ausgedrückte, auf Christus als endgültigen Retter und Erlöser zurückzuführende Erbauung und Hoffnung zu unterstreichen. Lavater stellte in seinem Epos dar, was Herder seiner Meinung nach nicht vermocht hatte: Die wichtigste, in der Parusie Christi ausgedrückte Hoffnung des Christentums in einer leicht verständlichen, einprägsamen Dichtung nachzuerzählen. Lavater begnügte sich aber nicht damit, diese Hoffnung lediglich mit der Nacherzählung der Apokalypse zu nähren. Ebenfalls von großer Bedeutung waren für ihn die evangelischen und apostolischen Zeugnisse, so dass er sich auch ihrer in einem Epos annahm. Inwiefern er sich damit an Klopstock anlehnte oder aber von ihm abgrenzte und mit eigenen dichterischen und exegetischen Anforderungen zu überzeugen versuchte, soll im Folgenden erläutert werden.
6.4 Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen in der Nachfolge von Klopstocks Messias Im Jahr 1783, zehn Jahre nach der Vollendung von Klopstocks Messias und drei Jahre nach seiner ersten Messias-Dichtung, verfasste Lavater ein zweites Messias-Epos: Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen erzählt in vier zwischen 1783 und 1786 erschienenen Bänden die Evangelien und die Apostelgeschichte nach. Vor welchem zeitgenössischen Hintergrund Lavaters Epen gelesen werden müssen und in welchen christologischen und literarischen Diskurs er sich damit einmischte, soll in diesem Kapitel erläutert werden. Lavater hat es sich zum Ziel gesetzt, die biblische Vorlage möglichst genau nachzuerzählen. Er verwebt alle vier Evangelien zu einer einzigen Geschichte über Geburt, Leben, Lehre, Tod und Auferstehung Jesu Christi, die er in den ersten drei Bänden seines Epos erzählt, um sein Werk mit der im letzten Band nacherzählten Apostelgeschichte abzuschließen. Lavater machte es sich, wie er in den Anmerkungen zum ersten Band bemerkt, zum Vorsatz, „mit ehrfurchvoller Gewissenhaftigkeit nicht das Geringste wissentlich“¹⁴⁷⁵ zu übergehen, „nach meinem Plane musste ich Alles sagen, Alles in der Ordnung, Alles so umständlich sagen, wie es die vierfache Urkunde mit sich brachte.“¹⁴⁷⁶ Er stellte seine zweite Messiade wie die erste in den Dienst seiner Christologie, er wollte die für ihn
1475 Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen. Basel 1783–1786 (im Folgenden zitiert als JMEA mit Band- und Seitenzahl). I, S. 302. 1476 Ebd., S. 302.
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wichtigsten Zeugnisse des Christentums in erbauender und gut verständlicher Weise einem breiten Publikum zugänglich machen. Seine Dichtung sollte ein Erbauungsbuch für kultivierte Leser sein, so Lavater in den Anmerkungen zum ersten Band.¹⁴⁷⁷ Das von Lavater geglaubte und gelehrte Christentum gründet auf der Bedeutung Jesu Christi als göttlichen Gesandten, der die Menschheit erlöst und zu ihrem zukünftigen Heil führt. Nur wer Jesus in ebendieser Funktion anerkenne, gelange zur ewigen Glückseligkeit. Das Neue Testamten lieferte Lavater die diesbezüglichen Beweise und war darum in seinen Augen das nicht wegzudenkende ‚Grundlagenwerk‘ des christlichen Glaubens: „Unbekümmert um alle Urtheile der Welt – geh ich meinen Gang immer fort, und habe noch nicht Ursach gefunden, von meinem Alten Glauben an das Evangelium im geringsten abzuweichen.“¹⁴⁷⁸ Die Betonung seines Glaubens an die Evangelien ist vor dem Hintergrund der insbesondere durch Semler entwickelten historisch-kritischen Bibelexegese zu betrachten,¹⁴⁷⁹ die Lavater nicht zufriedenstellte. Seiner Meinung nach enthielten die biblischen Zeugnisse nicht lediglich historische Berichte, sondern zeitlose Wahrheit, die den Menschen unabhängig von der Epoche, in der er lebt, bestärken, erbauen und ihn in seinem frommen, auf Gott und das ewige Heil ausgerichteten Leben leiten sollte. In dieser Funktion setzte Lavater die Bibel und biblische Dichtung gleich. Sowohl die „historische Messiade“¹⁴⁸⁰, als die er die Bibel bezeichnet, wie auch die „dichterische“¹⁴⁸¹, die er mit seinem zweiten Epos verfasste, dienten der Erbauung stiftenden Darstellung von Jesus Christus: Der Zweck von beidem [Bibel und Jesus Messias] ist Darstellung, oder, welches Eins ist, Verherrlichung, Glaubwürdigmachung, Jesus von Nazareth, als des Messias, oder des zur höchsten Beseligung der Menschheit Bevollmächtigten und mit jedem Erfordernis ausgerüsteten Ersten Sohnes der Gottheit.¹⁴⁸²
Dass Lavater mit seiner Gattungswahl eine an bedeutenden Vorgängern reiche Tradition fortsetzte, war ihm bewusst, in seinen Anmerkungen erwähnt er verschiedene Dichter, die versucht hätten, „die Evangelische Geschichte, wo nicht historisch darzustellen, doch in Verse überzutragen.“ Neben Klopstock verweist
1477 Vgl. ebd., S. 302. 1478 Lavater an Spalding, 27. März 1779. FA Lav. Ms. 581. 97. 1479 Vgl. Kap. 6.1. 1480 JMEA I, S. 299. 1481 Ebd. 1482 Ebd.
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er auf Johann Christian Cunos (1708–1783) Messiade (1762)¹⁴⁸³ und Hieronymus Vidas (1485–1566) Christias (1532). Von diesen zwei Werken und allen in der Zeitspanne dazwischen in lateinischer und deutscher Sprache verfassten Epen, die Lavater nicht mehr namentlich nennt, sei sein Werk grundsätzlich verschieden: „Es ist viel vollständiger, weitläufiger, ausmalender, und weniger nachahmend als alle lateinischen und deutschen Messiaden oder Christiaden von Hieronymus Vida’s bis zu Cuno’s herab.“¹⁴⁸⁴ Eine eigene Erwähnung findet Klopstocks Messias, der derart verschieden sei von Lavaters Werk, dass es sich weitgehend erübrige, sich genauer darüber auszulassen. Dass es Lavater nicht bei dieser Aussage belässt und im Fortgang seiner Anmerkungen darauf eingeht, in welchen Aspekten sich seine Messiade von derjenigen Klopstocks unterscheidet, lässt den Schluss zu, dass Lavater sein Epos in ständiger Auseinandersetzung mit demjenigen Klopstocks verfasst hat und sich von diesem abgrenzen wollte. Lavaters Rezension von Klopstocks Messias ist sehr ambivalent, wie der in seiner Handbibliothek für Freunde abgedruckte Kommentar zeigt: „Klopstok mag zene tausend Leser und Bewunderer haben. Er kann keinen größern haben, als mich, obgleich ich unzählige Dinge anders wünschte.“¹⁴⁸⁵ Was er sich anders wünschte respektive was ihm missfiel, beschrieb er detailliert in einem Brief an Johann Arnold Ebert (1723–1795), in dem das Erscheinen des letzten Bandes von Klopstocks Messias ihm Anlass zu einer kritischen Beurteilung lieferte. Am 20. Juni 1773 schrieb Lavater: Und, was soll ich Ihnen nun über die vollendete Messiade sagen? Werden Sie nicht erstaunen, wenn ich sage, dass, aller häufigen himmlischen Schönheiten ungeachtet – ich dennoch über das meiste der Hauptsache bis zum Unwillen unzufrieden bin, und dass beynahe alle unsre Freunde es auf gleichen Fuß sind – wir haben Worte für Sachen, Lüfte für Leib, Schall statt Geist; fein ausgedrechselte Püerilitäten, wo wir erhabene Massen erwarten – wir sehen tausend schöne Sachen – nur die Hauptsache nicht; nur den Messias nicht – keine neuen Ideen aber wol neue Bilder – fast nirgends Handlung – lauter angeworfne, nicht in den Plan verwebte, nicht aus dem Kern entspringende, ganz willkürliche Dichtung – eine Reihe Gemälde; eine königliche Gallerie aber – kein Hauptgemälde. Von den irrigen theologischen Begriffen; von der Unmöglichkeit, sich aus dem ganzen Gedicht das eigentliche Verdienst des Messias, das wesentlichste der Messiasschaft zu abstrahiren, und davon auch nur einen erträglich bestimmten Begriff zu bekommen – von der (scheinbaren) Affecta-
1483 Wie aus einem Bericht im Weimarischen Jahrbuch aus dem Jahr 1856 hervorgeht, hat Cuno seine Messiade bereits 1748, also im Erscheinungsjahr der ersten drei Gesänge von Klopstocks ‚Messias‘, begonnen (vgl. August Schiele: Johann Christian Cuno. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache. Litteratur und Kunst. Hg. von Hoffmann von Fallersleben und Oskar Schade. IV. Bd. Hannover 1856, S. 201), er hat sich also wohl wie Lavater von Klopstock inspirieren lassen. 1484 JMEA I, S. 300. 1485 Hand-Bibliothek für Freunde. Bd. 6. Zürich 1791, S. 404.
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tion, das, was wirklich Geschichte ist, so matt zu mahlen – von der offenbaren Mühsamkeit in der Silbenzählerey – und der Sichtbarkeit des Interesses des Poeten an äusserlichen Formen – von dem und vielem andern nicht einmal zu sagen. Kein Mensch kann Klopstock mehr bewundern wie ich – aber schwerlich einer über das Heer wesentlicher Fehler seines Gedichtes staunen.¹⁴⁸⁶
Dass Lavater zehn Jahre später in seinem eigenen Epos beanstandete Mängel ausräumen und das angesprochene „Heer wesentlicher Fehler“ umgehen wollte, scheint auf der Hand zu liegen. Mit der Betonung der Andersartigkeit, die er seinem eigenen Werk zuspricht, wollte er aber darauf hinweisen, dass er nicht eine dichterische Aemulatio beabsichtigte. Lavater war stark darum bemüht, einen solchen Verdacht nicht aufkommen zu lassen. In seinen Anmerkungen zum ersten Band zollte er Klopstocks Messias großes Lob, er bezeichnete ihn als „ein Werk, welches Deutschland, der Dichtkunst und der Menschheit so lange Ehre machen wird, so lange diese drei eben ausgesprochenen Namen von menschlichen Lippen ertönen werden.“¹⁴⁸⁷ Lavater bezeichnet zwar Klopstocks Messias als Auslöser für sein eigenes Werk, meint dies aber lobend und nicht auf dessen Mängel bezogen, denn, so seine Feststellung: „Ans’s Wetteifern kam mir der Sinn nicht.“¹⁴⁸⁸ Er müsse nämlich zugeben, so Lavaters unbescheidenes Bekenntnis, „dass ich mich schon seit vielen Jahren innerlich berufen zu sein glaubte, eine Messiade zu schreiben.“¹⁴⁸⁹ Die einzigen Stellen, an denen sich ein Vergleich anerbiete, würden die Passionsgeschichte betreffen. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die dabei auftreten, äußert sich Lavater nicht. Wie aber aus den Anmerkungen zu Lavaters drittem Band der Messiade, in dem Leiden und Auferstehung Christi beschrieben sind, hervorgeht, fühlte er sich Klopstock durchaus ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen: Nicht sprichwortsweise, im Ernst, einen Finger meiner Hand gäb’ ich um eine Messiade, welche die meinige vergessen machen könnte – die aber im einfachen, mir durchaus inviolablen, Plane des Evangeliums bliebe.¹⁴⁹⁰
1486 Lavater an Johann Arnold Ebert, 20. Juni 1773. In: Ungedruckte Briefe von Cramer, Gleim, Klopstock, Lavater, Ramler, Uz u. a. an J. A. Ebert. Zur Charakteristik ihres literarischen Verkehrs zusammengestellt und erläutert von Dr. Adolph Glaser. In: Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten Deutschen Monatshefte. 2. Bd. Braunschweig 1857, S. 563. 1487 JMEA I, S. 300. 1488 Ebd. 1489 Ebd. 1490 Ebd. III, S. 266.
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Obschon Lavater dieses Eigenlob relativiert und bei seinem Messias nicht auszuräumende Mängel in der richtigen Emotionalität konstatiert,¹⁴⁹¹ lässt sich aus dieser Bemerkung schließen, dass er in seinem Werk durchaus die Aussage bestätigt sieht, zum Dichter einer Messiade berufen zu sein – womit er sich unweigerlich mit Klopstock gleichsetzt, der sich, wie aus seiner Portenser Abschiedsrede hervorgeht, bereits vor der Arbeit am Messias als Dichter eines großen Werkes beschrieben hatte.¹⁴⁹² In der folgenden Interpretation von Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen sollen formale und inhaltliche Aspekte erläutert werden. Dazu wird in einem ersten Teil der Fokus auf stilistische Merkmale gerichtet, die insbesondere auch die narrative Situation berücksichtigen. In Bezug auf eine inhaltliche Analyse macht der Umfang von Lavaters zweitem Epos eine Auswahl und exemplarische Konzentration auf einzelne Stellen notwendig. Dass sich diese auf den dritten Band beziehen, erklärt sich durch die darin geschilderten Ereignisse, die beim Abendmahl von Jesu mit seinen Jüngern einen Tag vor seiner Kreuzigung beginnen und mit seiner Auferstehung enden und somit die in Lavaters Augen wichtigsten Ereignisse des Neuen Testaments darstellen. Gleichzeitig decken sie die eigentliche Handlungszeit von Klopstocks Messias ab,¹⁴⁹³ wodurch die Basis für einen Vergleich gegeben ist. Sowohl die formalstrukturelle wie auch die inhaltliche Analyse werden auf dem Hintergrund von Lavaters christologischen und poetologischen Absichten gemacht. Dabei werden Bezüge zu Klopstocks Messias hergestellt, die sowohl auf Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten der beiden Messiaden hinweisen.
6.4.1 Formale und stilistische Merkmale von Lavaters zweiter Messiade Klopstocks Messias nimmt eine Sonderstellung in der christlichen Epik ein. Das Werk ist zwar explizit als Heldenepos nach antikem Vorbild konzipiert, auf Grund der poetologischen Ansichten und Theorien des Dichters weist es aber viele Merkmale auf, welche die klassische Struktur aufbrechen. So beschränkt sich der Handlungsspielraum im Messias auf ungefähr vierzig Tage. Auch setzt Klopstock
1491 „Dass übrigens auch diesem Werke der Geist fehlet, den ich ihm wünsche – dass es das nicht ist, was es, als Werk eines Christen seyn sollte, dessen einziges Ziel der Ewigeinzige seyn soll – werd’ ich, wenn ich’s zehnmal sage, nicht genug gesagt haben“ (ebd., S. 266). 1492 Vgl. Kap. 4.2. 1493 Vgl. Kap. 4.6.
