Christentum und Menschenrechte in Europa: Perspektiven und Debatten in Ost und West 9783631625804, 9783653027112, 3631625804

Der Band geht auf eine internationale Konferenz in Erfurt zurück und ist den aktuellen Beziehungen zwischen Christentum

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Christentum und Menschenrechte in Europa – Interaktionen in Geschichte und Gegenwart: Eine Einführung (Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube)
Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2008 – der institutionelle und ideologische Kontext (Kristina Stoeckl)
The Theological Hermeneutics of The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights (Cyril Hovorun)
Die Grundlagen der Lehre über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen im Kontext der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche (Jennifer Wasmuth)
Die Erklärung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten (Stefan Tobler)
Das Menschenrechtsverständnis der Russischen Orthodoxen Kirche und der Katholischen Kirche – ein Vergleich (Rudolf Uertz)
Kulturphilosophische Anfragen an die russisch-orthodoxe Konzeption der Menschenwürde (Regula M. Zwahlen)
„Orthodoxie, Christentum, Demokratie“: Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten (Alfons Brüning)
Der Europarat als Adressat des Menschenrechtsdiskurses der Kirchen (Katja Richters)
Positionen zu den Menschenrechten in der rumänischen Orthodoxie (Mihai-Dumitru Grigore)
Anerkennung und Theologie der Menschenrechte in der Katholischen Kirche (Ingeborg Gabriel)
Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte: Kirchliche Stellungnahmen zu ausgewählten Menschenrechtsdebatten (Łukasz Fajfer)
Menschenrechte und christliche Tradition – Evangelische Aspekte (Hans G. Ulrich)
Begründung der Menschenrechte jenseits von Religion und Säkularismus? (Evert van der Zweerde)
Autoren- und Autorinnenverzeichnis
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Christentum und Menschenrechte in Europa: Perspektiven und Debatten in Ost und West
 9783631625804, 9783653027112, 3631625804

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Der Band geht auf eine internationale Konferenz in Erfurt zurück und ist den aktuellen Beziehungen zwischen Christentum und Menschenrechten in Europa gewidmet. Die Veröffentlichung der offiziellen Position der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten im Jahre 2008 hat der Diskussion eine neue Dynamik verliehen und intensive Debatten in Ost- und Westeuropa ausgelöst. Die verschiedenen Beiträge behandeln einerseits das russische orthodoxe Dokument zu den Menschenrechten in seinen diversen Dimensionen, sowohl im russischen und breiteren orthodoxen Kontext als auch in seinem Verhältnis zu den westlichen christlichen Kirchen und europäischen säkularen Akteuren und Institutionen. Andererseits werden Positionen zu den Menschenrechten aus katholischer und evangelischer Sicht auf prägnante Weise präsentiert und die Ambivalenzen des modernen Menschenrechtsdiskurses zwischen Säkularismus und Religion thematisiert.

Vasilios N. Makrides lehrt Religionswissenschaft (mit dem Schwerpunkt Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt. Jennifer Wasmuth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Stefan Kube ist Chefredakteur der Monatszeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West“, Zürich.

Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube (Hrsg.) · Christentum und Menschenrechte in Europa

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ERFURTER STUDI EN ZUR KULTURGESCH ICHTE DES ORTHODOXEN CH RISTENTUMS

Vasilios N. Makrides /  Jennifer Wasmuth /  Stefan Kube (Hrsg.)

Christentum und Menschenrechte in Europa Perspektiven und Debatten in Ost und West

www.peterlang.com

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Christentum und Menschenrechte in Europa

ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Herausgegeben von Vasilios N. Makrides

BAND 11

Zu Qualitätssicherung und Peer Review der vorliegenden Publikation Die Qualität der in dieser Reihe erscheinenden Arbeiten wird vor der Publikation durch den Herausgeber der Reihe in Zusammenarbeit mit externen Gutachtern geprüft.

Note on the quality assurance and peer review of this publication Prior to publication, the quality of the works published in this series is reviewed by the editor in collaboration with external referees.

Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube (Hrsg.)

Christentum und Menschenrechte in Europa Perspektiven und Debatten in Ost und West

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ein von der Bulgarischen Orthodoxen Kirche organisierter Aufmarsch (Sonntag, 23. November 2014) in der Stadt Varna für den Erhalt traditioneller christlicher Familienwerte. Die Demonstration richtete sich u.a. gegen die Liberalisierung der Gesetze in der EU bezüglich der Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren und anderen sexuellen Minderheitsgruppen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Riposte catholique. (URL: http://www.riposte-catholique.fr/riposte-catholique-blog/ breves/procession-pour-la-famille-chretienne-a-varna-en-bulgarie)

ISSN 1612-152X ISBN 978-3-631-62580-4 (Print) E-ISBN 978-3-653-02711-2 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-02711-2 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2016 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube Christentum und Menschenrechte in Europa – Interaktionen in Geschichte und Gegenwart: Eine Einführung

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Kristina Stoeckl Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2008 – der institutionelle und ideologische Kontext

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Cyril Hovorun The Theological Hermeneutics of The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights

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Jennifer Wasmuth Die Grundlagen der Lehre über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen im Kontext der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche

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Stefan Tobler Die Erklärung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten

59

Rudolf Uertz Das Menschenrechtsverständnis der Russischen Orthodoxen Kirche und der Katholischen Kirche – ein Vergleich

77

Regula M. Zwahlen Kulturphilosophische Anfragen an die russisch-orthodoxe Konzeption der Menschenwürde

87

Alfons Brüning „Orthodoxie, Christentum, Demokratie“: Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten Katja Richters Der Europarat als Adressat des Menschenrechtsdiskurses der Kirchen

103

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Inhaltsverzeichnis

Mihai-Dumitru Grigore Positionen zu den Menschenrechten in der rumänischen Orthodoxie

137

Ingeborg Gabriel Anerkennung und Theologie der Menschenrechte in der Katholischen Kirche

149

àukasz Fajfer Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte: Kirchliche Stellungnahmen zu ausgewählten Menschenrechtsdebatten

165

Hans G. Ulrich Menschenrechte und christliche Tradition – Evangelische Aspekte

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Evert van der Zweerde Begründung der Menschenrechte jenseits von Religion und Säkularismus?

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Autoren- und Autorinnenverzeichnis

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Vorwort Der vorliegende Sammelband geht auf eine internationale Tagung zurück, die von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. (DGO) in Berlin, dem größten Verbund der Osteuropaforschung im deutsch-sprachigen Raum, und deren Fachgruppe Religion sowie vom Lehrstuhl für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt organisiert wurde. Großzügige finanzielle Unterstützung erfuhr die Tagung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Die Konferenz, an der Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Ländern teilnahmen, fand am 10. und 11. Dezember 2010 in Erfurt statt und widmete sich dem Thema „Christentum und Menschenrechte: Aktuelle Debatten in Ost und West“, ein Thema, das bis heute nicht an Relevanz und Brisanz verloren hat. Die Beiträge und Diskussionen gaben neue Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik der Beziehungen zwischen Christentum und Menschenrechten, besonders in Europa, aber auch im internationalen Vergleich. Daraus erwuchs auch die Idee einer Publikation der Tagungsbeiträge, die mit der vorliegenden Schrift in der Buchreihe „Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums“ nun zugänglich gemacht werden. Leider war es aus verschiedenen Gründen nicht möglich, alle Beiträge der Tagung in einer überarbeiteten, schriftlichen Form zusammenzutragen und in diesem Band aufzunehmen. Dazu gehört zum Beispiel der öffentliche Abendvortrag „Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte“ von Hans Joas (dem damaligen Dekan des Max-Weber-Kollegs in Erfurt), dessen Ideen jedoch im bereits erschienenen, gleichnamigen Buch enthalten sind. Stattdessen konnten die Herausgeber weitere Beiträge von anderen Personen gewinnen, die sich ebenfalls eingehend mit dem gesamten Spektrum befasst haben. Auf diese Weise konnte ein Band zusammengestellt werden, der zum besseren Verständnis der historischen wie aktuellen Problematik der Menschenrechte in Europa im Verhältnis zum Christentum in seinen verschiedenen Dimensionen beizutragen vermag. Was die Erfurter Tagung betrifft: Besonderer Dank gilt der DGO für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Organisation und Durchführung der Tagung. Ein eben solcher Dank gebührt auch der damaligen Mitarbeiterin des Lehrstuhls, Nicole Förster, für ihr Engagement bei der Vorbereitung und organisatorischen Begleitung der Tagung sowie dem Team der Kleinen Synagoge Erfurt für die Bereitstellung der historischen Räumlichkeiten, die der Veranstaltung einen ganz besonderen Rahmen verliehen. Was das vorliegende Buch betrifft: Gedankt sei Dr. Nicolai Staab, Dr. Isabella Schwaderer, Dr. Sebastian Rimestad und Nicole Förster für ihre vielfältige Hilfe in den verschiedenen Phasen bei der Redaktion der Texte und der Erstellung des endgültigen Typoskripts. Die Herausgeber des Bandes haben sich bemüht, die verschiedenen Bei-

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Vorwort

träge zu vereinheitlichen (z.B. in Bezug auf Orthographie, Transliteration oder Übersetzungen), jedoch wurden auch die besonderen Wünsche der jeweiligen Autoren und Autorinnen nach Möglichkeit respektiert.

Erfurt Vasilios N. Makrides

Berlin Jennifer Wasmuth

Zürich Stefan Kube

Christentum und Menschenrechte in Europa – Interaktionen in Geschichte und Gegenwart: Eine Einführung Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube Die Gesamtproblematik Christentum und Menschenrechte in Europa heute – das Thema ist brisant und hochaktuell, obwohl es bereits auf eine lange Vorgeschichte auf diesem Kontinent (und natürlich darüber hinaus) zurückblicken kann. Die dazugehörige Literatur ist dementsprechend kaum mehr zu überblicken. Das Thema selbst hat durch die Entwicklungen in den zurückliegenden Jahrzehnten an Komplexität gewonnen. Denn einerseits kam es in den säkular ausgerichteten, liberalen Demokratien des Westens zu Entscheidungen (wie z.B. der Verabschiedung von Kohabitationsgesetzen und Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare), die auf die Nicht-Diskriminierung sexueller und anderer relevanter Gruppen bzw. Minderheiten in der Gesellschaft abzielen und die von daher einen unmittelbaren Einfluss auf das Thema der individuellen Menschenrechte haben. Andererseits lassen sich etliche, u.a. verschiedene christliche Reaktionen darauf beobachten, die insbesondere im postkommunistischen Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa zu lokalisieren sind und die im modernen säkularen Menschenrechtsdiskurs eine deutliche Gefährdung der traditionellen Moral und Familie sehen wollen. Im Zuge der Annäherung des östlichen Europas an die Europäische Union (EU) werden solche Schwierigkeiten und eventuellen Kompatibilitätsprobleme zunehmend sichtbar. Zieht man noch weitere Dimensionen des Themas in Betracht, wie zum Beispiel die Beziehungen des Islam zu den modernen, hauptsächlich westlich geprägten Menschenrechten, dann werden die damit verbundenen Probleme noch stärker deutlich. Die steigende Präsenz von Muslimen unterschiedlicher Provenienz in Europa stellt in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung des gängigen Menschenrechtsdiskurses dar und führt nicht selten zu erheblichen Konflikten (z.B. in Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit). Da jedoch dieser Band vorrangig das europäische Christentum in den Blick nimmt, werden der Islam sowie andere Religionen hier nicht berücksichtigt. Im europäischen Kontext hat die ganze Thematik eine völlig neue Brisanz mit den „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen“ von 2008 gewonnen. Zusätzlich zu ihrer umfangreichen Sozialkonzeption aus dem Jahre 2000 veröffentlichte die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) damit erstmals eine verbindlich artikulierte und begründete Position zu den Menschenrechten und der Menschwürde. Da bis dato keine solche offizielle Position zum Thema auf orthodoxer Seite vorlag, sondern nur gelegentliche, vereinzelte und unverbindliche Meinungen, wurde dieser Schritt der ROK als ein willkommenes und vielversprechendes Novum von verschiedenen Seiten begrüßt. Mit der Thematik der Menschenrechte

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Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube

hatten sich bisher nur die westlichen Kirchen auf systematische Weise auseinandergesetzt. Sicherlich gibt es etliche Unterschiede zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Rezeptionsgeschichte der Menschenrechte, jedoch haben sich beide Kirchen gründlich und sorgfältig damit befasst und ihre jeweiligen Positionen, Einschätzungen und Vorschläge öffentlich gemacht. Dabei handelte es sich um einen andauernden, ja jahrhundertelangen Prozess, der nicht ohne Spannungen und Konflikte verlief (insbesondere für die Römisch-Katholische Kirche). Im 20. Jahrhundert jedoch kam es zu einer konstruktiven Interaktion der westlichen Kirchen mit den modernen Menschenrechtsideen, was in diesem Band ausführlich thematisiert wird. Vor diesem Hintergrund bietet sich ein Vergleich zwischen den aktuellen Diskussionen und Debatten über die Beziehungen zwischen Christentum und Menschenrechten in Ost- und Westeuropa an. Ein solcher Vergleich führt zu einer Sensibilisierung für die religiös-kulturellen Besonderheiten und Unterschiede zwischen Ost und West wie auch innerhalb der osteuropäischen und hier insbesondere der russischen Gesellschaft. So wird etwa das Recht auf Religionsfreiheit von der ROK nicht in der Weise anerkannt, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschieht, obwohl diese von der Russischen Föderation 1998 ratifiziert worden ist. Dass es nicht selten zu Differenzen und sogar Spannungen zwischen diversen Akteuren kommt, ist dabei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Menschenrechte mit unterschiedlichen Menschenbildern begründet werden. Inwieweit unterschiedliche anthropologische Bestimmungen, aber auch andere weltanschaulich geprägte Faktoren für den kontrovers geführten Diskurs um die Menschenrechte maßgeblich sind, wird in den nachfolgenden Beiträgen eingehend thematisiert.

Die Beiträge Von den insgesamt dreizehn Beiträgen im vorliegenden Sammelband befassen sich die meisten mit unterschiedlichen Aspekten der Beziehung zwischen russischer Orthodoxie und Menschenrechten, vor allem im postsowjetischen Russland. Diese Fokussierung erklärt sich aus dem Umstand der vielfältigen interkonfessionellen Diskussionen und Debatten, die das oben erwähnte Dokument der ROK von 2008 bis heute ausgelöst hat. Die Situation in anderen orthodoxen Kontexten (z.B. in Rumänien) wird jedoch auch behandelt und ermöglicht einen Vergleich mit dem Diskurs in Russland. Weitere Beiträge in dem Band nehmen das westliche Europa in den Blick und behandeln die römisch-katholische und evangelische Thematisierung von Menschenrechten. Dies geschieht entweder auf überblicksartige, generelle Weise oder bezogen auf konkrete Situationen, wie z.B. im katholischen Polen. Schließlich gibt es Beiträge, die die Menschenrechtsthematik im Spannungsfeld zwischen Religion und Säkularität beleuchten oder in Bezug auf die Rolle der christlichen Kirchen einschließlich der ROK in den Menschenrechtsdebatten im Europarat. Im ersten Beitrag untersucht KRISTINA STOECKL den institutionellen Rahmen und den ideologischen Hintergrund des offiziellen Dokumentes der ROK von 2008

Christentum und Menschenrechte in Europa: eine Einführung

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„Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen“ näher. Stöckl ist mit dem Menschenrechtsdiskurs der ROK bestens vertraut und hat sich hier eine Detailkenntnis erworben, was auch in ihrem jetzigen Beitrag deutlich wird. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zeit vor 2008, nämlich die Jahre zwischen 1999 und 2008, um die Haltung der ROK in einem weiteren zeitlichen Rahmen verorten und entsprechend deuten zu können. Sie dokumentiert die Entwicklungen innerhalb der ROK bezüglich des Menschenrechtsdiskurses sowie die dadurch entstandenen Veränderungen und Anpassungen der jeweiligen Positionen, so dass sich die Wandlungen im Selbstverständnis der ROK erkennen lassen. Stöckls Fazit ist, dass die ROK ihre Position zu den Menschenrechten während dieser langen Periode schrittweise geändert hat, auch wenn diese Wandlung innerhalb konservativer orthodoxer kirchlicher Eliten als umstritten und widersprüchlich galt. Dieser Prozess beinhaltete Stöckl zufolge eine kontrollierte Öffnung zum kulturellen Erbe des Westens einschließlich der laufenden Debatten um Werte und deren Begründung. Gleichzeitig bemühte sich jedoch die ROK, eine eigene, davon unabhängige Position zu artikulieren und publik zu machen, die sie als „Verteidigung traditioneller Werte“ definierte. Die Haltung der ROK zu den Menschenrechten ist daher eine ambivalente und zwiespältige, zumal sie mit dem Versuch dieser Kirche einhergeht, wieder als signifikante internationale Akteurin an Einfluss zu gewinnen und die orthodoxe Welt richtungsweisend in das 3. Jahrtausend zu geleiten. Das Menschenrechtsdokument ist Stöckl zufolge weniger für die innerkirchliche Klärung und Lehrbildung konzipiert, als vielmehr als Instrument kirchlicher Außenpolitik und internationaler Präsenz zu verstehen. Der nächste, in englischer Sprache verfasste Beitrag von CYRIL HOVORUN ermöglicht aus einer Binnenperspektive Einblick in den theologischen Hintergrund und den Entstehungsprozess des russischen Dokuments zu den Menschenrechten: Hovorun war selbst Mitglied der Arbeitsgruppe des Patriarchats von Moskau, die das Dokument in erster Instanz konzipierte, gestaltete und ausformulierte. Seiner Meinung nach sind für das Dokument zwei Aspekte bestimmend, ein politischer und ein theologischer. Hovorun konzentriert sich in seinem Beitrag mehr auf den theologischen Aspekt, für den er in der Arbeitsgruppe verantwortlich war. Einer der zentralen theologischen Gedanken dieses Dokuments ist demnach die Unterscheidung zwischen der unveräußerlichen Würde der menschlichen Natur und dem Ideal des würdigen Lebens einer Person nach orthodox-christlicher Auffassung. Darüber hinaus werde in dem Dokument fundamental zwischen zwei Freiheitskonzepten unterschieden, die zugleich aufeinander bezogen zu denken sind: einem Freiheitskonzept als bloßer Wahlmöglichkeit und einem Freiheitskonzept als Befreiung von der Sünde und als Leben in der Liebe zu Gott. Hovorun zufolge stellt das Menschenrechtsdokument eine auf der christlichen Tradition fußende Begründung und damit auch prinzipielle Akzeptanz der Menschenrechtsidee dar. Im nachfolgenden Kapitel widmet sich die Mitherausgeberin des Bandes und evangelische Theologin JENNIFER WASMUTH ihrerseits dem Menschenrechtsdokument, jedoch aus einer anderen Perspektive. Sie interessiert sich nicht nur für das Dokument an sich, sondern zieht auch ein früheres und viel ausführlicheres Dokument

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Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube

heran, nämlich die „Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche“ aus dem Jahr 2000, um die Position der ROK in beiden Dokumenten miteinander zu vergleichen. Hervorgehoben wird, dass im Unterschied zum Diskurs in den Kirchen des Westens die ROK die erste Orthodoxe Kirche überhaupt ist, die solche offiziellen und verbindlichen Texte zur Menschenrechtsthematik veröffentlicht hat. In dem Dokument von 2000, das einer orthodoxen „Soziallehre“ gleichzusetzen ist, ist dabei interessanterweise die Einstellung gegenüber den Menschenrechten durchaus positiv. Sie werden als auf der biblischen und patristischen Tradition verankert betrachtet. In dem Dokument von 2008 hingegen werden die Unterschiede zum Westen manifester, indem die aus Sicht der ROK problematischen Aspekte des gängigen Menschenrechtsdiskurses benannt werden, insbesondere das moderne humanistische und säkulare Verständnis der Menschenrechte. Das Dokument von 2008 setzt Wasmuth zufolge bei diesem kritischen Verständnis der Menschenrechte an und verpflichtet diese in viel stärkerem Maße als die „Grundlagen der Sozialkonzeption“ auf die „christlichen Werte“, wodurch die Differenz von christlicher Ethik und weltlichem Recht tendenziell unterlaufen werde. Schließlich greift Wasmuth die Frage auf, an wen diese beiden Dokumente adressiert sind, und gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass beide Dokumente primär als Richtlinien für orthodoxe Geistliche und Laien zu verstehen sind und moraltheologische Anliegen verfolgen. Die Hauptadressaten sind mithin die eigenen orthodoxen Kirchenmitglieder, die dadurch eine entsprechende Unterweisung und Orientierung bekommen sollen. Eine derartige Lektüre der beiden Dokumente – so Wasmuth – kann etlichen Missverständnissen vorbeugen. Die Nachwirkungen der Erklärung der ROK zu den Menschenrechten von 2008 stehen im Zentrum des Beitrags von STEFAN TOBLER. Die daraus entstandenen interkonfessionellen Diskussionen, Dialoge und Debatten (insbesondere zwischen Vertretern orthodoxer und evangelischer Kirchen) betrachtet er nicht nur als informativ und konstruktiv. Sie sind Tobler zufolge vielmehr von etlichen Missverständnissen, Divergenzen und sogar Polemiken begleitet, die oft am jeweiligen Gesprächspartner vorbeizielen. Tobler unterzieht sich in seinem Beitrag der Mühe, eine gemeinsame Grundlage für die unterschiedlichen Perspektiven zu finden, um den Dialog auf konstruktive Weise fortsetzen zu können. Dies führt einerseits zur Einsicht in Gemeinsamkeiten zwischen orthodoxen und evangelischen Positionen, aber andererseits auch zum Verständnis dessen, wo tatsächlich Konfliktlinien verlaufen. Beispielsweise ist der Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen und vor dem Anpassungsdruck der Mehrheit Tobler zufolge ein kostbares Gut, das die evangelische Ethik unbedingt verteidigen müsse. Es geht um eine zentrale Errungenschaft der Moderne, die durch die Betonung der kollektiven oder kulturellen Rechte (u.a. seitens orthodoxer Akteure) nicht verloren gehen dürfe. Für Tobler zeigt sich hier deutlich die besondere Verbindung der gesamten evangelischen Tradition mit dem Individualisierungsprozess in der Neuzeit und der Moderne, der auch mit den modernen Menschenrechten in enger Verbindung steht. Gerade dieser Prozess gilt jedoch für viele orthodoxe Akteure in vielerlei Hinsicht als problematisch.

Christentum und Menschenrechte in Europa: eine Einführung

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RUDOLF UERTZ, ein Spezialist im Bereich der katholischen Soziallehre und Mitherausgeber einer vielzitierten deutschen Übersetzung der o.g. Dokumente der ROK von 2000 und 2008, beleuchtet in seinem Beitrag einen weiteren wichtigen Aspekt des Themas, indem er das Menschenrechtsverständnis der ROK mit dem der RömischKatholischen Kirche vergleicht. Uertz zufolge hat die ROK mit ihrer Sozialkonzeption von 2000 den interkonfessionellen Dialog in diesem Bereich angeregt. Wie das Symphoniemodell der ROK setze auch das katholische Kooperationsmodell von Kirche und Staat ein religiös homogenes Gemeinwesen voraus, das es aufgrund der inzwischen erfolgten Säkularisierung moderner Staatlichkeitsformen jedoch nicht mehr gibt. Anders als die ROK habe jedoch die Römisch-Katholische Kirche – trotz früherer Vorbehalte – seit der Revision ihrer Soziallehre nach dem II. Vatikanischem Konzil (1962–1965) die Religionsfreiheit und die Menschenrechte als Grundlage demokratisch-rechtsstaatlicher Ordnung anerkannt. Genau hier sind für Uertz die Unterschiede zum Orthodoxen Christentum unübersehbar. Dabei macht Uertz deutlich, dass sich gegenwärtig an die ROK ähnliche Fragen stellen, wie sie einst, vor dem durch das II. Vatikanische Konzil eingeleiteten Paradigmenwechsel und der durch Papst Johannes XXIII. im Jahre 1963 ausgesprochenen Anerkennung der Menschenrechte, von katholischen Politikern, Juristen und Sozialphilosophen an die katholische Amtskirche gerichtet wurden. Eine für die Anerkennung der Menschenrechte grundlegende Differenz markiert Uertz in der Erbsündenlehre, die nach katholischem Verständnis eine in sittlicher Hinsicht größere Autonomie des Individuums als nach orthodoxem Verständnis zulasse. Im anschließenden Beitrag unternimmt REGULA ZWAHLEN eine kulturphilosophische Betrachtung und Erkundigung des Menschrechtskonzeptes der ROK auf der Basis des Dokuments von 2008 sowie auf der Grundlage von Überlegungen zum interkulturellen Diskurs der Menschenrechte, die der Philosoph Jürgen Habermas in Reaktion auf aus asiatischen Kulturen stammende Kritik an den Menschenrechten formuliert hat. Für Zwahlen ist offenkundig, dass sich das Dokument der ROK hauptsächlich auf die Verantwortung und die Pflichten des Menschen gegenüber der Gesellschaft sowie auf traditionelle moralische Normen und nicht auf individuelle Menschenrechte und Freiheiten konzentriert. Insofern spiegle das Dokument die jahrhundertelangen Debatten in Europa über die richtige Balance zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Werten wider. Eine derartige Fokussierung des Dokuments der ROK begünstigt laut Zwahlen einen kulturellen Relativismus und ignoriert den soziohistorischen Kontext, der zu der Menschenrechtserklärung der Vereinigten Nationen von 1948 geführt habe. Das Dokument der ROK mache sich mithin eine Definition der Menschenwürde als einem moralischen Konzept der Autonomie des Individuums nicht zu eigen. Vier zentrale Anfragen der ROK an das Menschenrechtsverständnis greift Zwahlen dabei auf, um sie jeweils zu widerlegen: erstens, die Kritik an einer Überbetonung der subjektiven Rechte des Individuums, die dem Gemeinschaftsgedanken und der Pflichtenethik zuwiderlaufe. Zwahlen macht demgegenüber geltend, dass die subjektiven Rechte gerade die Legitimität der Autoritäten stärken, auf denen die Gemeinschaft beruhe. Die Menschenrechte zielten nicht auf die Pflicht des Individuums,

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sondern auf die des Staates, die Rechte der Bürger zu wahren. Gegen die Kritik, dass die Menschenrechte ein westliches Konstrukt seien, wendet Zwahlen zweitens ein, dass die ROK mit Verweis auf die „traditionellen Werte“ selbst kulturrelativistisch argumentiere und deshalb ihre Kritik offenkundig nicht in normativer, sondern in strategischer Absicht erfolge. Die Kritik, drittens, dass die Betonung der Menschenrechte im Unterschied zur Konsensorientierung der „traditionellen russischen Kultur“ Konflikte fördere, weist Zwahlen mit dem Hinweis zurück, dass die Menschenrechte das Recht auf Teilhabe an Gemeinschaft artikulieren. Der Kritik, viertens, dass die Menschenrechte sich als säkulares Toleranzprinzip gegen den Wahrheitsanspruch religiöser Bekenntnisse und Lebensformen richten, stellt Zwahlen entgegen, dass die Menschenrechte gerade auf deren gleichberechtigte Koexistenz innerhalb eines politischen Gemeinwesens dringen. Sie weist daher nochmal auf die vielmals besprochenen Differenzen zwischen dem russischen orthodoxen und dem gängigen Menschenrechtskonzept hin. ALFONS BRÜNING geht in seinem Beitrag auf die Einstellung einzelner russischer orthodoxer Geistlicher gegenüber den Menschenrechten ein: Wie verhalten sich solche Akteure in konkreten Situationen, die unmittelbar die Menschenrechte betreffen? Brüning geht von drei Generationen von Geistlichen aus (Dissidenten aus sowjetischer Zeit, widerständische Intellektuelle, postsowjetische Akteure), um die multidimensionale Rezeption von Menschenrechtsideen unter ihnen aufzuzeigen. Konkret geht es um die Gemeindepriester Pavel Adel’geim aus Pskov und Veniamin Novik aus St. Petersburg, die zwei von den erwähnten drei Generationen repräsentieren und die sich beide als Menschenrechtsaktivisten in Russland einen Namen gemacht haben. An ihrem Beispiel zeigt Brüning nicht nur, dass die Bezugnahme auf die Menschenrechte in den unterschiedlichen Generationen der Gemeindepriester variiert – Adel’geim und Novik teilen beide vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit dem totalitären Staatsund Gesellschaftssystem der Sowjetunion die positive Einschätzung der Menschenrechte als Schutzrechte. Vielmehr führt ihr Beispiel auch vor Augen, dass die im westlichen Kontext oftmals begegnende Frontstellung von Menschenrechtsaktivisten auf der einen und der ROK auf der anderen Seite sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend erweist. Wenn Gemeindepriester wie Adel’geim und Novik auch eine Minderheit in ihrer Kirche repräsentieren, so finden sie doch in Russland vielfach Gehör. Gemeinsam und zentral in beiden Fällen sind die Betonung der Institutionalisierung der als objektiv verstandenen Menschenrechte sowie eine elaborierte theologische Argumentation zugunsten von Menschenrechten, verbunden mit der hohen Wertschätzung der pastoralen Arbeit eines Priesters und einem besonderen Konzept von russischem Patriotismus. All dies ermöglichte solchen Geistlichen, als Menschenrechtsaktivisten in der russischen Gesellschaft aufzutreten und positiv wahrgenommen zu werden. KATJA RICHTERS stellt die Sicht der ROK auf die Menschenrechtspolitik des Europarats wie auch die Reaktion des Europarats auf die Bemühungen von religiösen und kirchlichen Institutionen, die Menschenrechtsdebatte mitzugestalten, in den Mit-

Christentum und Menschenrechte in Europa: eine Einführung

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telpunkt ihres Beitrags. Sie erläutert, wie sich die ROK auf die Religions- und Meinungsfreiheit beruft, um Mitspracherechte für Christen beim Europarat einzuklagen. Demgegenüber sehe der Europarat organisierte Religion als einen Faktor an, der Konfliktpotential mit sich bringt und der deshalb mit großer Vorsicht zu behandeln sei. Richters geht auf die Bestrebungen der ROK ein, im heutigen internationalen Kontext an Einfluss zu gewinnen, obwohl die Positionen der ROK zu den Menschenrechten generell als umstritten gelten. Als Anliegen von säkularen internationalen Organisationen wird demgegenüber deutlich gemacht, gemäß einer bestimmten westlichen StaatKirche-Tradition die eigene Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber kirchlichen Beeinflussungen oder Vereinnahmungen bewahren zu wollen. Dies zeige sich nicht nur gegenüber der ROK, deren Haltung oftmals mit Misstrauen begegnet werde, sondern auch gegenüber den westlichen Kirchen und Religionen überhaupt. Anhand der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zeigt Richters auf, dass die meisten Verletzungen der Religionsfreiheit in Russland auf die Anwendung des 1997 erlassenen Religionsgesetzes zurückzuführen sind. Als Grund für Verletzungen der Menschenrechte und hier insbesondere auch der Religionsfreiheit sei eine „kulturelle Präferenz“ anzusehen, die sich negativ auf die Achtung der Menschenrechte auswirke. Konkret mangele es in Russland oft an juristischem Sachverstand, um die Europäische Menschenrechtskonvention sachgerecht anzuwenden. In einem weiteren Beitrag lenkt MIHAI-DUMITRU GRIGORE die Aufmerksamkeit auf ein anderes, mehrheitlich orthodoxes Land, nämlich Rumänien, das ebenfalls lange Zeit unter kommunistischer Herrschaft stand und das seit 2007 Mitglied der EU ist. Im Falle Rumäniens wie auch anderer mehrheitlich orthodoxer Länder gibt es bisher keine offizielle und verbindliche Position der jeweiligen Orthodoxen Kirche gegenüber den Menschenrechten, wie dies in Russland der Fall ist. Grigore unterstreicht daher die Tatsache, dass die Rumänische Orthodoxe Kirche – im Gegensatz zu der Russischen – eine weniger systematische und programmatische Stellungnahme zu den Menschenrechten einnimmt. Diese ist von einem Pragmatismus und einer entsprechenden Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet, die je nach Kontext und Thema anders zur Geltung kommen, von Fragen der Bioethik bis hin zu Maßnahmen gegen die Ausbeutung von Migranten. Um dies zu verdeutlichen, unterzieht Grigore das Dokument der ROK und verschiedene Verlautbarungen der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche einem Vergleich und untersucht die jeweils angeführten theologischen Begründungen und Argumentationsweisen. In seinen Konkretionen geht Grigore u.a. auf die Position der Rumänischen Orthodoxen Kirche zum Schwangerschaftsabbruch wie auch zum Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg ein. Aus Sicht der Rumänischen Orthodoxen Kirche bedeutete zum Beispiel das Straßburger Urteil eine Profanierung von religiösen Symbolen und ließ sich auch nicht mit dem Verweis auf die Religionsfreiheit rechtfertigen. Die orthodoxe Unzufriedenheit mit dem säkularen Hintergrund europäischer Institutionen und Akteure sowie gegenwärtiger Entwicklungen wird hier noch einmal offenkundig.

