Christian Thomasius (1655-1728): Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung [Reprint 2012 ed.] 9783110933420, 9783484365377

Christian Thomasius is one of the authors of the early modern age assured of the kind of scholarly attention that is not

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German Pages 513 [516] Year 1997

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Table of contents :
Vorwort
I. Zur Einführung
›Die Finsternüß ist nunmehro vorbey‹. Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius
II. Politik und Recht
Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates
Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der summa potestas
Zwischen Fürstenabsolutismus und Räteherrschaft. Zur Rolle der gelehrten Beamten im politischen Denken des Christian Thomasius
Die Sorge um eine ›handgreifflichere Politic‹. Thomasius’ Interesse an der Ökonomie als Fachdisziplin an preußischen Universitäten
Thomasius als Praktiker auf dem Gebiete des Privatrechts
III. Kirche und Religion
Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien
Historia Contentionis inter Imperium et Sacerdotium. Kirchengeschichte in der Sicht von Christian Thomasius und Gottfried Arnold
Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus – Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius
Christian Thomasius und der Pietismus im Spiegel ihrer Wirkungsgeschichte. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Thomasius-Rezeption im Baltikum
IV. Philosophie
Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik
Rationalität, Wahrheit und Interpretation. Aspekte der Hermeneutik Christian Thomasius’ in der Auszübung Der Vernunfft=Lehre
›Prudentia se ipsum et statum suum conservandi‹: Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit
Sprache und Verhalten. Zur Affenktenlehre im Werk von Christian Thomasius
V. Literarische Modelle und gelehrte Kontexte
Lob der ›ruhigen Belustigung‹. Zu Thomasius’ kritischer Epikur-Rezeption
Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der Monatsgespräche
›Tendresse‹ und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ›Preciosité‹ – mit einer kleinen Topik galanter Poesie
Christian Thomasius, oder: Vom Wandel des Gelehrtentypus im 18. Jahrhundert
Aufklärung, Ethik, Religion. Die Goldene Regel des Thomasius und Lessings Nathan
VI. Öffentlicher abendvortrag
Christian Thomasius und die Philosophie des Friedens
VII. Bibliographie
Bibliographie der Thomasius-Literatur 1989–1995
VIII. Namenregister
Recommend Papers

Christian Thomasius (1655-1728): Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung [Reprint 2012 ed.]
 9783110933420, 9783484365377

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FRÜHE NEUZEIT Band 37

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Christian Thomasius

(1655-1728) Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung Herausgegeben von Friedrich Vollhardt

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Christian Thomasius (1655-1728) ; neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung / hrsg. von Friedrich Vollhardt. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Frühe Neuzeit ; Bd. 37) ISBN 3-484-36537-4

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort I. Z U R EINFÜHRUNG

IX 1

Friedrich Vollhardt >Die Finsternüß ist nunmehro vorbeyhandgreifflichere Politico Thomasius' Interesse an der Ökonomie als Fachdisziplin an preußischen Universitäten

99

VI Klaus Luig Thomasius als Praktiker auf dem Gebiete des Privatrechts

Inhalt

..

119

III. KIRCHE U N D RELIGION

139

Ralph Häfner Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien

141

Stephan Buchholz Historia Contentionis inter Imperium et Sacerdotium. Kirchengeschichte in der Sicht von Christian Thomasius und Gottfried Arnold

165

Wilhelm Kühlmann Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius

179

Hanspeter Marti Christian Thomasius und der Pietismus im Spiegel ihrer Wirkungsgeschichte. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Thomasius-Rezeption im Baltikum

235

I V . PHILOSOPHIE

251

Lutz Danneberg Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik

253

Klaus Petrus Rationalität, Wahrheit und Interpretation. Aspekte der Hermeneutik Christian Thomasius' in der Ausziibung Der Vernunfft=Lehre

317

Merio Scattala >Prudentia se ipsum et statum suum conservando : Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit

333

Georg Braungart Sprache und Verhalten. Zur Affenktenlehre im Werk von Christian Thomasius

365

Inhalt

VII

V . LITERARISCHE MODELLE UND GELEHRTE KONTEXTE

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Dorothee Kimmich Lob der >ruhigen BelustigungMerkantilismus< und >Physiokratie< gearbeitet wird, zu denen dann >Kameralismus< und >Polizeiwissenschaft< als deutsche Varianten des >Merkantilismus< hinzutraten - das andere ist das protestantische Staatskirchenrecht mit der Typologie von >EpiskopalismusTerritorialismus< und >Kollegialismus< bzw. Episkopal-, Territorial- und Kollegialsystem. Den ersten Ansatz zu dieser Typologie schuf m.E. der Hallenser Jurist Justus Henning Böhmer in der Einleitung zum fünften Band seines Jus ecclesiasticum protestantium (1744). Deutlich unter dem

ceremonias abroget«; daraus folgerte er ein Reformprogramm für den Gottesdienst (De jure principis circa adiaphora, Halle 1693, S. 33). Der gleiche Widerspruch durchzieht noch die umfangreichste Darstellung seiner Auffassungen, die 1738 veröffentlichten Vorlesungsmanuskripte (vgl. Anm. 8): »Denn der Fürst muß alle Religionen tolerieren, sie mögen seyn, wie sie wollen, v.g. Türcken und Tartaren« (1, S. 348); später heißt es: »Da nun einige sagen, der Fürst solle alles dulden, es möge auch seyn, was es wolle, und die Leute möchten es machen, wie sie wollen; solches ist absurd: Denn der Fürst muß sich auch bemühen, das Malum zu emendieren« (ebd. S. 375); »Der Fürst hat die Macht, alles dasjenige, was irrig ist, abzuschaffen; Erstlich, daß er die GlaubensBekänntnisse hinweglasse, die Concilia, Libros Symbolicos und Synodos abschaffe, und endlich, daß er die Dissidenten toleriere und denen Priestern, welche schelten, das Maul stopfe. Dieses kan nun zwar wohl der Fürst vi juris thun, allein wollen wir nun auch sehen, was der Fürst secundum regulas prudentiae thun könne?« (2, S. 26); es folgt dann eine lange Diskussion über die Reformmöglichkeiten und -methoden. 1712/13 schrieb Thomasius ausdrücklich: »Es besteht aber die Pflicht eines Fürsten in KirchenSachen kürzlich darin, daß eine wahre Religion und wahre Frömmigkeit in der Republik grüne und blühe [...] Mit einem Wort, die Toleranz oder Duldung der Irrenden, jedoch so, daß die wahre Lehre keinen Schaden dadurch leide« (Höchstnöthige Cautelen, welche ein Studiosus juris, der sich auf Erlernung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit auf eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat, Halle 1713 [488 S], n. 35 u. n. 54). Thomasius konnte sich niemals entscheiden zwischen einer konsequenten Säkularisierung des Staates und einem Absolutismus, der seinen Typus des vernünftigen Christentums durchsetzt - vermutlich konnte er mit diesem Widerspruch in seiner Lehre deshalb leben, weil die Auswirkungen beider Positionen in seiner Wahrnehmung in die gleiche Richtung gingen: in die Reduktion von Kirche und Religion auf eine »christliche Gesinnung« des einzelnen. Diesem Ziel galt sein eigentliches Interesse.

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Horst Dreitzel

Einfluß von Christian Wolff entwickelte er dort die verschiedenen >Systeme< des Kirchenrechts nach den ihnen jeweils zugrundegelegten Prinzipien, allerdings sehr viel umfassender als die später fur den Protestantismus kanonisch gewordene Trias: >Systema aequaleSystema episcopale^ >Systema papaleSystema collegiale, [...] novum ante aliquot annos excogitumSystema christocraticumBegriffsjurisprudenzdemocraticumabsoIu-

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Beispiel: Die klare Darstellung der orthodox-lutherischen Lehre bei Johann Benedikt Carpzov: Disputatio theologica Lipsiensis de jure decidendi controversias theologicas cum scholiis juris consulti Hallensis, Halle o.J. [1693], S. 67-74. »Regimen aristocraticum« heißt Kirchenleitung durch >RepräsentantenVolkesmonarchomachische< Auffassung der Staatskirche gegenüber, daß auch die Kirchenangelegenheiten wie alle politischen die >universitas< insgesamt betreffen und von ihr bzw. ihrer Repräsentation zu entscheiden seien - konkret ging es z.B. um die Mitwirkung der Landstände beim Beschluß über die Kirchenordnungen - , das obrigkeitliche Kirchenregiment also immer, wie die politische Gewalt überhaupt, begrenzt sei und daß es eines spezifischen Mandates bedürfe.18 Andererseits verbreitete sich die von Bodin19 entwickelte und von Grotius20 aufgenommene Konzeption der Kirchen als >collegiacustodia utriusque tabulae< verstanden wurde, auf >architektonische< Funktionen zu begrenzen. Die Kombination dieser Konzeption mit dem staatskirchlichen Absolutismus prägte die einflußreiche Theorie der niederländischen Armenianer. Demgegenüber betonte das >aristrokatische< System der lutherischen Dreiständelehre die relative Autonomie der Kirche im Gemeinwesen, auch die Selbständigkeit ihrer Struktur, und das Prinzip der Kooperation: Das jus in res sacras sei kein Regal, sondern komme den Fürsten nur als >membrum principuum ecclesiae< unter ihrer Teilhabe und Aufsicht zu. Im Hintergrund der Debatten stand natürlich immer das >systema papaleSystema< gingen davon aus, daß der religiöse Staatszweck und die Staatsräson die Einheit von politischem System und Kirche notwendig machen. Das Schloß allerdings nicht

[...] Pertinent enim religionis cura ad regalia superiora et territorii jus« (1. 1 c. 2 n. 1 u. 9); die Theologen haben eine »potestas mere ministerialis«. Der Traktat enthält ein umfassendes Reformprogramm im Sinne des calvinistischen Puritanismus; er schließt jedoch auch eine gemäßigte Toleranz ein (1. 1 c. 2 n. 32, 1. 1 c. 6 n. 27ff.), »quia sumus unum christianae reipublicae membra et cives«, und in der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Kirchen. Vgl. auch Godofredus de Jena: Fragmenta de ratione status diu desiderata. o.O. 1667, S. 12ff. und S. 320ff. 18

Neben Johannes Althusius: Politica methodice digesta. 3. Aufl., Herborn 1614, c. 19 u. c. 28, z.B. Azarius Sturzius: De uno religione discursus academicus, Rostock 1625, th. 11: »Cum igitur religio unionis civilis autor et princeps sit certissima, jus religionis non ad magistratum solum, sed etiam ad ipsos subditos pertinet, ut sc. quoad introducendam et innovandam religione absque consensu utriusque nihil constitueri posset«.

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Jean Bodin: Les six livres de la République, Paris 1583, 1. 3 c. 7: Du corps et colleges et communautés behandelt auch die kirchlichen Korporationen und die >SektenGewissensfreiheit< und >Religionstoleranz< seit der Reformation aus theologischen wie aus politisch-pragmatischen Gründen in ihnen - auch im Katholizismus - einen Raum fanden, allerdings ohne die Prinzipien des christlich-konfessionellen Staates grunsätzlich zu erschüttern oder aufzulösen. Den Prozeß gegen das Konstantinische Zeitalter der Kirche begannen mit unterschiedlichen Problemlösungen erst P. Bayle, J. Locke, S. Pufendorf und B. Spinoza im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts - vor allem in Reaktion auf die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685).21 Thomasius nahm von diesen Philosophen nur Pufendorf mit seiner Schrift De habitu religionis christianae ad vitam civilem (1687) wahr. Obwohl nicht unmittelbar zu dieser Generation gehörig - er war mehr als 20 Jahre jünger - , muß er durch die Radikalität der Kritik, ausgelöst durch seine dramatisch interpretierte Verfolgung und Vertreibung aus Leipzig und aktuell erhalten durch die sofort wieder in Halle beginnenden Konflikte mit Pfarrern, mit Theologen der Universität und mit A. H. Francke, dem dominierenden Vertreter des Pietismus,22 in ihren Zusammenhang gestellt werden - allerdings wiederum mit einer ganz selbständigen Konzeption.

3. Voraussetzungen und Wege zur Kritik Thomasius, frühreifer Sohn und Schüler des auch als Philosophiehistoriker angesehenen Direktors des Thomas-Gymnasiums in Leipzig, entschloß sich nach seinem eigenen Bekenntnis zum juristischen Studium aus Begeisterung für das Naturrecht. Schon sein Vater hatte ihn mit Grotius bekanntgemacht, es folgten dessen lutherische Kommentatoren, dann Pufendorfs Elementa und vor allem dessen Hauptwerk, das im Jahre von Thomasius' Magisterpromotion 1672 erschien. Obwohl er grundlegende Positionen Pufendorfs akzeptierte, z.B. das Prinzip der >socialitasVon Gottes Gnadenvita contemplativa^ die Verachtung der sinnlich-körperlichen Existenz des Menschen, den Hochmut der Erkenntnis Gottes in seinem Wesen als die Grundlage der >scholastischen< Dogmatik und damit eines wesentlichen Instruments der Priesterherrschaft. Bereits in der Jurisprudentia divina, 1. 1 c. 1 n. 23f., lehnte Thomasius die Untersuchung von theoretischem und praktischem Vermögen ab: »Nam hic error non solum rectae rationi est adversus, cum omnes habitus theoretici, ut facile per inductionem probari potest, tendere debeat ad praxin, sed etiam vera religione pugnat, propullulans videlicet ex falsa gentilium opinione, opinantium Dei essentiam consistere in contemplatone«.

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Christliche Aufklärung

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der Ethik in die Bereiche des justum, honestum und decorum durch den niederländischen Hobbes-Anhänger Lambert Velthuysen, 28 und sie schlossen auch die Rezeption der durch Gassendi übermittelten Ethik Epikurs ein, dessen Lehre Thomasius nach ihrer Reinigung vom Atheismus für »raisonabler als alle andere Schulen der antiken Philosophie« hielt.29 Sie umfaßten auch die Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte durch die Werke von H. Grotius, F. U. Calixt und R. Simon30 sowie die mit offener Zustimmung angenommene Bekanntschaft mit der »platonischen oder auch mystischen Theologie« wegen ihrer lebenspraktischen, antiklerikalen und antirationalistischen Elemente.31 Thomasius Schloß diese nur im ersten Jahr satirisch-journalistische Monatsschrift mit dem Vorsatz, nunmehr »die Grundgesetze meiner wenigen Erkenntnisse der Jugend mitzuteilen und für die Öffentlichkeit in Druck zu geben« 32 - also mit der fortan verfolgten Absicht, ein neues und umfassendes Programm fur die Bildung der Juristen fur ihre Aufgaben am >HofGrundlehren< wie Logik und Rhetorik, Ethik, Klugheitslehre und Lehre vom geselligen Verhalten, wie für die juristischen Studien im engeren Sinne. Diese Figur des Juristen als wahren Weltweisen mit seinen konkreten Arbeitsfeldern, für den die Abhängigkeit vom Fürsten nicht zu stark betont werden sollte - diese Abhängigkeit sah Thomasius selbst viel schärfer bei den Pfarrern, und die Eigenständigkeit der Beratimg und des Rates gegenüber dem Herrscher forderte er als Voraussetzung eines vernünftigen Regiments mit Nachdruck - , stand polemisch gegen die allgemeine Vormundschaft der Theologen, deren Kompetenz im Anschluß an Pufendorf auf das jenseitige Heil begrenzt wurde, und auch gegen die

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Vgl. für das Selbstverständnis der späthumanistischen Juristen H. Dreitzel: Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. von G. Birtsch, Göttingen 1987, S. 182-187; vgl. z.B. Benedict Carpzov: Jurisprudentia ecclesiastica seu consistorialis libri III, Leipzig 1619. Praefatio: Juristen als »sacerdotes justitiae«; »quod jurisprudentia est vera philosophia practica, in usu ipso posita est, quam publicis simul et privatis officiis excellit, civitates et rempublicam constanter, fortiter et perite administrât«. Insbesondere der von Thomasius betonte Vorrang der Jurisprudenz vor der (aristotelischen) Philosophia practica (Ethik und Politik) besitzt eine bis in das 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition, ebenso die Maxime, daß die Jurisprudenz sich nur auf die »externa« (Handlungen) beziehe. Für Thomasius vgl. die zusammenfassende Interpretation von N. Hammerstein: Christian Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 22-44. Beispielhaft z.B. Cautelen der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit, Halle 1713, 2. Hauptstück, n. 10: die Jurisprudenz achte »auf die Verhaltung der wahren Religion gegen die Glückseligkeit dieses Lebens und den Nutzen der republique, und untersuchet die falschen Lehren, was für ein Geheimnis der Herrschsucht darinnen bestehe, und auf was Art die Religion in allen Seculis ein Deckmantel aller Narrheit und Bosheit gewesen«. Selbstverständnis und Rolle der Juristen sowie die parallele Entwicklung der Theologen war sozial- und geistesgeschichtlich bedeutender als die vor allem von der Literaturwissenschaftbetonte Einheit von >Gelehrsamkeit< und der >GelehrtenstandPhilosophen< (u.a. auf die Bildung für die Ämter in den fürstlichen Herrschaften), sie war zugleich ständisch eingeordnet zwischen dem von Thomasius mehr und mehr verachteten >Pöbel< und den Fürsten, als Berufsstand auch über den Adel gestellt. Nicht nur in seiner Polemik gegen Aristoteles und gegen den Aristotelismus in der Philosophie, gegen die Kirchenväter in der Theologie, mehr noch innerhalb seiner eigenen Disziplin zeigte sich Thomasius als führender Vertreter der >Modernesusus modernus< sowie die Aufwertung des deutschen Rechts und der territorialstaatlichen Gesetzgebung.34 Hier gab es allerdings einen geheimen Widerspruch zu seinem Streben nach innerer Ruhe, ausgeglichen nur durch einen wachsenden Konservativismus der Klugheit: Konnte ein streitbarer Jurist wirklich Epikuräer sein? Thomasius baute damals optimistisch auf die von Pufendorf errungene >libertas philosophandi< in der >respublica literariausus modernus< in: Notae ad singulos Institutionum et Pandectorum títulos varios Juris Romani antiquitates imprimis usum eorum hodiernum in foris Germaniae ostendentes, Halle 1713 (384 + 277 S.), einem »Lehrbuch des deutschen Privatrechts« (R. Lieberwirth). Dem entsprach für das Kirchenrecht: Johannis Pauli Lancelots Institutions Juris Canonici, cum notis variorum, praeciue arcana dominationis Papalis, Episcopalis et Clericalis in Ecclesia Romana detegentibus, Halle 1717 (286 S.). Seine Gesetzgebungslehre wurde nach Vorlesungen 1740 veröffentlicht (vgl. Anm. 8).

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Monatsgespräche 1, S. 618ff.; 3, S. 30: »Ich sage frey und offenherzig zum Voraus, daß ich mich der in Respublica literaria allen Gelehrten vergönnten Freyheit bedienen und zum öfteren mein einfältiges Bedenken von den neuen Schriften eröffnen wolle«; wichtig ist, daß Thomasius diese Prinzipien auch auf die Erörterung von >Glaubenssachern übertrug (Religion des Gelehrten, ebd., S. 60; vgl. Anm. 28). Auf die Philosophia eclectica{1686) von Johann Christoph Sturm berief er sich zuerst in der Vorrede zar Jurisprudentia divina (1688), S. 21. Für den Zusammenhang vgl. H. Jaumann: Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Respublica literaria von 1700 und der europäische Kontext, in: Respublica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hg. von S. Neumeister und C. Wiedemann, Wiesbaden 1987, Bd. 2, S. 409^130; und H. Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der eklektischen Philosophie^ in: Zeitschrift für Historische For-

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Horst Dreitzel

Waffenstillstand beendeten Konfiktes über Pufendorfs säkulares Naturrecht voraus, nunmehr jedoch verschärft durch die Denunziation seiner Parteigänger als Atheisten, Häretiker und Revolutionäre (Novatores). Die 1689 beginnende Polemik Leipziger und Wittenberger Theologen und Juristen, die schon früh gerichtliche Sanktionen androhten, verschärfte sich mit Thomasius' Eintreten für Α. H. Francke und den Pietismus sowie für die Gleichgültigkeit der konfessionellen Unterschiede von Lutheranern und Reformierten anläßlich der Hochzeit des Herzogs von Sachsen-Zeitz mit einer brandenburgischen Prinzessin. Sie führte dann schon 1690 zum Verbot seiner Vorlesungen und Schriften in Leipzig und zur Beschlagnahme seines Besitzes. Der drohenden Verhaftung entzog sich Thomasius durch die Flucht nach Berlin. In Halle setzte er dann sehr bald seine Vorlesungen und Publikationen mit Erfolg fort, seit 1794 als Professor an der dort auch durch seine Initiative gegründeten Universität. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist es wichtig, daß Thomasius erst in Halle in die grundsätzliche Diskussion über das Recht evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten, über ihre Kompetenzen gegenüber den Kirchen und über das Ketzerrecht eintrat, wobei ihn vor allem ein älterer Student, der Jurist Enno Rudolph Brenneysen (geb. 1670) aus Esens in Ostfriesland, mit fast gleichgewichtigen Kenntnissen der Materie, aber anderem biographischen Hintergrund, unterstützte. Die gemeinsamen Werke von 1695-1701 36 wurden zu

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schung 18 (1991), S. 281-343; A. Michael: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte, StuttgartBad Cannstatt 1994. Dissertatio de Jure principis circa Adiaphora occasione Ordinationis Ecclesiae Ducati Magdeburgensis tit. 2 §1, Resp. Enno Rudolf Brenneysen. Hervorgegangen aus Vorlesungen über die Kirchenordnungen des Erzbistums bzw. Herzogentums Magdeburg; der Verf. war vermutlich Brenneysen, denn 1. übernimmt die Dissertation ohne den für Thomasius typischen Vorbehalt die Vorschläge Brunnemanns zur Reform des Gottesdienstes im Sinne der >Zweiten Reformations 2. erklärt und erläutert Thomasius S. 47-53 seine Zustimmung zur Dissertation; 3. schrieb er: »Es hat aber Herr Brenneysen aus diesen Lectionibus das Fürstenrecht colligiert und concentriert« (KirchenrechtsGelahrtheit [wie Anm. 14], 1, S. 10). - Das Recht Evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten gründlich ausgeführt und wider die papistischen Lehr-Sätze eines Theologi zu Leipzig vertheydigt von D. Christian Thomasen P. P. und Lic. Enno Rudolph Brenneysen Benebenst einer Summarischen Anzeige und kurzen Apologie wegen der vielen Anschuldigungen und Verfolgungen, damit etliche Jahr her besagten D. Thomasen belegt und diffamieret, Halle 1696. Die Schrift ist dem preußischen Staatsminister und Konsistorialpräsidenten Paul von Fuchs gewidmet. Der in Thesen (»Sätze«) gegliederte Traktat ist vermutlich von Brenneysen: S. 197 ist von »meinem Vaterland, Ostfriesland« die Rede; der Verf. tritt S. 154 kurz für das Kollegialsystem ein; in der nahezu ausschließlich staatsrechtlichen Argumentation fehlen die für Thomasius typischen kirchengeschichtlichen und theologischen Themen. Die »Summarische Anzeige« (S. 241-288) enthält eine für Thomasius charakteristische Entwicklungs- und Konfliktgeschichte; die Argumentation ftlr eine christliche Toleranz findet sich hier, z.B. S. 286. - Dissertatio An Haeresis sit crimen? Resp.: Johann Christoph Rube, Halle

Christliche

Aufklärung

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den wichtigsten Dokumenten der Toleranzbewegung in Deutschland nach dem Traktat Pufendorfs De habitu religionis

christianae

ad vitam

civilem

(1687), den Thomasius wohl schon 1689 kennenlernte. 37 Weder Pufendorf noch Thomasius selbst hatten sich zuvor speziell mit dem Staatskirchenrecht beschäftigt - es war klüglich ausgespart worden. 38

4. Destruktion des christlichen Staates und der Kirche A u f einer ersten Ebene der Interpretation kann die von Thomasius mit seinen Mitarbeitern entwickelte Position gedeutet werden als Destruktion der Legitimität aller Institutionen des nachreformatorischen Konfessionsstaates, darüber hinaus auch der christlichen Staats- und Herrschaftskirche seit Konstantin, schließlich auch der Kirche als Institution überhaupt: der Legitimität des Ketzerrechts, der Glaubensfestlegung durch Bekenntnisschriften und symbolische Bücher, der >cura utriusque tabulae Decalogi< der Obrigkeit, der Rechts- und Entscheidungsinstitutionen wie Konsistorien, Kolloquien, Synoden, der Religionseide, der Stellung und Funktion der Geistlichen, der Verbindlichkeit von Sakramenten, der Kirchendisziplin, der Kir-

1697. Sie entwickelt Thomasius' historische und theologische Argumentation sowie seine Konzeption von >ReligionsgesellschaftAdiaphoraKirche< stellte sich Thomasius vor wie eine häusliche Geselligkeit um Redner und Zuhörer, nur das Anstandsgefühl sei ausschlaggebend für die Zugehörigkeit. Er lehnte deshalb auch die Konzeption der Kirche als Verein (oder >Kollegiumexercitium publicum< fur jeden Glauben: »tantum volo, confessionem debere esse liberain et cultum privatum volo; conventus amicales et discursus quotidianos de religione non statim traducendos esse tamquam conventículas, ut fiant fraudem legis.«41 Keine sichtbare Kirche sei die wahre Kirche: Folglich sei die wahre Kirche nur das gesellige Zusammensein von Gläubigen. Diese Destruktion, die schon durch ihre durchgehende Gleichsetzung der Institutionen des protestantischen Konfessionsstaates und der evangelischen Kirchen mit dem Papismus, der als selbständigen Staat interpretierten katholischen Kirche, universalisiert war, entwickelte sich mehr und mehr zu einer Gesamtkritik am Verlauf der Kirchengeschichte, aus der eigentlich nur die unmittelbare Lehrtätigkeit Jesu und die persönliche Betroffenheit seiner Anhänger kritiklos übrigblieb - schon bei den Aposteln setzte der Verfall ein. Er wird im wesentlichen auf drei Faktoren zurückgeführt: auf den Herrschaftstrieb der Geistlichen, auf das Fortleben von Zeremonien des

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Kirchenrechts-Gelahrtheit (wie Anm. 14), 1, S. 15. Vgl. die Auseinandersetzung mit Pufendorfs Konzeption der Kirche als >collegium< ebd. 1, S. 290-297: »Es kamen die Christen sub Familiaritate zusammen« (S. 294); diese Gesellschaft besitzt keine >StatutenDecorum< und der Liebe geregelt. De jure principis circa haereticos (wie Anm. 36), S. 36. Die Urkirche als >Hauskirchesensus communis« und >ratio naturalis« über alle Fragen des Glaubens und der Kirche leicht urteilen könne (De jure principis circa adiaphora [wie Anm. 36] S. 33).

Christliche Aufklärung

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überwundenen Judentums und auf die Rezeption der heidnischen, insbesondere platonischen und aristotelischen Philosophie mit ihrer Tendenz, die Gläubigen von den Aufgaben und Möglichkeiten des konkret-praktischen Lebens abzulenken zur vita contemplativa und zum dogmatisch-spekulativen Verständnis des Glaubens als Überzeugung von bestimmten philosophischmetaphysischen Meinungen. Dadurch sei zugleich die Grundlage gelegt worden zur Herrschaft des Klerus, d.h. derjenigen, die behaupten, allein fähig zu sein, die schwierigen und komplexen Erkenntnisse zu gewinnen und zu verwalten. In zweierlei Richtung verschärfte Thomasius in den folgenden Jahren diese Position: durch die Ausarbeitung seiner >christlichen< Ethik als gottvertrauendem Epikuräismus und dadurch, daß er die in der jüdischchristlichen Tradition grundlegende Vorstellung von Gott als Gesetzgeber und Richter aufgab, damit auch die Grundlage der Rechtfertigungslehre zerstörte, so daß nurmehr der Gott der Liebe, die Vorstellung Gottes als gütiger Vater eines emanzipierten Sohnes übrigblieb.42 Dadurch verwarf Thomasius nicht nur seine eigene Ausarbeitung des >Jus divinum positivum universale^ sondern auch die in der natürlichen Theologie verankerte Naturrechtsauffassung, wie sie Grotius und Pufendorf formuliert hatten. Die neue Lehre der Fundamenta juris naturae et gentium (1705) hieß: Das einzige Rechtsgesetz ist das positive Recht, das >Naturrecht im strengen Sinne enthält nur Maximen für Gesetzgebung und Rechtsprechung. Kein Naturrecht als Gesetzgebung Gottes - es gibt nur Ratschläge für die Lebensführung, wie sie auch Christus predigte. Mit diesem Wandel ging Hand in Hand die Entwicklung dessen, was als epikuräisches Christentum bezeichnet werden kann: Die Offenbarung gelte im wesentlichen der Ermöglichung eines glücklichen Lebens im Diesseits, eines Lebens, das die einander widerstrebenden und potentiell destruktiven Triebe der avaritia, voluptas und ambitio ebenso zu einem Ausgleich bringt wie die Spannung zwischen individuellem Glücks- und Erhaltungsstreben einerseits, der Angewiesenheit auf das Zusammenleben mit anderen Menschen andererseits.43 Scharf wird

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Prudentia legislatoria (1702; vgl. Anm. 8), c. 5 n. 3ff.; Natura legis tarn divina quam humana, in: Observations Hallenses, T. 6, Halle 1702, Obs. 27, S. 272ff.; Fundamenta juris naturae et gentium (1705), 4. Aufl., Halle 1718 (ND Aalen 1979), 1. 1 c. 5 n. 34-52; Kirchenrechts-Gelahrtheit ( 1738), 2, S. 15 u. 19f. - Die traditionelle Auffassung in Jurisprudentia divina (1688), 1. 3 c. 6 n. 30.

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Dazu gehörten vor allem die utilitaristische Lehre »obligatio interna est, cum homo, cuius voluntas alio inclinât, metuit gravius malum ex naturali connexione oriendum. Obligatio externa est, cum homo metuit gravius malum a libro arbitrio eius dependens, qui potestatem habet, talia inferendi«. Prudentia legislatoria, c. 5 n. 27 f.; Fundamenta (wie Anm. 42), 1. 1 c. 4 η. 61; ebd. η. 38 verteidigt ausdrücklich die >utilitas vera< als Maßstab des Rechts; der Vorrang der Selbstliebe: »Nemo amat alios, nisi propter suam

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die >natürliche Liebe< von der christlichen abgesetzt: Märtyrertum, Dulden und Leiden, die Imitatio Christi widersprechen dem rechten Glauben. Zur Entwicklung dieser Konzeption gehörte auch die Differenzierung der Bereiche der Ethik in justum, honestum, utile und decorum sowie die breite Entfaltung der Lehre von der Klugheit (utile). Seine grundsätzliche Ablehnung der Deutung der Vernunft als leitendes Vermögen des Menschen und als metaphysische Kategorie führte ihn zu einer rein instrumentell-pragmatischen Auffassung des Denkvermögens. Der Versuch von 1695, in einer umfassenden Metaphysik den >Geist< als positive und dynamische Kraft der Vernunft dem Erkenntnisvermögen einerseits, der Seele als Komplex der leidenschaftlichen Triebe andererseits entgegenzustellen, wurde nicht weitergeführt - es scheint, daß Thomasius mehr und mehr auf die Fähigkeit zur Selbstregulierung der >Seele< vertraute, auch auf die Einsicht der Vernunft, d.h. daß das >gute< Verhalten durch die entstehende Gewissensruhe und durch seinen unmittelbaren Nutzen die beste Grundlage für die irdische Seligkeit, fur das wahre und andauernde Glück sei. >Gewissen< als Selbsterkenntnis, als Erkenntnis der eigenen Schwächen, und >Vertrauen des Herzens< (im Unterschied zur historischen Wahrscheinlichkeit des Glaubens

felicitatemi nemo se solum amat, nisi amat multa extra se« (ebd. n. 38); die Aufhebung der Furcht vor Gott; die Interpretation der Lehre Christi als Anweisung zum glücklichen Leben im Diesseits: »Dann Christus hat Doctrinas practicas dociret, wie nemlich ein Mensch leben solte, und bestunden seine Lehren gar nicht in Varietatibus speculativis, in dem dieselben zur Seligkeit nicht nöthig waren; wer ein gut Leben führet, der bekommt eo ipso seine Belohnung, nemlich die Ruhe« (Kirchenrechts-Gelahrtheit [wie Anm. 14], 1, S. 134); der Lohn der Tugend erfolgt im Diesseits als ihre unmittelbare Wirkung: »Denn virtus est sui ipsius praemium, sie sind in ihren Gemüthern ruhig« (ebd. 2, S. 177); das Leben abseits der >WeltVertrauen des Herzens< begründet. Thomasius' Konkretismus ging so weit, daß er im Hinblick auf die unterschiedlichen psychologischen Konstitutionen gelegentlich sogar die Einheit des menschlichen Wesens in Zweifel zog. Verallgemeinernde Regeln und Gesetze seien jeweils nur für konkrete Gruppen von Menschen möglich, am besten durch eine Figur, die dem des uninteressierten Beobachters in der ethischen Theorie Adams Smiths entspricht.45 Damit wurde er zu einem Vorkämpfer für das historische und positive Recht, das er allerdings immer unter die Kontrolle der von den allgemeinen Maximen geleiteten Klugheit stellte. Gesetze sind vor allem deshalb notwendig, weil die Menschen in ihrer Mehrzahl und andauernd nicht das für sie wirklich Nützliche erkennen und verwirklichen können - deshalb muß vor allem fur ein Medikament der äußere Frieden erzwungen werden. Die Eigenart des Thomasius und damit zugleich auch eine wesentliche Grenze seiner Wirksamkeit war, daß er daran festhielt, diese Auffassung als Philosophia Christiana zu verstehen, daß er ihre einzig vollständige Darstellung in der Bibel fand. Auf seine Weise blieb Thomasius Biblizist - bis hin zu seiner Rechtsgeschichte, die daran festhielt, daß die Gesetze des alten Israel die besten und klügsten gewesen seien,46 denen gegenüber die gesamte weitere Rechts- und Verfassungsgeschichte von Solon und Lykurg an nur die einseitige Herrschaft bestimmter Leidenschaften bezeuge, allerdings nicht übertragbar auf die Gesellschaft der eigenen Zeit. Für die Ordnung und das Regiment der Kirche hat diese Lehre die Folge, daß alles außerhalb der einfachen Wahrheiten der christlichen Philosophie

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Vgl. Cautelen der Rechtsgelahrtheit, Halle 1713, c. 5 n. 18: Unterscheidung zwischen >Gewißheit des Herzens< und >Gewißheit des Verstandes«; ersteres ist >GlaubenWahrscheinlichkeitAdiaphora< erklärt wurde, d.h. zu unwesentlichen Dingen, die teils als Ergebnisse falscher und herrschsüchtiger Klerikererfindung zu betrachten seien, teils als pädagogisch nützliche Veranstaltungen für die letztlich immer willens- und vernunftschwachen Menschen, vor allem für den >Pöbel< damit aber auch grundsätzlich als Materie für die Gestaltung durch den Souverän. Dabei gelte grundsätzlich das Prinzip der Gewissensfreiheit und der Freiheit des exercitium privatum - die Religionsfreiheit dagegen wird, weil ja Kirchenbildung, Dogmen, Liturgie unwesentlich sind, der fürstlichen Kompetenz überlassen. Erst spät konnte sich Thomasius zur Toleranz gegenüber Atheisten entschließen47 mit dem Argument Bayles, daß der religiöse Glaube nach allen Erfahrungen nicht das rechtskonforme Verhalten der Bürger garantiere; die allgemeine menschliche Bosheit schlage durch und sei mit >äußeren< Mitteln und nur in ihren > äußerem Handlungen zu bekämpfen, um Frieden als minimale Voraussetzung des glücklichen Lebens zu garantieren. Der aus der Notwendigkeit der Erhaltung von Frieden und der Herstellung von Ordnung - nicht unähnlich wie von Thomas Hobbes48 abgeleiteten absoluten Staatsgewalt wird also die Kompetenz über alle >Adiaphora< zugesprochen, d.h. über alles, was nicht >jure divino et naturale festgesetzt sei - d.h. konkret, daß als neue und einzige Norm des Jus divinum, als einzige Grenze des >Jus circa sacra< die Gewissensfreiheit und die begrenzte Religionstoleranz verbleibt - alles weitere unterliege der Staatsräson und der Verpflichtung des Fürsten, >Mißbräuche< einzudämmen und abzustellen, den Aberglauben zu bekämpfen. Der >Territorialismus< des Thomasius ist in Wahrheit die Rechtfertigung eines aufgeklärten Reformabsolutismus - denn die Gebote der christlichen Toleranz wurden von Thomasius auch als Gebote der >humanitas< und des Naturrechts interpretiert.49