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nicht eigentlich die Handlung selbst ins Zentrum, ihm geht es um die emotionale Intensität, die er herzustellen versucht, indem er die Geschichte aus der Perspektive vieler verschiedener Figuren darstellt, die dem Geschehen beiwohnen und es emphatisch miterleben. Wie aus der Portenser Abschiedsrede hervorgeht, war Klopstock in erster Linie darum bemüht, ein Heldenepos zu verfassen. Dass er sich bei der stofflichen Wahl für die Bibel entschied, hing neben dem theologischen Wert, den er einer solchen Dichtung beimaß, vor allem auch mit dem poetologischen Maßstab zusammen, den er seinem Werk zugrunde legte. Klopstock wollte erhabene Dichtung schaffen, eine Voraussetzung dazu war die Gattungswahl, die er mit dem Epos als traditionellerweise höchster poetischer Gattung gewährleistete; den adäquaten Stoff fand er in der christlichen Passionsgeschichte. Bei Lavater lässt sich keine explizite Reflexion über die Gattung des Epos finden. Ihm ging es nicht primär um das poetologische Gefäß, sondern vielmehr um den Inhalt, den er damit vermitteln wollte. So hat Lavater nicht wie Klopstock die Bibel als stoffliche Vorlage genutzt, um ein Epos zu schreiben. Seine Messiade ist eher nach dem Vorsatz verfasst, die Evangelien hexametrisch nachzuerzählen, wie er auch in den Anmerkungen zum ersten Band bemerkt: „Ich vermass mich nicht, dem epischen Dichter [Klopstock] nachzufliegen. Bescheiden muss ich mich, poetischer Erzähler, ausmalender Darsteller der Geschichte zu seyn.“¹⁴⁹⁴ Trotzdem lassen sich bei Lavaters Messiade von der Struktur her viel mehr epische Merkmale finden als bei Klopstocks Messias. Wie es antike Epen tun, beschreibt Lavater das Leben seines Helden Jesus von Anfang bis zum Schluss und umfasst damit einen viel größeren Zeitraum als Klopstock, der die Handlung zwischen Palmsonntag und Karfreitag einsetzen lässt und sie mit Christi Himmelfahrt beendet, was gemäß Kirchenjahr nur knapp mehr als vierzig Tage ausmacht. Zudem hat es sich Lavater zum Ziel gesetzt, die Ereignisse aus den vier Evangelien und aus der Apostelgeschichte dergestalt zusammenzufügen, dass sie einem klar erkennbaren chronologischen Ablauf folgen. Demgegenüber lässt sich bei Klopstock die eigentliche Erzählung von Leiden und Auferstehung Christi kaum als chronologische Handlungsabfolge nachvollziehen. Unzählige Einschübe, die von bereits geschehenen oder zukünftigen Ereignissen berichten und so eine temporäre Spanne umfassen, die sich über die irdische Zeit hinaus erstreckt – immer wieder wird von der Zeit in die Ewigkeit und von der Ewigkeit zurück in die Zeit geblickt –, drängen die Chronologie der Erzählung in den Hin-
1494 JMEA I, S. 300.
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tergrund.¹⁴⁹⁵ Indem Lavater einen einheitlichen Handlungsstrang verfolgt und die Taten Jesu in den Vordergrund stellt, hebt er den Klopstock vorgeworfenen Mangel auf, Jesus lediglich leidend, nicht aber handelnd zu zeigen. Die auch von der Kritik bemängelte Handlungsarmut, die Klopstock widerlegt, indem er das Leiden selbst als Handeln versteht,¹⁴⁹⁶ konnte Lavaters Epos nicht vorgeworfen werden. Lavater lässt sein Lied explizit „von den Thaten, den Leiden, dem Tode, dem Aufersteh’n“¹⁴⁹⁷ singen und unterscheidet somit deutlich zwischen Tat und Leid. Das vollständige Nacherzählen der vier Evangelien und der Apostelgeschichte macht aus Lavaters zweiter Messiade ein Großepos. Jeder Band besteht aus vier Büchern, die wiederum in unterschiedlich viele Kapitel eingeteilt sind, deren Gesamtzahl 301 beträgt. Sowohl bei der Länge wie auch bei der Einteilung der Kapitel lassen sich keine Regelmäßigkeiten feststellen, woraus zu schließen ist, dass Lavater nach keinem vorher festgelegten Plan arbeitete. Auffällig ist, dass die jeweils ersten Bücher der vier Bände mehr Kapitel enthalten als die folgenden. Die Kapitel entsprechen teilweise den in der biblischen Vorlage gemachten Unterteilungen, teilweise fasst Lavater aber auch mehrere Abschnitte zu einem zusammen oder unterteilt sie in weitere Abschnitte. Die Zusammenstellung aus den einzelnen Evangelien ist so gemacht, dass sie die harmonische Vollständigkeit ergeben, die Lavater anstrebt. Er versucht, die Ereignisse aus den einzelnen Evangelien dergestalt miteinander zu verbinden, dass sie eine zeitlich und inhaltlich logische Abfolge ergeben. Für ihn gilt der Grundsatz: Besingbareres und Vorstellungswürdigeres kenn’ ich nichts, als die Evangelische Geschichten, und zwahr alle und jede, auch nicht eine einzige ausgenommen. So viel Übereinstimmendes Alle haben, so viel Manichfaltiges, Eigenthümliches, Individuelles hat jede besondre, so, dass man gar nicht fürchten darf, einförmig zu werden.¹⁴⁹⁸
Trotz dieses Reichtums an abwechslungsreichen Begebenheiten, den die Evangelien und die Apostelgeschichte bieten, hält sich Lavater keinesfalls ausschließlich an die biblische Vorlage. Er lässt zwar kein darin beschriebenes Ereignis aus, wie er es in den Anmerkungen zum ersten Band erläutert,¹⁴⁹⁹ konnte es
1495 Zur Darstellung resp. der Auflösung von Zeit in Klopstocks ‚Messias‘ vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 223–234. Vgl. auch Kap. 4.6. 1496 Zu Klopstocks Gleichsetzung von Handeln und Leiden vgl. Martin (Anm. 29), S. 133–139. 1497 JMEA IV, S. 3. 1498 Ebd. I, unter Punkt 3 bei den Anmerkungen zu den Kupfern, unpaginiert. 1499 Ebd., S. 302.
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sich aber auch nicht verbieten, wie bereits bei Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn eigene Ergänzungen anzubringen. Lavater beabsichtigte eine zweifache Vollkommenheit oder Ganzheit: Nicht nur der Evangelien und der Apostelgeschichte sollte in ihrer Vollständigkeit gerecht werden, sondern die biblische Vorlage sollte auch in dem Sinne ganzheitlich respektive harmonisch sein, dass die Ereignisse und Taten in ihrer Motivation und Absicht verständlich sind. Die dazu benötigten Ergänzungen haben die seelischen Zustände der handelnden Figuren zum Inhalt, aber auch mechanische Vorgänge bestimmter Handlungen wie das Errichten des Kreuzes, wie in der detaillierten Analyse des dritten Bandes zu zeigen sein wird.¹⁵⁰⁰ Trotz der in seinem Brief an Ebert und auch in den Anmerkungen zum ersten Band seiner zweiten Messiade erwähnten Kritik an dem Aufwand, mit dem Klopstock die Perfektionierung des Hexameters betrieb, hat sich auch Lavater Gedanken dazu gemacht: Ein kurzes Wort noch von einigen Aüßerlichkeiten. Ich darf sagen, dass ich auf den Versbau Fleiß gewendet, und mir sehr viele Lizenzen, die sich Andre erlaubten, nicht erlaubt habe.¹⁵⁰¹
Das Resultat dieses Fleißes und die nicht erlaubten ‚Lizenzen‘ – gemeint ist hier wohl Klopstock, der einen sehr freien Hexameter verwendete¹⁵⁰² – ist ein strikt eingehaltenes Versmaß, das Lavater nur unterbricht, wenn er Lobgesänge oder Gebete einführt, für die er den Jambus bevorzugt.¹⁵⁰³ Obschon er in den Anmerkungen zum ersten Band ausführt, dass einige biblische Stellen wie die Bergpredigt oder der Stammbaum Jesu die „poetische Sprache“¹⁵⁰⁴ ausschließen, ist er auch bei besagten Passagen nicht vom Hexameter abgewichen, so dass nun, wie ein Kritiker leicht ironisch vermerkte, sogar das Geschlechtsregister hexametrisch vorliege.¹⁵⁰⁵ Eine Besonderheit sind die Akzente, die Lavater in seiner zweiten Messiade setzt. Es handelt sich dabei um Zirkumflexe und Striche auf Vokalen und Umlauten, zu deren Erklärung Lavater im ersten Band meint:
1500 Vgl. Kapitel 6.4.2. 1501 JMEA I, S. 414. 1502 Zu Klopstocks Hexameter vgl. Kap. 4.5. 1503 Zu Lavaters Hexametern vgl. Kap. 6.3. 1504 JMEA I, S. 302 f. 1505 Vgl. Heinrich Corrodi in der ‚Allgemeinen Deutschen Bibliothek‘ vom Jahr 1784: „Allzu gewissenhaft scheint auch H[er]r. L.[avater] den ganzen Innhalt der Evangelien seinem Gedicht einzuverleiben, da er uns selbst das Geschlechtregister Jesu in Hexametern liefert“ (58. Bd., 2. St. 1784, S. 477).
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Die Ambiguitǟt, besonders bey einsylbigen Wörtchen hab’ ich durch Accente zu vertilgen und durch diese zugleich die Nüanzen der Aussprache bestmöglich zu bestimmen gesûcht. Dass auch hiebey noch viel’ Unvollkommenheiten übrig blieben, fǖhl ich gar sehr.¹⁵⁰⁶
Mit dieser Akzentsetzung scheint Lavater Klopstocks Postulat Rechnung zu tragen, dass der Hexameter nach der Prosodie der deutschen Sprache ausgearbeitet werden muss.¹⁵⁰⁷ Allerdings stieß sie auf Unverständnis, so zum Beispiel bei Anna Barbara von Muralt (1727–1805): „Die Ersten brobbogen Seiner Mesiaden. Mit accenten! mir scheints ein etwas sonderbahrer Einfahl zu seyn!“¹⁵⁰⁸ Neben Metrik und Prosodie setzte sich Lavater aber auch mit einem dichtungstheoretischen Konzept auseinander, das er im Zuge der Poetologie seiner Lehrer Bodmer und Breitinger weiterverfolgte. Bei seiner Messiade handle es sich um „malende Dichtkunst“¹⁵⁰⁹, so lehnt sich Lavater an Breitinger an, der in seiner Critischen Dichtkunst die Poesie in Analogie zur Malerei beschreibt: Also stehet es in dem Vermögen der poetischen Mahler-Kunst, alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kann nachgeahmet und der Phantasie, als dem Auge der Seele, eingepräget werden, nach dem Leben und der Natur abzuschildern.¹⁵¹⁰
Auch Lavater will mit einer sinnlichen, die Seele und nicht den Verstand ansprechenden Dichtung zum besseren Vorstellungsvermögen beitragen. Die vom Dichter verwendeten Worte müssten einen eindeutigen sinnlichen Eindruck vermitteln, der einem Maler als Vorlage dienen könne: „Alle Situationen, die ich dichterisch zeichnete, sind, so weit es die Natur der Sache zulässt, für den Zeichner und Mahler gezeichnet.“¹⁵¹¹ Lavater betrachtet die Dichtung und die Malerei als sich ergänzende Kunstformen, die er in seiner Messiade für densel-
1506 JMEA I, S. 414. Abgesehen von diesem Beispiel, das zur Veranschaulichung dienen soll, ist die Akzentsetzung Lavaters zugunsten der Leserfreundlichkeit in den übrigen Zitaten aus ‚Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen‘ nicht übernommen worden. 1507 „Wenn wir also unsern Hexameter, nach der Prosodie unsrer Sprache, und nach seinen übrigen Regeln, mit Richtigkeit ausarbeiten; […] dann erst dürfen wir glauben, einen hohen Grad der poetischen Harmonie erreicht zu haben“ (Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses [Anm. 615], S. 131). 1508 Anna Barbara von Muralt: Anekdoten aus Lavaters Leben. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler und Conrad Ulrich. Bd. 1. Zürich 2011 (Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Ergänzungsband), S. 182. 1509 JMEA I, S. 302. 1510 Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 516), S. 53. 1511 JMEA I, Punkt 7 bei den Anmerkungen zu den Kupfern, unpaginiert.
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ben Zweck, für die Darstellung von allen für ihn wichtigen Ereignisse des Neuen Testaments in einer fassbaren, verschiedene Sinne ansprechenden Art und Weise einsetzt. Lavater erhofft sich, durch Abbildungen eine über die Einbildungskraft hinausgehende Verbildlichung erreichen zu können, die dem Geschehen mehr Fassbarkeit und den nötigen Nachdruck verleiht. Wie es seiner Meinung nach noch keine der biblischen Vorlage gerecht werdende dichterische Messiade gibt, fehlt seiner Meinung nach auch in der Malerei eine diesbezüglich adäquate Darstellung: Hundertmahl hat man es versucht, diese Geschichten in allen Formaten zu mahlen, zu zeichnen, zu gravieren. Ich habe sehr viele gesehen, sehr viel Gutes, Treffliches – Aber nicht Eine Sammlung, die meinen Wünschen im Ganzen von Ferne entspräche.¹⁵¹²
War es Lavaters Absicht, mit seiner Messiade den bei der bisherigen christlichen Dichtung festgestellten Mängel Abhilfe zu verschaffen, so verfolgte er bei den Abbildungen, mit denen er sein Werk bereicherte, dasselbe Ziel: „Seit vielen Jahren war’s mein Wunsch, wenigstens auch etwas zur Verbesserung dieses so wichtigen Theils der heiligen Kunst [der Malerei] beytragen zu können.“¹⁵¹³ In Lavaters zweiter Messiade finden sich insgesamt zweiundsiebzig Kupferstiche, die er selbst in Auftrag gab und die von unterschiedlichen Künstlern angefertigt worden sind. Zu deren bedeutendsten gehört Daniel Chodowiecki, der bei vielen Kupfern, wenn nicht den Stich, so doch die Vorlage geliefert hat. Auch der Zürcher Johann Heinrich Lips (1758–1817) war einer der Künstler, die Lavater beauftragte, Zeichnungen und Stiche für seine Messiade anzufertigen. Um wirklich zu der von ihm beabsichtigten Verbesserung in der bildnerischen Darstellung biblischer Motive beitragen zu können, gab Lavater den von ihm beauftragten Künstlern zum Teil sehr genaue Vorgaben und war schwierig zufriedenzustellen, so dass die Zeichner nicht selten zu mehreren Überarbeitungen gezwungen waren. Zu der Zusammenarbeit zwischen Dichter und Maler respektive den Anforderungen, die Lavater an die Künstler stellte, meinte er: Vorher noch etwas zu den Schwierigkeiten, wenn der Dichter nicht selbst zeichnet, nur anordnet und verbessert – Wie sehr bald ermüdet er auch den geduldigsten Zeichner – so dass er oft bey der zweyten Revision innehalten muss, wenn noch wohl fünf oder sechse nöthig wären. Ferner, wenn die Zeichnung noch so vollkommen ist, wie bald ist der Graveur um ein Haar abgewichen und bey so kleinen Gesichtern, wie viel bedeutender ist oft eines Haares Breite! […] Der soll noch nicht von Geduldprüfung reden, der nicht eine
1512 Ebd., Punkt 4 bei den Anmerkungen zu den Kupfern, unpaginiert. 1513 Ebd., Punkt 6 bei den Anmerkungen zu den Kupfern, unpaginiert.
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solche Arbeit, wo Er vom Publikum, dem Verleger und einem halben Dutzend, hundert Meilen weit zerstreüter Künstler, des Formats nicht zu gedenken, abhängt, unternommen hat.¹⁵¹⁴
Besagte Korrekturen und Überarbeitungen und sicherlich die angesprochene Tatsache, dass sich die Künstler meist nicht unmittelbar in seiner Nähe befanden – Lips zum Beispiel weilte in Rom –, haben dazu beigetragen, dass Lavater die Kupferstiche des ersten Bandes separat ein Jahr nach dessen Erscheinen herausgab.¹⁵¹⁵ Lavater hat jeden einzelnen Stich mit einem eigenen Kommentar versehen. Darin vermerkt er meistens, aber nicht immer, den Zeichner und den Stecher. Wichtiger als auf die Herkunft der Abbildung einzugehen war es Lavater, diese nach von ihm als bedeutsam erachteten qualitativen Aspekten zu beurteilen. Neben den vielen Kommentaren zur Anordnung, zur Komposition, zur Perspektive, zu den Größenverhältnissen oder den Licht- und Schatteneinflüssen beschäftigte sich Lavater auch mit den dargestellten Emotionen. So fehlen den jüdischen Gelehrten, als sie den Knaben Jesus und seine Mutter sehen, „Verwunderung, Erstaunen, Seligpreisung der Mutter und des Sohnes“¹⁵¹⁶, und Petrus ist in der Szene bei der Fußwaschung „mehr ängstlich nachdenkend, als ehrerbietig“¹⁵¹⁷, und auch Maria, die den auferstandenen Jesus sieht, gefällt Lavater nicht, sie ist „viel zu wenig entzückt, viel zu wenig verlohren im Anblick des Auferstandenen.“¹⁵¹⁸ Das kritische Auge, das Lavater im Zuge seiner physiognomischen Arbeit entwickelte und das es den Künstlern beinahe verunmöglichte, seinen Anforderungen zu entsprechen, war auch Goethe nicht entgangen. Anhand seines eigenen Porträts, das Lavater nicht vollumfänglich genügte, erläuterte Goethe Lavaters Anspruch an die Kunst. Die Gründe, die Lavaters Unzufriedenheit im Hinblick auf Abbildungen der menschlichen Physiognomie erklären, findet Goethe nicht nur in der Unzulänglichkeit der Maler, Zeichner und Stecher, sondern auch in Lavaters Vorstellungen über das Göttliche, das er im Menschen sucht:
1514 Ebd., Anmerkungen zu den Kommentaren der Kupfer, Abschnitt 11. 1515 Lavaters Cousine Anna Barbara von Muralt berichtet: „den 12 [April 1783] Kamm der Erste Theil der Messiaden aus der press, doch ohne Kupfer“ (JCLW, Ergänzungsband, Anekdoten [Anm. 1508], S. 191), und am 9. April 1784 vermerkt sie: „bekamm u. verschickte den 2ten thl. Mesiaden – di Kupfer zum Ersten Thl.“ (Ebd., S. 232. Die eigenwillige Orthographie entspricht dem Original). 1516 JMEA I, Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung VI. 1517 Ebd. III, Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung II. 1518 Ebd., Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung XV.
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Mein wirkliches nachgesandtes [Portrait] ließ er zwar gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen Vorzügen welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurück, die er von der Menschheit und den Menschen hegte.¹⁵¹⁹
Lavaters physiognomische Analysen beziehen sich aber nicht nur auf das menschliche Antlitz, sondern auch auf die Gesichtszüge Christi. Bereits in seinen Physiognomischen Fragmenten hat sich Lavater mit Christusbildern beschäftigt und konstatiert, dass eine würdige Abbildung kaum möglich ist: Von allen vorhandenen Christusköpfen ist keiner – des grossen Charakters würdig. Alle, die wenigsten, die ich gesehen, sind, wo nicht erweisliche Lästerungen, doch gelind ausgedrückt – entweder zu sehr menschlich, oder zu wenig, ohne jedoch deswegen göttlich zu seyn.¹⁵²⁰
Auf Grund dieser negativen Beurteilung ist es kaum erstaunlich, dass Lavater bei den Abbildungen in Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen kaum zufriedenzustellen war, was die Darstellung vom Antlitz Christi betraf, und diese Unzufriedenheit in kritischen Kommentaren äußerte. So ist seiner Meinung nach Jesus in der Szene mit Petrus auf dem Wasser „in der Gestalt, erträglich, im Munde gut, in Nase und Aug mittelmäßig, in der Stirn hart und starrsinnig.“¹⁵²¹ Bei einem anderen Bild schreibt er: „Der Kopf des Heilands hat eine Lärheit und Gedehntheit, die ihn kaum erträglich machen würde, wenn die Nase nicht eine beträchtliche Vergütung wäre“¹⁵²², und bei einem weiteren Kupferstich bemerkt er, dass das Gesicht des Messias „in der Mitte des Profils, von der Augenbraun bis an’s Ende der Nase, eine leidige Fadheit“¹⁵²³ hat. Eine etwas andere Beschreibung vom Antlitz Christi gibt Lavater in den Anmerkungen zum ersten Band, in denen er den Kopf des Messias folgendermaßen beschreibt: Das Gewölbe des Himmels, wie es erscheint oder wirklich ist, ist das Nachbild oder Urbild der Stirn, oder des ganzen Schädels des Menschen Jesus … Das Haupt Christus ist vollkommen, wie das Himmelgewölbe – und ist der Inbegriff alles Himmlischen.¹⁵²⁴
1519 Goethe, Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 14: Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 660. 1520 Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 175), Bd. IV, S. 433. 1521 JMEA II, Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung IV. 1522 Ebd., Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung V. 1523 Ebd., Heft mit den Kupfern, Kommentar zu Abbildung XII. 1524 Ebd. I, S. 307.