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Die weiteren Beiträge des Sammelbandes nehmen römisch-katholische und evangelische Menschenrechtskonzeptionen in den Blick und ermöglichen so einen Vergleich mit der orthodoxen Behandlung des Themas. Im ersten Beitrag dieser Gruppe bietet INGEBORG GABRIEL einen instruktiven Überblick über die Entwicklungen in der Römisch-Katholischen Kirche der letzten Jahrhunderte, die schließlich zur Anerkennung der theologischen Legitimität der Menschenrechte geführt haben. Tatsächlich rang die Römisch-Katholische Kirche über einen langen Zeitraum mit diesen Fragen und wurde zur Zielscheibe einer stark soziopolitischen Kritik von mehreren Seiten. Einerseits zwangen die säkularistischen Exzesse der Französischen Revolution die Kirche in die Defensive. Andererseits wurde die Moderne kirchlicherseits kritisch betrachtet, weil insbesondere das Recht auf Religionsfreiheit mit dem traditionellen Status einer Staatskirche kollidierte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts jedoch und im Gefolge der Erfahrungen mit verschiedenen Formen des Totalitarismus hat sich die katholische Position grundlegend verändert, vor allem mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes und der Erklärung zur Religionsfreiheit Dignitatis humanae des II. Vatikanums. Diese bahnbrechenden Dokumente führten eine neue theologische Argumentationslinie ein, nach der bürgerliche Freiheiten als notwendige und unveräußerliche Basis einer Gesellschaft mit einem humanen Gesicht aufzufassen sind. Theologisch wurde die Idee der universalen und unverlierbaren Menschenwürde mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen. 1, 27) begründet. Gabriel betont, dass diese theologische Begründung der Menschenrechte durch weitere theologische Überlegungen und Beweisführungen in den nachfolgenden Jahren innerhalb der Römisch-Katholischen Kirche noch gestützt wurde. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise die These vertreten, dass die Menschenrechte in der Moderne einen zentralen Platz im christlichen Ethos der Gerechtigkeit einzunehmen vermögen. Darüber hinaus wurde der eschatologische Rahmen der theologischen Begründung der Menschenrechte betont, der verspricht, dass die temporäre soziopolitische Ordnung durch die Gerechtigkeit des Reiches Gottes künftig vervollständigt wird. All dies führte nach Gabriel schließlich dazu, dass sich die Römisch-Katholische Kirche als internationale Großorganisation seit den 1960er Jahren verstärkt für die Durchsetzung der Menschenrechte eingesetzt hat. In kritischer Auseinandersetzung mit den orthodoxen Einwänden gegen die modernen Menschenrechtsideen (z.B. Theozentrik vs. Anthropozentrik, Individualismus vs. Gemeinschaftlichkeit) hebt Gabriel einerseits die tiefe biblische und transzendente Fundierung der Menschenrechte hervor, warnt aber andererseits auch vor einer Hypertrophie des Menschenrechtskonzepts und damit verbundenen übertriebenen Erwartungen. àUKASZ FAJFER konzentriert sich in seinem Beitrag auf den spezifischen Kontext Polens, ein mehrheitlich katholisches Land, das lange Zeit unter kommunistischer Herrschaft stand. Aus diesem Grund weist der polnische Katholizismus zum Teil andere Aspekte als der Katholizismus in Westeuropa auf, was nicht zuletzt im Bereich der Menschenrechte deutlich zu beobachten ist. Die Kirche in Polen hatte nach der politischen Wende gewisse Schwierigkeiten, ihren Platz in einer sich zunehmend pluralisierenden Welt zu finden. Vor allem dem verstorbenen Papst Johannes Paul II.

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ist es zu verdanken, dass sich die Kirche in Polen Menschenrechtsfragen geöffnet hat. Kritik übte die Kirche in den letzten Jahren vor allem an der Grundrechtscharta der EU, da deren Aussagen bezüglich Ehe, Familie und des Schutzes des ungeborenen Lebens aus Sicht der Kirche nicht hinreichend deutlich waren. Nach einem Überblick über die kirchliche Situation in Polen untersucht Fajfer genauer die diversen Haltungen und Strategien der Kirche gegenüber den Menschenrechten und zwar in den folgenden drei Bereichen: rechtliche Debatten um Reproduktionsmedizin, Rechte von sexuellen Minderheiten und das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei der kirchlichen Rhetorik. Der Einfluss der Römisch-Katholischen Kirche auf die Menschenrechtsdebatten ist zwar nach Fajfer bedeutend, doch hat er gleichzeitig klare Grenzen und sollte nicht überschätzt werden, tendenziell gehe der Einfluss sogar eher noch zurück. Der Fall Polen ist insofern besonders interessant, als er die Vielfalt der gegenwärtigen katholischen Positionen zu den Menschenrechten zutage fördert. Darüber hinaus zeigt er, dass der Reformgeist und das aggiornamento des II. Vatikanums in den diversen katholischen Kontexten unterschiedlich aufgenommen wurden. In einem weiteren Beitrag greift HANS G. ULRICH das Thema der Menschenrechte aus der Perspektive der evangelischen Ethik auf. Ulrich zufolge ist neben inhaltlichen Parallelen zwischen Menschenrechten und christlichem Ethos entscheidend, dass die Wahrung und Geltung der Menschenrechte in einer Ethik der Rechtspraxis verankert ist. Dies ist begründet in der politischen Theorie, wonach Menschen als Bürger immer einer Rechtsgemeinschaft angehören müssen und als solche gleiche Rechte haben. Das christliche Ethos wird als genuin politisches bestimmt, als ein Ethos nämlich, das die Institution des Politischen voraussetzt. Jenseits oder außerhalb dieser Wirklichkeit kann keine Ethik oder Moral verortet sein. Daher darf es keinen Ausnahmezustand geben, in dem Menschen von anderen Menschen fundamental abhängig werden oder nicht die gleiche Rechtsprechung erfahren. Es kann also keine menschliche Macht geben, die über der Praxis der Gerechtigkeit im Medium des Rechts steht, denn die rechtsetzende Gewalt ist Gott allein vorbehalten. Dies entspricht laut Ulrich der theologischen Unterscheidung von Gottesrecht und Menschenrecht, die nicht aufgelöst werden darf, woran unter anderem die Barmer Theologische Erklärung von 1934 erinnert. Christen als Bürger können Gottesdienst als politischen Gottesdienst feiern, indem sie von Gottes Gerechtigkeit hören und sein Urteil erfahren. In einem solchen Gottesdienst als zentralem ökumenischem Forum können sich die Christen, trotz ihres verschiedenen Zugangs zu den Menschenrechten, treffen und ihre Gemeinsamkeiten finden. Der Schutz von Bürgerrechten setzt auch die Erhaltung der Bedingungen für die Ausübung von Rechten und die Wahrung entsprechender Institutionen voraus. Dies schließt dementsprechend ein, dass substantielle Kennzeichen menschlicher Existenz (conditio humana) und entsprechende Rechte auch zu wahren sind. Ulrich wirbt schließlich dafür, die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen in die Menschenrechtsdebatte einzubringen, um schließlich in einen konstruktiven Verständigungsprozess eintreten zu können.

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Im letzten Beitrag des Sammelbandes unternimmt EVERT VAN DER ZWEERDE eine breitere politisch-philosophische Betrachtung der Menschenrechtsproblematik und deren Begründung jenseits von Religion und Säkularismus. Es handelt sich um eine kritische Bestandsaufnahme des Themas entgegen der weit verbreiteten Ansicht, die modernen Menschenrechte seien selbstverständlich, normativ korrekt und mit legalen Mitteln durchzusetzen. Van der Zweerde versucht dieser Ansicht entgegenzuwirken, indem er ein mehr politisch fundiertes Verständnis von Menschenrechten zugrunde legt. Er geht von der Idee Hannah Arendts und Claude Leforts über das „Recht, über Rechte zu verfügen“ aus und meint, alle Menschenrechtsansprüche müssten auf einer überzeugenden Argumentationsbasis verankert werden. Dies impliziert die Notwendigkeit einer gemäßigten Haltung, wenn es um die „Begründung“ von Menschenrechten geht, was von Kwame A. Appiah und Jacques Maritain treffend beschrieben worden sei. Wenn man ferner die Debatten über Menschenrechte in der orthodoxen Welt, die gegensätzlichen Konzepte von Säkularität und Sakralität und die Beziehungen zwischen Begründung und Motivation der Menschenrechte näher betrachtet, dann lässt sich laut Van der Zweerde der Nutzen eines primär politischen Verständnisses von Menschenrechten besser erkennen. Zu dem gleichen Ergebnis gelange man, wenn man die Vulnerabilität menschlichen Daseins sowie dessen Begrenztheit und Endlichkeit in Betracht ziehe. Im Endeffekt müssten die Menschenrechte als unveräußerlich und unverletzbar erklärt werden, gerade weil sie in der Praxis veräußerlich und verletzbar sind. Die Ausformulierung und Begründung konkreter Menschenrechte ist vor diesem komplexen Hintergrund als ein unabgeschlossener Prozess zu betrachten, zu dem auch die christlichen Kirchen mit ihren jeweiligen Traditionen beitragen könnten. Was das Orthodoxe Christentum (insbesondere die ROK) betrifft, unterscheidet es sich nach Van der Zweerde wesentlich von den Positionen der westlichen Kirchen, was seiner Meinung nach jedoch nicht bedeutet, dass dieser historische Zweig des Christentums damit von der Diskussion um die Menschenrechte ausgeschlossen werden sollte. Offenheit, Toleranz und Perspektivenreichtum seien vielmehr auch in diesem Bereich gefordert. Kein Akteur, weder säkular oder religiös, könne in Bezug auf die Begründung der Menschenrechte Monopol- und Exklusivansprüche erheben, daher sei Dialogbereitschaft absolut unerlässlich.

Schlussbemerkungen In Anbetracht der Fülle an Perspektiven und Informationen der obigen Beiträge und der breiten Kontextualisierung des Themas sind am Ende dieser Einführung einige allgemeine Bemerkungen notwendig, um einige Kernaspekte des Themas noch einmal genauer in den Blick zu nehmen: Erstens: Die heute global geführte Diskussion um die Menschenrechte als einer politisch-rechtlichen Kategorie bezieht sich in erster Linie und vorwiegend auf den offiziellen und als universell geltenden Menschenrechtsdiskurs und zwar auf der Basis der

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entsprechenden Erklärung der Vereinten Nationen von 1948 und der Europäischen Konvention für Menschenrechte von 1950 (in Kraft seit 1953). An dieser Diskussion sind sehr unterschiedliche Akteure auf staatlicher, institutioneller, gesellschaftlicher und kultureller Ebene beteiligt, darunter auch zahlreiche religiöse und insbesondere christliche Akteure unterschiedlicher Provenienz. Wirft man einen näheren Blick auf die Vorgeschichte dieses ganzen Diskurses, dann wird sofort erkennbar, dass er mit Entwicklungen eng verbunden ist, die insbesondere in Westeuropa bzw. im Westen seit dem Beginn der Neuzeit stattgefunden haben. Trotz mehrfacher Kritik an dieser Genealogie ist eine solche Feststellung nicht einfach von der Hand zu weisen. Zwar ist heute sehr oft die Rede von den geistigen, religiösen und anderen potenziellen Quellen der Menschenrechte, die in früheren Epochen (z.B. im antiken Griechenland und Rom oder im jüdisch-christlichen Kontext) anzusiedeln wären. Dessen ungeachtet sind die entscheidenden und sogar bahnbrechenden Umbrüche, die zur Ausgestaltung des gängigen Menschenrechtsdiskurses geführt haben, in der neuzeitlichen und modernen westlichen Welt zu verorten. Um einige Beispiele zu nennen: im intellektuellen Bereich die Strömungen des Humanismus und der Aufklärung mit dem grundlegenden Konzept des Naturrechts und den Beiträgen von Denkern wie Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Baruch Spinoza, John Locke, Hugo Grotius, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant im 17. und 18. Jahrhundert; im politischen Bereich die Verabschiedung der „Bill of Rights“ von 1689, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Menschenrechtsdeklarationen der Französischen Revolution von 1789 und 1791 sowie die Entwicklungen hin zur Trennung von Staat und Kirche, der religiösen Neutralität des Staates und der Etablierung einer entsprechenden Säkularität in der Gesellschaft; im kulturellen Bereich der zunehmende Individualisierungsprozess. Weitere Entwicklungen im 20. Jahrhundert, entweder auf institutioneller (z.B. im Europäischen Parlament und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg) oder auf intellektueller Ebene (z.B. Theorien von politischen Philosophen wie John Rawls, Ronald Dworkin, Michael Sandel, Charles Taylor oder Jürgen Habermas und damit verbundene Debatte um Liberalismus und Kommunitarismus) zeugen wiederum von diesem – zumindest historisch gesehen – westlich geprägten Charakter des modernen und dominanten Menschenrechtsdiskurses. Obwohl die westliche Provenienz dieses Diskurses heute nicht als essentialistisch, monistisch, ideologisch oder zivilisationsmissionarisch begriffen wird, stellt sie trotzdem ein Hindernis für die meisten nicht-westlichen Kulturen und Akteure dar. Es ist daher kein Zufall, dass nicht-westliche Akteure heute, darunter auch orthodoxe, diese historische Verbindung zwischen Westeuropa/Westen und den modernen Menschenrechten als gegeben und teilweise als problematisch erachten. Die russische orthodoxe Position dazu und die damit verbundene Kritik an den modernen Menschenrechten unterstreichen dies. Trotz der UNO-Erklärung zu den Menschenrechten von 1948, die beispielhaft für die gemeinsame Artikulation vielfältig beteiligter Wertetraditionen steht und insofern das Ergebnis einer „Wertegeneralisierung“ (Talcott Parsons) darstellt, konnten die Menschenrechte in orthodox geprägten Ländern und Kulturen bisher nicht als eigenes Narrativ integriert werden, sondern werden vielfach als westliches

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ideologisches Konstrukt wahrgenommen. Ähnliches trifft mutatis mutandis für die islamische Welt zu. Zweitens: Es stellt sich nun zwangsläufig die Frage nach der Existenz von anderen, außerwestlichen und außereuropäischen Menschenrechtsideen, die eventuell zum heutigen globalen Diskurs bereits beigetragen haben oder künftig beitragen könnten. Dieses Thema wurde in diesem Sammelband nicht oder nur am Rande behandelt, jedoch ist es mit dem ersten Punkt sehr eng verbunden. Hat in der Tat der oben skizzierte, dominante und stark von westeuropäischen/westlichen Entwicklungen beeinflusste Menschenrechtsdiskurs universelle Anwendbarkeit und Gültigkeit? Die Universalitätsansprüche dieses Diskurses, und zwar im Rahmen der umfangreichen westeuropäischen weltweiten Expansion, sorgen bis heute für erhebliche Debatten, Kritiken und Reaktionen. Im heutigen postmodernen und postkolonialen Diskussionsrahmen werden solche Ansprüche fast immer als imperialistisch und eurozentrisch angeprangert, obwohl hier zwischen Ost- und Westeuropa, auch in religiöser Hinsicht, in der Regel nicht unterschieden wird. Eng damit verbunden ist die Debatte über den Universalismus und Kulturrelativismus von Werten. Demzufolge wird heute die Menschenrechtsthematik in vielerlei Hinsicht breiter konzeptualisiert als zuvor und zwar anhand von Quellen, die nicht ausschließlich aus der westlichen Tradition stammen (z.B. aus dem Islam oder ostasiatischen Kulturtraditionen). Zu erwähnen ist außerdem, dass die modernen Menschenrechtsideen innerhalb der westlichen Welt selbst nicht mehr als eine normative Selbstverständlichkeit angenommen werden. Sie beinhalten eine Fülle von Widersprüchen und werden ständig aufs Neue in Frage gestellt. Alle Konzepte von Menschenrechten sind daher einer ständigen Reflexion zu unterziehen – dies ist unter anderem Van der Zweerdes Beitrag deutlich zu entnehmen. Die Konzeptualisierung von Menschenrechten wird darüber hinaus oftmals auf jeweils eigene Weise unternommen, etwa für die islamische Welt, die immer wieder in enger, wenn auch konfliktträchtiger Beziehung zur westlichen Welt steht. Solche Entwicklungen mögen vielleicht für das heutige globale Zeitalter verständlich, nachvollziehbar und vielleicht sogar unerlässlich sein, doch sollten dabei die bereits erwähnten, stark westlich geprägten historischen Ursprünge des gesamten modernen Diskurses nicht in Vergessenheit geraten. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Menschenrechtsthematik auf verschiedenen Ebenen zu beobachten und zu untersuchen ist, wie auch einige Beiträge dieses Sammelbandes gezeigt haben; beispielsweise auf der Ebene der theoretischen Systeme und Ansätze, der Institutionen oder auch der Praxis, d.h. bei der praktischen Umsetzung von Menschenrechtsideen in verschiedenen Konstellationen. All diese Ebenen sind nicht unbedingt identisch oder deckungsgleich und bekommen unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen, je nach Bedarf und nach Kontext. Die Vielgestaltigkeit und Multidimensionalität des Themas ist heute mehr denn je deutlich und hat entscheidend mit der Globalisierung des entsprechenden Diskurses zu tun. Dies gilt nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Beziehungen speziell des Orthodoxen Christentums zu den

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modernen Menschenrechtsideen, die nicht als monolithisch und monodimensional zu betrachten sind. Drittens: Die Frage nach dem Verhältnis der Menschenrechte zu den Religionen und insbesondere zum Christentum in Europa ist eigens zu thematisieren – wie dies nicht zuletzt der vorliegende Sammelband deutlich macht. In der Tat war das Verhältnis des institutionellen Christentums in Westeuropa und darüber hinaus zu den modernen Menschenrechten über lange Zeit negativ, historisch wurden ihre Beziehungen von zahlreichen Spannungen und Konflikten begleitet. Dies betraf insbesondere die RömischKatholische Kirche, wie die Verurteilungen der Menschenrechte durch die Päpste Pius VI. 1791 und Pius IX. 1864 zeigen. Auch die wichtigsten Verfechter der säkular ausgerichteten Menschenrechte hielten aus diesem Grund Abstand zur institutionellen Kirche, obwohl sie nicht alle als religions- bzw. christentumsfeindlich einzustufen sind. Es fehlte natürlich nicht an katholischen Denkern, die sich für die Menschenrechte einsetzten, doch gelang der Durchbruch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Römisch-Katholische Kirche steht heute ausdrücklich für die Unantastbarkeit und den Schutz der Menschenrechte (vgl. die Rede Papst Benedikts XVI. von 2008 vor der UNO-Generalversammlung). Im protestantischen Kontext lässt sich demgegenüber generell von einer positiveren Aufnahme der Idee der Menschenrechte sprechen, obwohl manche Protestanten fundamentalistischer Provenienz bis heute große Probleme damit haben. Davon abgesehen sind die christlichen Kirchen heute ohne Zweifel willkommene Diskussionspartner in einer pluralistischen Welt. Sie sind bedeutende und einflussreiche Akteure und leisten einen zum Teil wichtigen Beitrag zur strukturellen Entwicklung moderner Gesellschaften (z.B. in Hinblick auf die Zivilgesellschaft). Nicht zu vergessen ist allerdings, dass sie keineswegs die wichtigsten und entscheidenden Akteure in diesem Rahmen sind. Diese Funktion übernehmen in der Regel säkulare (eher religionsneutrale als religionsfeindliche) Akteure, die tonangebend sind und zukünftige Entwicklungslinien vorgeben. Dies betrifft unter anderem auch den Menschenrechtsdiskurs. Bereits die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 stützt sich als politisches Dokument nicht auf religiöse oder ähnliche Argumente, was als Indiz für die fehlende legitimierende Rolle der Religion in diesem Kontext sprechen mag. Es liegen also verschiedene säkulare und religiöse Konzepte einer Menschenwürde vor, obschon ein breiterer Konsens in diesem Punkt unter Umständen nicht ausgeschlossen werden kann. Die modernen Menschenrechte wurden zwar manchmal als eine neue „Menschheitsreligion“ betrachtet, doch erheben sie offiziell überhaupt keinen solchen umfassenden Anspruch und verstehen sich in erster Linie als politischrechtliche Freiheits- und Gleichheitsstandards für alle Meschen, auch wenn säkulare Institutionen und Akteure untereinander keine in jedem Fall gemeinsame und verbindliche Position bezüglich der Menschenrechte vertreten. Das lässt sich gegenwärtig an Gesetzgebungen oder Gerichtsurteilen bezüglich diverser sexueller Gruppen und Orientierungen beobachten, die eine Liberalisierung traditioneller sozialer Normen bedeuten.

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Solche Entwicklungen treffen nicht selten auf die Kritik oder sogar die Reaktion von christlichen Institutionen und Akteuren, doch sind diese heute in der Regel nicht in der Lage, solche Prozesse zu stoppen oder rückgängig zu machen. Obschon säkulare Akteure unter Umständen und punktuell einer „religiösen Genealogie“ der Menschenrechte zustimmen würden, sind sie in der Regel nicht bereit, eine direkte Einmischung von christlichen Kirchen an der Entscheidungsfindung zuzulassen und zu tolerieren – so auch der Beitrag von Richters in Bezug auf die EU-Institutionen in diesem Sammelband. Diese klare Unterscheidungslinie von Zuständigkeitsbereichen trifft vielleicht eher auf Westeuropa zu, wo eine Trennung von Staat und Kirche bereits lange vollzogen ist, während die Situation im orthodoxen Ost- und Südosteuropa in dieser Hinsicht noch nicht eindeutig geklärt ist. Dies sollte im Auge behalten werden, wenn von der Rolle der christlichen Kirchen in den gegenwärtigen Menschenrechtsdebatten in Europa die Rede ist. Die Bedeutung und die mögliche Einflussnahme dieser Kirchen sind zwar vorhanden, jedoch sollten diese je nach Kontext unter Berücksichtigung der OstWest Unterschiede präzise lokalisiert und gewürdigt werden, um nicht übertriebene und unrealistische Erwartungen an die heutige Rolle der europäischen Kirchen zu hegen. Viertens: Warum hat speziell das Orthodoxe Christentum Schwierigkeiten mit den Menschenrechten? Diese Frage stellt sich nach der Lektüre dieses Sammelbandes, der dafür zahlreiche Beispiele enthält. Die Probleme werden sofort sichtbar, wenn man sich mit den Rechten von religiösen und anderen Minderheiten in mehrheitlich orthodoxen Ländern auseinandersetzt. Sicherlich gibt es manche nennenswerte Ausnahmen. Der griechische orthodoxe Erzbischof von Nord- und Südamerika Iakovos (1911– 2005, Erzbischof von 1959 bis 1996) war zum Beispiel aufgrund seiner Unterstützung und seines unermüdlichen Engagements für die Menschenrechte in den USA sehr bekannt (vgl. seine für die Zeit beeindruckende Solidarität mit Martin Luther King). Trotzdem handelt es sich in diesem Fall mehr um die praktische Seite des Engagements eines orthodoxen Geistlichen für die Rechte von Diskriminierten und Minderheiten im Kontext des pluralistischen Umfelds der USA, was auch in anderen orthodoxen Kontexten mutatis mutandis zu beobachten ist (z.B. in Bezug auf die Religionsfreiheit in der Zeit des Kommunismus in vielen Ostblockstaaten – vgl. den Beitrag von Brüning in diesem Band). Manche, meistens orthodoxe Akteure, suchen ferner in eigenen Quellen (z.B. patristischen) eine entsprechende Menschenrechtsinspiration und -tradition jenseits der dominierenden westlichen. Gleichzeitig wird vielfach erwartet, sowohl von orthodoxen als auch von einigen westlichen Akteuren, dass die Orthodoxie zur künftigen Neugestaltung der Menschenrechtsidee aus den eigenen Quellen beitragen wird, nicht zuletzt im Bereich des religiösen Pluralismus und der Freiheit sowie der neuen Artikulation der christlichen Mission. Darin artikuliert sich nicht zuletzt auch die Hoffnung auf Überwindung der Antinomien und Widersprüche im Menschenrechtsdiskurs in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Viele Bemühungen und Initiativen der ROK in postsowjetischer Zeit gehen eindeutig in diese Richtung.

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Dieser Dialog auf breiter Basis zwischen Orthodoxem Christentum und Vertretern von Menschenrechtsideen stellt eine Bereicherung dar und ist zweifellos zu begrüßen. Es ist zunächst wichtig, dass dieser Austausch konstruktiv verläuft und Annäherungspunkte sucht, ohne etwaige Differenzen zu leugnen oder schönzureden. Idealerweise sollte er die früher verbreitete, dichotomische Gegenüberstellung von Ost und West vermeiden, die meistens zu sterilen Polarisierungen und Grenzziehungen führte. Gerade dieser Dialogprozess zeigt, dass die alten Barrieren zwischen Ost und West nicht hermetisch abgeschlossen sind und dass es eine Fülle von fruchtbaren Interaktionen und Kontakten gibt, die zukunftsweisend sind. Nicht nur die ROK, sondern auch andere Orthodoxe Kirchen versuchen heute, den Dialog mit der modernen Welt auf verschiedenen Ebenen aufzunehmen und als globale Akteure aufzutreten. Das für 2016 geplante Panorthodoxe Konzil in Konstantinopel (Istanbul) soll unter anderem Fragen behandeln, die das Verhältnis des Orthodoxen Christentums zu der Moderne insgesamt betreffen und dessen künftigen Kurs bestimmen. Die Orthodoxie scheint folglich keine vormoderne Entität zu sein, die sich nur ihrer eigenen Vergangenheit verpflichtet fühlt. Im Gegenteil erprobt sie verschiedentlich ihren eigenen Weg in die Moderne, was zu dem heute geltenden flexibleren Verständnis der Moderne passt (vgl. das Konzept der „multiplen Modernitäten“ von Shmuel N. Eisenstadt). Worauf sind dann die Schwierigkeiten des Orthodoxen Christentums mit den modernen Menschenrechten zurückzuführen? Dies hat vorwiegend mit der bereits erwähnten und historisch nachweisbaren dichotomischen Betrachtung von Ost und West zu tun, die in vielen orthodoxen Kreisen und Kontexten noch weiterlebt und das Bild der Orthodoxie in etlicher Hinsicht maßgeblich gestaltet. Die orthodoxe Welt in Ostund Südosteuropa hat nämlich – historisch gesehen – wegen besonderer soziopolitischer Gegebenheiten die Neuzeit und die Moderne völlig anders erlebt als das westliche Christentum, was eine Fülle von Konsequenzen nach sich zog. Die moderne Menschenrechtstradition hat, wie bereits erläutert, einen prägenden westlichen Hintergrund und zudem einen ursprünglich kritischen Charakter gegenüber dem westlichen Christentum, wie die Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution zeigt. Sie ist auch auf konkrete Unrechtserfahrungen aus der westeuropäischen Geschichte, insbesondere aus dem 20. Jahrhundert, zurückzuführen. Trotz der anfänglichen Spannungen und der daraus resultierenden langwierigen Konflikte konnte sich das westliche Christentum mit der neuen Situation schließlich arrangieren und sein Profil in vielen Bereichen entsprechend ändern, beispielsweise in der Bejahung von Liberalität, Individualität und Menschenrechten, der Legitimität der säkularen Sphäre, des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der Trennung von Staat und Kirche sowie durch einen kritischen Zugang zur eigenen Vergangenheit. Zweifellos ist das Bild der westlichen Christenheit in dieser Hinsicht nicht einheitlich und stereotyp, sondern bunt und facettenreich. Betrachtet man beispielsweise die Römisch-Katholische Kirche in Polen (vgl. den Beitrag von Fajfer in diesem Band) oder die Evangelischen Kirchen im Baltikum, dann stehen diese Kirchen dem Orthodoxen Christentum in manchen Punkten hinsichtlich des Menschenrechtsdiskurses näher als ihren Glaubensgeschwistern im Westen. Dies hat wiederum mit spezifischen historischen Erfahrungen zu tun, die jede

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einzelne dieser Kirchen gemacht hat. All diese besonderen Entwicklungen müssen aber nicht bedeuten, dass eine grundsätzliche Dichotomie zwischen dem Christentum in Ost- und Westeuropa besteht. Die Übergänge sind in vielen Fällen sehr fließend – viele Beiträge dieses Sammelbandes belegen dies. Speziell in Bezug auf die Orthodoxie ist die weitgehend ausgebliebene produktive Interaktion mit der Moderne die erwartbare Konsequenz aus ihrer eigenen historischen Entwicklung, was sich auch am Umgang mit den Menschenrechten zeigt. Beispielsweise geht die Orthodoxie mit den Menschenrechten sehr selektiv um. Menschenrechte für bestimmte sexuelle Gruppen werden in der Regel gemäß strikten Moralkriterien und -vorstellungen kritisiert und nicht anerkannt. Was die „Menschenrechte“ aus vergangenen Epochen (z.B. der alten Kirche) betrifft, von denen viele Orthodoxe heutzutage sehr gern sprechen und die sie als mögliche Menschenrechtsquellen für die Gegenwart einsetzen wollen: Dass manche Kirchenväter sich für die Armen, die Bedürftigen oder die Diskriminierten ihrer Zeit stark gemacht haben, ist zwar lobenswert und aus einer Menschenrechtsperspektive untersuchungswürdig, doch hat dies wenig mit den modernen Menschenrechtsideen zu tun, die auf anderen Voraussetzungen fußen und andere Ziele verfolgen. In dem obengenannten Dokument der ROK zu den Menschenrechten ist beispielsweise die Rede von verschiedenen Freiheitsarten (Į੝IJİȟȠȪıȚȠȞ und ਥȜİȣșİȡȓĮ), die aus patristischen Quellen konzipiert werden, wobei eine religiös bzw. orthodox geprägte homogene Kultur als ideale Situation deutlich favorisiert wird. Im Gegensatz dazu unterstreichen moderne liberale Theorien die Bedeutung des Individuums und anderer damit verbundener Werte, wie die Säkularität oder religiöse Neutralität des Staates und der öffentlichen Sphäre, den weltanschaulichen Pluralismus, die Anerkennung von Differenz. Bei diesen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist eine Diskrepanz unverkennbar, die einer Erklärung bedarf. Genau an dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten, gerade weil in den bisherigen Diskussionen der Probleme zwischen Orthodoxie und Menschenrechten oftmals der angeblich „antimoderne Kern“ des orthodoxen Glaubenssystems unverhältnismäßig stark betont wurde. Es herrschte früher die Ansicht, und sie ist teilweise noch immer verbreitet, dass dieses System im Prinzip mit den Grunderrungenschaften der Moderne nicht kompatibel, ja sogar ihnen diametral entgegengesetzt sei, dass darüber hinaus die Orthodoxie in manchen davon betroffenen Ländern und Kulturen für eine gewisse gesellschaftliche Rückständigkeit verantwortlich sei. Demzufolge wurde die Orthodoxie generell nicht selten als stagnierend, reaktionär und rückschrittlich abqualifiziert. Diese Thesen sind in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Formen erneut formuliert worden. Im geopolitischen Ansatz von Samuel P. Huntington wurden beispielswiese orthodoxe Kulturen außerhalb des westlichen Kulturkreises mit zweifelhaften Entwicklungs- und Demokratisierungschancen verortet. Speziell in Bezug auf die Menschenrechte wurde ferner auf die besondere „Ausrichtung“ des orthodoxen Glaubenssystems hingewiesen, die die Akzeptanz und die Etablierung von Menschenrechten nicht begünstige, ja sogar wegen der fehlenden Individualisierung, der Hervorhebung der Gemeinschaftlichkeit, der engen Staat-Kirche-Beziehungen, der Vorliebe für Mystik und Passivität, der Priorisierung von Außerweltlichkeit sowie der Betonung

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der nationalen Identität und Zugehörigkeit verhindere. Darüber hinaus wurde auf die Koexistenz- und Pluralitätsprobleme in manchen mehrheitlich orthodoxen Ländern Ost- und Südosteuropas hingewiesen. Dies alles wurde als Zeichen der (noch bestehenden) Inkompatibilität der Orthodoxie mit den Grundsätzen eines modernen liberal demokratischen Rechtsstaates interpretiert, in dem die fundamentalen Menschenrechte als selbstverständlich gelten. Sicherlich kann man solche und andere Defizite in mehrheitlich orthodoxen Kontexten beobachten. Jedoch weisen selbst westliche liberale Demokratien, die seit langem im modernen Menschenrechtsdiskurs verankert sind, teilweise ähnliche Probleme auf. Interessanterweise hat dies neuerdings die Flüchtlingsproblematik in der EU ans Licht gebracht. Speziell in Bezug auf die orthodoxe Welt haben diese Probleme zunächst mit konkreten historischen Entwicklungen zu tun und nicht mit einem angeblich „antimodernen Kern“ des orthodoxen Glaubenssystems an sich. Wie jedes andere Religionssystem ist die Orthodoxie keine transhistorische Entität, die keinen Veränderungen oder Anpassungen unterworfen wäre. Ihr historisches wie auch gegenwärtiges Erscheinungsbild entspricht den besonderen soziopolitischen Bedingungen, denen sie unterworfen war und ist. Berücksichtigt man dies, dann erscheinen die bereits erwähnten Probleme mit den Menschenrechten in einem anderen Licht. Tatsächlich sucht die orthodoxe Welt die Begegnung und Interaktion mit der Moderne, wie es sich in etlichen Bereichen, wie eben auch der Frage der Menschenrechte, beobachten lässt. Es bleibt deshalb abzuwarten, welchen modus vivendi die orthodoxe Welt mit der Moderne noch finden wird.

Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2008 – der institutionelle und ideologische Kontext Kristina Stoeckl This chapter looks at the institutional context and ideological background to the document “The Teaching of the Russian Orthodox Church on the Dignity, Freedom and Rights of Man”, published by the Russian Orthodox Church in 2008. Analysing in detail the period from 1999 to 2008, it documents important stages in the Russian Orthodox human rights debate and shows how the self-positioning of the Russian Orthodox Church changed over time. It concludes that the Russian Orthodox Church changed its approach to the human rights issue from 1999 to 2008, even though this idea-change has remained controversial and contradictory among ecclesiastical elites of a conservative persuasion. Today’s Russian Orthodox Church wants to connect to value-debates in the West and simultaneously seeks to carve out an autonomous Orthodox position, which it defines as the “defence of traditional values”.

Im Jahr 2008 veröffentlichte die Bischofskonferenz der Russischen Orthodoxen Kirche ein Dokument, das in seiner Art einzigartig für die orthodoxen Kirchen ist: „Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und Rechte des Menschen“ (Osnovy uþenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach þeloveka). Mit diesem Dokument (das ich der Kürze halber in Folge mit dem Begriff Menschenrechtsdoktrin1 bezeichnen werde) bringt die Russische Orthodoxe Kirche ihre Stellung zu Fragen der Menschenrechte zum Ausdruck. Die Autoren des Dokuments nehmen eine Neudefinition des Begriffs der menschlichen Freiheit und Würde vor, um auf diese Art und Weise Freiheit und Rechte des Einzelnen mit der orthodoxen religiösen Lehre zu vereinbaren. Nach der bekannteren Sozialdoktrin (voller Titel: „Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche“ [Osnovy social’noi koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi]) aus dem Jahr 2000 ist die Menschenrechtsdoktrin das zweite wichtige Dokument, welches die Russische Orthodoxe Kirche in Fragen der Sozialethik vorlegt. Während die Katholische Kirche auf eine lange Tradition der Soziallehre zurückblicken kann und regelmäßig zu Fragen des modernen Lebens Stellung bezieht, hat die Orthodoxe Kirche bis jetzt nie auf solche Art und Weise den Dialog mit der säkularen Moderne gesucht. Die Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche, 2000 und 2008 jeweils Dokumente dieser Art zu veröffentlichten, ist daher zweifelsohne bemerkenswert und von großem theologischen und auch politischem Interesse.

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Auch wenn Jennifer Wasmuth in diesem Band zu Recht darauf hinweist, dass es sich nicht um eine „Doktrin“ im eigentlichen Sinn handelt.