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Kirchenrechts-Gelahrtheit (wie Anm. 14), 1, S. 57f. und 2, S. 349. Die Herkunft des Rechtsprinzips >pax est quaerenda< von Thomas Hobbes zeigt Thomasius selbst mehrfach (z.B. Fundamenta juris naturae et gentium [wie Anm. 42], 1. 1 c. 6 n. 18). Er leitete allerdings diese Norm nicht aus dem durch das Streben nach Selbsterhaltung notwendigen Kampf aller gegen alle im Naturzustand ab, auch nicht aus dem Vernunftgebot zur >SocialitasGerechtigkeit< verbirgt sich in seiner Rechtsbegründung im Grundsatz der Gleichheit (»Quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris«). Während Thomasius im Kirchenrecht hauptsächlich mit christlichen Gründen argumentierte ^christliche ToleranzZweiten Reformation unterwerfen. Aber die Disziplinierung der lutherischen Kirche und deren Union mit der Kirche der Herrscher blieb ihr Ziel, das sie u.a. durch die Verwaltungsorganisation der Kirchen, durch Verbote der Kontroverspredigten und Eingriffe in die Liturgie zu erreichen suchten, Friedrich Wilhelm I. dann durch systematische Förderung des konfessionell betont indifferenten lutherischen Pietismus unter Ph. Spener und A. H. Francke. Alle lutherischen Pfarrer der Brandenburg-Preußischen Landeskirche mußten an der pietistisch geprägten Universität Halle studieren. Auch gegenüber der durch Staatsverträge gesicherten katholischen Kirche in den seit 1614 erworbenen Westprovinzen verstand sich der Kurfürst als oberster Bischof. Die Begründung war immer zweischichtig: Einerseits wurde mit Gründen der Staatsräson argumentiert, d.h. der Notwendigkeit der Kontrolle der Kirchen wegen der potentiellen Gefährdung des inneren Friedens durch sie und wegen der Notwendigkeit, die moralischen Grundlagen des politischen Systems zu sichern, andererseits mit der Aufgabe der Herrscher, nicht nur für das zeitliche, sondern auch für das ewige Heil der Untertanen zu

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sorgen. In der Entwicklung dieser Lehre sind drei Elemente hervorzuheben; ihr Zusammenwirken ist nicht unbedingt im Sinne des Wolffschen Prinzipien- und Systemdenkens konsequent, es demonstriert vielmehr die Komplexität politisch-sozialer Konzeptionen, eine Komplexität, die ihnen überhaupt erst die Akzeptanz ermöglichen. Da ist zunächst die Konzentration auf die absolutistische Fürstenherrschaft, die sich u.a. auch in einer spezifischen Kaiser- und Reichsfeindlichkeit äußerte und ein unbeschränktes Vertrauen in den Herrscher einschloß. Das positive Verfassungsrecht des Reiches und die Reichsgesetze galten als illegitime Begrenzung der als Souveränität verstandenen Territorialhoheit, z.B. hinsichtlich der Beschränkung des Religionsfriedens auf die drei Konfessionen.50 Diese Tendenz zeigte sich auch darin, daß das Recht auf das Kirchenregiment ausdrücklich auch Monarchen zugesprochen wurde, die einer anderen Konfession angehören oder sogar Heiden sind. Da ist zweitens die Fortführung von rationalistischen Forderungen der Kirchenreform aus der Zeit der Zweiten Reformation als Aufgabe des Monarchen, z.B. das Verbot des Exorzismus, das Verbot von Bildern, das Verbot von Instrumentalmusik, z.B. der Orgel, und polyphonem Kirchengesang, das Verbot von Talaren, von traditionellen Gottesdienstformen, die Forderung nach einer strengen Moraldisziplinierung und rationalen Predigtformen, schließlich auch schon ein Mißtrauen gegen den Traditionalismus und den Eigensinn der Geistlichen, die Bekämpfung der Kontroverstheologie und das Streben nach Kirchenunion durch irenischen Indifferentismus.51 Insofern muß der arminianische Absolutismus des Kirchenregiments als reformatorisch im Sinne eines aufgeklärt-rationalistischen und praxisorientierten Christentums bezeichnet werden. Als drittes Element, eng verknüpft mit der Reduktion der dogmatischen Fundamente und der Betonung der praktisch-tätigen Frömmigkeit, ist die Tendenz zur Toleranz unterhalb der religio dominans zu nennen. Brunnemann entwickelte z.B. ein spezifisches Toleranzprogramm in seinem christlichen Absolutismus, das neben dem Verbot der wechselseitigen Verketzerung der verschiedenen Kirchen auch die Trennung der Kirchenstrafen wie der Exkommunikation von ihren im kanonischen Recht vorgesehenen bürgerlichen und strafrecht-

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Thomasius gehörte mit Heinrich Cocceji und Johann Peter von Ludewig zur Schule der preußischen >Hofpublizisten< (Johann Jacob Moser), die durch historische und juristische Konstruktionen die Bindungen der Reichsverfassung zu minimalisieren suchten; vgl. z.B. De Statuum Imperii potestate legislatoria contra Jus commune, Halle 1703; Scholia continua in textum Severini de Monzambano de statu Imperii Germanici, Halle 1696; De injusta oppositione jurium Majestaticorum, Superioritatis Territorialis et Reservatorum Imperatorum, Halle 1696. Brunnemann: De jure ecclesiastico (wie Anm. 17), vor allem 1. 1 c. 4-6; Toleranz: 1. 1 c. 6 n. 27ff.

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lichen Konsequenzen vorsah. Andererseits wurde die bei Grotius und Huber vorhandene These, daß ein wesentlicher Teil der Gewissensfreiheit die Freiheit der Kommunikation und der Gesellschaftsbildung sei, für die sie mit dem juristischen Modell der >universitas< oder des >collegiumssocietas< genannt, arbeiteten, von dieser brandenburg-preußischen Staatstheologie nicht aufgenommen. So war die ausgedehnte Kompetenz der Staatsgewalt in Religions- und Kirchenangelegenheiten das vorherrschende Prinzip, das auch durch die Reduktion der unantastbaren Fundamentalia des Glaubens gesteigert wurde. Dem reformierten Absolutismus widersprach die vor allem von den kursächsischen Theologen und Juristen - für Thomasius vor allem repräsentiert durch Benedict Carpzov (1595-1666) und Johann Benedict Carpzov (1634-1699) - verfochtene Auffassung von der ständischen und sehr viel eigenständigeren Struktur der Kirche im Staat. Ihre Organisation Schloß auch die Laien ein, d.h. den >Regierstand< und den >Hausstandecclesia repraesentativa< die zentrale Figur war, nicht die Herrschaft des Fürsten über die Kirche. Dies entsprach der Konzeption des Ständestaates, der in der Regel mit der Kirchenlehre der lutherischen Orthodoxie verknüpft war: An entscheidender Stelle stand die Kooperation unterschiedlicher Institutionen, der Konsensus zwischen den verschiedenen an der Herrschaft teilhabenden Ständen. M. Heckel sprach von »einem System der Gewaltenteilung und Gewaltenverbindung«.52 Die Differenz zwischen beiden Systemen wird z.B. in der Rechtsstellung der Konsistorien deutlich: Hier sind sie wie alle Behörden Organe der fürstlichen Herrschaft mit einer von ihm abgeleiteten Gewalt, der gegenüber der Herrscher natürlich absolut ist - dort sind sie Organe der Kirche, denen auch der Herrscher als Mitglied der Kirche unterworfen ist. Alles kommt in dem letztgenannten Modell auf die kooperative Abstimmung zwischen der weltlichen Machtsphäre des Fürsten und seiner Pflicht zur Verteidigung beider Tafeln des Dekalogs einerseits und der relativ selbständigen, von den Geistlichen dominierten Kirchenorganisation andererseits an. Die mit landständischer Zustimmung entstandenen Glaubensbekenntnisse und Kirchenordnungen spielen als Grundgesetze der Kirche in diesem System eine zentrale Rolle. Die Bereitschaft zur Toleranz war im allgemeinen reduziert auf die meist eng begrenzte Gewissensfreiheit des >quietus haereticus* sowie auf die gängigen Argumente der Staatsräson und die Anerkennung des Reichsrechts,

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Heckel: Staat und Kirche (wie Anm. 16), S. 149.

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d.h. der Bestimmungen des Westfälischen Friedens. Die besondere Situation der kursächsischen Kirche war im übrigen dadurch geprägt, daß ihr Landesherr, August der Starke, 1697 aus politischen Gründen zum Katholizismus konvertierte. Als dritte Konzeption hatten Conring schon 1645 und nach ihm Pufendorf 1687 die Beschränkung des staatlichen Regiments über die Kirchen auf ein allgemeines Aufsichtsrecht wie über alle Gesellschaften und Korporationen entwickelt, ein Aufsichtsrecht, das allerdings auch die Sorge für die Erhaltung der natürlichen Religion als Grundlage aller verläßlichen Sozialbeziehungen in Staat und Gesellschaft einschloß - also ein staatliches Kirchenregiment im Sinne der natürlichen Theologie und der Erhaltung des inneren Friedens.53 Dieses Modell schloß die Toleranz aller Offenbarungsreligionen, ja aller mit der natürlichen Theologie zu vereinbarenden Religionen ein und säkularisierte den Staat - wenn auch für Pufendorf dann Schwierigkeiten auftauchten, wenn die Gesamtheit der Bürger tatsächlich einer Konfession angehört und dies in leges fundamentales verankert wird. Auch hier trat der Gedanke hinzu, die Gewissensfreiheit zur Religionsfreiheit zu erweitern. Versucht man nun, Thomasius' Stellung zu diesen Konzeptionen zu bestimmen, so fallt die überwiegende Orientierung am reformierten Typ des christlichen Absolutismus auf, allerdings mit der Tendenz, entsprechend seiner Vorstellung vom christlichen Glauben möglichst alle gewaltsamen, strafrechtlichen und disziplinarischen Elemente aus dem Kirchenregiment zu entfernen - bis hin zur Forderung, Atheisten als Bürger anzuerkennen, zu der sich Thomasius schließlich durchgerungen hat. Andererseits bestand er jedoch immer auf dem Recht und der Pflicht des Herrschers, in den Bereich der von ihm fast unbeschränkt ausgedehnten kirchlichen Adiaphora einzugreifen und die Kirchen zu reformieren - natürlich im Sinne seines aufgeklärten christlichen Epikuräismus. Diese Kompetenz begründete Thomasius zwar nicht mehr wie seine Lehrer mit der Pflicht zur >cura utriusque tabulaeMißbräuche< (abusus), Aberglauben aller Art sowie die Verführung und Unterdrückung durch Priester zu beseitigen, außerdem durch die Berufung auf die Kontrolle aller Gesellschaften und Vereine im Staat (inspectio generalis) im Interesse der Friedenserhaltung und der Staatsräson: »Was aber den äußerlichen Cultum betrifft, da kann ein Fürst Ordnungen machen und Strafen verordnen [...] Der Fürst kann aber seine Untertanen zu den officia humanitatis zwingen.«54 Wer nicht zu-

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Vgl. Dreitzel: Gewissensfreiheit und soziale Ordnung (wie Anm. 21), S. 10-14; für Pufendorf: Zurbuchen: Naturrecht und Natürliche Religion (wie Anm. 21), S. 6 - 6 2 . Kirchenrechts-Gelahrtheit (wie Anm. 14), 2, S. 26; vgl. ebd. 1, S. 52-59.

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stimmt, dem sei Gewissensfreiheit und >cultus privatus< einzuräumen; der religiöse Dissens hebe die natürlichen Rechte der Staatsbürger nicht auf, solange nicht die Ordnung und der Frieden des Gemeinwesens mutwillig gestört werden. Der strikte Absolutismus des Thomasius schloß allerdings jeden positiven Rechtsanspruch und jede Rechtsdurchsetzung gegen die Willkür des Monarchen aus - sie blieben insofern moralische Ansprüche, >unvollkommene Rechtem Außerdem blieb für Thomasius der Herrscher der eigentlich reformatorisch-aufklärende Faktor in der Kirche. Allerdings: So provokativ Thomasius den Umfang der fürstlichen Rechte in Religionsangelegenheiten formulierte - »Der Fürst hat Macht, alles dasjenige, was irrig ist, abzuschaffen; erstlich, daß er die Glaubensbekenntnisse hinweg lasse, die Concilia, Libros Symbolicos und Synodos abschaffe, und endlich, daß er die Dissidentes toleriere, und denen Priestern, welche schelten, daß Maul stopfe«55 - , so war er doch andererseits der Meinung, daß jede gewaltsame Reformation das Übel nur vergrößern würde, daß Verbesserungen nur äußerst beschränkt und mit äußerster Klugheit möglich seien: Das beste sei, die Zeremonien absterben und die Wahrheit zwanglos wachsen zu lassen. Immerhin kündigte er in seiner Vorlesung über die Kirchenrechtsgelahrtheit an, daß er sprechen wolle über das, was der Fürst >vi sui juris< tun könne und >ratione status< tun solle, über das, was bei den evangelischen Fürsten tatsächlich geschehe, über dessen historische Entstehung und dessen Kritik, schließlich: »Was der Fürst für ein jus habe, solche Mißbräuche zu ändern? und ob einige Hoffnung zur Änderung da sey? Wie auch, was sich ratione status temporis schicke?«56 Für Thomasius gehörte zum Kirchenrecht auch die Kirchen- und Religionsreform - aber er war ein sehr zögerlicher und konservativer Reformator. Er kritisierte schon früh das Reformprogramm Brunnemanns, vor allem seine Vorschläge zur Sozialdisziplinierung, auch im Sinne des relativen Traditionalismus und des Vorranges der Predigt in der lutherischen Kirche. Thomasius sah hier eine unüberschreitbare, im Grunde sehr eng gezogene Grenze des fürstlichen Absolutismus: Die Klugheit gebot, dem Volk die traditionelle Religion zu erhalten und sie nur schrittweise, nur mit gewalt- und zwanglosen Mitteln, ganz langsam den Geboten der Vernunft und der wahren Frömmigkeit anzu-

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Ebd. 1, S. 57 und 52. - Er rechtfertigte z.B. ganz in der Tradition der >harten< Auslegung des Westfälischen Friedens (IPO Art. V n. 30f.) die Ausweisung von Dissidenten als Fürstenrecht (ebd. 1, S. 382 und S. 348). Wenige Zeilen zuvor heißt es allerdings: »der Fürst muß alle Religionen tolerieren, sie mögen auch seyn, welche sie wollen, v.g. Türcken und Tartaren.« Ebd. 1, S. 7.

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passen.57 Seitenweise polemisierte Thomasius gegen die Versuchungen eines platonisch-utopischen Reformismus; Pessimismus vor allem gegenüber der unüberwindbaren Dummheit des Volkes und dessen unausrottbarer Bosheit setzte seinem Modell des friedlich aufklärenden und reformierenden Absolutismus sehr enge Grenzen. Diese Motive bewegten ihn z.B. auch zur grundsätzlichen Polemik gegen die presbyterianisch-demokratische Kirchenverfassung. Andererseits wurde Thomasius nicht müde, den orthodox-lutherischen Theologen und Juristen ehrabschneidenden Hochmut gegenüber den Fürsten, eine Verstörung der politischen Ordnung vorzuwerfen - nicht ohne Anspielung, daß in ihrer Lehre eine >laesio majestatis< liege. Er sah in ihrem System eine Priesterherrschaft, eine Variante des Papalismus, auch die Gefahr einer Verfuhrung des Volkes zu Ungehorsam und Aufstand.

6. Thesen zur Bedeutung von Thomasius für die deutsche Aufklärung Lassen Sie mich zum Abschluß versuchen, in sehr knapper, thesenhafter Form die Position von Christian Thomasius, seine Bedeutung und auch ihre

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Vgl. Cautelen (wie Anm. 34), c. 17 n. 22ff.: Der Herrscher hat das Recht und die Pflicht, in Kirchen- und Religionssachen »nach den Regeln der gesunden Vernunft« zu entscheiden; »es besteht aber die Pflicht eines Fürsten in Kirchen-Sachen kürzlich darin, daß eine wahre Religion und wahre Frömmigkeit in der Republique grüne und blühe«; Dissidenten sind nicht zu verfolgen, alle Institutionen der Kirche abzubauen, »mit einem Wort, Toleranz, oder Duldung der Irrenden, jedoch so, daß die wahre Lehre keinen Schaden dadurch leide [...], vielmehr ein Fürst dahin bedacht sey, wie das Volk durch gelinde und vernünftige Predigten von dem Aberglauben der Ceremonien überzeugt werden möge: der irrenden Gemeinde aber muß die Freiheit gelassen werden, sich derselben entweder nach eigenem Gefallen zu bedienen oder zu enthalten«. Der Fürst hat das Recht, störende Dissidenten auszuweisen. Die einzig christliche und die einzig wirksame Methode der Reform ist gewaltlos: »Also folget nun nicht, qui permittit, ille concurrit in facto, sondern er verhindert solches viel mehr als einer, welcher es per violentiam auszurichten suchet« (Kirchenrechts-Gelahrtheit [wie Anm. 14], 2, S. 29). »Also soll auch der Fürst andere Religionen tolerieren, nicht daß er per leges die Dissentientes austilgen solle; jedoch muß er per leges praecaviren, damit der error nicht weiter einreiße« (ebd. S. 35). »Der Fürst thut aber löblich, wann er [...] die Formulen und Religions-Eyde aussterben lässet, und sich von dem Joche befreyt. Also ist es auch mit den Concillen und Synodis«. - Die Figur des Herrschers, der weiterhin im Sinne des Absolutismus eine umfassende Kompetenz für das >Gemeinwohl< besitzt, gleichzeitig aber Freiheitsrechte, die der »Natur der Sache< entsprechen, sichern soll, so daß er nurmehr >indirekteKameral- und Polizeiwissenschaften< in bezug auf die Wirtschaftspolitik.

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Grenzen im Prozeß der Auflösung des protestantischen Konfessionsstaates zu umreißen: (a) Obwohl das Problem der Toleranz und das der Kompetenz des politischen Regiments in Kirchenangelegenheiten insbesondere seit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 auch im protestantischen Deutschland zunehmend diskutiert wurde, wobei man an die ältere Diskussion vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg anknüpfte, gab es doch keine so umfassende und konsequente Destruktion der Legitimität des christlichen Staates und der Kirche als politischer und sozialer Institution wie durch Thomasius und seine Mitarbeiter in den Jahren seit 1695. Seine monomanische Polemik gegen den >Papalismus< und gegen den Klerus ist durchaus mit Voltaires >Écrasez l'Infame< vergleichbar. (b) Seine 1689 begonnene, bis zum Tode 1728 fortgeführte Auseinandersetzung mit den sächsisch-lutherischen Theologen war zunächst eine Fortsetzung der großen Auseinandersetzung, die zwischen Pufendorf und den Verteidigern der Philosophia Christiana im Anschluß an die Veröffentlichung seines Hauptwerkes De jure naturae et gentium 1672 mit großer Heftigkeit geführt wurde und 1689 mit einer Art Waffenstillstand abschloß. Doch gab es einen wesentlichen Unterschied: Pufendorf kämpfte vor allem für die Trennung von Vernunfterkenntnis und Offenbarungstheologie, natürlich um der Freiheit des Vernunftgebrauches einen größeren Raum zu erobern, aber ohne die Grundprinzipien der lutherischen Kirche aufzuheben. Thomasius führte seine Auseinandersetzung dagegen mehr und mehr, beginnend mit seiner Unterstützung der Pietisten in Leipzig, als eine radikale Kritik und Reform des traditionellen Verständnisses von Kirche und christlichem Glauben überhaupt. Vor allem entwickelte er mit seinem epikuräischen Christentum eine Laientheologie, die völlig mit den traditionellen Frömmigkeitsformen aller Konfessionen brach: Der Glaube wurde nicht mehr mit der Rechtfertigung verknüpft, er wurde zum >Vertrauen des Herzens< auf die Möglichkeit eines glücklichen Lebens; das Gewissen wurde zur Selbsterkenntnis des eigenen Unglücks und seiner psychischen Ursachen, die richtende Gerechtigkeit Gottes zum Ratschlag des gütigen Vaters, die Zusage des Heils im Jenseits zur Verheißung irdischen Glücks, die Unmittelbarkeit des einzelnen Menschen vor dem Richtspruch und der Gnade Gottes zur individuell-konkreten >Selbstsorge avaritia< und >ambitio< Ansätze gab für eine Kritik des Fürstenstaates, obwohl ein zunehmender Pessimismus spürbar ist, blieb er durch sein nahezu naives Vertrauen in die absolute Monarchie, seine mißtrauische Verachtung des >Pöbels< und der >Narrensacerdotes jurisprudentiae< des Ancien Régime.58 Kaum jemals sind in seiner Geschichtsschreibung Fürsten schuldig - sie sind immer verfuhrt durch machtgierige Kleriker und Ratgeber. Die Konzentration seiner Polemik gegen die Theologen und Geistlichen, aus persönlichen Motiven entstanden, übersteigerte eine strukturelle Spannung der ständischen Gesellschaft, ohne diese selbst in Frage zu stellen, und entsprach im übrigen auch nicht der Rolle der protestantischen Pfarrer und Theologen in ihren Konflikten mit dem fürstlichen Absolutismus und bei der Entfaltung der Aufklärung in Deutschland. (d) Thomasius' Konzeption, den absoluten Monarchen zum eigentlichen Anwalt der christlichen Toleranz und Reform zu machen, fand seine Analogie in der politischen Wirklichkeit vermutlich am meisten in der Herrschafitsauffassung des preußischen Königs Friedrich Wilhelms I. und des habsburgischen Kaisers Josephs II., allerdings jeweils mit völlig anderen Auffassungen vom aufgeklärten ChristentumWeltweisheit< - dadurch gab er langwirkende und unterschiedliche Anregungen zur Entwicklung jener Richtung der Aufklärung in Deutschland, die nicht auf dem philosophischen oder naturwissenschaftlichen Rationalismus aufbaute. Da-

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Johann Christoph Becmann: Dissertalo de jure subditorum circa sacra, Franckfiirt a.O. 1689; für die religiösen Grundrechte c. 3 n. 1-11. Vgl. auch o. Anm. 13 zu E. Gerhard. Justus Henning Böhmer: Dissertatio de tolerantia religiosa affectibus civilibus, Halle 1726.

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gegen begrenzten ein weitgehend situativer Eklektizismus sowie die Verhaftung im politischen System und in der Sozialordnung des absolutistischen Fürstenstaates, die nicht ohne Elemente des Opportunismus waren, seine Wirkung. Ihr stärkstes Element war die Unmittelbarkeit seiner Persönlichkeit, die produktive und unermüdliche Umsetzung seiner zum Teil sehr individuellen Probleme in repräsentative geistige Konflikte.65

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Neben der Entwicklung der >Thomasius-Schule< (vgl. Anm. 13) ist auf die breit gestreute Herkunft der Respondenten von Thomasius' Dissertationen zu verweisen, vgl. die Zusammenstellung von W. Becker: Thomasius-Bibliographie, in: Christian Thomasius, hg. von M. Fleischmann, Halle 1931, S. 551-553.

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Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der summa potestas1

Kaum ein Jahr nachdem der dänische Theologieprofessor und Hofprediger Hector Gottfried Masius in Kopenhagen seinen Traktat Interesse principum circa religionem evangelicam publiziert hatte, reagierte Christian Thomasius 1688 im Dezemberheft seiner Monatsgespräche mit einer vernichtenden Kritik. Masius' politisch-theologische Reklame für den politischen Nutzen der lutherischen Orthodoxie war fur Thomasius offenkundig eine willkommene Gelegenheit, um am scheinbar ungefährlichen dänischen Exempel der lutherischen Orthodoxie in Leipzig praktische Intoleranz und theoretische Insuffizienz zu bescheinigen. Der Streit zwischen Masius und Thomasius gehört daher genaugenommen in die Auseinandersetzungen, die Thomasius seit Mitte der achtziger Jahre mit der lutherischen Orthodoxie seiner Heimatstadt ausfocht.2 Mit diesen nicht immer nur theoretisch geführten Kontroversen hatte sich Thomasius in eine Gelehrtenfehde eingeschaltet, die seit dem Erscheinen von Pufendorfs De Jure naturae et gentium (1672) um die Säkularisierung des Naturrechts geführt wurde. Der von Grotius vorbereitete und von Pufendorf weitergeführte Versuch einer dezidiert nichttheologischen Normbegründung spielte sich nicht gerade auf dem weiten Feld akademischer Beliebigkeiten ab - dies belegt allein schon die Heftig-

Der vorliegende Text geht ursprünglich auf ein Referat zurück, das ich im Sommer 1991 auf einer von Werner Schneiders und Claude Weber geleiteten interdisziplinären Tagung in Vianden (Luxemburg) gehalten habe. Die Tagung trug den Titel »Tradition und Emanzipation - Tradition et Émancipation und war mit Unterstützung des GoetheInstituts Luxembourg und des Centre culturel français Luxembourg von der Bibliothèque nationale Luxembourg veranstaltet worden. Weil die Publikation der Tagungsakten noch immer aussteht, danke ich Friedrich Vollhardt für die Gelegenheit, eine Neufassung meines Vortrages in einem seinem Gegenstand thematisch angemesseneren Umfeld veröffentlichen zu können. Vgl. dazu Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius' Leipziger Streitigkeiten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 3 (1953/54), H. 1, S. 155-159.

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keit, mit der die Debatte gefuhrt wurde.3 Vor allem die lutherische Orthodoxie sah nicht nur das religiöse Fundament allgemeiner Sittlichkeit gefährdet, sie hatte schließlich auch allen Grund, die nachhaltige Erosion ihrer einflußreichen politischen und gesellschaftlichen Stellung zu befürchten. Im Streit zwischen Masius und Thomasius wird diese allgemeine Diskussion um die Säkularisierung sittlicher Normen auf ein durchaus konsequenzenreiches Problem der politischen Theorie zugespitzt: Zielt doch die Frage nach Ursprung und Begründung der summa potestas auf das (Selbst-)Verständnis des Staates insgesamt, denn die Beantwortung dieser souveränitätstheoretischen Fragestellung definiert die Aufgaben und die Rechtsstellung des Souveräns und läßt von da aus Rückschlüsse auf die Funktionsbestimmung des Staates insgesamt zu. Dabei scheint die Frage, ob die höchste Gewalt im Staat unmittelbar (Masius) oder nur mittelbar (Thomasius) von Gott übertragen wird, zumindest auf den ersten Blick kaum erheblich zu sein, steht doch weder der Absolutismus noch die begründungslogische Funktion Gottes zu Disposition. Und doch markiert der Unterschied im theoretischen Detail - die definitive Abkehr von theologischen Begründungsmustern in der politischen Theorie - einen epochalen Wandel in der Staatstheorie des 17. Jahrhunderts. Freilich ist der Streit zwischen Masius und Thomasius nur ein Moment eines sehr viel längeren und sehr viel komplizierteren Säkularisierungsprozesses. Und selbst die von ihnen ins Feld geführten Argumente sind innerhalb der souveränitätstheoretischen Diskussion der Zeit nicht tatsächlich neu. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, daß die Auseinandersetzung in der bisherigen Literatur nur eher beiläufig rezipiert worden ist.4 Obwohl beide Kontrahenten einen

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Eine gründliche Untersuchung dieser Diskussionen steht noch immer aus. Eine wertvolle Sichtung des Materials hat Fiammetta Palladini bereits 1978 vorgelegt: Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663-1700, Bologna 1978. Eine inhaltliche Würdigung der Kontroverse wird demnächst Detlef Wenzel vorlegen. Sein Beitrag Les fondements du pouvoir légitime. Une controverse politico-confessionelle à la fin du 17ième siècle erscheint in: Le christianisme dans les pays de langue allemande: enjeux et défis, hg. von Angelika Schober. Der Autor hat mir seinen Aufsatz noch vor der Publikation zugänglich gemacht, dafür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Hinweise zum Sachgehalt der Auseinandersetzung teilt auch Wolfgang Wiebking mit: Recht, Reich und Kirche in der Lehre des Christian Thomasius, Diss. Hannover 1973. Die übrige Literatur handhabt den Streit in der Regel nur als ein signifikantes biographisches Datum, das einen Anteil an Thomasius' Vertreibung aus Leipzig hatte und sein aufklärerisches Engagement gegen die Orthodoxie besonders eindrücklich illustriert. Vgl. u.a. H. Luden: Christian Thomasius nach seinen Schicksalen und Schriften dargestellt, Berlin 1805, S. 78-85 und S. 116-125. Ernst Bloch: Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere, in: Ders.: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt am Main 1961, S. 340f.; Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius (1655-1728), in: Bedeutende Gelehrte in Leipzig, Band 1, hg. von Max Steinmetz, Leipzig 1965, S. 12f.; Hans Hattenhauer: Christian Thomasius, in: Die Auf-

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Großteil ihrer Argumente von erprobten Gewährsleuten beziehen konnten Masius stützte sich etwa auf Johann Friedrich Horn5 und Johannes Wandalinus6, Thomasius empfand sich selbst als Mitstreiter Samuel Pufendorfs - , war die Kontroverse selbst in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts alles andere als anachronistisch. Die Säkularisierung des Naturrechts hatte sich noch längst nicht durchgesetzt, vielmehr hat der Vorstoß Pufendorfs verstärkte Bemühungen provoziert, das Naturrecht entweder christlich zu reformulieren oder insgesamt für obsolet zu erklären.7 Und schließlich war selbst nach der Kontroverse zwischen Masius und Thomasius die Legitimierung fürstlicher Macht durch Rekurs auf den Willen Gottes noch durchaus diskutabel - dies belegen zumindest die »nöthigen Anmerckungen«, mit denen Gottlieb Samuel Treuer 1719 kritisch auf die Disquisitio politica des Kameralisten Wilhelm von Schröder reagierte.8 Daß Masius und Thomasius ihren Disput keiner längst geklärten Frage gewidmet hatten, läßt sich auch an der Rezeption ihrer Auseinandersetzung ablesen: Die Nachweise reichen von Walchs Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelischlutherischen Kirchen (1730) über Zedlers Universallexikon (1739), Gundlings Ausführlichen Discours über das Natur- und Völcker-Recht (1734) und Glafeys Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunfft (1739) bis hin zum Anti-Hobbes (1798) des Juristen Paul Anselm von Feuerbach, der neben Hobbes, Graswinckel und Wandalinus auch Masius als exemplarischen Gegner jeglichen Widerstandsrechts aufführt.

1. Was den äußeren Verlauf der Auseinandersetzung anbelangt, so ist ein genauer Nachvollzug aller Einzelheiten und Wendungen des nicht selten intriganten Wechselspiels kaum sinnvoll. Als einzige Quelle für eine detail-

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klärung, hg. von Martin Greschat (Gestalten der Kirchengeschichte 8) Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1983, S. 173f. Vgl. Johann Friedrich Horn: Politicorum pars architectonica de civitate, Trajecti [Utrecht] 1664. Siehe dazu ausführlich Heinrich de Wall: Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (ca. 1629-1665), Aalen 1992. Johannes Wandalinus: De Jure Regno anhypeuthynu et legibus humanis über 1-6, Havnia [Kopenhagen] 1663-1667. Siehe dazu Hans Peter Schneider: Justitia universalis, Frankfurt am Main 1967. [Gottlieb Samuel Treuer:] Wilhelm Freiherr von Schrödern Disquisitio Politica vom Absoluten Fürsten-Recht mit nöthigen Anmerckungen versehen, Leipzig/Wolfenbüttel 1719. Siehe dazu Horst Dreitzel: Absolutismus und ständische Verfassung, Mainz 1992, S. 80-99.

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getreue chronique scandaleuse stehen - soweit absehbar - auch lediglich Thomasius' eigene in den Gemischten Händeln publizierte Erinnerungen zur Verfugung; diese sind zwar nicht unglaubwürdig, doch haftet ihnen zumindest der Makel der Perspektivengebundenheit an, ganz abgesehen davon, daß Thomasius selbst in manchen Details auf Spekulationen angewiesen bleibt.9 Bemerkenswert aber immerhin ist, daß sich die Gelehrtenfehde rasch zu einem Politikum auswuchs, in dessen Verlauf nicht weniger als drei souveräne Fürsten sich zu Interventionen veranlaßt sahen. Nachdem Masius 1687 sein Interesse principum circa religionem evangelicam publiziert hatte und Thomasius 1688 in seinen Monatsgesprächen einen boshaften Verriß folgen ließ, hielt Masius eine Reaktion für notwendig.10 Als Thomasius wiederum mit einer genüßlichen Kritik aufwartete,11 verließ Masius die Arena der gelehrten Auseinandersetzung und entschloß sich, seinen Einfluß beim dänischen König zu nutzen. Dieser beklagt in einem Brief an den Kurfürsten von Sachsen vom 12. Juni 1689, daß Thomasius »sich vermessentlicher Weise unterstanden« habe, Masius »mit groben Anzüglichkeiten anzufechten«, und »von der Majestät und gewalt, so alle Potentaten und Prinzen immediate von Gott haben, gantz verkleinerlich zu schreiben«. Daher verlangt er, daß Thomasius »exemplariter gestrafft werden möchte«, außerdem soll dieser veranlaßt werden, seine »Scandaleuse Schrifft öffentlich zu revociren«, und Masius Satisfaktion zu verschaffen.12 Thomasius verlor schließlich allen Rückhalt beim Dresdner Hof, wobei die Auseinandersetzung mit Masius bei Thomasius' Vertreibung aus Leipzig zwar eine Rolle gespielt hatte, aber offenbar doch nicht allein ausschlaggebend war. Er siedelte im März 1690 in das nahegelegene kurbrandenburgische Halle über und widmete 1690 seine gesammelten Monatsgespräche des Jahres 1689 »allen seinen grösten Feinden, insonderheit aber Herrn Hector Gottfried Masio«. Die in der Zueignungsschrift geäußerten Unbotmäßigkeiten scheinen Masius veranlaßt zu haben, den Kopenhagener Hof noch einmal zu

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Christian Thomasius: Händel mit Herrn Gottfried Masio, in: Christian Thomasius: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. Andrer Theil, Halle 1724, S. 201-352. Anfang des Jahres 1689 erschien unter dem Namen Peter Schipping ein Gespräch pro Masio mit dem Titel: Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Religion und Societät, worinnen D. Masii interesse principum circa religionem Evangelicam gegen eines neulichen Scribenten Ernsthafte Gedancken vertheidiget wird. Unklar ist, ob diese Schrift von Masius selbst verfaßt oder nur ausdrücklich von ihm veranlaßt wurde, in jedem Fall steht aber außer Frage, daß die Schrift mit seiner Billigung erschienen ist. Thomasius druckte Schippings komplette Schrift in der Mai- und Juni-Ausgabe seiner Monatsgespräche von 1689 ab und versah sie mit kritischen Noten. Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel (wie Anm. 9), S. 233.