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Indem Lavater die Abbildungen mit Titeln versieht und somit neben dem Bild selbst und dem es erläuternden Kommentar eine dritte Ebene der Erklärung zur Verfügung hat, schafft er die in der Emblematik vorgegebene dreiteilige Struktur der Inscriptio, Pictura und Subscriptio.¹⁵²⁵ Im Sinne eines Emblems ergänzen die von Lavater gesetzten Überschriften die bereits durch Bild und Text gegebene Aussagekraft. Jedes Kupfer rekurriert zwar auf ein Kapitel Lavaters Messiade, die Bildtitel entsprechen aber nur in einigen Fällen wörtlich den Kapitelüberschriften, oft handelt es sich um Ergänzungen, die mehr noch als die Kapitelüberschrift auf die Inhalte verweisen oder theologische Anweisungen enthalten.¹⁵²⁶ Lavaters Messiade weist eine Vielzahl stilistischer Merkmale auf, die im Folgenden exemplarisch im Hinblick auf seine Christologie, auf seine poetologische Absicht und auf die Referenz zu Klopstocks Messias erläutert werden. Wie bereits in seinem ersten Epos setzt Lavater auch bei Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen eine abgeänderte Form des Musenanrufs ein. Für ihn ist es nicht wie bei Klopstock die „unsterbliche Seele“, sondern sein eigenes Heiliges Lied, dem Lavater den Auftrag gibt, von Jesus zu singen: Sing mein heiliges Lied, gelehrt vom Geiste der Wahrheit, Jesus, den Nazarener, den König Israels! […]¹⁵²⁷
Immer wieder und viel häufiger als in Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn wird in der Folge das Lied angesprochen, welches das Geschehene in einer den Ereignissen angepassten Weise nachsingen soll. So ist es zuweilen lediglich die Aufgabe des Liedes, die Worte Jesu nachzuerzählen: Sprich nun der Reden erhabnenste nach, mein Lied, o die schönste, Welch die Erde vernahm; die Rede des Göttlichen, die Er Auf dem Berge des Heils versammelten Israeliten, Seinen Aposteln, dem Menschengeschlechte, der Ewigkeit aussprach.¹⁵²⁸
1525 Vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, S. 435. 1526 So zum Beispiel die ersten drei Abbildungen des dritten Bandes: „Das Abendmahl. Ich bin das Brod des Lebens. Nehmet! Esset!“, „Die Fußwaschung. Werd Ich dich nicht waschen, so hast du keinen Theil an Mir!“ und „Jesus betend im Kreise der Apostel. Vater! Lass sie Alle Eins seyn!“ Sie illustrieren die Kapitel „Der Messias stiftet das Gedächtnismahl seines Todes“, „Die Fußwaschung“ und „Gebet des Messias.“ 1527 JMEA I, S. 4. 1528 Ebd., S. 217.
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Indem Lavater aber auch die Art und Weise charakterisiert, in der das Lied ertönt, hat er ein stilistisches Mittel zur Verfügung, um über die eigentliche Beschreibung hinaus Eindrücke des Geschehens wiederzugeben und die besondere Situation anzukünden, die das Lied zu singen hat: Bebend, mit leisem Tritt, und von Ferne wandelt mein Lied Dir, Gottes Erwähltester! nach, und stammelt von Deinen geheimen, Tiefen Gefühlen, erhabnen Gedanken und heissen Kämpfen.¹⁵²⁹
Eine Art der fictio personae¹⁵³⁰ macht Lavater, wenn er sich direkt an das ‚singende‘ Lied wendet und ihm das in Anbetracht der zu verkündenden Ereignisse angepasste Verhalten mitteilt. So gebietet er das Lied bei der Geburt Jesu zu verstummen, um die diesem Augenblick gebührende Ehrfurcht und Andacht aufzubringen.¹⁵³¹ Bei gewissen Begebenheiten muss sich das Lied abwenden, so zum Beispiel, als die Knaben durch die Soldaten von Herodes erwürgt werden,¹⁵³² und bei der Kreuzigung Jesu Christi kann das Lied nicht anders als in Schweigen zu verharren. Das Geschehen ist zu schlimm, so impliziert Lavater, als dass es durch adäquate menschliche Worte ausgedrückt werden kann: Ich erlieg’, ich erliege, zu singen, was jetzt soll geschehen! Ach! nicht darf sich die Lippe, die Zunge nicht regen, das Aug nicht. Nicht das Ohr sich öffnen, zu hören, zu schau’n, was gescheh’n soll! Stärke mich, ewiger Geist! und berühre die niemal berührten Saiten meiner Natur, dass ich seh’ und hör’ und ich singe Jesus auf Golgatha! […].¹⁵³³
Um sein Epos trotzdem fortsetzen und die wichtige Szene der Kreuzigung und der Auferstehung schildern zu können, benutzt Lavater das bereits bei Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn verwendete Stilmittel des Unsagbarkeitstopos, das sich in seinem Werk als ‚exklamatorisches Nichtsagen-Können‘ äußert.¹⁵³⁴ So unterbricht er seine Erzählung über den Tod Jesu ständig mit folgenden Versen:
1529 Ebd., S. 124. 1530 Zum Begriff ‚fictio personae‘ (Prosopopeia) vgl. Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinrich Lausberg. 3. Aufl. Stuttgart 1990, S. 411 f. 1531 JMEA I, S. 30. 1532 Vgl. ebd., S. 65. 1533 Ebd. III, S. 105. 1534 Vgl. Kap. 6.3.
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Ach, was ist gesagt, wenn ich sage – […] Ach! Was ist’s, was ich sagt’ – und was ich sagen kann? Nichts ist’s! Nichts ist gesagt, wenn ich sag’…[…] Etwas und nichts ist gesagt …[…]¹⁵³⁵
Dieser Unsagbarkeitstopos erinnert an Klopstocks stilistisches Merkmal der ‚negativen Theologie.‘¹⁵³⁶ Um die der menschlichen Sprache nicht mehr zugängliche Verschiedenartigkeit des theologischen Jenseits darstellen zu können, versieht Klopstock bestimmte Attribute wie ‚endlich‘, ‚sterblich‘, ‚vorstellbar‘ oder ‚begrenzt‘ mit der Negationssilbe ‚un‘ und schafft damit eine nur für das übersinnliche Reich zutreffende Terminologie. Gottes Macht ist „unbegrenzt“¹⁵³⁷, die himmlischen Bewohner sind „unsterblich“¹⁵³⁸, sie fühlen „unaussprechliche Freuden“¹⁵³⁹, und Jesus erlebt „unempfindbare Furcht.“¹⁵⁴⁰ Im Unterschied zu Klopstocks ‚negativer Theologie‘ gibt es für Lavater jedoch keine Begriffe mehr, das Geschehene kann lediglich angesprochen, angedeutet, nicht aber wirklich ausgedrückt werden. Wie Klopstock betrachtet Lavater seine Dichtung als göttlich inspiriert und vertritt dadurch die Ansicht, dass der Dichter wie der Prophet seherische Fähigkeiten besitzt: „Wer wahr sieht, was sonst niemand sehen kann, und welches gesehen zu haben, ohne seine Veranlassung, sich niemand erinnern kann – den heiß ich Dichter.“¹⁵⁴¹ Lavater stellt sich in die Tradition der Propheten des Alten Testaments, diese sind für ihn „Sänger der Fern“¹⁵⁴² und „Herrscher über die Herzen.“¹⁵⁴³ Dass er sich zutraut, ihnen ebenbürtig zu singen, wird deutlich, wenn er sein Lied die Gesänge der alttestamentlichen Propheten nacherzählen lässt: Flieh’ mein Lied hinauf in die Vorzeit! Singe Gesänge, Die der Zukunft sangen den Herrn und fernen Geschlechtern, Eh’ der künftige kam, Ihn gezeiget, ehe der Tag sich Darstellt’ Israels Söhnen … Was sangt ihr, Gesänge der Vorzeit?¹⁵⁴⁴
1535 Solche Verse finden sich im gesamten Kapitel V, „Jesus Messias am Kreuze“, Bd. 3, S. 118– 126. 1536 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 209; vgl. Kap. 4.6. 1537 HKA IV, 3, I, V.82. 1538 Ebd., I, V.129. 1539 Ebd., I, V.167. 1540 Ebd., I, V.117. 1541 JMEA I, S. 310. 1542 Ebd., S. 10. 1543 Ebd. 1544 Ebd.
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Ein auch von Klopstock häufig verwendetes, für das Epos typisches Stilmittel ist die Apostrophe¹⁵⁴⁵ an verschiedene Musen oder an anderen zur Unterstützung angerufenen Beistand, so zum Beispiel an die Geister alt- und neutestamentlicher Propheten: „Hauche sanft mich an, du Vertrauter unsterblicher Sänger, / Davids Geist und Johannes, des Offenbarungensehers!“¹⁵⁴⁶ Eine oft um Beistand angeflehte Muse ist Urania: Weiter noch führtest, Du, Urania, mich, du gottentflammte Prophetin! Seherin göttlicher Wesen, du Hörerin hoher Orakel. Tochter des ersten der Geister! Du ewigkeitathmende Dichtkunst!¹⁵⁴⁷
Obschon weder in der Liste der in den Anmerkungen erwähnten Epen noch in Lavaters Leseliste auftauchend, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Lavater mit seinem an Urania gerichteten Musenanruf auf das lateinische Epos Uranias anspielt, das vom Pietisten Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) im Jahr 1720 verfasst wurde und die Heilsgeschichte zum Inhalt hat.¹⁵⁴⁸ Dass sich auch Klopstock bei der Konzeption seines Messias von Petersen inspirieren und beeinflussen ließ, ist ebenfalls nicht eindeutig belegbar, erscheint aber naheliegend, wie in der Forschungsliteratur von Gerhard Kaiser aufgezeigt wird.¹⁵⁴⁹ Ein von Kaiser angesprochener Hinweis auf Klopstocks Beeinflussung durch Petersen ist dessen Verständnis des Dichters als Propheten, das dieser in seiner Vorrede zu Uranias erläutert¹⁵⁵⁰ – eine Gleichsetzung, die sowohl Lavater wie auch Klopstock machen. Unter dem Titel Urania sive stellis Libri V hatte auch Giovanni Pontano (1429–1503) ein Werk publiziert, es handelt sich dabei jedoch um ein Lehrgedicht über meteorologische Phänomene.¹⁵⁵¹ Ein weiteres Werk mit dem Titel Urania victrix (1663) stammt von Jakob Balde (1604–1668). Durch welchen dieser genannten Titel Lavater dazu inspiriert wurde, Urania als Muse anzurufen, kann nicht eindeutig belegt werden.
1545 Zum Begriff ‚Apostrophe‘ vgl. Lausberg (Anm. 1530), S. 377 f. 1546 JMEA I, S. 75. 1547 JMEA III, S. 97. 1548 Johann Wilhelm Petersen: Uranias qua opera Dei magna omnibus retro seculis et seconomiis transactis usque ad apocatastasin seculum omnium per spiritum primogeniti gloriosissime consummanda carmine heroico celebrantur; Accedit eiusdem cystoichia Christi et Belial regnique lucis et tenebrarum et Carmen in nuptias agni: cum indice copioso. Francofurti et Lipisae 1720. 1549 Vgl. Kaiser (Anm. 28), S. 127, S. 129. 1550 Vgl. ebd., S. 149. 1551 Vgl. Ruth Monreal: Flora neolatina: die ‚Hortorum Libri IV‘ von René Rapin S. J. und die ‚Plantarum Libri VI‘ von Abraham Cowley. Zwei lateinische Dichtungen im 17. Jahrhundert. 2010, S. 6.
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Bemerkenswert ist, dass auch Klopstock Einlass findet in Lavaters Werk, und zwar sowohl als Inspiration – „der in mir entschlug der Dichtkunst Funken, der erste / Sänger Germanias, der dem Himmel näher sein Volk hob“¹⁵⁵² – wie auch lobend als „Ehre Germaniens“¹⁵⁵³, dem „mehr als mir vertraute die himmelentstandene Dichtkunst“¹⁵⁵⁴ und dessen „unsterbliches Lied unsterbliche Thränen entlockte.“¹⁵⁵⁵ Eine doppelte Reminiszenz macht Lavater in der Anspielung „der christlichen Dichter Fürst“¹⁵⁵⁶, die auf Klopstock verweist und dabei mit dem vorgezogenen Genitiv gleichzeitig ein für Klopstock typisches Stilmittel verwendet. Wie wichtig es Lavater ist, dass jeder Leser in eben zitierten Versen Klopstock erkennt, zeigen die jeweiligen erläuternden Anmerkungen, in denen er den Angesprochenen namentlich erwähnt.¹⁵⁵⁷ Neben der bereits erläuterten Personifikation des Liedes verwendet Lavater die figura personae auch, indem er sich mit seinem Gesang direkt an die Figuren richtet, über die er erzählen will. Er stellt damit eine kommunikative Interaktion zwischen dem Sänger und dem Dargestellten her. So spricht Lavater zu Johannes: „Süss ist’s meinem Herzen, die ersten Tage zu singen / Deines Wandelns unter den Menschen, Du Lehrer der Menschen!“¹⁵⁵⁸ oder wendet sich überrascht an Nathanael, der Jesus erkennt, noch bevor er mit ihm gesprochen hat: „O wie kannst du / Kennen den Unbekannten?“¹⁵⁵⁹ Doch nicht nur Personen werden angesprochen, sondern auch die Schauplätze des Geschehens, wodurch sich Lavater ein stilistisches Mittel verschafft, um Spannung zu generieren oder die Besonderheit der dort stattfindenden Ereignissen zu unterstreichen. So betont er die Bedeutung von Jesu Geburt, indem er seine Geburtsstadt Nazareth direkt anspricht: „Kleinste der Städte! Du bist doch / Von der kleinsten und größten der Welten Gottes das Sinnbild!“¹⁵⁶⁰ Einen Hinweis auf nachfolgende Ereignisse gibt er, wenn er zum Garten Gethsemane spricht: […] Heiliger Zeuge Mancher stillen Gebet’ in bangen Nächten! Du solltest, Feierduftender Garten, noch werden ein Zeuge der bängsten Niebeschreiblichen Qual des Allerfreuers der Menschheit!¹⁵⁶¹
1552 JMEA III, S. 55. 1553 Ebd., S. 179. 1554 Ebd., S. 179. 1555 Ebd., S. 56. 1556 Ebd., S. 95. 1557 Vgl. z. B. Anm. 3 in JMEA III, S. 267 f. 1558 JMEA I, S. 157. 1559 Ebd., S. 159. 1560 Ebd., S. 28. 1561 Ebd. III, S. 31
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
Um die Bedeutung zu betonen, die Lavaters Meinung nach dem Neuen Testament für das Christentum zukommt, personifiziert er auch das Evangelium: Evangelium Christus! Du Inbegriff aller Belehrung, Welcher bedarf der menschliche Geist! Du Quelle von jeder Kraft, von jeglichem Leben, das Herzen bewegt! Ich empfinde, Ach! So oft ich von dir zu singen mich sammle – die Bürde Meiner Erdenatur!¹⁵⁶²
Lavaters Epos zeichnet sich durch die vielen Reden seiner handelnden Figuren aus. Anders aber als bei Klopstock ergreift Lavaters Gott nicht direkt das Wort, sondern offenbart sich durch die Schöpfung und durch die von ihm auserwählten Menschen: Der Wege Gottes zum Herzen der Menschen Sind viel tausendmal Tausend! Jetzt spricht er durch Stimmen vom Himmel; Jetzt durch Blitze, […] […] Bald spricht Durch Propheten und Weise, durch Dichter und Sänger der Vater Aller Geister zu Geistern, zu seinen Kindern …[…]¹⁵⁶³
Wie Klopstock ist auch Lavater sehr erfinderisch in der Gestaltung neuer Wortverbindungen. Seine Neologismen haben die Funktion, das Geschehene in intensiven, neuen Farben darzustellen. Judas schlägt sein „falschheitblickendes Aug’“¹⁵⁶⁴ nieder, die Stille ist „kummerlindernd“¹⁵⁶⁵, und Petrus’ Flehen wird als „himmelzerschneidend“¹⁵⁶⁶ bezeichnet, so eine Auswahl von neuen Wortkombinationen, deren Absicht durchaus lobend anerkannt wurde: „Die Zusammensetzung neuer Beywörter hat Ihnen trefflich gelungen, ‚Schulenfliehende Weisheit – Odemzäumendes Schweigen – Gotthohnsprechende Frechheit‘ diese sind so analogisch, so ausdrückend.“¹⁵⁶⁷ Eine eigene Wortschöpfung braucht Lavater für die Nachkommen biblischer Urväter und -mütter. Lavater benutzt das Affix „-ide“, das er dem jeweiligen Namen anfügt. So schreibt er von „Adamiden“¹⁵⁶⁸,
1562 Ebd. IV, S. 125. 1563 Ebd. I, S. 40. 1564 Ebd. III, S. 6. 1565 Ebd., S. 62. 1566 Ebd. 1567 Haschka an Lavater, 22. Aug. 1783. In: Hegner (Anm. 3), S. 160. 1568 JMEA I, 8.
Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen
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„Abrahamiden und Abrahamidinnen“¹⁵⁶⁹ und „Sarahiden.“¹⁵⁷⁰ In den besonderen Anmerkungen erläutert Lavater, dass es sich bei „Adamiden“ um die Nachkommen Adams handelt, wie er zu diesem Begriff gekommen ist, erklärt er aber nicht.¹⁵⁷¹ Er dürfte sich bei dieser Wortbildung auf Bodmer beziehen, der seinem Noah-Epos – wohl in Analogie zu Aeneide – den Titel Noachide gab. Bei den anderen erwähnten Namensbildungen mit –ide liefert Lavater keine Erklärungen in den Anmerkungen. Von Lavater oft verwendete Stilmittel bei der Wortwahl sind das Polyptoton¹⁵⁷² und die figura etymologica.¹⁵⁷³ Um Besonderheit oder Intensität mit Hilfe eines nicht herkömmlichen Sprachgebrauchs auszudrücken, werden die zu betonenden Wörter in einer anderen Flexion oder – unter Beibehaltung des etymologischen Stammes – in einer anderen Wortform wiederholt. Lavater schreibt von „der Wonne der Wonnen“¹⁵⁷⁴, Jesus ist der „Erbarmer Erbarmendster“¹⁵⁷⁵, wobei zu bemerken ist, dass der Begriff „Erbarmer“ von Klopstock stammt,¹⁵⁷⁶ er beschreibt eine „noch stillere Stille“¹⁵⁷⁷, es „schwebten die schwebenden Düfte“¹⁵⁷⁸, „eilender eilten die Boten“¹⁵⁷⁹, und unter all den Verstorbenen ist Jesus der „todteste Todte.“¹⁵⁸⁰ Wie Lavater die erläuterten stilistischen und formalen Besonderheiten mit seiner Absicht verbindet, die Ereignisse besonders nachdrücklich und unter Miteinbezug der vierfachen evangelischen Quelle nachzuerzählen, wird im nächsten Kapitel dargestellt.
1569 Ebd. IV, S. 144. 1570 Ebd. I, S. 83. 1571 Vgl. ebd., S. 305. 1572 Zum Polyptoton vgl. Lausberg (Anm. 1530), S. 325. 1573 Bei Lausberg wird die etymologisierende Stammwiederholung unter die figura per pleonasmon eingereiht (vgl. Lausberg [Anm. 1530], S. 328, S. 269). 1574 JMEA III, S. 244. 1575 Ebd. 1576 Vgl. HKA IV, 3, I, V.406. 1577 JMEA I, S. 30. 1578 Ebd. II, S. 78. 1579 Ebd. 1580 Ebd. III, S. 223.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
6.4.2 „Geistes- und Herzensarbeit“: Das dritte Buch von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen Die im dritten Band beschriebene Kreuzigung Jesu in der besonderen christlichen Bedeutung zu schildern gehörte zu einer der wichtigsten Aufgaben, die Lavater in Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen erfüllen wollte: Der schwerste und süßeste Theil dieses Werkes! Bei Wenigem, was ich schrieb, hab’ ich so die peinliche Wollust der Geistes- und Herzensarbeit empfunden, wie bei diesem Bande. Ich habe nicht umsonst gelebt – wenn zehen meiner Leser so heisse und so selige Momente dabei hatten, wie Gottes Erbarmen mir dabei gönnte.¹⁵⁸¹
Exemplarisch für die Vorgehensweise, die Lavater benutzt, um die vier Evangelien zu einem Ganzen zu verweben und dabei keinen einzigen Vers auszulassen, soll das Geschehen vom Pessachmahl, das Jesus mit seinen Jüngern einen Tag vor seinem Tod einnimmt, bis zum Aufenthalt im Garten Gethsemane, wo Jesus die letzte Nacht vor der Verhaftung verbringt, erläutert werden. Lavater erzählt besagte Passagen in den ersten elf Kapiteln des neunten Buches von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen. Tabelle 1: Die Zusammenstellung der verschiedenen Evangelien Kapitel aus JMEA II
Matthäus
Markus
Lukas
I. Feyer des Passah II. Der Messias stiftet das Gedächtnismahl seines Todes III. Fusswaschung IV. Jesus und Judas V. Letzte Reden Jesus Messias
26, 17–20 26, 26–29
14, 12–17 14, 22–25
22,7–13 22,14–23
26, 21–25
14, 18–21
22,3–4 22, 31–38
26, 30
14, 26
26,30–35
14, 26–31
VI. Gebet des Messias VII. Lobgesang (Psalm 113–118) XIII. Gang nach Gethsemane
1581 Ebd., S. 265.
22, 24–38
Johannes
13, 3–20 13, 21–30 13,31–38; 14,1–31; 15, 1–27, 16,4–32 17, 1–19
Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen
Kapitel aus JMEA II
Matthäus
Markus
Lukas
IX. Der Messias in Gethsemane. Erste Stunde X. Der Messias in Gethsemane. Zweite Stunde XI. Der Messias in Gethsemane. Dritte Stunde
26, 36–41
14,32–38
22, 39–42 22,24–30
26, 42–43
14,39–40
26, 44–46
14,41–42
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Johannes
22, 43
Haupterzählung In Haupterzählung eingefügte Ereignisse Quelle: Eigene Darstellung.
In der Tabelle sind die jeweiligen Bibelstellen, auf die Lavaters Kapitel rekurrieren, zusammengestellt. Die kursiven Versangaben beziehen sich auf dieselben Ereignisse und liegen den jeweiligen Kapiteln als Haupthandlung zugrunde. Die fett hervorgehobenen Angaben bezeichnen Passagen, die in die Grundhandlung eingeflochten werden. Wie ersichtlich wird, folgt Lavater in vielen Kapiteln den synoptischen Evangelien. Dazwischen streut er aber auch lange Passagen aus dem Johannes-Evangelium ein und versucht, die bei Lukas gefundenen Ergänzungen zur Haupthandlung einzuflechten. Mit dieser Montagetechnik will Lavater die Evangelien als chronologische, einheitliche Handlung darstellen. So webt er beispielsweise in das weitgehend dem Johannes-Evangelium folgende fünfte Kapitel Verse aus Lukas ein, welche die von Jesus vorhergesagte Verleugnung durch Petrus beschreiben. Johannes-Evangelium: Simon Petrus sagte zu ihm: Herr, wohin willst du gehen? Jesus antwortete: Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen. Petrus sagte zu ihm: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben will ich für dich hingeben. Jesus entgegnete: Du willst für mich dein Leben hingeben? Amen, amen, das sage ich dir: Noch bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Joh. 13, 36–38.
Lukas-Evangelium: Simon, Simon, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder. Darauf sagte Petrus zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir sogar ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Jesus erwiderte: Ich sage dir, Petrus, ehe heut der Hahn kräht, wirst du dreimal leugnen, mich zu kennen. Lk. 22,31–34.
JMEA III: Simon Petrus antwortet: ach Rabbi! wo gehest Du hin? wo? Jesus erwiedert: du kannst, o Simon, jezt mir nicht folgen!
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
Einst wirst du Mir folgen! … Ach! Herr! versetzte der warme Herzlichliebende: Herr! warum kann ich jezt Dir nicht folgen? Herr! Ich bin bereit, für Dich mein Leben zu lassen! Ihm antwortet der Herr: dein Leben du für Mich lassen? Wahrlich! Ich sage dir, wahrlich – Du wirst Mich dreimal verläugnen! Ehe das Hahnengeschrei in der Nacht ertönen wird, zweimal! Simon! Simon! Es sucht euch wie den Waizen zu sichten, Satan – Ich flehte für dich, dass nicht ersterbe dein Glaube! Wann du einst dich bekehrst und Gnade suchest und findest, Alsdann stärke die Schwachen! Der Eins nur Hörende sagte: Herr! Ich bin bereit, zu geh’n mit Dir in’s Gefängniss, Mit Dir zu geh’n in den Tod. Noch einmal sah’ ihn der Herr an: Petrus! Hast du ein Ohr, so höre – Der Hahn wird nicht zweimal Rufen in dieser Nacht, und du hast mich dreimal verläugnet! Tief verwundete, tief das Wort der warnenden Wahrheit Simon Johanna; doch schwieg er – […].¹⁵⁸²
Im Matthäus- und Markusevangelium wird die von Jesus vorhergesagte Verleugnung durch Petrus zeitlich später auf Jesu Weg nach Gethsemane beschrieben. Um auch diesem Umstand gerecht zu werden und in seine der Vollständigkeit verpflichtete Nacherzählung der Evangelien aufzunehmen, stellt Lavater eine numerische Verbindung zwischen den zeitlich im Matthäus- und im Markusevangelium anders als im Lukasevangelium situierten Verleugnungen her; In Lavaters dichterischer Ausgestaltung verleugnet Petrus Jesus dreimal, wovon die letzte Verleugnung, wie es Matthäus und Markus beschreiben, auf dem Weg nach Gethsemane, den Lavater in Kapitel VIII schildert, passiert: Kaum vermochte Simon=Johanna so lang sich zu halten, Bis vollendet der Herr der Warnung Wort und des Trostes – Aus der Fülle des Herzens, er wähnt’s – Ach! nicht aus des Herzens Sanfter ruhiger Füll’, aus welcher Gottes Gefühl spricht – Nur aus der Flamme des Bluts rief laut dem Warner – der Schnelle … Schämten Alle sich Dein, nicht Ich will Deiner mich schämen! Ich nicht weichen von Dir, wenn Alle wichen. – Der Herr stand, Schaut’ in der Helle des Monds dem feurigen Rufer in’s Auge. Höre zum drittenmale [eigene Hervorhebung], was zweimal umsonst Ich dir sagte: Wahrlich in dieser Nacht, eh’ zweimal rufen der Hahn wird, Wirst du dreimal betheuren: ich kenne nicht Jesus – […]¹⁵⁸³
1582 Ebd., S. 14. 1583 Ebd., S. 29 f.
Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen
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Im siebten Kapitel stellt Lavater seinen Vorsatz, keine in der Bibel angesprochene Stelle auszulassen, erneut unter Beweis. Bei dem in der Kapitelüberschrift erwähnten Lobgesang handelt es sich um die Psalmen 113–118, die an den Auszug des israelischen Volks aus Ägypten erinnern und im Judentum traditionellerweise zum Pessach-Fest gesungen werden. Im Matthäus- und im Markusevangelium wird in jeweils einem Vers darauf hingewiesen: „Nach dem Lobgesange gingen sie zum Oelberg hinaus“ (Mt. 26,30, Mk. 14,26). Lavater nimmt nicht nur besagten Vers auf, sondern dichtet die Lobgesänge aus den Psalmen nach. Um sie in den Zusammenhang mit dem neutestamentlichen Geschehen zu bringen, lässt er sie von Jesus nachsingen¹⁵⁸⁴ – eine bemerkenswerte Verbindung des Alten und des Neuen Testaments und in gewissem Sinne auch des Judentums und des Christentums, singt doch der von den Juden nicht anerkannte Messias deren Lobgesänge. Eine an Intensität kaum zu übertreffende und sowohl für Lavaters dichterische Imagination wie auch für seine christologische Aussageabsicht bezeichnende Situation wird in den Kapiteln neun bis elf dargestellt, in denen Lavater die letzte Nacht vor der Verurteilung und Kreuzigung Jesu nacherzählt. Lavater gliedert die betreffende Szene, die bei Matthäus und Markus als Ganzes behandelt wird, in die Kapitel „Der Messias in Gethsemane. Erste Stunde“ nach Mt. 26,32–38, Mk. 14,32–38, „Der Messias in Gethsemane. Zweite Stunde“ nach Mt. 26,39–40, Mk. 14,39–40 und „Der Messias in Gethsemane. Dritte Stunde“ nach Mt. 26,41–42, Mk. 14,41–42. Bei Lukas geht Jesus nur einmal fort, um zu beten, dort erscheint ihm ein Engel (Lk. 22,14–43). Auch Lavater führt den Engel ein, bei ihm ist es Gabriel, er erscheint Jesus in seiner zweiten Gebetsstunde, wie noch eingehender erläutert wird. Bereits im Eingang zur ersten Gebetsstunde in Gethsemane macht Lavater durch die in vorangehendem Abschnitt erläuterten Stilmittel der Unsagbarkeit und der Anrede an Schauplätze deutlich, dass sich die Ereignisse ihrem dramatischen Höhepunkt nähern: Jammervollste der Nächte, die je den Sternen entsunken! Dich besäng’ ein Staub? Verwesung dich und ein Sünder? Gnadenvollste der Nächte, die je von den Himmeln herabkam! Dich besäng’ ein Unsterblicher? Einer der Sieben am Throne? Nein! Dich singt kein Gesang der Söhne der Erd’ und des Himmels! Stimmtet in Eins ihr Alle, die Gott mit Gesange begnadigt; Denen ward das reinste Gefühl für jegliche Schönheit! Freunde des Allbeseligers! Ehrer Alle des Einen,
1584 Vgl. ebd., S. 24–28.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
Sänget ihr Einen Gesang, den niegesungenen, neuesten; Dennoch wäre sie nicht, nicht Eine Stunde besungen Von der bängsten der Nächte, die je den Sternen entsunken, Von der seligsten Nacht, die je von den Himmeln herabkam.¹⁵⁸⁵
An die in Mk. 1,12–13 par. geschilderten Versuchung Satans erinnernd, beinhaltet Lavaters dichterische Ergänzung die Figur des in verschiedenen Gestalten erscheinenden Satans, der Jesus zu überzeugen versucht, von seinem bevorstehenden Opfer des Kreuzestodes für die Menschheit abzukommen. Um Jesus gegen die Menschen aufzubringen, entwickelt der von Lavater eingeführte Satan eine geschickte Strategie. Zuerst versucht er, die emotionale Stärke Jesu aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem er ihn mit allem erdenklichen menschlichen Leid belädt: Qualen will ich auf Ihn, mit euch vereinigt, die ältesten Und die neu’sten Qualen der jammerbelasteten Menschheit Giessen nieder auf Ihn … […] Häufen will ich auf Ihn wie Gebirg’ auf Gebirg’ die Aengste Aller Gebornen und aller Gebärerinnen der Erde. Niemand leid’ jetzt durch uns … Versammelt alle Gewalten! Rührt nichts Sterbliches jetzt in keinen Zonen der Erd’ an! Er nur soll jetzt tragen – nur Er erliegen! auf Ihn nur Strömen alle Ströme der Todesängste! Die Meere Aller Furchten und Qualen, verschlingen sollen Ihn alle! Stillsteh’n soll Sein Odem! In Lästerung sich wandeln Sein Glaube! Und in murrende Wuth Sein nie erschüttert Vertrauen!¹⁵⁸⁶
Da Jesus die auf ihn gehäuften Qualen zu ertragen vermag – hier wird nicht nur auf die Standhaftigkeit des wahren Gläubigen verwiesen, sondern auch bereits die Erlösung von allem menschlichen Leid durch den Kreuzestod Jesu vorweggenommen –, muss Satan zu einer List greifen, die Lavater in der zweiten Gebetsstunde im Garten Gethsemane beschreibt. Lavater führt den Engel Gabriel ein, dessen Gestalt Satan annimmt, um Jesus vom Tod um der Menschen Erlösung willen abzubringen. Mitleid vortäuschend mit dem kurz vor seinem Tod Stehenden sinniert der satanische Engel Gabriel über den Wert des Opfers, das zu vollbringen Jesus bereit ist, und kommt zum Schluss, dass es auf Grund der Unbelehrbarkeit und Unverbesserlichkeit der Menschen keinen Sinn macht, für sie zu