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Kristina Stoeckl

Der Inhalt der Menschenrechtsdoktrin ist bereits mehrmals eingehend analysiert worden2 und das Dokument selbst ist im Internet leicht einzusehen.3 Das Ziel dieses Kapitels ist es daher, den institutionellen und ideologischen Kontext der Entstehungsgeschichte des Dokuments zu ergründen. Ich beziehe mich dabei auf den Zeitraum 1999 bis 2008. In diesem Kapitel geht es, erstens, darum, wichtige Etappen in der russischen orthodoxen Menschenrechtsdebatte zu dokumentieren und, zweitens, mittels einer Analyse der verwendeten Schlüsselbegriffe aufzuzeigen, wie sich die Positionierung der Russischen Orthodoxen Kirche in dieser Debatte mit der Zeit verändert. Das Material, auf das ich für diese Analyse zurückgreife, besteht in erster Linie aus im Internet zugänglichen schriftlichen Quellen in russischer und englischer Sprache: verschiedene Internetseiten russisch-orthodoxer Institutionen dokumentieren minutiös die Aktivitäten der Russischen Orthodoxen Kirche. Darüber hinaus stütze ich mich auf Beobachtungen und Interviewmaterial, das ich während mehrerer Aufenthalte in Moskau und bei Gesprächen mit Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche gewinnen konnte.

Der institutionelle Kontext Die Notwendigkeit einer kirchlichen Auseinandersetzung mit den Menschenrechten wird zum ersten Mal 1999 vom Metropoliten von Kaliningrad und Smolensk Kirill aufgeworfen. Kirill ist es auch, der das Thema selbst nach der Verabschiedung der Sozialdoktrin im Jahr 2000 weiterhin forciert und daran festhält, dass die Kirche mit dem Thema Menschenrechte noch nicht fertig ist. Metropolit Kirill ist zu diesem Zeitpunkt Leiter der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats (Otdel vnešnich cerkovnych svjazej Moskovskogo Patriarchata). Diese Abteilung wird unter seiner Leitung sukzessive ausgebaut: 2001 wird die Ständige Vertretung des Patriarchats bei der Europäischen Union in Brüssel eingerichtet (Predstavitel’stvo Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi pri evropejskich meždunarodnych organizacijach), 2004 folgt die Ständige Vertretung beim Europarat in Straßburg (Predstavitel’stvo Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi v Strasburge). Die Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats wird zur praktischen Schaltstelle für die Menschenrechtsdiskussion, sie 2

3

Alexander Agadjanian, „Liberal Individual and Christian Culture: Russian Orthodox Teaching on Human Rights in Social Theory Perspective“, Religion, State & Society 38 (2010) 97–113; Rudolf Uertz, „Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat in der Sozialdoktrin – eine politikwissenschaftliche Betrachtung“, in: Rudolf Uertz und Lars Peter Schmidt (Hg.), Beginn einer neuen Ära? Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche vom August 2000 im interkulturellen Dialog, Moskau 2004, 77–96. Siehe auch die Beiträge von Rudolf Uertz, Jennifer Wasmuth und Cyril Hovorun in diesem Band. Osnovy uþenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach þeloveka, veröffentlicht auf der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats am 11. April 2008, URL: http:// www.patriarchia.ru/db/print/428616.html (besucht am 10. Oktober 2011); deutsche Übersetzung: Rudolf Uertz und Lars Peter Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, Moskau 2008.

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koordiniert sowohl die kircheninterne wie auch die externe, an ein internationales Publikum gerichtete Debatte. Die konkrete Ausarbeitung der 2008 veröffentlichten Menschenrechtsdoktrin nimmt im April 2006 ihren Ausgang. Vom 3. bis 5. April 2006 tagt der Weltrat des Russischen Volkes (Vsemirnyj Russkij Narodnyj Sobor), eine Nichtregierungsorganisation unter der Federführung der Russischen Orthodoxen Kirche, und verabschiedet eine Menschenrechtserklärung, von der weiter unten noch die Rede sein wird. Kirills Rede vor dem Weltrat macht deutlich, dass die Russische Orthodoxe Kirche in der Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte eine programmatische und politisch-strategische Absicht verfolgt: Orthodoxe Gläubige, so der Metropolit in seiner Rede, könnten es unmöglich akzeptieren, dass ihnen Normen aufgezwungen würden, die den Grundsätzen des orthodoxen Glaubens widersprächen. Es sei daher notwendig, und hier wähnt sich der Metropolit in Übereinstimmung mit den anderen Weltreligionen, dass international gültige Normen und Rechte des zwischenmenschlichen Zusammenlebens „harmonisch“ im Dialog mit anderen Kulturen ausgearbeitet würden, anstatt, wie derzeit, einem westlich-säkularen Modell zu folgen.4 Bereits wenige Tage nach der Zusammenkunft des Weltrats, am 11. April 2006, erhält Kirill von der Bischofssynode den Auftrag, eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der Menschenrechtskonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche zu gründen.5 Diese Arbeitsgruppe, bestehend aus 35 Personen aus kirchlichen, akademischen und intellektuellen Kreisen,6 tagt in den darauf folgenden zwei Jahren fünfzehn Mal. Die Koordination der Treffen und die Schriftführung obliegen der Abteilung für Außenbeziehungen. Die Menschenrechtsdoktrin, die Kirill 2008 präsentiert, ist das Ergebnis der Arbeit dieser Gruppe, ergänzt durch zahlreiche Workshops, Konferenzen und Vorträge im In- und Ausland sowie durch internationalen und interkonfessionellen Austausch. Im Juni 2008 fasst Metropolit Kirill diese Aktivitäten folgendermaßen zusammen: Vom Sommer 2006 bis zum Juni 2008 fanden 15 Arbeitstreffen statt, inklusive der Treffen von Untergruppen, die für die Ausarbeitung der verschiedenen Kapitel des Dokuments Verantwortung trugen. Im Rahmen der Ausarbeitung des Dokuments gab es außerdem zahlreiche Konsultationen mit Laienexperten, mit Philosophen und Juristen, welche die aktuellen wissenschaftlichen Zugänge zu Fragen der Menschenrechte erläuterten. Darüber hinaus fand zwischen den einzelnen Treffen immer eine sehr ernsthafte Forschung und

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Metropolit von Smolensk and Kaliningrad Kirill, „Human Rights and Moral Responsibility. Part I“, Europaica Bulletin 97 (2006), URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/97.aspx#3 (besucht am 6. Dezember 2009); Metropolit von Smolensk and Kaliningrad Kirill, „Human Rights and Moral Responsibility. Part II“, Europaica Bulletin 98 (2006), URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/ 98.aspx#1 (zuletzt eingesehen am 6. Dezember 2009). „Žurnal Zasedanija Svjašþennogo Sinoda ot 11 aprelja 2006 goda“, Archiv der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats 1997–2009, Moskau, 11. April 2006, URL: http://www.mospat.ru/ archive/30806.htm (besucht am 6. Dezember 2009). Die Liste der involvierten Personen liegt der Verfasserin vor.

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Kristina Stoeckl Referatsarbeit statt. Viele Ideen, die im Rahmen der Arbeitsgruppe formuliert worden waren, wurden bei internationalen Konferenzen, runden Tischen, in Interviews und in Vorträgen laufend vorgestellt. Mehr als einmal waren sie Gegenstand persönlicher und offizieller Gespräche mit Vertretern anderer christlicher Konfessionen und traditioneller Religionen, wie auch mit Vertretern der Regierung und Zivilgesellschaft.7

Die Protokolle der Treffen dieser Arbeitsgruppe sind zwar nicht zugänglich, der Gesamtprozess ist jedoch anhand des öffentlich gemachten Materials gut nachzuvollziehen. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf einige Etappen in diesem Prozess hinweisen: • das Seminar „Moralische Prinzipien und Menschenrechte in der multikulturellen Gesellschaft“ in Straßburg am 30.–31. Oktober 2006; • ein Runder Tisch mit der Konferenz Europäische Kirchen im März 2007; • Metropolit Kirills Auftritt vor der UNESCO am 13. März 2007; • zwei katholisch-orthodoxe Konsultationen im Juni 2007; • eine Rede von Kirill vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im März 2008. Diese Zwischenschritte in der kirchlichen Menschenrechtsdebatte werden durch die akkurate, mittels moderner Medien betriebene Öffentlichkeitsarbeit der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats und ihrer Niederlassungen in Brüssel und Straßburg genau dokumentiert. Schlüsselfiguren in dieser Arbeit sind, neben Metropolit Kirill, Bischof Ilarion (im besagten Zeitraum Bischof von Österreich und Wien, seit 2009 Leiter der Abteilung für Außenbeziehungen), darüber hinaus Igumen Filaret (Bulekov) (im besagten Zeitraum Leiter der Ständigen Vertretung der Russischen Orthodoxen Kirche in Straßburg und seit 2011 stellvertretender Leiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen), Igumen Filipp (Rjabych) (im besagten Zeitraum Mitarbeiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen, von 2009 bis 2011 ihr stellvertretender Leiter und seit 2011 Leiter der Ständigen Vertretung der Russischen Orthodoxen Kirche in Straßburg) sowie Protoierej Vsevolod (ýaplin) (im besagten Zeitraum stellvertretender Leiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen und seit 2009 Leiter der Synodalen Abteilung für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft [Sinodal’nyj otdel po vzaimootnošenijami Cerkvi i obšþestva]). Von der Veröffentlichung der Menschenrechtserklärung des Weltrats des Russischen Volkes im Jahr 2006 bis zur Verabschiedung der Menschenrechtsdoktrin 2008 kommt innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche ein beeindruckender Apparat aus Arbeitsgruppen, Konferenzen, schriftlichen Beiträgen und Debatten in Bewegung, der sowohl innerkirchlich als auch in den Außenbeziehungen wirksam ist, zur Formulierung der Menschenrechtsdoktrin führt und, wovon weiter unten noch die Rede sein 7

„Doklad Mitropolita Smolenskogo i Kaliningradskogo Kirilla, predsedatelja Otdela Vnešnych Cerkovnych Svjazej Moskovskogo Patriarchata `Ob osnovach uþenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach þeloveka´“, Archiv der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats 1997–2009, Moskau, 26. Juni 2008, URL: http://www.mospat.ru/archive/41595.htm (besucht am 6. Dezember 2009).

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wird, auch nach 2008 aktiv bleibt, um über die konkrete Umsetzung der gewonnenen Ideen zu wachen. Diese im Wesentlichen auf zwei Jahre beschränkte institutionelle Entwicklung ist jedoch nur eine Seite der Menschenrechtsdebatte. Sie spielt sich vor dem Hintergrund einer länger zurückreichenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema ab. Dieser ideologische Kontext soll im Folgenden genauer untersucht werden.

Der ideologische Kontext Was sind die Leitideen und Denkfiguren in der russischen orthodoxen Menschenrechtsdebatte und wie verändern sie sich im Laufe der Zeit? Vorausblickend ist zu sagen, dass die gesamte Debatte um die Menschenrechte innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche von begrifflichen Gegensatzpaaren strukturiert wird: Liberalismus – Traditionalismus Säkularismus – Religion individuelle Menschenrechte – Rechte der Gemeinschaft, Nation, Familie Diese Gegensatzpaare bleiben die ganze Diskussion über aufrecht, allerdings verändert sich die Selbst-Positionierung der Russischen Orthodoxen Kirche in dem jeweiligen Spannungsfeld merklich. Äußerungen von Metropolit Kirill um das Jahr 2000 legen nahe, dass diese Gegensatzpaare zuerst als Grundlage des Kampfs der Kulturen zwischen Ost und West verstanden werden. In diesem Kampf stünde der Westen für Lieberalismus, Säkularismus und individuelle Menschenrechte, während der Osten, d. h. die Orthodoxe Kirche, als Ort des Traditionalismus, der Religion und der Rechte der Gemeinschaft, Nation und Familie verstanden würde. Im Laufe der Debatte wird jedoch deutlich, wie das monolithische Bild des liberalen, säkularen und individualistischen Westens durch eine realistischere Einschätzung des Westens ersetzt wird, die den Spannungen innerhalb der westlichen Moderne gerecht wird. Die Russische Orthodoxe Kirche hält zwar an ihrer Rolle als Verteidigerin der Tradition, Religion, Gemeinschaft, Nation und Familie fest, allerdings sieht sie sich nicht mehr als einzige Kraft, die dieses Ziel verfolgt. Sie findet Alliierte in der Katholischen Kirche und in konservativen politischen Kreisen, gleichzeitig nimmt sie Abstand von Modernisierungstendenzen innerhalb der russischen Kultur. Auf diese Art und Weise wandelt sich der clash of civilizations vom vermeintlichen Kampf zwischen zwei kulturellen und zivilisatorischen Einheiten (zwischen der „lateinischen“ und „orthodoxen“ Welt) zu einer Auseinandersetzung zwischen einer laizistisch-individualistisch-liberalen Weltanschauung und einer religiös-kommunitaristischen und traditionalistischen Weltsicht, unabhängig davon, ob sich diese im Westen oder im Osten konkretisieren. Ein gutes Beispiel für diesen Wandel liefert die Art und Weise, wie Metropolit Kirill die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 in seiner Argumentation benützt. In einem Artikel in der Nezavisimaja Gazeta vom 26. Mai 1999

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vertritt Kirill die Anschauung, der Liberalismus sei ein natürliches Ergebnis der westlichen Entwicklung, die er folgendermaßen skizziert: die Renaissance, d. h. die Rückkehr des antiken Heidentums – die Reformation – die Aufklärung – der Materialismus – der Atheismus und am Ende die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: der Sieg der Anthropozentrik.8 Weil die russische orthodoxe Tradition diese Entwicklungsgeschichte nicht teilt, kann sie auch den Begriff der Menschenrechte nicht teilen, lautet der Grundtenor des Artikels. Interessanterweise hat Metropolit Kirill augenscheinlich bereits kurze Zeit nach dem Erscheinen dieses eher radikalen Artikels das Bedürfnis, seine Position noch einmal genauer zu erklären. Es folgt am 16. Februar 2000 ein weiterer Artikel in der Nezavisimaja Gazeta. In diesem distanziert sich Kirill von zwei möglichen Lesarten seiner ursprünglichen Analyse: er wolle sich nicht dem westlichen Wertegefüge bedingungslos anschließen, wie dies liberale Säkularisten gerne sehen würden, noch sehe er sich auf der Seite der religiösen Eiferer, die sich mit dem Problem Menschenrechte gar nicht erst auseinandersetzen wollen, weil sie die Welt, die sie hervorgebracht hat, von Grund auf verurteilen. Im Gegenteil, es müsse ein neuer Weg gefunden werden, fordert Kirill; die kritische und kreative Auseinandersetzung mit den liberalen Werten sei die wichtigste Aufgabe der orthodoxen Theologie.9 Kirill nimmt seiner Gegnerschaft zum Westen also die Schärfe, gleichzeitig korrigiert er aber nicht seine Analyse, die westliche Kultur der Menschenrechte sei zutiefst heidnisch. Eine weitere Verschiebung der Argumentation lässt sich erst später feststellen, und zwar in einer Rede, die Kirill im September 2005 im Rahmen eines Kongresses zu „Religion und Internationale Beziehungen“ in St. Petersburg hält. Dort zitiert er zum ersten Mal – und wird dies in weiterer Folge immer wieder tun – den Artikel 29 der Menschenrechterklärung, der bekanntlich besagt: 1. Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist. 2. Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.10

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Metropolit von Smolensk und Kaliningrad Kirill, „Obstojatel'stvo Novogo Vremeni“, Nezavisimaja Gazeta. Religija, 26. Mai 1999, URL: http://www.ng.ru/specfile/2000-12-15/14_obstoyatel stva.html (besucht am 26. Oktober 2010). Metropolit von Smolensk und Kaliningrad Kirill, „Norma Very Kak Norma Žizni I“, Nezavisimaja Gazeta, 16. Februar 2000, URL: http://www.ng.ru/ideas/2000-02-16/8_norma.html (besucht am 26. Oktober 2010); ders., „Norma Very Kak Norma Žizni II“, Nezavisimaja Gazeta, 17. Februar 2000, URL: http://www.ng.ru/ideas/2000-02-17/8_norma2.html (besucht am 26. Oktober 2010). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), UN Department for General Assembly and Conference Management German Translation Service, URL: http://www.ohchr.org/en/udhr/pages /language.aspx?langid=ger (besucht am 15. Oktober 2011).

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Die Einbeziehung des Artikels 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in die Menschenrechtsdebatte der Russischen Orthodoxen Kirche hat eine wichtige Funktion. Sie stellt eine neue Strategie dar: Artikel 29, insbesondere der Passus „Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten […] Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz […] vorsieht, […] den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen“, erlaubt es der Russischen Orthodoxen Kirche, nicht mehr einfach gegen ein westliches individualistisches Menschenrechtsverständnis zu argumentieren, sondern ermöglicht es der Kirche, sich als Schutzherrin eines ursprünglicheren Menschenrechtsverständnisses darzustellen, eines Verständnisses, das Moral und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft betont und das im Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte selbst eingefordert wird. Diese neue Strategie wird besonders deutlich in Kirills Beitrag zum Seminar „Moralische Prinzipien und Menschenrechte in multikulturellen Gesellschaften“ in Straßburg vom 30. bis 31. Oktober 2006. Dort vereinnahmt er den Begriff der Menschenrechte für eine Rückkehr von Moral und Werten in die modernen Gesellschaften: Ich bin davon überzeugt, dass die Sorge um spirituelle Bedürfnisse, basierend auf traditioneller Moral, in den öffentlichen Raum zurückkehren muss. Die Aufrechterhaltung moralischer Standards muss ein soziales Anliegen werden. Der Mechanismus der Menschenrechte kann diese Rückkehr aktiv befördern. Ich spreche hier von einer Rückkehr, denn die Vorstellung, man solle Menschenrechte mit der traditionellen Moral in Einklang bringen, findet sich bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.11

Ein weiteres Beispiel liefert die Rede von Metropolit Kirill vor der UNECSO am 13. März 2007: Die Orthodoxe Kirche lädt heute dazu ein, zum Verständnis der Rolle der Menschenrechte im gesellschaftlichen Leben zurückzukehren, welche im Jahr 1948 festgelegt wurde. Moralische Regeln können der Verwirklichung der Menschenrechte im öffentlichen Leben eine reale Grenze setzen.12

Festzuhalten ist, dass die Gegensatzpaare Liberalismus – Traditionalismus, Säkularismus – Religion, individuelle Menschenrechte – Gemeinschaft, Nation, Familie im orthodoxen Diskurs aufrechterhalten bleiben, gleichzeitig aber deutlich wird, dass sich die Orthodoxe Kirche nicht mehr als alleinige Verteidigerin von Tradition, Religion, Gemeinschaft, Nation und Familie gegen den Westen sieht. Vielmehr macht die Kirche 11

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Metropolit von Smolensk und Kaliningrad Kirill, „The Experience of Viewing the Problems of Human Rights and Their Moral Foundations in European Religious Communities. Presentation at the Conference `Evolution of Moral Values and Human Rights in Multicultural Society´, Strasbourg, 30 October 2006“, Europaica Bulletin 108 (2006), URL: http://orthodoxeurope.org/page/ 14/108.aspx#1 (besucht am 20. Oktober 2010). Metropolit von Smolensk und Kaliningrad Kirill, „Vystuplenie Mitropolita Smolenskogo i Kaliningradskogo Kirilla na Meždunarodnom Seminare JUNESKO na Temu `Dialog Civilizacij: Prava ýeloveka, Nravstvennye Cennosti i Kul’turnoe Mnogoobrazie´“, Interfax Religija, 13. März 2007, URL: http://www.interfax-religion.ru/?act=documents&div=604 (besucht am 20. Oktober 2010) [alle Übersetzungen aus dem Russischen von der Verfasserin].

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jetzt auch im Westen Anknüpfungspunkte und Verbündete aus, mit denen gemeinsam gegen säkularistische Tendenzen vorgegangen werden soll. Diese Verbündete, und das ist wichtig, sind nicht nur die anderen Religionen, wenn auch natürlich insbesondere diese, sondern ebenso konservative Strömungen innerhalb der westlichen politischen Tradition. Mehrere dokumentierte Treffen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Konferenz Europäischer Kirchen sowie der Katholischen Kirche im Jahr 2007 legen nahe, dass es rege Kontakte mit anderen Konfessionen im Vorfeld der Publikation der Menschenrechtdoktrin gab.13 Einen Hinweis auf politisch-ideologische „Verbündete“ wiederum geben die Zitate neokonservativer Provenienz in einer Ansprache von Bischof Ilarion.14 Im Zuge der Veröffentlichung der Menschenrechtsdoktrin verweist Kirill auf diese Kontakte, um den Ideen der Russisch-Orthodoxen Kirche mehr Gewicht zu verleihen: Wir konnten feststellen, dass der größte Teil der religiösen Traditionen und einige Strömungen des säkularen Denkens in ihrer Einschätzung moralischer Werte übereinstimmen.15

Ein Wandel von Ideen und Denkfiguren geht immer auch mit einem Wandel der Sprache einher. Ideen sind ursächlich mit der Sprache verknüpft, in der sie ausgedrückt werden. Ein Wandel der Sprache signalisiert daher einen Wandel der Ideen selbst. Dies gilt auch für die Menschenrechtsdebatte innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche. Bestimmte Begriffe, die über einen gewissen Zeitraum die Debatte bestimmen, verschwinden auf einmal aus ihr und werden durch andere, die als präziser empfunden werden, ersetzt. Im Folgenden möchte ich dafür zwei Beispiele geben. Ein Schlüsselbegriff in den zahlreichen Reden von Bischof Ilarion bis zum Jahr 2004 lautet „militanter Säkularismus“. In einer Rede vom 15. November 2002 vor dem italienischen Parlament bezeichnet er den militanten Säkularismus als ebenso gefährlich wie den militanten Atheismus. Beide, sagt er, möchten die Religion aus dem sozialen und politischen Leben verbannen und sie in das Ghetto privater Frömmigkeit sperren. Die Russische Orthodoxe Kirche, die die Prüfungen durch den militanten Atheismus überstanden habe, sei gut gerüstet, um auch dem militanten Säkularismus

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A. L. Beglov, E. C. Tokareva und N. T. Eneeva (Hg.), Christianity, Culture and Moral Values. International Conference, Moskau 2007; „Final Document of the International Scientific Conference on Christianity, Culture and Moral Values“, Interfax Religija, 22. Juni 2007, URL: http:// www.interfax-religion.com/?act=documents&div=111 (besucht am 20. Oktober 2010); „Joint Communiqué of the Meeting of Experts from the Russian Orthodox Church and the Church and Society Commission of the Conference of European Churches“, Webseite der Konferenz der Europäischen Kirchen, 23. März 2007, URL: http://www.cec-kek.org/pdf/MoscowCommunique ENG.pdf (besucht am 20. Oktober 2010). Bischof von Wien und Österreich Ilarion, „The Concept of Dignity and Freedom of the Person in Christianity and Secular Humanism“, [Veröffentlichung eines Artikels aus dem Band Orthodox Witness Today, Genf 2006], Europaica Bulletin 114 (2007), URL: http://orthodoxeurope.org/page/ 14/114.aspx#1 (besucht am 11. November 2010). Metropolit Kirill, „Vystuplenie“.

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die Stirn zu bieten.16 Am 24. November 2004 wiederholt Ilarion bei einer Rede an der Universität Melbourne die Ansicht, militanter Säkularismus sei eine totalitäre PseudoReligion.17 In weiterer Folge lässt sich in Ilarions Argumentation allerdings ein Wandel feststellen. Bei einem Zusammentreffen von Religionsvertretern und Abgeordneten des Europaparlements am 22. April 2005 führt er einen neuen Begriff ein, Humanismus, und definiert ihn auf zweierlei Art und Weise: es gäbe einen atheistischen Humanismus, der könne zum militanten Säkularismus führen, und einen religiösen Humanismus.18 Im selben Jahr veröffentlicht Bischof Ilarion ein Buch, in dem ein Kapitel dem Thema des Humanismus gewidmet ist. In „The Concept of Dignity and Freedom of the Person in Christianity and Secular Humanism“ vergleicht er zuerst den Nationalsozialismus, den Kommunismus und den Humanismus miteinander und sagt, alle drei seien anti-religiöse Ideologien, alle drei gingen von falschen anthropozentrischen Voraussetzungen aus, alle drei hätten traditionelle Wertsysteme durch utopische Ideen ersetzt und alle drei würden einen irrationalen Hass gegen das Christentum hegen. Dann jedoch fügt er hinzu, und ich zitiere hier die englische Übersetzung: Indeed, the modern secular humanistic project differs in many aspects from those mentioned. The comparison with national-socialism and communism would undoubtedly deeply insult the modern humanist. Humanism of the second half of the twentieth century, expressed in the „Universal Declaration of Human Rights“, arose as a reaction to […] the crimes of Nazism. However, humanists refuse to see the connection between these crimes and the anthropological theories born in the atheistic minds of the French enlighteners of the eighteenth-century.19

Ilarion nimmt an dieser Stelle das Anliegen des Humanismus also ernst, bleibt aber gleichzeitig kritisch hinsichtlich eines totalitären Potenzials des neuzeitlichen Rationalismus. Diese Kritik teilt er mit sehr vielen Philosophen des 21. Jahrhunderts. In einem Interview mit der Zeitschrift Science and Religion am 1. Dezember 2008 lesen wir dann sogar:

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Bischof von Wien und Österreich Ilarion, „Christian Witness to Uniting Europe. A View from the Russian Orthodox Church“ [Vortrag beim Internationalen Symposium „Wisdom as a Source of European Unity“ am 15. November 2002 in Rom], URL: http://en.hilarion.orthodoxia.org/6_9 (besucht am 11. November 2010). Bischof von Wien und Österreich Ilarion, „Christianity and the Challenge of Militant Secularism“ [Öffentlicher Votrag an der Universität Melbourne, Australien, am 7. Juni 2004], Europaica Bulletin 52 (2004), URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/52.aspx#5 (besucht am 11. November 2010). Bischof von Wien und Österreich Ilarion, „Towards an Open, Transparent and Regular Dialogue between the Churches and the European Institutions“ [Vortrag bei einem Treffen zwischen Vertretern religiöser Organisationen im Europäischen Parlament am 22. April 2005], Europaica Bulletin 67 (2005), URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/67.aspx#1 (besucht am 11. November 2010). Bischof Ilarion, „The Concept of Dignity and Freedom of the Person“.

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Kristina Stoeckl We should not negate every truth of humanism as many reactionary theological trends do, but establish creative Christian humanism.20

Der Wandel des sprachlichen Ausdrucks vom Anprangern eines „militanten Säkularismus“ über eine Abgrenzung vom „säkularen Humanismus“ hin zum Anliegen, den „christlichen Humanismus“ zu stärken, ist bemerkenswert. Das eigentliche Gegensatzpaar Säkularismus – Religion bleibt unangetastet, aber die diskursive Vermittlung dieses Konflikts verändert sich. Es geht nicht mehr um eine Konfrontation zwischen religiöser Orthodoxie im Osten und säkularer Moderne im Westen. Im Gegenteil, Ilarion beklagt sogar „reaktionäre religiöse Strömungen“, die in eben dieser Konfrontation ihre Berechtigung suchen. Sein Standpunkt, obwohl unverändert konservativreligiös, wird dadurch kompatibel mit vergleichbaren, nicht-orthodoxen Positionen zu Werten und Liberalismus, zum Beispiel dem Kommunitarismus. Wie erklärt sich dieser Wandel in Kirills und Ilarions Haltung gegenüber dem Westen? Warum wird das Motiv des clash of civilizations, das um das Jahr 2000 herum noch vorherrschend ist, durch eine Haltung ersetzt, die größere Offenheit für Dialog zeigt? Die Versuchung ist groß, eine rein politische Erklärung für diesen Wandel vorzuschlagen, laut derer die Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche lediglich die Politik des russischen Staates widerspiegelte. Eine solche politisch-strategische Hypothese würde die konstruktive Haltung der Kirche darauf zurückführen, dass der russische Staat nach Jahren des Niedergangs nunmehr erneut eine Rolle auf der weltpolitischen Bühne anstrebt und daher auch von der Kirche eine konziliantere Haltung erwartet als die historische Feindseligkeit gegenüber dem Westen. Eine solche Erklärung würde, meiner Meinung nach, jedoch die Unabhängigkeit und Originalität der Kirche und ihres aktuellen Patriarchen Kirill unterschätzen. Wie auch bereits von Adriano Roccucci analysiert, so handelt es sich bei dem Patriarchen Kirill um einen Reformer, der zwar tief in der orthodoxen Tradition verwurzelt ist, aber wenig Nostalgie für vergangene Feindbilder hegt.21 Kirill und die Theologen in seinem Umfeld kennen die moderne westliche Welt zu gut, um sich in der Auseinandersetzung mit ihr lediglich auf die historischen Gegensätze zwischen dem orthodoxen Osten und dem lateinischen Westen zu berufen. Ihre Kritik gilt der modernen Gesellschaft an sich, wobei die Kirche jedoch anerkennt, dass diese moderne Welt die natürliche Lebenswelt auch für einen Großteil der orthodoxen Gläubigen geworden ist. Ihre Haltung ist

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„Christianity is more humanistic than secular humanism, the Russian Orthodox hierarch believes“, Interfax Religija, 1. Dezember 2008, URL: http://www.interfax-religion.com/?act=news&div= 5432 (besucht am 11. November 2010). Adriano Roccucci, „Il Patriarca Riformatore“, Russia Oggi, 27. Juli 2010, URL: http:// russiaoggi. it/articles/2010/07/27/il_patriarca_riformatore.html (besucht am 3. April 2011); „Vortrag von Adriano Roccucci bei der Präsentation des Buches des Patriarchen von Moskau Kirill Libertà e Responsabilità an der Katholischen Universität in Mailand am 17.05.2010“, Offizielle Webseite der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, URL: http://www.mospat.ru/it/ 2010/05/18/news18353/ (besucht am 3. April 2011).

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zweifelsohne konservativ und traditionalistisch, und die Modernisierung der Russischen Orthodoxen Kirche, falls wir die sich mit der Sozialdoktrin und Menschenrechtsdoktrin abzeichnende Entwicklung so bezeichnen wollen, bleibt eine sehr vorsichtige Modernisierung. Dennoch möchte ich behaupten, dass der Wandel in der Haltung gegenüber Themen der Moderne, wie ich ihn oben anhand einiger Beispiele festgehalten habe, tatsächlich für eine ideologische Erneuerung steht, und nicht nur für eine strategisch-politische Anpassung. Angesichts der Aktivität der Russischen Orthodoxen Kirche in der Menschenrechtsfrage ist es, meiner Ansicht nach, durchaus angebracht, die Kirche, und nicht etwa die russische Regierung, sowohl innen- wie auch außenpolitisch als treibende Kraft einer „russischen Moralagenda“ zu bezeichnen.

Die Menschenrechtsdebatte zwischen 2006 und 2008 Im Jahr 2006 veröffentlicht der Weltrat des Russischen Volkes eine „Erklärung zu Würde und Rechten des Menschen“ (Deklaracija o pravach i dostoinstve þeloveka X Vsemirnogo Russkogo Narodnogo Sobora) (der Kürze halber in Folge als Menschenrechtserklärung bezeichnet).22 Rückblickend kann man diese Erklärung als Zwischenschritt auf dem Weg der Russischen Orthodoxen Kirche zur Formulierung der Menschenrechtsdoktrin sehen. 2006, zum Zeitpunkt ihres Entstehens, allerdings, erzeugte die dezidiert anti-westliche und anti-liberale Haltung der Erklärung eine paradoxe Nicht-Übereinstimmung mit der oben beschriebenen fortlaufenden Debatte. Die Menschenrechtserklärung des Weltrats ließ vermuten, dass innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche eine widersprüchliche Strategie in Sachen Menschenrechte am Werk war: eine versöhnlichere, konstruktivere Haltung gegenüber den Menschenrechten in der Auseinandersetzung mit internationalen Gesprächspartnern und eine reaktionärere, feindseligere Haltung gegenüber den Menschenrechten vor dem russischen Publikum. Mit der Ernennung Kirills zum Patriarchen 2008 traten diese beiden Fronten eindeutiger zu Tage und es wurde das Bild eines „progressiven“ und eines „reaktionären“ Flügels innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche deutlich, welche sich auch in der Frage der Menschenrechte gegenüberstanden. Die Entwicklung der Menschenrechtsargumentation, die zwischen der Menschenrechtserklärung 2006 und der Menschenrechtsdoktrin 2008 stattfindet, lässt sich jedoch als Hinweis darauf lesen, dass die moderatere Strömung, angeführt von Kirill, letztlich die Überhand gewonnen hat. Die Menschenrechtserklärung 2006 beruft sich auf den clash of civilizations, um zu begründen, dass die orthodoxe Welt ihre eigene Position verteidigen muss. Die Menschenrechtsdoktrin 2008 hingegen beruft sich auf ein ganz anderes Szenario: die Russische Orthodoxe Kirche ist nicht mehr Teil eines Kulturkampfs, sondern vielmehr ei22

Weltrat des Russischen Volkes, Deklaracija o Pravach i Dostoinstve ýeloveka, Moskau 2006, URL: http://vrns.ru/docs/detail.php?nid=780&binn_rubrik_pl_news=304&binn_rubrik_pl_news =306 (zuletzt eingesehen am 22. Oktober 2011).

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ner postsäkularen Debatte. Eine vergleichende Lektüre der Einleitung bzw. des Schlusses der beiden Dokumente macht diese unterschiedliche Positionierung deutlich. Der erste Satz der Menschenrechtserklärung 2006 lautet: In Anbetracht der Tatsache, dass die Welt an einem Scheidepunkt ihrer Geschichte steht und von einem Kampf der Kulturen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen des Menschen und seiner Berufung bedroht ist, nimmt der Weltrat des russischen Volkes, stellvertretend für die einzigartige russische Zivilisation, folgende Deklaration an.23

Im letzten Absatz der Menschenrechtsdoktrin 2008 hingegen heißt es: Ohne die revolutionäre Umgestaltung der Welt anzustreben und in Anerkennung der Rechte anderer gesellschaftlicher Gruppen auf Partizipation an der gesellschaftlichen Umgestaltung auf der Grundlage ihrer weltanschaulichen Wahl, behalten sich die orthodoxen Christen das Recht vor, sich an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen, die [sic] mit ihrem Glauben und mit ihren sittlichen Prinzipien nicht im Widerspruch stehen. Die Russische Orthodoxe Kirche ist bereit, diese Prinzipien im Dialog mit der Weltgemeinschaft sowie in der Zusammenarbeit mit den Gläubigen anderer traditioneller Konfessionen und Religionen zu vertreten.24

Die Legitimationsstrategie der beiden Dokumente ist unterschiedlich: im ersten wird die orthodoxe Tradition als Grundlage einer vom clash of civilizations bedrohten Kultur gehandelt, während das zweite Dokument anerkennt, dass es eine öffentliche Debatte über Werte und Rechte gibt, an der alle sozialen Gruppen und Individuen teilhaben und in der sie ihre jeweilige Position verteidigen können. Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Dokumenten liegt jedoch in der Formulierung der Lehre der menschlichen Würde. Die theologische Debatte über die Würde und Freiheit des Menschen ist ein Leitmotiv in der Auseinandersetzung zwischen orthodoxer Theologie und westlichem Denken. Vom orthodoxen Standpunkt gesehen, verliert das westliche säkulare Denken die sündhafte Natur des Menschen aus dem Blick und schafft ein anthropozentrisches Universum, in dem ausschließlich die negative Freiheit des Menschen Geltung hat, d. h. die Freiheit des Menschen nach eigener Vorstellung und gemäß seinen individuellen Rechten zu leben. In den orthodoxen Dokumenten wird diese Freiheit stets als „Wahlfreiheit“ bezeichnet. Die Kirche möchte, wenn auch nicht in diesen Begriffen, daran erinnern, dass es darüber hinaus jedoch auch eine positive Freiheit gibt,25 welche mit einem würdevollen Leben einhergeht und die, neben individuellen Rechten, auch Pflichten beinhaltet. In den orthodoxen Dokumenten wird diese Freiheit als „Freiheit vom Bösen“ oder „Freiheit von der Sünde“ bezeichnet. Der Unterschied zwischen der Menschenrechtserklärung 2006

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Ibidem. Uertz und Schmidt, Grundlagen, 40. Das steht so in der deutschen Übersetzung, die ich zitiere. Die korrektere Übersetzung wäre: „sich an der Gestaltung eine öffentlichen Lebens zu beteiligen, welches mit ihrem Glauben und mit ihren sittlichen Prinzipien nicht im Widerspruch stünde.“ Isaiah Berlin, „Zwei Freiheitsbegriffe“, in: ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006, 197–256.

Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche

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und der Menschenrechtsdoktrin 2008 liegt in der Art und Weise, wie die menschliche Würde und diese doppelte Bedeutung von Freiheit beschrieben und bewertet wird. Die Menschenrechtserklärung führte eine Unterscheidung zwischen „menschlichem Wert“ (cennost’) und „menschlicher Würde“ (dostoinstvo) ein und hielt fest: Jeder Mensch als das Ebenbild Gottes verfügt über einen einzigartigen und unauslöschlichen Wert, der von jedem von uns, der Gesellschaft und dem Staat respektiert werden muss. Es ist durch gute Taten, dass der Mensch an Würde gewinnt. Wir unterscheiden daher zwischen menschlichem Wert und Würde. Wert ist gegeben, während Würde errungen wird.26

In der Menschenrechtsdoktrin finden wir keine Spur dieser Unterscheidung, im Gegenteil, die Ansicht, dass die menschliche Würde eine „Errungenschaft“ sei, wird theologisch zurückgewiesen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Unterscheidung zwischen „Wert“ und „Würde“ in der Menschenrechtserklärung des Weltrats in Kirchenkreisen als theologisch fehlerhaft getadelt wurde. Dieser „Fehler“ mag auch eine Rolle in der Entscheidung gespielt haben, die Menschenrechtsdoktrin zur Korrektur dieser Darstellung auszuarbeiten. Die Menschenrechtsdoktrin widmet den gesamten ersten Abschnitt dem Thema der menschlichen Würde als religiöse und sittliche Kategorie. Die Autoren der Menschenrechtsdoktrin machen darin deutlich, dass die menschliche Würde auf die gottebenbildliche Schöpfung des Menschen zurückzuführen und daher unabänderbar ist: Nach der biblischen Offenbarung wurde die Natur des Menschen von Gott nicht nur geschaffen, sondern mit Eigenschaften nach Seinem Abbild und Ihm ähnlich ausgestattet (siehe Gen 1, 26). Allein auf dieser Grundlage lässt sich behaupten, dass die menschliche Natur unveräußerliche Würde besitzt.27

Mit diesem Satz korrigiert die Menschenrechtsdoktrin die Aussage der Menschenrechtserklärung, die menschliche Würde sei eine „Errungenschaft“. Im Folgenden widmet sich die Menschenrechtsdoktrin der Frage der Moral und bringt in theologisch korrekter Form das zum Ausdruck, was in der Menschenrechtserklärung verkürzt und in einer theologisch missverständlichen Form als „Wert ist gegeben, während Würde errungen wird“ bezeichnet wurde: Wenn in der Orthodoxie die unveräußerliche, ontologische Würde und der höchste Wert jeder menschlichen Person vom Abbild Gottes abgeleitet werden, wird das dieser Würde entsprechende Leben mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit in Beziehung gesetzt, die nach der Göttlichen Gnade durch die Überwindung der Sünde, den Erwerb der sittlichen Reinheit und der Tugenden erreicht wird. Deshalb darf der Mensch, der das Abbild Gottes in sich trägt, sich dieser hohen Würde nicht rühmen, denn das ist nicht sein persönliches Verdienst, sondern die Gabe Gottes. Umso weniger darf er damit seine Schwächen und

26 27

Weltrat, Deklaracija. Uertz und Schmidt, Grundlagen, 10.

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Kristina Stoeckl Laster rechtfertigen, sondern ganz im Gegenteil, er muss seine Verantwortung für die Ausrichtung und die Gestaltung seines Lebens erkennen. Es ist offensichtlich, dass im Begriff der Würde selbst untrennbar die Idee der Verantwortung präsent ist.28

Die Menschenrechtsdoktrin erklärt also, dass menschliche Würde ein „Geschenk“ Gottes ist und nicht verloren werden kann. Es liegt allerdings in der Entscheidungskraft des Menschen, ob dieses „Geschenk“ in ihm durch gottgefälliges Verhalten gestärkt wird oder aber durch ein sündiges Leben verdunkelt wird: Die Bewahrung der gottgegebenen Würde und das Wachsen in ihr ist nach der orthodoxen Tradition abhängig vom Leben im Einklang mit den sittlichen Normen, denn diese Normen drücken die ursprüngliche und somit die wahre Natur des Menschen aus, die von keiner Sünde verfinstert wurde. Deshalb gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Würde des Menschen und der Sittlichkeit. Mehr noch, die Anerkennung der Würde einer Person bedeutet die Behauptung ihrer sittlichen Verantwortlichkeit.29

Für die Russische Orthodoxe Kirche ist die Frage der Moral – worin diese besteht und was es heißt, moralisch zu leben – mit dem richtigen Verständnis von Freiheit verbunden, dem zweiten Thema, das die Menschenrechtsdoktrin gegenüber der Menschenrechtserklärung korrigiert. Während die Menschenrechtserklärung die Freiheit der Wahl nicht als Wert an sich anerkennt, räumt die Menschenrechtsdoktrin der Wahlfreiheit einen eigenen Wert ein, unabhängig von den Entscheidungen, die eine Person treffen mag. In dem Dokument von 2006 lesen wir: Wir unterscheiden zwei Freiheiten: innere Freiheit vom Bösen und die Freiheit moralischer Wahl. Die Freiheit vom Bösen stellt für sich selbst einen Wert dar. Die Wahlfreiheit gewinnt an Wert, und die Person gewinnt Würde, wenn die Person das Gute wählt. Im Gegensatz dazu führt die Wahlfreiheit zu Selbstzerstörung und Verlust von menschlicher Würde, wenn der Mensch das Böse wählt.30

Die in diesem Absatz zum Ausdruck gebrachte Haltung ist offensichtlich problematisch, denn sie suggeriert, dass der Mensch seiner Würde verlustig geht, wenn er aus freier Entscheidung „das Böse wählt“, also etwa gegen vorherrschende Moralvorstellungen verstößt. Am Anfang des modernen Menschenrechtsbegriffs steht jedoch das genaue Gegenteil dieser Aussage, und zwar die Idee, dass die Menschenwürde in jedem Fall unabänderbar und immer gültig ist, unabhängig von den einzelnen Entscheidungen, die eine Person treffen mag. Die Definition ist aber auch theologisch nicht haltbar, denn der mit Freiheit zur Wahl ausgestattete Mensch ist nach Gottes Ebenbild geschaffen, damit hat diese Freiheit sehr wohl Wert. In der Menschenrechtsdoktrin 2008 heißt es denn auch, in deutlicher Abgrenzung vom vorhergehenden Dokument:

28 29 30

Ibidem, 11. Ibidem, 14. Weltrat, Deklaracija.

Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche

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Man darf nicht die eine Freiheit verteidigen und die andere dabei vergessen. Das freie Verharren in Güte und Wahrheit ist unmöglich ohne die Freiheit der Wahl. Genauso verliert die freie Wahl ihren Wert und Sinn, wenn man sich dem Bösen zuwendet.31

Anders als in der Menschenrechtserklärung 2006, in welcher der Passus einer grundsätzlichen Anerkennung der Wahlfreiheit fehlt, wird in der Menschenrechtsdoktrin die grundsätzliche Anerkennung der Wahlfreiheit (im Dokument bezeichnet mit dem griechischen Wort Į੝IJİȟȠ઄ıȚȠȢ = eigenmächtig) zum Ausdruck gebracht, allerdings wird diese Anerkennung aus der konkreten Perspektive der Kirche qualifiziert: Die Kirche erkennt den Wert der Freiheit der Wahl an und behauptet, dass sie unvermeidlich schwindet, wenn die Wahl zugunsten des Bösen getroffen wird.32

Die Freiheit von der Sünde wird in der Menschenrechtsdoktrin mit dem griechischen Wort ਥȜİ઄șİȡȠȢ (frei, ungebunden) bezeichnet. Die Sätze „die Wahlfreiheit [führt] zu Selbstzerstörung und Verlust von menschlicher Würde, wenn der Mensch das Böse wählt“ von 2006 und „Die Kirche erkennt den Wert der Freiheit der Wahl an und behauptet, dass sie unvermeidlich schwindet, wenn die Wahl zugunsten des Bösen getroffen wird“ von 2008 mögen inhaltlich nahezu deckungsgleich sein, trotzdem sind die beiden vorgenommenen Sprechakte gänzlich unterschiedlich. In der Menschenrechtsdoktrin wird durch sprachliche Mittel das sprechende Subjekt – die Kirche – deutlich gemacht, indem es heißt „die Kirche erkennt an“ und „behauptet“. Die Menschenrechtserklärung hingegen proklamiert. Eine ähnliche Verschiebung um Nuancen kommt auch in den Passagen zum Ausdruck, in denen es darum geht, dass Menschenrechte mit Moral in Verbindung stehen sollten. In der Menschenrechtserklärung 2006 heißt es in einer etwas umständlichen Formulierung „der Inhalt der Menschenrechte darf nicht mit Moral verbunden sein“33, während wir in der Menschenrechtsdoktrin 2008 lesen: „Die Entfaltung und die Anwendung der Konzeption der Menschenrechte muss mit den Normen der Moral […] in Einklang gebracht werden“.34 Der Unterschied zwischen den beiden Formulierungen liegt darin, dass im ersten Dokument vom „Inhalt der Menschenrechte“ die Rede ist, gerade so als handle es sich dabei um ein in sich geschlossenes, „fertiges“ Paket, das man entweder annehmen oder ablehnen kann, während im zweiten Dokument von „Entfaltung und Anwendung der Konzeption der Menschenrechte“ die Rede ist, ein Ausdruck, der den offenen Charakter der Definition und Anwendung der Menschenrechte würdigt und einen Hinweis darauf gibt, dass die Russische Orthodoxe Kirche die Menschenrechte nicht als ein in sich geschlossenes und fremdes Thema ansieht.

31 32 33 34

Uertz und Schmidt, Grundlagen, 17–18. Ibidem, 17. Weltrat, Deklaracija. Uertz und Schmidt, Grundlagen, 21.

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Kristina Stoeckl

Widersprüche Die Semantik der Menschenrechtsdebatte entwickelt sich nicht immer linear. Auch wenn die offizielle Position, wie oben dargestellt, der Linie von Kirill und Ilarion hin zu versöhnlicheren Tönen folgt, bleiben die Widerstände in der russischen Debatte gut sichtbar. Die Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche erscheint widersprüchlich, und wenn wir für unsere Analyse auch kircheninterne Dokumente heranziehen, so finden wir dort, auch noch nach 2008, gelegentlich eine klare Verurteilung der Menschenrechte. Ein Beispiel dafür ist der Hirtenbrief der Bischofskonferenz vom Juni 2008, derselben Konferenz, welche die Menschenrechtsdoktrin verabschiedet hat. In diesem heißt es: Die Idee der Menschenrechte ist eines der wesentlichen Konzepte in der Politik und Rechtsprechung der Staaten geworden. Diese Idee wird häufig benützt, um Sünde zu rechtfertigen und die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu verringern und Menschen die Möglichkeit zu nehmen, nach ihrem Glauben zu leben.35

Es ist erstaunlich, wie sehr dieser Absatz hinter die Argumentationsstrategie der in der gleichen Sitzung verabschiedeten Menschenrechtsdoktrin zurückfällt und, einmal mehr, das Konzept der Menschenrechte einzig und allein mit einer religionsfeindlichen Haltung in Verbindung bringt. In dieser Aussage ist keine Spur mehr von Kirills differenzierter Argumentation um den Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder vom Ansatz zu einer post-säkularen Debatte in der Doktrin selbst. Es mag dafür eine einfache Erklärung geben – im Hirtenbrief nimmt dieser Punkt nur einen Absatz ein, ist nicht Hauptthema –, aber der Eindruck einer Spannung und Ambiguität in der kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte entsteht dadurch dennoch. Diese Spannung wird auch dadurch gefördert, dass die Kirche mit ihrem Menschenrechtsdokument offen außenpolitische Ziele verfolgt und dabei mitunter recht aggressiv auftritt. Die Russische Orthodoxe Kirche hat im Laufe der Menschenrechtsdebatte immer wieder der Besorgnis Ausdruck verliehen, dass internationale Menschenrechtsstandards einen Einfluss auf die Gesetzgebung in orthodoxen Ländern und so schädlichen Einfluss auf die Lebensgestaltung der Kirche und der Gläubigen haben könnten. Das folgende Zitat stammt aus einem Interview mit Metropolit Kirill im Anschluss an die Menschenrechtserklärung des Weltrats 2006: Es gibt das Problem einer einseitigen Lesart der Idee der Rechte und Freiheiten des Menschen, diese Lesart ist, unserer Meinung nach, heute dominant, vor allem in der Theorie und Praxis einflussreicher internationaler Institutionen. Und auch wenn europäische Organisationen davon absehen, einen Einfluss auf die Gestaltung des russischen Rechtsraums zu

35

„Poslanie Osvjašþennogo Archierejskogo Sobora Kliru, ýestnomy Inoþestvu i Vsem Vernym ýadam Russkoj Pravoslavoj Cerkvi“, Archiv der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats 1997–2009, 27. Juni 2008, URL: http://www.mospat.ru/archive/41648.htm (besucht am 3. Februar 2011).

Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche

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nehmen, so besteht doch die Gefahr, dass diese falsche Sichtweise der Idee von Freiheit und Recht in Zukunft einen schädlichen Einfluss auf den rechtlichen Prozess in Russland nehmen könnte.36

Diese Haltung durchzieht die gesamte russische Menschenrechtsdebatte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die russische orthodoxe Kirchenspitze ihre Aufgabe darin sieht, direkten Einfluss auf internationale Institutionen zu nehmen. Sie stellt sich in diesem Kontext als Sprecherin der stimmlosen religiösen Mehrheit dieser Welt dar.37 Dieser stimmlosen religiösen Mehrheit stehe, laut Ansicht der Kirche, eine westliche säkulare Minderheit gegenüber, die die Agenda der internationalen Organisationen diktiere. Bei einem Seminar zum Thema „Traditionelle Werte und Menschenrechte“ vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vertritt der Repräsentant des Moskauer Patriarchates denn auch den Standpunkt, es sei an der Zeit, „dass das weltanschauliche Monopol in der Sphäre der Menschenrechte ein Ende hat“.38 Solche Wortmeldungen machen deutlich, dass die Menschenrechtsdebatte innerhalb der Kirche nicht nur ein Zeichen innerer Lehrbildung darstellt, sondern auch ein konkretes außenpolitisches Ziel verfolgt.

Schlussfolgerung Mein Anliegen in diesem Kapitel war es, den institutionellen und ideologischen Kontext der „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und Rechte des Menschen“ zu erforschen. Die Analyse des Menschenrechtsdiskurses in der Russischen Orthodoxen Kirche von 1999 bis 2010 hat gezeigt, dass sich im Laufe der Zeit die verwendeten Schlüsselbegriffe und Argumentationslinien verändern, was ich als Hinweis auf einen genuinen und nicht nur strategischen Ideenwandel interpretiert habe, der allerdings innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche umstritten und widersprüchlich bleibt. Die Analyse der Debatte hat gezeigt, dass die Russische Orthodoxe Kirche Anschluss an westliche Diskurse sucht und gleichzeitig eine eigenständige orthodoxe Position aufbaut, die von ihr selbst als Vertretung „traditioneller Werte“ bezeichnet wird.

36

37

38

„Mitropolit Kirill, `My vystupaem protiv togo, þtoby v našej strane prinimalis’ zakony, kotorye poošþrjali by grech´“, Archiv der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats 1997–2009, 16. April 2006, URL: http://www.mospat.ru/archive/41595.htm (besucht am 6. Dezember 2009). „Vystuplenie Predsedatelja Otdela Vnešnich Cerkovnych Svjazej Moskovskogo Patriarcha Mitropolita Smolenskogo i Kaliningradskogo Kirilla na panel’noj diskussii `Prava þeloveka i mežkul’turnyj dialog´“, Webseite der Repräsentation des Moskauer Patriarchats in Straßburg, 20. April 2010, URL: http://www.strasbourg-reor.org/?topicid=112 (besucht am 6. Oktober 2011). „V sovete OON po pravam þeloveka prošel seminar, posvjašþennyj pravam þeloveka i tradicionnym cennostjam“, Webseite der Repräsentation des Moskauer Patriarchats in Straßburg, 8. Oktober 2010, URL: http://www.strasbourg-reor.org/?topicid=649 (besucht am 6. Oktober 2011).

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Kristina Stoeckl

Die Schlussfolgerung lautet daher, dass die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche nicht nur ein Dokument innerkirchlicher Klärung und Lehrbildung darstellt, sondern wohl auch, bzw. vielmehr ein Instrument der kirchlichen Außenpolitik und internationalen Politik sein soll.

The Theological Hermeneutics of The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights Cyril Hovorun This chapter is written by a member of the working group that prepared the document entitled “The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights” and provides the general background of this document. The “Teaching” consists of two components: political and theological. The author focuses on the latter, for which he bore a responsibility in the group. He informs that the theological rationale of the document is anchored in the distinction between the dignity of human nature and a person’s dignified life. This serves as the fundament for another distinction crucial for the argumentation in the document: between freedom as the capacity of choice, and freedom as the liberation from sin for God’s love. The author argues that despite the political ambiguity of the document, its theological ground is rooted in the Christian tradition and is useful for substantiating the very idea of human rights.

The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights1 was adopted by the Bishops’ Council of the Russian Orthodox Church (ROC) in June 2008. It is one of the key documents in the corpus of social doctrine of the Moscow Patriarchate, which started to develop with the so-called Bases of the Social Concept of 2000. The Bases touched on such issues as church, nation, state and politics; Christian ethics and secular law; property, labour and its fruits; war and peace; crime, punishment and correction; personhood, family and public morality; personal and national health; problems of bioethics; church and ecological problems; secular science, culture and education; church and mass media; international relations; as well as problems of the globalisation and secularism. This document was left open for later corrections and additions. The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights was adopted as a further development of the initial Bases. Although it is a separate document, it should be seen from the perspective and as an enlargement of the Bases. In addition, it has a multidimensional character. Similarly to the Bases, it touches on a number of intra- and extra-ecclesial, social and even political issues and contains the following chapters: i) Human dignity as a religious and ethical category; ii) Freedom of choice and freedom from evil; iii) Human rights in Christian worldview and in the life of society; iv) Human dignity and freedom in the system of human rights; and v) Principles and areas of the Russian Orthodox Church’s human rights work. 1

Published online at URL: http://www.mospat.ru/en/documents/dignity-freedom-rights/ (accessed on 10 April 2011).

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Cyril Hovorun

Apart from its social and political dimensions and implications, this document attempted an elaboration of the theological and anthropological foundations of human rights from an Orthodox Christian perspective. In this regard, it is similar to the Bases, as this has also started with some theological prerequisites and fundamentals. Yet, in the document on human rights, its theological dimension became even more emphatic. As someone responsible for the theological part of the Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights, I can testify that the vision behind it was to develop a hermeneutics of the concept of human rights from the point of view of Orthodox theology. We thus started from the presuppositions that the idea of human rights has deep Christian roots and that the secular genealogy of modern human rights should be revisited. In fact, a profound Christian theology can be found in the very idea of human rights, which was regrettably forgotten in modern times. A starting theological point for the concept of human rights relates to the creation of human nature in the image and likeness of God (I.1). This is regarded as a basic source of human dignity, which cannot be taken away from any person (I.1). Another important aspect of human dignity is found in the incarnation of God in the person of Jesus Christ (I.1). The fact that God assumed human nature rendered it valuable regardless of what a human being does or has (I.1). In other words, human dignity derives from and is bestowed upon humans by God. It is an innate category of human nature that cannot be abolished, reduced or distorted. Nevertheless, according to the document, the dignity of human nature should be clearly distinguished from the concept of dignified life, which any given person may conduct. This distinction constitutes a crucial point, which, however, drew sharp criticism from various perspectives. This is because the above distinction was considered to undermine the universal and unconditional character of human rights. In response to this criticism, it should be stressed that the document does recognise the fundamental and invariable value of human nature in every person. At the same time, dignified life as a concept is also intrinsically connected with the idea of the unalienable dignity of human nature. Yet, the document introduces and explores a noticeable difference between them. While human dignity is something that cannot change and is independent from whatever a person does or has, dignified life is fully dependent on the human free will. It is the result of the moral choices of a person. Therefore, any human bears responsibility for his or her dignified life (I. 2–3). In fact, dignified life is something that can be also evaluated on the basis of dignity. A person, who does not live in accordance with his or her innate dignity, has questionable dignified life. The document states this with rather strong words: A life in sin is unworthy of the human person as it destroys him and inflicts damage on others and the world around him. Sin overturns the hierarchy of relations in human nature. Instead of having his body controlled by the spirit, in sin the human person submits to the flesh (I.4).

It becomes then clear that sin is a key category in the document. It explains why a person, who is endowed with an ultimate and divine-like dignity, may conduct an

The Theological Hermeneutics of the ROC’s Document on Human Rights

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undignified life. Under the influence of sin, such a person endangers not only his or her own well-being, but also challenges the society and the environment: Under the influence of sin, a person in his relations with others acts as an egoist preoccupied with indulging himself at the expense of others. Such a life endangers the individual, society and the surrounding nature as it violates the harmony of existence and results in spiritual and physical suffering, illnesses and vulnerability in the face of consequences brought about by the erosion of the environment (I.4).

This central distinction between the dignity of human nature and a person’s dignified life also serves to substantiate another distinction, that between two kinds of freedom. The first refers to freedom as the capacity of choice, whereas the second to freedom as the liberation from sin for God’s love. Although both are expressed with the same word in Russian and English, the document points to the existence of two different terms in Greek language that indicate these two different kinds of freedom. Freedom of choice is denoted by the term Į੝IJİȟȠȪıȚȠȞ, while the moral freedom in Christ by the term ਥȜİȣșİȡȓĮ. The working group on the document developed this distinction on the basis of the early Greek Patristic tradition. The distinction between these two types of freedom corresponds with the distinction between the innate dignity of human nature and human dignified life. The former type, namely that of free choice (Į੝IJİȟȠȪıȚȠȞ), can be defined in connection with the God-given dignity of human nature. According to the document: Freedom is one of the manifestations of God in human nature. According to St. Gregory of Nyssa, “Man became Godlike and blessed, being honoured with freedom (Į੝IJİȟȠȣı઀૳)” (Sermon on the Dead). For this reason the Church in her pastoral practice and spiritual guidance takes so much care of the inner world of a person and his freedom of choice (II.1).

Although this kind of freedom is extremely valuable, it has no purpose in itself, for it basically serves as a means in bringing something about. In other words, humans may use it in order to achieve the other type of freedom called ਥȜİȣșİȡȓĮ,ȱwhich has been repeatedly referred to by Christ himself. It is the freedom of human beings “to live in goodness that they had had in their primordial state. It is this freedom that the Lord Jesus Christ restores to them: `So if the Son sets you free, you will be free indeed (ਥȜİȪșİȡȠȚ)´ (Jn. 8:36)” (ǿǿ.1). This kind of freedom is a combination of both “freedom from” and “freedom for”. It is simultaneously a freedom from evil and freedom for good: It is impossible to find freedom from sin without the mysterious unity of man with the transfigured nature of Christ that takes place in the Sacrament of Baptism (cf. Rom. 6:3–6; Col. 3:10) and becomes ever stronger through life in the Church, the Body of Christ (cf. Col. 1:24) (II.1).

It goes without saying that this kind of freedom exhibits a strong moral dimension. It categorises a person as either morally good or morally evil. It may even constitute the very purpose of human life. The document builds on this important correspondence between human dignity and freedom of choice (Į੝IJİȟȠȪıȚȠȞ), on the one hand, and dignified life and freedom in Christ (ਥȜİȣșİȡȓĮ), on the other. The latter is built on the

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former and simultaneously provides it with meaning and purpose. Both are fully dependent on the will of a person and his/her course of life: to live a dignified life and to be truly free in Christ, or to betray one’s own dignity and to enslave oneself to sin. These theological presuppositions and concepts were employed in The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights in order to provide the document with an adequate and thorough theological foundation and dimension. In doing so, the document not only contributed to the substantiation of human rights as a universal category, but it also endowed the notion of human rights with a necessary moral dimension. For the authors of the document, the latter is a quite central element of the very idea of human rights, which should not be neglected. In concluding, the document argues that both human dignity and freedom should not be abused, but be treated responsibly and appropriately. In addition, the political, social and other institutions concerned with the protection and application of human rights should not distract humans from living a higher free and dignified life, but rather help them to achieve this status. In my opinion, this is the main message encoded in the document of the Russian Orthodox Church.

Die Grundlagen der Lehre über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen im Kontext der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche Jennifer Wasmuth This chapter deals with the social teaching of the Russian Orthodox Church (ROC). It points out that the ROC – contary to the Christian Churches in the West – has only recently developed a more elaborated social teaching, which is reflected in the so-called “Bases of the Social Concept of the Russian Orthodox Church” (2000). While this document shows a fairly positive attitude towards human rights as grounded in the biblical and patristic tradition, the later published document “Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights” (2008) puts more emphasis on the problematic – from a Russian Orthodox point of view – aspects of a modern “humanistic” understanding of human rights. In general, it is argued that both documents should be read primarily as guidelines to be applied by Orthodox clergy and laity. In other words, they were conceived and written for the members of the church and thus do not constitute political statements.

Nachdem in anderen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes die sich in den Grundlagen der Lehre über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen zeigende Menschenrechtskonzeption im weiteren ideengeschichtlichen Kontext1 wie auch unter einem bestimmten, dem für die Menschenrechtsfrage zentralen Aspekt des Freiheitsverständnisses2 bereits untersucht wurde, geht es im folgenden Beitrag darum, den theologischen Bezugsrahmen zu beleuchten, mithin nach der sozialethischen Theoriebildung zu fragen, die der Menschenrechtskonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zugrunde liegt. Der Gewinn einer solchen Betrachtungsweise besteht darin, die Menschenrechtskonzeption der ROK von ihren eigenen Voraussetzungen her verstehen und dann auch einordnen zu können. Damit sollen nicht etwa Anfragen als unberechtigt abgewiesen werden, die sich aus der Perspektive eines „westlichen“ Menschenrechtsverständnisses wie auch angesichts eklatanter Menschenrechtsverletzungen in Russland selbst stellen.3 Zur Verständigung scheint es aber unerlässlich, zunächst einmal zu klären, worin die charakteristischen Grundzüge der Soziallehre der ROK und hier besonders ihrer Menschenrechtskonzeption bestehen.

1 2 3

S. die Beiträge von Regula M. Zwahlen und Ingeborg Gabriel in diesem Band. S. den Beitrag von Cyril Hovorun in diesem Band. Vgl. dazu Angelika Nußberger, Ende des Rechtsstaates in Russland? Probleme der rechtsstaatlichen Entwicklung im Spiegel der Rechtsprechung des Russischen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (= Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft, 31), Köln 2007.

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Jennifer Wasmuth

Was bedeutet „Soziallehre“? Am Beginn soll eine kurze begriffliche Reflexion stehen: darauf nämlich, was „Soziallehre“ eigentlich meint. Es gibt hier ein weiteres, geradezu umgangssprachliches Verständnis, wonach Soziallehre den „gesamten Inhalt dessen“ umfasst, „was sich aus der kirchl[ichen] Glaubens-Trad[ition] an richtungsweisenden Orientierungen für die Gestaltung einer Gesellschaftsordnung gewinnen“ lässt.4 Die mit diesem Verständnis von „Soziallehre“ verbundene Aufgabe, den ethischen Gehalt der Offenbarungsbotschaft hermeneutisch zu erschließen, kommt allen Gläubigen zu; die theoretische Reflexion geschieht in Theologie und christlich geprägter Sozialwissenschaft, der praktische Vollzug in Form einer christlichen Lebensweise. Demgegenüber meint „Soziallehre“ im engeren Sinne „alle jene Auffassungen v[on] einer gesellschaftlichen Ordnung, die sich das Lehramt der Kirche ausdrücklich zu eigen“ macht „und mit größerer o[der] geringerer Verbindlichkeit“ vorträgt.5 In diesem Sinne spricht man namentlich von einer „Katholischen Soziallehre“. Die Wurzeln dieser Soziallehre liegen im 19. Jahrhundert, in der „sozialen Frage“, die angesichts des gesellschaftlichen Strukturwandels komplexere Antworten erforderte, als sie mit der traditionellen kirchlichen Gebotsethik gegeben waren. In Gestalt von „Sozialenzykliken“ und anderen Verlautbarungen fand die Katholische Soziallehre das ihr eigene Medium. Was nun die ROK betrifft, so hat bei ihr Soziallehre im weiteren, hier zuerst genannten Sinne – entgegen manchem Klischee von einer allein durch Kult und Askese, Liturgie und Frömmigkeit geprägten „Orthodoxie“ – eine Tradition, die weit zurückreicht. Insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden an den sogenannten „Geistlichen Akademien“, den Ausbildungsstätten für orthodoxe Priester, sozialethische Themen, unter anderem auch die uns hier beschäftigende Frage der Menschenrechte, etwa in Gestalt der Gewissens- und Meinungsfreiheit, intensiv diskutiert und Stellungnahmen formuliert, die die damalige monarchische Staatsform nicht etwa in apologetischer Manier zu verteidigen suchten, sondern die Schwächen des Systems in kirchlicher wie gesellschaftlicher Hinsicht deutlich benannten.6 Eine „Soziallehre“ im engeren Sinn hingegen, wie sie sich in der römisch-katholischen Kirche seit dem 19. Jahrhundert zu entwickeln begonnen hat und wie wir sie, wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen, auf evangelischer Seite in Gestalt von „Denkschriften“ finden, gibt es in der ROK erst seit jüngster Zeit: Es sind namentlich die auf der „Jubiläumssynode“ im Jahre 2000 verabschiedeten, inzwischen 4

5 6

Vgl. Walter Kerber, „Katholische Soziallehre“, Lexikon für Theologie und Kirche 5 (19963) 1362– 1365, hier 1362. Ibidem, 1362f. (Hervorhebung JW). Vgl. Jennifer Wasmuth, Der Protestantismus und die russische Theologie. Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 113), Göttingen 2007, 310–331.

Das Menschenrechtsdokument im Kontext der Soziallehre der ROK

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breit rezipierten Grundlagen der Sozialkonzeption, die die erste öffentliche Stellungnahme der ROK zu einer Fülle sozialethisch relevanter Themen darstellen.7 Die Grundlagen der Sozialkonzeption nehmen für sich in Anspruch, „Richtlinien“ aufzustellen, die in den jeweiligen Bereichen den Bischöfen, Geistlichen sowie den Laien „Orientierung“ bieten (GS 11), ja, noch mehr, sie sollen ein „Leitfaden“ für die synodalen Einrichtungen, für Eparchien, Klöster, Kirchengemeinden etc. für ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft sein, auf ihrer Basis sollen kirchliche Amtsträger ihre eigenen Stellungnahmen formulieren, für die theologische Ausbildung sollen sie verpflichtend gelten. Wird den Grundlagen der Sozialkonzeption damit ein hoher Grad an Verbindlichkeit zugewiesen, werden sie doch gewissermaßen als Erweiterung des theologischen Lehrbegriffs in sozialethischer Hinsicht aufgefasst, so ist gleichwohl der orientierende Charakter im Blick zu behalten. Die Vorgaben, die das Dokument macht, besitzen m.a.W. nicht die Normativität dogmatischer Entscheidungen, weil es dafür bekannter Maßen anderer Instanzen als des Bischofskonzils der ROK bedürfte; auch müsste dafür das nach orthodoxem Verständnis wesentliche „Prinzip der Rezeption“ greifen, wonach sich erst nach einem bestimmten Zeitraum zeigt, ob eine Lehre „allgemein“ (unter den orthodoxen Gläubigen) Anerkennung gefunden hat. Die inzwischen weite Verbreitung des Titels „Sozialdoktrin“ für das Dokument scheint deshalb zumindest irreführend, weil das deutsche Wort „Doktrin“ (anders als das lateinische doctrina christiana) für eine Lehrmeinung steht, die nicht weiter hinterfragt werden darf, was für die Grundlagen der Sozialkonzeption jedoch – gemessen an ihrem eigenen Anspruch – nicht gilt.

Menschenrechte in den Grundlagen der Sozialkonzeption Wie wird nun in den Grundlagen der Sozialkonzeption die Frage der Menschenrechte behandelt? Insgesamt wird sie in diesem Dokument, das in seinen ersten Kapiteln grundsätzliche sozialethische Erwägungen zum Verhältnis von Kirche und Nation, Kirche und Staat, Kirche und Politik voranstellt, nur kurz angeschnitten – zu kurz, wie viele Kommentatoren meinten, schließlich auch die ROK selbst, weshalb im Jahre 2008 eben jenes Dokument erschienen ist, was uns gleich noch besonders beschäftigen wird. Behandelt wird die Frage der Menschenrechte in den Grundlagen der Sozialkonzeption im vierten Abschnitt, in dem eine Verhältnisbestimmung von „christlicher Ethik“ und „weltlichem Recht“ gegeben wird. Diese Bestimmung ist insofern wichtig, als sie das grundlegende Rechtsverständnis deutlich macht, das auch für die Menschenrechtskonzeption maßgeblich ist: Im Gegenüber zu jeder Form von Rechtspositivismus wird hier nämlich herausgestellt, dass das Recht „eine Erscheinungsform des göttlichen 7

Vgl. Josef Thesing und Rudolf Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der RussischOrthodoxen Kirche, Sankt Augustin 2001 – im Folgenden im Fließtext abgekürzt als GS.