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bemühen: Auf sein Betreiben wurden Thomasius' Schriften gegen Masius am 9. März 1691 »durch des Büttels Hand cum infamia Autoris öffentlich [...] verbrannt«.13 Thomasius beschwerte sich bei seinem neuen Landesherrn, dem Kurfürsten zu Brandenburg, und dieser verwendete sich für seinen Untertanen beim dänischen König. Schließlich verlief die Sache mehr oder weniger im Sande, zumal Thomasius es nun doch für sinnvoller hielt, sich »mere passive« zu verhalten. Nur im Oktober 1691 erschien von ihm aus gegebenem Anlaß Attilae Friedrich Frommholds Rechtsgegründeter Bericht. Wie sich ein ehrliebender Scribent zu verhalten habe, wenn eine auswärtige Herrschaft seine sonst approbierte Schriften durch den Henker verbrennen zu lassen, wie einigen Passionirten verleitet worden. Und Masius versagt es sich nicht, darauf noch einmal zu replizieren: 1692 erscheint unter dem Namen Aetium Dietrich Ehrenhold die Schrift: Vernunfftgegründeter Bericht, was von einem Scribenten zu halten, dessen Schrijften durch den Hencker verbrannt; darum, daß ehrlicher Leute guter Nähme muthwillig, und ohne alle ihm gegebene Ursach darinnen angegriffen und laediret worden. Sachlich hat Thomasius sich mit der von Masius in der Frage nach der Begründung bzw. Herkunft der höchsten Gewalt bezogenen Position auch weiterhin auseinandergesetzt, und zwar in den verschiedenen Auflagen der Institutiones iurisprudentiae divinae und in den 1705 zum ersten Mal erschienenen Fundamenta iuris naturae et gentium, in denen er seine früheren Überlegungen zum Naturrecht revidiert und dabei - wie zu zeigen sein wird - auch seinen Streit mit Masius ganz neu bewertet. Von Interesse dürfte noch die Haltung sein, die Samuel Pufendorf in dieser Angelegenheit einnahm. Pufendorf hatte Thomasius immerhin das theoretische Rüstzeug für die Auseinandersetzung geliefert und stärkte ihm auch jetzt fühlbar den Rücken - und zwar vor allem durch die in Briefen bekundete Solidarität, aber offenbar auch - soweit möglich - durch die Ausnutzung von Kontakten und Verbindungen etwa zum Berliner Hof und indirekt zum dänischen Hof. Pufendorf riet vor allem und wiederholt zu Zurückhaltung und Mäßigung, hatte er doch eingesehen, daß der streitbare Masius über beträchtlichen Einfluß verfügte - man hatte es doch mit einem Stärkeren zu tun und mußte sich »aufs pariren legen«.14 Und »kann man 13 14

Zitiert nach Thomasius: Gemischte Händel (wie Anm. 9), S. 295f. Der Einfluß, über den Hector Gottfried Masius als deutscher Prediger am dänischen Hof ganz offensichtlich verfügte, mag zunächst erstaunen, war es ihm doch immerhin gelungen, den dänischen König zu einem Engagement zu bewegen, das zumindest potentiell zu außenpolitischen Irritationen hätte führen können. Ein Grund für diesen Einfluß dürfte in einer historischen Besonderheit des dänischen Absolutismus liegen: Nach der innenpolitischen Krise des Jahres 1660, die zur endgültigen Etablierung des dänischen Absolutismus und zur politischen Marginalisierung des Adels führte, rekrutierten die dänischen Könige aus Angst vor den Machtinteressen der alten Eliten ihre Ratgeber und

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aber den process«, so Pufendorf in einem Brief vom 28. August 1689, »auf die lange bank ziehen, so verblutet sich das Werck selbst, wenn MhH dieses controvers nicht etwa in einer neuen schrifft wieder aufrühret, welches ich nicht rathen wolte«. ls Allerdings wunderte sich Pufendorf, »wie man S.k.MH. von Dennemarck disponiret, daß sie sich so weit in die Sache mit Masio interessiret«.16 Und schließlich meinte er unmittelbar nach dem Autodafé: »Ich weis nicht, ob den Dänen etwa auf der See die Vernunft durch die caper weggenommen sey, weil sie so gar irraisonablement procediren. Alle kluge leute lachen über diese Thorheit.«17 Pufendorf selbst wollte vorsichtshalber unter keinen Umständen in einen Streit mit Masius verwickelt werden, viel weniger beabsichtigte er, von sich aus zu intervenieren. Zumindest hat er dies Thomasius immer wieder versichert. Und doch hat es den Anschein, als habe Pufendorf eine sich bietende Gelegenheit genutzt, um wenigstens indirekt in eine Debatte einzugreifen, die er ganz zweifellos mit großem Interesse verfolgte. Allerdings betraf seine >indirekte Intervention nicht die Auseinandersetzung zwischen Masius und Thomasius, sondern die eher theologisch akzentuierte Kontroverse zwischen Masius und dem reformierten Theologen, Historiker und Staatswissenschaftler Johann Christoph Becmann aus Frankfurt an der Oder. Obwohl Becmann etwa durch seine 1679 erschienenen Meditationes politicae als Staatstheoretiker profiliert war,18 ließ er die souveränitätstheoretischen Probleme des Interesse principum unberücksichtigt und konzentrierte sich in seinem 1690 publizierten Bericht von der Reformierten Lehre von der weltlichen Obrigkeit19 auf die nachdrückliche Zurückweisung der von Masius behaupteten

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dänischen Könige aus Angst vor den Machtinteressen der alten Eliten ihre Ratgeber und hohen Beamten überwiegend aus Deutschland. Vgl. dazu: Maria Eysell: Wohlfahrt und Etatismus. Studien zum dänischen Absolutismus und zur Bauernbefreiung 1787/88, Neumünster 1979, S. 47. Brief vom 28. August 1689. Zitiert nach Emil Gigas: Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius (1687-1693), München u. Leipzig 1897, S. 41f. Brief vom 28. August 1689. Zitiert nach Gigas: Briefe (wie Anm 15), S. 41. Pufendorf fährt fort: »Dasz MhH den könig injuriret finde ich nicht, dasz man sich auch wieder alle potentaten solte vergriffen haben, in dem man die propositionem insignificantem quod majestas sit immediate a Deo, verwirft ist revera lächerlich, denn kein potentat von der weit glaubet sie selbst; und weis ja der könig von Dennemark wohl, auf was weisze Fridrich 3. Sehl, zu der souverainité gelanget. Und solten sie nur einen von diesen flatteurs befehlen, er solte auf die objectiones solide respondiren, so in meinem buche stehen.« Brief vom 2. Mai 1691. Zitiert nach Gigas: Briefe (wie Anm. 15), S. 55.

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Vgl. auch Becmanns 1691 erschienenen Conspectus doctrinae politicae. Siehe zu Becmanns politischer Theorie und seiner ungewöhnlich rigiden absolutistischen Staatsvorstellung: Wolfgang Weber: Prudentia gubematoria, Tübingen 1992, S. 145-150. Becmann hatte seinen Bericht unter dem fingierten Namen Hubertus Mosanus in Frankfurt an der Oder erscheinen lassen. Kaum war Becmanns Bericht publiziert,

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politischen Unzuverlässigkeit der Calvinisten. In diesem Kontext erschien Anfang des Jahres 1691 unter dem Pseudonym Andreas Montanus ein SendSchreiben,20 das, von einer dritten Position aus, sowohl Masius' lutherische Warnung vor der politischen Theorie des Calvinismus als auch Becmanns Reaktion einer prägnanten Kritik unterzog. Vergleicht man dieses SendSchreiben mit den Überlegungen, die Pufendorf in einem Brief an Thomasius am 1. November 1690 über die Auseinandersetzung zwischen Masius und Becmann mitteilt, dann lassen sich geradezu auf Anhieb verblüffende Übereinstimmungen feststellen, die zunächst die Vermutung nahelegen, Pufendorf habe selbst - ungeachtet seiner Beteuerungen und im Schutze eines Pseudonyms - eine eigene Wortmeldung lanciert. Das insgesamt ausführlichere Send-Schreiben bleibt inhaltlich im Rahmen dessen, was Pufendorf zuvor in seinem Brief an Thomasius skizziert hatte. Auffallig sind insbesondere die folgenden Übereinstimmungen: 1. Beide Einlassungen monieren in z.T. gleichen Worten die argumentative Unzulänglichkeit von Becmanns Anti-Kritik; 2. beide Texte sehen im Neuen Testament keine Basis für eine theologisch begründete Präferenz einer bestimmten Regierungsform; mit Hilfe derselben Beispiele wird jeweils anschließend deutlich gemacht, daß die Wertschätzung, die Lutheraner oder Calvinisten bestimmten Regierungsformen entgegenbringen, weniger auf theoretischen Argumenten beruht als vielmehr auf einer Gewöhnung an die politische Praxis ihrer jeweiligen Heimatländer; 3. Kongruenzen finden sich schließlich auch in der Zurückweisung der souveränitätstheoretischen Immediate-aDeo-Konstruktion und in der historischen Beurteilung der politisch-normativen Bedeutung der aus 1. Samuel 8 abgeleiteten >Jura majestatisLutherische Religiom als das einzig taugliche Mittel, genau diejenigen Unsicherheiten zu beseitigen, die durch die Glaubensauseinandersetzungen verursacht wurden. Er tut dies weniger aus einer unumstößlichen Glaubensgewißheit heraus - wie man vielleicht erwarten könnte - , als vielmehr im Gestus eines geradezu machiavellistischen Kalküls.45 »Ich zweifle nicht, es werden hohe Häupter der Reformirten Kirche mit der Zeit selbst erkennen, daß für sie nicht grosse Sicherheit in Calvini Schule zu finden, und wie können sie dann anders, als allen ehrlichen Lutheranern gutes gönnen und wollen, die nechst der Ehre Gottes für die Ehre Ihres Zepters, und der inviolablen Macht ihrer Regierung streiten, und gelernet haben zusammen zusetzen, was Petrus so genau verbindet: 1. Epist. 2, V.17. Fürchtet Gott, ehret den König.«46 So streitet er unerbittlich gegen die konkurrierenden christlichen Religionen - gegen den papistischen Katholizismus47 und vor allem gegen den Calvinismus. Letzterem unterstellt er »gefährliche Sentiments«48 gegen die hohe Obrigkeit und einen »spiritus seditiosus«,49 in ihren Schriften findet er »gefahrliche Sätze« gegen die Obrigkeit, die »mit der souverainen Ober-herrschafft nicht bestehen können«.50 Obwohl Masius sich selbst ausdrücklich in die Tradition der lutherischen Orthodoxie stellt, geht er - ebenso wie sein Gewährsmann Johannes Wandalinus51 - doch einigermaßen weit über sie hinaus. Weder ist die

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Bereits der Titel des Interesse principum deutet unmißverständlich darauf hin. Masius: Das Treue Lutherthumb (wie Anm. 19), Vorrede. Vgl. auch die Dedication an Christian V. König von Dänemark im Interesse principum. So heißt es kategorisch in Interesse principum: »Papismum cum Absolutis Dominiis Regum consistere non posse demonstratur« (wie Anm. 27), S. [13f.]. Vgl. auch Masius: Das Treue Luthertumb (wie Anm. 19), S. 265; sowie ders.: Der abgefertigte Jesuit, sambt einer Apologie [...], Weissenfeis 1711. Masius: Das Treue Luthertumb (wie Anm. 19), S. 87. Ebd., S. 159. Ebd., Vorrede. Der seeländische Bischof Wandalinus hatte 1663-1667 in einer umfangreichen, auf sechs Bücher angelegten Studie die noch immer gegebene Gültigkeit der alttestamentlichen Jura majestatis zu belegen versucht. Als Anlaß seiner Abhandlung gab er - mit Blick auf die Calvinisten - ältere und neuere Ketzereien an, die der summa potestas den vollen Umfang ihrer Rechte streitig machten. Vgl. Johannes Wandalinus: De Jure Regno anhypeuthynu et legibus humanis liber 1-6, Havniae 1663-1667. Vgl. zur Rezeption der von 1. Samuel 8 abgeleiteten Jura majestatis in der Literatur der frühen Neuzeit:

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Berufung auf 1. Samuel 8 üblich, noch wird ein Widerstandsrecht in der Orthodoxie unter allen Umständen ausgeschlossen. Johann Gerhard etwa unterscheidet die legitime von Gott verordnete potestas des Tyrannen von einem offensichtlichen Mißbrauch der Staatsgewalt. Der abusus potestatis ist weder von Gott gewollt noch von ihm gebilligt. So räumt Gerhard mit aller Vorsicht dann doch einen sehr begrenzten legitimen Widerstand ein. Und die immediate-a-Deo-Vorstellung wird zwar unter anderem auch bei Valentin Alberti durchexerziert, doch wird sie von Gerhard auf das personale Gottesgnadentum eingeschränkt, für das sich lediglich im Alten Testament Belege finden lassen. Schließlich wird Masius' Postulat eines normativ völlig ungebundenen Souveräns weder von Alberti noch von Gerhard unterstützt. Masius' vehemente Warnungen vor der politischen Unzuverlässigkeit der Calvinisten hielt der reformierte Theologe Johann Christoph Becmann für »Ertz-Verläumbdungen«,S2 die umgehend zurückzuweisen waren. Obwohl Thomasius' Polemiken bereits erschienen waren, nimmt Becmann keinerlei sachlichen Bezug auf sie. Der reformierte Theologe reagiert im Grunde nur auf die Herabsetzung seiner Lehre durch den Lutheraner; er verstand den Disput - übrigens ebenso wie Masius selbst53 - als eine innertheologische Angelegenheit. So mochte denn auch aus seiner Sicht und für seine Belange ein doppelter Nachweis genügen: Anhand von einschlägigen Texten reformierter Theologen demonstriert Becmann, daß der Calvinismus ebensogut die unmittelbre Gottgegebenheit der Obrigkeit behauptet und daher »den absoluten Herrschafften allen vollkommenen und absoluten Gehorsam«54 entgegenbringt. Dagegen lasse sich umgekehrt mit Hilfe entsprechender Quellen beweisen, daß die lutherischen Theologen sowohl theoretisch als auch praktisch den pflichtschuldigen Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten nicht selten haben vermissen lassen.55 Becmanns Einlassungen werden zwar

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Annette Weber-Möckl: Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll, Berlin 1986, vor allem S. 94ff. [Johann Christoph Becmann:] Huberti Mosani Bericht von der Reformierten Lehre, Frankfurt an der Oder 1691, S. 98. Vgl. [Hector Gottfried Masius:] Unverzögerte Generale=Wiederlegung Des Fernern Berichts, Welchen Joh. Christoph Becman unter dem Nahmen Huberti Mosani gegen Masii Treues Lutherthumb herausgegeben, Copenhagen 1691, S. [1]. [Becmann:] Huberti Mosani Bericht von der Reformierten Lehre von der Weltlichen Obrigkeit, S. 98. Vgl. auch Johann Christoph Becmann: Securitas Doctrinae Reformatae Religionis De Magistratu Politico, Frankfurt an der Oder 1690. In Huberti Mosani Bericht von der Reformierten Lehre (wie Anm. 52) heißt es: »Ich will zugleich weisen, daß die Lutherische Theologi viel härter von der hohen Obrigkeit und wieder dieselbe geschrieben: Daß auch Praxis mit dieser Theoria offt übereingestimmt« (S. 58).

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weitschweifig entwickelt, doch bleiben sie argumentativ ausgesprochen dürftig. Immerhin ist auffallig, daß er eine eigene Stellungnahme zum Immediate-a-Deo-Problem vermeidet. In seinen von Grotius inspirierten und 1693 zum vierten Mal aufgelegten Meditationes Politicae ist sowohl die Einrichtung des Staates als auch die Konstitution der maj estas eine menschliche Angelegenheit, die freilich insofern göttlich legitimiert ist, als sie von Gott gebilligt wird. Die unterstellte Billigung gilt einer segensreichen menschlichen Einrichtung, die sich nicht einer Weisung Gottes verdankt, sondern von ihm eher nachträglich approbiert wird - eine Immediate-a-DeoVorstellung hat hier keinen Platz. Allerdings kommt der Wille Gottes bezeichnenderweise dann wieder ins Spiel, wenn es um die Begründung der Gehorsamspflicht des Untertanen geht: »Voluntas Dei est, ut absoluta subjecti obedientia simus.«56 Es war diese theologische Auseinandersetzung, die Rechenberg mit Unterstützung Pufendorfs zu einer Stellungnahme herausgefordert hatte, beide hielten die religionspolitische Kontroverse fur ebenso unnütz wie schädlich. Es war ihnen daher wichtig, die streitenden Parteien zur Ordnung zu rufen, indem sie beider Positionen theoretisch überwinden.57 Die dabei ins Feld geführten Argumente sind sowohl theologischer als auch politischpraktischer Natur. Ganz im Einklang mit Pufendorfs 1687 in De habitu religionis christianae ad vitam civilem formulierter Auffassung und mit Berufung auf das Neue Testament stellt das Send-Schreiben fest, daß »die Christliche Religion mit der Weltlichen Regierung, Einrichtung des Staats, und daraus folgendem Interesse nichts zu thun«58 hat. Zumal die »Lehre von der Oberkeit« nicht zu den Glaubensartikeln, sondern in eine »MoralDoctrin« gehört, die von den »Christen als treue Unterthanen« prinzipiellen Gehorsam gegenüber jedweder Obrigkeit verlangt.59 Insofern kann keine Religion bzw. keine Konfession irgendeinen politischen Vorrang für sich geltend machen, wobei der »papistischen Religion« - als dem gemeinsamen Gegner der Protestanten - vorgeworfen wird, »der Weltlichen Obrigkeit

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Johann Christoph Becmann: Meditationes Politicae. 4. Auflage, Frankfurt an der Oder 1693, S. 275. Insofern kann das Send-Schreiben im Zusammenhang mit Pufendorfs Bemühungen gelesen werden, die Religionsstreitigkeiten zu schlichten. Siehe dazu: Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion, Würzburg 1991, S. 39ff., sowie Detlef Döring: Pufendorf-Studien, Berlin 1992, S. 73ff.

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Montanus: Send-Schreiben (wie Anm. 20), S. 6. Ebd., S. 6. In diesem Sinne wird auch Paulus interpretiert: »Die Christen sollen sich allenthalben als gute cives und treue Unterthanen erweisen, und mit dem gegenwertigen Staat der Obrigkeit, darunter sie leben, zu frieden seyn, und sich nicht bekümmern, wie die Form und Regierung nach Gelegenheit deß Orts, oder Art deß Volckes, eingerichtet worden« (S. 5).

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grossen Eingriff gethan« zu haben, weil sie einen status clericalis im status civilis installiert habe.60 Im Hinblick auf die Immediate-a-Deo-Konstruktion kommt die doppelte Argumentation zum Tragen. Das Send-Schreiben begnügt sich zunächst mit einer im weiteren Sinne theologisch gestützten Zurückweisung: Zwar behaupten sowohl die Heilige Schrift als auch die lutherischen Libri Symbolici, »daß die Obrigkeit von Gott sey; aber de modo, und daß sie immediate von Gott die Majestät habe, stehet weder in der Heiligen Schrift, noch in den Schrifften der furnehmsten Kirchen-Lehrer«.61 Darüber hinaus wendet der Text noch ein politisch-praktisches Argument gegen die Immediate-aDeo-Konstruktion als das von Masius favorisierte und propagierte Mittel, die innere Sicherheit des Staats zu gewährleisten: »daß man sagen wil, diese Meinung dienet zur Sicherheit der Hohen und gesalbten Häupter des Herrn, ist eine kahle Excuse. Denn wenn ein Rebelle sich nicht scheuet, Gottes Ordnung, die mitteler Weise gesetzet zu widerstreben, so wird er auch sich nicht fürchten, wenn ich sage, die Obrigkeit sey unmittelbar von Gott.«62 Damit wird übrigens eine politisch-pragmatische Einsicht realisiert, die sich bereits in der Staatstheorie von Thomas Hobbes findet: Die innere Sicherheit des Staates und damit jedes einzelnen Bürgers beruht im Grunde genommen nicht auf der religiös-normativen Einbindung der Untertanen als vielmehr auf der permanenten Aktualisierung der durch das Gewaltmonopol gekennzeichneten staatlichen Macht. Die im Send-Schreiben geäußerte Kritik ist eher defensiv - schärfer und über den theologischen Horizont hinausreichend sollte Thomasius' Reaktion ausfallen; sie konzentriert sich übrigens lediglich auf Masius' Einlassungen, einer Stellungnahme zu Becmanns Anti-Kritik geht Thomasius - wohl nicht ohne Grund - aus dem Weg.63

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Mont anus: Send-Schreiben (wie Anm. 20), S. 7. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Werner Schmidt vermutet in seiner unlängst erschienenen Biographie, daß Thomasius schon lange vor seiner Übersiedlung ins brandenburgische Halle darauf gehofft hatte, an die in Halle zur Gründung anstehende Universität berufen zu werden. Eine Kritik an Becmann als brandenburgischem Untertan kam daher aus >privatpolitischen< Gründen selbstverständlich nicht in Frage. Siehe Werner Schmidt: Ein fast vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius, München 1995, S. 97.

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3. Bereits die Form, die Thomasius für seine Polemik gegen das Interesse principum wählt, ist bemerkenswert und dürfte das äußerste Mißfallen von Masius erregt haben. Anstatt eine gelehrte, möglichst lateinische Abhandlung zu verfassen, zieht es Thomasius vor, die Position seines Gegenspielers in den Monatsgesprächen64 zu kritisieren, also in einem Periodikum, das sich nicht an das gelehrte Fachpublikum wendet, sondern in gut aufklärerischer Manier nicht zuletzt fachbezogene Diskussionen einer breiteren, gebildeten Öffentlichkeit zugänglich macht. Hinzu kommt, daß Thomasius die Kritik in ein Gespräch kleidet und sich auf diese Weise die didaktischen, aber auch die emanzipativen oder subversiven Qualitäten einer literarisch-philosophischen Gattung zunutze macht, deren Traditionen bekanntlich bis in die Antike zurückreichen. Das Gespräch findet statt zwischen einem jungen Theologen und einem »Cavallier vom Hofe«, der als »freundlicher und bescheidener Herr« beschrieben wird und allein schon deshalb die Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil er »etliche Bücher« (II, S. 705) bei sich führt. Es gehört zur besonderen, typisch thomasianischen Pointe dieses Gesprächs, daß der galante Hofmann gegenüber dem Theologen die Oberhand behält, daß also der interessierte und vernünftig argumentierende Laie sich gegenüber dem in den Traditionen seiner Wissenschaft gefangenen Spezialisten als überlegen erweist. Überhaupt finden sich in diesem Gespräch nahezu alle aufklärerischen und wissenschaftsprogrammatischen Aspirationen des jungen Thomasius realisiert, mit denen er sich von den schulgelehrten Traditionen seiner Zeit zu emanzipieren sucht.65 Es sei im folgenden nur auf die prägnantesten kurz hingewiesen: 1. die Überführung fachgelehrter Auseinandersetzungen in die öffentliche Diskussion, sozusagen als Vermittlung zwischen Esoterik und Exoterik; 2. die Orientierung der Wissenschaft am praktischen Nutzen; so legt der Hofmann dem Theologen

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Siehe zu den Monatsgesprächen: Heinz Schulz-Falkenthal: Christian Thomasius - Gesellschafts- und Zeitkritik in seinen Monatsgesprächen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 4 (1954/55), H. 4, S. 533-554; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend, Stuttgart 1968, S. 77ff.; außerdem den Beitrag von Herbert Jaumann in diesem Band. Vgl. zur Struktur des Periodikums Frank Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius. Demnächst in: Die Philosophie und die Belles-Lettres, hg. von Martin Fontius und Werner Schneiders, Berlin 1997, S. 21-38. Siehe zum aufklärerischen Engagement von Thomasius: Werner Schneiders: Vernunft und Freiheit. Christian Thomasius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 3-21; ders.: 300 Jahre Aufklärung in Deutschland, in: Christian Thomasius 1655-1728, hg. von Werner Schneiders, Hamburg 1989, S. 1-20.

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insbesondere die Theologia Practica ans Herz, die im Gegensatz zur üblichen Theologia Scholastica, Theologia Positiva und Theologia Polemica eine christliche Lebensführung lehrt; 3. die prinzipielle Gleichberechtigung der Diskursteilnehmer, weder der adelige Hofmann noch der gelehrte Theologe genießen irgendwelchen Vorrang; 4. der Kampf gegen das praejudicium autoritatis, das sowohl die Produktion wahrer Erkenntnisse als auch jeglichen Erkenntnisfortschritt be- oder gar verhindert; 5. die Propagierung der gesunden Vernunft als der in allen nicht-geistlichen Belangen einzig zuständigen Erkenntnisinstanz. Und damit steht 6. das Bestreben in einem genauen Zusammenhang, die natürlichen Dinge nur mit Hilfe der gesunden Vernunft zu erkennen, die übernatürlichen Dinge aber nur aufgrund göttlicher Offenbarung zu glauben. Was schließlich darauf hinausläuft, der Theologie auf der einen Seite und der Jurisprudenz sowie der Philosophie auf der anderen Seite aufgrund ihrer unterschiedlichen Erkenntnisverfahren auch unterschiedliche Erkenntnisbereiche zuzuweisen. Die beiden letzten Punkte erlangen in der Auseinandersetzung zwischen dem Theologen Hector Gottfried Masius und dem Juristen Christian Thomasius begreiflicherweise besonderes Gewicht. Denn die besondere Produktivität der von Thomasius in die Debatte eingebrachten Argumente verdankt sich vor allem dem Faktum, daß Thomasius die bei Masius noch theologische Fragestellung in eine juristische bzw. philosophische überführt, während Becmann, zum Teil auch Rechenberg und Pufendorf, innerhalb des theologischen Fragehorizontes verharrten. Thomasius argumentiert also letzten Endes naturrechtlich, d.h. aus einer normativen Perspektive, die für alle Menschen - Christen wie Heiden - jenseits jeglicher Offenbarung verbindlich ist, weil das Recht der Natur der menschlichen Natur selbst entnommen werden kann, seine Normen lassen sich mit der allen Menschen gemeinsamen Vernunft auffinden und formulieren.66 Gegen das von Masius favorisierte Konzept von der Begründung der höchsten Gewalt entwickelt Thomasius aus seiner an Pufendorf angelehnten kontraktualistischen Staatsgründungstheorie die Vorstellung, daß die höchste

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Vgl. zur Naturrechtstheorie von Christian Thomasius: Hinrich RUping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968. Grundlegend Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, Hildesheim, New York 1971. Siehe auch: Stephan Buchholz: Recht, Religion und Ehe, Frankfurt am Main 1988. Eine naturrechtliche Normenbegründung kam für Masius selbstverständlich nicht in Frage, Gott hatte auch in normativen Angelegenheiten seinen Willen offenbart, und weitergehende Begründungsbemühungen waren immer der Gefahr ausgesetzt, in Widerspruch zur Offenbarung zu geraten. Die partikulare Offenbarung mußte - um tatsächlich Allgemeingültigkeit zu erlangen - durch Mission universal gemacht werden. Vgl. Hector Gottfried Masius: Kurtzer Bericht von dem Unterscheid der wahren Evangelischen Lutherischen und der Reformirten Lehre, (Kopenhagen) 1690, S. 17f.

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Gewalt erst durch den Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag zwischen Herrscher und Untertanen konstituiert wird. Nicht Gott ist damit die unmittelbare Ursache der höchsten Gewalt, sondern das Volk. Auf den Einwand des jungen Theologen, das Volk verfuge über keinerlei Majestät, die es auf Dritte übertragen könnte - »Was einer nicht hat, das kan er mir nicht geben« (II, S. 764) - entgegnet der Kavalier daher, er habe auch keine »Ohrfeigen im Schub-Sacke« und könne doch soviel Ohrfeigen versetzen, wie verlangt würden (II, S. 764f.). Daß die höchste Gewalt durch den Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag allererst gebildet wird, also keine ursprüngliche, dem Volk eigentümlich Potenz darstellt, scheint auch Thomasius im Anschluß an Pufendorf67 in den Institutiones68 einzuräumen: »Daß ein Regiment unmittelbar in der Republic angerichtet werde, das kömpt am nähesten aus den Verträgen, durch welche eine Republic sich zusammen fuget, und welches wir bisher erkläret haben, wenn nemlich das Volck ihre Kräffte und Willen dem Fürsten unterwirfft, und der Fürst diese Unterwerffung annimpt.«69 Auf diese Weise weicht Thomasius einer Entscheidung in der Alternative zwischen strikter Herrschersouveränität einerseits und Volkssouveränität andererseits aus. Obwohl er in der Replik auf Peter Schippings Abgenöthigtes Gespräch in der Juni-Ausgabe der Monatsgespräche - für ihn eher untypisch - in die Nähe eines Votums für die Volkssouveränität gerät, wenn er auf die Behauptung, »daß die communitas keine Majestatem habe, weder potentia noch actu, weder virtualiter noch formaliter«,70 entgegnet: »ich bin aber nun so unverschämt, und sage gleich das contrarium, daß die

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Vgl. Samuel Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Recht. Anderer Theil, Franckfurt am Mayn 1711, S. 505, sowie S. 512. Dort begegnet Pufendorf dem Argument, das Volk könne einem Herrscher die Majestät nicht unmittelbar übertragen, weil ihm die Majestät nicht ursprünglich eigne, mit folgender Überlegung: »aber es kan und pfleget zu geschehen, daß eine Moral- oder sittliche Beschaffenheit und Eigenschafft, dergleichen Obrigkeitliche Gewalt ist, einem andern beygelegt werde, durch übereinstimmende Bewilligung derer, welche solcherley Beschaffenheit zu vorhin, förmlicher und außtrücklicher Weiße selbst nicht hätten. Diese aber werden doch mit Recht fiir hervorbringende oder erzeugende Ursachen, solcher einem andern beygelegter Eigenschafft und Vermögenheit gehalten. So pflegen vieler künstlich-vermischter Stimmen, eine Harmonie oder übereinstimmenden Klang außzumachen, welcherley doch in keiner eintzelnen Stimme gefunden wurde.« Siehe dazu Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien, Köln, Graz 1979, S. 82f. Christian Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, Franckfurt und Leipzig 1688, Repr. der 7. Auflage, Aalen 1963. Zitiert wird hier die von Thomasius durchgesehene und autorisierte Übersetzung von Johann Gottfried Zeidler: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, Halle 1709. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 68), S. 483. Zitiert nach Thomasius: Monatsgespräche. Juni 1689, S. 451.

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communitas die Majorem [sie!] virtualiter habe, weil durch ihren Consens dieselbige auff den König transferiret wird«.71 Thomasius räumt in seiner Auseinandersetzung mit Masius allerdings ein, »daß die Majestät ursprünglich von Gott komme« (II, S. 762), denn Gott habe den Menschen befohlen, daß, wie es in den Institutiones heißt, »bürgerliche Gesellschaften auffgerichtet werden solten, weil ohne dieselbigen der Friede und Ruhe des menschlichen Geschlechts nicht bestehen könte«.72 Als Urheber des natürlichen Gesetzes, das die Einrichtung von Staaten gebietet, wäre Gott allerdings der Ursprung der Majestät, er ist es jedoch nicht unmittelbar und schon gar nicht allein. Selbst das Paulus-Diktum aus dem Römerbrief: »Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet«, dürfe nicht so verstanden werden, daß Gott die alleinige Ursache der höchsten Gewalt sei; zwischen der Willensäußerung Gottes und der konkreten Herrschaft liegen notwendigerweise menschliche Zwischeninstanzen. Schließlich ist es auch »Gottes Ordnung«, so argumentiert Thomasius anhand eines eindrücklichen Beispiels, »und kommt ursprünglich von Gott her, daß Viehe und Menschen ihr Geschlechte vermehren, aber deßwegen werden die mittelbahren Ursachen nicht ausgeschlossen«.73 Weil die menschliche Herrschaft also ebensowohl Gottes Wille wie Menschenwerk ist, kann auch »einer von den Aposteln«, nämlich Paulus, »das weltliche Regiment Gottes Ordnung« nennen, »indem er auff dessen göttlichen Ursprung siehet«, und der andere, nämlich Petrus, kann »es unter die menschlichen Ordnungen« rechnen, indem er sich »auff dessen absonderlichen Ursprung bezeucht«.74 Thomasius hält nicht nur die von Masius behauptete Herleitung der höchsten Gewalt für unplausibel, sondern auch ihren Zweck. Ähnlich wie die Autoren des späteren Send-Schreibens sieht er in der Immediate-a-DeoKonstruktion keine hinreichende Garantie für die innere Sicherheit des Staates. Dabei bezieht er sich ebenfalls auf ein politisch-praktisches Argument: »Man disputire gleich noch so stattlich auf denen Academien cum applausu totius auditorii, quod Tyrannus non possit interfici aut deponi. Wenn man einen hencken will, so findet man gar leichte eine Ursache an ihn. Und wenn das Land einen Potentaten der einen mercklichen fehltritt aus den Schrancken seiner Pflicht thut, sonst in die Haare will, derselbe aber keine Macht sich selbst zu schützen auf den Beinen hat; O so finden sich ja so viel praetexte das factum zu beschönigen, als sich derselben auff

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Ebd., S. 451. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 68), S. 483. Thomasius: Monatsgespräche. Juni 1689, S. 422. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 68), S. 483.

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beyden Seiten finden, wenn zwey Potentaten einander bekriegen« (II, S. 759). Mit diesem pragmatischen Hinweis auf die politische Praxis ist jedoch noch längst kein definitives Recht auf Widerstand begründet.75 Ein ius resistentiae, wie man es etwa aus der Politica von Johannes Althusius kennt,76 setzte die explizite Annahme einer Volkssouveränität voraus, die Thomasius ebensowenig für sinnvoll hält wie eine völlig unumschränkte Herrschersouveränität. Thomasius' Argumente gegen Masius weisen zwei bemerkenswerte Aspekte auf, die historisch wie sachlich miteinander verknüpft sind: 1. die freilich im Anschluß an Pufendorf erfolgte Neuformulierung der Position Gottes und 2. die ebenfalls auf den Vorleistungen Pufendorfs basierende Vertragstheorie. Zum ersten Punkt: Obwohl Masius und Thomasius beide von Gott sprechen, meinen sie strenggenommen dennoch nicht denselben Gott. Während Masius' Position an die Gottesvorstellung des lutherischen Glaubensbekenntnisses gebunden bleibt, also immer den Gott der Offenbarung meint, bezieht sich Thomasius in seiner naturrechtlichen Argumentation immer auf den Gott der natürlichen Religion, dem innerhalb des naturrechtlichen Konzepts einerseits eine Schlüsselfunktion erhalten bleibt und der andererseits dem weltlichen Regiment merklich entrückt wird. Gott ist als Schöpfer der Welt und als Schöpfer des Menschen schließlich auch die Quelle des Naturrechts. Seine Nonnen sind jedem Menschen ins Herz geschrieben und können auch prinzipiell von jedem mit Hilfe seiner gesunden Vernunft gelesen werden. An der auf Paulus zurückgehenden Metapher von der Herzensinschrift hält Thomasius wohl nicht zuletzt deshalb wenigstens eine Zeitlang - fest, weil sie zwei wichtige Aspekte seiner frühen Naturrechtskonzeption sinnfällig markiert. Zum einen trägt sie der Tatsache Rechnung, daß das Naturrecht sich nicht menschlicher Urheberschaft verdankt, sondern sich letztlich vom Willen Gottes herleitet: Gott als Creator ist hier Autor oder Scriptor der Herzensinschrift und damit Legislator. Zum anderen weist die Metapher darauf hin, daß die Richtschnur des Naturrechts nicht außerhalb des Menschen, sondern in der Natur des Men-

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Dieter Pilling versucht dies - m.E. zu Unrecht - aus der genannten Textstelle abzuleiten. Vgl. Dieter Pilling: Christian Thomasius - Aufklärer, Wissenschaftler, Publizist, Schriftsteller, in: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 736. Vgl. Caput XXXVIII: De tyrannide ejusque remediis, in: Johannes Althusius: Politica (wie Anm. 40). Bei Althusius steht das Widerstandsrecht in Zusammenhang mit institutionell gesicherten Verfahren zur Kontrolle des Magistrats. Siehe dazu Peter Jochen Winters: Die >Politik< des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg/Br. 1963, besonders S. 2 6 0 f f ; sowie die unterschiedlichen Lesarten dieses Problems in dem von Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel herausgegebenen Sammelband: Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988.