1585 Ebd., S. 30. 1586 Ebd., S. 33 f.
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sterben. Dazu erwähnt er nicht nur Situationen aus dem Leben Jesu, in denen diesem mit Unglauben, Ablehnung und sogar Verrat begegnet wurde, sondern führt alttestamentliche Ereignisse aus der Geschichte der hebräischen Nation aus, die belegen, dass das geweihte Volk trotz göttlichen Beistands immer wieder von Gott abfiel und sein Vertrauen missbrauchte.¹⁵⁸⁷ „Aber! die Menschen sind Menschen, die Sünder ewige Sünder. / Kein Prophet, kein Engel, kein Himmel, kein Gott kann sie ändern“¹⁵⁸⁸, darum solle sich Jesus besinnen und in die göttliche Gesellschaft des Himmels zurückkehren: Ist der Tod und die Sünde nicht immer noch, was sie waren? Einmal, einmal entsage der immertäuschenden Hoffnung Aller Guten und Edeln, zu ändern Natur und die Menschheit. Schön ist immer der Kampf und würdig ist’s himmlischer Zeugen, Endlich den Edelsten, Besten zu warnen – Lass es nun gut seyn! Sei Du heilig für Dich vor Gott und dem Himmel! … Entreisse Dich der unwürdigen Schaar der Niebelehrbaren! … Hast Du Tage vergebens gelehrt, umsonst die Nächte durchwachet! Siehe! was ist Dein Lohn? … Die schlafvergessende Mordsucht Sendet Schaaren aus – und Deine Geliebtesten schlafen … Komm! komm! göttlicher Mann! Du bester, Menschlichster! ach komm In den offnen Arm des Mitleidvollen, der immer Kämpfen und leiden umsonst, arbeiten Dich länger nicht seh’n kann!¹⁵⁸⁹
Jesus rettet sich zwar in seiner zweiten Gebetsstunde nicht in die Arme des satanischen Engels Gabriel, er macht sich aber trotzdem Gedanken über die Sündhaftigkeit der Menschen. Vor seinem inneren Auge sieht er die Sünder aus vergangenen und zukünftigen Zeitaltern, für die zu sterben er sich bereit erklärt hat: Aller Gebornen keiner, nicht Einer, welchen die Zukunft Wird gebähren, nicht Einer der lebt’, um wieder zu sterben, Keines Gebornen Schmerz und keines Sterbenden Schmachten, Keines Thörichten Thorheit und keine Sünde des Sünders Konnte dem Flammenblicke des Allversöhners entfliehen.¹⁵⁹⁰
Hier rekurriert Lavater auf Klopstock, der im dritten Gesang vom Messias Jesus die menschlichen Sünden der vergangenen und zukünftigen Zeiten betrachten lässt:
1587 Vgl. ebd., S. 38–42. 1588 Ebd., S. 38. 1589 Ebd., S. 42. 1590 Ebd., S. 45.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
[…] Vor seinem Gesichte Sah er die Sünden der Menschen, die alle, die seit der Erschaffung Adams Kinder vollbrachten, auch die, so die schlimmere Nachwelt Sündigen wird, ein unzählbares Heer, Gott fliehend, vorbeygehn.¹⁵⁹¹
Bei Lavater aber ist Jesus’ Imagination der vorbeiziehenden Sünder um einiges ausführlicher, es kommen darin Greise, Jünglinge, Mütter, Töchter, Könige, Knechte, Täuscher, Getäuschte und eine Reihe weiterer meistens als Gegensatzpaare aufgelistete Figuren vor.¹⁵⁹² Lavater beendet seine Schilderung der Sünder, in dem er auf deren durch die Multiplikation der Zahl 1000 ausgedrückte kaum vorstellbare Menge hinweist: Aber tausendmaltausend befleckt mit dem Blute der Brüder; Tausendmaltausend Hasser des Rechts, der Unschuld und Wahrheit; Tausendmaltausend Höhner des erdesegnenden Himmels; Tausendmaltausend Spötter des Allerheiligsten – Tausend Heuchelten … Alle Kinder von Adam! von Einem – sie Alle!¹⁵⁹³
Unterbrochen wird die Imagination durch die immer wiederkehrenden Zweifel Jesu, ob er stark genug sei, das durch diese lange Reihe an Sündern entstandene Übel der Welt auf sich zu nehmen und die Menschheit zu erlösen: Ach! den zerrissenen Altar zu bau’n, das Gebein zu beleben, Jeden Lebenden dann zum Priester Gottes zu weihen – Welch ein unendlich Geschäfte für Einen! es fühlt’ in der Tiefe Seiner bangen Seele der Fürst und Retter der Menschheit All’ die tödtende Last der unausdenklichen Arbeit.¹⁵⁹⁴
Die Rettung der Menschen kann einzig durch Jesus bewirkt werden, was die Schwere der ihm auferlegten Verantwortung zeigt: Alle, seine Geschwister, des Vaters entflohene Kinder, Die kein Mensch, kein Prophet, kein Engel im Himmel, selbst Gott nicht Ohn’ Ihn, Ihn den Einen, der Mensch und rein so wie Gott war, Aendern konnt’ und erretten vom Tod’ und der tödtenden Sünde.¹⁵⁹⁵
1591 HKA IV, 3, III, V.22–25. 1592 Vgl. JMEA III, S. 45. 1593 Ebd., S. 46. 1594 Ebd., S. 45. 1595 Ebd., S. 46.
Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen
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Die Stärke und das Gottvertrauen Jesu zeigen sich schließlich darin, dass er nicht seinen Zweifeln erliegt und mit gestärktem Selbstvertrauen und vertieftem Glauben in nie gesehener Schönheit aus seinen schlimmsten und gequältesten Stunden hervorgeht: Solchen Triumph des Glaubens an Gott, ach, solchen Triumph der Allesbezwingenden Liebe, der keine Lasten zu schwer sind, Keine Flammen zu heiss, zu tief kein felsiger Abgrund, Wenn sie retten nur kann, beleben, beseligen – sah’n sie Nie, o nie so hoch, so neu verherrlicht die Menschheit!¹⁵⁹⁶
Der Gesang des Engels Gabriel unterstreicht die Verherrlichung des Messias, und mit diesem Lobgesang endet das letzte die Szene im Garten Gethsemane beschreibende Kapitel Lavaters. Auch Klopstock geht im Messias auf die Gartenszene ein und macht aus ihr eine eigene dichterische Ausgestaltung, allerdings setzt er einen andern Fokus als Lavater. Bei Klopstock geht es in Gethsemane vor allem darum, das Leid des Messias zu zeigen. Die Stunden des einsamen Gebets verwandelt Klopstock zu einem Gericht, bei dem der gleichzeitig mit Furcht und Kraft erfüllte Jesus das von seinem Vater über ihn gesprochene Todesurteil erhält: Bang, mit Todesschweisse bedeckt, mit gerungenen Händen, Sprachlos, aber gedrängt von Empfindungen! Stark, wie der Tod trifft, Schnell, wie Gottes Gedanken, erschütterten Schauer auf Schauer, Auf Empfindung Empfindung, des ewigen Todes Empfindung Den, der Gott war, und Mensch. Er lag, und fühlt’, und verstummte.¹⁵⁹⁷
Sehr emphatisch gestaltet Klopstock die Szene, in der Christus den Vater anruft, das Leid an ihm vorübergehen zu lassen. Bei Klopstock entsteht diese Todesangst lediglich dadurch, dass sich Jesus plötzlich als Mensch fühlt: „Ach wie fühl ich der Sterblichkeit Los! Auch ich bin geboren, / Dass ich sterbe!“¹⁵⁹⁸ Daraufhin bittet der Messias den Vater der biblischen Vorlage entsprechend um das schnelle Vorübergehen der Stunden des Leids. Mit dem Erscheinen des richtenden Vaters ist die erste Gebetsstunde vorbei, der Messias geht zurück zu den schlafenden Jüngern.¹⁵⁹⁹ In der zweiten Gebetsstunde erscheint Abbadona, der Jesus gesucht hat,¹⁶⁰⁰ wodurch Klopstock wie Lavater einen Teufel einführt. Allerdings handelt
1596 Ebd., S. 47. 1597 MA, V, V.373–377. 1598 MA, V, V.392 f. 1599 Vgl. MA, V, V.467–470. 1600 Vgl. MA, V, V.486.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
es sich bei Abbadona nicht um einen verführenden Satan, sondern um einen reuigen Teufel, der Jesus um Vergebung für seinen Abfall von Gott bittet. Die Absicht, die Lavater mit seiner dichterischen Ausgestaltung der Nacht im Garten Gethsemane verfolgt, soll in einer christologischen und in einer psychologischen Lesart gesucht werden. Auslöser zu seiner Erdichtung von Satan, der Jesus im Garten Gethsemane von der Erlösungstat abbringen will, dürfte die in Mt. 4,1–11 beschriebene dreifache Versuchung Jesu durch den Satan sein. Diese ist für Lavater von besonderer Bedeutung hinsichtlich der menschlichen Natur Jesu Christi: Jesus Christus ward als Mensch versucht: Diese Versuchung ward von Gott um seiner selbst willen zugelassen. Er, Jesus selbst, sollte dadurch in menschlicher Tugend und Religion geübt, gestärkt und befestiget werden.¹⁶⁰¹
Was Lavater hier in Bezug auf die im Matthäus-Evangelium beschriebene Versuchung anspricht, will er auch mit der Szene im Garten Gethsemane betonen: Nicht nur zu Beginn seiner Lehrtätigkeit musste Jesus Lavaters Ansicht nach durch die Versuchung und das Standhaftbleiben in seinem Menschsein bestärkt werden. Auch in seinen schlimmsten Stunden wird Jesus auf seine menschliche Natur zurückgeworfen und muss sich darin beweisen. Eine weitere Versuchungsszene, auf die sich Lavater bezieht, um die menschliche Natur Christi zu zeigen, ist die in den synoptischen Evangelien beschriebene Bitte Jesu an seinen Vater, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen.¹⁶⁰² Der dort angesprochene Kelch referiert auf den im Alten Testament wie in der JohannesOffenbarung erwähnten Kelch des Bösen, der, mit Leid und Qual gefüllt, von Gott als Strafe den Sündern gereicht wird.¹⁶⁰³ Die Bitte von Jesus, nicht aus dem Kelch trinken zu müssen, ist mit der Furcht vor dem bevorstehenden Leid, das seine Erlösungstat mit sich bringt, zu erklären – eine durchaus menschliche Furcht also, die Jesus im Garten Gethsemane befällt. Jesus leidet aber auch menschlich respektive ist von menschlichen Zweifeln befallen, um die menschliche Sündhaftigkeit verstehen zu können, so betont Lavater in seinen Reflexionen zur im Matthäus-Evangelium beschriebenen Versuchung: Jesus Christus war eigentlich versucht um unsert willen. Er sollte als Heiland und Herr der Menschen die Versuchung, denen die Menschheit ausgesetzt ist, aus eigner unmittelbarer Erfahrung kennen lernen.¹⁶⁰⁴
1601 Lavater: Predigten über die Existenz des Teufels (Anm. 115), S. 30. 1602 Mk.14,36,39 par. 1603 Vgl. Jes. 51,17–23, Jer. 25,15–19, Ps. 75,9, Apk. 16,19. 1604 Lavater: Predigten über die Existenz des Teufels (Anm. 115), S. 44.
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In der Gethsemane-Szene funktioniert das Mitfühlen von Jesus als Mensch mit den Menschen auch umgekehrt, so die psychologische Lesart. Lavater beschreibt die seelischen Leiden, die Jesus in der Erwartung seines Todes ertragen muss, um den Rezipienten Mitleid und Mitgefühl zu entlocken. Aus Empathie heraus entsteht eine noch größere Achtung und Wertschätzung der Erlösungstat Christi gegenüber, so Lavaters Ansicht. Wieso er dieses emphatische Mitgefühl nicht bei der Kreuzigung zu generieren versucht, wie dies Klopstock mit dem durch die Anwesenden ausgedrückten Mitleid tut, ist aus kompositorischen Gründen naheliegend. Bei der Szene im Garten Gethsemane stellt sich Lavater der Zeitraum einer ganzen, in der biblischen Vorlage nur sehr knapp beschriebenen Nacht zur Verfügung, um seine dichterische Imagination spielen zu lassen. Zudem ist dieser Zeitpunkt auch aus psychologischer Perspektive heraus richtig überlegt und naheliegend, da bei der Kreuzigung selbst das körperliche Leid im Vordergrund steht, was eine ausführliche Reflektion Jesu über den Wert der Erlösungstat unglaubwürdig gemacht hätte. Bei beiden Lesarten muss darauf hingewiesen werden, dass Lavater mit seiner Einführung des Satans keinesfalls die göttliche Providenz in Frage stellen will. Wie beschrieben, richtet sich Satans Versuchung an die menschliche Natur Jesu Christi. Kraft seiner zweifachen Natur, zu deren göttlichen Teil die Jesus von Beginn an inhärente Erfüllung des Heilsplans gehört, ist die Rettung der Menschheit auch durch die satanische List nie ernsthaft gefährdet – und Lavater mit seiner Dichtung nicht auf unorthodoxen Abwegen. Auch Lavaters eschatologischen Vorstellungen werden in der Szene im Garten Gethsemane ausgedrückt. Die Wiederauferstandenen sollen zu Priestern Gottes werden, so die Gedanken Jesu, die er sich zur Rettung der Menschen macht. Lavater stellt sich die Weiterexistenz im Jenseits als Gemeinschaft mit Gott vor, in der die im irdischen Leben begonnene und über den Tod hinausgehende Entwicklung der menschlichen Seele ihre größte Vollkommenheit erreicht. Anders aber als bei den Neologen, die diese sich fortsetzende Entwicklung durch die Perfektibilität des Menschen erklären und davon ausgehen, dass ein tugendhaftes, in der Nachfolge Jesu stehendes Leben zu den Bedingungen für ein jenseitiges Leben gehören, legt Lavater in orthodoxer Tradition seine Betonung auf die Heilstat. Nur dank dem Opfertod Christi, so Lavaters Überzeugung, ist die Voraussetzung gegeben, dass den Menschen Zutritt zu der Gemeinschaft Gottes gewährt werden kann. Dazu benötigt es die „unausdenkliche Arbeit“¹⁶⁰⁵ von Jesus, und die augenblickliche Furcht und der Schrecken, die ihn bei dieser Vorstellung überkommen, betonen umso stärker die Bedeutung der Tat und dementsprechend die Lobprei-
1605 JMEA III, S. 45.
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sung, die ihm nicht nur wie in Lavaters elftem Kapitel vom Engel Gabriel, sondern auch von jedem Christen entgegengebracht werden soll und muss. Jesus Christus als einziges Mittel zur Erlösung der Menschheit steht auch bei der Kreuzigung und beim Tod im Fokus von Lavaters Ausführungen. Wie bereits erläutert, basiert Lavaters Christologie auf der Theorie, dass eine Annäherung zwischen Gott und Mensch nur durch Jesus Christus vermöge seiner vereinigten menschlichen und göttlichen Natur stattfinden kann. Diese christologische Überzeugung drückt Lavater auch in seiner Messiade aus. Lavater spricht zwar die Prädestinationslehre an, wenn er Jesus als Erfüller des göttlichen Heilsplans darstellt: […] Er winkte den Steinen, zu schweigen; Niederschauenden Engeln mit wehmuthtriefenden Blicken, Keinen Finger zu regen zu seiner Rettung – Was Gott will, Soll Ich wollen, und will’s … Vollenden will Ich der Seher Wort und Gesichte! Bluten! Sterben! Liegen im Felsen!¹⁶⁰⁶
Lavater will aber Jesus nicht nur als ausführendes Medium verstanden wissen, das der göttlichen Vorhersehung folgt. Dreh- und Angelpunkt seiner Christologie ist die besondere Rolle, die Jesus als einzigem Verbindungsglied zwischen Gott und den Menschen und als einzigem Befähigten zur Erlösung der Menschheit zukommt. Das bereits erläuterte symbolische Bild von Jesus als Arzt, dessen heilende Kraft anzunehmen das einzige Mittel zur Genesung ist, kommt auch in Lavaters Messiade zum Ausdruck: […] Du [menschliches Herz] solltest Alle deine Tiefen, die reinigen selber nicht Gott kann Ohne Jesus Christus, enthüllen dem Arzte der Menschheit, Der vom hohen Kreuz in deine Greuel hinabsah!¹⁶⁰⁷
Wie wichtig Lavater die Darstellung von Jesus als Arzt ist, zeigt die eigens zu diesen Versen gemachte besondere Anmerkung, in der Lavater das Dargestellte erläutert und dadurch nochmals nachdrücklich die Bedeutung Christi für die Menschen betont: Das menschliche Herz hätte ohne den Arzt, und die Arznei, wovon die Red’ ist, unmöglich, auch durch Gott selbst, so rein werden können, als es nun durch Ihn werden kann. Niemand kann zum Vater kommen, als durch Ihn. Nur Christi Kreuzigung entdeckte seinen tiefen Verfall und seinen hohen Werth.¹⁶⁰⁸
1606 Ebd., S. 75. 1607 Ebd., S. 112. 1608 Ebd., S. 269.
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Im Gegensatz dazu steht Klopstock, der viel stärker als Lavater der Satisfaktionslehre verpflichtet ist. Bei Klopstock ist Jesus primär der Versöhner des Zorns Gottes: […] mit Blicke, von dem nur verstanden, Dem nur gefühlt, auf den sie vom Auge des Ewigen strömten, Schaut’ er hinab. Es empfindet den Blick des richtenden Vaters Jesus Christus; weiß, dass Jehova noch nicht versöhnt ist!¹⁶⁰⁹
Bevor Lavater mit dem bereits erläuterten Unsagbarkeitstopos die Kreuzigung und den Tod von Jesus einleitet, beschreibt er ausführlich, wie das Kreuz aufgestellt wird. Jeder einzelne Handgriff, den es benötigt, die Ausmessung des Körpers Jesu, um Nägel wie auch den Querbalken an der richtigen Stelle zu befestigen, ist Teil von Lavaters Schilderung.¹⁶¹⁰ Er will die Kreuzigung als realen Akt darstellen und so wirklichkeitsgetreu abbilden, dass einerseits keine Zweifel über das Vorgefallene aufkommen können und andererseits die Leiden in ihrem physischen Ausmaß nachvollziehbar sind. Bei Klopstock nimmt das Errichten des Kreuzes keinen großen Raum ein: „[…] Die Kreuziger nehmen / ihm das Kreuz ab, richten es unter Totengebein auf. / Und das Kreuz erhub sich gen Himmel, und stand.“¹⁶¹¹ Viel bedeutsamer als die äußeren sind Klopstock die inneren Handlungen, die sich in der Psyche der am Geschehen Beteiligten widerspiegeln. Lavaters Schilderung der Leiden Jesu am Kreuz ist an Hyperbeln kaum zu übertreffen und erhält zusätzlichen Nachdruck durch das Stilmittel der Unsagbarkeit, das Lavater immer wieder zwischen die Beschreibung einschiebt. Mit seiner ständigen Bemerkung „nichts ist gesagt, wenn ich sage“ kommt er in gewissem Sinne der von Herder in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend konstatierten Unfähigkeit, die Leiden Jesu dichterisch darzustellen, nach: „Es ist leicht zu sagen: ich singe Erlösung, aber wie schwer, sie zu singen und zu zeigen!“¹⁶¹² Lavater versucht, dieser Schwierigkeit beizukommen, indem er besonders nachdrücklich auf das Leid verweist: Tausendmaltausend Tode der Sterbenden oder der Todten, Oder tausendmaltausend von Künftigsterbenden … Jede Sterblichkeit drang mit ihrem Gefolge von Schmerzen und Krankheit, Jede Sünde der Sünder durch Ihn mit jedem Entsetzen.¹⁶¹³
1609 MA, XI, V.24–27. 1610 Vgl. JMEA III, 105–110. 1611 MA, VIII, V.174–176. 1612 Herder: Briefe, Anhang (Anm. 876), S. 132 f. 1613 JMEA III, S. 123.