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Schöpfungsgesetzes im sozialen und politischen Bereich zu sein“ hat (GS 39, vgl. auch 44). Recht und Moral werden hier also nicht losgelöst voneinander betrachtet, dem Recht wird vielmehr eine sittliche Dimension zugesprochen, es enthalte, wie es im Dokument formuliert wird, „ein Mindestmaß an für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen sittlichen Normen“ (GS 39). Eine Identifikation wird dabei allerdings vermieden, das Recht wird vielmehr ausdrücklich als „eigenständiger Bereich“ angesehen, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheide – mit der Begründung, dass das Recht „nicht den inneren Zustand des menschlichen Herzens“ regeln könne, „da einzig Gott Herr unser Herzen sein kann“ (GS 39). Dementsprechend wird auch der Versuch, „ein ausschließlich auf dem Evangelium beruhendes bürgerliches Recht-, Straf- oder Staatsrecht zu begründen“, unter einen eschatologischen Vorbehalt gestellt und positiv an der Gesetzgebung Kaiser Justinians (527–565) hervorgehoben, dass hier die Grenze „zwischen der Ordnung der Welt einerseits, die auch in der Epoche des Christentums von Sündenfall und Verdorbenheit gekennzeichnet ist, und der Kirche als dem gnadenreichen Leib Christi andererseits“ (GS 42) gewahrt worden sei. So sehr es deshalb befremden und als Ausdruck eines vormodernen Theorieansatzes erscheinen mag, dass in dem Dokument das Modell der „Symphonie“ als sozialethisches Leitprinzip entfaltet wird – christliche Ethik und weltliches Recht werden hier nicht differenzlos aufeinander bezogen, ein grundlegendes Spannungsverhältnis selbst für das byzantinische Rechtssystem aufgezeigt. Was nun die wenigen Bestimmungen zu den Menschenrechten betrifft, die sich in den Grundlagen der Sozialkonzeption finden, so zeichnen sie sich durch eine eigentümliche Ambivalenz aus: Im Grundsatz werden sie sehr positiv gewertet, wenn es heißt, die „Idee solcher Rechte entstammt der biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild und Gleichnis Gottes, als einem ontologisch freien Geschöpf“ (GS 42). Über das biblische wird auch das patristische Zeugnis für die Idee der Menschenrechte in Anspruch genommen, die Kernanliegen der Menschenrechte werden zu einer elementaren Forderung christlicher Ethik erklärt: Das Recht auf Glauben, Leben und Familie bedeute eine Gewähr für die innigsten Grundlagen der menschlichen Freiheit vor der Willkür fremder Mächte. Diese inneren Rechte würden durch andere, äußere Rechte vervollständigt und in ihrer Geltung bestätigt, wie beispielsweise durch das Recht auf Freizügigkeit, Informationsfreiheit, Eigentum, dessen Besitz- und Verfügungsrecht. Der den Menschenrechten zugrundliegende Freiheitsgedanke wird schließlich emphatisch mit der Grundaussage theologischer Anthropologie korreliert, wie sie im 2. Brief an die Korinther (V. 17) begegnet: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist auch Freiheit“. Von daher gelte es, dass die unveräußerlichen Rechte der Person geschützt werden müssten (vgl. GS 42f.).8

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Dies entspricht dem Begriffsgebrauch des Völkerrechts und der nationalen Verfassungsstaaten, wonach es sich bei Menschenrechten um Rechte handelt, die jedem Menschen als solchem kraft seiner menschlichen Existenz zustehen, mithin also unabhängig sind von Kulturen, Volkszugehö-

Das Menschenrechtsdokument im Kontext der Soziallehre der ROK

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Dieser im Grundsatz positiven Bewertung wird zugleich jedoch ein modernes, „säkulares“ Verständnis der Menschenrechte entgegengesetzt, das aus Sicht des Dokumentes fundamental zu kritisieren ist. Im Zuge der Säkularisierung nämlich hätten sich, so das Dokument, die erhabenen Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte zum Begriff der Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung zu Gott gewandelt (GS 43). Kernpunkt der Kritik ist mithin ein anthropologisches Verständnis, wonach der Mensch „nicht als Ebenbild Gottes, sondern als sich selbst genügendes, autarkes Subjekt“ (GS 43) aufzufassen ist ԟ ein der theologischen Anthropologie insofern gleich doppelt widerstreitendes Verständnis, als damit nicht nur die Gott-Mensch, sondern auch die Mensch-Mensch-Beziehung ausgeblendet werde. Damit aber beförderten die Menschenrechte eine Rechtsordnung, die sich, einer „absolut normativen Grundlage“ entbehrend, selbst legitimiere. In diesem Sinne wird, wie das an anderer Stelle in dem Dokument geschieht, konkret auch die „Gewissensfreiheit“ kritisiert – sie sei ein Beleg dafür, dass sich „heutzutage die Religion von einer `öffentlichen´ zu einer `privaten´ Angelegenheit“ gewandelt habe, es mithin zu einem „Verlust von religiösen Zielen und Werten in der Gesellschaft“ gekommen sei (GS 32).

Die Menschenrechte in den Grundlagen der Lehre der ROK über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen Was nun in den Grundlagen der Sozialkonzeption als Menschenrechtsverständnis mehr angedeutet als ausgeführt wird, erfährt in den 2008 verabschiedeten Grundlagen der Lehre der ROK über die Würde, die Freiheit und die Rechte der Menschen eine Ausweitung.9 Ansatzpunkt ist dabei bemerkenswerter Weise nicht die im Grundsatz positive Bewertung in dem früheren Dokument, sondern die aus Sicht der Grundlagen der Sozialkonzeption zu hinterfragende, dem modernen, „humanistischen“ Menschenrechtsverständnis zugrundeliegende Anthropologie. Dementsprechend wird in den ersten beiden Abschnitten auf die Begriffe der „Menschenwürde“ und der „Freiheit“ eingegangen, indem das eigene, orthodoxe Verständnis beider Begriffe dargelegt wird.

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rigkeit und Zeit (Universalitätsanspruch). Ihr Leitprinzip ist die Würde des Menschen (unverletzlich, unverfügbar, unveräußerlich). Unter systematischen Gesichtspunkten wird dann zwischen Freiheitsrechten (zum Beispiel Glaubens-, Religions-, Gewissensfreiheit), Gleichheitsrechten und Diskriminierungsverboten als Menschenrechten der ersten Generation unterschieden. Als Menschenrechte der zweiten Generation gelten die Gewährung öffentlicher Hilfen und Leistungen wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Art (Teilhaberechte). Von Menschenrechten der dritten Generation spricht man im Zusammenhang mit dem Recht auf Frieden, Entwicklung, eine geschützte und lebenswerte Umwelt. Vgl. Rudolf Uertz und Lars Peter Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, Moskau/Bornheim 2008 – im Folgenden im Fließtext abgekürzt als GW.

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Vor diesem Hintergrund wird dann die Frage der Menschenrechte thematisiert. Das geschieht in zwei Schritten, indem zunächst die Grenzen von Menschenrechten aufgezeigt werden, insofern ihre Umsetzung, erstens, den „von Gott eingesetzten sittlichen Normen und einer darauf beruhenden traditionellen Moral“ sowie, zweitens, den „Werten und Interessen des Vaterlandes, der Gemeinschaft und der Familie“ widerspricht, drittens, einen Schaden für die „religiösen Heiligtümer, kulturellen Werte und die Eigenart eines Volkes“ sowie, viertens, die „natürlichen Güter“ bedeutet (GW 25). Im zweiten Schritt geht es dann um die Möglichkeiten der Menschenrechte, man könnte auch sagen, um Schnittpunkte der Menschenrechte zu christlich-orthodoxen Wertvorstellungen, wie sie beispielsweise im „Recht auf Leben“ oder „Recht auf Bildung“ bestehen. Werden in diesem Zusammenhang gleich mehrere Einzelthemen angeschnitten, die – wie die Betonung des nationalen Elementes oder die implizite Tolerierung der Todesstrafe – höchst problematisch erscheinen und deshalb auch bereits von verschiedener Seite kritisiert worden sind,10 so soll hier die Grundaussage in den Vordergrund gestellt werden, die in diesen Abschnitten zu den Menschenrechten gemacht wird. Anders nämlich als in den Grundlagen der Sozialkonzeption werden hier, in dem Dokument von 2008, die Menschenrechte in viel stärkerem Maße auf die „christlichen Werte“ verpflichtet – unter weitgehender Absehung der Differenz von christlicher Ethik und weltlichem Recht. So ist mehrfach die Rede von der Notwendigkeit einer „Harmonisierung“. Die Gesellschaft müsse, so heißt es im Dokument, Mechanismen schaffen, die „die Harmonie von menschlicher Würde und Freiheit wiederherstellen“ (GW 19). Die Konzeption der Menschenrechte und die Sittlichkeit könnten und müssten im öffentlichen Leben diesem Ziel dienen. Damit aber wird den Menschenrechten nicht nur die Funktion von Schutzrechten zugewiesen, wie es namentlich im abschließenden, fünften Abschnitt des Dokumentes unter der Überschrift „Grundsätze und Schwerpunkte der bürgerrechtlichen Tätigkeit der ROK“ geschieht. Vielmehr sollen die Menschenrechte, so das Dokument ausdrücklich, „die geistig-sittliche Entwicklung der Person fördern“ (GW 25). Der gesellschaftliche Wert und die Effizienz des gesamten Systems der Menschenrechte hänge davon ab, so an anderer Stelle, inwieweit es Bedingungen zum Wachsen der Person in der von Gott gegebenen Würde schaffe und mit der Verantwortung des Menschen für sein Handeln verknüpfe (GW 36).

Kritische Würdigung Wenn abschließend nun eine kritische Würdigung der beiden hier vorgestellten Dokumente und des darin zutage tretenden Menschenrechtsverständnisses versucht wird,

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Zum Beispiel Otto Luchterhand, „Menschenrechte, Religionsfreiheit und Orthodoxie“, Ökumenische Rundschau 59 (2010) 378–387.

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so scheint in der zuletzt genannten Aussage der entscheidende Schlüssel zum Verständnis zu liegen. Denn hier zeigt sich, dass die ROK mit ihren beiden Dokumenten ein vor allem moraltheologisches Anliegen verfolgt – die Gläubigen aufzurufen, ihr Verhalten an christlich-orthodox verstandener Menschenwürde und Freiheit zu orientieren. Eine differenzierte sozialethische Reflexion hingegen lassen beide Dokumente vermissen; „Menschenrechte“ dienen hier mehr als Chiffre für ein „säkulares“ Wertesystem, das die Grenze zum eigenen System markiert, ohne dass eine tiefergehende Behandlung der Menschenrechtsthematik erfolgen würde, sei es unter historischen, philosophischen, theologischen oder rechtlichen Gesichtspunkten. Die beiden Dokumente stellen damit in erster Linie schriftliche Weisungen für den kirchlich-katechetischen Gebrauch dar, eine Form der Sozialverkündigung,11 wie es sie im orthodoxen Kontext bisher nicht gegeben hat.12 Am ehesten erinnern sie an die römisch-katholische Soziallehre vor der Zeit Papst Paul VI. (1963–1978), der, wie es der ehemalige Referent für Moral- und Pastoraltheologie am Konfessionskundlichen Institut in Bensheim, Walter Schöpsdau, mit Bezug auf das Schreiben „Octogesima adveniens“ (1971) beschrieben hat, die Soziallehre nicht länger deduktiv entwickelte, indem er abstrakte Prinzipien auf Situationen anwendete und mit fertigen Modellen die Gesellschaft belehrte, sondern eine soziale Reflexion bot, die die gegebenen Situationen selbst als „theologischen Ort“ der Erkenntnis akzeptierte.13 Problematisch an dieser Form von Soziallehre, wie sie uns in den beiden Dokumenten begegnet, scheint dabei zunächst die Frage der Anschlussfähigkeit zu sein – an allgemein geführte wie auch an spezifisch ökumenische Diskussionen bezüglich der

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Abgesehen davon, dass die GW ausdrücklich als Ergänzung zu den GS verstanden werden, die ihrerseits, wie eingangs erwähnt, als kirchliche Richtlinien konzipiert sind, lässt sich auch auf sprachlicher Ebene der katechetisch-homiletische Grundton der GW belegen. So wird gerne auf Schlüsselbegriffe der orthodoxen Tradition zurückgegriffen, vgl. die Rede von der „Theosis“ (GW 12f.) oder auch der „sakramentalen Vereinigung des Menschen mit der verklärten Natur Christi“ (GW 16). Oft begegnen auch implizite Appelle, wenn es etwa heißt: „Und dieses, in der Heiligen Schrift besiegelte Gesetz steht für einen orthodoxen Christen über allen anderen Bestimmungen, denn nach ihm wird Gott den Menschen und die Völker vor Seinem Thron richten. […] Darauf müssen die Christen zusammen mit den Aposteln Peter und Johannes erklären: `Ob es vor Gott recht ist, mehr auf euch zu hören als auf Gott?´“ (GW 21). So auch Alexander Agadjanian, Russian Orthodox Vision of Human Rights: Recent Documents and their Significance (= Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums, 7), Erfurt 2008, der zwar einerseits eine „outward-oriented“ Tendenz namentlich der GW feststellt, „for it contains a claim of the Church to be publicly present and visible, to play a social role and to acquire a political and moral weight“, andererseits jedoch herausstreicht: „[…] it seems to be deeply inward-oriented. Its major objective is to create a clear reference to believers, to the Church members, to the clergy and lay communities, and to offer some guidelines to the Church on how to deal with the HRD [human rights discourse – JW] and how to use this legal and ideological instrument with the purpose of protecting the rights of the Church and its members“ (15 – Hervorhebungen im Original). Vgl. Walter Schöpsdau, „Sozialenzykliken“, Evangelisches Kirchenlexikon 4 (19963) 323–325, hier 324.

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Menschenrechte, wie sie beispielsweise im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen zumindest in den 70-er und 80-er Jahren noch unter maßgeblicher orthodoxer Beteiligung stattfanden.14 Aber auch ob damit für orthodoxe Gläubige, die sich im akademischen Kontext bewegen und an der allgemeinen Menschenrechtsdebatte, namentlich in Internetforen, partizipieren, langfristig befriedigende Antworten geboten werden, darf gefragt werden. Problematisch scheint vor allem zu sein, dass die ROK durch diese Form der Soziallehre ihre eigene politische und gesellschaftliche Position eher schwächt, als ihr ein sicheres Fundament zu geben. Denn hier wird die Differenz zwischen dem universalen Anspruch der christlich-theologischen Begründung und ihrer faktisch partikularen Bedeutung in einem pluralistischen Kontext, wie er auch für die russische Gesellschaft nicht zu verneinen ist, schlicht übergangen, indem eine „Harmonisierung“ der Menschenrechte mit „christlichen Werten“ gefordert wird.15 Hinzu kommt noch, dass die ROK die Menschenrechte in Gestalt der Religionsund Gewissensfreiheit zugleich als Schutzrechte für sich selbst in Anspruch nimmt (vgl. besonders GW, Abschnitt 5). Damit aber stellt sich die Frage, ob die fundamentale Problematisierung der Menschenrechte im Interesse der Behauptung des universalen Anspruchs christlicher Normorientierung ethischen Verhaltens nicht der eigenen Intention der ROK direkt zuwiderläuft, durch Berufung auf die Menschenrechte das eigene Existenzrecht unabhängig von jeder normativen Begründung absichern zu wollen – namentlich vor dem Hintergrund der Erfahrungen eines totalitären Säkularismus, wie ihn das Sowjetsystem prägte. Hier zeigt sich ein Widerspruch, der eine erhebliche argumentative Schwäche vor allem des 2008 veröffentlichten Dokumentes darstellt. Hieran anknüpfend lässt sich freilich positiv herausstellen, dass – abgesehen davon, dass die ROK durch die Veröffentlichung beider Stellungnahmen Rechenschaft über ihre eigene Position gegeben und damit auch Bereitschaft zur Diskussion gezeigt hat – mit beiden Dokumenten zugleich die Frage nach der normativen Grundlage der Menschenrechte und damit zusammenhängend überhaupt nach dem Verhältnis von 14

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Vgl. dazu Alf Tergel, Human Rights in Cultural and Religious Traditions, Uppsala 1998, 203–258. – Der Unmut über die GW im Westen scheint dabei nicht zuletzt im Anachronismus der Sozialverkündigung zu liegen, also in der Form der Soziallehre – denn so sehr Alexander Agadjanian zuzustimmen ist, dass die ROK – wie auch andere Kritiker des „human rights discourse“ – „inscribe themselves into this `semantic universe´“ und wir damit dem Phänomen eines „paradoxical acceptance-through refusal“ begegnen (ibidem, 6), so wählt die ROK doch eine Form, die im westlichen Kontext inzwischen unüblich ist. Dass sie sich inhaltlich nicht stark von westlichen Begründungen der Menschenwürde unterscheidet, zeigt die Schrift Würde. Groß vom Menschen denken (München 2010) des Heidelberger Professors für evangelische Theologie Wilfried Härle. Vgl. Werner Wolbert, „Christentum und Menschenrechte im Konflikt? Zur Diskussion um die russisch-orthodoxe Erklärung zu den Menschenrechten“, Ökumenische Rundschau 59 (2010) 363– 377, hier 372, der daran erinnert, dass das „Ethos der Menschenrechte nicht ein Hochethos ist, sondern Grundnormen des menschlichen Zusammenlebens enthält. [...] Erst der fundamentale Wert der Religionsfreiheit etwa macht ein Leben nach dem Glauben möglich [...]. Mit der Religionsfreiheit allein ist aber noch kein höherer Wert realisiert“.

Das Menschenrechtsdokument im Kontext der Soziallehre der ROK

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Recht und Moral,16 theologischer und allgemeiner Begründung gestellt wird,17 eine Frage, die, wie auch die unterschiedlichen Reaktionen auf die Dokumente zeigen, keineswegs als ausdiskutiert gelten kann. Gerade auch auf die Gefahr der politischen Instrumentalisierung und mithin die möglichen Spannungen zwischen globalen Menschenrechten und innerstaatlichen Grundrechten hat die ROK auf diese Weise noch einmal neu aufmerksam gemacht.

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Zur aktuellen philosophischen Diskussion in dieser Hinsicht vgl. Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Recht und Moral, Hamburg 2010. Vgl. dazu Heinz Eduard Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, München 1988.

Die Erklärung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten Stefan Tobler The discussions in the aftermath of the human rights declaration of the Russian Orthodox Church from 2008 were not only intriguing and informative. They also produced a number of misunderstandings and polemical accounts, which usually failed to do justice to the presuppositions and the intentions of the interlocutors. However, the distinction between human dignity as a transcendental concept on the one hand, and as a doubly empirical one on the other, may lead to an understanding of the existing commonalities between the two sides. At the same time, it may also contribute to a realisation of where the conflict lines between them really run. By naming and limiting these conflict lines this chapter attempts to rationalise the entire dialogue and to show that Orthodox and Evangelical positions do not necessarily have to diverge fundamentally.

Im Juni 2008 verabschiedete das Moskauer Bischofskonzil das Dokument Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte.1 Seither wurde diese Stellungnahme vielfach gewürdigt und kritisiert2 und die dahinterliegende Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie erneut aufgegriffen.3 Dank der deutschen Übersetzung von Vorträgen und Aufsätzen des Moskauer Patriarchen Kirill ist eine umfangreiche Dokumentation ver-

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Von Seiten der Russischen Orthodoxen Kirche wurde eine englische Übersetzung erstellt, URL: http://churchby.info/eng/11/ (besucht am 14. Juni 2013). In deutscher Sprache bestehen zwei Versionen: 1. Rudolf Uertz und Lars Peter Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, veröffentlicht durch das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau 2008 (im Folgenden wird aus dieser Version zitiert, mit der Abkürzung ROK und unter Bezugnahme auf die entsprechenden Paragraphen); 2. „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen“, in: Kyrill, Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’, Freiheit und Verantwortung im Einklang. Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft, hg. von Barbara Hallensleben, Guido Vergauwen und Klaus Wyrwoll, Freiburg (Schweiz) 2009, 220–239. Zwei repräsentative Beispiele seien genannt. Ein Heft der Ökumenischen Rundschau ist diesem Thema gewidmet: Band 59, Nr. 3 (2010). Die Beiträge einer Tagung im Jahr 2009 in Nijmegen fanden in einen umfangreichen Band Eingang, der in vielfältiger Weise auf Hintergründe und Problemstellungen eingeht: Alfons Brüning und Evert van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, Leuven 2012. Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes (Hg.), Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie (Essener Gespräche Thema Staat und Kirche, Bd. 45), Münster 2011.

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fügbar, die zum Verständnis der Motivation, der Entstehungsgeschichte und der Hintergründe des Dokuments beitragen.4 Jedenfalls ist es auf dem Hintergrund der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) aus dem Jahr 2000 zu interpretieren.5 Die Abschlusserklärung der (in der deutschen Übersetzung so genannten) „Zehnten Weltversammlung des Russischen Volkes“ über Menschenrechte und Menschenwürde aus dem Jahr 20066 ist ein anderes Vorgängerdokument, das Reaktionen von evangelischer Seite ausgelöst hat,7 da es dem Menschen als Ebenbild Gottes einen unverlierbaren „Wert“ beimisst, die „Würde“ aber als etwas bezeichnet, das erworben werden muss bzw. verloren gehen kann, und da es betont, dass Werte „wie etwa Glaube, Sittlichkeit, Heiligtümer, Vaterland“ in ihrer Bedeutung den Menschenrechten nicht nachstehen. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Menschenrechten und der traditionellen christlichen Moral, zwischen individuellen Rechten und kollektiven Werten wird hier zum Ausdruck gebracht. Durch diese Diskussion angestoßen, kam es im März 2007 in Moskau zu einem Treffen russischer Vertreter mit einer Gruppe von Experten der Kommission „Kirche und Gesellschaft“ der Konferenz Europäischer Kirchen.8 Das gemeinsame Kommuniqué betont die „beiderseitige Entschlossenheit […], die Treue der Kirchen zu den Menschenrechten in der Form zu festigen, wie sie in der Note der UNO zu den Menschenrechten, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und

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Kyrill, Freiheit und Verantwortung. Die Stoßrichtung der Beiträge von Patriarch Kirill ist allerdings – bei allem Verständnis für seine Sorge um die Wahrung der christlichen Tradition in Europa – ziemlich problematisch, weil sie auf eine Polarisierung hinausläuft. So urteilt er (in einem Vortrag aus dem Jahr 2004 mit dem Titel „Das liberale Wertesystem als Bedrohung der Freiheit“, 64–69), dass es um einen weltweiten Streit zwischen zwei Weltanschauungen, zwei Systemen geht, dem säkular-humanistischen und liberalen einerseits, dem religiös-traditionsbezogenen andererseits. Ein Clash of Civilizations drohe nicht zwischen Religionen, etwa zwischen Islam und Christentum (69), sondern zwischen Tradition und Liberalismus, zwischen Religion und Säkularismus. Einen solchen Gegensatz zwischen dem liberalem Wertesystem und dem christlichen Glauben zu konstruieren, ist sowohl historisch wie auch theologisch nicht haltbar. Vgl. dazu den Beitrag von Jennifer Wasmuth in diesem Band. Ausführliche Informationen zu den Hintergründen bieten die beiden Aufsätze, die zusammen mit einer deutschen Übersetzung der Sozialkonzeption veröffentlicht wurden: Rudolf Uertz, „Einführung in die politische Theorie des russisch-orthodoxen Christentums“, in: Josef Thesing und Rudolf Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung und Kommentar, Sankt Augustin 2001, 134–173; Konstantin Kostjuk, „Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche: Schritt zur Zivilgesellschaft oder Manifest des orthodoxen Konservatismus?“, ibidem, 174–196. Eine umfassende Einführung mit vielen Literaturangaben bietet: Christoph Schwyter, Das sozialpolitische Denken der Russischen Orthodoxen Kirche. Eine theologische Grundlegung auf der Basis offizieller Dokumente seit 1988 (Studia oecumenica Friburgensia, 56), Freiburg/Basel 2013. In deutscher Übersetzung publiziert in: Kyrill, Freiheit und Verantwortung, 159–161. Dagmar Heller, „Wert und Würde des Menschen. Bemerkungen zu einem russisch-orthodoxen Verständnis der Menschenrechte“, Ökumenische Rundschau 56 (2007) 88–98. Das gemeinsame Kommuniqué ist in deutscher Sprache verfügbar in: Kyrill, Freiheit und Verantwortung, 171–173.

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in der Sozialcharta des Europarates festgelegt wurden“, und widersetzt sich dem Versuch, eine Trennung zwischen einem „sogenannten östlichen oder westlichen Verständnis der Menschenrechte“ zu schaffen. Das 24. bilaterale theologische Gespräch zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der ROK im Februar 2008 stand daher ebenfalls unter diesem Thema. Die Abschlusserklärung9 zeigt, dass es zwischen den beiden kirchlichen Traditionen eine große Schnittmenge an gemeinsamen Überzeugungen gibt und dass die durch die Menschenrechte zu schützende Freiheit keineswegs von der Verantwortung für das Gemeinwohl getrennt werden kann. Das Moskauer Dokument zu den Menschenrechten aus dem Jahr 2008 spiegelt allerdings nur wenig von diesen Versuchen der Verständigung wider. Vielmehr ist es seine Intention, die Sorge der ROK zum Ausdruck zu bringen, dass „mit dem Hinweis auf den Schutz der Menschenrechte Ansichten umgesetzt werden, die sich von der christlichen Lehre grundlegend unterscheiden“, wie es in der Einleitung heißt. Mit diesem Dokument soll ein Gegengewicht zur vorherrschenden politischen Meinung geschaffen werden, um „die Theorie der Menschenrechte sowie deren Umsetzung im Leben zu bewerten“. Der Anspruch ist also hoch, wie auch die Schlussworte zeigen. Den orthodoxen Schwesterkirchen wird das Dokument in der Hoffnung angeboten, dass es die Grundlage für eine gemeinsame Position bilden könnte. Weil „der europäischen Integration die Werte des westlichen Zivilisationsmodells zugrunde liegen“, sollte man begreifen, „dass die Länder Osteuropas nicht blind Regeln folgen wollen, die irgendwann von irgendwem ohne ihre Beteiligung ausgearbeitet wurden“ – so sagte Patriarch Kirill in einem Vortrag im Jahr 2002.10 Er ist überzeugt, dass Russland die Aufgabe hat, die Stimme einer schweigenden Mehrheit zu sein: Die russische Kultur ist besonders sensibel für die universalen Beunruhigungen des Menschen. Tief in ihr liegt eine Tradition, Themen wie Freiheit, Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit gedanklich zu erfassen. Das bezeugen die russische Theologie, Spiritualität, Philosophie, Literatur und Kunst, die in verschiedenen Ländern der Welt mit Interesse aufgenommen werden. Diese Beweggründe stehen hinter der Arbeit der Russischen Kirche zum Thema Menschenrechte.11

Hier gehe es darum, auf den „fundamentalen Widerspruch zwischen der religiösen und der säkularen Einstellung zur Menschenwürde“ hinzuweisen, und die ROK habe „als erste dieses Problem auf der internationalen Ebene formuliert“.12 Das Dokument aus 9

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Veröffentlicht in: Kyrill, Freiheit und Verantwortung, 176–182. Eine Analyse dieses Gesprächs ist zu finden bei: Heta Hurskainen, „Human Rights in the 2008 bilateral discussion of the Russian Orthodox Church with the Evangelical Church of Germany and the Evangelical Lutheran Church of Finland“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 155–168. Patriarch Kyrill, „Globalisierung und Vielfalt der Kulturen“ [2002], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 100–105, Zitate 102 und 104 Patriarch Kyrill, „Menschenrechte in den europäischen Religionsgemeinschaften“, in: ders., Freiheit und Verantwortung, 114–121, Zitat 115f. Patriarch Kyrill, „Die Russische Kirche und die christliche Dimension der Menschenrechte“, in: ders., Freiheit und Verantwortung, 106–108, Zitat 106.

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dem Jahre 2008 will nun ausführen, worin die Unterschiede liegen, und will eine gemeinsame Front schaffen. Es ist aber auch ein Angebot zum Dialog, und darum werden – neben den staatlichen Organen – auch andere christliche Kirchen eingeladen, sich „am Studium und der Erörterung des Dokuments zu beteiligen“ (ROK V.4.).

Die Stellungnahme der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa An die im Schlussabschnitt ausgesprochene Einladung knüpfte der Rat der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) an, als er sich entschloss, eine Antwort zu verfassen und damit auch die vorangehenden Gespräche zwischen der ROK und evangelischen Kirchen wieder aufzugreifen. Diese Antwort wurde im Juni 2009 veröffentlicht13 und hat ihrerseits bald Zustimmung und Widerspruch gefunden.14 Pointiert wird darin geurteilt, dass im russischen Dokument von einem „Missverständnis der Menschenrechte“ die Rede sei (GEKE 1).

Die theologische Begründung der Menschenwürde Der erste Abschnitt der GEKE-Antwort nimmt zu Recht das zentrale Anliegen auf, nämlich die theologische Fundierung des Menschenwürdebegriffs. Allerdings gelingt es in diesem konzentrierten Text auf einer Seite nicht, dem komplexen Thema ganz gerecht zu werden, vor allem da auch noch die ältere Positionsbestimmung von russischer Seite aus dem Jahr 2006 (die oben erwähnte Weltversammlung des Russischen Volkes) mit ihrer problematischen Zuordnung von „Wert“ und „Würde“ hineinspielt und kritisiert wird, die aber zumindest auf der Ebene der Terminologie im Dokument von 2008 überwunden ist. In letzterem wird nämlich ausdrücklich betont, dass von einer „unveräußerlichen, ontologischen Würde […] jeder menschlichen Person“ (ROK I.2.) die Rede ist. Trotz dieser Unschärfe auf der Ebene der Terminologie zielt die GEKE-Antwort aber auf den Kern der orthodoxen Argumentation. Es geht tatsächlich um die Frage, ob es überzeugend gelingt, die Unverlierbarkeit der Menschenwürde theologisch zu begründen – oder ob die entsprechende Deklaration (die sich in allen kirchlichen orthodoxen Stellungnahmen findet) nicht durch eine parallel laufende, aber anders geartete Argumentation aufgeweicht und entkräftet wird. Die Stellungnahme der GEKE weist darauf hin, dass in evangelischer Sicht die Gottebenbildlichkeit „relational als Ausdruck der menschlichen Existenz im Gegenüber und in Beziehung zu Gott verstanden“ wird (GEKE 1). Nicht um einen Zustand 13

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Vorerst nur auf der Webseite der GEKE: URL: http://leuenberg.net/sites/default/files/doc-98052.pdf (besucht am 14. Juni 2013), später auch in der Ökumenischen Rundschau 59 (2010) 423– 430. Erste Beispiele dafür in: Stefan Tobler, „Menschenrechte als kirchentrennender Faktor? Die Debatte um das russisch-orthodoxe Positionspapier von 2008“, Zeitschrift für Theologie und Kirche 107 (2010) 325–347, vor allem 326f. und 339–342.

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des Menschen an sich geht es also, der in irgend einer Weise feststellbar und beschreibbar (und damit auch veränderbar) sein könnte, sondern um die einzigartige Stellung, in Beziehung mit Gott stehen zu können – und zwar allein aus Gnade. Dass es in einer so verstandenen Gottebenbildlichkeit – und in Folge dessen in der damit begründeten Menschenwürde – um keine durch Leistungen zu erringende Qualität und um keine gradmäßigen Abstufungen geht, wird anhand der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben neutestamentlich vertieft. Die Menschenwürde ist unverlierbar, weil sie als ein Geschenk der freien Gnade Gottes verstanden wird, und darum ist sie ein „Tabu, das sich kategorisch gegen jede Verdinglichung und Instrumentalisierung von Menschen stemmt“ (GEKE 1). Damit ist für das Anliegen der universalen Geltung der Menschenrechte das Fundament geschaffen. Die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik der GEKE, dass im russischen Dokument die christologische Fundierung fehle, ist zwar insofern nicht korrekt, als die ganze anthropologische und soteriologische Konzeption der Orthodoxie von der Fleischwerdung des Logos und den zwei Naturen in Christus ausgeht (ROK I.1.). Die Differenz ist aber in der Frage zu suchen, wie der Kern des Heilswerkes Christi verstanden wird.