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sehen - nämlich in seiner Vernunftnatur - selbst zu finden ist und daß der Mensch in der Lage ist, ohne den Umweg über eine Gotteserkenntnis aus eigenen Kräften die naturrechtlichen Normen zu erkennen. Thomasius will also einerseits eine erste Ursache theoretisch in Anspruch nehmen, auf die sich auch das Naturrecht zurückführen läßt, andererseits aber will er das lus naturae von der Offenbarung und der Theologie emanzipieren, das Naturrecht in seinem normativen Gehalt also allein auf der Basis der Vernunft entwickeln. Das impliziert aber auch, daß Gott aus der Perspektive des Naturrechts mit dem Schöpfungsakt in gewisser Weise seine >politische< Schuldigkeit getan hat, Gott wird, obwohl er conditio sine qua non bleibt, vom weltlichen Regiment nachhaltig distanziert. Bereits in den Institutiones von 1688 war Thomasius bestrebt, Jurisprudenz und Theologie möglichst strikt voneinander zu trennen und allen Einfluß, den die Theologie auf die Theoriebildung der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie gewonnen hatte, zurückzudrängen. Den »unförmlichen Mischmasch« von Theologie und Jurisprudenz, die Konfusion von Vernunft und göttlicher Offenbarung beschreibt Thomasius auch später noch als »Unglück«.77 Sie fuhrt einerseits dazu, daß selbst der Wohlmeinende »die wahre Lehre für Irrthum« und »Irrthümer für Wahrheit« ausgibt; »er sucht sie mit Gewalt zu behaupten. Dabei verfehlt er den rechten Weg, und unter der Meinung zu helfen, verfuhrt er und stürzt sich und andere ins Elend.«78 Andererseits war und ist diese Konfusion in Thomasius' Augen ein gezielt eingesetztes Mittel des Papsttums und des Papismus, die Laien in geistlicher und politischer »Sklaverei« zu halten.79 Thomasius' Kompromißlosigkeit in der Auseinandersetzung mit Masius dürfte nicht zuletzt in dieser Einschätzung ihren Grund haben. Die von Thomasius mitbetriebene Säkularisierung kann gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Religion auch bei Thomasius immer noch einen unverzichtbaren normativen Rahmen bildet. Dies gilt zunächst und vor allem für die natürliche Religion, deren Normen das »fundamentum omnium moralitas«80 begründen. Der Atheismus kann insofern als eine Aufkündi-

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Christian Thomasius: Vorrede von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium; von der Wichtigkeit des Grotianischen Werks von dem Nutzen gegenwärtiger Übersetzung, in: Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis. Libri Tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625. Nebst einer Vorrrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel, Tübingen 1950, §2. Ebd., §3. Ebd., §§18, 20. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, Pars I, Caput 3, §88. Siehe dazu Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 66), S. 106; sowie Buchholz: Recht, Religion und Ehe (wie Anm. 66), S. 70.

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gung des normativen Grundkonses keinerlei Toleranz beanspruchen. Auf der anderen Seite kommen in den staatstheoretischen Arbeiten von Thomasius die besonderen Inhalte der christlichen Religion explizit nur dort ins Blickfeld, wo von den Pflichten eines christlichen Fürsten die Rede ist. Dieser wird aufgrund der christlichen Normen, denen er sich unterstellt, höheren Pflichtanforderungen ausgesetzt als ein Fürst, der lediglich auf dem unverzichtbaren Fundament der natürlichen Religion steht. Denn »ein christlicher Fürst soll, als ein Fürst das Amt eines Fürsten, und als ein Christlicher Fürst die Pflicht eines Christen beobachten«.81 Die Religionsfreiheit seiner Untertanen bleibt von diesen besonderen Pflichtanforderungen unberührt. Schließlich hält Thomasius wohl konsequenter noch als Pufendorf82 vor ihm und Christian Wolff 83 nach ihm an der Erkenntnis fest, daß »die bürgerliche Gesellschafft [...] wegen des Gottesdienstes nicht entstanden noch gemacht worden« ist, sie »befördert auch die Frömmigkeit nicht, und hat den Gottesdienst nicht erfunden, braucht auch selbigen nicht als ein Instrument die Unterthanen zu regieren«.84 Als Thomasius gut fünfzehn Jahre später in den Fundamenta noch einmal kurz auf den Streit zurückkommt, hat sich offensichtlich die Situation geändert. In den Fundamenta war es Thomasius nach eigener Einschätzung tatsächlich erst gelungen, alle theologischen Reste aus seinem Naturrecht zu verbannen, die einst umstrittene Frage war längst gelöst und die theologisch untermauerte Position von Masius keiner Diskussion mehr wert. So stellt Thomasius nur noch mit erledigender Gebärde fest: »Die Frage, ob die Ursache der Majestät sey [...] ist gantz theoretisch und hat keinen Nutzen, wie ich zugleich gezeiget, die Gebothe des Rechts der Natur zu entscheiden, daß sie aber so eifrig vertheidiget wird, ist die Ursache, daß einige der protestantischen Theologie der papistischen Clerisey nachahmen,

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Christian Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze vom Recht eines Christlichen Fürsten in Religions-Sachen, in: Ders.: Vernllnfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungenn (wie Anm. 9), §LXIII. Vgl. dazu Günter Gawlick: Thomasius und die Denkfreiheit, in: Christian Thomasius 1655-1728, hg. von Werner Schneiders (wie Anm. 65), S. 261. Siehe die ganz explizite Funktionalisierung der Religion in der Deutschen Politik von Christian Wolff, in §319 heißt es etwa: »Da die Erkäntniß Gottes die Ausübung der Tugend und Unterlassung der Laster erleichtert, im gemeinen Wesen aber davor zu sorgen ist, daß die Leute tugendhafft werden, und die Laster fliehen: so hat man auch davor zu sorgen, wie sie in der Erkäntniß Gottes zunehmen.« Vgl. auch die §§366, 368f„ 439. Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze (wie Anm. 81), §XXV.

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welche vor die gröste Sünde hält, wenn jemand wider dessen ungereimte Meynungen nur zu mucken sich untersteht.«85 Der zweite hervorzuhebende Aspekt der gegen Masius in Stellung gebrachten Argumente ist eher von unmittelbar politischer Tragweite. Während Masius' Konzept darauf zugeschnitten ist, mit theologischen Argumenten auf restriktive Weise Ruhe und Ordnung sicherzustellen, bietet die kontraktualistische Staatsgründungstheorie86 von Thomasius dem Volk im Prinzip einen größeren politischen Handlungsspielraum, und zwar schon allein deswegen, weil das Volk als Vertragspartner auftritt und damit zumindest prinzipiell zum politischen Subjekt geworden ist. Die Potentiale, die hier greifbar werden, läßt Thomasius freilich weitgehend unrealisiert. Auch fur ihn ist die absolute Monarchie einzig in der Lage, die Zwecke des Staates - äußeren Frieden, innere Ruhe und insbesondere Rechtssicherheit tatsächlich zu garantieren, obwohl er sich zugleich der Gefahren des Absolutismus bewußt ist und ihnen mit eher begrenzten theoretischen Mitteln zu begegnen sucht. Die Untertanen verfügen auch bei Thomasius über keinerlei Rechtsmittel, um im Konfliktfalle ihre Rechte gegenüber der Unrecht tuenden Obrigkeit wirksam einzuklagen, denn die höchste Gewalt ist bei ihm per definitionem nicht an menschliche Gesetze gebunden. Dies ist die Schranke des Absolutismus, die auch in der aufgeklärten Version von Thomasius nicht überwunden wird.

4. Die dem Streit zwischen Masius und Thomasius zugrundeliegende Frage scheint historisch gesehen mit Thomasius' Stellungnahme in gewisser Weise abschließend beantwortet zu sein, spätestens mit den Fundamenta hatte sich das Problem erledigt. Insofern ist die Frage, ob die höchste Gewalt unmittelbar von Gott übertragen wird oder nicht, dann beispielsweise für Chri-

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Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen vorgestellet, Halle 1709, S. 184. Von Thomasius autorisierte Übersetzung von: Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta, Halle 1705. Vgl. zur Staatsgründungstheorie von Christian Thomasius: Hinrich Riiping: Naturrechtslehre (wie Anm. 66), S. 63f.; Wolfgang Wiebking: Recht, Reich und Kirche (wie Anm. 4), S. 106-108; sowie Rolf Lieberwirth: Die staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Anschauungen von Christian Thomasius und Christian Wolff, in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte, Festschrift für Klemens Schmelzeisen, hg. von Hans-Wolf Thümmel, Stuttgart 1980, S. 217-226.

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stian Wolff nicht mehr der Rede wert; weder in der Deutschen Politik von 1721, noch in seinem Jus Naturae (1740-1748) oder in seinen Institutiones juris naturae et gentium von 1750 schenkt Wolff diesem Problem Beachtung. Vielmehr befindet er in seinen Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts kategorisch, daß die »Herrschaft eines Staates« (imperium civile) »aus dem Vertrage« entsteht, »wodurch der Staat errichtet worden, und ist ursprünglich bey dem Volcke als eine ihm eigenthümliche uncörperliche Sache«.87 Vor allem sein Jus Naturae belegt, daß Wolff längst begonnen hat, sich für einen anderen Aspekt der Souveränitätstheorie zu interessieren; es geht ihm weniger um die Erörterung der Begründungsfiguren der höchsten Gewalt, als vielmehr um die Frage ihrer rechtmäßigen Begrenzung: »Quoniam potestas eminens est pars imperii, quando imperium in aliquem transfertur, potestas quoque eminens transfertur nisi populus expresse eandem sibi reservet, aut certa lege limitet.«88 Der mit beachtlicher Vehemenz ausgefochtene Streit zwischen dem Theologen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius ist trotz seines Mangels an inhaltlicher Originalität ein bemerkenswertes Datum innerhalb der tiefgreifenden Differenzierungsprozesse, die für das ausgehende 17. Jahrhundert charakteristisch sind. Die sachliche Nuance - Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit der ohnehin als gottgegeben vorgestellten summa potestas ist nichts weniger als eine Petitesse, hat sie doch aufgrund der mit ihr verbundenen Argumente weitreichende Folgen und steht im Zusammenhang mit dem schon vor Jahrhunderten eingesetzten Säkularisierungsprozeß, an dessen Ende das Macht- und Definitionsmonopol der Theologie gebrochen wird. Im vorliegenden Streit kommt es zu einer geradezu beispielhaften Kollision zwischen theologischer Tradition und profaner Innovation. Im Grunde gehören beide Exponenten bereits zwei unterschiedlichen Epochen an. Ein Faktum, das von Masius nicht begriffen wurde. Er hielt Thomasius' Kritik wohl nur für die Unverschämtheit eines gänzlich Unberufenen, dem letztlich auch nicht mit Argumenten zu begegnen war. Aus der Sicht des Theologen Masius war der Einspruch des Juristen Thomasius um so ärgerlicher, als er vom eigentlichen Thema ablenkte. Denn Masius war nicht daran gelegen, souveränitätstheoretische Fragestellungen aus einem akademischen Interesse heraus zu bearbeiten. Vielmehr wollte er beweisen, daß calvinistische Glaubensangehörige ihres Bekenntnisses halber sozusagen von vornher-

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Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, §979. Bei dem Text handelt sich um die Übersetzung der Institutiones juris naturae et gentium. Christian Wolff: Jus Naturae methodo scientifica pertractatum. Pars octava, sive ultima. De imperio publico, seu jure civitatis, in qua omne jus publicum universale demonstrator et verioris politicae inconcussa fundamenta ponuntur, Halle 1748 [ND Hildesheim, New York 1968], §115, siehe auch §112.

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ein eine Gefahr für die innere Sicherheit eines Landes darstellten. Und dieser Nachweis hatte nach der Aufhebung des Edikts von Nantes und der Massenauswanderung französischer Hugenotten durchaus seinen ganz praktischen Hintergrund, immerhin hatte doch der dänische König bereits 1685 die Ansiedlung französischer Immigranten erlaubt. In diesem Kontext muß Masius' Interesse principum als eine Art Pamphlet gelesen werden, mit dem ein Exponent der lutherischen Staatskirche die eben auch politisch wirksame Monopolstellung seiner Konfession gegen andersgläubige Eindringlinge verteidigen will.89 Von hier aus wird auch klar, daß Masius in Becmann seinen angemessenen Widersacher erkannte, zumal dieser mit einer 1686 erschienenen Dissertatio de Jure Principum recipiendi exules fidei socios das Edikt von Potsdam ausdrücklich unterstützt hatte, mit dem Becmanns reformierter Landesherr die Immigration der Hugenotten forderte. Insofern griff Thomasius in eine Debatte ein, die im Grunde eindeutig kontextualisiert und als Konfessionsstreit primär theologisch akzentuiert war. Die dabei aufgeworfenen staatstheoretischen Fragen nahm er zum Anlaß, um mit ihrer Hilfe und entsprechend seiner eigenen theoretischen und praktischen Intentionen vor einem breiten Publikum einen Umbruch zu inszenieren, in dem die traditionelle Theorie durch eine neue verdrängt wird. Ein solches Verständnis dokumentieren in jedem Fall die beiden Frontispizien, die Thomasius in den Monatsgesprächen seiner Auseinandersetzung mit Peter Schippings >Gespräch pro Masio< voranstellen ließ. Während auf dem ersten Bild zwei Gelehrte vor dem Thron der als Frau dargestellten alten Weisheit knien und ihr eine Schriftrolle übergeben, hat sich im zweiten Bild die Szenerie gravierend verändert: Ein junger Gelehrter in hellem modischem Gewand hilft der neuen, in einem Strahlenkranz erscheinenden Weisheit aus einer Truhe, die bereits auf der ersten Darstellung zu sehen war. Die beiden älteren, in Talare gekleideten Gelehrten schrecken auf, einer stürzt davon, der andere scheint die alte Weisheit beschützen zu wollen. Diese aber verläßt den Thron, verliert ihre Maske und erweist sich als alte und daher wohl unfruchtbare Frau. Daß Thomasius sich selbst als jungen Gelehrten stilisiert, der den auf diese Weise ins Bild gebrachten Paradigmenwechsel herbeiführt und die eigentlich immer schon vorhandene neue, vor allem aber wahre Weisheit an die Oberfläche und damit zur Geltung bringt, darf wohl mit Fug vermutet werden.

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Siehe dazu Detlef Wenzel: Les fondements du pouvoir légitime (wie Anm. 4), S. 4f.

Wolfgang Weber

Zwischen Fürstenabsolutismus und Räteherrschaft Zur Rolle der gelehrten Beamten im politischen Denken des Christian Thomasius

Zu den bislang erst unzureichend erforschten Dimensionen frühneuzeitlicher politischer Ideengeschichte gehört die Debatte des 17. Jahrhunderts über die Qualifikationen, Funktionen und Positionen der hohen Beamten im Fürstenstaat. Diese Debatte muß jedoch nicht nur in allgemeiner sozial-, politikund ideengeschichtlicher Hinsicht als höchst relevant eingeschätzt werden, weil sich in und mit ihr erstmals der politisch-soziale Anspruch einer sekundären Herrschaftselite bemerkbar macht, deren Einwirkung auf die Entwicklung des modernen Staates außer Zweifel steht.1 Vielmehr läßt sich ihr zumindest explorativ auch spezifische Bedeutung für die ThomasiusForschung zuschreiben. Die Reflexion der Rolle der Beamtenschaft bildete ein wesentliches Element des politisch-ideengeschichtlichen Angebots der Epoche, welche den großen Frühaufklärer prägte, auch wenn er sich zeit seines Lebens von dieser Prägung zu befreien suchte. Darüber hinaus befaßte sich die Debatte mit einer für die Form und Umsetzung politischer Aufklärung in Deutschland bekanntermaßen zentralen Thematik, nämlich eben derjenigen der Reformbefahigung und Reformaufgabe der Herrschaftseliten.2 Und schließlich stellte sie inhaltlich ein fortgeschrittenes fìirsten-

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Vgl. meine Quellen- und Projektskizze: Wolfgang Weber: Ein vollkommener fürstlicher Staats-Rath ist ein Phoenix. Perspektiven einer politischen Ideengeschichte der hohen Beamtenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 21 (1994), S. 221-234. - Dieser Aufsatz enthält den überarbeiteten und ergänzten Text meines Vortrags. Für die Einladung zur Tagung und einige für einen Historiker höchst nützliche sachliche Hinweise danke ich Friedrich Vollhardt. Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang neben dem nach wie vor gültigen Standardwerk: Der aufgeklärte Absolutismus, hg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Köln 1974, zentral Eckhardt Hellmuth: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985; The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century, hg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Oxford 1990; Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien u.a. 1981. Daß indessen auch die Erfassung der breiten Bevölkerung durch die Aufklärung erheblich weiter ging, als gemeinhin angenommen, belegen u.a. Holger

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Wolfgang Weber

kritisches Argumentationspotential bereit, welches dem gesellschaftlichpolitischen Interesse der Aufklärer in hohem Maße entgegenkommen mußte. Damit sind Zielsetzung, Gegenstand und Verfahren dieses Beitrages bereits angedeutet. Ich möchte der Frage nachgehen, aufgrund welcher Voraussetzungen Christian Thomasius in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen von den kritischen Angeboten der Beamtendebatte Gebrauch machte. Ziel ist, auf diese Weise unter einem bestimmten Aspekt zu einer vertieften Einschätzung der bekanntermaßen nach wie vor umstrittenen politischideengeschichtlichen Leistung des Philosophen zu kommen. 3

Zur Konfiguration der Beamtendebatte bis um 1700 Die Entstehung einer politischen Theorie des Beamtentums geht auf die im Spätmittelalter einsetzende administrativ-bürokratische Ausformung und Verdichtung territorialer Herrschaft einerseits und die Verwissenschaftlichung der Politik und des öffentlichen Rechts am Ausgang des 16. Jahrhunderts andererseits zurück.4 Der realhistorische Wandel brachte das soziale Substrat und die realen Bedingungen dieser Theorie hervor, nämlich die sich allmählich vom städtischen Bürgertum absondernde, den Kern eines neuen territorialen Bürgertums bildende laikale Beamtenprofession und deren spezifische Lebensverhältnisse. Die ideell-wissenschaftliche Entwicklung hingegen verschaffte den Beamten einen modernen Staatsbegriff, der ihnen tendenziell einen im Konfliktfall gegen den Fürsten anwendbaren

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Böning und Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. lf., Stuttgart 1990f. Vgl. dazu vor allem Wemer Schneiders: Vernunft und Freiheit. Christian Thomasius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 3-21; Notker Hammerstein: Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, ebd., S. 22-44, hier S. 31-44; Werner Schneiders: Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik, nicht nur im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann, Hamburg 1987, S. 32-52, hier S. 35-38; ders.: 300 Jahre Aufklärung in Deutschland, in: Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung, hg. von Werner Schneiders, Hamburg 1989, S. 1-20. Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, hg. von Kurt G. A. Jeserich u.a., Berlin 1983; Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von Roman Schnur, Berlin 1986; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band 1600-1800, München 1988; Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992.

Fürstenabsolutismus und Räteherrschaft

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Loyalitätsbezug anbot, zur Steigerung der Gruppenidentität geeignetes politisch-juristisches Expertenwissen, professionelles Funktions- und Rollenbewußtsein sowie schließlich, aber keineswegs zuletzt, fìirstenkritische Ideen über kollektiv-kooperative, höchste politische Entscheidungsbildung. Seither werden von Universitätslehrern und Beamten erstmals allgemeine oder bereits nach verschiedenen Beamtengruppen (Räte, Minister, Legaten, Kanzler, Sekretäre, Offiziere) spezifizierte, selbständige beamtentheoretische Schriften geschrieben.5 Darüber hinaus erfahren bestimmte Aspekte des Beamtentums (Alter, Vereidigung, Beförderung, Besoldung, Privilegien usw.) eigenständige Darstellung.6 Verarbeitet werden zwar auch außerdeutsche Einflüsse, zu Beginn der Debatte hauptsächlich einschlägige italienische und spanische Texte,7 später vornehmlich französische Beiträge, so zahlreiche Traktate von und um Richelieu und Mazarin, die zur Ausformung des modernen Ministerkonzepts führen. 8 Dennoch konzentriert sich die Diskussion fortschreitend auf die deutsche Fakten- und Ideenwelt, versucht sie ihre Vorstellungen an die Bedingungen des sich ausformenden deutschen Territorialstaates anzupassen. Hinzu kommt im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die naturrechtliche Systematisierung der normativen und theoretischen Teile der Debatte, also die tendenzielle Zurückdrängung der traditionellen exemplarisch-historisch-moralphilosophischen Präzeptistik.

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Als Beispiele seien genannt: Hieronimus Elver: Consualia, hoc est De Conciliis, Consiliariis et Consiliis, Doctrina politica, Frankfurt 1620; Johann Paul Felwinger (Praes.) / Sigismund Ludwig Wurffbain (Resp.): Dissertatio politica De supremis status ministris, Altdorf 1669; Hermann Kirchner: Legatus, Marburg 1610; ders.: De officio et dignitate cancellarli Libri IV, Marburg 1613; [Kaspar Stieler]: Der Allzeitfertige Secretarius, Nürnberg 1680; Jacob Le Bleu: Bellator prudens et politicus, Gießen 1666. Bartholomaeus Agricola: De aetate ineuntium officia, Frankfurt 1618; Wolfgang Adam Lauterbach (Praes.) / Bernhard et Georg Dietrich Pflugk (Resp.): De Juramentis, Tübingen 1664; Christian Ising: De Promotionibus honorum, promotoribus, ac promovendis eorumque juris tractatus politico-juridicus, Augsburg 1674; Peter Müller (Praes.) / Gottfried Junghans (Resp.): Dissertatio iuridica de favore salarli, Jena 1681. Eine erste, mittlerweile offenbar völlig vergessene umfassende Darstellung stammt von Nicolaus Myler von Ehrenbach: Hyparchologia, seu de Officialibus, Magistratibus & Administris Liber singularis, Stuttgart 1678. Fadrequa Furio Ceriol: El consejo y consejeros del Principe, Madrid 1559; Bartolomeu Filippe: Tratado del consejo y de los consejeros de los principes, [o.O.] 1583; Petras Magnus Parmensis: Consiliarius et Senatoris officium, Köln 1643. Zusammenfassend Johann Leonhard Sauter: Conseiller d'estat; und dessen gnindlichund vollkommenes Staats-Ermessen [...], Leipzig und Frankfurt 1684.

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Von Anfang an9 begreifen sich die Beamten als öffentliche Bediente der Monarchen. Sie grenzen sich entschieden von den für das private Wohl des Fürsten zuständigen Dienern ab und versuchen, deren Einfluß so weit als möglich zurückzudrängen. Diese >servi< haben wie die Familienangehörigen des Fürsten weder im fürstlichen Rat noch in den sonstigen Instanzen des >magistratus< bzw. der >administratio< Auftritts- oder gar Beteiligungsrecht. Ihre Entlohnung darf im Gegensatz zu derjenigen der Beamten nicht aus öffentlichen Mitteln erfolgen. Der Fürst soll ihre Zahl möglichst gering halten und den Kontakt zu ihnen auf das unvermeidbar Notwendige beschränken. In diesem Zusammenhang, bei welchem es natürlich in erster Linie um die Sicherung des finanziellen Interesses und des Einflusses der Beamten auf den Fürsten geht, wird auch der Hof einbezogen. Die Beamtentheorie ist entschieden hof- und höflingsfeindlich eingestellt, auch wenn sie bereit ist, die Existenz des Hofes als Rahmenbedingung der Politik insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit internationaler Repräsentation prinzipiell zu akzeptieren. Der Hof erscheint ihr weitgehend als amorphe, leistungs- und sinnlose bis gefahrlich unruhige, unkontrollierbare Anhäufung anmaßender Schmeichler, Heuchler, Glücksritter und Parasiten, deren Existenz eine fortdauernde Bedrohung stetiger, verantwortungsbewußter Politik ausschließlich nach der Maxime wohlverstandenen Staatsinteresses darstellt. Was die Autoren an dieser Stelle bereits in Anspruch nehmen, ist also weitgehende politische Definitions- und Beurteilungskompetenz. Die Ideologie des Beamtentums als wahrer Träger der Staatsräson und des Staates zeichnet sich ab.10 Wer sich in den Strudel des Hofes begibt, ist entsprechend gefährdet; das gilt auch für den Fürsten. Der Grad der jeweiligen Gefahrdung wird wesentlich durch Erziehung und Ausbildung bestimmt. Die Beamten schätzen die Effizienz fürstlicher Erziehung und Ausbildung nicht ohne Grund relativ skeptisch ein, während sie für sich selbst insbesondere im Hinblick auf ihr Studium zu besserer Beurteilung gelangen. Der Fürst gerät damit in eine Situation kritischer Beobachtung und Kontrolle durch seine Beamten. Er

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Mit dieser knappen Zusammenfassung der im vorliegenden Zusammenhang wichtigsten fürstenkritischen Elemente (vgl. Weber: Ein fürstlicher Staats-Rath [wie Anm. 1] sowie die o.a. Quellen) wird natürlich keineswegs bestritten, daß in diesem Schrifttum auch ftlrsten- und i.e.S. fürstenstaatsapologetische Passagen begegnen. Eine nähere Darstellung dieser (im Gegensatz zu den fürstenkritischen unzweifelhaft weniger zukunftsträchtigen) Elemente würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Vgl. zu diesem im 19. und 20. Jahrhundert für die deutsche Geschichte höchst wichtig gewordenen Komplex sowie dessen Ausstrahlung auf die Beamtenhistoriographie kritisch Bemd Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, S. 7-14.

Fürstenabsolutismus

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Räteherrschaft

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muß seine Befähigung vor ihnen fortlaufend unter Beweis stellen. Die Wahrnehmung seines Herrschermonopols wird eine Angelegenheit stetig unter den Augen seiner obersten Helfer zu erweisenden Erfolgs. Versagt der Fürst oder fällt er aus diesen oder jenen Gründen aus, so geht die Verantwortung für den Staat aus der Sicht der Beamten ausdrücklich in deren Hände über. Die Beamtendebatte wiederholt an dieser Stelle einerseits unermüdlich das bereits aus dem Spätmittelalter, der Epoche noch unvollendeter Emanzipation des Fürsten aus der breiten Masse adeliger Herrschaftsträger, stammende Argument, daß es für das Gemeinwohl besser sei, einen schlechten Princeps und gute Berater bzw. Räte zu haben als umgekehrt schlechte Berater oder Beamte und einen guten Fürsten. Bei dem Tübinger und später Ingolstädter Politologen und Juristen Christoph Besold lesen wir dazu: »Adeo, ut tolerabiliorem, & prope tutoriorem putemus regni conditionem, ubi Princeps est malus, & consiliarii boni, quam ubi Princeps bonus, & consiliarii mali existunt. Siquidem unus malus, potest a pluribus bonis corrigi; multi autem mali, nequeunt ab unoquamvis bono, ulla ratione superari.«" Wohlgemerkt, die >Consiliarii< nehmen hier nicht weniger in Anspruch, als ihren Fürsten kollektiv zu korrigieren. Und dieser Anspruch wird noch institutionalisiert, indem auf die Affektanfalligkeit und Leistungsschwankung selbst des klügsten und weisesten Menschen (>prudentissimi et sapientissmi hominisrespublica< wesentlich von der erfolgreichen Organisation politischen Rats an deren Spitze abhängt, kann erstens zumindest implizit die Legitimität des Fürsten von dessen Aktivität, Rat zu suchen, und dessen Bereitschaft, Rat anzunehmen, abhängig gemacht werden: »Lethaleque illius Reipublicae habetur signum, ubi vel Princeps consilium petere negligit, vel idonei consiliarii desunt. [...] Qui

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Christoph Besold: De Consilio politico Axiomata aliquammulta, Tübingen 1615, S. 12f., Zitat S. 13. Ebd., S. 111.

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vult omnia regere solus, superbus magis, quam sapiens dici meretur. Consilium aliorum, prudens praefert & suo. Prudentissimus ideo[nus]que Princeps, aliena sapienta libenter uti, suam susceptam habere debeat.«13 Zweitens müssen konkrete Formen der Erarbeitung, Zurverfügungstellung, Annahme und Umsetzung guten Rats eruiert und realisiert werden. Die Beamtendebatte unterstreicht daher die Notwendigkeit des Vorhandenseins und regelmäßiger Tätigkeit allgemeiner und spezifischer Ratsgremien. Sie entwickelt ein aus Wissenschaft und Universität übernommenes diskursives Beratungsmodell und verlangt im Interesse größtmöglicher Effizienz Beratungsfreiheit (>libertas consulendiinvisible hand< ist die Debatte noch weit entfernt.14 Schließlich sei als weitere Errungenschaft der Beamtendebatte die Ablehnung des seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts historisch zunehmend aktuellen Favoritenmodells erwähnt. Dem Fürsten soll nicht zugestanden werden, einer bestimmten, aus den Reihen der hohen Beamten oder gar von außerhalb rekrutierten Person (>ministrissimus< bzw. >FavoritConsiliumleges positivae< zu erzwingenden Moralität des >iustumim weiteren Verstand< jedoch um den Kern der Politik, die Voraussetzungen und Bedingungen der - im Hinblick auf die Herstellung ordentlicher, friedlicher, ein Leben in Tugend und Anstand ermöglichender öffentlich-staatlicher Verhältnisse - erfolgreichen Herrschaft.41 Von einer Neigung der Menschen zu vernünftiger Selbst- und Nächstenliebe ist lediglich dort die Rede, wo diese Neigung gegen päpstlich-kirchliche Bevormundung ins Feld gefuhrt werden kann.42 Statt dessen wird das Eigeninteresse, die individuelle >ratio statusconsilia< zur unmittelbaren Amtspflicht der Räte,49 diskutiert er die

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Müßiggang, Fressen, Saufen, Huren, Spielen, Schreyen, Turnieren zuzubringen gedenken, Studenten werden.« Ebd., S. 84, Anm. 39; aus diesem Grunde lägen auch kaum ernstzunehmende Schriften zu diesem Thema - erwähnt wird der Klassiker Arnold Clapmar: De arcanis rerumpublicarum libri sex., Bremen 1605 u.ö. - vor. Ebd., S. 170, Anm. 91; S. 313, Anm. 147 (»Es ist nicht alle Politische Weißheit an Universitäten gebunden. Wann ich wollte ein Politicus werden, wollte ich nicht M. Reinhard König [1598-1658 Professor filr Geschichte und Politik an der Universität Rinteln] zu einem Schulmeister annehmen, sondern halte davor, wann ich ein Jahr des Cardinal Mazarini Cammerdiener oder Secretarius wäre, ich wollte mehr Politische Weißheit lernen, als wann ich zehen Jahre auf Universitäten disputiret hätte. [...] Die Politic muß man lernen aus dem grossen Welt-Buch«); S. 133, Anm. 62 (Hofkritik). Ebd., S. 198-199, Anm. 96; vgl, S. 49, Anm. 50. Ebd., S. 122, Anm. 55. Ebd., S. 81, Anm. 39; die Pflicht der Räte, finanzielle Consilia zu erarbeiten, entspricht

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zu dieser Problematik vorliegende Literatur und empfiehlt er in Übereinstimmung mit aktuellen zeitgenössischen Ansätzen indirekte Besteuerungsmethoden.50 Auf die Mittel der Vermeidung fürstlicher Destruktivität geht Thomasius weniger ausführlich ein, wiewohl er dem Loblied Osses auf die monarchische Regierungsform keineswegs kritiklos zustimmt.51 Der Fürst muß vernünftig erzogen werden.52 Er hat entsprechende Literatur zu lesen, einschlägige Erfahrungen zu sammeln und sich mit entsprechend qualifizierten Personen zu umgeben. Thomasius schließt sich auch dem Argument Osses an, daß der Regent unverzichtbar ständig Rat und Hilfe benötige, und läßt die Konkretisierungen dieses Bedürfnisses durch den sächsischen Kanzler grundsätzlich unkritisiert: daß diese Beratung und Hilfe mittels »witzige[r], kluge[r], grundlich gelartefr] und geübt[r] Leute« zu realisieren sei;53 daß neben einem allgemeinen »großen« Rat ein engerer Geheimer Rat

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der Pflicht des Medicus, seinem Patienten, und des Theologen, dem Sünder Beistand zu leisten. Ebd., S. 78-89, Anm. 37-39. Bei consiliis in Kameralsachen sei höchste Umsicht erforderlich; er, Thomasius, habe »in alten Chroniken« vom plötzlichen, gewaltsamen Ende vieler (unvorsichtiger, ungerechter) Steuereintreiber gelesen (S. 79); von den ihm vorliegenden Schriften de aerario (u.a. Maximilian Faust: Consilia pro aerario civili ecclesiastico et militari publico atque privato [...], Frankfurt 1641, und Georg Obrecht: Politisch Bedencken und Diseurs: Von der Verbesserung Land und Leut, Anrichtung guter Policey, und fürnemblich von nutzlicher Erledigung großer Außgaben [...], Straßburg 1617) erscheint Thomasius der Klassiker von Kaspar Klock: Tractatus iuridico-politico-polemico-historicus de aerario, Frankfurt 1651, »vor eines von den besten [Werken]« (S. 89) - von besonderer Fortschrittlichkeit seines ökonomischen Denkens ist demnach wenig zu spüren, vgl. zum zeitgenössischen Zusammenhang Michael Stolleis: Pecunia nervus rerum. Zur Diskussion um Steuerlast und Staatsverschuldung im 17. Jahrhundert, in: ders.: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1983, S. 63-129. Das Problem jeder Geldabschöpfung ist nach Thomasius, »daß das Volk willig sey [zur Abgabenzahlung]. Wer es willig machen kann, hätte höchste Ehre und Reichtum zu erwarten« (S. 96, Anm. 41). Prinzipiell muß deshalb jede Abgabe so angelegt sein, daß sie dem Volk weder ungerecht vorkommt noch ihm »Eckel« erregt (S. 97). D.h., die Abgabe muß in irgendeiner Form mit einem Vorteil fllr den Zahler verbunden werden oder zumindest dessen Ehrvorstellungen entsprechen. Vorbild für Thomasius ist nicht ohne Ironie die Kirche bzw. deren Abgabeerhebung anläßlich von Leichenpredigten, bei der Patenbestellung usw.: »Machet es wie die Priester, oder sehet sonst, daß ihr das Wortzeichen findet, durch welches der Unterthan ihr point d'honneur angespornet wird« (S. 99). Im übrigen schließt sich der Philosoph der aktuellen Empfehlung an, vor allem in Form der Akzise zu besteuern, vgl. die Literaturhinweise ebd. Vgl., S. 49, Anm. 21. Ebd., S. 69-74, Anm. 31-35. Hecker (Hg.): Osses Lebensabriß (wie Anm. 25), S. 359; vgl. Thomasius: Osse (wie Anm. 23), S. 168.

Fürstenabsolutismus und Räteherrschaft

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bzw., wie Thomasius ergänzt, »Cabinetts-Collegiis« existieren müßten;54 daß der Fürst sich besser nicht auf einen einzigen >consiliarius< (den >ministrissimusconsilia iustitiaedoctores< und zum >Princeps< treten vielmehr >politicihandgreifflichere Politic< Thomasius' Interesse an der Ökonomie als Fachdisziplin an preußischen Universitäten

Das gewählte Thema umfaßt ein Stück Wissenschafts- und Universitätsgeschichte Preußens und beleuchtet einen Aspekt aus dem wissenschaftlichen Werk von Christian Thomasius, der seine Verflechtung in universitätspolitische Zusammenhänge deutlich macht. Diese Seite des großen Gelehrten Thomasius ist bisher kaum bekannt. Als Außenseite der programmatischen Entwürfe einer >Lebensreformunbekannte< Momente im Werk des Christian Thomasius begegnen können, so sind sie meines Erachtens Ergänzungen zum bereits gewonnenen Wissen über ebendiesen Gelehrten. In diesem Sinn sollen die folgenden Überlegungen den Nachweis erbringen, daß Thomasius über die philosophischen Entwürfe einer Lebensreform hinaus auch >handgreiffliche< Konzepte für eine Reform des Justizwesens und der Juristen- resp. Beamtenausbildung hatte. Wilhelm Roscher hat in seiner grundlegenden Studie zur Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland die Vermutung geäußert, daß Thomasius in die Entstehungsgeschichte eines ökonomischen Studienganges als Fachdisziplin an preußischen Universitäten verwickelt war. Mit Berufung auf eine weitreichende Bemerkung in den Thomasischen Cautelae circa praecognita jurisprudentiae (Halle 1710) heißt es bei Roscher: »Die Einrichtung

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Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie, Halle 1955. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim-New York 1971; Christian Thomasius 1655-1728, hg. von Werner Schneiders (Studien zum 18. Jahrhunderts 11) Hamburg 1989.