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Bei Klopstock sind die Qualen, die Jesus am Kreuz erleidet, so schlimm, dass die Zuschauer sich vom Leidenden abwenden müssen: Sichtbar kam der Versöhner dem Tode näher! Der Frommen Meiste zerstreun sich, vermögen nicht mehr der Sterbenden Anblick Auszuhalten.¹⁶¹⁴
Bei Lavater stirbt Jesus mit den Worten „Mein Gott! Mein Gott! Ach! warum verlässt Du Mich, Mein Gott.“¹⁶¹⁵ Im Messias wird der Tod Jesu in einem Vers beschrieben, der durch den nach dem dritten Versfuß abgebrochenen Hexameter mit seiner männlichen Kadenz besonderen Nachdruck erhält: „Und er neigte sein Haupt, und starb.“¹⁶¹⁶ Mit seinem Epos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, das nicht nur die vier Evangelien als harmonisches, chronologisches Ganzes erzählt, sondern auch die in der Apostelgeschichte beschriebene Ausbreitung der Lehre Christi beinhaltet, hat Lavater erfüllt, was er an Klopstock bemängelte: Dem Übergewicht an emotionalen, von der Bibel abweichenden dichterischen Ausschmückungen wirkte Lavater mit einer detaillierten, jede Begebenheit der verschiedenen biblischen Zeugnisse aufnehmenden Bibeldichtung entgegen. Zu dieser unterschiedlichen inhaltlichen Fokussierung schrieb Jacobi an Lavater: „Ihren Messias besitz ich nun auch. – wir haben nun zwey Messiaden, schrieb mir Hamann, die so verschieden sind in ihrer Ökonomie als Martha und Maria.“¹⁶¹⁷ Die bezweckte Andersartigkeit seiner eigenen Messiade ist Lavater also geglückt. Und Haschkas Kommentar, wonach Lavaters Epos „extensiv weit mehr gutes wirken“¹⁶¹⁸ werde als der Messias von Klopstock, zeigt die erfolgreiche Verwirklichung der Absicht, mit seinem Epos ein christliches Erbauungsbuch vorzulegen. Lavater schließt die in seinem ersten Epos begonnene dichterische Bekanntmachung von biblischen Wahrheiten, deren Kern seiner Meinung nach Leben, Leid, Erlösung und Wiederkunft Christi sind, in seinem zweiten Epos ab und wird damit seinen Anforderungen, die Bibel in einer anderen, leicht verstehbaren und erbaulichen Form darzustellen, gerecht. Inwieweit besagte Anforderungen in der Öffentlichkeit wahrgenommen und besprochen wurden, soll anhand der Rezension seiner Epen gezeigt werden.
1614 MA, X, V.522–524. 1615 JMEA III, S. 126. 1616 MA, X, V.1037. 1617 Jacobi an Lavater, 27. Mai 1785. In: Hegner (Anm. 3), S. 181. 1618 Haschka an Lavater, 22. August 1783. In: ebd., S. 160.
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6.5 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Lavaters Messias-Epen Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn und Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen waren bis ins letzte Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts im literar-theologischen Diskurs präsent, wie die Rezensionen in unterschiedlichen Zeitschriften zeigen. Auch anhand der Korrespondenzen Lavaters kann illustriert werden, dass sich seine Messias-Dichtungen reger Nachfrage erfreuten und anhaltend in einer breiten Leserschaft rezipiert wurden. Sowohl auf die Zeitschrift-Rezensionen wie auch auf epistolarische Äußerungen soll im Folgenden exemplarisch eingegangen werden. 1780 erschien in der Zeitschrift Allgemeines Verzeichnis neuer Bücher mit kurzen Anmerkungen eine Rezension von Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn. Es handle sich dabei um eine „poetische sehr freye Paraphrase“¹⁶¹⁹ der JohannesOffenbarung, in der Lavater „bisweilen dem Fluge des Seher treulich“¹⁶²⁰ folge, in weiten Stücken aber „eigene Wege durch die Gefilde des Himmels“ suche; wie Lavaters poetische Paraphrase mit der biblischen Vorlage umgeht, wird inhaltlich nicht weiter erläutert, jedoch angemerkt: „Wer Lavaters feurige Einbildungskraft kennet, wird sich schon eine Vorstellung von dem Werke machen können.“¹⁶²¹ Aufschluss über exegetische Fragen gebe Lavater nicht, er überzeuge jedoch in literarischer und illustratorischer Hinsicht: „Von der poetischen Seite ist das Buch gewiss schätzbar, und wird durch 40. gute u. zum Theil unvergleichliche Vignetten von Chodowiecki und andern Meistern sehr verschönert.“¹⁶²² Eine unterschiedliche Beurteilung, was die erläuternden Qualitäten von Lavaters nicht kommentierender, sondern lediglich nacherzählender Dichtung anbelangt, findet sich in dem von Lavaters Freund Konrad Pfenninger herausgegebenen Christlichen Magazin. Nachdem Pfenninger in der 1779 erschienenen ersten Ausgabe bereits auf Lavaters Predigtreihe zur Apokalypse¹⁶²³ hingewiesen hatte, finden sich im vierten Band aus dem Jahr 1780 Auszüge aus Lavaters Messiade mit der Ankündigung von deren Erscheinen an der Herbstmesse desselben Jahres. Es handelt sich bei diesen vorab gedruckten Auszügen um Lavaters jedem
1619 Allgemeines Verzeichnis neuer Bücher mit kurzen Kommentaren. Nebst einem GelehrtenAnzeiger. Hg. von Johann-Christoph Adelung. 5. Bd., 1. Stück. Leipzig 1780, S. 247. 1620 Ebd. 1621 Ebd. 1622 Ebd., S. 248. 1623 Vgl. Christliches Magazin. Hg. von Johann Konrad Pfenninger, Pfarrer an der Waysenkirche in Zürich. 1. Bd., 2. Stück. Zürich 1779, S. 203. Dieter Martin geht fälschlicherweise davon aus, dass es sich dabei bereits um eine Anzeige von Lavaters Epos handelt (vgl. Martin [Anm. 29], S. 356).
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der vierundzwanzig Gesänge vorangestellten Inhaltsangaben.¹⁶²⁴ Lavater habe die Visionen des Johannes in einer „bloßen Umschreibung ohne Commentar“¹⁶²⁵ wiedergegeben. Die darin gefundene „Simplicität, und Ungezwungenheit“¹⁶²⁶ schaffe aber Klarheit auch ohne exegetische Erklärungen.¹⁶²⁷ In dieser Rezension wird also, im Gegensatz zu derjenigen in den Neuesten critischen Nachrichten, das hexametrische Nacherzählen bereits als erhellend empfunden. Trotzdem kündigte Lavater an, einen exegetischen Kommentar nachzuliefern, der den Geheimnissen der Apokalypse endgültig auf den Grund gehen sollte. Dass dieser auch drei Jahre nach dem Erscheinen von Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn noch nicht verfasst worden war, erklärt Pfenninger 1784 in seinem neu benannten, aber als Fortsetzung des Christlichen Magazins und der Sammlungen zu einem christlichen Magazin gedachten Repertorium für denkende Bibelverehrer mit Lavaters hoher Arbeitsbelastung.¹⁶²⁸ 1781 bespricht ein anonymer Rezensent in der Allgemeinen deutschen Bibliothek die erste Messiade Lavaters in einem Vergleich mit Herders Maran Atha.¹⁶²⁹ In leicht spöttischem, Lavaters Faszination von übersinnlichen Erscheinungen ansprechendem Ton wird darüber sinniert, ob es „einem in dem Heiligthum der Mystik wohnenden Seher“¹⁶³⁰ möglich sei, die geheimnisvollen Visionen des Johannes zu entschlüsseln. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wird Herders Paraphrase als Vergleich beigezogen: „Statt aller fernern Beurtheilung, wollen wir für unsre Leser, eine Probe der Jambischen Uebersetzung des Hrn. Herders nebst den ergiebigern Hexametern unsers Verf. hieher setzen.“¹⁶³¹ Es werden die Anfangsverse der Offenbarung in Herders eng an die biblische Vorlage angelehnten Prosa und in Lavaters Hexametern wiedergegeben, was den Rezensenten zu dem Fazit veranlasst: „Da sieht mir Johannes simple Prose doch noch nach einer wirklichen Messiade aus, mit allem was dazugehört, bisweilen fließenden, ofteren allen holprichten Hexametern.“¹⁶³² Weder auf die verschiedene Deutung der Johannes-Offenbarung noch auf die unterschiedlichen poe-
1624 Vgl. Christliches Magazin (Anm. 1623), 4. Bd., 2. Stück. 1780, S. 102–118. 1625 Ebd., S. 99 1626 Ebd. 1627 Vgl. ebd. 1628 Vgl. Repertorium für denkende Bibelverehrer aller Konfessionen von Johann Konrad Pfenninger zu Zürich. 1. Bd., 1. Hälfte. Zürich 1784, S. 94. 1629 Lavater, J. K.: Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, nach der Offenbarung Johannis.: Rezension. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. 1765–96. 1781, 47. Bd., 2. St., S. 370–372. 1630 Ebd., S. 270. 1631 Ebd. 1632 Ebd., S. 372.
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tologischen Anforderungen geht der Rezensent ein. Die poetische Bearbeitung der Apokalypse wurde also im zeitgenössischen Diskurs wahrgenommen, jedoch ohne ausführlich auf die jeweiligen Qualitäten der sehr unterschiedlichen Dichtungen einzugehen. Zu Lavaters Epos Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen findet sich eine ausführlich Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von Heinrich Corrodi.¹⁶³³ Dieser weist darauf hin, dass Lavater nicht ein über die Bibel hinausgehendes Epos über das Leben Jesu verfasst habe, sondern lediglich die biblischen Zeugnisse episch nacherzähle. Lavater gehe es in erster Linie um die „Ausmahlung des Charakters Jesu“¹⁶³⁴, diesen würde er als „den Wohlthäter der Menschen, den frommen Gottesverehrer, den mit übernatürlichen Kräften ausgerüsteten Gesandten Gottes“¹⁶³⁵ darstellen. Die vielen Lücken, die in den Evangelien über das Leben Jesu bestehen, würde Lavater getreu seinem Vorhaben, eng an die biblischen Zeugnisse angelehnt zu erzählen, größtenteils bestehen lassen – was der Rezensent zwar grundsätzlich bedauert, weil er der Gattung des Epos entsprechend einen lückenlosen Handlungsstrang erwartet, was er in Bezug auf Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen aber durchaus als Vorteil betrachtet; Lavater würde sich nämlich doch bisweilen über die biblische Vorlage hinwegsetzen und die Lebensgeschichte Jesu mit eigenen Erdichtungen ergänzen, so etwa, wenn er die Kindheit Jesu beschreibe. Diese Versuche seien aber derart misslungen – es wird auf die Szene hingewiesen, in der Jesus seinem Vater bei dessen Arbeit als Zimmermann hilft und immer wieder von Engeln besucht und unterstützt wird¹⁶³⁶ –, dass Corrodi der ursprünglichen Lückenhaftigkeit der Evangelien den Vorrang gibt, so relativiert er mit ironischem Unterton seine ursprüngliche Kritik.¹⁶³⁷ Ebenso unglücklich seien Lavaters Bemühungen, sich mit besonderen poetischen Einfällen hervorzutun, wie Corrodi an verschiedenen Beispielen, zu denen der in einer Träne Marias schöner als am Himmel sich spiegelnde Abendstern oder die sich beim eigenen Anblick in den Augen der Hirten entzückt und noch seliger fühlenden Engel gehören, illustriert.¹⁶³⁸ Ein weiterer Kritikpunkt in Bezug auf die poetische Sprache ist „die ungeheure Menge
1633 Ebd., S. 475–477. 1634 Ebd., S. 475. 1635 Ebd. 1636 Vgl. ebd., S. 476. 1637 Vgl. ebd. 1638 Vgl. ebd., S. 477.
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neu geschnitzelter Wörter“¹⁶³⁹, die Corrodis Meinung nach „oft ungeschickt und lächerlich klingen.“¹⁶⁴⁰ Bemerkenswert ist, dass Corrodi mit seiner gattungsspezifischen und sprachlichen Kritik lediglich auf die poetischen Qualitäten von Lavaters Epos eingeht und dieses nicht wie in der ebenfalls 1783 erscheinenden Kritischen Geschichte des Chiliasmus in Bezug auf exegetische Aussagen untersucht.¹⁶⁴¹ Weitaus wohlwollender rezensiert Pfenninger die ersten zwei Bände von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen im Repertorium für denkende Bibelverehrer. Zu Beginn seiner Rezension weist er auf den Unterschied zwischen der Messiade Klopstocks und derjenigen Lavaters hin: So ist hingegen gerade das der charakteristische Unterschied zwischen jener [der Messiade Lavaters] und dieser [der Messiade Klopstocks], dass bey dieser alles der Poesie zu dienen scheint, in jener hingegen richtige Kenntniss über die neutestamentischen Gegenstände zu geben, Licht darüber zu verbreiten, eine Hauptabsicht des Verfassers bey der poetischen Darstellung der Geschichten, und der poetischen Umschreibung der Reden Jesu und Seiner Apostel, ist.¹⁶⁴²
Pfenninger erwähnt wie Corrodi, dass das Nacherzählen Lavaters zwar nicht unbedingt den Gattungsansprüchen entspreche und er diesbezüglich hinter Klopstock zurückstehe. Dies sei aber dadurch zu erklären, dass Lavater eine andere Absicht verfolge. Während Klopstock poetologisch geschickt „eine willkührliche Zusammenordnung in ein poetisches Ganzes nach den Regeln der Epopee“¹⁶⁴³ gestalte, wolle Lavater die Evangelien und die Apostelgeschichte zu einer chronologischen, kein Ereignis auslassenden Einheit zusammenfügen und dadurch eine lückenlose Darstellung der Evangelien und der Apostelgeschichte liefern. Ob ihm dies vollumfänglich gelinge, werde der weitere Fortgang des Werks zeigen, so Pfenningers auf die folgenden Bände verweisender Abschluss der Rezension.¹⁶⁴⁴ In dem von Johann Christoph Adelung (1732–1806) herausgegebenen Allgemeinen Verzeichnis neuer Bücher mit kurzen Anmerkungen wird in der Rezension des ersten Bandes von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte ebenfalls auf die Verschiedenheit von Lavaters und Klopstocks Messiaden hin-
1639 Ebd. 1640 Ebd. 1641 Zu Corrodis Rezension von Lavaters ‚Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn‘ in seiner ‚Kritischen Geschichte des Chiliasmus‘ vgl. Kap. 6.3. 1642 Repertorium (Anm. 1628). 1. Bd., 2. Hälfte, 1784, S. 337. 1643 Ebd., S. 338. 1644 Vgl. ebd.