Menschenrechte und Moral Der entscheidende Kritikpunkt der GEKE betrifft genau das, was das eigentliche Anliegen des russischen Papiers ist: die Verbindung von Menschenrechten und Moral. Die Menschenwürde – so das Dokument aus 2008 – habe eine doppelte Dimension. Der Mensch sei einerseits nach dem Bilde Gottes geschaffen, und als höchster Wert des Menschen sei dies eine Gabe Gottes. Andererseits rufe diese Gabe nach einem der Würde entsprechenden Leben, das zum Begriff der Gottähnlichkeit in Beziehung gesetzt wird. Es geht um die klassische Unterscheidung von imago dei und similitudo dei, zwischen eikon und homoiosis. Die similitudo dei wird „nach der Göttlichen Gnade durch die Überwindung der Sünde, den Erwerb der sittlichen Reinheit und der Tugenden erreicht“ (ROK I.2.), sie ist das Ziel des wahren menschlichen Strebens, die Vergöttlichung. Imago und similitudo können nicht getrennt werden. Weil die zu erstrebende Gottähnlichkeit eng mit dem sittlichen Leben zusammenhänge, ist „die Bewahrung der gottgegebenen Würde und das Wachsen in ihr […] nach der orthodoxen Tradition abhängig vom Leben im Einklang mit den sittlichen Normen“ (I.5.). Darum seien Menschenwürde und Sittlichkeit untrennbar, ja es „hat der Begriff `Würde´ in der östlichen christlichen Tradition in erster Linie einen sittlichen Sinn“ (I.2.). Da der Begriff der Menschenwürde den Menschenrechten zugrunde liegt, werden diese nun auf der Basis des sittlich akzentuierten Würdebegriffs beurteilt. In der heutigen Praxis der Menschenrechte, so steht es in der Einleitung des russischen Dokuments, komme es häufig vor, dass „Ansichten umgesetzt werden, die sich von der christlichen Lehre grundlegend unterscheiden“, ja noch mehr, es gebe Situationen, in denen die Christen „von den öffentlichen und staatlichen Strukturen gezwungen werden können und zum Teil bereits gezwungen werden, gegen die Göttlichen Gebote zu

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denken und zu handeln“. Damit aber werden sie von ihrem höchsten Ziel, der Erlangung des Heils, abgehalten. Die Menschenrechte – so wird darum in Teil 3 des russischen Dokuments ausgeführt – müssten mit den Normen der Moral in Einklang gebracht werden. Sie „können nicht über den Werten der geistigen Welt stehen“ und „dürfen nicht mit der Offenbarung Gottes in Konflikt geraten“ (III.2.). Die Säkularisierung habe den Menschen von Gott getrennt, und das habe auch die Menschenrechte auf eine falsche Basis gestellt. Die Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung mit Gott seien jedoch Rechte des gefallenen Menschen und darum das Einfallstor der Sünde. Darum könne das westlich-liberale, säkulare Verständnis der Menschenrechte nicht im vollen Umfang übernommen werden. Wenn die Menschenrechte auf dem rechten – nämlich christlichen – Verständnis der Menschenwürde fußen, müssen sie auch in Übereinstimmung mit der christlichen Moral stehen und diese fördern. Insoweit sie das nicht tun, müssen sie kritisch beurteilt und nötigenfalls korrigiert und durch andere Werte ergänzt werden. In dieser Verbindung von Menschenrechten und Moral sieht die GEKE jedoch ein fundamentales „Missverständnis der Menschenrechte“. Die Menschenwürde werde „in eine moralische Kategorie transformiert“, und damit würde den Menschenrechten ihre entscheidende Pointe genommen, nämlich die universale Geltung unabhängig von der moralischen Qualität des Trägers. Universale Geltung bedeutet auch, dass sie nicht an ein bestimmtes Ethos oder eine bestimmte Weltanschauung gebunden werden können. „Zwischen der neuzeitlichen Gestalt der Menschenrechte und den Grundinhalten des christlichen Glaubens besteht nämlich ein Verhältnis von Entsprechung und Differenz“, wie im GEKE-Papier unter Rückbezug auf ein Studiendokument der Leuenberger Kirchengemeinschaft15 dargelegt wird. Dies bedeutet, den säkularen Charakter der Menschenrechte nicht nur zu akzeptieren, sondern positiv zu würdigen, weil damit die Anschlussmöglichkeit an unterschiedliche kulturelle Traditionen der Menschheit gegeben ist und vermieden wird, ein „formuliertes Ethos unmittelbar mit dem Gesetz Gottes zu identifizieren“ (GEKE 2). Diese Verbindung von Universalität und Säkularität der Menschenrechte ist es aber gerade, die in vielen orthodoxen Stellungnahmen – nicht nur im russischen Paper von 2008 – als problematisch bezeichnet wird.16

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Michael Bünker und Martin Friedrich, Gesetz und Evangelium. Eine Studie, auch im Hinblick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen [zugleich englisch: Law and Gospel: A Study, also with Reference to Decision-Making in Ethical Questions], (Leuenberger Texte, Bd. 10), Frankfurt am Main 2007. Alfons Brüning analysiert solche Stellungnahmen und stellt sie in den breiteren, wenn auch sehr diffusen Kontext von anti-westlichen oder genauer anti-lateinischen Stereotypen: „… in Eastern Christian, or Orthodox, Anti-Westernism there can be found effectively (at least) two discourses mixed with each other: one is that about the Human Rights concept’s claim to universality, regardless of any possible cultural context of their application; the other concerns the theological distinction between the realm of the Church and the sphere of `this world´, i. e. the spheres of the sacred and the secular, in other words, the secularity of the Human Rights concept.“ (Alfons Brüning, „`Freedom´ vs. `Morality´ – On Orthodox Anti-Westernism and Human Rights“, in:

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Freiheit und Verantwortung, Individuum und Kollektiv Freiheit ist „niemals bindungslos, sondern auf Verantwortung und Liebe ausgerichtet“ (GEKE 3). Das ist aus der Sicht christlicher Theologie unstrittig, und über die Grenzen von Glaube und Weltanschauung hinweg kann ein Satz von Patriarch Kirill Zustimmung finden: „Von der Fähigkeit, die Rechte und Freiheiten mit sittlicher Verantwortung zu verbinden, hängt in vieler Hinsicht das Wohlergehen, vielleicht sogar der Fortbestand der menschlichen Zivilisation in der globalisierten Welt ab“.17 Die Frage allerdings, an der sich Unterschiede auftun, ist diejenige nach dem Ort und den Mitteln, wie diese sittliche Verantwortung gestärkt werden soll. Das Ziel des russischen Dokuments ist es, dem Anliegen der moralischen Dimension in der Gesellschaft mit Macht Gehör zu verschaffen. Dessen Autoren sind in großer Sorge bezüglich der gesellschaftlichen Sitten. Sie sehen „zweifellos lasterhafte Erscheinungen wie Abtreibung, Selbstmord, Unzucht, Perversität, die Zerstörung der Familie, den Kult der Grobheit und Gewalt“ (ROK II.2.) überhand nehmen. Das habe wesentlich damit zu tun, dass die Menschenrechte ein einseitiges Bild der Freiheit fördern, nämlich nur die „Freiheit der Wahl“, während die von Christus geschenkte Freiheit zum Guten und damit das „Frei-Sein von Sünde“ verlorengegangen sei. Der Freiheitsbegriff im westlichen, säkularen Konzept der Menschenrechte tendiere dazu, zu einer „Freiheit zu sündigen“ zu werden,18 weil „sowohl der Begriff als auch das Problem der Sünde in der liberalen Philosophie ignoriert werden“, wie Patriarch Kirill urteilt, und darum die „religiöse Unterscheidung von Gut und Böse“19 verlorengegangen sei. Die Antwort der GEKE drückt Erstaunen darüber aus, dass eine solche disparate Liste von moralischen Lastern der Institution der Menschenrechte angelastet wird. Es ist aus evangelischer Sicht nicht nachzuvollziehen, dass Christen durch die Menschenrechte „zur Verletzung der Gebote Gottes“ gezwungen werden (ROK III.3.) und dass „hinter den Menschenrechten eine staatliche Gewalt steht, die den Menschen zwingen kann, eine Sünde zu begehen, mit ihr zu sympathisieren oder ihr aus banalem Konformismus Vorschub zu leisten“.20 Unter Hinweis auf die Freiheitsschrift Luthers und auf das paulinische Prinzip in 1 Kor 10,23 („Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf“) wird betont, dass eine echte sittliche Haltung, gesellschaftliche Verantwortung und

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Brüning und Van der Zweerde, Hg., Orthodox Christianity and Human Rights, 125–152, Zitat 126). Patriarch Kyrill, „Eröffnungsrede zur Konferenz: Europa eine Seele geben“ [2006], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 109–113, Zitat 113. Beispiele für diese Kritik bei Brüning, „`Freedom´ vs. `Morality´“, 131f. Patriarch Kyrill, „Die Russische Kirche und die christliche Dimension der Menschenrechte“ [2006], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 106–108, Zitat 106. Es wäre eine gesonderte Untersuchung wert, wie der russische Patriarch zu einem so einseitigen Bild des „Westens“ kommt, als ob dieser unter dem Stichwort und Feindbild des „Liberalismus“ umfassend beschrieben wäre. Weiß er nicht, welche Welten zwischen Kant und Nietzsche liegen, oder passt es einfach nicht in seine Argumentation? Patriarch Kyrill, „Menschenrechte und sittliche Verantwortung“ [2006], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 88–99, Zitat 89.

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christliche Liebe notwendigerweise auf der Freiheit aufbauen, zwischen diesen also kein Widerspruch konstruiert werden kann. Die Menschenrechte schützen diese Freiheit als Raum, der zwar zum Bösen missbraucht werden kann, in dem allein aber auch das Gute wachsen kann. Auch in den verschiedenen Erklärungen der Menschenrechte wird diese Zuordnung widergespiegelt: „Persönliche Freiheitsrechte, soziale Teilhaberechte und die Rechte auf Entwicklung, Frieden und Schutz der Umwelt ergänzen sich demnach, wenn auch in einem spannungsvollen Verhältnis“ (GEKE 3). Somit liegt der Unterschied der Positionen nicht in der Frage, ob recht verstandene Freiheit auch Verantwortung in sich schließt, sondern darin, wie weit man dem Einzelnen den Spielraum zu dieser Freiheit zumutet – oder ihn vielmehr in ein soziales Regelwerk einbindet, das die Vielfalt beschränkt und die traditionellen, kollektiven Träger des gesellschaftlichen Lebens stärkt. Letztlich geht es den Autoren des russischen Papiers um eine solche Gewichtsverschiebung. Nicht „die säkularisierten Normen der Menschenrechte“ sollen die höchste Autorität im gesellschaftlichen Leben haben, sondern „vielmehr die Glaubenslehre und die Traditionen“ (III.2.). Darum wird betont: neben den Rechten des Individuums gebe es auch die kollektiven Rechte der Träger von kulturellen und religiösen Traditionen. Diese sind die besten Garanten für Werte wie Gemeinschaft und Familie, Vaterland und Schöpfung.21 Eine solche Gewichtsverschiebung hin zu kollektiven Trägern der gesellschaftlichen Werte wurde in den Reaktionen auf das russische Papier teilweise sehr kritisch beurteilt, als Distanzierung von der Idee eines liberalen Rechtsstaates22. Eine solche Forderung ist aber nicht ein rein orthodoxes oder osteuropäisches Phänomen. Im Vorwurf der Sündenvergessenheit klingt ein alter kirchlicher Vorbehalt gegen die Menschenrechte mit: man erwarte zu viel von der Freiheit und denke, dass sie aus sich selbst das Gute hervorbringe. Der einzelne Mensch aber sei zu diesem Guten nicht imstande. Der Vorwurf wurde schon gleich nach der Deklaration der Menschenrechte Ende des 18. Jahrhunderts eingebracht und lautete: dem einzelnen Menschen all diese Rechte einzuräumen bedeute, einem zu optimistischen und damit unchristlichen Menschenbild anzuhangen. Die Ereignisse im Anschluss an die Französische Revolution wurden als klares Zeichen für die theologische Überzeugung gesehen, dass der Mensch

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Schon das Vorgängerdokument aus dem Jahr 2006 (siehe oben Anm. 6) spricht von Werten wie „Glaube, Sittlichkeit, Heiligtümer, Vaterland“, die „den Menschenrechten nicht nachstehen“. Sehr kritisch äußert sich zum Beispiel der Jurist Otto Luchterhandt, „Menschenrechte, Religionsfreiheit und Orthodoxie“, in: Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes (Hg.), Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie (Essener Gespräche Thema Staat und Kirche, Bd. 45), Münster 2011, 175–218. Er sieht eine strukturelle Ähnlichkeit zu dem sowjetischen Erbe und benennt sieben Punkte: 1. Misstrauen der Kirche gegenüber der Freiheit des Individuums; 2. Die Pflichten des Menschen haben Vorrang vor den Menschenrechten; 3. Einheit von Rechten und Pflichten als Begründung für Freiheitsbeschränkungen; 4. Ablehnung der Gleichheit der Religionsgemeinschaften; 5. Desinteresse am weltlichen Recht, an seinen Frieden stiftenden und Freiheit gewährleistenden Funktionen und Verfahren; 6. Parteilichkeit: Rechtsschutz sollen vor allem die orthodoxen Christen genießen; 7. Ausgesprochen distanziertes Verhältnis zum Phänomen der pluralistischen Gesellschaft (ibidem, 208–211).

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wegen seiner Sünde nicht fähig sei, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Diesen Optimismus-Vorwurf haben Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt in ihrem Buch von 1977 jedoch überzeugend entkräftet. Liberale Denker mögen dem Einzelnen mehr zutrauen, konservative Denker hingegen den staatlichen und gemeinschaftlichen Strukturen.23 Aber auch letztere sind von Menschen gemacht und zutiefst fehlbar. Das Vertrauen in sie hat sich im 19. und 20. Jahrhundert ja als große Täuschung erwiesen. In Bezug auf den Realismus im Hinblick auf die Macht der Sünde sind kommunitaristische Philosophien den liberalen also nicht überlegen.

Differenzierungen im Begriff der Menschenwürde Der Kern der Argumentation im russischen Dokument von 2008 liegt im zweipoligen Verständnis von Gottebenbildlichkeit (und damit auch von Menschenwürde): als eikon ist sie jedem Menschen mitgegeben, als homoiosis muss sie erst noch erlangt werden. Der Weg zur homoiosis ist der Weg der Erlösung, der jedem Menschen aufgegeben ist und der mit Hilfe der Gnade Gottes beschritten wird. Gottebenbildlichkeit ist eine dynamische Kategorie, sie kennt eine gradmäßige Abstufung und hat im Wesentlichen eine sittliche Dimension: orthodoxe Ethik kann im Anschluss an die Anthropologie der griechischen Kirchenväter „Homoiosisethik“ genannt werden24. Die Menschenrechte als Konkretisierung der Menschenwürde im gesellschaftlichen Leben haben darum einen ähnlich hohen Anspruch: Sie sind „ein Instrument, das dem höchsten Ziel der sittlichen Vervollkommnung der Person dienen soll“,25 in der Diskussion um deren Geltung geht es nicht nur um die Frage der politischen Ordnung, sondern um nichts Geringeres als „um das Heil der Menschen“.26

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Sie schreiben: So „ ... verteilen sich anthropologischer Optimismus und Pessimismus durchaus auf beide Seiten, freilich spiegelbildlich verschieden. [...] Konservatives Denken vertritt also einen anthropologischen Optimismus in bezug auf die objektiven Ordnungen bei gleichzeitiger skeptischer Einschätzung dessen, was die Individuen ins Leben des Gemeinwesens einbringen. Der anthropologische Optimismus im Menschenrechtsdenken schätzt die Fähigkeit des einzelnen zu Freiheit, Gleichheit und Teilhabe hoch ein bei gleichzeitiger skeptischer Beurteilung der Kräfte und Mächte, die in den Herrschaftspositionen des Staates und der Gesellschaft etabliert sind. Vom christlichen Sündenverständnis her ist nicht einzusehen, dass der eine Optimismus weniger als der andere die Einsicht in die tiefen Verkehrungen menschlicher Existenz verdränge” (Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart. 2 1978, 128f.). So bringt es Ulrich Volp auf den Punkt, vgl. ders., Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche (Supplements to Vigiliae Christianae, 81), Leiden 2006. Patriarch Kyrill, „Eröffnungsrede zur Konferenz: Europa eine Seele geben“ [2006], 109–113, Zitat 113. Patriarch Kyrill, „Menschenrechte und sittliche Verantwortung“ [2006], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 88–99, Zitat 89.

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Wenn die Menschenwürde als dynamische Kategorie Wachstum kennt – kann sie dann auch verloren gehen? Nach klassischer orthodoxer Lehre ist das nicht möglich, und auch das russische Dokument spricht von einer „unveräußerlichen ontologischen Würde“ (ROK I.2.). Dennoch ist dort in Bezug auf die Unverlierbarkeit der imago dei im Menschen eine merkwürdige Ambivalenz zu beobachten. Bereits der fett gedruckte Schlusssatz von Teil I nimmt die Rede von der Unverlierbarkeit der imago dei ein gutes Stück zurück, denn wenn „die Bewahrung der gottgebenen Würde […] vom Leben im Einklang mit den sittlichen Normen“ abhängig ist, dann kann es offenbar auch den Fall geben, dass diese Würde nicht bewahrt wird. Wird sie in diesem Fall nur „verfinstert“, wie der erste Satz von Teil II ausdrückt, oder kann sie „durch die Sünde ausgelöscht“ werden, wie es gleich darauf heißt?27 Die Frage stellt sich im nächsten Abschnitt von neuem im Hinblick auf den Freiheitsbegriff. Ein wesentlicher Bestandteil der geschöpflichen imago dei ist die Freiheit als autexousion im Sinne der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung. Wo der Mensch diese zur Wahl des Bösen benutzt, verliere er die andere Freiheit, die eleutheria, als Freiheit zum Guten. Mit der Wahl einer unsittlichen Lebensweise wird dann jedoch – nach Aussage der ROK – auch die Freiheit der Wahl selbst (also die autexousion) zerstört, weil der Mensch dann durch die Sünde versklavt ist: Und umgekehrt zerstört der Missbrauch der Freiheit, die Wahl einer falschen, unsittlichen Lebensweise, letztlich die Freiheit der Wahl selbst, weil sie den Willen zur Versklavung durch die Sünde in sich trägt. […] Ein Miteinander des Bösen und der Freiheit ist unvereinbar (ROK II.2.).

Mit anderen Worten: ein konstitutives Merkmal der imago dei ist offenbar nicht unverlierbar. Eine solche Aussage steht jedoch im Widerspruch zur eigenen orthodoxen Lehre. Dass die Freiheit im Sinne der Nicht-Determiniertheit des menschlichen Tuns unverlierbar ist, betont Patriarch Kirill selber in mehreren Beiträgen.28 Mit dieser Feststellung geht es nicht darum, den orthodoxen Gesprächspartner auf einem Widerspruch zu behaften. Vielmehr kommt damit die Zielsetzung des Dokuments aus dem Jahre 2008 noch schärfer zum Ausdruck. Es will herausstreichen, wie 27

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So die Übersetzung in der Ausgabe der Konrad-Adenauer-Stiftung (15). Die Version im Sammelband des Patriarchen Kyrill formuliert hier: „verschwimmt in ihr durch die Sünde“ (224). Die englische Übersetzung, die die russische Kirche zur Verfügung gestellt hat, benutzt den Begriff „obliterated“, was zwar auch mehrdeutig ist, aber am ehesten mit „ausgelöscht“ wiedergegeben werden kann. Im Russischen wird das reflexive Verb „sglaživaetsja“ verwendet, was mit „ausbügeln“ zu tun hat: Falten, die ausgebügelt werden, sind verschwunden. So schreibt er: „Ein unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Natur, der ihr einen besonderen Wert verleiht, ist die Wahlfreiheit. Gott selbst hat diese Freiheit in die Natur des Menschen gelegt, und niemand kann über sie hinweggehen, weder ein anderer Mensch noch eine böse Kraft noch gar Gott selbst“. (Patriarch Kyrill, „Eröffnungsrede zur Konferenz: Europa eine Seele geben“ [2006], 109–113, Zitat 112); „Die Freiheit ist unverlierbar, da sie ein Teil der von Gott erschaffenen menschlichen Natur ist. Wenn die Russische Kirche etwas anderes predigen würde, dann widerspräche sie der göttlichen Lehre“. (Patriarch Kyrill, „Der Dialog der Zivilisationen“ [2007], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 130–136, Zitat 132).

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sehr die menschliche Freiheit schwach und bedroht ist, und will darum die rechtlichen Grenzen dieser Freiheit enger ziehen. Die beiden Pole der Menschenwürde stehen in einer organischen, soteriologischen Linie; die Gabe der eikon kann nicht losgelöst von der Aufgabe der homoiosis gesehen werden. Genau darin aber sieht die evangelische Theologie – ausgedrückt in der Antwort der GEKE – die Problematik einer solchen Position. So bedingungslos, wie die (relational verstandene) Gottebenbildlichkeit jedem Menschen gegeben ist, so bedingungslos muss ihm darum auch Menschenwürde zugesprochen werden, die im Instrument der Menschenrechte einen geschützten Raum erhält. Sind diese beiden Positionen unvereinbar? Bereits die im Eingang erwähnten Gespräche zwischen evangelischen und russischen orthodoxen Teilnehmern ließen darauf schließen, dass es Möglichkeiten der Verständigung gibt. Das geht allerdings nur im Respekt für die Anliegen beider Seiten. Im Begriff der Menschenwürde muss darum eine Unterscheidung angebracht werden, von der ausgehend die beiden Positionen als komplementär verstanden werden können. Es geht um die Unterscheidung zwischen der transzendentalen Dimension der Menschenwürde, die eine begründende Funktion hat, und einer doppelten empirischen Dimension. Als angeborene Würde (so die Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) ist sie ein Grunddatum, sie ist für den Menschen fundamental, ein allem Recht und aller Moral zugrunde Liegendes, das universelle Geltung beansprucht und dabei zwar nicht auf religiöse Begründung angewiesen ist, aber – mittels der Idee der Gottebenbildlichkeit – im christlichen Glauben einen starken Bündnispartner hat. Weil sie schlicht den Menschen als Menschen meint, ist sie unverlierbar, nicht quantifizierbar und nicht graduell abgestuft. Die Rede von der Menschenwürde hat – darauf aufbauend – eine doppelte empirische Dimension. Das eine ist der ethisch relevante Sachverhalt, dass dem Anderen (jedem Anderen) Menschenwürde zukommt; und das bedeutet die Möglichkeit, diese Würde zu verletzen beziehungsweise die Pflicht, diese zu achten. Hier hinein gehören die Menschenrechte. In ihrer Schutzfunktion sind die Menschenrechte eine eminent moralische Kategorie, denn sie stellen grundlegende Regeln dar, ohne die es keine menschenwürdige Gesellschaft geben kann. Das andere ist der ethisch ebenso relevante Sachverhalt, dass mir selber Menschenwürde zukommt. Dazu gehört die Freiheit des Einzelnen, sich der eigenen Würde bewusst zu sein und sein Leben danach auszurichten – oder auch nicht; sich menschenwürdig zu verhalten oder nicht. Die Konkretisierung ist allerdings nicht mit allgemein verbindlichen Kriterien messbar, da es von den Wertmaßstäben abhängt, die jeder mit diesem Begriff verbindet. In verschiedener Hinsicht unterscheiden sich diese beiden Teile der empirischen Dimension, wie durch das folgende Schema illustriert wird:

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Bereich der empirischen Konkretisierung

Gottebenbildlichkeit des Menschen unverlierbar als schöpfungsmäßige eikon theou und/oder als relational verstandene Heilsverheißung die Menschenwürde meine Menschenwürde des Anderen

Charakterisierung

Gabe und Zusage

Aufgabe

Inhalt der moralischen Forderung

muss geachtet und geschützt werden

Adressat der moralischen Forderung

Staat, Institutionen, Körperschaften

muss gepflegt werden, kann zur Entfaltung kommen, soll sich im Alltag bewähren der einzelne Mensch

Attribute

unteilbar, nicht abgestuft, nicht an empirischen Beobachtungen aufweisbar Respekt vor der persönlichen Selbstbestimmung jedes Menschen, autexousion Recht, Ethik der gesellschaftlichen Institutionen Menschenrechte

Freiheitsbegriff

Philosophischer bzw. gesellschaftlicher Bereich Mittel Ziel

Soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Friede

erfahrbar (für sich selbst und/oder andere), kann wachsen und abnehmen Entfaltung der Freiheit zum Guten, eleutheria, in Christus Individualethik, Regeln der persönlichen Moral und Lebensführung Ethische Erziehung, Bildung, Verkündigung Heiligung, Gott-Ähnlichkeit, homoiosis theou

Wechselwirkungen und Konfliktfelder Das oben entwickelte Schema könnte helfen, Missverständnisse im Dialog zu vermeiden, weil es mit der Vielschichtigkeit des Menschenwürdebegriffs rechnet. Während die evangelische Seite in der Diskussion um die Menschenrechte den Inhalt der linken Spalte stark macht, ist das Anliegen der ROK im Wesentlichen dasjenige, was in der rechten Spalte beschrieben wird. In der Verständigung zwischen den beiden Traditionen wäre viel erreicht, wenn man gegenseitig die Berechtigung des jeweiligen Anliegens anerkennt. Dabei impliziert das obige Schema:

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• beide Anliegen haben eine gemeinsame Wurzel (die transzendentale Grundlage bzw. – in orthodoxer Terminologie – ontologische Grundlage genannt wird), die theologisch zwar unterschiedlich begründet werden kann, aber doch jeweils eine vergleichbare Funktion erfüllt; • beide Seiten berufen sich zu Recht darauf, das Thema der Menschenwürde zu entfalten – sie tun es nur in unterschiedlicher Stoßrichtung und Perspektive; • die beiden Entfaltungen sind komplementär; • die Unterscheidung (in verschiedener Hinsicht) der beiden Entfaltungen bedeutet nicht, dass von ganz verschiedenen und voneinander getrennten Sachverhalten die Rede ist; vielmehr ist von Wechselwirkungen und Konfliktfeldern auszugehen. Der Einwand der GEKE, die Menschenwürde würde im russischen Dokument „in eine moralische Kategorie transformiert“, ist in diesem allgemeinen Sinn also missverständlich – man müsste aus evangelischer Sicht präziser sagen: die Menschenwürde wird im russischen Dokument „auf ihre individualethische Dimension reduziert“. Das obenstehende Schema drückt aus, dass auch dieses Anliegen des Wachstums in der persönlichen Moral – christlich gesprochen: der Heiligung – im Begriff der Menschenwürde enthalten ist. In diesem Sinn kann davon die Rede sein, dass es ein „Mehr oder Weniger an Menschenwürde gibt und dass sie durch ein Leben in der Sünde verdunkelt, ja sogar `ausgelöscht´“ (ROK II.1.) werden kann. Zugleich aber wird durch die oben entwickelte Unterscheidung ausgedrückt, dass mit dem Streben nach der homoiosis – dem zentralen Anliegen der orthodoxen Theologie – nur ein Teil dessen erfasst wird, was die Rede von der moralischen Qualität der Menschenwürde impliziert. Die Achtung der Menschenwürde des Anderen, denen die Menschenrechte dienen, ist ebenfalls ein höchst „moralisches“ Anliegen. Menschenrechte haben das Potenzial, den Missbrauch des Menschen durch die Mächtigen einzuschränken. Deren Deklaration nach dem Zweiten Weltkrieg und deren weltweite Anerkennung ist eine Reaktion auf die unfassbaren Verletzungserfahrungen unter den totalitären Regimes. Sie haben bis heute dieselbe Funktion der Kritik an jedem Missbrauch des Menschen, auch innerhalb der westlichen Welt. Abu Ghraib war nur eines, wenn auch vielleicht das frappanteste Beispiel dafür, wie gerade auch die USA – als Vertreterin des „liberalen Westens“ und damit der Tradition der Menschenrechte – unter dieser Kritik stehen und tief von ihr getroffen werden können. Im Gespräch mit der russischen Kirche wäre andererseits festzuhalten, dass die Unterscheidung der beiden Perspektiven festgehalten werden muss. Die Menschenrechte gehören nur auf die linke Seite und können in keinem Fall dazu dienen, als Anleitung zum persönlichen Wachstum und zur Erlangung des christlichen Heils zu dienen. Sie haben keine soteriologische Funktion, denn damit wären sie bei weitem überfordert, und die Unterscheidung zwischen Staat und Kirche wäre auf eine für beide Seiten verhängnisvolle Weise verwischt. Die Menschenrechte dürfen darum nicht daran gemessen werden, ob sie mit den Anforderungen der christlichen Moral übereinstimmen. Sie sind der Raum, innerhalb dessen der einzelne Mensch seiner Lebensführung, seinem Glauben und seinen Werten Gestalt geben kann – sie sind also grundsätzlich auf einen gesellschaftlichen Pluralismus hin angelegt. Es kann auch nicht

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die Rede davon sei, dass die Normen der Menschenrechte den Anspruch hätten, über den geistlichen Normen zu stehen. Sie beziehen sich vielmehr auf einen anderen Bereich. Die beiden Seiten der Menschenwürde stehen allerdings keineswegs unverbunden nebeneinander. Von den vielerlei Wechselwirkungen seien nur einige wenige hier angesprochen: • Das autexousion als Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung ist auch gemäß der orthodoxen Lehre die notwendige Grundlage der eleutheria. Dem Aufbau der Gesellschaft zu dienen, die Pflichten anzuerkennen und ihnen nachzukommen, mein Leben zu geben für den Nächsten: all das hat nur dann die Qualität der eleutheria, wenn es aus Freiheit gewählt wird, nicht aber dann, wenn es mir auferlegt wird und ich nur dem äußeren Zwang (oder einem staatlich verordneten Katalog der Menschenpflichten) gehorche. • Umgekehrt gilt: eine Vision dessen, was gute Moral und gut benutzte Freiheit (also eleutheria) ist, hat überhaupt erst zur Entwicklung eines Rechtssystems geführt, das die Selbstbestimmung und damit auch die Würde des Menschen schützt. • Der Staat als Adressat der ethischen Forderung kann nur dann gut funktionieren, wenn in ihm eine ausreichende Anzahl von Menschen tätig ist, die auch persönlich den Leitlinien einer Moral folgen, die auf Gerechtigkeit und Dienst ausgerichtet ist. Das Recht ist letztlich nicht durchsetzbar, wenn es nicht von der Mehrheit der Menschen aus Überzeugung getragen wird. • Der Staat hat ein Interesse an der ethischen Bildung der Bevölkerung. Darum ist ein System des Zusammenwirkens von Kirche und Staat in vielen Teilen des öffentlichen Lebens (Schule, Sozialbereich), wie es sich unter anderem in Deutschland entwickelt hat, sehr wirksam und entspricht der Einsicht in die enge Verbindung von Recht und Moral, bei aller notwendigen Unterscheidung. Auch in anderer Hinsicht, nämlich im Blick auf den einzelnen Menschen, können die beiden Perspektiven der Menschenwürde nicht getrennt werden. Ich betrachte mich selber nicht nur in der Perspektive meiner Menschenwürde, mit den oben (in der rechten Spalte) beschriebenen entsprechenden Attributen, ethischen Anforderungen und Zielen, sondern immer auch in der Perspektive einer Person, der von außen die Menschenwürde des Anderen zugesprochen wird und die deshalb den vollen Respekt verdient – auch den Selbstrespekt –, unabhängig von dem, was ich in meinem Leben realisiere. Dieser Andere ist – aus theologischer Sicht – in erster Linie Gott selbst in seiner gnädigen Zuwendung. Von Gott her sehe ich mich als den Anderen, dem das Heil geschenkt wird – reformatorisch gesprochen: ich sehe mich als Gerechtfertigten. In der Perspektive meiner Menschenwürde aber bin ich – in eben dieser reformatorischen Sprache – der Sünder, dem die Würde ganz und gar fehlt und der sich dennoch gerufen weiß, gegen diese Sünde zu kämpfen und so den Weg der Heiligung zu gehen. Andererseits bestehen zwischen den beiden Seiten auch Konfliktfelder. Diese sind es, die auf Seiten der ROK zur Skepsis gegenüber der Durchsetzung der Menschenrechte geführt haben. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist immer auch die Freiheit

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zu sündigen. Wie schon die biblischen Urgeschichten in Genesis 1–4 erzählen, gehört es zur Beziehung Gottes mit dem Menschen, dass er ihm diese Möglichkeit gibt. Die Sünde eines Menschen bleibt wiederum nicht ohne Einfluss auf Andere, auf die Gestaltung der Gemeinschaft. Umgekehrt hat jedes Rechtssystem seinerseits Einfluss auf die Wertvorstellungen der einzelnen Menschen: Gesetze prägen soziale Normen, sie sind nie einfach ein neutraler Rahmen. Schließlich gibt es auch zwischen einzelnen Menschenrechten mögliche Konfliktfelder, so etwa zwischen der Presse- und Meinungsfreiheit und dem Recht auf Schutz vor öffentlicher Verleumdung. Wo die öffentliche Ordnung oder die moralischen Fundamente der Gesellschaft in Gefahr sind, da können die Rechte einzelner Menschen beschnitten werden. Das wird auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgehalten. Es gibt eine zulässige Beschränkung der individuellen Freiheit nicht nur dort, wo in direkter Weise die Freiheit Anderer tangiert wird, sondern auch um „den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen“ (Art 29.2). Eine solche Einschränkung ist notwendig, aber unvermeidlicherweise führt sie auch zu Konflikten um die Frage nach den Grenzen, wann es um solche gerechten Anforderungen der Moral geht und wie viel Einschränkung der individuellen Freiheit damit begründet werden kann. Bestimmt war in Art. 29 der Menschenrechtserklärung nicht gemeint, dass nur eine einzige Moral öffentlich vertreten werden darf – diejenige, die als die Mehrheitsmeinung gilt. So scheint Patriarch Kirill diesen Artikel der Menschenrechtserklärung zu interpretieren und sieht sich darum in seinem Prinzip unterstützt: „In der Öffentlichkeit jedes Staates aber dürfen nur die Werte verbreitet und unterstützt werden, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen sind“.29 Er sieht das Recht von Minderheiten, öffentlich präsent sein zu dürfen, als Kampf dafür, „die eigene Denk- und Lebensweise der Mehrheit aufzunötigen“. Im Besonderen denkt er dabei an Menschen „mit einer unkonventionellen sexuellen Orientierung“. Diese dürfen zwar nicht beleidigt oder angegriffen werden, aber zugleich gilt: Man sollte niemandem durch Schule oder Massenmedien eine positive Einstellung zu homosexuellen Verbindungen aufdrängen oder solchen Menschen die Adoption und eine Erziehungstätigkeit gestatten. Denn Unterricht und Adoption betreffen nicht nur die Rechte der Homosexuellen, sondern auch die Rechte der anderen, die adoptiert oder unterrichtet werden sollen.30

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Patriarch Kyrill, „Der Dialog der Zivilisationen“ (2007), in: ders., Freiheit und Verantwortung, 130–136, Zitat 133. Mit diesem Prinzip widerspricht er sich aber selbst. In einer Analyse zum Untergang des Sowjetreiches kommt er zum Ergebnis: „Eine Gesellschaft mit einer Mono-Ideologie ist prinzipiell nicht überlebensfähig“ („Globalisierung und Vielfalt der Kulturen“ [2002], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 100–105, Zitat 102). Aus diesem Prinzip leitet er ein Argument dafür ab, dass die „Werte des westlichen Zivilisationsmodells“ nicht universale Geltung haben können. Wenn er seine Analyse der Sowjetzeit ernst nimmt, könnte er konsequenterweise nicht fordern, dass in der Öffentlichkeit nur die Werte der Mehrheit vertreten werden dürfen. Ibidem, 134.