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einer ökonomischen Professur scheint ihm [Thomasius] eins der dringendsten Universitätsbedürfnisse.«3 Max Fleischmann hat in Anlehnung an Roscher darauf hingewiesen, daß Thomasius seit seinen Anfängen als akademischer Lehrer die >Oeconomica< in seinen Lehrplan integrierte und im Zusammenhang mit seinen Entwürfen für eine Reform des Rechtsstudiums auch ein ökonomisches Grundwissen vom studiosus juris verlangte.4 Aus dieser Forderung entsprang - so Fleischmann - unmittelbar die weitergehende Forderung nach einem ökonomischen Studiengang an preußischen Universitäten. Auf die berechtigte Frage, welchen Stellenwert diese Forderung im thomasischen Werk hat, liefern weder Roscher noch Fleischmann eine Antwort. Auch die Geschichten der Nationalökonomie aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zitieren Roschers These, ohne sie zu vertiefen.5 Und die Geschichten der Volkswirtschaftslehre, die jüngst veröffentlicht wurden,6 interessieren sich kaum noch für ihre Entstehungsgeschichte im Kontext von Jurisprudenz und praktischer Philosophie. Dagegen wird dieser Zusammenhang weit aufmerksamer in den Geschichten der politischen Wissenschaften betrachtet, so in den herausragenden Studien von Hans Maier über Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre und Jutta Brückner über Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht.7 Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, daß mein Thema in keiner der genannten Historien so recht beheimatet ist und wohl aus diesem Grund bisher wenig Beachtung gefunden hat. Ich möchte im folgenden dieses weitgehend unbekannte Stück Wissenschaftsgeschichte untersuchen und das heißt vorrangig einen kaum bekannten Aspekt des wissenschaftlichen Werkes von Christian Thomasius in den Mittelpunkt rücken. Daß es sich dabei um mehr als eine bloße Marginalie handelt, diesen Beweis versuche ich zu liefern. Dies kann nur gelingen, wenn der Nachweis erbracht wird, daß Thomasius' Sorge um eine >handgreiffliche PolitikJustiz-Wesensdie principia und fundamenta des Cameral=Policey und oeconomischen Wesens< auf der Universität gelehrt würden. In einem mehrstündigen Gespräch gibt der Souverän detaillierte Instruktionen über Sinn und Inhalt des neuen Studienganges, ein wohl einmaliger Vorgang, der Simon Peter Gasser abschließend zu der Bemerkung veranlaßt:

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Vgl. Stieda: Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (wie Anm. 40), S. 19. Gasser: Noethiger Vorbericht (wie Anm. 45), S. 4. Ebd., S. 5. Vgl. Roscher: Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland (wie Anm. 3), S. 359-72. Gustav Schmoller: Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680-1786, in: ders.: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Leipzig 1985, S. 470-523. Gasser: Noethiger Vorbericht (wie Anm. 45), S. 12.

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Ich kan wohl sagen, daß Ihro Königliche Majestät die erste Stunde in diesem collegio oeconomico-camerali selbst gelesen, und mir Dero allergnädigste Willens Meinung dergestalt umbstaendlich und nachdruecklich eroeffnet, daß ich mich nur glücklich schätzen wollte, wenn ich alle und jede Worte recht behalten hätte [...].52

Gasser hat bis zum Erscheinen seines Lehrbuches der Kameralwissenschaften (1729) Vorlesungen über Seckendorffs Fürstenstaat gehalten und am Leitfaden dieser Lektüre die geforderten >principia< gelehrt; nichts anderes hatte Thomasius bekanntlich bereits vor ihm intendiert. Während letzterer zu diesen Veränderungen im universitären Spektrum geschwiegen hat, haben seine Schüler und Kollegen diese Entwicklung legitimiert. So hat sein Kollege in der juristischen Fakultät und - zu dieser Zeit Prorektor der Hallenser Universität, der bereits genannte Johann Peter Ludewig, eine bemerkenswerte Apologie der wilhelminischen Wirtschaftspolitik verfaßt.53 Nach Ludewig muß Friedrich Wilhelm I. in einem Atemzug mit Salomo genannt werden, der über ein grundlegendes und ursprüngliches Wissen um die Bedeutung der Ökonomie verfügte. 54 Erst dem preußischen König ist es gelungen, in seiner Zeit die Fülle dieses Wissens und seine Praktikabilität wieder zu beleben. Durch die Einrichtung von Waisen-, Arbeits- und Zuchthäusern, die Zulassung von medizinischen Collégien, durch eine effiziente Kolonialpolitik, durch Förderung von Manufakturen und Ausbau der Infrastruktur, durch das Bestreben nach einer Vereinheitlichung des Landrechts, Reformierung des Münzwesens, Vereinfachung des Prozeßrechts und Straffung der Verwaltung ist Friedrich Wilhelm I. der Salomo Preußens geworden.55 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, eine neue Profession an Universitäten einzurichten, die der neuen Zeit die angemessenen Prinzipien der Ökonomie und Politik erschließt. Was viele - insbesondere Thomasius - gefordert hatten, konnte nur realisiert werden, weil - so Ludewig - ein zweiter Salomo den ausdrücklichen Willen hatte, die Glückseligkeit aller Untertanen zu befördern.

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Ebd., S. 9. Roscher: Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland (wie Anm. 3), S. 357, spricht geradezu von dem »Meisterstück Ludewig's«. Zu Ludewig: Feist: Die Geschichte der Nationalökonomie (wie Anm. 40), S. 20-23. Johann Peter Ludewig: Die, von Sr. Königlichen Majestät, unserem allergnädigsten Könige, auf Dero Universität Halle, am 14. 07. 1727. Neu eingerichtete Profession, in Oeconomie, Policey, und Kammer=Sachen wird [...], Halle im Jahr 1727, S. 1. Ebd., S. 40-124.

Ökonomie als Fachdisziplin

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Ebenfalls im Jahre 1727 hat Friedrich Wilhelm I. in Frankfurt/Oder eine weitere Ökonomieprofessur eingerichtet.56 Der hier berufene Historiker Justus Christoph Dithmar hat - wie Thomasius und Gasser vor ihm - seinen Vorlesungen Seckendorffs Fürstenstaat zugrunde gelegt, bis er sein eigenes Lehrbuch (1731) vorlegen konnte. Stärker als bei Gasser läßt sich bei Dithmar der Einfluß von Thomasius festmachen. Nicht nur in seinem Lehrbuch, sondern auch in der von ihm edierten ersten Zeitschrift über Fragen der Ökonomie, der Polizei- und Kameralwissenschafit, der Oeconomischen Fama, rechtfertigt Dithmar die neue, ihm übertragene Profession in Thomasischer Manier. Hierzu gehört der Vorwurf, daß das politische Papsttum ein entscheidendes Interesse an der Unterdrückung ökonomischer Studien hatte. Statt die Menschheit in die Lage zu versetzen, aus eigenen Kräften den Mangel zu beseitigen und ihre Glückseligkeit zu befördern, basiert die Herrschaft der Papisten auf der Unkenntnis nützlicher Regeln.57 Die gegenläufige Strategie führt weg von Aristoteles: Aristoteles und desselben Nachfolger haben die Oeconomische Wissenschafft mit der Sitten=Lehre vermischet/ und unter dem Oeconomischen Titel ihrer Bücher nur von häußlichen Pflichten zwischen Ehe=Leuten/ Eltern und Kinder/ Herrschafft und Gesinde gehandelt. Ob nunwohl sothane nicht weniger/ als andere gegen GOTT und Menschen auszuübende Pflichten/ bey den Oeconomischen Wesen nicht ausser Acht zu setzen/ so gehören doch selbige eigentlich nicht zu der Oeconomischen Wissenschafft, sondern es lehret solche nur/ wie durch verschiedene Land= und Stadt=Gewerbe Nahrung und Reichthum möge erlanget und nützlich angewendet werden. 58

Auch Dithmar macht unmißverständlich deutlich, daß in seiner Perspektive die Mißachtung ökonomischer Studien ihren Ursprung in einer Strategie zur Stabilisierung der geistlichen Monarchie hat. Die Verordnung aristotelischer Studien an den höheren Schulen hat den alleinigen Zweck, die vorhandenen

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Vgl. Stieda: Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (wie Anm. 40), S. 21; Small: The Cameralists (wie Anm. 40), S. 222-31. Justus Christoph Dithmar: Einleitung in die Oeconomische Policei= und Cameral=Wissenschaften, Nebst Verzeichniß eines zu solchen Wissenschafften dienlichen Bücher=VorTaths und ausführlichen Register. Neue und vermehrte Edition, Franckfurth an der Oder 1745, Oratio publica vom 10. 10. 1727, S. II: »His accedit, quod mediis Seculis omnis Studiorum ratio Monarchiae Papali stabiliendae accomodata, atque cum reliquis Disciplinis, quae immani huic imperio erant adversae, OECONOMICA quoque ftierit suppressa, utpote otiosis hominibus & Vitae Monasticae contraria atque exosa [...].« Justus Christoph Dithmar: Die Oeconomische Fama Von allerhand zu den Oeconomischen= Policey= und Cameral=Wissenschafften gehörigen Büchern/ außerlesenen Materien/ nützlichen Erfindungen/ Projecten/ Bedencken/ und andern dergleichen Sachen. Erstes Stück, Franckfurth und Leipzig 1729, Vorbericht, S. 4.

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Mittel zur Realisierung irdischer Glückseligkeit zu unterdrücken und so aus dem bestehenden Elend politischen Nutzen zu ziehen. Aufgabe des neuen Studienganges ist es, die bestehenden Vorurteile auszuräumen und eine handgreifliche Politik zu ermöglichen. Ziel ist es, gesicherte Prinzipien für die Ökonomie, das Polizei- und Kameralwesen zu entwickeln, die den im Verwaltungsdienst arbeitenden Juristen einen Leitfaden für ihre politische Praxis liefern. Vor diesem Hintergrund ist die Thomasische Forderung zeitgemäß und die Entscheidung des Königs >ein höchstnützliches WerkLebensreform< (Schneiders), dessen Fundamente in der praktischen Philosophie liegen, dessen Auswirkungen aber bis in die Thomasius interessierenden Institutionen reicht: Straf- und Zivilgerichte, Verwaltungsbehörden, Schulen und Universitäten. Bei Ludewig, Gasser und Dithmar geht es wie bei Thomasius vorrangig um Vorurteilsdestruktion und Beseitigung der subtilen Papistenherrschaft noch in der Organisation der Wissenschaften. Insofern die Verankerung ökonomischer Studien in der aristotelischen Lehre ein >praejudicium autoritatis< ist, bezeichnet die Herausnahme des ökonomischen Studiums aus der immer noch aristotelisch deklinierten praktischen Philosophie einen entscheidenden Schritt hin zu eigenständiger Reflexion über Wirtschaftsfragen und zu mehr politischer Verantwortlichkeit für das Wohlergehen der Allgemeinheit. Gesetzt, daß »Praktikabilität [...] geradezu ein Wahrheits- und Wertkriterium«60 der praktischen Philosophie von Thomasius ist - wie Werner Schneiders sagt - , dann ist der neue Studiengang für Ökonomie, Policeyund Cammersachen geradezu eine Erfüllung des Thomasischen Reformprojekts. Wenn das so ist, dann ist die von Thomasius mehrfach erhobene

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Ebd., S. 15. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 50.

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Forderung nach dieser neuen Profession keineswegs beiläufig geäußert worden, sondern resultiert aus der selbstinszenierten Dynamik, Wahrheitssuche an der Möglichkeit ihrer Applikation und das akademische Studium an seiner Praxisrelevanz zu bemessen. Eine Konsequenz dieser forcierten Entwicklung ist die Professionalisierung ehemaliger Teilbereiche praktischen Philosophierens: Dem Fachgelehrten für ein tugendhaftes Leben stehen Fachleute für Mängelbehebung, nämlich politische Instabilität und wirtschaftliche Inkompetenz, zur Seite. Diese Einsicht, daß die Beseitigung äußerer Mängel der irdischen Existenz als unverzichtbare Grundlage für die Realisierung eines sittlichen Lebensentwurfes nicht mehr beiläufig behandelt werden kann, macht Thomasius zu einem Vordenker der >Verwissenschaftlichung< des politischen und ökonomischen Diskurses im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts. Weil Thomasius darauf dringt, daß an höheren Schulen Kenntnisse vermittelt werden, die jedem einzelnen die Möglichkeit aufzeigen, aus eigener Kraft an der Aufhebung der menschlichen Misere mitzuwirken, deshalb ist er - jedenfalls in der von mir gewählten Perspektive - durchaus als ein >Aufklärer< zu charakterisieren.

Klaus Luig

Thomasius als Praktiker auf dem Gebiete des Privatrechts

1. Einleitung Thomasius war nicht nur Lehrer und Schriftsteller, sondern hat sich auch als praktischer Jurist große Verdienste erworben. Was liegt näher als das, wenn man Aufklärung als »kritisches Denken in praktischer Absicht« definiert.' M. Fleischmann meint sogar, »die entscheidende Wirksamkeit, die ihm deutsche Rechtskultur dankt«, sei aus seiner praktischen Tätigkeit hervorgegangen.2 Fleischmann denkt dabei in erster Linie an die Hexenprozesse.3 Aber auch auf dem Gebiete des Privatrechts war Thomasius als Praktiker tätig. Nach Abschluß seines Studiums durch Erwerb der Licentia und des Doktortitels in den Jahren 1678 und 1679 und nach Rückkehr von der Bildungsreise, die ihn nach Holland geführt hatte, begann er in Leipzig als Advokat zu praktizieren. »Doch vermochte er der Advokatur keinen Geschmack abzugewinnen.«4 Und es war wohl auch nicht viel dabei zu verdienen, wie Thomasius selbst bemerkte. Nach einigen Jahren begann Thomasius daher an der Leipziger Fakultät eine Lehrtätigkeit als »Dr. privatus« und »juris practicus«. Daneben publizierte er fleißig. Über seine letzten Jahre in Leipzig vor seinem Wegzug im März 1690 nach Erlaß des Vorlesungsverbotes sagt er später selbst, daß er »von collegiis und Bücher-Schreiben mich damals ernähren mußte«.5 In Halle spielt sich dann Thomasius' praktische Tätigkeit in der Hauptsache im Spruchkollegium ab. Privatgutachten übernahm er nur ausnahms-

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W. Schneiders: Die wahre Aufklärung, Freiburg 1974, S. 14; H. Rilping: Theorie und Praxis bei Christian Thomasius, in: Christian Thomasius (1655-1728), hg. von W. Schneiders, Hamburg 1989, S. 136, 137 Note 4. M. Fleischmann: Christian Thomasius - Leben und Lebenswerk, Halle 1931, S. 127. Zum Strafrecht: M. Cattaneo: Delitto e pena nel pensiero di Christian Thomasius, Milano 1976. Dazu: Klaus Luig: Zur Bewertung von Christian Thomasius' Strafrechtslehren als Ausdruck liberaler politischer Theorie, in: Studia Leibnitiana 12 (1980), S. 243. Die unmittelbaren praktischen Auswirkungen schätzt Rilping, (wie Anm. 1), S. 143, eher gering ein. Fleischmann: Thomasius (wie Anm. 2), S. 14. Zit. ebd., (wie Anm. 2), S. 31, Note 2.

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weise.6 Das Spruchkollegium in Halle - zunächst bestehend aus Samuel Stryk, Thomasius und Georg Simon7 - war schon im Jahre 1693, ein Jahr vor der Eröffnung der Universität, ins Leben gerufen worden. Nach dem Urteil von Fleischmann hat sich Thomasius mit voller Kraft im Spruchkollegium eingesetzt. Er wollte hier seinen Blick für die Schwächen des geltenden Rechts schärfen, sowohl was das materielle Recht anbelangt, als auch im Hinblick auf den Prozeß. Über Thomasius' Aktivitäten im Spruchkollegium sind wir zunächst durch die von Johann Peter Ludewig im Jahre 1733-1734 zu Halle herausgegebene Sammlung der Consilia Hallensium Jureconsultorum unterrichtet. Diese enthalten jedoch nur 88 Consilia, die Thomasius als Verfasser ausweisen. Das sind wohl längst nicht alle wichtigen von Thomasius ausgearbeiteten Consilia, denn Ludewig selbst hat von seinen eigenen Consilia 340 Stück in die Sammlung aufgenommen.8 Wichtiger für das Bild von Thomasius als Praktiker sind die von ihm selbst in den Jahren 1720 und 1721 in den Juristischen Händeln besprochenen Fälle. Da die in den Consilia abgedruckten Gutachten oft sehr knapp wiedergegeben werden, gewähren gerade die Juristischen Händel mit den Responsen und Thomasius' Anmerkungen einen ausgezeichneten Einblick in die Tätigkeit von Thomasius als Praktiker. Der volle Titel lautet: Ernsthaffte/ aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken und Errinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel. Der erste Teil erschien in Halle in der Rengerischen Buchhandlung im Jahre 1720, der zweite, dritte und vierte 1721. Eine zweite Auflage wurde 1723-1725 publiziert.9 Aus dem Vorwort zum ersten Teil ergibt sich, daß Thomasius damit bei seinen »Scherz- und ernsthaften Gedanken« (MonatsgesprächeY 0 des Jahres 1688 anknüpfen will, deren Publikation seinerzeit zu seiner Vertreibung aus Leipzig gefuhrt hatte. Das ist jedoch nur zum Teil zutreffend, denn die Händel dienten im Gegensatz zu den Monatsgesprächen in erster Linie der Veröffentlichung von Responsen und Urteilen des Spruchkollegiums und nicht nur den eigenen Arbeiten von Thomasius." Ziel von

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Christian Thomasius: Ernsthaffte/ aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken und Errinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel, 2. Teil, Halle 1721, S. 116, 4. Teil, S. 261. Zu Simon: Fleischmann: Thomasius (wie Anm. 2), S. 118 und öfter. Ebd., S. 128f. Zu den Consilia auch: Rüping: Theorie und Praxis (wie Anm. 1), S. 144. R. Lieberwirth: Christian Thomasius, sein wissenschaftiches Lebenswerk, Halle 1955, Nr. 286. Zu den Monatsgesprächen s. Fleischmann: Thomasius (wie Anm. 2), S. 24, und W. Becker in: ebd., S. 520. Nachdruck des Januarius 1688 als Jahresgabe 1988 für die Gesellschaft der Freunde der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Thomasius: Juristische Händel (wie Anm. 6), Vorrede zum 1. Teil, unpag., [S. 10].

Privatrecht

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Thomasius ist die Aufdeckung der Mängel des »Justiz-Wesens«.12 Auch wendet er sich gegen andere Consiliensammlungen, die nur mit »Trebern der Spanischen oder Italiänischen Legulejisterey Rabulisterei angefüllet« seien.13 Im Gegensatz dazu will Thomasius den Leser durch genaue Schilderung des Falles und durch Beigabe von Auszügen aus den Akten ausführlich informieren, aber auf übertriebenen Aufwand an Allegaten von Gesetzen und Doktoren verzichten. Dadurch wird das Selbstdenken gefordert und der Fehler der Autoritätengläubigkeit vermieden. Auch will Thomasius keineswegs auf seine von ihm selbst als »Scherzhaft« oder »satyrisch« bezeichnete »Schreibart« verzichten.14 Durch diese drei Merkmale, erzieherische Wirkung auf den Leser, Anleitung zur Vermeidung von übereilten Urteilen und Vorurteilen, weisen sich die Händel als Schrift aus, die den Zielen der Aufklärung dient. Das gilt jedenfalls zunächst für die Methode. Zu prüfen bleibt, wie die juristische Praxis von Thomasius inhaltlich zu bewerten ist. Angesichts des Umstandes, daß die von Thomasius verfochtenen Ziele der Aufklärung, wie eingangs erwähnt, auf dem Gebiete des Strafrechts und auch im öffentlichen Recht15 relativ gut erforscht sind, geht es hier in erster Linie um die Frage nach der Existenz und dem Inhalt eines aufgeklärten Privatrechts.16 Zu den Prinzipien des Rechts einschließlich des Privatrechts hat sich Thomasius in seinen beiden naturrechtlichen Hauptwerken, den Institutiones und den Fundamenta, sowie in zahlreichen Dissertationen geäußert. Grundlage allen Rechts ist der Zusammenschluß der Menschen zu Staaten, »weil ein Mensch ausser der Gesellschaft nicht glückselig sein kann«. Der von Thomasius entworfene Staat war aber in weniger starkem Maße positiv für das Wohl seiner Untertanen verantwortlich, als es die Stichworte vom absoluten Wohlfahrtsstaat und »fürstlicher Wohlstandspolizei« auf den ersten Blick vermuten lassen.17 Jedenfalls bei Thomasius waren die Untertanen des Staates in erster Linie darauf verwiesen, für sich selbst zu sorgen. Für einen guten Fürsten bedeutet das Glück im Staate vor allem, daß sich

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Ebd., S . U . Ebd., S . l l . Ebd., S. 2, 14. M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts I, München 1988, S. 300; Klaus Luig: Christian Thomasius, in: Staatsdenker, hg. von M. Stolleis, 3. Aufl. München 1995, S. 227. Zu den theoretischen Grundlagen: Klaus Luig: Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus, in: Schneiders (hg.): Thomasius (wie Anm. 1), S. 148; ders.: Christian Thomasius, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, IV, Sp. 186. Elze/Repgen: Studienbuch Geschichte II, S. 170.

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die Bürger ihres Besitzes erfreuen können.18 Das heißt aber auch, daß die Bürger auf der Grundlage persönlicher Freiheit für sich selbst sorgen müssen. Der Staat verteilt die Güter nicht, sondern beschränkt sich im Grunde auf die Durchsetzung des Verbotes der Verletzung der Rechte Dritter. Die Liste von geschützten Rechten ist eine Aufzählung individueller Rechtsgüter. An deren Spitze stehen die Bewahrung der Würde der eigenen Person, die Freiheit im Verkehr mit anderen Menschen und beim Austausch von Gütern sowie der Genuß des Eigentums. Zum Verbot der Rechtsverletzung gehört auch der Schutz von freiwillig übernommenen vertraglichen Verpflichtungen oder besser gesagt von Dritten durch Vertrag eingeräumten Rechtspositionen. Positive Hilfs- und Beistandspflichten spielen in dem so begründeten System des Privatrechts keine Rolle. Sie gehören in den Bereich der nicht erzwingbaren Pflichten des Decorum. Daraus ergibt sich für Thomasius ein freies Verrtragsrecht, wonach der Inhalt eines Vertrages und insbesondere der Preis einer Ware oder Leistung frei ausgehandelt werden kann. Aus einem jeden Versprechen kann auf Erfüllung geklagt werden. Da der einzelne Herr seiner Erklärungen und Versprechungen ist, kann er sich konsequenterweise nicht auf enttäuschte Erwartungen und eigene Irrtümer berufen. Das Eigentum entsteht nach dieser Rechtslehre durch Aufhebung des Nicht-Eigentums im Akt der Aneignung. Ein ursprüngliches Gemeineigentum aller Menschen mit fortbestehenden und eventuell wieder auflebenden gegenseitigen Pflichten der Miteigentümer war in der Sicht von Thomasius nicht sinnvoll. Diesem Eigentumsbegriff entspricht ein freies Erbrecht19 und ein entsprechendes Familienrecht mit freier Partnerwahl, Möglichkeit der Scheidung und frei zu vereinbarendem Ehegüterrecht.20

2. Übersicht über den Inhalt der Sammlung Insgesamt enthalten die vier Teile 64 Händel (25+11+17+11). Somit haben wir hier ausführliche Berichte über fast ebensoviele Prozesse wie in allerkürzester Form in Ludewigs Sammlung abgedruckt sind. Zweierlei ist

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Institutiones Jurisprudentiae Divinae, 3.6.6. D. Klippel: Familie versus Eigentum. Die naturrechtsphilosophischenBegründungen von Testierfreiheit und Familienerbrecht. D. Schwab: Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache II, 1975, S. 253.

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allerdings zu berücksichtigen: Erstens handelt es sich nicht immer um Berichte über Prozesse, sondern auch über Vorfälle von juristischer Relevanz, die nicht zu einem Prozeß geführt haben, in dem Thomasius mitgewirkt hat. Und zweitens stammen von den 64 Händeln insgesamt 42 aus dem Bereich des Strafrechts und teilweise auch des öffentlichen Rechts. Zivilrechtlichen oder zivilprozeßrechtlichen Inhalt haben folgende Händel: 1. Teil: Nr. 6 (Ehestiftung), Nr. 9 (schlechte Advokaten), Nr. 25 (Ehescheidung); 2. Teil: Nr. 1 (Abhandlung mit Kritik am Justiz-Wesen), Nr. 3 (Ehen bei Standesungleichheit), Nr. 4 (Abhandlung über langwierige Prozesse), Nr. 5 (Abhandlung über die Langwierigkeit der Prozesse - mit Bemerkungen zum Naturrecht, justinianischen Recht, kanonischen Recht usw., §§15ff.), Nr. 8 (Eherecht), Nr. 9 (Abhandlung zum Lehnrecht); 3. Teil (In diesem Teil faßt Thomasius jeweils mehrere Fälle und deren Responsen zu einem Handel zusammen, so daß hier im Ergebnis rund 40 Fälle besprochen werden21): Nr. 3 (Kinder aus standesungleichen Ehen), Nr. 7 (Haß zwischen Richtern und Advokaten), Nr. 10 (Konkubinat), Nr. 11 (unbegründete Lehren in Ehesachen), Nr. 13 (Doppelverlobung), Nr. 14 (Von Aufhebung der durch Betrug erschlichenen Verlöbnisse), Nr. 15 (Trennung von Verlöbnis und Ehe wegen Feindschaft), Nr. 16 (Ehescheidung wegen Krankheit), Nr. 17 (Von der Freiheit der Gelehrten die hämmernden und pochenden Handwercker aus der Nachbarschaft zu vertreiben); 4. Teil: Nr. 4 (Kodizill), Nr. 5 (Fideikommiß), Nr. 8 (Testament), Nr. 11 (Verletzung über die Helffte22). Das sind, ohne die drei Abhandlungen, insgesamt 19 Responsen, einige davon mehrere Fälle umfassend, aus allen Gebieten des bürgerlichen Rechts. Die meisten, nämlich elf, gelten dem Familienrecht. Danach folgt das Erbrecht mit drei Fällen. Zu Sachenrecht und Vertragsrecht gibt es nur je einen Fall. Im folgenden sollen die Responsen so besprochen werden, daß die Methode des Umgangs mit den Rechtsquellen und der Argumentationsstil von Thomasius deutlich werden. Bei den Quellen wird man auf folgendes zu achten haben: die Rolle des deutschen Rechts neben dem römischen Recht und die Bedeutung des Naturrechts. Rüping findet, daß das Territorialrecht in den Consilien von Thomasius große Bedeutung hat23 und daß im Konflikt zwischen positivem Recht und Naturrecht das Naturrecht zu

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Thomasius: Juristische Händel (wie Anm. 6), Vorrede zum 3. Teil. Dazu schon Klaus Luig: Der gerechte Preis in der Rechtstheorie und Rechtspraxis von Christian Thomasius, in: Diritto e potere nella storia europea, Atti del quarto Congresso intemazionale della Società Internazionale di Storia del Diritto, Firenze 1982, S. 775. Rüping: Theorie und Praxis (wie Anm. 1), S. 145.

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weichen hat.24 Zu fragen ist auch nach der >mathematischen< Argumentationsmethode, die für die Zeit von Thomasius typisch gewesen sein soll. Im Vordergrund der Analyse steht aber das Bemühen, Thomasius' privatrechtliche Grundüberzeugungen in seiner praktischen Arbeit deutlich werden zu lassen.

3. Die einzelnen Beispiele 3.1 Vertragsrecht: Verletzung über die Hälfte Ich beginne mit dem Responsum zur Frage des gerechten Preises, weil sich Thomasius hierbei selbst Gedanken darüber macht, ob er nicht in seinen praktischen Entscheidungen von seinen theoretischen Idealen abrücke.25 Außerdem ist dieses Responsum höchst aufschlußreich für die prozeßrechtliche Praxis der Zeit von Thomasius mit ihrem undurchschaubaren System von selbständig anfechtbaren Zwischenurteilen und Aktenversendungen zu jeder Rechtsfrage. In seinen theoretischen Schriften hat Thomasius stets für ein rationales Recht gekämpft. Dazu gehören in erster Linie ein durchschaubares Verfahren vor Gericht und weitgehende Freiheit im Vertragsrecht. Das bedeutet vor allem volle Preisfreiheit und somit Nichtbeachtung der im Codex von Justinian überlieferten Konstitution von Diokletian (C. 4.44.2), wonach ein Vertrag aufgehoben werden muß, wenn das Prinzip der Preisgerechtigkeit verletzt ist, sog. Verletzung über die Hälfte, d.h. wenn der gezahlte Preis den gerechten Preis um mehr als die Hälfte übersteigt oder unterschreitet. In dem in den Händeln abgedruckten Responsum entscheidet sich aber Thomasius nach reiflicher Überlegung aus Rücksicht auf höchst unklare prozeßrechtliche Regeln für die Anwendbarkeit der Konstitution und meint selbst dazu: »Vielleicht ändere ich mich etwa in meinen alten Tagen, und bekehre mich, daß ich von denen gefahrlichen Neuerungen, die ich nach vieler ihrer Meinimg bißher ausgebreitet, abstehe, und mich wieder in den Schoß der lieben Antiquität werffe.«26

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So die damals herrschende Meinung: J. Schröder: »Naturrecht bricht positives Recht« in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für Paul Mikat, hg. von D. Schwab, 1989, S. 419. 4. Teil, 11. Handel, S. 343, vgl. die in Anm. 22 zitierte Arbeit. 4. Teil, 11. Handel, S. 344.

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Es geht um folgenden Fall: Ein Bauer verkauft seinem Schwiegersohn seinen Bauernhof mit allem, was dazu gehört, für 520 Gulden. Als kurz darauf die Tochter des Verkäufers stirbt, reut ihn der Verkauf. Er rechnet sich aus, daß der Wert des Hofes mehr als 1040 Gulden betragen habe, so daß er nach dem Maßstab von C. 8.42.2 »über die Helffte laediret« sei und daher verlangen könne, daß der Schwiegersohn nachträglich zahle, was am rechten Wert fehle, oder den Hof zurückgebe.27 Da der Schwiegersohn sich weigert, erhebt der Bauer Klage. Die in Justinians Codex aufgenommene, dem Kaiser Diokletian zugeschriebene Konstitution lautet: »Wenn du oder dein Vater eine Sache, die mehr wert ist, unter Wert verkauft habt, dann gebietet die Menschlichkeit, daß du auf Anordnung des Richters das Grundstück zurückerhältst und den Käufern den Kaufpreis erstattest, oder daß du, wenn der Käufer diese Möglichkeit wählt, bekommst, was am gerechten Preise fehlt. Der Preis ist aber offensichtlich dann zu gering, wenn nicht einmal die Häfte des wahren Preises gezahlt worden ist.«28 Der Schwiegersohn erwidert auf die Klage seines Schwiegervaters, der Kaufvertrag habe die Klausel enthalten, daß der Verkäufer auf die Geltendmachung der »Exception laesionis ultra dimidium« verzichte. Der Verkäufer repliziert, diese Verzichtsklausel sei im ursprünglichen Vertragswerk nicht enthalten gewesen, sondern lediglich später vom Richter bei der Beurkundung des Vertrages vor dem »hochgräflichen hoymischen Gerichten zu Buchheim« »nicht auf Begehren beyder Partheyen, sondern nur nach Gewohnheit eingerückt« worden.29 Wie der Richter dazu gekommen war, bleibt unklar.30 Das angerufene Gericht holt das Urteil des Schöppenstuhles zu Jena ein,31 wonach sich der Beklagte auf den Prozeß einlassen muß. Der Schöppenstuhl hält die Klage also für schlüssig, d.h. er hält die Verzichtsklausel in dem beurkundeten Vertragstext für irrelevant.32 Der Beklagte ficht dieses Urteil nicht an, sondern verhandelt weiter und insistiert auch weiterhin auf dem gerichtlichen Kontrakt mit der Verzichtsklausel und bestreitet in der Sache das Vorliegen einer Verletzung über die Hälfte.33 Nun werden die Akten vom Gericht an die Juristenfakultät in L.34 versendet, die die Verzichtsklau27 M

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§3, S. 346. Zu dieser Konstitution und ihrer Bedeutung für die Rechtsgeschichte s. Chr. Becker: Die Lehre von der laesio enormis in der Sicht der heutigen Wucherproblematik, Köln 1993. §4, S. 346. §6, S. 349. Daß es sich um Jena handelt, ergibt sich aus §11, S. 353. §7, S. 349. §8, S. 350. Damit kann nur Leipzig gemeint sein.

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sel ohne Angabe von Gründen für wirksam hält.35 Damit gibt sich der Kläger nicht zufrieden, so daß der Prozeß weiter geht. Der Beklagte besteht weiterhin darauf, daß es auf den »gerichtlichen Kauff« ankomme und das zunächst aufgesetzte Schriftstück nur ein vorbereitender »Aufsatz« gewesen sei.36 In dieser Lage kommt die Sache nach Halle. Die Fakultät ist der Ansicht, daß die Verzichtsklausel unwirksam ist. Damit endet der Bericht von Thomasius. Eine Begründung wird nicht mitgeteilt.37 Thomasius fugt lediglich hinzu, er wisse nicht, wie der Prozeß weiter gegangen sei. Er meint aber, er könne sich nicht vorstellen, wie es dem Kläger gelingen könne, die Verletzung wirklich zu beweisen. Selbst wenn das Gut mehr wert gewesen sei, als der Preis betragen habe, so habe der Kläger das doch gewußt, und wer den wahren Wert kenne, könne sich nicht auf C. 4.44.2 berufen, wie insbesondere Stryk nachgewiesen habe. Außerdem komme der Vertrag einer »venditio aleae« oder einer »venditio spei vel rei speratae« sehr nahe, weil sich der Verkäufer die Hälfte der Nutzungen vorbehalten habe. Und auch bei einem solchen Verkauf greift die Konstitution nicht ein, wie Thomasius in seiner Dissertation über die »Aequitas cerebrina« von C. 4.44.238 und in den Noten zum Pandektentitel 18.5 nachgewiesen haben will.39 Schließlich meint Thomasius triumphierend, dieser Fall sei ein Beleg für seine These der Nichtgeltung der Konstitution wegen fehlenden Nutzens für die Praxis, bewiesen durch einen Fall, in dem die Konstitution zwar zitiert wurde, aber letztlich nicht eingreife.40 Danach kommt es also auf die Verzichtsklausel im Ergebnis doch nicht an. Wenn das allerdings so ist, bleibt zuletzt die Frage, warum die Hallenser Fakultät die Klage nicht endgültig für abweisungsreif erklärt hat, zumal sie sich sonst selbst über die »Weitläuffigkeit der Processe« beklagt.41 Dazu meint Thomasius, nachdem sich der Beklagte einmal auf die Verzichtsklausel versteift hätte, hätte die Fakultät aus prozessualen Gründen auch darüber entscheiden müssen und hätte nicht sagen dürfen, auch ohne Rücksicht auf den Verzicht sei die Klage nicht begründet. Der Advokat des Beklagten hätte von Anfang an die Klage für unbegründet erklären müssen und sich

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§9, S. 351. §10, S. 352. §11, S. 353. Christian Thomasius: De aequitate cerebrina 1. 2 Cod. de rescindenda venditione eiusque uso practico, Halae 1706. Christian Thomasius: Notae ad singulos títulos Institutionum et Pandectarum, Halae 1713 (Lieberwirth [wie Anm. 9], Nr. 252). §12, S. 354. §13, S. 354.

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nicht auf die Renuntiationsklausel stützen sollen. Nachdem er das aber nun einmal getan hat, war in den Augen von Thomasius die Fakultät gezwungen, zuerst nur etwas über die Renuntiation zu sagen. Das ist eine Folge des gemeinen Prozesses, der sich Thomasius unterwirft, ohne die Irrationalität des Prozeßrechts zu kritisieren. Thomasius sagt: »Die Collegia-Jurídica sind an die Proceß-Ordnungen gebunden, und nicht befugt, sub praetextu daß sie secundum veritatem facti sprächen, Machtsprüche zu thun. Dieses letzte kommet nur denen Regenten zu. Wer wollte einen Unterrichter entschuldigen, wenn er in der Huhren-Sache, die für dem König Salomon um das todte und lebendige Kind stritten, ein dem Machtspruch des Königs gleichförmliches Urtheil sprechen wolte?«42 Das ist also das Urteil, das Thomasius nach seinen eigenen Worten »mit aufrichtigen Hertzen und nach meiner wahrhafftigen Meynung« gefallt hat.43 Hier befindet er sich in der Tat im >Schoße der Antiquität^ Auch die manifeste Wahrheit muß abwarten, bis die verschlungenen Wege des positiv geltenden Prozeßrechts es erlauben, sie in Betracht zu ziehen. Der ArtikelProzeß bringt es mit sich, daß der Streit über die Wirksamkeit des Verzichts vor einem Gericht, einem Schöppenstuhl und zwei Juristenfakultäten erst ganz ausgefochten werden muß, bevor man darüber sprechen kann, wie es denn überhaupt mit den Voraussetzungen der Konstitution für den Fall steht, daß ein Verzicht nicht vorliegt. Und dann ist Thomasius ja auch vorsichtig mit der Behauptung, die Konstitution C. 8.42.2 gelte nicht. Lieber sagt er, die Voraussetzungen lägen nicht vor. Das aber ist doch eigentlich die alte, von Thomasius vielgeschmähte Methode des Arbeitens mit Ampliationes und Limitationes, deren sich die Legisten zu bedienen pflegten.44 Dieses Urteil zeigt Thomasius also in doppelter Hinsicht als braven, gesetzestreuen Praktiker, sowohl im Verfahrensrecht als auch im materiellen Recht.