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gewiesen: „Die Klopstockische Messiade, welche den ersten Gedanken zu dieser neuen an die Hand gab, ist doch in mehrerer Rücksicht sehr verschieden.“¹⁶⁴⁵ Diese Verschiedenheit bestehe unter anderem darin, dass Lavater die biblischen Zeugnisse ausnahmslos ungeachtet ihrer metrischen oder inhaltlichen Eignung in Hexameter umforme, was sich für bestimmte Passagen wie beispielsweise „verschiedne Reden Jesu, und Anweisungen oder andere Stücke z. B. das Unser Vater“¹⁶⁴⁶ nicht sehr eigne. Bei den Versen aus der Johannes-Apokalypse, die Lavater ebenfalls in Hexameter gekleidet habe, so die Bezugnahme auf das erste Epos, sei dies passender gewesen, was besagtem Werk in den Augen des Rezensenten den Vorrang gibt vor dem zu besprechenden.¹⁶⁴⁷ Ohne ein Urteil darüber abzugeben, weist der Rezensent auf die eigenen Erdichtungen hin, mit denen Lavater die biblischen Zeugnisse ergänze. Zudem habe Lavater viel „Fleiss auf den Versbau“¹⁶⁴⁸ verwendet. Über die Qualität der Verse gibt es, abgesehen von der bereits erwähnten unglücklichen Umformung bestimmter biblischer Passagen, keine Äußerung. In den von Johann Georg Peter Möller (1729–1807) herausgegebenen Neuesten critischen Nachrichten wird der dritte Band von Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte besprochen. Der Rezensent zitiert aus dem Nachwort, in dem Lavater auffordert, sein Werk nicht mit demjenigen Klopstocks zu vergleichen.¹⁶⁴⁹ Dem Rezensenten erscheint es also wichtig, die Unterschiedlichkeit der beiden Messiaden festzuhalten, er geht jedoch nicht weiter darauf ein. Ohne weitere Erläuterungen und ohne ein Urteil darüber abzugeben wird ein Auszug aus Lavater Epos wiedergegeben. Es handelt sich um das siebte Kapitel des elften Buches, in dem Lavater in Anbetracht des gekreuzigten, kurz vor seinem Tod stehenden Jesus über das Opfer und das damit verbundene Leid, das der Menschensohn auf sich nimmt, reflektiert.¹⁶⁵⁰ 1786 erscheint in der Allgemeinen deutschen Bibliothek eine Rezension vom zweiten und dritten Band von Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen.¹⁶⁵¹ Der Rezensent erkennt Lavaters affektive Wirkungsabsicht, wenn er bemerkt:
1645 Allgemeines Verzeichnis neuer Bücher (Anm. 1619), 7. Bd., 7. Stück, 1783, S. 810. 1646 Ebd. 1647 Vgl. ebd. 1648 Ebd. 1649 Vgl. Neueste critische Nachrichten. Hg. von Johann Georg Peter Möller. 12. Bd. Greifswald 1786, S. 180. 1650 Vgl. ebd., S. 180–182; vgl. JMEA III, S. 128–130. 1651 Lavater, Jesus Messiade oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, 2r und 3r Band. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin, Stettin 1765–96. 1786, 67. Bd., 2. St., S. 434–436.
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Der Verfasser erscheint hier von dem Inhalt der Geschichte, die er besingt, selbst überall tief gerührt, da dieser Theil der evangelischen Geschichte ganz eigentlich sein Lieblingsstudium ist. Man kann ihm eine gewisse Begeisterung nicht absprechen, die auch auf den Leser ihre Wirkung thut.¹⁶⁵²
Der Verweis auf Klopstock fehlt auch in dieser Rezension nicht. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es Lavater um eine dichterische aemulatio gehen würde; er stehe dabei aber, insbesondere, was die sprachliche Ausgestaltung anbelange, weit hinter Klopstock zurück. Bei seinen inhaltlichen Ausschmückungen sei Lavater bisweilen zu stark darauf fokussiert, seinen Imaginationen über die transzendente Welt nachzugehen, was zu viel unnötiger Spekulation führe. Dahingegen vermöge er über weite Strecken, Leben und Leiden Christi anschaulich und die Emotionen des Lesers weckend zu schildern. Fragezeichen werfen dem Rezensenten die Anrufung himmlischer Kräfte auf, von denen sich Lavater Erleuchtung und vor allem die nötige Gemütsbewegung in Anbetracht des zu Erzählenden erhoffe. Lavater halte wohl „dichterische Begeisterung, und prophetische Inspiration (das ist nach seiner Vorstellungsart übernatürliche Erleuchtung) für einerley“¹⁶⁵³, so kritisiert der Rezensent die seiner Meinung nach bei Lavater zu verspürende Gleichsetzung des Dichters mit einem Propheten, die ihm – entweder grundsätzlich oder auf Lavater bezogen – nicht angebracht scheint. Auch im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts findet Lavaters Epos noch Erwähnung, wie das 1793 in Jena gedruckte Allgemeine Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1790 zeigt, in dem es gleich zwei Hinweise auf Lavaters zweites Messias-Epos gibt. In der dritten Fachabteilung der theologischen Schriften steht in der Rubrik „Erbauungsbücher anderer Art, zur Hausandacht“ eine Anzeige der ersten drei Bücher von Lavaters Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen.¹⁶⁵⁴ Eine zweite Erwähnung finden die ersten drei Bände unter dem Fach „Belletristische Literatur“ respektive „Schöne Künste“, sie werden dort in der Rubrik „Epopee. Ernsten Inhalts“ aufgeführt.¹⁶⁵⁵ Wie bei allen im Allgemeinen Repertorium aufgeführten Werken werden auch bei Lavaters Messiaden nur die Titel genannt und keine Kommentare dazu gegeben.
1652 Ebd., S. 435. 1653 Ebd., S. 436. 1654 Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1790. Erster Band enthaltend des systematischen Verzeichnisses in- und ausländischer Schriften. Erste Hälfte. Jena, in der Expedition der allgemeinen Literatur-Zeitung. 1793. Bern, neu verlegt bei Herbert Lang, 1969, Nr. 4428. 1655 Ebd., Zweyter Band enthaltend des systematischen Verzeichnisses in- und ausländischer Schriften. Zweyte Hälfte, Nr. 1638.
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Nicht nur in den Zeitschriften, auch in den Korrespondenzen Lavaters finden sich verschiedene Hinweise auf die Rezeption der Messiaden. Ambivalent äußert sich Goethe zum ersten Epos Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn. Sein erster Eindruck nach der Lektüre des Manuskripts fiel kritisch aus – „ich kan das göttliche nirgends und das poetische nur hie und da finden“¹⁶⁵⁶ –, später jedoch revidierte er sein Urteil: Deine Offenbarung hat mir viel Vergnügen gemacht. Ich habe sie recht und vieles davon mehr als einmal gelesen. Schon da Tobler mir sagte du habest darüber von Amts wege gepredigt, gabs mir ein ganz neues Interesse, denn ich konnte nunmehr begreifen, wie du mit diesem Buche so lange beschäftigt, du es ganz in dich hinüber empfunden hast und es in einem so fremden Vehiculo ohne fremden, vielmehr eigentlich heterogenen Zusatz wieder aus dir heraus quellen lassen konntest.¹⁶⁵⁷
Graf Friedrich Leopold von Stolberg äußert sich mit verhaltener Kritik zu Lavaters Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn, wie aus einem Brief an seinen Bruder zu entnehmen ist. Er möge Lavaters längere Gedichte nicht, „er [Lavater] schwärmelt ohne hohen Flug u: beleidigt die Grazien durch die hüpfenden u. zuweilen stelzenden Schritte seiner helvetischen Muse.“¹⁶⁵⁸ Trotz dieser Kritik zählt Stolberg Lavater auf Grund seiner anderen Werke, insbesondere der Physiognomischen Fragmente, zu den „grossen Genies.“¹⁶⁵⁹ In einem Brief vom 23. März 1785 schreibt Sophie Marie Margarete von Löw (1730–1815) an Lavater, dass sie sich über den „Beweis ihrer Liebe durch die Dedizirung des III Theils ihrer schönen Messiade gefreuet“¹⁶⁶⁰ habe. Wie aus einem weiteren Brief hervorgeht, verschenkt sie Exemplare des ersten und zweiten Teils der Messias-Ausgabe, die Lavater mit Kupfer versehen hat, ihn ihrem Bekanntenkreis.¹⁶⁶¹ Den dritten und vierten Teil der Messiade mit Kupfer erhält sie aber erst im Jahr 1790,¹⁶⁶² wie sie Lavater nach mehreren Nachfragen, wann ihr diese denn endlich übersandt werden,¹⁶⁶³ mitteilt.
1656 Goethe an Lavater, 28. Okt. 1779. In: Goethe, Sämtliche Werke, 2. Abt., 2. Bd, S. 213. 1657 Goethe an Lavater, 2. Nov. 1779. In: Ebd., S. 215. 1658 Friedrich Leopold Stolberg an Christian Stolberg, 3. Feb. 1781. In: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Briefe. Hg. von Jürgen Behrens. Neumünster 1966, S. 129. 1659 Ebd. 1660 Sophie von Löw an Lavater, 23. März 1785. FA Lav. Ms. 519.4. 1661 Vgl. Sophie von Löw an Lavater, 6. April 1786. FA Lav. Ms. 519.16. 1662 Vgl. Sophie von Löw an Lavater, 8. Apr. 1790. FA Lav. Ms. 519.21. 1663 Vgl. Sophie von Löw an Lavater, 11. Aug. 1787. FA Lav. Ms. 519,17; Vgl. Sophie von Löw an Lavater, 18. Nov. 1789. FA Lav. Ms. 519.20.
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Lavaters Messias-Dichtungen im Vergleich mit Klopstock und Herder
Auch bei Johann Michael Sailer hat die Messiade großen Anklang gefunden. Er bedankt sich am 9. September 1785 für den leidenden Messias in Ihrer Messiade … Auf den Rücken dieses Werkes schrieb ich: mein Andachtsbuch. Gott soll Ihnens vergelten, was ich durch Ihre Schriften lerne, und Er weis es am besten, und vor ihm darf ichs ganz gestehen, und ich will kämpfen, dass das gelernte an Lehre und Wandel, an mir ganz fruchtbar werde.¹⁶⁶⁴
Ludwig Heinrich von Nicolay (1737–1820) bittet 1789 bei Friedrich Nicolai (1733– 1811) brieflich um ein Exemplar von Lavaters Messiade für die Kaiserin Maria Feodorowna (1759–1828), merkt aber an, dass für ihn keines beizulegen sei.¹⁶⁶⁵ Die Gründe dafür sind nicht erwähnt, sie mögen sich darin finden, dass Nicolay ähnlich urteilt wie Stolberg oder aber bereits im Besitz eines Exemplars ist. Besagter Brief zeigt, dass Lavaters Messiaden auch in den Jahren nach deren Erscheinen weit über die Landesgrenzen hinaus, in diesem Falle in Berlin und in St. Petersburg, im Gespräch blieben. Nicht nur in Rezensionen und in Briefen fanden Lavaters Messias-Epen Nachhall. Pfenninger widmet dem Freund seine eigene, 1783 in Prosa verfasste Messiade und hält in der Vorrede die Minderwertigkeit seines Werks gegenüber den MessiasEpen von Klopstock und Lavater fest. Seiner Meinung nach würden die beiden Messias-Dichter in die „edelste, höchste Klasse empfindender Menschen“¹⁶⁶⁶ gehören und in ihren Werken eine Erhabenheit erreichen, die nichts Vergleichbares finde. Dass Pfenninger sein eigenes Werk ebenfalls als „Messiade“ bezeichnet, sei nur aus Mangel an Alternativen, nicht aus einer angestrebten Vergleichung oder gar Überbietung heraus geschehen: Klopstock und Lavater sind Sänger, die grosse Geschichten, auf die erhabenste Weise besingen; sie geben Feyergesang; und wer sie geniessen will, muss schon grossentheils in diese Empfindungsart eingeweyht seyn. Festpoesie mögt’ ich die ihrige nennen. Werktagspoesie hingegen, (wenn man mich nicht missverstehen will) ist es, was ich geben mögte.¹⁶⁶⁷
1664 Sailer an Lavater, 9. Sept. 1785. In: Schiel (Anm. 284), S. 85. 1665 Ludwig Heinrich von Nicolay an Friedrich Nicolai, 17. Juni 1789. In: Heinz Ischereyt (Hg.): Die beiden Nicolai. Briefwechsel zwischen Ludwig Heinrich Nicolay in St. Petersburg und Friedrich Nicolai in Berlin (1776–1811). Ergänzt um weitere Briefe von und an Karl Wilhelm Ramler, Johann Georg Schlosser, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Johann Heinrich Voss und Johann Baptist von Alxinger. Hg. und kommentiert von Heinz Ischereyt. Lüneburg 1989, S. 266. 1666 Johann Konrad Pfenninger: Jüdische Briefe, Erzählungen, Gespräche etc. aus der Zeit Jesus von Nazareth. Oder eine Messiade in Prose. 1. Bd. Lamezan, Less und Lavatern zugeeignet. Dessau und Leipzig 1783, S. XI. 1667 Ebd., S. XII.
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Lavaters Messias-Epen
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Wie die Erwähnungen und Verweise in schweizerischen und deutschen Zeitschriften, in der internationalen Korrespondenz und in der Dichtung Pfenningers zeigen, erfreuten sich Lavaters Messiaden regen Interessens in einer breiten Öffentlichkeit bis ins letzte Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts. Indem die zeitgenössischen Rezensionen Klopstocks Messias und Herders Maran Atha als Kontext für Lavaters Epen erwähnen, wird nicht nur deutlich, dass Lavaters Werk in denselben literarischen Diskurs Einlass fand wie dasjenige seiner Vorgänger. Es wird ebenfalls gezeigt, dass dieser Diskurs auch in den Jahrzehnten nach der Vollendung von Klopstocks Messias nichts an Aktualität verloren hat – was Konsequenzen für die Literaturgeschichtsschreibung haben muss, wie im Fazit dieser Arbeit gezeigt werden soll.