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Die Rede von einer „Diktatur der kleinen Minderheiten“ zur Durchsetzung ihrer Anliegen unter Berufung auf die Menschenrechte, gegen die Überzeugung der großen, zumeist schweigenden Mehrheit ist nicht nur in orthodoxen Kreisen, sondern allgemein in osteuropäischen Ländern verbreitet. Auf solche Aussagen können Rückfragen nicht ausbleiben. Gewiss gilt, dass man eine Einstellung einem anderen nicht „aufdrängen“ darf. Aber darf man auch keine abweichende Einstellung vertreten? Dürfen Massenmedien in der Sicht des russischen Patriarchen keine Vielfalt der Meinungen und Werte enthalten? Falls dies gemeint sein sollte, müsste man tatsächlich im Namen der Menschenrechte widersprechen, denn in Art. 19. der Erklärung von 1948 heißt es unmissverständlich: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten…“ Gewiss würde auch der russische Patriarch dem Artikel 19 nicht direkt widersprechen. Er würde aber einwenden: es gibt ein gemeinsames Erbe von sittlichen Normen, die von einer breiten Mehrheit der traditionellen Kulturen und Religionen getragen werden. Unter Hinweis auf verschiedene interreligiöse Begegnungen stellt Kirill fest, „dass nicht nur verschiedene christliche Konfessionen ein gemeinsames Verständnis der sittlichen Normen teilen, sondern auch die wichtigsten Religionsgemeinschaften der Welt und sogar weltliche sittliche Wertsysteme. Auf allen Konferenzen haben wir eine hinreichend breite Plattform für das gefunden, was von jeder religiösen oder weltlichen Macht mitgetragen wird“.31 Diese gemeinsamen Werte der Mehrheit bedürfen nach seiner Überzeugung eines besonderen Schutzes, vor allem in den Medien und in der Schule; ein Verbot der öffentlichen Propaganda für abweichende moralische Auffassungen sei darum vertretbar. Stehen wir hier also doch vor einem grundsätzlichen und darum unversöhnlichen Unterschied zwischen den beiden Positionen? Das ist wohl nicht der Fall – allerdings ist der Konflikt im Einzelfall nicht immer leicht zu überwinden. Gerade auch derjenige, der sich für den Pluralismus und die Meinungsfreiheit einsetzt, weiß: es gibt Lobbygruppen, die sich äußerst effektiv Gehör zu verschaffen wissen und die öffentliche Meinung steuern. Es wäre blind, wenn man sich über die Macht der Massenmedien zur Manipulation Illusionen machen würde. Das gilt nicht nur für politische Interessengruppen, sondern auch und besonders für den kommerziellen Bereich. Die Steuerung der menschlichen Wünsche zur Steigerung des Absatzes von Produkten, die keiner braucht, wird von der Werbeindustrie perfekt beherrscht. Was in der Öffentlichkeit mit den richtigen Mitteln verbreitet wird, verändert und prägt den Lebensstil der Menschen. Diese „Öffentlichkeit“ wird aber immer von einigen besonders lauten oder finanzstarken Stimmen beherrscht. Dass dies Grenzen haben muss und daher zu einer punktuellen Einschränkung der Freiheitsrechte führen kann, ist nicht zu bestreiten. Im kommerziellen Bereich kann das Beispiel der Zigarettenreklame dienen: deren Einschränkung wird von einer Mehrheit auch in westlichen Ländern akzeptiert und nicht 31

Patriarch Kyrill, „Menschenrechte in den europäischen Religionsgemeinschaften“ [2006], in: ders., Freiheit und Verantwortung, 114–121, Zitat 120.

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als Eingriff in die fundamentalen Menschenrechte betrachtet, da damit größerer Schaden für die Gesundheit der Bevölkerung abgewendet werden soll. Im politischen Bereich wird von orthodoxen Gesprächspartnern gerne auf das Verbot rechtsextremistischer Propaganda hingewiesen. Wo ist die Grenze? Dürfen orthodoxe Kirchen verlangen, dass in ihren Ländern gewisse Überzeugungen, die ihrem Ethos zutiefst zuwiderlaufen, öffentlich nicht vertreten werden dürfen? Aus Sicht der Überzeugungskraft ethischer Argumente gibt es nicht in jedem Fall eindeutige und definitive Klärungen. Gelegentlich geht es nur um das Ringen um eine korrekte Abwägung im Einzelfall. Bei aller Anerkennung der möglichen Konfliktfelder ist aus evangelischer Sicht daran festzuhalten, dass der Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen und vor dem Anpassungsdruck der Mehrheit ein kostbares Gut ist, das verteidigt werden muss. Der Hinweis auf so genannte kollektive oder kulturelle Rechte darf nicht zur Rücknahme dieser Errungenschaft der Moderne werden. Das Entscheidende an der Idee der Menschenrechte ist das Prinzip, dass der Mensch nicht deshalb und insoweit Träger von Rechten ist, als er zu einer sozialen Gruppe oder Schicht gehört oder die Mehrheitsmeinung teilt, sondern durch die einfache Tatsache seines Menschseins. Um Rechte durchsetzen zu können, darf der Einzelne nicht von einer bestimmten Gruppe, in der er geboren wurde, und von deren Wohlwollen abhängig sein. Darum wurden die Rechte in Verfassungstexten und Gesetzen auf eine Weise festgelegt, dass sie individuell einklagbar waren. Der Einzelne emanzipierte sich von seiner sozialen Umgebung. Diese umwälzende Neuerung heißt keineswegs, dass dieser Einzelne nun nur noch Rechte und keine Pflichten mehr hätte oder dass damit – wie gelegentlich polemisch argumentiert wird – das Menschenbild auf dasjenige eines autonomen, individualistischen Egoisten verkürzt werde. Sie eröffnet aber einen Raum, in der eine persönliche Entscheidung und Lebensweise gedeihen kann. Glauben ist immer eine zutiefst persönliche Sache. Menschen werden herausgerufen, gerade auch aus ihrer Kultur und Familie, um Jesus zu folgen. Das war die Art und Weise, wie die Christen in den ersten drei Jahrhunderten als Minderheit ihren Glauben gefunden und gelebt hatten, und so hat er sich verbreitet. Diese persönliche Dimension darf nicht dadurch verdunkelt werden, dass sich ein Staat oder eine Gesellschaft der Illusion hingibt, an sich christlich zu sein: durch seine Traditionen, durch seine Lippenbekenntnisse, durch die institutionelle Verflechtung von Kirche und Staat. An den Menschenrechten festhalten und damit auch an der Möglichkeit, sich gegen Christus zu entscheiden, ohne gesellschaftliche Nachteile zu erfahren, eröffnet eben auch dem Glauben seine wahre, persönliche Dimension der Entscheidung zu Nachfolge und Hingabe. Die Bindung an die christliche Gemeinschaft und die Verantwortung für den Nächsten, zu denen sich der Glaubende entscheidet, können nicht aus sozialem Zwang kommen, sondern nur aus dem Hören auf den Ruf Christi.

Das Menschenrechtsverständnis der Russischen Orthodoxen Kirche und der Katholischen Kirche – ein Vergleich Rudolf Uertz The “Social Concept” of 2000 and the Document on human rights of 2008 of the Russian Orthodox Church set a new starting point for interconfessional dialogue. This chapter presents the differences between the Orthodox and Roman Catholic social ethics, particularly focusing on the issue of human rights. Both the model of symphonia in the Russian Orthodox tradition and the model of cooperation between church and state in the Roman Catholic tradition presuppose a religiously homogeneous society. Yet, this is something that ceased to exist in modern times due to the liberalisation, pluralisation and secularisation of state and society. In contrast to the Russian Orthodox Church, however, the Roman Catholic Church has revised its social teaching at the Second Vatican Council (1962–1965). As a result, it managed to acknowledge religious freedom and human rights as the fundaments of a constitutional liberal democracy.

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat mit der Sozialdoktrin 2000 und der Stellungnahme zu den Menschenrechten 2008 den interkonfessionellen und interkulturellen Dialog angeregt. Ähnliche sozialethische Äußerungen anderer orthodoxer Kirchen wie etwa der griechischen Orthodoxie1 haben in den Westkirchen keine vergleichbare Resonanz gefunden. Das liegt vielleicht auch darin begründet, dass die ROK ihre Kritik an den Menschenrechten sehr pointiert vorträgt. Nun hat auch die Katholische Kirche die liberale Menschenrechtsidee lange Zeit abgelehnt. Doch hat der Katholizismus nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit dem Unrechtssystem des Nationalsozialismus, seiner furchtbaren Verbrechen und seiner Bekämpfung der Religion seit den 1940er Jahren Annäherungen an den demokratischen Rechtsstaat unternommen und schließlich die Menschenrechte 1963 in seine Sozialethik inkorporiert.2 Das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) hat sodann die Religions- und Gewissenfreiheit als staatsbürgerliches Grundrecht und das Verhältnis von Kirche zur säkularen Welt neu bestimmt und anerkannt.3

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Vgl. die in Anlehnung an die orthodoxe Ethik verfasste Lehrschrift von Georgios I. Mantzaridis, Grundlinien christlicher Ethik, Sankt Ottilien 1998, 9, 98. Enzyklika „Pacem in terris Papst Johannes’ XXIII.“ [1963]; Wiedergabe der Enzykliken, in: Katholische Arbeitnehmerbewegung Deutschlands (Hg.), Texte zur Katholischen Soziallehre, Köln 92007. Bedeutend ist hierbei die Differenzierung zwischen dem Handeln des Christen im Verbund mit den Geistlichen im kirchlich-sakramentalen Leben einerseits und der gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Existenz des Christen in den (relativ) autonomen Bereichen der Kultursachgebiete

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Für den interkonfessionellen und interkulturellen Dialog stellt sich immer wieder die spannende Frage: Was sind die tiefer liegenden Gründe für die Differenzen zwischen Ost- und Westkirchen? Ich unterstelle dabei, dass die katholische und evangelische Sozialethik in sozialethischen Fragen trotz unterschiedlicher Begründungen weitgehend übereinstimmen. Und weiter: Wird auch die Orthodoxe Kirche in ihrer Sozialethik – ähnlich der Sozialethik der Westkirchen – eine positivere Einstellung zu dem Themenkomplex Menschenrechte – Demokratie – Rechtsstaatlichkeit gewinnen können? Dies sind naturgemäß keine bloß theoretischen Themen. Ich werde wie folgt vorgehen: Im I. Teil stelle ich die Entwicklung des neuzeitlichen Staates als Emanzipationsprozess von kirchlich-theologischer Deutungshoheit des Politischen dar – eine Entwicklung, die ihre Ursache in der Reformation, der weltanschaulichen Pluralisierung und den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts hat. Im II. Teil zeige ich Reaktionsweisen der Katholischen Kirche auf die neuzeitlichen religionspolitischen Konflikte.4 Im III. Teil gehe ich auf den Status des pluralistisch-säkularen Gemeinwesens und der Menschenrechte im theologisch-sozialethischen Denken der ROK ein.5

Religion und neuzeitlicher Staat Die Religionsfreiheit ist nicht das einzig e, wohl aber eines der wichtigsten Motive der Menschenrechtsbewegung im neuzeitlichen Denken.6 Sie ist jedoch kein Prinzip der kirchlichen, sondern der staatlichen Rechtsordnung. Religionsfreiheit unterscheidet

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andererseits (Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, Nr. 76, in: Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen, Freiburg im Breisgau 352008, 449ff., hier 534f.; Erklärung des Konzils über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, ibidem, 661ff. Zur Sozialethik von Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie vgl. Rudolf Uertz, „Politische Ethik im Christentum“, Aus Politik und Zeitgeschichte 6 (2007) 31–38 (URL: http://www.bpb.de/ publikationen/WTTYBE,0,Politische_Ethik_im_Christentum.html). Zur Entwicklung der orthodoxen Soziallehre vgl. Konstantin Kostjuk, Der Begriff des Politischen in der Russisch-orthodoxen Tradition. Zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft in Russland, Paderborn 2005; ferner Adolf Hampel, „Gibt es Menschenrechtstraditionen im byzantinisch-orthodoxen Kulturraum?“, in: Rudolf Uertz (Hg.), Menschenrechte in Ost und West, Mainz 1989, 55–67; ders, „Kirchlich bedingte Strukturunterschiede zwischen der westeuropäischen und osteuropäischen Gesellschaft“, Politische Studien 41 (1990) 479–487; Rudolf Uertz, „Die Sozialethik der orthodoxen Kirche“, in: Hermann-Josef Scheidgen u. a. (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Wandel der Zeiten. Festschrift für Gabriel Adriányi zum 75. Geburtstag, Nordhausen 2012, 671–692. Georg Jellinek, „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, 1ff.; vgl. Hans Joas, „Max Weber und die Entstehung der Menschenrechte“, in: Gert Albert u. a. (Hg.), Das Weber-Paradigma, Tübingen 2005, 252–270; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

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sich auch von bloßer Toleranz, und zwar dadurch, dass sie nicht nur um des öffentlichen Friedens willen etwas duldet, sondern vielmehr für die Religion und die religiösen Überzeugungen einen Rechts- und Freiheitsstatus begründet. Dies geschieht unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer Religion. Über diesen zu befinden ist exklusives Recht des einzelnen Gläubigen, nicht aber der jeweiligen Kirche, der jemand angehört. „Dieser Freiheitsanspruch richtet sich gegen den Staat und andere Träger öffentlicher Gewalt; er dient der Abwehr jeder Art von Glaubens-, Bekenntnis-, Religionsausübungszwang und umfasst daher auch die negative Freiheit, einen Glauben nicht zu haben, nicht zu bekennen“.7 Erstmals hat diese politikwissenschaftliche Systematisierung des religiösen Bekenntnisses im konfessionell gemischten Staat Thomas Hobbes im Leviathan geleistet.8 In Hobbes’ Denken wird der Wahrheitsgehalt der Religion ganz auf die individuelle Überzeugung des Bürgers zurückgeführt; im weiteren Verlauf der neuzeitlichen Verfassungsentwicklung mutiert die bei Hobbes keimhaft angelegte Idee zu einem personalen Freiheitsrecht. Die Individualisierung des religiösen Bekenntnisses bewirkt zwangsläufig eine Privatisierung der Religion und relativiert damit auch die dogmatischen und moralischen Ansprüche der institutionalisierten Religion als Korporation, d. h. einer Kirche oder Religionsgemeinschaft. Der Paradigmenwechsel in der Hobbesschen Staatstheorie ist zweifellos systemsprengend: Diese Theorie begründet die Emanzipation des Staates von religiösen Ansprüchen und reduziert den Anspruch von Religion und Kirche auf den privaten Bereich.9 Der Glaubenssatz „Jesus ist der Christus“ ist das allen Christen gemeinsame Bekenntnis, das auch öffentlich geäußert werden darf, so dass es bezüglich dieser allgemeinen Glaubensformel keinen Streit geben soll. Weitergehende religiöse Interpretationen der Glaubensinhalte aber müssen – um der Wahrung des öffentlichen Friedens willen – ins Private zurückgenommen werden. 7

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Ernst-Wolfgang Böckenförde („Religionsfreiheit“, in: Hans Gasper, Joachim Müller und Friederike Valentin, Hg., Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg im Breisgau 31991, 880–885, hier 880f.) unterscheidet beim Recht der Religionsfreiheit zwischen a) der Freiheit, einen (religiösen) Glauben zu haben (Religionsfreiheit im engeren Sinne); b) der Freiheit, diesen Glauben zu bekennen (Bekenntnisfreiheit); c) der Freiheit, seine Religion öffentlich auszuüben (Kultusfreiheit); und d) der Freiheit, sich zu Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen (religiöse Vereinigungsfreiheit). Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit“, in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg im Breisgau 1973, 172ff. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1984; zur Interpretation vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Köln 1982. Joseph Höffner (Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1997, 260f.) behauptet die Unvereinbarkeit der Hobbesschen Lehre mit der „abendländischen Sozialphilosophie“. Der Jurist Josef Isensee („Staat“, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft 5, 1989, 142) dagegen bemerkt: „Der Weg von Thomas zu I. Kant und den Menschenrechtsdeklarationen führt notwendig über J. Bodin und Hobbes, nicht an ihnen vorbei.“

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Rudolf Uertz

Allerdings sind bei Hobbes keine intermediären Gebilde berücksichtigt. Sein Modell wird in der modernen Verfassungsentwicklung demokratisiert, wobei die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Regel nur noch den Status von Interessenverbänden haben. Auf diese Weise aber kann die Religion doch wieder durch die einzelnen Christen und die Kirchen – jedoch in Konkurrenz mit anderen Interessenverbänden – in die Öffentlichkeit einwirken. Die eine Seite des religionspolitischen Paradigmenwechsels in der staatlichen Ordnung der Neuzeit ist die Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik, Kirche und Staat. Die andere Seite betrifft das veränderte Verhältnis von Moral und Recht. War im „christlichen“ bzw. im „katholischen Glaubensstaat“ der christliche Monarch der souveräne Interpret und Anwender des von Gott stammenden Rechts (göttliches und menschliches Recht bzw. Naturrecht), so fällt im pluralistischen Staatswesen mit konkurrierenden Verbänden, Vereinen, Interessengruppen und Kirchen die Rechtsinterpretation zwangsläufig der legitimen Volksvertretung zu. Folglich erfährt die Rechtsfortbildung aufgrund pluralistischer Willensbildung einen wesentlich anderen Status als in einer Monarchie; deren traditionalistisch-gewohnheitsrechtliche Auffassung, die auch der des Kirchenrechts sehr ähnelt, wird obsolet. Im Hobbesschen Modell und seiner Adepten treten folglich das individuelle Gewissen einerseits und die Geltungsansprüche des positiven Gesetzes auseinander. Das heißt: Der Bürger braucht das positive Recht des Staates nur formal zu respektieren; ob das staatliche Gesetz den Bürger auch im Gewissen bindet, ist allein seine Sache. Der Staat hat darauf selbst keinen Einfluss zu nehmen, was eine moralische Schwächung des Staates bedeutet, die jedoch im System des liberalen Verfassungsstaates als friedens- und freiheitssichernder Institution angelegt ist.10 Das jedenfalls ist die Intention der Formel des Thomas Hobbes: „Auctoritas, non veritas facit legem“ [Die Autorität, nicht die Wahrheit bestimmt das Gesetz]. Diese Formel der Trennung oder Differenzierung von Moral und Recht besagt nun aber nicht, dass – wie es Theologen und Vertreter religiös-konfessioneller Moral gerne behaupten – der Staat ein „Staat ohne Gott“ und damit zwangsläufig auch ein Staat ohne Moral sei.11 Diese These würde nur zutreffen, wenn Ethik und Moral exklusive Produkte der Religion wären. Das aber ist nach Auffassung der katholischen und protestantischen Theologie und Ethik so nicht der Fall. So geht auch der Apostel Paulus in seinem Römerbrief selbstverständlich davon aus, dass den Heiden, die Gott und seine Offenbarung nicht kennen oder leugnen, das allgemeine Sittengesetz bekannt ist: Es ist – so 10

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Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2007, 213ff.; ders., Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln, Freiburg 1989; vgl. Günter Buchstab und Rudolf Uertz (Hg.), Was eint Europa? Christentum und kulturelle Identität, Freiburg im Breisgau 2008. Vgl. Theodor Meyer, Die Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts, Freiburg im Breisgau 1868, 91ff.; Klaus Mörsdorf (Lehrbuch des Kirchenrechts, Bd. 1, Freiburg 101959, 63f.) bezeichnet den weltanschaulich neutralen Staat als nationale Apostasie.

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der Apostel – ihnen „ins Herz geschrieben“ (Röm 2, 13–16). Herz ist in der Antike die Bezeichnung für das sittliche Phänomen, das wir heute Gewissen oder Gewissensverantwortung nennen. Und die sogenannte „Staatsstelle“ des Römerbriefs (13, 1–7; „Es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott kommt […]“) zeigt ein erstaunliches Desinteresse des Apostels an der konkreten Herrschaftsform. So konnte diese Stelle über Jahrhunderte hinweg als stärkste theologische Legitimierung der christlichen Monarchien dienen.12 Es war der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus, der erstmals in der Kirchen- und Theologiegeschichte die Herrschaftsidee des Römerbriefs naturrechtlich interpretierte und damit einem Offenbarungspositivismus widersprach: Nicht jede Ordnung ist gerecht und nicht jeder Herrscher ist legitim, nur weil diese „an sich“ in Gottes Schöpfungsplan angelegt ist.13 Mit anderen Worten: die Innehabung der politischen Herrschaft durch den Monarchen oder ein Herrscherhaus erfolgt unter historischen Bedingungen, an denen das Volk „irgendwie“ beteiligt ist. Die konkrete Bestellung und Ausübung der Herrschaft beruht auf historisch-kontingenten Gegebenheiten. Notwendigerweise ist daher das Volk der „ursprüngliche Träger der Gewalt“; die Formen der Beteiligung aber konnten höchst unterschiedlich sein (Vertrag oder andere Formen der Zustimmung).14 Die Weiterentwicklung des Naturrechts im Mittelalter durch Thomas von Aquin (Betonung des subjektiven Gewissens), in der frühen Neuzeit durch Francisco de Vitoria, Francisco de Suarez und andere (Entwicklung des Völkerrechts sowie der Lehre vom Volke als ursprünglichem Träger der politischen Gewalt) ermöglichte es der päpstlichen Staatslehre seit Leo XIII. (1878–1903), die theologische Begründung der christlichen Monarchien zu relativieren und die Kirche an die demokratische Staats- und Regierungsform heranzuführen, was schrittweise erfolgte.15 Nach bestimmter theologischer Auffassung gehören die verschiedenen historischen Verbindungen von christlichem Glauben und politisch-kulturellem Umfeld, Kirche und Gesellschaft nicht zu den Wesensbedingungen der Religion. Die kulturellreligiösen Beziehungsmuster sind vielmehr historisch-kontingent, was keineswegs ausschließt, dass die kulturellen Bedingungen und Eigenarten wie auch sozialpsychologische Faktoren auf die Glaubensinterpretation Einfluss haben.

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Vgl. Paul Mikat, „Zur Gehorsams- und Widerstandsproblematik nach Römer 13:1–7“, in: Jahresund Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, Köln 1987, 19ff.; aufgrund der Analogie von biblisch-theologischem und politischem Monarchiegedanken („Einer herrscht“) und der Jahrhunderte währenden Verbindung von Kirche und christlichem Staat vermochte sich die kirchliche Staatstheorie nur schwer vom monarchischen und organischen Ordnungsdenken zu lösen. Vgl. Stefan Verosta, Johannes Chrysostomus. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe, Graz 1960. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, Stuttgart 1977. Vgl. Peter Tischleder, Die Staatslehre Papst Leos XIII., Mönchen-Gladbach 21927; Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965), Paderborn 2005.

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Die Menschenrechte in der Sozialethik der Katholischen Kirche Das jedenfalls war auch die Überzeugung der übergroßen Mehrheit der Konzilsväter während des II. Vatikanischen Konzils, die mit 2308 Ja- gegen 70 Nein-Stimmen bei acht ungültigen Stimmen das Dekret über die Religionsfreiheit annahmen.16 Was den Paradigmenwechsel des II. Vatikanum ermöglichte, ist die Erkenntnis der Konzilsväter, dass die enge Verbindung von Kirche und Staat im katholischen Glaubensstaat mit seinen religiös-kirchlich homogenen Strukturen ebenso kontingent ist wie der Kirchenstaat (756–1870).17 Entsprechend ist das, was man theologisch und kirchenrechtlich als „Tradition“ bezeichnet, kein ehernes Gesetz (gar noch mit Offenbarungscharakter). Das gilt vor allem für das Verhältnis der Kirche zu Gesellschaft und zur staatlich-rechtlichen Ordnung.18 Verständlich mag daher sein, dass bei der Rezeption der Sozialdoktrin und des Menschenrechtspapiers der ROK im katholischen Raum der Paradigmenwechsel der katholischen Kirche auf dem II. Vatikanum offen oder latent mitschwingt, so dass sich ganz ähnliche Fragen an die Orthodoxe Kirche ergeben, wie sie einst von Seiten katholischer Politiker, Juristen und Sozialphilosophen an die katholische Amtskirche gerichtet wurden.19 Die Anerkennung der Menschenrechte in der katholischen Staats- und Soziallehre durch Papst Johannes XXIII. im Jahre 196320 und die Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt im II. Vatikanischen Konzil sind nicht denkbar ohne die starken Einflüsse, die ein selbstbewusster Laienkatholizismus (insbesondere in den westlichen Ländern USA, Frankreich, Deutschland, Schweiz, Österreich und andere) auf die kirchenoffizielle Lehre ausübte.21

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Vgl. Rahner und Vorgrimler, Konzilskompendium, 655ff. Zur Menschenrechtsentwicklung im Katholizismus vgl. Uertz, Vom Gottesrecht; Konrad Hilpert, Die Menschenrechte, Düsseldorf 1991. Vgl. zum innerkatholischen Konflikt um die Bedeutung der Tradition und die Rolle der PiusBruderschaft Rudolf Uertz, „Religion und Politik – Vernunft und Glaube. Sozialethische Betrachtungen am Beispiel des Streits um den Papst und die Piusbruderschaft“, in: Christian Spieß (Hg.), Freiheit – Natur – Religion, Paderborn 2010, 393–410; ders., „Wie kam der Papst auf diese Galeere?“, in: Imprimatur 43 (2010), 3–5 (auch URL: http://www.imprimatur-trier.de/2010/imp 100101.html) (besucht am 28.04.2014). Zur Soziallehre der ROK vgl. Rudolf Uertz, „Einführung in die politische Theorie des russischorthodoxen Christentums“, in: Josef Thesing und Rudolf Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung und Kommentar, Sankt Augustin 2001, 134–173; Rudolf Uertz, „Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat in der Sozialdoktrin“, in: ders. und Lars Peter Schmidt (Hg.), Beginn einer neuen Ära. Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche vom August 2000 im interkulturellen Dialog, Moskau 2004, 77–96 (URL: http://www.kas.de/wf/doc/kas_4288-544-1-30.pdf?110922161126) (besucht am 28.04.2014). Enzyklika „Pacem in terris“ (1963); vgl. Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, Wien 31978, 74ff. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Einleitung“, in: II. Vatikanisches Konzil. Erklärung über die Religionsfreiheit, Münster 1968, 5ff.

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Die Menschenrechte in der Soziallehre der ROK22 Am deutlichsten treten meines Erachtens die unterschiedlichen Haltungen von Ostkirche und Westkirchen in der anstehenden Frage in einer Dialogveranstaltung zu Tage, die im Februar 2005 in der Berliner Friedrichstadtkirche von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der KonradAdenauer-Stiftung durchgeführt wurde. Teilnehmer des Dialogs waren Metropolit Kirill (seinerzeit Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, als Kirill I. seit 1. Februar 2009 Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’ sowie Vorsteher der ROK), Bischof Wolfgang Huber (Ratsvorsitzender der EKD) sowie Bischof Gerhard Ludwig Müller (Vorsitzender der Ökumenekommission der DBK). Metropolit Kirill führt dabei aus:23 Die Menschenwürde ist relativ. Wir glauben, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurde, und in dieser Hinsicht ist die Menschenwürde sehr hoch bewertet. Die orthodoxe Theologie sagt, es geht um die Würde der menschlichen Natur, denn in der Person kann die Würde entweder anwesend oder zerstört sein. Wir haben Achtung vor einem Verbrecher wie vor einer Person, denn wir achten das menschliche Wesen in ihm. Aber niemand zwingt mich, die schrecklichen historischen Personen zu achten, die Millionen von menschlichen Leben zugrunde gerichtet haben. Die orthodoxen Väter sahen das Ebenbild Gottes im Menschen als Ziel eines Prozesses, den wir Theosis nennen, die Vergöttlichung des Menschen. Die Verbindung der menschlichen Natur mit der göttlichen finden wir in Jesus. Deswegen kann man über die Würde des Menschen nur theozentrisch [Hervorhebung: nicht im Original] denken.

Metropolit Kirill folgert: Wenn Theozentrismus und Christozentrismus [Hervorhebung: nicht im Original] fehlen, wird die menschliche Person als absoluter Wert ohne sittliches Koordinatensystem aufgefasst. Weil in dieser Ideologie der Begriff der Sünde fehlt, gibt es nur den Pluralismus der Meinungen. Und auf diese Ideologie wird die Gesetzgebung heute gebaut. Aber die Absolutheit der menschlichen Freiheit und der Menschenrechte außerhalb der sittlichen Verantwortung kann die Grundlagen der modernen Zivilisation zerstören […] Kein Gesetz beseitigt Korruption, den Zerfall der Familie, die alleinstehenden Kinder, den Geburtenrückgang, die

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Zusammengefasst sind die schon in der Sozialdoktrin der ROK von 2000 geäußerten Vorbehalte gegenüber den Menschenrechten im Menschenrechtsdokument der ROK von 2008 in: Rudolf Uertz und Lars P. Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, Moskau 2008; zur Frage des Verhältnisses der Orthodoxie zu Gesellschaft, Politik und säkularer Kultur vgl. Vasilios N. Makrides, „Orthodoxes Christentum, Pluralismus, Zivilgesellschaft“, in: Andreas Gotzmann, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik und Jörg Rüpke, Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte, Marburg 2001, 53–78; Demosthenes Savramis, „Max Weber und die orthodoxe Kirche“, in: ders., Zwischen Himmel und Erde, Stuttgart 1982, 33–56. Die Zitate von Bischof Müller, Metropolit Kyrill und Bischof Huber sind entnommen dem Dialog orthodoxer, katholischer und evangelischer Theologen in der Berliner Friedrichstadtkirche vom 22. Februar 2005, „Christen und das Verhältnis zu Staat, Pluralismus und Freiheit“, in: Rheinischer Merkur, 3. März 2005.

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Rudolf Uertz Zerstörung der Natur, wenn ein Mensch nicht sieht, dass er sündigt. Dann ist – wie Dostojewski sagt – alles erlaubt.

Bischof Wolfgang Huber gibt den Standpunkt der evangelischen Theologie wieder: Auch ich kenne keine andere konsequente als eine theologische Begründung der unantastbaren Menschenwürde. Aber ich respektiere, dass andere Menschen diese Menschenwürde anders begründen. Die Menschenwürde ist unteilbar. Auch die, die ihr eigenes Verständnis der Würde nicht aus dem Glauben an Gott ableiten, haben teil an ihr. Deshalb muss das christliche Verständnis der Menschenwürde die Gleichheit der Anteilhabe von Glaubenden wie Nichtglaubenden umfassen.

Und zu Metropolit Kirills „spannender Überlegung“ der Unterscheidung der Menschenwürde, die einerseits die „Gattung Mensch“, andererseits die Menschenwürde des konkreten einzelnen Menschen betrifft, bemerkt Bischof Huber: Wenn die Menschenwürde nicht zugleich auch grundsätzlich für den konkreten einzelnen Menschen gilt, so gibt es auch jemanden, der bestimmten Gliedern dieser Gattung die Menschenwürde aberkennen kann. Deswegen muss ich, so schrecklich das klingen mag, die Menschenwürde auch derjenigen Person anerkennen, die ihrerseits die Menschenwürde mit Füßen getreten hat. Deswegen unterscheiden wir auch noch im Fall des grausamsten Verbrechers zwischen der Person und ihren Taten. Deswegen befolgen wir rechtsstaatliche Grundsätze auch noch im Strafverfahren gegen den Massenmörder – eine der eindrücklichsten Formen dafür, wie der Staat diese radikale Fassung des Menschenwürde-Gedankens in seine Rechtsordnung aufgenommen hat.

In diesen zentralen theologisch-rechtstheoretischen Fragen stimmen evangelische und katholische Sozial- und Rechtsethik vollkommen überein. Bischof Müller muss hierzu keine Stellung mehr beziehen und lenkt die Diskussion auf die praktische Seite der Menschenrechtsfrage: das auskömmliche Verhältnis der verschiedenen Bekenntnisse, Kirchen und Religionsgemeinschaften im pluralistischen Gemeinwesen. Und er fragt Metropolit Kirill: Erzbischof Kyrill, warum ist Russland für Sie kanonisches Territorium? Bayern ist nicht mehr nur katholisch, Preußen oder Sachsen nicht mehr nur evangelisch. Durch die ökumenische Vermischung der Bevölkerung in Deutschland bekam auch die Ökumene einen konkreten Bezug. Wir können es uns deshalb nicht anders vorstellen, als dass jeder Bürger in Russland, in Deutschland oder wo auch immer das Grundrecht hat, zu bestimmen, welcher Religionsgemeinschaft er angehört. Kann man das Prinzip der Religionsfreiheit mit der Vorstellung des kanonischen Territoriums verbinden und dann auch ökumenisch fruchtbar machen?24

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Vgl. aus orthodoxer Sicht Metropolit Hilarion Alfeyev, „Das Prinzip des `kanonischen Territoriums´ in der orthodoxen Tradition“, URL: http://hilarion.ru/en/2010/02/25/1103 (besucht am 14. Juni 2013).

Das Menschenrechtsverständnis der ROK und der Katholischen Kirche

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Schluss Die Diskussion zwischen den Vertretern der Ost- und Westkirchen, Metropolit Kirill und den Bischöfen Wolfgang Huber und Gerhard Ludwig Müller, ist aufschlussreich, weil hier in dichter Form diejenigen theologischen und ethischen Grundsätze von orthodoxer Sozialethik einerseits und der Sozialethik des Katholizismus und des Protestantismus aufleuchten, die auch die Unterschiede in der Haltung der jeweiligen Kirche zu den Menschenrechten bewirken. Die Erbsündenlehre ist ein kirchliches Dogma, das zugleich auch anthropologische und sozialpsychologische Grundaussagen über den Menschen und sein sittliches Handeln beinhaltet. Von der jeweiligen Erbsündenlehre, die insofern eine zentrale Schnittstelle von Theologie und Anthropologie markiert, hängt entscheidend ab, was dem Menschen in sittlicher Hinsicht zugetraut wird.25 Die Frage, ob der Mensch von Natur aus gut, ambivalent oder schlecht ist, korreliert mit der Annahme eines sozialen Optimismus, Pessimismus oder Realismus.26 Sie ist auch entscheidend für die Frage, ob eine Kirche oder Theologie das Phänomen natürlicher Sittlichkeit kennt und akzeptiert, oder nicht. Die Orthodoxie geht grundsätzlich von der Verderbtheit der Menschennatur aus, mit der Folge, dass die Autonomie der Kultursachgebiete ebenso wie der sittlich-verantwortliche Selbststand des Menschen im weltlichen Bereich verworfen bzw. gering geschätzt wird. Der Mensch ist entsprechend stärker auf die Zuwendung Gottes (die Gnade) verwiesen, was im Symphonieprinzip seinen Ausdruck findet, das theologisch-normativ von einem Zusammenwirken und einer bestimmten Aufgabenverteilung von Kirche und Staat ausgeht. Das Symphoniemodell setzt ähnlich wie das früher in der neuscholastischen Phase der katholischen Kirche vertretene Kooperationsmodell jedoch ein religiös homogenes Gemeinwesen voraus, das es auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern nicht mehr gibt. Die Verwerfung der Menschen- und Grundrechtsidee resultiert aus dem besagten theologisch-anthropologischen Grundverständnis der Menschennatur;27 sie

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Die katholische Lehre schließt sich an Thomas von Aquin an, der gemäß der theologisch-anthropologischen These der Erbsündenlehre wohl eine Beschädigung der menschlichen Natur konzediert, diese jedoch nicht – wie Augustinus – vollends korrumpiert sieht, so dass auch nach dem Sündenfall grundsätzlich die natürliche Neigung des Menschen zu sittlichem Verhalten gegeben sei. Von solchen Grundprämissen geht zum Beispiel auch die Volkswirtschaftslehre aus; vgl. Egon Tuchtfeldt, „Anthropologische Grundlagen und Prinzipien einer Wirtschafts- und Sozialordnung“, in: Rudolf Uertz (Red.), Kirche und Wirtschaft, Melle 1983, 59–74. Dies entspricht dem kirchenoffiziellen, nicht jedoch dem Bild der orthodoxen Theologie und orthodox-theologischer Fakultäten in Gänze. So sieht zum Beispiel der bulgarische Theologe an der Orthodox-Theologischen Fakultät der Universität Sofia, Antony Hubancev („Kirchliche Soziallehre als gesellschaftliches Fundament für die Staaten Osteuropas?“, in: Konrad-AdenauerStiftung, Hg., Kirche – Staat – Gesellschaft. Die christliche Soziallehre als Thema des Ost-WestDialogs, Sankt Augustin 1997, 74ff.) die Möglichkeit, vom Sobornost- bzw. Katholizitätsprinzip (es entspricht dem Gemeinwohlprinzip) her die Menschenrechtsidee abzuleiten.