3.2 Erbrecht a) Kodizill, Teil 4, 4. Handel, betrifft die Gültigkeit eines Kodizills.45 Der Erblasser hatte ein formgerechtes Testament mit acht Zeugen gemacht und

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43 44

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§13, S. 354-355. In der Sache ebenso für den Vorrang des positiven Rechts auch J. P. Ludewig in der Vorrede zu den Consilia Hallensium Iureconsultorum, I §42, S. 38. Zitiert nach Rtlping: Theorie und Praxis (wie Anm. 1), S. 145. §1, S. 344. Klaus Luig: Historische Formen der Anpassung veralteten Gesetzesrechts, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, IV, München 1978, S. 173, 175-177. S. 261.

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darin seine Schwester für alle seine Güter als Alleinerbin eingesetzt und außerdem angeordnet, »daß sie dieselbe zur Zeit ihres Wittwenstandes und Lebens, aufs beste nutzen, nach ihrer Verheyrathung oder Todt aber auf die Besitzer der Herrschaft Gödens etc. als perpetuum fideicommissum transferiren« müsse und nicht »alieniren« dürfe. Zur Sicherung dieser Anordnung zugunsten der Neffen von Seiten des gemeinsamen Bruders des Erblassers und der Erbin sollten außerdem von der Erbin drei Inventare aufgestellt werden. Später hat der Testator auf der Rückseite des zitierten Testaments ohne Zeugen folgendes vermerkt: Er hinterlasse all seine Habe der Schwester »ohne limitation oder restitution«. Er bitte und ersuche seine Schwester aber, den Nachlaß an den ältesten Sohn des Bruders weiterzugeben, wobei er annehme, daß sich der Bruder gegenüber der Erbin so verhalten werde, daß sie dies gern tun werde. Es erhob sich die Frage, ob dieser Zusatz als Kodizill wirksam sei. Nach C. 6.36.8.3 sind für ein Kodizill fünf Zeugen erforderlich. Das wird aber, wie Thomasius sagt, so interpretiert, daß dieses Erfordernis nur für ein Kodizill »ab intestato« gilt, das nicht mit einem Testament in Zusammenhang steht. Wohingegen es für ein Kodizill, das ein gültiges Testament nur bestätigt und ergänzt (»pro Codicillo testamento confirmato«), nach der herrschenden Interpretation von Inst. 2.25 und D. 29.7 ausreichend sei, daß für das Testament selbst die Form gewahrt ist. Dafür beruft sich Thomasius auf D. 28.5.77 und auf Vinnius' Institutionenkommentar (ad Inst, de Codic. = 2.25. §ult. »[...] nullam sollemnitatem ordinationis desiderant«). Zusätzlich meint Thomasius, das sei auch »in der gesunden Vernunft gegründet.« Dazu kommt im vorliegenden Fall, daß sich der Testator im Testament selbst die Ergänzung seiner Anordnungen vorbehalten hatte. Damit ist aber der Fideikommiß aufgehoben und in eine einfache Empfehlung des Erblassers umgewandelt worden. Die Erbin kann mit dem Nachlaß »nach Belieben« »schalten und walten« und ihn auch »alieniren«. Damit entfallt auch die Pflicht zur Errichtung des Inventars. Dieses Responsum zeigt deutlich, daß es Thomasius darum geht, im Erbrecht möglichst den Willen des Erblassers durchzusetzen. Bedenken wegen der Form werden gering gehalten. Eine Abneigung gegen die Bindung des Erben durch Fideikommisse wird man aus der Entscheidung wohl nicht herauslesen dürfen. Das Ergebnis beruht für Thomasius ohne weiteres auf dem römischen Recht, gegen dessen Anwendung er keine Bedenken hat, wenn es ihm gerecht erscheint. Dasselbe folgt aber auch aus der Vernunft, also dem Naturrecht, das für die Bestätigung einer Norm des positiven Rechts natürlich nützlich ist. Auch das Zitat von Vinnius ist zutreffend. Die Sache war im gemeinen Recht nicht umstritten. Deswegen ist die Entscheidung von Thomasius auch nicht besonders

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kühn. Denn der Wortlaut des Corpus iuris civilis, die herrschende Meinung, die Thomasius sonst oft als unnütze » Allegationes«46 abtut, und die »Vernunft« stimmen überein. b) Testament: Auch in einem weiteren Handel geht es um die Formerfordernisse eines Testaments.47 Eine adeliges Fräulein macht vor einem Notar »zu Meckbach auf dem Lande« ihr Testament, das von fünf Zeugen unterzeichnet wird und, weil das Fräulein unter Curatel steht, auch von ihrem Curator.48 Thomasius kritisiert zuerst allerlei überflüssige Floskeln sowie die Anrufung Gottes und der Mutter Erde, die schon Stryk für unerheblich erklärt hatte. Auch die Unterschrift des Curators paßt nach Thomasius wie »Saltz zu gekochten Pflaumen«.49 Hauptproblem ist aber, daß das Testament nur von fünf Zeugen unterschrieben worden ist statt von sieben, obwohl doch mit dem Curator und dem Notar sieben Personen zugegen waren.50 Als zweites Hauptproblem ergibt sich, daß das Fräulein noch am gleichen Tag ein ebenfalls vom Curator und den fünf Zeugen des Testaments unterschriebenes Kodizill macht, das nicht unerheblich vom Testament abweicht. Zwei Jahre später folgt ein neues Kodizill, das wiederum erhebliche Änderungen der Verteilung des Vermögens enthält.51 Thomasius erklärt zunächst auf die private Anfrage eines gesetzlichen Erben52 das Testament nebst den davon abhängigen Kodizillen für ungültig, weil es nur von fünf statt von sieben Zeugen unterzeichnet worden sei. Zwar genügen für ein auf dem Lande errichtetes Testament fünf Zeugen, Thomasius meint aber, das Testament sei in Wirklichkeit gar nicht auf dem Lande errichtet worden - nicht in Meckbach - sondern in der Stadt Altdorf, allenfalls in Meckbach, aber nicht von Bauern, sondern von adeligen Bürgern der Stadt Altdorf, und außerdem sei auch Meckbach nicht Land, und man hätte dort auch leicht sieben Zeugen finden können. Nach alledem entfallt für Thomasius das Privileg eines ländlichen Testamentes. Somit ist das Testament mangels einer ausreichenden Anzahl von Zeugen und wegen der falschen Ortsangabe »ob dolum et fraudem nul und nichtig«, so daß gesetzliche Erbfolge eintritt.

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Teil IV, Handel 5, §1, S. 265. Teil IV, Handel 8, S. 304. §5, S. 308. §9, S. 311. §10, S. 311. §13, S. 314. §14, S. 316.

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Anschließend erstattet auch die Fakultät ein Responsum in dieser Sache.53 Entgegen der Ansicht von Thomasius befindet die Fakultät, daß fünf Zeugen genügten, solange nicht bewiesen sei, daß das Testament nicht, wie es in der Urkunde heiße und wofür also die Vermutung der Richtigkeit einer Aufzeichnung spreche, auf dem Lande zu Meckbach errichtet worden sei, sondern in der Stadt Altdorf. Die Fakultät ist der Ansicht, daß die Erleichterung - fünf Zeugen - nicht nur für Bauern gelte, sondern auch für Adelige, wenn sie ihr Testament auf dem Lande errichteten. Dafür werden Gothofredus, Struve und Stryk als Belege genannt. Außerdem will die Fakultät die Anordnung, wenn nicht als Siebenzeugentestament, dann doch als formlos gültiges Kodizill54 aufrecht erhalten.55 Ich würde diesen Fall so deuten, daß Thomasius versucht, in Formfragen des Testamentsrechts im Interesse der Familie, also der gesetzlichen Erben, streng zu sein, wohingegen die Fakultät der einfachen Schriftform des Kodizills mit Rücksicht auf den Willen des Erblassers Wirksamkeit zuerkennen will. Man hat den Eindruck, daß sich die Fakultät auf dem Wege zu einem liberalen Prinzipien entsprechenden holographischen Testament hin befindet.56 Thomasius' Lösung begünstigt im konservativen Sinne die Familie.

3.3 Fälle zum Eherecht Mit dem Eherecht hat sich Thomasius in mehreren Fällen beschäftigt, bei denen auch wieder die Winkelzüge des Prozeßrechts und insbesondere die Fakultätsgutachten eine nicht unerhebliche, aber wenig rühmliche Rolle spielen. a) In dem Handel57 über die »cassirte Ehestifftung eines eigennützigen betrügerischen Weibes« geht es um die Heirat zwischen einer Witwe und einem Witwer, einem »berühmten Doctor Medicinae«, die beide Kinder mit in die neue Ehe bringen. Die beiden Brautleute schließen zwei Tage vor der

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57

§15, S. 318. . Durch das sogar der gesetzliche Erbe mit einem Fideikommiß belastet werden kann, der praktisch das bewirkt, was im Prinzip nur durch eine testamentarische Verfügung erreichbar gewesen wäre. §15, S. 139. Dazu Monika Beutgen: Die Geschichte der Form des eigenhändigen Testaments, Berlin 1992. Teil 1, Nr. 6, S. 140.

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Eheschließung nach Austausch verschiedener Vertragsentwürfe auf beharrliches Drängen der von ihrem Curator unterstützten Frau trotz weiter bestehender Bedenken des Mannes einen Ehevertrag, von dem die Frau meint, man könne ihn ja später, eventuell auch nach Bestellung eines anderen Curators, wieder ändern. In diesem Vertrag spricht der Mann gegenüber der Frau einen Erbverzicht und einen Verzicht auf die ihm als Ehemann eigentlich zustehende Nutznießung ihres Vermögens aus. Gleichzeitig verspricht der Mann seiner Frau für den Fall seines Vorversterbens ein lebenslängliches Wohnrecht in seinem Haus oder einen dementsprechenden Geldbetrag, ein Kapital von 300 Gulden sowie eine Rente von jährlich 75 Gulden, die durch ein Kapital von 1500 Gulden gesichert werden soll. Das Ganze soll durch ein Pfandrecht auf dem gesamten Vermögen des Mannes garantiert werden.58 Nach der Eheschließung bereut der Mann, diesen Vertrag geschlossen zu haben. Und nachdem »viele Juristen, denen er sein Leid geklagt hatte, die Achseln gezogen hatten« und ihn auf den Satz »vigilantibus iura esse scripta«59 verwiesen hatten, besorgte er sich von der Juristenfakultät in Halle60 ein Responsum, das feststellt, daß die Frau den Mann durch arglistige Täuschung zum Abschluß des Vertrages veranlaßt habe und der Vertrag zudem als »societas leonina« nichtig sei.61 Außerdem erwägt das Responsum, ob es sich um eine verbotene Ehegattenschenkung handele, meint aber, selbst wenn man, um das zu vermeiden, den Vertrag als letztwillige Verfugung betrachte, sei er mangels einer ausreichenden Zahl an Zeugen nichtig oder könne doch »wie alle letzte Willen« einseitig umgestossen werden.62 Als Reaktion darauf kommt es aber zu einer für die Frau günstigen, als »sententia« bezeichneten Entscheidung des Schöppenstuhles in Leipzig.63 Danach geht der Mann die Wittenberger Juristenfakultät um Rat an und erhält von dort den Bescheid,64 daß er sich allenfalls dann auf eine »actio doli« stützen könne, wenn die Frau ihn durch ihre Erklärung, man werde den Vertrag später revidieren, zur Unterschrift veranlaßt habe. Da aber die Actio doli verjährt sei, müsse er sich mit Hilfe einer »actio in factum« der »Heimschiebung der Klage in deroselben Gewissen« bedienen.65 Zu den Responsen von Halle und Wittenberg und dem Spruch der

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§2, S. 141-143. §3, S. 143. Das ergibt sich aus §4, S. 146. §3, S. 144. §3, S. 145-146. §4, S. 146. §4, S. 146-147. §4, S. 147 oben. Was das ist, steht nicht fest.

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Leipziger Schoppen nimmt sodann ein Responsum der »Juristen-Facultät zu N.« ausführlich Stellung und kommt nach Diskussion der Lehren von Mantica, Berlich, Bartolus, Pistor, Kohl, Carpzov, Richter, Stryk, Gail und Faber zu dem Ergebnis, daß der Vertrag inhaltlich in Ordnung sei, insbesondere der Gesichtspunkt der »Ungleichheit« greife nicht, so daß sich der Mann allenfalls auf arglistige Täuschung berufen könne.66 Schließlich nimmt die Hallenser Fakultät in Kenntnis aller Responsen erneut zu der Sache Stellung und bekräftig ihre Ansicht, daß der Vertrag in erster Linie als verbotene Schenkung zwischen Ehegatten nichtig sei.67 Auch den Vorwurf der »Ungleichheit« (»inaequalitas«)68 will Halle nicht zurücknehmen. Erst nach all diesen Responsen beginnt der Prozeß vor dem Konsistorium in »N.«.69 Es ergeht ein Urteil, das dem Mann den Widerruf gestattet. Beide Parteien wenden »Leuterung« ein. Daraufhin werden die Akten vom Gericht nach Halle geschickt. Die Fakultät, die sich nun zum dritten Male mit dem Fall beschäftigen muß, bestätigt das Widerrufsrecht des Mannes, spricht ihm außerdem den im Vertrag ebenfalls vom Verzicht erfaßten »ususfructus in bonis uxoris« zu, hält aber sein offenbar inzwischen erhobenes Verlangen nach »Separation a thoro et mensa« für unbegründet. Thomasius schließt seinen Bericht mit den Worten: »Was nach diesem Urtheil weiter furgegangen, davon kan ich ferner nichts sagen.« Das alles zeigt wie bereits der Fall der Laesio enormis die heillose Verworrenheit, in die die Rechtspflege durch die ständigen Interventionen der Fakultäten und wohl auch Schöppenstühle kommt. Inhaltlich besteht offensichtlich große Unklarheit bezüglich der Rechtslage bei Eheverträgen, Schenkungen unter Ehegatten und Verfügungen von Todes wegen. Dem kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Doch ist auffallend, daß alle befragten Fakultäten bereit sind, dem Mann die Berufung auf eine arglistige Täuschung zu ermöglichen. Die diesbezüglichen Regeln waren offensichtlich leichter handhabbar. Auch die zweijährige Verjährungsfrist war, wie man sieht, leicht überwindbar. Auffallend bleibt, daß gerade die Fakultät von Thomasius darauf insistiert, daß der Gesichtspunkt des Fehlens der Gleichwertigkeit der beiderseitigen Leistungen von Bedeutung sein soll. Bleibt Thomasius auch dieses Mal bei der »lieben Antiquität« wie in der Sache des gerechten Preises?

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§4, §5, §5, §6,

S. S. S. S.

146-149. 149-151. 150. 151.

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b) Teil 1, Handel 25, betrifft »Zwey Casus von Ehescheidungs-Sachen«.70 Im ersten Fall hat Thomasius für die juristische und die theologische Fakultät ein Urteil angefertigt. In diesem Fall war ein Paar wegen der Verfehlungen des Ehemannes, der von Beruf Hauptmann war, »von Tisch und Bett« geschieden worden mit dem Zusatz, daß dem Hauptmann eine Wiederverheiratung verboten sei. Um nun die volle Scheidung zu erreichen, bietet der Hauptmann der Frau Versöhnung an und bezichtigt sie, als sie darauf nicht eingeht und in eine andere Stadt zieht, des böswiligen Verlassens. Das wäre nun in der Tat neben dem Ehebruch der einzige Scheidungsgrund, der zu einer Scheidung mit Wiederverheiratungsmöglichkeit führen würde. Die Frau verteidigt sich damit, daß der Mann inzwischen mit einer anderen Frau ein Kind gezeugt habe. Thomasius durchschaut, daß der Mann das Versöhnungsangebot nur zum Schein abgegeben hatte, um seine Ablehnung als böswilliges Verlassen ausgeben zu können. Daher stellt er in seinem Urteil eine volle Scheidung nur für den Fall in Aussicht, daß der von der Frau erhobene Vorwurf des Ehebruchs gerechtfertigt sei. Zu einer anderen Entscheidung sieht sich Thomasius, obwohl er hervorhebt, daß nach der Lehre Luthers die Ehe kein Sakrament und somit auflösbar sei, offensichtlich nicht in der Lage. Die »Erkenntniß der Wahrheit in Ehe-Sachen« hat sich demnach in den Kollegien der Universität noch nicht ganz durchgesetzt.71 Doch nimmt Thomasius diesen Fall zum Anlaß, die Forderung zu erheben, daß zur Vermeidung von falschen Versöhnungsangeboten auch »tödtliche und unversöhnliche Feindschafften« als Scheidungsgrund behandelt werden sollten. Er meint, wer das nicht für richtig halte, hänge mit einer »nicht allzuvernünftigen Liebe« am »Päbstischen Recht«.72 Die Reste päpstlicher Lehre (»reliquiis papatus«) sieht Thomasius aber da besonders deutlich, wo den Männern die Wiederverheiratung gestattet, den Frauen aber versagt wird.73 Auch hier fallt auf, daß Thomasius in der Theorie mit seinem dem modernen Zerrüttungsprinzip nahekommenden Begriff der unversöhnlichen Feindschaft rational und aufgeklärt denkt und sogar offen fur die Gleichberechtigung der Frau eintritt, in der Praxis jedoch der von ihm erkannten >Wahrheit< nicht ohne weiteres den Durchbruch gestattet. Im zweiten Fall hat Thomasius ein Responsum für die beiden betroffenen Fakultäten angefertigt,74 das das im ersten Fall gewonnene Bild bestätigt. Auf Druck der Eltern hatte sich eine junge Frau mit einem ungeliebten Manne verlobt und begehrt nun Aufhebung der Verlobung, weil der Verlob70 71 72 73 74

Teil 1, Handel 25, S. 358. §§2, 3, S. 159-160. §5, S. 362. §5, S. 363. §6, S. 363.

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te »sie mit Darbiethung ein paar Ohren-Ringe vor 60. Thlr. um den Beyschlaf sollicitiret, auch dergestalt mit Thätigkeit in sie gedrungen«.75 Das Responsum von Thomasius erklärt die Verlobung für »sponsalia de praesenti«,76 die wegen bloßen »dissensus« nicht auflösbar seien, sondern nach dem Kirchenrecht allenfalls »propter ortas inimicitias capitales et irreconciliabiles« von der Obrigkeit aufgelöst werden könnten. Das wird der Frau dann schließlich auch nach Intervention ihres sie unterstützenden Beichtvaters unter dem Vorbehalt gewährt, daß sie sich »binnen einer Zeit anderwärtigen Ehegelöbniß« zu enthalten habe.77 Doch Thomasius erspart es der Frau trotz einiger Bedenken, zu beschwören, daß wirklich nur das »ungeziemende Beginnen« des Bräutigams der einzige Grund für ihren Rücktritt von der Verlobung war und daß sie, »wenn sie Conradum vorhero hertzlich geliebet, sie den ihr zugemuteten Beyschlaff sich ebenmäßig zu einem solchen Haß würde haben bewegen lassen«.78 Zusätzlich wird der Frau ins Urteil geschrieben, daß sie zur Eheschließung »ernstlich zu vermahnen ist, auch sich selbst dißfalls zu prüfen und für Gott zu demüthigen, und denselben anzuruffen hat, daß sie durch dessen Gnadverleihung den gefaßten Wiederwillen überwinden, und, was in Gottes Nahmen angefangen und bestätiget worden, ja nicht durch halßstarrigen Eigensinn unterbrechen, und deßwegen schwere Verantwortung und Unsegen auff sich ziehen möge«.79 In seiner Anmerkung zu dem Fall kommt Thomasius auf die Scheidungsgründe zurück und meint, wenn Feindschaft ein Grund zur Auflösung einer Verlobung (als »sponsalia de praesenti«) sei, dann könne doch allenfalls die verfehlte Vorstellung, daß die »Priesterliche Trauung was Sacramentisches« an sich habe, dazu führen, diesen Grund bei der Ehescheidung nicht gelten zu lassen.80 Die Pointe des Falles ist überraschenderweise, daß die zusätzliche Ermahnung an die Frau nicht von Thomasius stammt, sondern, wie Thomasius in der Anmerkung sagt, nachträglich »von anderer Hand« in sein Responsum geschrieben worden ist. Dem Leser will er das Urteil darüber überlassen, ob nicht auch in diesem Zusatz »noch viele reliquiae arcanorum juris Canonici verborgen« seien. Dadurch wird deutlich, womit es die Aufklärung im Eherecht zu tun hatte.

§6, S. 364. Im Gegensatz zu den »Sponsalia de futuro« ein voll wirksamer Ehevertrag, dem zur Vollendung nur noch der priesterliche Segen fehlt. R. Hübner: Deutsches Privatrecht, Leipzig 1930, S. 646. §6, S. 366. §6, S. 366. §6, S. 365. §7, S. 367.

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c) Ehe bei Standesungleicheit:81 Anlaß der Ausführungen über die standesungleiche Ehe ist der Streit um die Ehe des jüngeren Bruders eines regierenden Fürsten mit einer bürgerlichen Frau, die der Fürst insbesondere wegen des Erbrechts der Kinder nicht als vollgültig anerkennen will. Thomasius wird um ein Privatgutachten gebeten, das er, wie er sagt, ausnahmsweise erstattet. Die herrschende Lehre geht dahin, daß nach römischem Recht der Stand des Mannes entscheidet - »uxor sequitur dignitatem mariti«. Die Wortführer dieser herrschenden Lehre sind Salmuth, Betsius, My 1er von Ehrenbach, Feltmann und Ludolf.82 Die größte Bedeutung kommt Feltmann zu. Thomasius stellt sich nun unter Berufung auf die Vernunft und auf »teutsche Rechte und Gewohnheiten« gegen die herrschende Meinung.83 Das zwingt ihn im Unterschied zu allen bisher besprochenen Fällen zu gründlichen und gut belegten Rechtsausführungen. Belege für die deutschen Rechte< findet er bei Adam von Bremen, Philippus Cluverus, Hachenberg, Goldast, in Lindenbrogs Edition der Lex Salica, in der Speyrer Chronik von Lehmann, bei Hertius, im Jus feudale Alemannicum, Sachsenspiegel Lehnrecht cap. 20,84 Sachsenspiegel Landrecht III 72,85 bei Limnäus und Mylerus, in der Wahlkapitulation von Kaiser Leopold sowie bei Bertram (de Corniti is). Thomasius ist aber klar, daß das alles für seine Zeit noch keine herrschende Meinung ergibt. Doch er meint, daß alle Anhänger der herrschenden Meinung das Prinzip mißachteten, daß das römische Recht und das in dieser Frage gleichlautende langobardische Lehnrecht nur »in subsiduum« für den Fall des Schweigens der alten deutschen Gewohnheiten rezipiert worden seien. Deswegen gelte angesichts der alten und nie abgeschafften deutschen Sätze das römische Recht in dieser Frage nicht. Der Rest ist gute juristische Argumentation: Feltmann, das Haupt der Gegenmeinung, hat seine Theorie in einer Gutachtensache - also gegen Bezahlung - vertreten und verdient deswegen keinen Glauben.86 Justinian, von dem die dem alten römischen Recht widersprechende neue Regel87

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Teil 2, Handel 3, S. 107. S. 119. §7, S. 119, 120. Ssp.LehnR 20,3 spricht allerdings von Söhnen, die dem Vater nicht ebenbürtig sind doch wohl, weil sie dem Stand der Mutter folgen. M.E. unzutreffend zitiert, denn dort heißt es: »Das ehelich geborene und freie Kind behält seines Vater Heerschild und nimmt sein Erbe und der Mutter Erbe ebenso, wenn es ihr ebenbürtig oder höheren Standes ist.« Letzteres kann das Kind aber nur sein, wenn es dem höheren Stand des Vaters folgt. S. 123. So z.B. C. 5.4 (de nuptis) 23; vgl. Käser: Römisches Privatrecht II, S. 165 Note 28, S. 172 Note 27.

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stammt, war selbst mit einer Frau aus niedrigem Stande verheiratet und verfolgte, was der Gesetzgeber nicht darf, eigene Interessen. Auch die Kanonisten, in diesem Falle Sanchez, die er sonst nicht schätzt, fuhrt Thomasius für seine Meinung an. Daß bei Richtigkeit der herrschenden Ansicht eine morganatische Ehe, die der Frau weniger Rechte gebe, iiberflüssg sei, läßt Thomasius nicht gelten. Im Gegenteil. Er meint, ohne eine solche Ehe minderen Grades sei nach deutschem Recht die Frau völlig rechtlos.88 Auch die häufig von Fürsten und Grafen für ihre »Gemahlinnen und Kinder« vom Kaiser begehrten Standeserhöhungen sprechen nach Thomasius für seine Sicht der Dinge.89 Denn deren bedürfte es nicht, wenn die Kinder ohne weiteres dem Stande des Vaters folgten. Geschriebene Gesetze, meint Thomasius weiter, dürfe man nicht verlangen, da auch sonst Gewohnheitsrecht ausreichend sei, wie es durch die Aufzeichnungen des alten sächsischen und allemannischen Rechts und auch durch das römische Recht selbst90 bezeugt werde. Auf Gewohnheiten berief sich übrigens die Gegenseite ebenfalls. Thomasius läßt sich auch nicht durch den Hinweis in Verlegenheit bringen, daß seine Zeugnisse allenfalls Bedeutung als einzelne, d.h. im konkreten Falle nachzuweisende und eng auszulegende Partikularrechte besäßen.91 Das ist in der Tat nach der hergebrachten Statutentheorie das größte Hindernis für die allgemeine Anerkennung einer dem römischen Recht widersprechenden Norm. Gegen das Argument, alles deutsche Gewohnheitsrecht könne nur partikulares Recht sein, behauptet jedoch Thomasius die Existenz von Regeln einer deutschrechtlichen »consuetudo universalis«. Das Prinzip, für das er allerdings keinen Beleg zitiert, lautet: »Quod ex tarn multis exemplis tarn diu probetur consuetudo universalis, biß von Gegentheil andere Exempel in contrarium angeführet worden«, was bisher aber nicht geschehen sei,92 d.h.: »Was durch so zahlreiche Beispiele während so langer Zeit nachweisbar ist, (ist) universell in allen deutschen Territorien geltendes Gewohnheitsrecht.« Das Entscheidende ist, daß dieses univerelle deutsche Gewohnheitsrecht Vorrang hat vor dem römischen Recht. Wegen der für den Schluß auf eine derartige Gewohnheit notwendigen Beispiele verweist Thomasius auf Georg Melchior Ludolfs De

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S. 124. S. 125. S. 126 unter Hinweis auf D. 1.1.6 sowie Texte aus dem Codex und dem Liber Extra. S. 127. Das ist die als Grundlage des deutschen Privatrechts dienende Schlußweise von vielen Partikulargesetzen auf eine universale Gewohnheit. Dazu: Klaus Luig: Usus modernus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV (wie Anm. 16), Sp. 628, insbes. Sp. 632 Mitte.

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iure feminarum illustrium,93 Damit ist dann auch klar, daß die Kinder aus der standesungleichen Ehe kein Sukzessionsrecht haben.94 Zum Schluß geht Thomasius noch kurz auf die umgekehrte Frage ein, wie es steht, wenn sich eine Dame von Stand mit einem Manne aus geringerem Stande verheiratet.95 Hier hilft der Adel der Mutter nichts, wie Gundling nachgewiesen haben soll. Thomasius überlegt, ob nicht gerade der, der eine adelige Dame heirate, damit zeige, daß er die »hoffartige Welt« verachte, meint letztlich aber, wer das tue, solle doch seine Verachtung der eitlen Welt lieber dadurch zeigen, daß er eine Frau geringeren Standes, z.B. eine Magd oder eine ledige Frau, die ein Kind von einem anderen erwarte, heirate. Zu seiner Argumentation vermerkt Thomasius abschließend nicht ohne Stolz, sie vermeide die Hauptfehler des »praejudicium auctoritatis et praecipitantiae«. Dieser Handel ist ein sehr schönes Beispiel für die Argumentationsmethode von Thomasius in einem Fall, in dem es darum geht, gegen das römische Recht zu opponieren. Was nun das aufgeklärtere Prinzip ist, läßt sich schlecht sagen. Auf lange Sicht hat sich jedenfalls die von Thomasius verteidigte Regel durchgesetzt.96

3.4 Nachbarrecht Eine Frage des Nachbarrechts erörtert Thomasius in Teil 3, Handel 17, unter dem Titel »Von der Freiheyt der Gelehrten die hämmernden und pochenden Handwercker aus der Nachbarschafft zu treiben«.97 Thomasius äußert sich für seine Fakultät dazu in einem durch Aktenversendung aus Görlitz erbetenen Urteil über die Klage eines Schulrektors, der sich über einen Goldschmied in seiner Nachbarschaft beschwert. Daß dieses als Privileg bezeichnete Recht besteht, wird von der herrschenden Meinung aus C. 11.19 (De studiis liberalibus urbis Romae et Constantinopolitanae) hergeleitet, wofür Thomasius die Stimmen von Perez, Carpzov, Richter, Rebuffus - der mit seinem Buch De Privilegiis Universitatum der Hauptzeu-

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Jena 1710; Stintzing/Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 1, Noten S. 103. Im Ergebnis rechnet Thomasius Ludolf aber der Gegenmeinung zu, s.o. Anm. 82. Dafür wird, S. 134, auch Seckendorf^ Fürstenstaat, cap. 7, η. 26, p. 159, angeführt. §8, S. 135. Mitteis/Lieberich: Deutsches Privatrecht, S. 36, und die entsprechenden Artikel im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 16). Teil 3, S. 359.

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ge ist - sowie Responsen der Fakultäten in Leipzig und Jena anführt. Deswegen kann auch die Fakultät in Halle an dem Privileg nicht zweifeln,98 und der Rektor bekommt sein Recht. Doch in seinen Anmerkungen zu dem Urteil meldet Thomasius Kritik an. Er will das Privileg zwar »keinesweges [...] als was unbilliges anfechten«,99 kritisiert jedoch seinen Mißbrauch und meint in der Sache, wer in einer großen Stadt wohnen wolle, was auch viele Professoren wollten, »der muß sich auch angewöhnen, daß er unter hämmern und klopffen ja so wohl, als unter Lauten der Klocken, und unter allerhand andern Tumult auf denen Gassen und Strassen, studiren und meditiren kann«.100 Einen Weg zur Zurückdrängung des Privilegs in der Rechtsprechung eröffnet zwar nicht der Nachweis, daß es sich mitnichten aus den von der herrschenden Meinung dafür angeführten Stellen des Corpus iuris ergibt. Denn rechtens ist, was die Rechtsgelehrten »insgemein für ausgemacht halten«.101 Doch Thomasius versucht, die Meinung der Rechtsgelehrten dadurch in Mißkredit zu bringen, daß er sagt, sie habe ihren Ursprung »aus dem dicksten und ungehobelten Papstthum«.102 Das liegt daran, daß in alter Zeit Unterricht und Erziehung ausschließlich in den Händen der Kirche lagen, so daß »die meisten Privilegia der hohen Schulen und ihrer Lehrer [...] von denen faulen, eigensinnigen und commoden München und ihren Wesen her« kommen.103 Deswegen haben in der Sicht von Thomasius evangelische Universitäten keinen Grund, das Privileg zu praktizieren. Einen weiteren Angriff gegen das Privileg der Gelehrten eröffnet Thomasius durch den Hinweis darauf, daß Rebuffus, der Hauptvertreter der herrschenden Meinung, sich im Grunde durch seine sorgfaltige Zusammenstellung älterer Lehren, die er »schalckhafftig colligirt«, »als einen Satyricum auffgeführet« und sich auf ironische Weise von dem Privileg distanziert hat.104 In diesem Responsum sind noch einmal auf anschauliche Weise die Elemente von Thomasius' Praxis versammelt: Vernünftige, aufgeklärte Grundsätze und trotzdem Gehorsam gegenüber dem geltenden Recht, allerdings nicht ohne den Versuch, notfalls auch mit den Mitteln der Ironie, die sich vorzugsweise gegen das »Papstthum« richtet, die Diskussion aufzunehmen.

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§3, §4, 100 §4, ,0 ' §3, 102 §4, ,0J §4, 104 §5,

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S. 360. S. 362. S. 364, ebenso S. 366. S. 360. S. 362. S. 363. S. 367.

III. KIRCHE UND RELIGION

Ralph Häßler

Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien

Als Jacob Thomasius 1665 sein Schediasma historicum publizierte, setzte er sich zum Ziel, den für die Philosophie- und Kirchengeschichte gleichermaßen zentralen Begriff einer γιτσσις των όντων der Prüfung zu unterziehen. Denn aus ihm, so führte er im Titel aus, sollte sich nicht nur der Ursprung der heidnischen Philosophie, sondern ebenso die Entstehung der Häresien zur Zeit des frühen Christentums sowie der etwas jüngeren Systeme der mystischen und scholastischen Theologie ergeben. Obgleich zunächst ausschließlich terminologiegeschichtlich motiviert, reiht sich seine Untersuchung in die Tradition eines seit der alexandrinischen Patristik beliebten und zumal durch den rinascimentalen Humanismus wieder wirksam gewordenen Vergleich heidnischer und christlicher Denkformen ein, dessen Wert sich allerdings nun, nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, durch eine signifikante Verschiebung der Perspektive bemißt. Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines >consensus< oder einer >accommodatio< heidnischen und christlichen Wissens, gegenüber einer Lehre also, die zuerst die frühchristliche Apologetik in der glaubenspolitischen Auseinandersetzung mit der nichtchristlichen Geisteskultur mit ganz unterschiedlicher Intention ausgebildet hatte, war bei Thomasius durch eine Reihe von Faktoren begründet. Zum einen schien die von dem Florentiner Neuplatonismus entwickelte Auffassung eines derartigen >consensus< nicht allein durch das von Isaac Casaubon und den beiden Scaliger vorgelegte Instrumentarium philologischer Textkritik einer Einschränkung zu bedürfen; vielmehr war das Konzept einer >prisca sapientialongue durée< und läßt sich zumindest noch bis ins frühe 18. Jahrhundert verfolgen, in eine Zeit, in der sich das anhaltende Interesse an der Apologetik eines Grotius oder Duplessis-Mornay durch reich kommentierte Neuausgaben ihrer Abhandlungen über die > Wahrheit der christlichen Religion< dokumentiert; aber Thomasius' Zurückhaltung gegenüber einer so

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Ralph Hafner

bestimmten Apologetik läßt erkennen, daß er die Anerkennung der geschichtlichen Differenz heidnischer und christlicher Lehren nicht mehr zugunsten einer apologetisch begründeten Übereinstimmung beider aufzugeben gewillt war. Sein Schediasma historicum steht deshalb trotz seiner Polemik gegen den Piatonismus (auf die sogleich einzugehen sein wird) den Philosophiegeschichten von Gerhard Johann Vossius und Georg Horn,1 auf den er sich mehrmals bezieht, näher, als es zunächst vielleicht scheinen möchte.2 Auf der anderen Seite sah sich Thomasius mit einer Kritik an der patristischen Literatur konfrontiert, die weit über Luthers Ablehnung des mehrfachen Schriftsinnes in der Weise stoisch-alexandrinischer Allegorese hinausging. Seine Aufmerksamkeit richtete sich hier vor allem auf die mit Montaigne, Charron und La Mothe Le Vayer heraufziehenden libertinen oder nov-antiken Denkformen und hatte zugleich die von reformierter Seite vorgetragenen Argumente gegen die Autorität der Kirchenväter zu gewärtigen. Jean Daillé, dessen Traité de I'employ des saints Pères (1631) in der lateinischen Übersetzung durch Jean Mettayer (1655) eine reiche Wirkung entfaltete, bot aber auch einen historisch-hermeneutischen Aspekt bei der Wertschätzung dieser frühchristlichen Literatur, der mit der Kritik an der >autoritas< der Patristik unmittelbar verbunden war und der die protestantische Philosophie- und Kirchengeschichtsschreibung über Thomasius' einschlägige Abhandlungen bis hin zu Mathurin Veyssière de LaCroze und Johann Lorenz Mosheim in nicht unerheblicher Weise formte.3 Dieser Zusammenhang der Kirchen- und der Philosophiegeschichte, den Thomasius im Titel des Schediasma historicum ausdrücklich herausstellte, bildete in der Tat einen wesentlichen Antrieb für seine Beschäftigung mit dem Nachleben der heidnischen Philosophie, einem Nachleben, welches die Geschichte der unterschiedlichsten christlichen Denkformen maßgeblich bestimmt hatte. Umgekehrt treten seine Forschungen noch nicht gänzlich aus dem Horizont einer Geschichte der Häresien heraus, die durch die Darstellungen Theodorets, Hieronymus' und anderer vielmehr allenthalben gegenwärtig ist und die

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Zu Vossius (De philosophorum sectis über 1657) und Horn (Historiae philosophicae libri Septem 1655) vgl. Lucien Braun: Histoire de l'histoire de la philosophie, Paris 1973, S. 64-68; sowie Storia delle storie generali della filosofia, hg. von Giovanni Santinello, Bd. 1 : Dalle origini rinascimentali alla >historia philosophical Brescia 1981, S. 236-279. Giovanni Santinello: Jakob Thomasius e il medioevo, in: Medioevo 4 (1978), S. 173-216, hier: S. 212f., hebt in anderer Hinsicht allerdings zu Recht die Differenz zur »philologischen und polyhistorischen Gelehrsamkeit« bei Vossius und Hom heraus. Vgl. hierzu Ralph Häfner: Johann Lorenz Mosheim und die Origenes-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (erscheint in: Johann Lorenz Mosheim 1693-1755, Wolfenbütteler Forschungen, voraussichtlich 1996).