7. Fazit: Klopstock, Herder, Lavater und die Bedeutung der christlichen Poesie im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts Wie die Werke Klopstocks, Herders und Lavaters zeigen, war die poetische Darstellung von biblischen Stoffen auch im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts ein in der zeitgenössischen Literatur präsentes Thema. Mit Klopstocks Messias liegt zwar der Prototyp des christlichen Epos vor. Dass sich sein Werk bei der Vollendung im Jahr 1773 bereits selbst überlebt habe, wie es zuweilen in der Forschung und der Literaturgeschichte zu lesen ist, mag zutreffen, wenn das Erscheinen der letzten Gesänge mit demjenigen der ersten verglichen wird. Der Publikumserfolg war längst nicht mehr so groß, und obschon auf die Vollendung gewartet wurde, löste sie weit weniger Begeisterung aus, als es noch die 1748 erstmals veröffentlichten ersten drei Gesänge getan hatten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zu ihnen gehört die ungewöhnlich lange Zeit, die zwischen dem Anfang und dem Ende des Werks liegt. Auch der Aspekt des Neuen, der 1748 in der empfindsamen, emotionalen und affektiven Wirkungsästhetik lag, war längst zur Grundlage zeitgenössischer poetologischer Vorstellungen geworden, wie insbesondere die Epoche des Sturm und Drangs und die darin sich entfaltende Genieästhetik zeigen. Als weitere Gründe zu nennen sind die schwierige Sprache, der schwer überblickbare Gesamtumfang und die vielen inhaltlichen Unklarheiten, die auch nach der Vollendung auf Grund der verschachtelten, in vielen Passagen unzusammenhängenden Erzählweise von Klopstock bestehen blieben. Die nur mäßige Aufmerksamkeit, die Klopstocks Messias zuteil wurde, auf ein grundsätzliches Schwinden des Interesses an christlicher Poesie zurückzuführen, ist nicht gerechtfertigt. Wie an Herders und Lavaters Werken gezeigt wurde, war die Diskussion um biblische Stoffe als Thema dichterischer Auseinandersetzung noch längst nicht verstummt. Die Genieästhetik und die damit verbundenen neuen dichterischen Freiheiten hatten die biblische Dichtung nicht verdrängt. Klopstock, Herder und auch Lavater zeigen in ihren Werken, dass die Loslösung von lange tradierten poetischen Normen und die damit einhergehende dichterische Individualität, die sich in entfesselter Fantasie und Emotionalität zeigt, keinesfalls mit dem Bedeutungsverlust biblischer Poesie verbunden war. So hat Klopstock, angeregt durch die Schweizer Bodmer und Breitinger, mit seinem Messias die Weichen für eine neue, affektive Wirkungsästhetik gestellt, die auch weiterhin an der Gestaltung biblischer Stoffe erprobt wurde und sich dort augenscheinlich bewährt hat. Lebhaft gestritten wurde über die Frage, ob der Bibeltext selbst schon, treu übersetzt und im historischen Kontext erklärt, die maximale emotionale Wirkung zu entfalten vermöge oder in welchem Maße ein Dichter
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der Wirkungsabsicht des Heiligen Geistes als Verfasser der Bibel durch rhetorische Verschönerung und erfundene Einschübe auf die Sprünge helfen dürfte. Klopstock hat sich eingehend mit der zeitgenössischen und der antiken Literatur beschäftigt. Die aus diesen Studien gezogenen poetologischen Schlussfolgerungen setzt er im Messias um. Er hat die für ihn zentrale christliche Botschaft der sowohl durch Jesus am Kreuz wie auch durch das Jüngste Gericht bewirkten Erlösung episch nachgedichtet und somit in das poetische Gewand gekleidet, das die Erhabenheit des Inhalts auch formal adäquat wiedergibt. Herder betrachtete Klopstocks auf formale und inhaltliche Erhabenheit aufbauende affektive Wirkungsästhetik aus einem kritischen Blickwinkel heraus. Die damit verbundenen poetologischen Anforderungen gehen seiner Meinung nach an dem in der sprachlichen Einfachheit und Ursprünglichkeit gefundenen Kern von affektiver Dichtung vorbei. Ausgehend von seinen historischen und philologischen Studien über den Ursprung von Poesie sieht Herder in den biblischen Zeugnissen erste, ursprüngliche, in Bildern Affekte transportierende Dichtung, die sich auch dem modernen Leser mitteilen lässt und deren Erhabenheit durch die Einfachheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks konstituiert wird. Das Bedürfnis, die in der Betrachtung von Gott und der Natur verspürte emotionale Bewegung auszudrücken, äußerte sich gemäß Herders Theorie in den ersten poetischen Werken. Die Dichtungen der Morgenländer seien aus dem unmittelbaren Sinneseindruck und den dabei verspürten Emotionen heraus verfasst. Die Einfachheit der Sprache wertet Herder als Indiz für eine unmittelbare, natürliche Wiedergabe der Affekte ohne Beimischung von Reflexion, und dies mache die besondere Ästhetik der biblischen Sprache aus. Wie stark Herder darum bemüht ist, diese ursprüngliche Emotionalität und die daraus resultierende naive Schönheit (im Sinne von Schiller) auch in seiner Zeit wieder zugänglich und nachempfindbar zu machen, zeigt seine Nachdichtung der Apokalypse. In der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, welche große poetologische Bedeutung Herders jahrelange Beschäftigung mit dem letzten Buch des Neuen Testaments hatte. Die insgesamt sieben Fassungen der Johannes-Offenbarung, von denen fünf lediglich als Manuskript vorliegen und die in dieser Arbeit erstmals im Zusammenhang mit der Druckversion Maran Atha untersucht wurden, zeigen Herders Arbeitsweise beim Nachdichten des biblischen Textes, die sich eng an das griechische Original anschmiegt und dadurch gelegentlich die lutherische Übersetzung revidiert. Für Herder ist die Apokalypse der von Johannes schriftlich festgehaltene, ihn in höchstem Maße bewegende Ausdruck des Zeitgeschehens, wonach Krieg und Zerstörung die Naherwartung intensivierten. Durch die affektive Wirkungsästhetik, die Herder den Visionen zugrunde legt, zeichnet er nicht nur die Johannes-Offenbarung als poetisches Buch aus. Er benutzt sie gleichermaßen als
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Werkzeug zur theologischen Interpretation. Johannes verarbeitet in seiner Offenbarung nachträglich die traumatischen Erlebnisse, die er während der Eroberung Jerusalems erlebt hat, und bildet in seiner Schrift gleichzeitig die große christliche Hoffnung auf Erlösung ab, die jedes schlimme Ereignis erträglich macht. Die Wirkungsästhetik der Johannes-Offenbarung besteht in der mit mythischen Bildern angereicherten Darstellung der Leiden der Gläubigen und ihrer Hoffnung auf Erlösung. Die Apokalypse-Exegese wird bei Herder zu einem Vehikel dieser Wirkungsästhetik: moderne Leser sollten die ursprüngliche ästhetische Wirkung auf Johannes’ Zuhörer mittels der Nachdichtung nachvollziehen können. Herders Apokalypse-Paraphrase war somit von größter Aktualität in der poetologischen und exegetischen Diskussion im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts. Während Michaelis und Semler und in ihrer Gefolgschaft viele neologische Theologen die Kanonizität der Apokalypse bezweifelten, war Herder um eine Interpretation bemüht, die mit Hilfe der Ursprungstheorie und der Affektästhetik eine neue Richtung in der Exegese einschlug. Die Rätsel in der von Johannes verwendeten Symbolik, deren Unlösbarkeit für viele Exegeten den Beweis für die nicht göttliche Verfasserschaft darstellte, betrachtete Herder in kulturellem und poetischem Kontext. Dadurch hatte er einen Weg gefunden, der Apokalypse ohne spekulative Deutung eine mit Vernunft und Gefühl nachvollziehbare Bedeutung zu geben und trotzdem den in seinen Augen immergültigen Aussagegehalt, der die zukünftige Erlösung betrifft, beizubehalten. Dass diese Leistung Herders Apokalypse-Dichtung bis jetzt in der Forschungsliteratur übersehen wurde und seine Auseinandersetzung mit der Johannes-Offenbarung keine tiefgehende Beschäftigung erfuhr, ist unter anderem auch mit dem bereits angesprochenen Manko in der Literaturgeschichtsschreibung zu erklären: Herders Arbeit an der Apokalypse fällt in die 1770er Jahre und somit in die Epoche des Sturm und Drangs, in welcher der biblischen Dichtung keine Bedeutung mehr beigemessen wurde – wogegen die vorliegende Arbeit nun Einspruch erhebt. Daraus folgt die Forderung nach einem revidierten, erweiterten Epochenbegriff, der nicht mehr teleologisch auf die romantische Kunstreligion u. ä. zuläuft. Die durch die vorliegende Arbeit hervorgerufene Notwendigkeit eines neuen Epochenbegriffs wird durch die Analyse von Lavaters Messias-Epen verstärkt. Seine Messiaden folgen dem von Klopstock und Herder eingeschlagenen Weg der affektiven Wirkungsästhetik und orientieren sich an den dabei vorgegebenen poetologischen und exegetischen Richtlinien. Wie anhand der bis anhin kaum untersuchten Messiaden von Lavater gezeigt werden konnte, war Lavater vor allem um die Geltung der biblischen Zeugnisse besorgt, die er durch den Deismus, wie er unter anderem in den Fragmenten eines Ungenannten vertreten war, aber auch die Lehren der Neologie, bedroht sah. Die aufgeklärte Theologie und ihre Ver-
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nachlässigung des Buchs der Bücher, die Lavater als Entleerung des christlichen Glaubens betrachtete, ließen ihn nach Möglichkeiten suchen, die der Bibel ihren Stellenwert als einzigem wahrem Zeugnis der christlichen Religion zurückzugeben vermochten. Deren wirkungsvollste sah er in der poetischen Umformung der biblischen Zeugnisse ohne „Substanzverlust“: Ein Zuviel an dichterischen Freiheiten minderte nach Lavater die ästhetische Qualität in Klopstocks Messias, und Herder gehe zu sehr als Historiker an die Apokalypse heran. Mit vielen eigenen Ideen und Vorstellungen ergänzt, die von kreativer dichterischer Inspiration zeugen und gleichzeitig seine christologische Botschaft zum Ausdruck bringen, hat Lavater die Johannes-Offenbarung sowie die Evangelien und die Apostelgeschichte in Hexametern nacherzählt und mit seinen Epen diejenigen Anforderungen in der biblischen Dichtung erfüllt, welchen die Werke Klopstocks und Herders seiner Meinung nach nicht gerecht geworden sind. Seine Epen dienen dem Zweck, im wirkungsästhetischen Sinne des Erhabenen zu berühren und zu bewegen und in theologischer Hinsicht zu erbauen und zu bestärken. Lavater wollte eine breite Leserschaft ansprechen, der er mit dem durch Klopstock geadelten Hexameter und den dichterischen Ausschmückungen einen neuen Zugang zu den in seiner Zeit an Bedeutung verlierenden biblischen, insbesondere neutestamentlichen Zeugnissen zu ermöglichen gedachte. Es ist kaum verständlich, dass die durch die Werke Klopstocks, Herders und Lavaters repräsentierte Bibeldichtung in der aktuellen Literaturgeschichte keine Beachtung findet, wenn man, wie hier geschehen, aus dem Dreiergespräch zwischen Klopstock, Herder und Lavater den großen Diskurs über das schwierige, anspruchsvolle Verhältnis zwischen Bibelsprache/Bibelstoffen und moderner Dichtungssprache und dem poetischen Selbstverständnis herausliest. Biblische Poesie war im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts kein im Auslaufen begriffenes, überholtes Phänomen, das lediglich zu den Marginalien der bedeutenden Literatur zählt. Vielmehr galten für die Darstellung von biblischen Stoffen dieselben poetologischen Kriterien, mit denen die für den Sturm und Drang typischen Themen wie die Entfesselung der Emotionen, die begeisterte Naturbetrachtung oder die Tiefen der menschlichen Seele zum Ausdruck gebracht wurden. Die vorliegende Arbeit schließt darum mit einem corrigendum: Richtig gestellt werden soll die Literaturgeschichtsschreibung des letzten Viertels des achtzehnten Jahrhunderts, die neben der herkömmlichen Genieästhetik diejenige der religiösen Genieästhetik einführen muss. Somit, so schlägt es die vorliegende Arbeit vor, soll die Epoche des Sturm und Drangs ergänzt werden um diejenige des religiösen Sturm und Drangs.
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Personenregister Abauzit, Firmin 177 f. Addison, Joseph 119 Adelung, Johann Christoph 347, 350, 362 Arator 96 f., 100 Aristoteles 48, 94, 101, 130, 147, 371 Augustin 307 Avitus, Alcimus Ecdicius 95–97, 100 Bahrdt, Karl Friedrich 83 Balde, Jakob 140, 330 Basedow, Johann Bernhard 43 Batteux, Charles 83 Beck, Jakob Christoph 8, 43 Bengel, Johann Albrecht 56, 84, 175, 180 f., 213, 277, 309 Birken, Sigmund von 109 Bodmer, Johann Jakob 2, 5, 92, 102–105, 111–113, 115, 117–121, 123 f., 127 f., 130, 132, 140, 144 f., 149, 160, 191, 194, 263 f., 282 f., 299–301, 311, 323, 333, 357, 362 f. Böhme, Jakob 48 Boileau, Nicolas 118 f. Bollinger, Ulrich 97 Bonnet, Charles 4, 6 f., 13, 16–25, 36 f., 39, 44, 68, 81, 242 Bossuet, Jacques Bénigne 115 Breitinger, Johann Jakob 2, 5, 25, 92, 113–115, 117–125, 127 f., 130, 177, 282 f., 323, 357 Bremi, Johann Heinrich 88, 90 Brucker, Johann Jakob 235 Bürger, Gottfried August 4, 135, 144 f. Calas, Jean 312 Canz, Israel Gottlieb 16 Catull 98, 108 Chapelain, Jean 115 Chodowiecki, Daniel 47, 324, 347 Claudius 219 Corrodi, Heinrich 309–312, 322, 349 f. Cuno, Johann Christian 317
Denis, Michael 99 Dionysius 168, 173, 307 Dionysius von Alexandrien 168, 307 Domitian 173, 208, 219, 226 Du Bos, Jean-Baptiste 118 f. Eberhard, Johann August 4, 53, 55, 77, 244, 361 Ebert, Johann Arnold 317 f., 322 Eichhorn, Gottfried 224 f., 229–231 Euseb 167 f., 171, 175, 208 François de Salignac de La Mothe-Fénelon 115 Freitag, Rudolf 73 Gajus 167, 307 Gaupp, Eberhard 53, 77, 80, 361 Gerhardt, Paul 213 f., 217 Gessner, Georg 4, 25, 30, 71, 87 f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 99, 318 Goethe, Johann Wolfgang 1 f., 47, 58, 69, 90, 145, 240, 255–257, 260, 275, 325 f., 353, 364 Goeze, Johann Melchior 176 Gottfried von Bouillon 101 Gottsched 92 Gottsched, Johann Christoph 2, 103, 186 Häfeli, Johann Caspar 44, 77, 79, 80, 82, 88, 361 Hahn, Philipp Matthäus 33, 52 f., 59–65, 80, 84, 88, 361 f. Haller, Albrecht von 144 Hamann, Johann Georg 2, 197, 224, 260, 346 Hartknoch, Friedrich Johann 1, 10, 165, 198, 224 f. Hartmann, Israel 60 Hasenkamp, Johann Georg 37, 45, 52 f., 55–59, 61, 72, 89, 281, 285 Herder-Flachsland, Caroline 224 Herder, Johann Gottfried 1–3, 10–12, 43, 63, 85, 139–144, 147, 165, 171 f., 182–185, 187–261, 263, 276–279, 281, 285,
382
Personenregister
289–291, 293–296, 298, 302, 312, 315, 345, 357–361 Hess, Christoph Heinrich 68 Hess, Felix 42, 76, 81, 88, 239 Hess, Johann Jakob 44, 70, 75 f., 88 Hieronymus 91, 98, 108, 274 Homer 97, 100, 102, 110–113, 130, 135, 144 f., 147 Horaz 98, 108, 218, 281 Hottinger, Johann Jacob 76, 86 Hotz, Johann Konrad 43 Illyricus, Matthias Flacius 100 Irenäus von Lyon 208, 294, 307 Jacobi, Friedrich Heinrich 58, 240, 346 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 23–25, 43, 208 Joachim von Fiore 307 Johannes von Müller 74 Josephus, Flavius 172, 182, 225 f., 228–231, 256, 295 Jung-Stilling, Johann Heinrich 58 Justin der Märtyrer 177, 307 Juvencus, Gaius Vetius Aquilinus 95–97, 100 Kaligula 219 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 257 Kant, Immanuel 14, 282 Kerinth 167, 177 Kircher, Athanasius 236 Klettenberg, Susanna Katharina von 53 Klopstock, Friedrich Gottlieb 1–3, 8 f., 43, 83, 91–93, 99 f., 105–117, 124–164, 184, 191, 193 f., 240, 246–253, 263–265, 279 f., 287, 289–291, 298, 300, 302, 315 f., 318–323, 327, 329–333, 339, 341, 343, 345 f., 350, 352, 354, 357–360 Kölbele, Johann Balthasar 22 Lange, Joachim 277 f., 295, 310 f. Lavater, Johann Caspar 1–7, 10–13, 15–17, 19–92, 135, 158 f., 165, 172, 177, 191, 194, 207, 225, 233, 239–248, 252–261, 263–300, 302–307, 310–354, 357, 359–362, 372
Leibniz, Gottfried Wilhelm 120 Lenz, Jakob Michael Reinhold 197, 225, 240 Lessing, Gotthold Ephraim 41, 77, 99, 177 f., 257, 266 f. Lips, Johann Heinrich 47, 324 f. Longin 118 f., 128, 282, 284, 363 Löw, Sophie Marie Margarete von 353, 361 Lowth, Robert 142, 185–187, 199 f. Luise Auguste Amalie von Sachsen-WeimarEisenach 257 Luise von Sachsen-Weimar-Eisenach 257 Luther, Martin 84, 168–171, 175, 183, 195 f., 203–206, 213, 215, 308, 373 Maria Feodorowna 354 Marino, Giambattista 112 f. Mendelssohn, Moses 6 f., 13, 16, 22, 24–28, 232–234, 236, 282 Michaelis, Johann David 11, 83, 170–177, 179, 183, 186 f., 227, 240, 359 Milton, John 2 f., 96, 101–103, 105, 113–115, 117, 132, 149, 160 f., 191, 193, 199, 263, 299–301 Möller, Johann Georg Peter 351, 362 Müller, Johann Georg 8, 42, 44, 67, 70, 74–86, 128, 198, 259, 261, 326, 361 Muralt, Anna Barbara von 323, 325 Nero 173, 219, 226, 229 Nicolai, Friedrich 224, 354, 362 Nicolay, Ludwig Heinrich von 354 Niebuhr, Carsten 166, 230 Nonnos 97 Obereit, Jakob Hermann 43 Oeder, Georg Ludwig 175 f. Oetinger, Friedrich Christoph 36 f., 53, 56, 59 f., 62, 235, 361 Origenes 307 Otfried von Weißenburg 99 Papias 183, 307 Paracelsus 48 Petersen, Johann Wilhelm 330 Petrarca, Francesco 112 Pfenninger, Johann Konrad 70, 75 f., 78, 80, 88, 254, 312, 347 f., 350, 354, 362
Personenregister
Pindar 98, 108 Platon 94 Polycarp 183 Ramler, Karl Wilhelm 135, 140 f., 143 f., 146, 318, 354 Reich, Philip Erasmus 47, 62, 170, 238 Reimarus, Hermann Samuel 266 Resewitz, Friedrich Gabriel 42 f. Reuß, Jeremias Friedrich 175, 182 Rinderknecht, Catharina 44 f. Rosenroth, Christian Knorr von 234 Rousseau, Jean-Jacques 178 Sack, August Friedrich Wilhelm 244 Sailer, Johann Michael 65 f., 354 Sannazaro, Jacopo 100 Schaumburg-Lippe, Maria Barbara Eleonore zu 225 Schilder, Johannes 100 Schlegel, Johann Adolf 144 Schlosser, Johann Georg 282, 354 Schmidt, Christian Friedrich 176 Schöttgen, Christian 235 Schrautenbach, Ludwig Carl Freiherr von 53 Schweizer, Diethelm 47, 67, 70, 87–90, 106, 117, 127 Scudéry, Madeleine de 115 Sedulius 95–97, 100, 373 Semler, Johann Salomo 11, 56, 170, 175–183, 240, 244, 266, 270, 309 f., 316, 359, 363 Shakespeare, William 199, 221 Shaw, George 230 Sokrates 6, 14, 23, 94 Spalding, Johann Joachim 5 f., 14 f., 17, 19 f., 23–29, 31–33, 37 f., 43 f., 66, 68, 244, 316, 361 Spalding, Maria Charlotte 44 Spangenberg, August Gottlieb 53
383
Spener, Philipp Jacob 213, 309 Steinbart, Gotthilf Samuel 78, 266, 270 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 145, 225, 353 f. Stolz, Jakob 88 Stroth, Friedrich Andreas 176 Sulzer, Johann Georg 128, 282 Swedenborg, Emanuel 42 Tasso, Torquato 100–102, 112 Teller, Johann Abraham 43, 56, 244, 266 Titus 219 Tobler, Johannes 88, 353 Trithemius, Johannes 99 Trümpi, Christoph 286 Ulrich, Johann Caspar 1, 4, 97, 166, 277, 308, 323 Urlsperger, Johann August 28 f., 35–37, 362 Vergil 96 f., 100, 102, 111–113, 281 Vespasian 219, 230 Vida, Hieronymus 317 Vida, Marco Girolamo 91, 100, 317 Vögeli, Ludwig 88 Voltaire 115, 312 Voss, Johann Heinrich 145, 354 Wartensleben, Isabella von 53 Weiss, Heinrich 44 f. Wieland, Christoph Martin 104 f., 124, 145 Withby, Daniel 313 Wolff, Christian 120 Wuppermann, Dorothea 45, 57 Zimmermann, Johann Georg 16 f., 24 f., 42–44, 47, 51 Zinzendorf 53 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 53 f., 62 Zollikofer, Georg Joachim 43