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1721 in der durch Johann Albert Fabricius veranstalteten Edition des immer als literarisch dürftig eingeschätzten De haeresibus liber des Bischofs von Brescia, Philastrius, ein spätes apologetisches Nachspiel feierte. Thomasius leitete sein Schediasma historicum mit einer Untersuchung des Ursprungs und ursprünglichen Umfangs der »Metaphysik« ein. Ihr Inhalt sei von den Alten mit eigenem Recht als »Theologie« bestimmt worden, die der »Königin der Wissenschaften«, der Offenbarungstheologie, freilich untergeordnet sei und die zugleich mit einer Wissenschaft zusammenfalle, die wir als »natürliche Theologie« zu benennen gewohnt seien.4 Diese »erste Philosophie«, die mit Aristoteles als »cognitio rerum, ut sunt« (γκσσις των όντων, η όντα εστί) definiert sei, sei nicht nur mit Piatons »Dialektik« (vor allem im Sinne der platonischen Politeiaf identisch, sie bezeichne vielmehr jene βποπτεία >theologicaDialektik< seit der Spätantike vgl. vor allem Giulio d'Onofrio: Fons scientiae. La dialettica nell'occidente tardo-antico (Nuovo Medioevo 31) Neapel 2 1986, und Cesare Vasoli: La dialettica e la retorica dell'Umanesimo. >Invenzione< e >Metodo< nella cultura del XV e XVI secolo, Mailand 1968.

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Jacob Thomasius: Schediasma historicum (wie Anm. 4), S. 3, §7, nota d. - Vgl. Hugo von St. Victor: Priorum excerptionum libri decern, lib. I, cap. 4, PL 177, coll. 191-284, hier col. 195.

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an dieser Mißdeutung hatten, denn sie alle trugen offensichtlich zu jenem komplexen Zusammenspiel bei, durch das die im Jahr 1210 verurteilten Häresien erst heraufgeführt werden konnten. Nach Thomasius war die aristotelische Metaphysik als eine Wissenschaft konzipiert, die ganz allgemein die unveränderliche, intelligible »Substanz« zu ihrem Gegenstand hatte und die sich zumal der Untersuchung des »primum ens«, der »ersten Substanz«, Gottes und der »res divinae«, widmete.7 Gott ist in diesem Sinne mit der Bestimmung des >ens ut ens< identisch, mit einer Bestimmung, die sich ihm schon aus der pythagoräischen Reflexion über >das Seiendem das in diesem Kontext ausdrücklich ein Ewiges und der Materie Lediges meint, ergab.8 Thomasius legte dar, daß die »scholastische« Unterscheidung zweier Wissenschaften, deren eine nachmals als »Ontologie«, deren andere aber als »Pneumatik« oder natürliche Theologie bestimmt worden sei, auf einem Mißverständnis dieser ursprünglichen Seinslehre beruhte, das innerhalb der Geschichte des christlichen Denkens allerdings weitreichende Folgen zeitigte. Fiel für Aristoteles das »Sein, insofern es Sein ist« (»ens ut ens«) mit Gott zusammen, so war nun die Dissoziation der Gottes- oder Geisterlehre von einer Seinslehre gegeben, deren Inhalt sich zunächst auf die Prädikamentenlehre der aristotelischen Metaphysik, auf das »Lexicon philosophicum« der Bücher V und X, beschränkte.9 Thomasius' Entwicklung der Metaphysik ist durchaus von dichotomischen Denkstrukturen geprägt, und die bis hierher verfolgte Differenzierung eröffnete ihm deshalb zwei systematisch klar unterschiedene Denkwege, die ihm aber gerade aufgrund ihrer extremen Polarisierung denselben häretischen Gehalt mit sich zu führen schienen: den neuplatonischen »Enthusiasmus«, den er mit dem Gedanken eines das Sein (>ensheidnische< Lehrstück von der Ewigkeit der Welt stand im Zentrum einer Diskussion, die innerhalb des jüdisch-frühchristlichen Synkretismus zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Leugnete man nämlich einen im genauen Wortsinne gedachten Anfang des geschöpflichen Seins, eine »creatio ex nihilo«, so mußte daraus nach Thomasius die Auffassung eines mit Gott gleich ewigen Stoffes (>materia Deo coaeternaorigenianischen Spinozismus< - wenn diese anachronistische Formulierung in der Weise Buddes für einen Augenblick erlaubt ist - durch diese Lektüre hinreichend begründet scheint. Hatte Thomasius im Schediasma Orígenes weitgehend unbeachtet gelassen, so ist seine Beschäftigung mit dem so genannten Pantheismus des 12. und 13. Jahrhunderts ohnehin ganz von dem Horizont der zeitgenössischen apologetischen Konsens-Theorie her zu verstehen; Orígenes blieb hier offensichtlich ganz bewußt ausgespart und war für einen anderen späteren Anlaß vorbehalten. Aber seine Ausführungen über den mittelalterlichen Pantheismus eines David von Dinant und dessen denkgeschichtliche Situie-

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Vgl. Giovanni Pico della Mirandola: Apologia, in: Pico: Opera omnia, Basel 1557, Ndr. Hildesheim 1969, S. 199-224 (»De salute Origenis disputatio«). Vgl. André Godin: Érasme lecteur d'Origène (Travaux d'Humanisme et Renaissance CXC) Genf 1982; Max Schär: Das Nachleben des Orígenes im Zeitalter des Humanismus (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 140) Basel, Stuttgart 1979 sowie die einleitenden Bemerkungen in Ralph Häfner: Die Präsenz des Orígenes in Jean Bodins Colloquium heptaplomeres, in: Jean Bodins Colloquium heptaplomeres, hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner (Wolfenbütteler Forschungen 67) Wiesbaden 1996, S. 73-97. Vgl. Johann Franz Budde: Dissertatio philosophica de Spinozismo ante Spinozam, Halle 1701.

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rung sind derart präzis, daß sie sich noch 36 Jahre später in das Buddesche Generalthema eines »Spinozismus ante Spinozam« lückenlos einfügen ließen. Budde hatte folglich allen Grund, sich in den Abschnitten seiner Abhandlung, die von dem mittelalterlichen >Spinozismus< handelten, wiederholt und ausfuhrlich auf Jacob Thomasius zu beziehen. Der dem Neuen Testament eigene Verstand des Begriffs der -γνσσις richtet sich nach Thomasius auf eine »religiosa de Deo notitia«, die mit Beziehung auf Paulus (Rom. 1,19: το -γνωστόν του θεού) zuvörderst in dem Konzept einer »natürlichen Theologie« aufgehe.14 Dieser wertvolle Sinn der neutestamentlichen γρπτσις, der ebenso dem (apokryphen) Barnabas-Brief zugehöre,15 sei stets in engem Zusammenhang mit dem etwa bei Clemens Alexandrinus ausfuhrlich thematisierten Begriff des »Glaubens« (πίστις) zu sehen.16 Der Irrtum der mystischen Theologie sei gerade darin begründet, daß sie diese durch den Glauben bezeichnete Grenze der menschlichen Erkenntnis überschritten habe, indem sie schon jetzt eine Erkenntnis Gottes »de facie ad faciem« (1 Cor. 13,12) für möglich halte.17 Denn das lebenspraktische Ziel der clementinischen Gnosis, deren Inhalt ja ganz wesentlich durch eine »mannigfaltige Weisheit« im Sinne der alexandrinischen kyκύκλια παιδεία bestimmt ist,18 sei von der das menschliche Maß übersteigenden »spiritualitas«, wie sie der mystischen Theologie eigen sei, völlig unterschieden. Diese wegen der Schwäche des menschlichen Verstandes nicht mehr begründbare Erkenntnis sei aber das Fundament, auf dem das enthusiastische System des Begründers des christlichen Piatonismus, des Pseudo-Dionysius Areopagita, ruhe. Die Dissoziation der aristotelischen Seinslehre in »Ontologie« und »Pneumatik« hatte hier zur Folge, daß Gott nicht als Sein, sondern als »Über-Sein« (>super ensLexikon des Suidas< für älter als

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Jacob Thomasius: Schediasma historicum (wie Anm. 4), S. 14, §27. Zur Terminologie von Gnosis im Neuen Testament und in der häretischen Tradition vgl. Harry Austryn Wolfson: The Philosophy of the Church Fathers, Volume I: Faith, Trinity, Incarnation, Second Edition, Revised, Cambridge (Mass.) 1964, S. 499-501. Ebd., S. 37, §41, nota a. - Vgl. Ps.-Barnabas: Epistola catholica, PG 2, coll. 727-782, hier: coll. 740 B, 752 A, 756 A etc. Ebd., S. 37, §41, nota b 1. Vgl. Wilhelm Bousset: Jüdisch-Christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom. Literarische Untersuchung zu Philo und Clemens von Alexandria!,] Justin und Jrenäus (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments N.F. 6) Göttingen 1914, S. 238-241. Ebd., S. 37, §41, nota b 8. Ebd., S. 214f.

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Proklos19 und folgte daher der Annahme, daß dieser christliche Piatonismus offenbar auf die Denkformen der jüngeren Akademie zurückzuwirken vermochte.20 Wie der in sich gestufte Bereich des Intelligiblen, der auch die menschlichen Seelen umschließt, aus dem Wesen Gottes selbst (>ex ipsâ Dei essentia seu substantia^ hervorströmt,21 so wende sich der Geist (>mensconversio< die »Betrachtung des Seins« (yvaaiç και εϊδησις του οντος),22 insofern nämlich dieses Sein mit dem Bereich des Intelligiblen oder den von den Dingen abgetrennten platonischen Urbildern (>ideae separataefalsa< -γνωσις die vielfaltigen Formen der Astrologie, Wahrsagung, Magie und Idololatrie, die die Lehre Christi in ebenso vielfaltiger Weise korrumpiert haben.25 Thomasius wandte sich in überaus scharfer Form gegen den Synkretismus der simonianischen Gnosis, denn die von Simon und seinen Nachfolgern geübte Verehrung der Bilder Jesu, Piatons, Pythagoras' und Aristoteles' sei nur ein besonders verwerfliches Beispiel für die unterschiedslose Vermischung der heidnischen Philosophie und der christlichen Religion.26 Obgleich Thomasius in diesem Zusammenhang neben den entsprechenden patristischen Quellen auch Hugo Grotius als Zeugen zitiert, so dürfte die Differenz zu Grotius' Bibelexegese, die sich doch in erheblichem Umfang auf die naturrechtlich motivierte Konsens-

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Vgl. Suidae Lexicon, hg. von Ada Adler. Pars II, Leipzig 1931, S. 106-109, hier: S. 108, Z. 25-26. Vgl. Jacob Thomasius: Schediasma historicum (wie Anm. 4), S. 68, §52, nota d 84.ö Ebd., S. 58, §52, nota d 34; vgl. S. 12, §19 (in Differenz zur >creatio ex nihiloBarbaracuriositascuriositas< war demnach geeignet, einen erheblichen Teil der patristischen Polymathie, wiewohl in anderer Beziehung schädlich für die christliche Lebenspraxis und die Bibelexegese, von den die Glaubenswahrheiten mythologisierenden Häresien eines Simon oder Valentinos klar zu unterscheiden. Thomasius übte dementsprechend große Zurückhaltung in seinem Urteil über die Patristik, denn er war sich offenbar bewußt, welche Folgen, zumal im Blick auf den zeitgenössischen Libertinismus, die harsche Polemik gegen die Autorität der Kirchenväter in Daillés De usu patrum auch fur den Protestantismus zeitigen konnte. Er zog es vor, mit André Rivet, dem berühmten Schüler Lambert Daneaus, den Piatonismus eines Clemens Alexandrinus, dessen Begriff einer yvmaiç θεού seinen heidnischen Ursprung nicht verbergen könne, zu rügen, ihn zugleich aber mit dem milden Argument zu entschuldigen, daß sein Bemühen auf die Ausbreitimg des Christentums gerichtet gewesen sei. Allein die rasche Verbreitung der Häresien habe gezeigt, daß dieses Verfahren, die Theologie zu bearbeiten, aus Heiden »Semichristiani« und aus Christen »Semigentiles« gemacht habe.37 Auch der Semichristianus Platonicus Hermes Trismegistos, den Ursinus in die Zeit des Porphyrios, Plotin und Iamblich setze, gebe hiervon Zeugnis.38 Der Altdorfer Gelehrte Johann Heinrich Ursinus versuchte in einer 1661 erschienenen Abhandlung das höhere Alter und die Authentizität des mosaischen Pentateuch gegenüber den überlieferten Zeugnissen des baktrischen Zoroastres, des Hermes und des Phöniziers Sanchoniathon aufzuweisen. Auch Thomasius' Schediasma kann unter einem bestimmten Gesichtspunkt als Streitschrift bezeichnet werden, aber anders als dieser, der sich nur ganz allgemein gegen den Libertinismus und eine mit ihm verbundene philologische Kritik wandte, benennt Ursinus seine Gegner: Isaac La Peyrère, »Calvinista nomine, re Atheus [...] qui tarnen Romae Papista factus

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col. 317 (τεριερ-γίa als Grund für Traumdeutung, Magie und andere Häresien). Vgl. hierzu auch meinen in Anm. 96 genannten Aufsatz (bes. Teil IV: »Sciendi cupiditas«). Ebd., S. 46f., §46, Thomasius' Fazit: »f...] Verùm docuit eventus hanc Theologica studia tractandi rationem ad nihil magis profuisse, quàm ut ex Gentiiibus fierent Semichristiani, ex Christianis Semigentiles, novaeque subinde ac novae haereses ad imbrem Platonicum feliciùs progerminarent.« Ebd., S. 38f., §42.

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est«, sowie den Urheber von dessen »Gotteslästerungen«, Giordano Bruno.39 Ursinus stellte seinem Traktat einen lateinischen Auszug aus der Cohortatio ad Graecos des Ps.-Justinus Martyr voran, den er »de Mosis antiquitate« überschrieb, und setzte sich sodann einleitend mit den Argumenten der Gegner dieser Auffassung auseinander. Er exponierte dort auch schon seine These, daß die unter den Namen Zoroastres, Hermes und Sanchoniathon umlaufenden Schriften erst nach Christi Geburt verfaßt und einer leichtgläubigen Menge als sehr alte Zeugnisse untergeschoben worden seien.40 Der hermetische Poimandres etwa habe, Thomasius bezog sich auf ebendiese Ausführungen, einen platonischen Halbchristen zum Autor, der sein Werk aus der Heiligen Schrift und den platonischen Lehren kompiliert habe.41 Die Problematik der nicht selten geistreichen Ursinschen Abhandlung ergibt sich vor allem daraus, daß er sich zwar bereitwillig auf die philologische Kritik im Sinne Isaac Casaubons bezieht, zugleich aber den ersten Urheber dieses Betruges in dem Teufel zu sehen geneigt ist. Delrios bekannte Disquisitiones magicae (1599) zählen zu den häufiger zitierten Werken, und die von Simon Magus in die christliche Kirche eingeführte zoroastrische Lehre lasse einen »erstaunlichen Kunstgriff« erkennen, dessen sich der Teufel gegen das Christentum bedient habe.42 Jeder Versuch, die christliche (intende: lutherische) Lehre mit dem Denken des Zoroastres, Pythagoras oder Piatons zu vereinigen (>conciliareprisci patresconsen-

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Zu den Differenzierungen des Begriffs >Anti-Humanismus< vgl. die Uberzeugenden Ausführungen von Henri Gouhier: L'Anti-humanisme au XVIIe siècle, Paris 1987. Justus Lipsius: Physiologiae stoicorum libri tres, Antwerpen 1604, S. 10. - Zitat aus Cicero: De nat. deor. II, 29 (Vortrag der stoischen Lehre durch Baibus). Ebd. - Zitat aus Seneca: Quaest. nat. II, 45, 2 - 3 ed. Oltremare. Lipsius bezieht sich hier auf Lactantius: Inst. div. II, cap. IX. Justus Lipsius: Physiologiae stoicorum libri tres (wie Anm. 46), S. 64. - Zitat aus Seneca: Quaest. nat. I, praef. 13 ed. Oltramare. Vgl. hierzu die gut belegten Ausführungen von Eugene F. Rice: The Renaissance Idea of Wisdom (Harvard Historical Monographs XXXVII) Cambridge (Mass.) 1958. Justus Lipsius: Physiologiae stoicorum libri tres (wie Anm. 46), S. 64: »Sciò Patres illos priscos parùm inquisitè saepe aliquid adstruere, & sectarum decreta permiscere.«

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sus< der stoischen Physiologie mit der christlichen Religion gerade der Abhandlung De fide orthodoxa des Johannes Damascenus, die ihm in fortgesetzter Weise als Gradmesser für die Wertschätzung des stoischen Denkens dient. Allein die Behauptung, daß Plutarch nicht allzu weit von den Grundsätzen der christlichen Religion entfernt sei52 und daß Hermes Trismegistos in allen wesentlichen Stücken mit der mosaischen Philosophie übereinstimme,53 legitimierte sich bei Lipsius nicht mehr vorwiegend durch den Gedanken einer >prisca sapientiaconsensus gentiumubiquitas< einher. Demgegenüber konnte die Patristik partiell ihre Dignität bewahren, weil sie von einem christlichen Standpunkt aus und in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den heidnischen Lehrtraditionen Assimilierbares für den eigenen Gedanken rettete. Lipsius erläuterte die Lehre Senecas: Deus »solus est omnia«, mit einem Zitat des Johannes Damascenus, der in De fide orthodoxa ausführte: »Das Göttliche ist teillos, es ist als Ganzes schlechthin überall, ein Ganzes in allem, ein Ganzes über dem All« (το θείον άμερές, όλον ολικώς πανταχού

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Ebd., S. 13: »Neque nimis tarnen haec [sc. Plutarchi] aliena à Ratione, imò à Religione nostrâ cense, cui dictio ista alludit: non enim dicam, assentit.« Ebd., S. 14: »Liceat Ter-maximum inter eos [sc. sacros scriptores] recensere, cuius philosophia valde cum Mosaicâ (in multis quidem) consentit.« Vgl. Justus Lipsius: Manuductio ad stoicam philosophiam, Antwerpen 1604, S. 12-15 (Dissert. V: »Electione vtendum. & hoc fine Sectae praecipuae ostensae: & primùm Barbarica«), mit Hinweis auf die Lehre Potamons nach Diogenes Laertios, Vitae philos, prooem. XIV (21). - Vgl. hierzu Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte (Quaestiones 5) Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 144-151. Justus Lipsius: Physiologiae stoicorum libri tres (wie Anm. 46), S. 14. Vgl. Vincentius Lerinensis: Commonitorium II, 5-6 ed. Demeulenaere.

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είναι, και όλον ev ττάσι, και virep το πάν).57 War hier also die in Senecas Dictum implizierte Dialektik eines >in< allem seienden und dieses zugleich übersteigenden Gottes bewahrt, wie sie etwa auch von dem ersten Korintherbrief her (15,28: »et erit deus omnia in omnibus«) interpretiert werden konnte, so trieb Lipsius seine Auslegung der stoischen Gotteslehre noch etwas weiter,58 indem er den Hervorgang des Alls oder des »mundus« bei Plutarch mit der durch Johannes Damascenus gegebenen Schöpfungslehre kontaminierte. Nach Plutarch,59 so Lipsius, meint die yéveaiç κόσμου nicht die Schöpfung der einzelnen Dinge, sondern vielmehr die Schöpfung jenes »mundus«, der als erstes oder vorzügliches Werk Gottes (>primarium Dei opusmateriam aeternareWesen< der Dinge als den allem Seienden zugrundeliegenden ursprünglichen Stoff (>prima materia intra se habetmore scholastico< traktierten Theologia naturalis reformata (1656) dieselben Piatonismen am Leitfaden der apostolischen Zeugnisse belegt. Voets Werk ist, was die Argumentationsfiguren betrifft, in erheblichem Umfang der neueren Aristoteles-Exegese der Jesuiten von Coimbra, eines Fonseca und Oviedo verpflichtet.65 Über Gottes >ubiquitas< führte er mit der im einzelnen entwickelten Dialektik gleichwohl aus, Gott sei »wesenhaft« (>per essentiamentitativèvitalia semina< als die Wirkprinzipien des göttlichen Willens fand.67 Thomasius verfolgte mit dem im Schediasma entwickelten Parallelismus von scholastischer und mystischer Theologie das Ziel, beide Formen theologischer, von der antiken Philosophie maßgeblich bestimmter Reflexion in ihrem Wert für das Christentum herabzusetzen. Wenn es dem Christen aufgegeben ist, zu einem »wahrhaften Glauben« zu finden und ein »frommes Leben« zu führen, so haben mystische und scholastische Theologie, wie sehr sie auch »früher« (>olimimmensitas Deiad ingenium seculiconsensus< zwischen heidnischem und christlichem Denken zum Scheitern verurteilt war. Kam der neu-apologetische Humanismus eines Hugo Grotius, Gerhard Johann Vossius oder Duplessis-Mornay durch die Möglichkeit einer Assimilation der heidnischen Antike an das Christentum zur Entfaltung, so hob Thomasius diese Möglichkeit zugunsten einer Hermeneutik auf, deren Grundlage er gerade in der Differenz der Denktraditionen erblicken mußte. Von diesem Standpunkt aus konnte ihm die Geschichte des christlichen Piatonismus nur als eine Geschichte der Destruktion der Lehre Christi entgegentreten, weil jener sich von dem Christentum der apostolischen Zeit mutwillig abgewandt hatte. Thomasius entwickelte eine sehr genaue Genealogie dieses christlichen Piatonismus, die ihn von Pseudo-Dionysius über Maximus Confessor und Johannes Scotus Eriugena zunächst zu den in ihren Grundgedanken gerade noch rekonstruierbaren Systemen Amalrichs von Bène und Davids von Dinant führte und ihn schließlich auf den zeitgenössischen Libertinismus leitete. Die Häresien Amalrichs und der Amalrikaner73

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Jacob Thomasius: Schediasma historicum (wie Anm. 4), S. 32, §37, nota s 24: »Verum id erat Lipsio propositum, ut quemadmodùm Aristotelem Scholastici, sic ipse Stoicos suos, quoad posset, maximè reduceret in gratiam cum religione Christianä.« Ebd., S. 11, §17, nota a 23. Vgl. G. C. Capelle: Autor du décret de 1210, III. - Amaury de Bène. Étude sur son panthéisme formel (Bibliothèque thomiste XVI) Paris 1932 mit Edition der Testimonia (S. 89-111); zur Beziehung Amalrichs zu Eriugena, die zuerst von Heinrich Seuse hergestellt wurde, vgl. ebd., S. 51-67, und v.a. Paolo Lucentini: L'eresia di Amalrico, in: Eriugena redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, hg. von Werner Beierwaltes, Heidelberg 1987, S. 174-191. Zur denk- und sozialgeschichtlichen Situierung Amalrichs vgl. Enzo Maccagnolo: Parva

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waren demnach bereits in einem Buch mit dem Titel Periphyseon grundgelegt, dessen Autor Eriugena, der Übersetzer des Dionysius ins Lateinische, zur selben Zeit wie jene in Paris verdammt worden sei. Unter den gravierendsten Irrtümern desselben finde sich der Satz: »quòd omnia sunt Deus.« Da in Gott keine Bewegung gesetzt werden könne, folge, daß wenn »in ihm alles« ist, er selbst alles sei: »non facile posse negari, Creaturam & Creatorem idem esse.«74 Die Kenntnis, die Thomasius von dem Werk des Eriugena besaß, beschränkte sich auf eine Reihe von Sekundärquellen, auf die doxographische Tradition, wie er sie insbesondere aus den Werken von Heinrich Seuse, Johannes Gerson und Thomas von Aquin zog; denn erst 1681 erschien die erste Edition von Eriugenas Schrift Periphyseon, deren Herausgeber Thomas Gale vielleicht der wichtigste Vermittler neuplatonischer Schriften am Ende des 17. Jahrhunderts war und der dem von Thomasius beiläufig getadelten englischen Piatonismus nahestand. Gerade deshalb ist die Sorgfalt bemerkenswert, die Thomasius bei der Sammlung der Zeugnisse über Eriugena beobachtete. Hugo von Sankt Victor habe Eriugena als den ersten Theologen seiner Zeit bezeichnet, so wie Linos bei den Griechen und Varrò unter den lateinischen Schriftstellern die vorzüglichsten Theologen genannt werden können.75 Thomasius enthielt sich auch hier einer Bewertung dieses Urteils und widmete sich ganz dem offensichtlichen Anachronismus, der Hugo unterlaufen sein mußte, wenn er von dem besten Theologen > seiner Zeit< sprach. Im übrigen schloß er sich der distanzierten Einschätzung des Matthaeus Parisiensis an, der sich davon überzeugt hielt, daß sich in Eriugenas Buch vieles finde, »quae nisi diligenter discutiantur, à fide Catholicâ aliena judicantur«.76 Thomasius bewahrte sich ein dauerhaftes Interesse an der Frage »An Deus sit materia prima?« und an den aus ihr sich ergebenden Folgerungen.77 Wenn er in der ein Jahrzehnt nach dem Schediasma publizierten Schrift De stoica mundi exustione noch einmal auf die seinerzeit vorgetragenen Überlegungen zurückkam, so tritt jedoch sogleich die von ihm nun viel deutlicher entwickelte Verwandtschaft zwischen dem >Enthusiasmus< der platonischen Tradition und einem >Atheismus< hervor, dessen Wirkung er mit dem

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mediaevalia. In margine ad Amalrico di Bène, in: Sandalion 5 (1982), S. 329-346; Gary Dickson: Joachism and the Amalricians, in: Florensia 1987, S. 35-45. Jacob Thomasius: Schediasma historicum (wie Anm. 4), S. 59f., §52, nota d 40. Ebd., S. 61, §52, nota d 44. Ebd., S. 60, §52, nota d 40. Vgl. Jacob Thomasius [praeses]: Theses philosophicae, quas de quaestione: An Deus sit materia prima? [...] publicè ventilandas proponit Joh. Fried. Hekelius, Zwickau 1672. Diese sehr knappe (6 Seiten umfassende) Dissertation faßt noch einmal die wichtigsten Argumente des Schediasma historicum zusammen, ohne jedoch über die seinerzeit erarbeiteten Ergebnisse hinauszureichen.

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Namen des Alexander Epicureus verknüpft.78 Der Grund für diese neuerliche intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Piatonismus im Christentum ist wohl hauptsächlich in der inzwischen weit ausgreifenden Wirkung des Piatonismus von Cambridge sowie Spinozas und des Spinozismus zu sehen. Diese denkgeschichtliche Konstellation ist um so bemerkenswerter, als sie fur die folgenden Jahrzehnte mit mannigfaltigen Akzentverschiebungen bestimmend geworden ist, und sie erreichte schließlich ihren Höhepunkt in dem facettenreichen Werk Mosheims, dessen Übersetzung von Cudworths The True Intellectual System of the Universe von seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der origenianischen Polemik gegen den vorgeblichen Epikuräer Kelsos auf vielfaltige Weise begleitet und geprägt worden ist.79 Thomasius erkannte in dem Lehrstück Davids von Dinant,80 »Deum esse materiam primam«, eine häretische Denkform, in welcher der über Eriugena vermittelte Piatonismus Amalrichs durch den Materialismus Alexanders zu der Behauptung verkehrt war, daß Gott in der Weise als »ursprünglicher Stoff« verstanden werden müsse, als nicht nur die Formen oder Urbilder der Dinge, sondern zumal die »Körper selbst« aus dem göttlichen Wesen (>ex essentia divinaprosiluissestoischen< Deutung des Johannes Damascenus geübt hatte, war offensichtlich nicht geeignet, seinen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber der platonischen Gotteslehre zu zerstreuen. Man erinnert sich, daß bereits Giovanni Pico in der an Angelo Poliziano gerichteten Abhandlung De ente et uno (1492) dieselbe Dialektik im Ausgang von Piatons Parmenides und insbesondere im Horizont der Schriften des PseudoDionysius thematisiert hatte;86 sie sollte in dieser Form auch für Sandaeus' mystische Theologie grundlegend werden.87 Thomasius bezog sich bereitwillig auf Pico wie auf Sandaeus, aber er nimmt eine Wertung vor, durch die die Geschichte des Piatonismus doch ganz im Lichte der spätesten Denk-

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Vgl. Jacob Thomasius: Progamma L. Adversus anonymum, de liberiate philosophandi, in: Thomasius, Dissertationes LXIII. varii argumenti magnam partem ad historiam philosophicam & ecclesiasticam pertinentes, hg. von Christian Thomasius, Halle 1693, S. 571-585; vgl. hierzu Walter Spam: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, hg. von Karlfried Gründer und Wilhelm SchmidtBiggemann (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 12) Heidelberg 1984, S. 27-63. Zitiert nach Jacob Thomasius: Exercitatio de stoica mundi exustione (wie Anm. 81), S. 200: »Fuit Alexander Epicureus, quidam Philosophus, qui Deum esse dixit materiam, vel non esse extrà ipsam, & omnia essentialiter esse Deum, & formas esse accidentia imaginata, & non habere veram entitatem, & ideo dixit, omnia idem esse [...]« (vgl. Albertus Magnus: Physica, hg. von Paulus Hossefeld, in: Albertus: Opera omnia. Tomus IV. Pars I. Physica. Libri 1-4. Lib. I, tract. 3, cap. 13, p. 64, 1. 36-40). Ebd., S. 201. Vgl. Giovanni Pico della Mirandola: De Ente et Vno, ad Angelum Politianum, in: Pico: Opera omnia (wie Anm. 11), S. 241-310. Vgl. Maximilian Sandaeus: Pro theologia mystica clavis elucidarium, Köln 1640 (ND Louvain 1963), bes. S. 165-177. - Sandaeus beruft sich bekanntlich häufig auf Giovanni Pico.

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möglichkeiten erscheint, die sich auch aus ihm ergeben haben. David von Dinant gilt ihm daher als der »größte Enthusiast«,88 der in letzter Folge den Ansatz der platonischen Seinslehre erfüllt, daß nämlich nicht nur die >IdeenLiber de mundo< aus dem Denkkreis der Peripatetik herauszunehmen und einem Stoiker, etwa Poseidonios, zuzuschreiben - ein Vorgang, den wir bereits bei Alphonsus Pandulphus gegenüber den älteren aristotelisierenden Deutungen Gianfrancesco Picos und anderer mit vergleichbaren Folgerungen beobachten können89 - , denn die in ihm enthaltene Bestimmung Gottes als einer Wirkkraft, die als Pneuma oder feinstes Feuer durch alles hindurchdringt, entsprach genau, so Thomasius, dem stoischen Gott als »forma mundi informans«.90 Sodann war zu zeigen, wie der »Neutralismus« des Orígenes gerade darin bestand, daß seine Lehre einer άποκατάστασι,ς πάντων weder die dem Christen gewisse Auflösung des >mundus sensibilis< in nichts (korrespondierend mit der »creatio ex nihilo«), noch in ein stoisch gedachtes »Chaos informe« bezeichne.91 Denn nach der in der Schrift Περί άρχων entfalteten Kosmologie des Orígenes fand in jener »glückseligen Erfüllung« (>finis beatitudinisconflagratio< zugrunde gehen wird, nicht aber der von den Flammen

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Jacob Thomasius: Exercitatio de stoica mundi exustione (wie Anm. 81), S. 201. Vgl. Alphonsus Pandulphus: Disputationes de fine mundi [...]. Opus posthumum [...], Bologna 1658, S. IV. Ebd., S. 179. Ebd., S. 241. - Zu des Orígenes Stellung zur Stoa vgl. Henry Chadwick: Origen, Celsus, and the Stoa, in: The Journal of Theological Studies 48 (1947), S. 34-49. Orígenes: De principiis 84, 27-85, 14 ed. Koetschau. - Vgl. Ps. 101,27.

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verschonte κόσμος, der vielmehr, so war zu ergänzen, das Allgesamt bezeichnet, in dem sich dieses kosmologische Geschehen vollzieht. Die in der Apostelgeschichte (3,21) thematisierte »Wiederbringung von allem« (>restitutio omniumius circa sacra< referiert und kommentiert.17 Nur auf die Bewertung der Frühgeschichte sei an dieser Stelle eingegangen. Thomasius wendet sich in seiner historia contentionis gegen die Herrschaftsansprüche eines aristokratischen Klerus, der sich unter Berufung auf eine vermeintliche > libertas Ecclesiae< immer mehr Machtbefugnisse innerhalb und außerhalb der Kirche aneignet. Umgekehrt steht der Herrscher, der >Princepssub jugo Cleri Aristocrático^18 Selbst wenn er monarchische Gelüste des Papstes erfolgreich abwehrt, bleibt er doch Gefangener seiner Bischöfe. Eine klerikal-episkopale Aristokratie, die sich vom weltlichen Hoheitsträger ablöst, ist das Schreckensbild, das Thomasius auf dem Hintergrund des Wandels der Zeiten und Epochen jeweils neu zeichnet. Seine fast manisch anmutende Abneigung gegen die kirchliche Amtshierarchie wird verständlich, wenn er seine Vorstellungen von der besten Staatsform entwickelt.19 Essentiell ist - für Monarchie, Aristokratie oder Demokratie - , daß der Staat >unum summum caput< aufweist und durch die >unio voluntatum< verbunden ist; zur Monarchie gehört der Wille eines Mannes, zur Aristokratie die Willensbildung im Adelskollegium, zur Demokratie der Mehrheitsentscheid in der Volksversammlung.20 Als kranke Staatsformen sind solche Staatswesen zu bezeichnen, in denen die höchste Macht geteilt ist, etwa zwischen König und Adel, zwischen König und Klerus, zwischen König und Volk, obgleich viele eine derartige >respublica mixta< empfehlen. Eine Mischform entsteht, wenn die Herrschaftsrechte - etwa die >regalia circa sacra et profana< - zwischen Priestertum und Königtum aufgespalten werden. Sollten in der >respublica mixta< beide Häupter miteinander in Widerstreit geraten, dann bleibt nur ein Hilfsmittel, diesen Streit zu been-

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Benutzt wurde die Ausgabe Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und KetzerHistorie [...], Franckfurtam Mayn 1729; vgl. in diesem Zusammenhang die Teile 2 - 4 u. Addimenta. Eine andere Gewichtung findet sich noch in den Cautelae (wie Anm. 8), Cap. XVI. Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Cap. IV §25; zur Staatsformenlehre vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I: 1600-1800, München 1988, S. 182f. Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Cap. I § Iss. Ebd., §2.

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den, nämlich der Bürgerkrieg. Daher darf es etwa in der Monarchie nach dem Fürsten nur Untertanen geben, wobei die Kleriker ausnahmslos zur Klasse der Untertanen zu rechnen sind. >Bellum civile< - die mörderischen Religionskriege stehen dem Gelehrten und Staatsdenker des 17. Jahrhunderts vor Augen, wenn er alle Ansätze eines klerikalen Staates im Staate höchst wortreich und polemisch anprangert. Die Ursprünge des Übels sind bereits in der Urkirche, der >Ecclesia primitiva^ zu finden.21 In den ersten drei Jahrhunderten kommt es zu Mißbräuchen der Kirchendisziplin, zur Verfolgung von Abweichlern, zur Ausprägung einer kirchlichen Hierarchie, zur Bildung von Doktrinen, zur Berufung von Konzilien, zu Lehrstreitigkeiten, zu Verketzerungen, kurzum, das Ideal der >Ecclesia vera< hält dem Druck der >Ecclesia visibilis< nicht stand, die Vorstellung einer >Ecclesia florens< war seit jeher nur Legende. Ein besonderes Augenmerk ist auf das 4. Jahrhundert zu lenken, denn in dieser Zeit wachsen die schwersten Irrtümer. Zu den folgenschweren Irrtümern gehört das Wort Konstantins des Großen, er sei Bischof des Äußeren, >Episcopus extra ecclesiampotestas interna et externa< bildete sich heraus. Für Thomasius beruht der Begriff der >potestas interna< auf einer gezielten Erfindung des Klerus. Der Territorialist kann grundsätzlich keine zwei Gewalten anerkennen, denn jede >potestas< ist Ausfluß der Territorialhoheit des >Princepsinterna religionis< geht, also um Gewissen und Überzeugung, da ist von vornherein jegliche >potestas< ausgeschlossen.23 Konstantin hat die Bischöfe mit besonderen Würden ausgestattet, ihnen Rechtsprechungsbefugnisse in weltlichen Angelegenheiten verliehen, er hat den Bischöfen die Macht zugestanden, andere zu verketzern und zu exkommunizieren.24 Schon im Folgejahrhundert wurde die Kirche von bischöflichen Machtkämpfen, von Parteibildungen, Lehrgezänk, Hofintrigen usw. erschüttert. Justinian hat dann die Irrtümer seiner Vorgänger über das >ius circa sacra< durch neue kaiserliche Konstitutionen25 vertieft - diese sind in

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Ebd., Cap. IIss. Ebd., Cap. V §31; ders.: Cautelae(wie Anm. 8), Cap. XIII §2. Dazu Notker Hammerstein: Jus und Historie, Göttingen 1972, S. 120ff. Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Cap. IV §30; Thomasius: Cautelae (wie Anm. 8), Cap. XIII §2. Dazu Hamilcar Alivisatos: Die kirchliche Gesetzgebung des Kaisers Justinian I., Berlin 1913 (ND Aalen 1973).

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das >Corpus iuris< gelangt, so daß sogar noch heute die Protestanten von der Rechtsgültigkeit dieser Regelungen ausgehen.26 Auch Karl der Große hat das Majestätsrecht >circa sacra< nicht gegen das Wüten des Klerus schützen können.27 Das >ius circa sacra< verlor seinen Sinn, Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu gewährleisten und den Verketzerungen des intoleranten Klerus Einhalt zu gebieten. Im 11. und 12. Jahrhundert ist der Kampf zwischen Sacerdotium und Imperium zu einem Höhepunkt gelangt, der römische Klerus triumphiert, Kaiser und Könige werden gedemütigt.28 Wir wollen die historia contentionis verlassen, denn hier ist nicht der Ort, auf Einzelheiten einzugehen. Die Geschichte seit dem Ende des 1. Jahrhunderts läßt sich bündig zusammenfassen: immer nur Niedergang, Abfall, Verfall - Kirchengeschichte präsentiert sich als eine >historia morbiEcclesia primitivas Täufer, Schwärmer, Radikalpietisten, alle haben mehr oder minder alles Äußere der Kirche dem Antichristlichen zugewiesen. Vor allem Sebastian Franck (1499-1542), der streitbare Literat, Vertreter des linken Flügels der Reformation und Einzelgänger, hat den Gedanken der Geistkirche mit besonderer Strenge

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Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Cap. V §§41s. Ebd., Cap. VI §48. Ebd., Cap. VIIss. Ebd., Cap. I §1. Friedrich W. Kantzenbach: Kritische Kirchengeschichtsschreibung. Zur Begründung von Kirchenkritik im protestantischen Geschichtsbewußtsein der Neuzeit, in: ZRG 30 (1978), S. 19ff.

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verfochten.31 In seiner Geschichtsdeutung tritt der Abfall bereits im 1. Jahrhundert ein,32 unmittelbar nach dem Tode der Apostel zeichnete sich die Veräußerlichung der Kirche im Streit der Gruppen und Richtungen ab; in der Formgebung durch Amt und Ritus geht die unsichtbare Kirche zugrunde. Für die meisten antiorthodoxen Schreiber setzt aber der Abfall um das Jahr 300 ein, wobei vor allem die konstantinische Wende,33 das Toleranzedikt von 313 und die Folgen, als Wendepunkt angesehen wurde. Unter dem Vorzeichen des Abfalls werden die konstantinische Ära und das Geschichtswerk des Eusebius von Caesarea betrachtet. An Francks Ketzerbegriff - die wahren Christen seien immer die Ketzer gewesen - knüpft Gottfried Arnold an; die Verfolgten und Verketzerten seien als die eigentlichen Wahrheitszeugen zu bezeichnen.34 Nicht aber folgte er Francks radikaler Abfallsthese; Arnold verweist den Niedergang in die Zeit Konstantins des Großen. Thomasius und Arnold:35 ein altes Thema, so vielschichtig und problematisch wie die Beziehung von Pietismus und Aufklärung überhaupt. In den Supplementa zur Kirchengeschichte, in denen Freunde und Gegner voneinander geschieden werden, berichtet Arnold stolz vom Urteil des Hallenser Professors Thomasius: »Ich halte obgedachte des Herrn Arnolds historie nach der heiligen schrifft für das beste und nützlichste buch, das man in hoc scribendi genere gehabt hat, und scheue mich nicht, dasselbe allen meinen auditoribus hiermit auf das nachdrücklichste zu recommendiren, und wenn sie das geld dafür ihrem munde abspahren oder erbetteln solten [,..].«36 Thomasius hat in seinen Höchstnöthigen Cautelen zu Erlernung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit von 1713 Arnolds Kirchengeschichte eifrig exzerpiert;37 1722 war er schon zurückhaltender, reservierter gegenüber den spiritualistischen Befangenheiten Arnolds.

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Horst Weigelt: Sebastian Franck, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Reformationszeit II, hg. von M. Greschat, Stuttgart 1981, S. 119ff. Kantzenbach: Kirchengeschichtsschreibung (wie Anm. 30), S. 19ff./32f. Carl Andresen: Geschichte des Christentums I: Von den Anfängen bis zur Hochscholastik, Stuttgart 1975, S. 44ff. Johann Goeters: Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte in ihrem Werdegang, in: Festschrift Winfried Zeller, Marburg 1976, S. 24 Iff.; Friedrich W. Kantzenbach: Gottfried Arnolds Weg zur Kirchen- und Ketzerhistorie 1699, in: Jb d. Hess. Kirchengesch. Vereinigung 26 (1975), S. 207ff. Gertrud Schubart-Fikentscher: Thomasius zur Kirchengeschichte, in: Festschrift Guido Kisch, Stuttgart 1955, S. 189ff. Arnold: Kirchen- und Ketzer-Historie (wie Anm. 16), Aufrichtige Anmerckungen über die bißher erregte Strittigkeiten [...] Cap. I § 1 Iss. Vgl. Thomasius: Cautelae (wie Anm. 8), Cap. III §18ss., passim. Während Thomasius in seinen Cautelae hinsichtlich der Kirchengeschichte fast als Arnoldschüler erscheint, ist die Arnoldbindung in der Historia bereits stark gelockert.

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Gottfried Arnold (1666-1714), Dichter, Historiograph und Gemeindepfarrer, ein Pietist, dessen Bindungen an spiritualistisch-mystische Traditionen starke Schwankungen aufwiesen, gehörte zu den besten Kennern der Frühgeschichte des Christentums.38 Nach dem Werk Die erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi, das ist wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben von 1696 folgt dann die umfangreiche Kirchen- und Ketzer-Historie von 1699/1700, deren Bedeutung uns vor allem Erich Seeberg erschlossen hat.39 Die spiritualistische Grundtendenz zeigt sich, wenn der Weg in die institutionelle Kirche als Verfall geschildert wird.40 Die wahren Christen brauchen keine äußere Ordnung, keine Kirchenbauten, keine Hierarchie, keine Lehrsätze, keine Konzilien. Das lebendige Christentum bedarf keiner vorgegebenen Form, die Wiedergeburt ist ein persönlicher Prozeß der Läuterung und Reinigung. Diesen idealen Zustand findet Arnold sogar noch im 3. Jahrhundert vor »Ihr Umgang war noch unschuldig, ohne falsch und eigengesuch: ihre andacht, reden und gebärden nicht affectirt, sondern mit dem gründe ihres hertzens einstimmig [...] «41 - , wenn sich auch schon erste Flecken zeigten. Der spiritualistische Kirchenbegriff des Wiedergeburtstheologen42 mußte zur Verwerfung geistlicher und weltlicher Amtsgewalt des Klerus führen - eine Abneigung gegen die »Klerisei« wurde artikuliert, die den Vorstellungen eines Thomasius' sehr nahe kam. Diese Gleichsetzung von Institution und Verfallsform hatte zur Folge, daß der Abfall vom wahren Christentum in der konstantinischen Zeit jäh einsetzte: Macht, Pracht, Kirchenbauten, Ritus und Hierarchie bestimmen die Glaubenswirklichkeit. Arnold schildert den »verfall der christen« im 4. Jahrhundert in den grellsten Farben.43 Vor allem der Klerus genoß die neuen Freiheiten: »Dahero kam es nun, daß die meisten und vornehmsten von der Clerisey in allen greueln schon vertieffet waren, und ihren ehr- und geld-geitz, nebst einem wollüstigen zärtlichen

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Friedrich W. Kantzenbach: Gottfried Arnold, in: Gestalten der Kirchengeschichte. Orthodoxie und Pietismus, hg. von M. Greschat, Stuttgart 1982, S. 26Iff. Erich Seeberg: Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Meerane 1923 (ND Darmstadt 1964), S. 65ff. Kantzenbach: Arnolds Weg (wie Anm. 34), S. 207ff.; Seeberg: Gottfried Arnold (wie Anm. 39), S. 257ff. Arnold: Kirchen- und Ketzer-Historie (wie Anm. 16), I. Th. III. B. V. Cap. §18. Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte 3, hg. von Carl Andresen, Göttingen 1984, S. 106f.; Martin Schmidt: Wiedergeburt und Neuer Mensch, Witten 1969. Arnold: Kirchen- und Ketzer-Historie (wie Anm. 16), I. Th. IV. B. III. Cap.

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leben, überall ungescheut sehen Hessen [,..].«44 Die Affektenlehre45 bot nicht nur den Ansatz zur Wesensbestimmung der Orthodoxie, sie prägte auch das Gegenbild, das Leben der Reinen und Lauteren, der Ketzer. Arnolds Geschichtsbetrachtung mündet in eine Umwertung des Ketzerbegriffs ein, gegenüber den Klerikern werden die Ketzer zu den eigentlichen Trägern einer lebendigen Christentumsgeschichte. Christentum ist keine Frage von Lehre, sondern von Leben - Ketzerei ist keine Frage des Verstandes, sondern des Willens. Der Affektgedanke gibt dem Ketzerbegriff seine typische Ausrichtung.46 Der unschuldige Irrtum fuhrt nicht zur Ketzerei, sondern nur der böse Willen, der zu einer Verfälschung des als richtig Erkannten verleitet. Ketzerei beruht nicht auf Dogmen und Lehrmeinungen, sondern auf der Unterdrückung des inneren Christentums, der Religion des Gefühls. Ketzer sind die heuchlerischen und machthungrigen Verfolger, die rechtgläubigen Mitglieder der Hierarchie - Christen sind die Verfolgten und Verketzerten, die Anhänger des lebendigen Glaubens. Hier rücken Arnold und Thomasius eng zusammen. In seiner Dissertation über die Ketzerei von 1697 - an haeresis sit crimen? - hatte Thomasius ebenfalls die Umkehrung des Ketzereibegriffs vollzogen.47 Es gibt keine Ketzerei im intellektuellen Sinne; beherrschend sind vielmehr die negativen Affekte, die den Menschen veranlassen, die Religion des Gefühls zu verleugnen. Wer einer religiösen Überzeugung folgt, die in sein Herz eingeschrieben ist, darf auch dann nicht als Ketzer gelten, wenn er mit seiner Ansicht im Widerspruch zur amtskirchlichen Linie steht. Geht man nicht vom richtigen Wissen, sondern von Empfindung und Innerlichkeit aus, dann richtet sich folglich der Ketzereivorwurf gegen die Repräsentanten der Orthodoxie, die machtbewehrten Verfolger der unschuldig Irrenden. Damit werden die Ketzerjäger zu den eigentlichen Ketzern.48 Ihr Amtsglaube ist ein toter Glaube - und dieser vermag sie nicht zu rechtfertigen. Ihr Ziel ist nicht die Verbreitung der wahren Lehre, vielmehr ist ihr Wollen den

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Ebd., §6. Vgl. dazu Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 3) Hildesheim, New York 1971, S. 183ff. Seeberg: Gottfried Arnold (wie Anm. 39), S. 499ff. Problema Juridicum an haeresis sit crimen [...], Halae 1697; Theses inaug. de iure principis circa haereticos [...], Halae 1697; Ob Ketzerey ein straffbares Verbrechen sey, Halle 1697, in: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schrifften I, Halle 1705, p. 233ss./248ss.; Abhandlung vom Recht Evangelischer Fürsten gegen die Ketzer, Halle 1697, in: op. cit. p. 319ss./33Iss. »Thomasius hat diesen berühmten Gedanken der Arnold'schen Kirchen- und Ketzerhistorie vor Amold klar ausgesprochen«, Seeberg: Gottfried Arnold (wie Anm. 39), S. 507f.

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Affekten wie Ehrgeiz und Herrschsucht unterworfen. Mit ihrer Ketzerjagd befriedigen die Kleriker nur ihr Machtstreben, ihr Streben nach Herrschaft über die Gewissen, die Menschen, die weltlichen Institutionen, wie es vor allem im Aufstieg des römischen Klerus deutlich wird. Der Vernunftrechtler und der Pietist haben sich im voluntativen Ketzerbegriff getroffen. Damit stellt sich die Frage, was 1722 von dieser Nähe geblieben ist. Im Anhang zu seiner historia contentionis läßt Thomasius einen breit angelegten Literaturbericht zum Verhältnis von Staat und Kirche folgen.49 Die Zahl der Gegner ist überwältigend, unter den wenigen geistesverwandten Schriften leuchtet Arnolds Ketzergeschichte als besonders nützliches Werk auf.50 Vor allem legt Thomasius dem Weisheitsfreund das Studium der Arnoldschen Deutung der neuzeitlichen Kirchengeschichte nahe, also des umfangreichen 2. und 3. Teils. Wohlwollend nimmt er zur Kenntnis, daß auch Arnold die vielen >reliquiae Papatus< bei den Evangelischen aufdeckt; Arnold wird gelobt, wenn er die Mängel der lutherischen Kirche, den Unsinn der Religionsgespräche und Religionsstreitigkeiten unter den Protestanten, die kontroversen Probleme der Symbolischen Bücher und die Toleranz gegenüber Abweichenden hervorhebt. Wesentlich differenzierter sieht Thomasius die Arnoldsche Darstellung der älteren Kirchengeschichte. Zunächst wiederholt er sein Urteil aus den Cautelae Jurisprudentiae Ecclesiasticae: Arnold sei einer der ersten gewesen, der mit der törichten Verherrlichung der ersten Jahrhunderte Schluß gemacht und deutlich gezeigt habe, wie nach der Apostelzeit Sitten und Lebensweise der Christen in Verfall gerieten.5' Arnolds Methode läßt zwar bisweilen zu wünschen übrig - so führt er z.B. >Originalwerke< an, die keine Originale sind. Richtig ist aber seine Sicht der Kirchengeschichte als Ketzergeschichte. Wer zu historischer Objektivität gelangen will, der muß Partei für die Verketzerten ergreifen. Denn die herrschende Kirche schreibt niemals über ihre Fehltritte und Verbrechen, vielmehr dichtet sie den Unterdrückten alle Untaten an - ohnehin wird die Geschichte der Unterdrükkung unterdrückt.52 So ist mit Arnold von folgenden Vermutungen auszugehen: (1) Wo Schriftsteller der herrschenden und der beherrschten Religion einander widersprechen, sind im Zweifel die Beherrschten glaubwürdiger.

49 50 51 52

Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Appendix II. Ebd., Cap. II §79. Thomasius: Cautelae (wie Anm. 8), Cap. III §41. Dazu auch ebd. Cap. III §55.

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Stephan

Buchholz

(2) Wenn auf der Seite der Herrschenden einer unter Tausend einen Exzeß der Herrschenden und die Unschuld der Unterdrückten einräumt, hat dieses Zeugnis mehr Beweiskraft als der Widerspruch der übrigen 999. Die Neigung des Arnold, Häretiker zu begünstigen und gegen die Orthodoxen zu entscheiden, selbst dann, wenn entsprechende Quellen fehlen, weist allerdings einen Schwachpunkt auf: Arnold verteidigt Sektierer und Religionsangehörige, solange sie unter Verfolgung stehen, und deckt ihr schädliches Wirken auf, sobald sie nur ein wenig zur Herrschaft gelangt sind. Thomasius bestätigt diese Kritik der Gegner Arnolds. Damit gelangt Thomasius schließlich zu seinen Warnungen vor Arnolds Geschichtsdeutung.53 Unzutreffend verlegt Arnold den elenden Zustand der orthodoxen Kirche erst in das 4. Jahrhundert, unangebracht sei seine Schilderung des vorkonstantinischen Christentums, verfehlt die Beschreibung der frühen Asketen und der strengen Kirchendisziplin des 3. Jahrhunderts.54 Für Thomasius endet der urkirchliche Unschuldsstand schon im Ausgang des 1. Jahrhunderts. Er folgt damit der rigiden Verfallshypothese eines Sebastian Franck, allerdings aus anderen Gründen. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Thomasius, der Jurist und versierte wissenschaftliche Vertreter des römisch-europäischen >ius communeCorpus iuris< nur ein übles Machwerk werden: »Wenn man nun die Ungerechtigkeit dieses Triboniani mit der oben erzehlten greulichen tyranney, geldbegierde und Unbilligkeit des Justiniani selbst zusammen hält, so ist handgreiflich, daß die Autores von dem Corpore Juris, wie mans noch hat, nicht allein pure heyden und heuchler, sondern auch gottlose und ungerechte leute, ja gar Atheisten gewesen.«57 Thomasius selbst hatte Justinian die Stärkung der Klerikermacht und die Verfälschung des >ius circa sacra< durch verschiedene Konstitutionen vorgeworfen.58

53 54

55 56 57 58

Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Appendix Cap. II §79 p. 540s. So bereits in den Cautelae (wie Anm. 8), Cap. XII §10, obschon Thomasius in den Cautelen noch sehr stark an Arnold gebunden ist, vgl. Cap. XI §6, Cap. XV §1. Thomasius: Historia (wie Anm. 6), p. 540; ders.: Cautelae (wie Anm. 8), Cap. XV §2. Arnold: Kirchen- und Ketzer-Historie (wie Anm. 16), I. Th. VI. B. I. Cap. §1. Ebd., §14. Thomasius: Historia (wie Anm. 6), Cap. V §42.

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Der Thomasius von 1722 hatte seine Streitigkeiten mit den Halleschen Pietisten schon einige Zeit hinter sich.59 Der äußere Friede war wiederhergestellt, aber die Erfahrungen blieben lebendig. Gegenüber Christian Thomasius hatten die Pietisten ihre religiöse Unduldsamkeit60 bereits unter Beweis gestellt, der Konflikt mit Christian Wolff bahnte sich erst an.61 Somit mußte das Verhältnis zum Pietisten Arnold und zu seiner Theologia mystica distanzierter werden. Arnold vernachlässige den Vernunftgebrauch und forsche nur nach den inneren Zeugnissen, nach den Seelenbewegungen, die den Mystiker kennzeichnen. Er folge leichtgläubig allen Legenden und Märchen,62 wenn diese auf den >interni motusReich Gottes< voneinander schieden.« Hölderlin an Hegel

1.

Die von Ohnmacht und Verfolgung signierte Untergrund- und Protestliteratur der Frühen Neuzeit entfaltete sich in einem zwar weitgefächerten, jedoch durchaus ungebrochenen Vermittlungs- und Diskurszusammenhang, der von den radikalen Randfiguren der Reformationszeit mindestens bis zur Generalrevision der Kirchen- und Kulturgeschichte durch Gottfried Arnold reichte.1 Mit dieser noch immer keineswegs selbstverständlichen Feststellung ist nicht

Die historische Abgrenzung und die soziale wie theologische Semantik des Begriffs >Pietismus< sind kontrovers. Umfassend dazu jüngst Brecht (1993) mit einem Kapitel über »Voraussetzungen und Wurzeln« des Pietismus, bes. zu Schwenkfeld, Paracelsus und Weigel (S. 113-130), und über »Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts« (S. 221-240). Die unzureichende Erschließung der Quellen, ja der teilweise höchst deplorable Forschungsstand (selbst was bekannte Persönlichkeiten wie Andreae und Arndt angeht) läßt noch viel Raum für weitere Erkundungen. Sie sollten auch die philosophiegeschichtlichen bzw. sozialgeschichtlichen Gesichtspunkte beachten, unter denen Gemeinsamkeiten der postreformatorischen Dissidenten (vornehmlich Anhänger einer platonisierenden Theologie) in Erscheinung treten: dazu besonders Wollgast (1988) sowie - nach wie vor bewundernswert - das Grundwerk von Troeltsch. Über den Forschungsstand zum radikalen Pietismus< (hier auch über die nicht nur terminologischen Probleme und die Vernachlässigung der >RadikalenSchwärmern< gepflegten Typus der >SendschreibenEnthusiasmus< revozierend - ausdrücklich zu Luther und zur Confessio Augustana bekannt haben. Zahlreiche Belege bei Böhme, u.a. in: Mysterium Magnum. Ed. Peuckert, Bd. 7 und 8; Brecklings Position ergibt sich aus einer Bilanz, wie sie in einem Brief des Jahres 1703 an den Gießener Professor Johann Heinrich May gezogen wird (hier zitiert nach Wotschke [1928], S. 179): »Hat nicht beinahe das ganze Luthertum den frommen Jakob Böhme um Gottes Gaben willen verketzert wie auch Lorenz Seidenbecher, mich, Gifftheil, Grammendorf, Petersen, Sandhagen um das öffentliche Bekenntnis des chiliasmi sancti, das der H. Spener, Balthasar Köpke und die Hallischen nun öffentlich mit uns bekennen und verteidigen und dem Teufel samt allen Antichristen, die das Gegenteil gegen Gottes Wort glauben, entgegenstehen und absagen [...].«

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Weg der mystischen »Selbstverleugnung« erscheint auch als Kampf gegen die Versuchungen der weltlichen Intellektualität und säkularen Vernunft. Breckling nimmt es auf sich, »der weit unleidlich« zu werden, um zuletzt allein im Zeichen der »Gottlichen thorheit« die aporetische Frage nach dem Gesicht und der Realität des wahren Christentums in dieser Welt aufzulösen (aus Br. Nr. 5): [...] Hemach habe ich in Bibliotheken und Büchern die weißheit und warheit gesuchet, bin ein gantz Jahr zu dem Ende in Hamburg gewesen umb Ihre schone Bibliothec zu gebrauchen, die alle tage offen steht, aber habe auch die rechte bûcher nicht gefunden, und die besten die Ich bißher suche kan Ich noch kaum finden, die sitzen noch hin und wieder in allen Bibliotheken Buchladen und Klostern gefangen wie Joseph in Egypten; So habe ich endlich durch begegnung eines Laici alß eines Engels von Gott mir auß dem Jerusalem das droben ist zugesandt wie Taulero geschehen, zu Gott dem brunnen aller Weißheit mich gekehret, Ihm meine Noth geklaget meine Thorheit und verlohme Zeit und geld beseuffzet und Christum flir meine Weißheit, Häupt, Warheit, Buch, Doctor, Meister, Hecht, leben und alles in allen genommen, mir selber und der weit abzusterben und Christo, allein alß ein glied zum dienst zu leben, worin und warzu Er mich gebrauchen wurde, ut instar Luminis aliis inserviendo meipsum consumerem, wie Christus mir vorgegangen, daß aliso auch Christus in und durch mich alles werden wissen, leben wirken und thun möchte was Er wolte. Weil auch die gantze natur und Creatur Gott zu Ehren und zu Dienst lebet, von der Zeit an bin Ich der weit unleidlich worden, und habe den Satan und seinen Anhang allenthalben zu gegenständ gefunden, mit denen die weit also mit mir selbst ich zu streiten haben, und muß nun mehr mühe haben alles abzulernen mir selbst abzusterben, entgegen zu wandeln, mich selbst zu verleugnen verlieren richten und vernichten alß meinen ärgsten feind verrähter Verführer und betrieger, alß Ich zuvor arbeit hatte alles zu lernen, Gott aller seiner erben zu berauben und mich selbst wieder Gott hinauff biß in den Himmel zu studieren, und Gott also von seinem thron in mir herunter zu stossen und mich selbst mit dem Antichrist und unsern Magisteiiis Doctoribus & Theologis an Gottes stell in seinem Tempel zu erhöhen, daher Gott nicht mehr in uns und der weit zu sagen hat, und konten sie Ihm auch den Himmel abdisputieren stürmen und bombardieren, Sie Messens nicht, das Ego Mei Mihi Me, Nos Vos ill i herrschet in allen Ständen und haben per meum et tuum die gantze weit unter sich getheilet, Christus mit und in den Seinen findet kein credit räum noch herberge mehr in der weit, und hat in keinem Collegio, Consistorio noch Academia etwas mehr zu sagen, wo Er die seinen nicht unter der Gottlichen thorheit verbirget, und alß in der wüsten versuchet mitten unter Ihnen, daß sie die Thüre nicht zu Loths Hauß unter Ihnen finden können, und endlich ablassen müssen und sagen, daß Ihr lauffen heist ein Narr in folio (wie David unter Achis Ps. 73 und Agur) und so bin Ich in die geselschaft der Narren und Esell kommen, davon Joh. Valentinus Andreae in seiner Alethea Exul gar treffliche Dinge erzehlet, und habe nach erlittenen Schiffbruch in der Welt und wohl gereiniget mit dem Turbone I. V. Andr[eaes] seine Christianopolim gefunden und darin mehr Gottlicher Weißheit Ordnung und alles, was ich j e hette wündschen können, alß Ich j e in der Welt verlohren und finden können [...]

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Auch der folgende Passus (aus Brief Nr. 3) wirft Schlaglichter auf Brecklings eigentümliche Aneignung der Theologia Mystica25 und die darin einbeschlossene Abwehr der akademischen Wissenschaft, vor allem in Gestalt der Kontroverstheologie: [...] Wenn der teuffei einen gelehrten Theologum auff seine Seite bringet, so kan er mehr böses mit Ihm außrichten, alß mit tausend ungelehrten, wie ein wolf unter dem schafskleid alß ein Engel am gefährlichsten alles verführen und morden kan. Unter denen gelehrten die dieses mercken und sich zu Gott kehren, sind viele gradus eruditionis biß sie den Tempel Gottes in Ihnen erreichen, der auch noch 3 gradus hat alß den vorhoff heilige und allerheiligste, wie den gradus biß auff den Thron der weißheit Salomons führen, und 9 gradus biß in apicem Theologiae Mysticae dessen Fastigium ist ein obscurum nihili, ein nichts und todt biß zur höllen mit Christo erniedriget, solche sind der weit verborgen und unbekandt, wie Gold unter der Erden, davon Taulerus cap. 36 Institutionum und im buch von der nachfolge der Armuth Christi und Ich in Christo Mystico Triumphante und Leone Rugiente gehandelt, wie 7 gradus in der Natur gefunden werden, alß Bonum melius optimum, medium et malum pejus Pessimum, so theile ich alle naturgelehrten darnach ab, und stelle sie nach ihren Namen unter jedem grad, dahin sie gehören, in einer Taffei, und die supernaturales auch, so mit ihren oppositis alß divinos bonos meliores optimos, et diabólicos malos pejores pessimos, wie mir nun auß vieler Lection und Durchsuchung aller von der Apostel Zeiten an, viel authores bekand und mein Studium immer in die Polysophiam auch nach meinem astro naturali hineingegangen, so habe fur mir grosse Catalogus davon gemachet, sonderlich weil ich totus mercurialis und ingeniosus war, und wie die Lufft alles obere und untere zusammen fassen und ordnen lernete, so fand ich mir fast alle thüren hierzu auffgeschlossen. Aber das Göttliche Creutz wort Christi zu fassen, da müste Ich umbkehren ein Narr Kind und nichts werden, daß Christus in mir auffgehen das leben liecht weißheit und alles in allen in mir werden möchte, und mir ein unbetrieglich judicium von mir selbst und allen dingen und personen geben möchte, von der zeit an bin Ich der weit unleidlich und auch den besten unerkendlich und mir selbst ein Nulla und nihil geworden, und so unbekandt und larvatus in der weit wandelend finde Ich sensuales, rationales, Phantasticos intellectuales, mentales, conscientiosos, Angélicos, Diabólicos &c., paucissimos spirituales, et absconditos [...]

Indem ich im folgenden nicht so sehr chronologisch, also in der Abfolge der Briefe, als vielmehr systematisch, also im Blick auf Argumentationskomplexe, Brecklings epistolarische Traktate wenigstens umrißhaft zu charakterisieren versuche, erhebt sich vor allem die Frage nach dem Bild, das hier von Thomasius entworfen wird, und nach der Strategie, mit der Breckling

25

Trotz der regen Forschung bewegt sich unsere Kenntnis der diesbezüglichen Überlieferungen, sieht man von wenigen bekannten Autoren ab, durchaus noch an den Rändern des einst historisch und literarisch Tatsächlichen. Davon überzeugt die Lektüre nicht nur des Bibliothekskataloges von Arnold (s. Breymayer [1995]), sondern auch Arnolds Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie: s. hier das »Register der Mystischen und Ascetischen Scribenten/aus dem 16. und 17. Seculi«, S. 486-514, woran sich (ganz aktuell ...) ein Verzeichnis von Schriften »erleuchteter Frauens Personen/aus denen 2. letzten Seculis« anschließt.

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postulativ gemeinsame Überzeugungen und Positionen suggeriert. Es muß deutlich werden, welchen Kreis autoritativer Bezugsfiguren Breckling abschreitet und welche geistlichen >Angebote< er Thomasius unterbreitet. Daraus ergeben sich Anhaltspunkte, die Briefe in Thomasius' >pietistische< Werk- und Lebensphase einzuordnen und zugleich auf die bereits erwähnten Bruchstellen dieser so suggestiv entworfenen Koalition hinzuweisen: auf die Spannungen zwischen dem apokalyptischen Purismus Brecklings und Thomasius' Projekt einer zivilen Gesellschaft der Vernünftigen.

2. Thomasius' verschieden bewertete Annäherung an den Pietismus, wie er sich, durchaus differenziert, in Spener, Francke und Arnold verkörperte, vollzog sich etwa in den Jahren 1694 bis 1699. Brecklings brieflicher Zuspruch illustriert die Gedankenwelt, zu der Thomasius in dieser Zeit eine auffallige Vorliebe entwickelte. Zu Recht hat man in diesem Zusammenhang neben deutlichen Äußerungen der Monatsgespräche und der Abhandlung vom Wesen des Geistes (1699) die skeptischen, ja revisionistischen Betrachtungen in Thomasius' Ausübung der Sittenlehre (1696) beachtet.26 In diesem Schlüsseltext wurde eine prekäre Bilanz gezogen, die Bilanz eines denkgeschichtlichen Scheiterns. Denn Thomasius mußte sich gestehen, daß seine Leitvorstellung der »vernünfftigen Liebe«, Eckpunkt seines frühen sozialethischen Programms, anthropologisch und demnach auch begründungslogisch nicht zu halten war. Indem - nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - Verstandesurteile und Vernunftprinzipien dem Primat des Willens unterstellt wurden, rückte nicht nur die Frage nach der affektiven Prädisposition des Menschen, sondern mehr noch die Frage in den Mittelpunkt, wie denn überhaupt die gewünschte Steuerung moralischen Verhaltens zu garantieren sei. Diese fatale Frage nach den Bedingungen des > Wollen-Könnens< - um nichts anderes ging es - reaktivierte die Implikationen des augustinischen Voluntarismus und berührte so auch die Basisaxiome der pietistischen Pädagogik.27 Hier lag auch einer der intellektuellen Beweggründe für

26 27

Zum folgenden einläßlich Schneiders (1971), spez. S. 226-238. Thomasius'Kompromißlösung kontrastiert-bei ähnlichen anthropologischen Ausgangspunkten - der im Halleschen Pietismus forcierten »Brechung des Eigenwillens« durch Erziehung bzw. dem Aufruf zur Glaubensentscheidung; das ältere Verständnis von Tugend als eines einzuübenden Habitus wird dadurch im Prinzip abgelöst. Thomasius' Kritik an Francke (s. Nebe, S. 355ff.) fand hier wohl einen wichtigen Anhaltspunkt; vgl. zur Willenserziehung bei Francke und Erhard Weigel Schaller (1974), bes. S. 171 f.

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Thomasius' Unterscheidung der verschiedenen »Erzwingbarkeit« moralischen Verhaltens, d.h. für die Differenzierung des Justum einerseits (als Prinzip fìirstenstaatlicher Rechtspflege) und des Honestum und Decorum andererseits (als regulativer Kategorien privater Verbindlichkeiten, die sich als >vemünftignatürlicher< Interessen und >Affekte< (etwa dem Verlangen nach >Glück< und >Friedenphysischen< Sachverhalten zu den >moralischen< Aussagen« bei Thomasius. Zur naturrechtlichen Funktion des Glücksverlangens - wegweisend ins 18. Jahrhundert - vgl. Bühler (1991), S. 18-30. Treffend Engfer (1987), der in Thomasius zwar den Begründer von Aufklärung würdigt, zugleich aber den Intellektuellen, der die spätere Selbstbefragung des Wolffschen Vernunftoptimismus vorwegnimmt.

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Breckling konnte in seinem ersten Brief (12. 7. 1695, TA) die Ausübung der Sittenlehre noch nicht kennen. Was ihn so erfreute, »daß so Ich Flügel gehabt Ich zu Ihnen hinübergeflogen«, war Thomasius' Dialog zwischen »Geist und Fleisch«, also der dialogisch angelegte Traktat mit Oster-Gedanken vom Zorn und der bitteren Schreibart wider sich selbst (1695). 31 Hier bedauerte Thomasius seine harten Attacken gegen die Orthodoxie als Produkt von Zorn und Ehrgeiz, also als Sünden, und versprach Besserung. Brecklings Argumentation steuerte jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Thomasius solle nun nicht - nach gut aristotelischem Schema - in das andere Extrem verfallen. Die »rechte Fortitudo« bestehe in einem «liebreichen Zorn und zorniger Liebe«. Gewiß, persönliche Interessen, in Brecklings paulinischem >CodeFreigeistereirevolutionär< im wörtlichen Sinne verstanden, nämlich als >Umwälzung< »tyrannischer« Herrschaft in Staat, Kirche und Wissenschaft und damit als >ZurückwälzungPazifismus