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beruht überdies auf der traditionellen, organologischen Sichtweise (Leib-Glieder-Analogie) der Menschen im Gemeinwesen, die dem Pluralismus und Individualismus moderner Staats- und Gesellschaftsformen nicht mehr Rechnung trägt.28 Obwohl die Ostkirche sehr wohl die theologisch-anthropologisch dimensionierte Personidee ins Zentrum ihrer Lehre und der Liturgie stellt, lehnt sie doch eine personalethische Sozialethik, die der Einzelperson die Verantwortung für die Gestaltung von Gesellschaft, Wirtschaft, Staat und Kultur gibt, ab – eine Idee also, die vor allem von den russischen Philosophen und Theologen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten wurde; gemeinsam ist ihnen ein christlicher Personalismus. Zu ihnen zählen unter anderem die Philosophen Vladimir Solov’ev (1853–1900), Nikolaj Berdjaev (1874–1948) sowie der Theologe J. Fedotoff,29 doch können diese russischen Denker nicht dem anerkannten Kanon der russischen orthodoxen Soziallehre zugeordnet werden. Theologie und Kirche können, ja müssen nach Auffassung der Westkirchen auf den im neuzeitlichen kulturellen und politischen Denken angelegten Paradigmenwechsel reagieren – zumindest sozialethisch. Zweifellos wird damit das traditionalistische Rechts- und Ordnungsverständnis ausgehebelt. Der Paradigmenwechsel des II. Vatikanischen Konzils in der Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt, näherhin der Zugang der Kirche zur politisch-kulturellen Existenz des Christen im Gemeinwesen aber gehört nach der Überzeugung der Konzilsväter 1965 nicht zu den substantiellen christlichen Offenbarungs- und Glaubensinhalten.30

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Das ROK-Dokument Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte von 2008 (vgl. Uertz und Schmidt, Die Grundlagen) hat in der Stellungnahme „Menschenrechte und christliche Moral“ der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vom Mai 2009 Kritik erfahren; die Stellungnahme kann im Internet aufgerufen werden, URL: http://www.leuenberg.eu/sites/default/files/Menschenrechte%20und %20christliche%20Moral%20%28final%29.pdf (besucht am 14. Juni 2013). Die Antwort von Barbara Hallensleben, Nikolaus Wyrwoll und Guido Vergauwen („Zur Ambivalenz der Menschenrechte“, Schweizerische Kirchen-Zeitung 29–30, 2009, 497–502) unterstellt der GEKE dagegen theologische Missverständnisse. Ingeborg Gabriel und Stefan Tobler („Der Glaube und die Menschenrechte. Ein Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche sorgt für Diskussionsstoff“, Herder-Korrespondenz 64, 2009, 29–34) bemerken, dass die Position von Hallensleben, Wyrwoll und Vergauwen nicht der Haltung der Katholischen Kirche zu den Menschenrechten seit dem II. Vatikanischen Konzil entspricht. Vgl. J. Fedotoff, „Die Kirche und der Staat“, in: Paul Althaus (u. a.), Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, Berlin 1935, 35ff.; vgl. Kostjuk, Der Begriff des Politischen, 113ff.; Uertz, Politische Theorie, 140ff. Zur orthodoxen Soziallehre aus griechisch-orthodoxer Sicht und der Menschenrechtsfrage, vgl. Alexandros K. Papaderos, „Aspekte orthodoxer Sozialethik“, in: Ingeborg Gabriel, Alexandros K. Papaderos und Ulrich H. J. Körtner, Perspektiven ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa, Mainz 22006, 23–126, hier 93, 96 und 117.

Kulturphilosophische Anfragen an die russischorthodoxe Konzeption der Menschenwürde Regula M. Zwahlen The Russian Orthodox Church’s “Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights” (2008) has kindled an extensive debate among the Christian Churches in the West. Focusing on responsibility, duties towards society, and traditional moral norms rather than human rights and liberties, this document carries on the centuries-old European debate about the right balance between individual and communal values. As I argue in this chapter, this focus on traditions favours cultural relativism and ignores the historical context that led to the Universal Declaration of Human Rights in 1948. As a result, the document does not endorse a definition of human dignity in terms of a moral concept of individual autonomy, and thus neglects one of the main premises on which modern pluralist societies are based.

Die Russische Orthodoxe Kirche hat zu den Menschenrechten Stellung bezogen und damit in Westeuropa eine lebhafte Diskussion unter Vertretern der anderen christlichen Konfessionen ausgelöst.1 Haben die meisten westeuropäischen Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer vorbehaltlosen Unterstützung der Menschenrechte gefunden, so scheint dies der Russischen Orthodoxen Kirche in der aktuellen Situation nicht möglich zu sein. Dabei ist in jüngster Zeit deutlich geworden, dass es sich bei dieser Problematik nicht um unüberwindbare west-östliche Fronten in einem „Kampf der Kulturen“ handelt, sondern um die gegenwärtige Ausprägung eines kulturellen Entwicklungsprinzips, das in der europäischen Moderne – bis hin zu unserem „postsäkularen Zeitalter“2 – besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer hat es als niemals endenden „Wettstreit und Widerstreit zwischen den beiden Kräften, von denen die eine auf Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt“, zwischen Tradition und Moderne bezeichnet: „Die beiden Gegenkräfte wachsen miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören“.3 In diesem Spannungsfeld entwickeln sich auch die Institutionen der Menschenrechte. Dies geschieht auf der Basis eines gemeinsamen europäischen Wertesystems und einer gemeinsamen Geschichte, die sich als stetes Ausbalancieren der Werte von Individuum und Gemeinschaft resümieren lässt. Dass der Begriff der Menschenwürde und dessen rechtliche Institutionalisierung im Rahmen der Menschenrechte gegenwärtig auch im Westen umstritten sind, illustriert Heiner Bielefeldts Buch Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage 1

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Vgl. Regula Zwahlen, „Der ökumenische Dialog über die Menschenrechte“, Una Sancta 66 (2011) 5–14. Ich danke Simone Zurbuchen und Stefan Guth für die kritische Kommentierung einer früheren Fassung des vorliegenden Aufsatzes. Diesen Begriff prägte Jürgen Habermas in: ders., Glauben und Wissen, Berlin 2001. Ernst Cassirer, „Die `Tragödie der Kultur´“, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 2004, 107–139, hier 134.

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steht und warum wir sie verteidigen müssen in aller Deutlichkeit. Bielefeldt schlägt vor, neben religiösen und juristischen Argumentationen zur Menschenrechtsproblematik die Philosophie als konstruktive Kommunikationsebene zu Rate zu ziehen. Hierfür verortet er den Begriff der Menschenwürde im vernunftbegabten „Verantwortungssubjekt“, weil sowohl derjenige, der Rechte einfordert, als auch derjenige, der an die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft (und gegenüber Gott) appelliert, den Menschen als Verantwortungsträger betrachtet.4 Gegenteilig argumentieren würde allenfalls Dostoevskijs „Großinquisitor“, der die Menschen von jeder Verantwortung „befreien“ will. Die Sicht des Menschen als Verantwortungssubjekt ist für unser Thema hilfreich, weil sie von allen Weltreligionen unterstützt werden kann und vor allem der russischorthodoxen Position entgegenkommt, dass „dem Begriff der Würde die Idee der Verantwortung inne liegt“. Dies entspricht auch Immanuel Kants Verknüpfung von Würde mit Sittlichkeit als „innerer Bedingung der Möglichkeit unantastbarer Würde“.5 Von zentraler Bedeutung ist dabei jedoch die Präzisierung, dass verantwortungsvolles Handeln nicht als Bedingung für ein grundsätzliches Recht auf Menschenrechte gefordert werden kann. Diese Klarstellung lässt der russisch-orthodoxe Diskurs oft vermissen. Im Verständnis des Menschen als Verantwortungssubjekt sehe ich das moralische Potential der Aufklärung nachwirken. Damit möchte ich einer Argumentationsfigur entgegentreten, die im russisch-orthodoxen, aber auch in westeuropäischen Diskursen häufig auftritt und unüberwindbare Gegensätze zwischen Recht und Moral, Freiheit und Verantwortung, Säkularität und Religion, Aufklärung und Christentum, „liberalen“ und „traditionellen“ Werten behauptet. Diese Gegensätze bestehen – Tatsache ist aber, dass ihre jeweiligen Pole voneinander abhängig sind und im Zusammenspiel durch die europäische Geschichte hindurch politische und rechtliche Instrumente hervorgebracht haben, die nicht nur ein „menschenwürdiges“, sondern auch konstruktives Zusammenleben ermöglichen. Das moralische Potential der Aufklärung besteht darin, dass vernünftige Kritik am Andersdenkenden und an gesellschaftlichen Autoritäten ohne Gefahr für Leib und Leben geäußert werden kann und auch eine vernünftige Antwort erwartet werden darf. Die Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen ist ein moralischer Anspruch, mit dessen Gültigkeit die Möglichkeit einer pluralistischen Gesellschaft steht und fällt6 und von dem gerade auch religiöse Gemeinschaften profitieren. 4

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Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg im Breisgau 2011, 28–30, 157. Barbara Hallensleben, „Russische Beiträge zur westlichen Menschenrechtsdebatte“, G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 10 (2009) 25–27, hier 26. Ich halte deswegen die Formulierung der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas“ für verfehlt, die am Dokument der ROK von 2008 die „Transformation der Menschenwürde in eine moralische Kategorie“ moniert. Die Menschenwürde ist eine moralisch begründete Kategorie, die aber unabhängig von moralischen Forderungen gelten muss. Negiert man den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Moral, bestätigt man die Behauptung der ROK, die Konzeption

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Europäische Ideen- und Leidensgeschichte Noch vor dem Ersten Weltkrieg verteidigte Thomas Mann die romantische Kultur Deutschlands gegen die „westliche Zivilisation“ Frankreichs;7 ganz ähnlich prägte der russische Slavophile Ivan Kireevskij die noch heute geläufigen Stereotypen des ganzheitlich-spekulativen Russen gegenüber dem analytisch-rationalistischen Westeuropäer – eine Idee, die im Übrigen von Johann Gottfried Herder stammt.8 Dies sind Beispiele dafür, dass die West-Ost-Rhetorik eine genuin europäische ist, deren diverse geographische Zuordnungen mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielen. Es geht heute vielmehr um ideelle Anordnungen, die im gegenwärtigen Russland vor allem als Gegensatz von Liberalität und Traditionalität diskutiert werden. Dieser Wandel lässt sich gut anhand der Argumentationen der Russischen Orthodoxen Kirche beobachten: Die Verlautbarungen das Moskauer Patriarchats verwenden den Ost-West-Gegensatz in letzter Zeit kaum mehr,9 vielmehr wird eine „strategische Allianz“ zwischen den orthodoxen, katholischen und anderen Kirchen und sogar anderen Religionen wie dem Islam geschmiedet, um „traditionelle Werte“ zu verteidigen.10 Gleichzeitig fördert die Russische Orthodoxe Kirche in den UNO- und EUGremien aktiv die Anerkennung des Nutzens religiöser bzw. „traditioneller Werte“ zur Förderung der Menschenrechte.11 Implizit werden diese aber in einen Gegensatz zu modernen, liberalen und säkularen Werten gesetzt, was zu Spannungen mit der modernen Institution der Menschenrechte führt. Das europäische Wertesystem hat sich durch die eng mit dem Christentum verflochtene Ideengeschichte der Aufklärung und der Romantik hindurch entwickelt12 und ist durch einschneidende, leidvolle historische Ereignisse geprägt worden. Simone Zurbuchen sieht die Menschenrechte nicht in „der abendländischen Kultur“ verwur-

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der Menschenrechte könne sich von moralischen Vorstellungen entfernen. Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München und Wien 2010, 12. Ivan Kireevskij, „Über das Wesen der europäischen Kultur und ihr Verhältnis zur russischen“ [1852], in: Dmitrij Tschižewskij und Dieter Groh (Hg.), Europa und Russland, Darmstadt 1959, 248–298, hier 293. Vgl. den Beitrag von Kristina Stoeckl in diesem Band. Den nationalistischen Fokus wirft vor allem Luchterhandt der ROK vor; vgl. Otto Luchterhandt, „Menschenrechte, Religionsfreiheit und Orthodoxie“, in: Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes (Hg.), Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 45), Münster 2011, 175–218, hier 212. Alena Alshanskaya, „Die Russische Orthodoxe Kirche und die europäischen Institutionen“, Religion und Gesellschaft in Ost und West 1 (2012) 20–23, hier 23. „Seminar des UNO-Menschenrechtsrats über traditionelle Werte“, G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 1 (2011) 7–8; ibidem, 4 (2011) 4; ECRL Moscow Declaration: Advancing Human Dignity – through Human Rights and Traditional Values, URL: http://www.rfp-europe.eu/index.cfm?id=352430 (besucht am 2. Mai 2014). Vgl. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens“, in: ders., Das krumme Holz der Humanität, Frankfurt am Main 1992, 260–291.

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zelt, sondern im „Kontext der sozialen, ökonomischen und politischen Transformationen [...], die wir mit der Moderne verbinden“.13 Der Historiker Samuel Moyn betrachtet den Triumph der Menschenrechte sogar als eher überraschend denn zwingend.14 Mit dem Fokus auf die „Tradition“ verschwinden wichtige Erkenntnisse der jüngeren europäischen Geschichte aus dem Sichtfeld des russisch-orthodoxen Diskurses.15 Neben dem Rückbezug auf Traditionen ist für die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenso wichtig, um auch gemeinsame Zukunftsperspektiven entwickeln zu können. Sonst wird das „moralische Potential“ der Aufklärung oder der Moderne überhaupt verkannt, das eben die Kriterien hervorgebracht hat, an denen auch die „traditionellen Werte“ gemessen werden müssen.16 Gemäß Bielefeldt lässt sich „entgegen einem alten Vorurteil [...] feststellen, dass die Aufklärung den Menschen in mancher Hinsicht bescheidener gemacht hat“17 – gemeint ist, dass sie ermöglicht hat, absolute Wahrheitsansprüche und insbesondere gewisse praktische Auswüchse derselben (Inquisition, Religionskriege, aber auch säkularen Totalitarismus) zu hinterfragen und konstruktive Gemeinschaftsformen zu entwickeln.18 So beruhen unsere europäischen Gesellschaften nach den beiden Weltkriegen auf einem „instabilen Gleichgewicht“ (Isaiah Berlin), das fortwährendes „kommunikatives Handeln“ (Jürgen Habermas) beziehungsweise „konzertiertes politisches Handeln“ (Hannah Arendt) erfordert.19 Was man als Errungenschaft der Moderne im Gegensatz zu „traditionellen Gesellschaften“ anerkennen darf, sind klare Ausdifferenzierungen zwischen Moral, Recht und Religion, was aber nicht bedeutet, dass diese Normbereiche beziehungslos nebeneinander stehen. Die Menschenrechte sollen nicht unser gesamtes Bedürfnis nach Werten abdecken, sie haben sich aber – und zwar über Europa hinaus

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Simone Zurbuchen, „Lässt sich die universale Geltung der Menschenrechte im Rekurs auf die Idee eines übergreifenden Konsenses verteidigen?“, in: Adrian Holderegger und Siegfried Weichlein und Simone Zurbuchen (Hg.), Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft, Basel 2011, 251–272, hier 259. Moyn zählt die Revolte gegen den Vietnamkrieg, die 1968-Bewegung, die sowjetischen Dissidenten und das Ende des Kolonialismus zu den wahren Geburtshelfern der internationalen Bewegungen für die Menschenrechte. Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010, 1–10. Vgl. Andrew Clapham, Human Rights. A Very Short Introduction, Oxford 2007, 19: „Human Rights were invoked and claimed in the contexts of anti-colonialism, anti-imperialism, anti-slavery, anti-apartheid, anti-racism, and feminist and indigenous struggles everywhere“. Vgl. Luchterhandt, „Menschenrechte“, 205 und 218. Ein orthodoxer Theologe konstatiert, dass Kritik an der Moderne von einem vor- oder gar antimodernen Standpunkt aus sich selbst ad absurdum führt. Radu Preda, „Die Orthodoxe Kirche und das europäische Projekt“, Religion und Gesellschaft in Ost und West 1 (2012) 14–16, hier 15. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 91. Gewiss hat das kritische Potential der Aufklärung die Entstehung säkularer Ideologien mit absolutem Wahrheitsanspruch nicht verhindert, jedoch wiederum deren Entlarvung ermöglicht. Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens“, 204; Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2009, 106–118, hier 27f.; Hannah Arendt, Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York/London 1977, 11.

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– als brauchbares gemeinsames Vokabular zur Aufrechterhaltung eines politischen Gleichgewichts erwiesen, im Rahmen dessen jeder Person ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden kann.20

Vorbehalte gegen aktuelle Entwicklungen Die „Brauchbarkeit“ des Menschenrechtsvokabulars bekräftigt auch das Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill: Ich bin überzeugt, dass viele religiöse Traditionen der Welt heute nicht in Zweifel ziehen, dass die Sprache der Menschenrechte eine weltliche Sprache bleiben soll. Zumindest die orthodoxe Tradition stellt das nicht in Frage. Jedoch hat die religiöse Weltanschauung wie jede andere durchaus ein Recht, auf das Korpus der Menschenrechte und deren Umsetzung einzuwirken.21

Der Patriarch fordert mit Nachdruck, dass im Dialog über die Menschenrechte auch die Stimmen der Gläubigen aller Religionen gehört werden müssen. Er erwähnt dabei jedoch nicht, dass die UNO-Menschenrechtserklärung zu einem großen Teil auf dem Entwurf des christlichen Philosophen Jacques Maritain beruht22 und dass 1948 der Vorschlag Brasiliens, die biblische Idee der Gottesebenbildlichkeit direkt in den Textentwurf aufzunehmen, immerhin ernsthaft diskutiert wurde. Die überwältigende Mehrheit der Delegierten entschied sich aber zugunsten eines weltweiten Konsenses bewusst für einen Begriff der Menschenwürde ohne religiöse Referenz.23 Zwar warnt die Russische Orthodoxe Kirche zu Recht vor der Verabsolutierung und Instrumentalisierung der Menschenrechte durch unterschiedliche Interessengruppen, entgeht aber selbst nicht der Gefahr der Ambivalenz, was bereits vielfach thematisiert worden ist.24 Dies gilt auch für die Rede, die Patriarch Kirill beim Treffen des „Europäischen Rats der Religionsführer“ im Juni 2011 gehalten hat.25 In diesem Rahmen betonte der Patriarch deutlich – und dies ist bisher vermisst worden –, dass er 20 21

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Michael Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002, 114. Kyrill, Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’, Freiheit und Verantwortung im Einklang, Freiburg (Schweiz) 2009, 131. Samuel Moyn, „Personalismus, Gemeinschaft und die Ursprünge der Menschenrechte“, in: StefanLudwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 63–91; Luchterhandt, „Menschenrechte“, 236. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 25 und 145. Alexander Agadjanian, Russian Orthodox Vision of Human Rights: Recent Documents and their Significance (= Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums, Heft 7), Erfurt 2008, 20; Alfons Brüning, „Spannungsverhältnis: `Orthodoxe Werte´ und Menschenrechte“, Osteuropa 59/6 (2009) 63–78. Patriarch Kirill, „Prava þeloveka i tradicionnye cennosti v Evrope“ [Menschenrechte und traditionelle Werte in Europa], URL: http://www.patriarchia.ru/db/text/1546416.html (besucht am 4. Mai 2014).

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die Institution der Menschenrechte schätze und sie angesichts der historischen Erfahrungen seiner eigenen Kirche nicht missen möchte. Sorgen bereiteten ihm aber die moralische Krise der Gesellschaft, der säkulare Zuschnitt der Menschenrechte und der fehlende Begriff der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft.26 Hierbei muss deutlich hervorgehoben werden, dass im Hintergrund dieser Kritik an den Menschenrechten nicht die philosophische Kritik am modernen „Menschenrechts-Mechanismus“ im Sinne einer Hannah Arendt oder eines Giorgio Agamben steht.27 Die Kritik richtet sich auch nicht gegen die bisher anerkannten Menschenrechtspakte, sondern gegen den liberalen Umgang mit Themen wie Abtreibung, Homosexualität und Euthanasie. Dabei entsteht in der russisch-orthodoxen Argumentation bisweilen der falsche Eindruck, ein Recht auf Abtreibung oder auf Sterbehilfe gehöre bereits zum Kanon der Menschenrechte, obwohl diese Themen auch im Westen umstritten sind. Es handelt sich dennoch nicht (mehr) um eine fundamentale Kritik der Institution der Menschenrechte, sondern um berechtigte Anfragen zu deren weiterer Ausgestaltung. Die weiteren kulturphilosophischen Anfragen stelle ich auf der Basis eines Artikels von Jürgen Habermas zum interkulturellen Diskurs über Menschenrechte.28 Habermas reagiert hier v.a. auf asiatische Einwände gegen den individualistischen Zuschnitt der Menschenrechte, die mit den russisch-orthodoxen Einwänden verwandt sind.

Recht und Verantwortung Der erste Einwand richtet sich gegen die Betonung subjektiver Rechte, was dazu führe, dass die politische Ethik der Gemeinschaft vernachlässigt und die dazugehörigen 26

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Dabei handelt es sich um Präsuppositionen, die selbst noch ausdifferenziert werden müssten. So verweist zum Beispiel Luchterhandt darauf, „wie verbreitet und stark in westlichen Gesellschaften moralisch-sittliches Engagement der Bürger aus freien Stücken ist. [...] Es gibt nämlich einen dialektischen Zusammenhang zwischen der Garantie säkularer Freiheitsrechte und sozialem Handeln um des sittlichen Gewissens willen, sei es religiös, humanistisch oder emotional motiviert“ (Luchterhandt, „Menschenrechte“, 191). Arendt und Agamben kritisieren vor allem die Bindung der Menschenrechte an den Staat, was Flüchtlinge zu rechtlosen Personen (homini sacri) macht. Nach Gündo÷du hält Arendt politisches Handeln im Sinne der Menschenrechte aber für möglich, während Agamben von einer „Politik jenseits der Menschenrechte“ spricht. Agamben hat aber oft auch für die Menschen- und Bürgerrechte Partei ergriffen, die er einer strukturellen Gefahr ausgesetzt sieht. Hannah Arendt, „`The Rights of Man´. What Are They?”, Modern Review 3/1 (1949), 24-37; Eva Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg 2005, 31–33; Ayten Gündo÷du, „`Right to Have Rights´: Arendt and Agamben on Politics of Human Rights“, UMN Political Theory Colloquium (3. März 2006) 22, URL: http://www.learningace.com/doc/259744/9d39a278de609663083567b1bbad7e0e /gundogdu_righttohaverights (besucht am 14. Juni 2013). Jürgen Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, in: Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler und Matthias Lutz-Bachmann (Hgs.), Recht auf Menschenrechte, Frankfurt am Main 1999, 216–227.

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Pflichten ignoriert würden.29 Dieses Argument ist im russisch-orthodoxen Diskurs, aber auch in westeuropäischen Argumentationen anzutreffen. Studien zum deutschen und russischen Begriff der Person haben gezeigt, wie wichtig es ist, zwischen dem Persönlichkeitsbegriff der Aufklärung und demjenigen der Romantik zu unterscheiden: Kants subjektive Autonomie der Person ist die moralische Grundlage von Gemeinschaft; das originelle Individuum oder Genie der Romantik hingegen rebelliert gegen gemeinschaftliche Regeln. Das russische antiindividualistische Denken kritisierte vor allem das romantisch überhöhte Personenverständnis,30 was zur Folge hatte, dass der Personenbegriff in Russland lange kaum als universelle Norm oder als Rechtsbegriff verstanden wurde. Diesen Umstand beklagte der Rechtsphilosoph Bogdan Kistjakovskij bereits 1909: „Doch gerade hier müssen wir die größte Lücke feststellen, denn unser öffentliches Bewusstsein hat nie die Idee der Rechtspersönlichkeit formuliert“31. So sehr sich die russischen Gemeinschaftskonzepte aber gegen die romantische Selbstüberschätzung der einzelnen Ichs wehren, so sehr sind sie doch von einem romantischen Würdebegriff geprägt, der aus würdevollem Verhalten und persönlicher Leistung erwächst: „Bei Kant steht die Würde für etwas Unverbrüchliches, bei Schiller für eine individuelle charakterliche Haltung, die gefährdet bleibt und stets aufs Neue errungen werden muss“.32 So stehen die Würde als axiomatische Statusposition jedes Menschen („das moralische Gesetz in mir“) und die Würde als Qualifizierung eines bestimmten menschlichen Charakters auch in der westeuropäischen Alltagssprache oft nebeneinander, was häufig zu Missverständnissen führt. Laut Patriarch Kirill bestand der Hauptgrund für die Ausarbeitung des Dokuments von 2008 in der Sorge, dass die Konzeption der Menschenrechte in einem Sinne weiter

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Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, 221. Habermas hält dieses Argument für nicht schlüssig, wenn man sich bereits auf ein kapitalistisches Wirtschaftssystem eingelassen habe, das ohne ein individualistisches Rechtssystem nicht durchführbar sei. „Einleitung der Herausgeber“, in: Alexander Haardt und Nikolaj Plotnikov (Hg.), Diskurse der Personalität. Die Begriffsgeschichte der `Person´ aus deutscher und russischer Perspektive, München 2008, 17–22. Bogdan Kistjakovskij, „Zur Verteidigung des Rechts“, in: Karl Schlögel (Hg.), Vechi/Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt am Main 1990, 212–250, hier 221. Auch westeuropäische christliche Denker haben ihren Personenbegriff erst spät an einen verbindlichen Rechtsbegriff gebunden. Beispiele dafür sind der katholische Philosoph Jacques Maritain (Moyn, „Personalismus“), und der evangelisch-reformierte Theologe Leonhard Ragaz, der sich erst spät gegen Tolstojs Rechtsnihilismus gewandt hatte (Christian Münch, „Zur Tolstoj-Rezeption im Religiösen Sozialismus der Schweiz“, G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 11, 2010, 25–27). Ein russisch-orthodoxer Theologe, der seinen Personenbegriff schon früh mit der Forderung nach rechtlicher individueller Freiheit verband, war Sergej Bulgakov. Vgl. Regula Zwahlen, „Pravo als Weg zur Pravda. Sergej N. Bulgakovs Überlegungen zu Gerechtigkeit und Recht“, in: Holger Kuße und Nikolaj Plotnikov (Hg.), Pravda. Diskurse der Gerechtigkeit in der russischen Ideengeschichte, München und Berlin 2011, 143– 153. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 75–76.

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entwickelt werde, die ihre Verbindung mit „moralischer Verantwortlichkeit“ aufhebe.33 Dem wäre aber hinzuzufügen, dass sich die Menschenrechts-Konzeption auch nicht in eine Richtung entwickeln darf, die den Würdebegriff an einen sozialen Status oder eine persönliche Leistung bindet, die von einer unanfechtbaren Autorität gemessen wird. Die Menschenrechte orientieren sich am moralischen Würdebegriff der Aufklärung und dem darin angelegten Potential sozialer Verantwortung und persönlicher Vervollkommnung. Die Möglichkeit, persönliche Verantwortung zu übernehmen, ist gleichzeitig mit einer neuen Denkweise, einer kritischen und abwägenden Einstellung verbunden, die Michel Foucault speziell der Aufklärung zuschreibt: Er nennt es „attitude“ – eine individuelle, autonome Einstellung gegenüber allem, was „unmündig“ machen will.34 Ohne diese Einstellung könnten wir auch die Institution der Menschenrechte nicht mit kritischem Blick betrachten. Die Revolte der Aufklärung galt selbsternannten Autoritäten, nicht aber gemeinsam anerkannter Autorität, die durch gute Argumente und das Gemeinwohl stärkende Praktiken überzeugt.35 Gefordert wird dabei nicht die Einigung auf eine „liberale Ideologie“, sondern auf die demokratischen und rechtsstaatlichen Instrumente der öffentlichen Konsensfindung.36 Individualrechte unterminieren die Gemeinschaft nicht, sondern stärken die Legitimität ihrer Autoritäten: Im Rahmen der Menschenrechte ermöglichen sie die „freie Gemeinschaftsbildung in der doppelten Frontstellung gegen autoritäre, bevormundende Kollektivismen einerseits und gegen unfreiwilligen sozialen Ausschluss andererseits“.37 Menschenrechte sollen schützen, was die Russische Orthodoxe Kirche die „ontologische Würde des Gottebenbildes“ nennt. Spricht man in diesem Zusammenhang von Pflichten, so ist hier vor allem die Pflicht des Rechtsstaates zu betonen, die Menschenrechte seiner Bürger wie auch die von Flüchtlingen, die bei ihm Zuflucht suchen, zu wahren. In den Kompetenzbereich der Menschenrechte gehört das Recht des einzelnen „Verantwortungssubjekts“, ein seiner Würde entsprechendes Leben zu führen, nicht aber die Pflicht, dies auch zu tun.

Kulturrelativismus Weiter äußert Habermas den Verdacht, dass Vorbehalte gegen die individualistische Konzeption der Menschenrechte oft gar nicht in normativer, sondern in strategischer

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Kirill, „Prava þeloveka i tradicionnye cennosti v Evrope“. Michel Foucault, Qu'est-ce que les Lumières? 1984. URL: http://foucault.info/documents/whatis enlightenment/foucault.whatisenlightenment.en.html (besucht am 2. Mai 2014). Tzvetan Todorov, L’esprit des Lumières, Paris 2006, 35. In der Praxis gestaltet sich das Nebeneinander von Weltanschauungen auch laut Patriarch Kirill „als Ergebnis einer Diskussion, an der ohne Einschränkung die verschiedenen weltanschaulichen Gruppen teilnehmen sollten. Sie stellen ihren Standpunkt dar, und die Mehrheit stimmt ihm entweder zu oder lehnt ihn ab“ (Kyrill, Freiheit und Verantwortung, 134). Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 126.

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Absicht formuliert werden und dass die „Argumente im Zusammenhang mit der politischen Rechtfertigung des mehr oder weniger `weichen´ Autoritarismus von Entwicklungsdiktaturen stehen“.38 In diesem Zusammenhang werden oft kulturrelativistische Argumente verwendet, welche die Universalität der Menschenrechte mit dem Argument in Frage stellen, moralische Normen seien in Kulturen oder „Traditionen“ verankert. Was die russische Orthodoxie betrifft, ist es ein erklärtes Ziel der Kirche, die russische Regierung bei der Stabilisierung und Konsolidierung der Gesellschaft mit allen Kräften zu unterstützen. Eine dezidierte Abkehr von der vom Staat ratifizierten Menschenrechtsdeklaration würde dieser „Strategie“ nicht dienen. Außenpolitisch nimmt die Russische Orthodoxe Kirche also einerseits aktiv an den Debatten teil, innenpolitisch versucht sie, den bei weiten Kreisen kompromittierten Begriff der Menschenrechte so zu „rehabilitieren“, dass er auch von „Antiwestlern“ verwendet werden kann.39 Mit dem Fokus auf Moral und Tradition sucht man wie bereits erwähnt auch Verbündete bei anderen Religionsgemeinschaften im In- und Ausland. Auch dies weckt den Verdacht, man habe es nicht mit einem normativen, sondern mit einem strategischen Argument zu tun: Die Strategie besteht darin, die (autoritäre) Position der „traditionellen“ Religionen nicht als Teil, sondern als Gegensatz zum liberalen Gesellschaftsmodell zu stärken.40 Als „strategisch“ dürfte man auch den Diskurswandel bezeichnen, der darauf hinausläuft, die Menschenrechte nicht mehr als westliches Konstrukt zu kritisieren und ihren Universalitätsanspruch zurückzuweisen, sondern an die gemeinsamen religiösen Wurzeln und Werte Europas zu appellieren, insbesondere an den Wert der Familie. Nur eine aktive Familienpolitik garantiere das „physische Überleben der europäischen Zivilisation“, die ihre politischen Errungenschaften auch mittels eigener Reproduktion verteidigen müsse.41 Das bedeutet, dass die kulturrelativistische Argumentationslinie, die früher zum „Überleben des orthodoxen Volkes“ verwendet wurde, auf ganz Europa

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Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, 222. Patriarch Kirill steht in der Mitte des kirchlichen Spektrums zwischen einem sehr schwachen liberalen, pro-europäischen Flügel und einem starken russisch-nationalistischen Flügel (vgl. Luchterhandt, „Menschenrechte“, 225). Beispiele dafür sind die im UN-Menschenrechtsrat verabschiedeten Resolutionen gegen die „Diffamierung von Religionen“ im Namen der Menschenrechte, was in der Praxis darauf hinauslaufen kann, die Spielräume staatlicher Zensurmaßnahmen gegen religiöse Dissidenten, und im Falle Russlands gegen Künstler, die religiöse Motive verfremden, oder Homosexuelle zu erweitern, vgl. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 110; Regula Zwahlen, „Gedanken zur christlichen Menschenrechtsdebatte“, G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 5 (2010) 15–18; zur neuen ROK-Verordnung „Über Gotteslästerung und Verleumdung“, siehe G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 4 (2011) 5. Kirill, „Prava þeloveka i tradicionnye cennosti v Evrope“; vgl. Religion und Gesellschaft in Ost und West 12 (2011) 7.

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übertragen wird. Doch auch dies läuft dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte zuwider. Die Russische Orthodoxe Kirche bestreitet natürlich nicht, dass es universale Werte gibt, sondern betrachtet sich selbst vielmehr als „eine Form der Verkörperung universaler Werte“. Sie will sich den Menschenrechten nicht als irgendein „einzelner kultureller Wert“ unter- oder nebengeordnet wissen und nicht nur eine Begründung der Menschenrechte unter vielen liefern, sondern diese aus ihrer Sicht dort korrigieren, wo sie von den „gottgegebenen universalen“ Werten abweichen.42 Deshalb ruft der Patriarch alle traditionellen Religionen dazu auf, den „säkularen“, „leeren“ Begriff der Menschenwürde mit Inhalten zu füllen und ihn aus dem „gesamteuropäischen spirituellen Erbe“ abzuleiten. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn damit nicht die hart errungene Praktikabilität der Menschenrechtskonvention ohne Referenz auf religiöse oder kulturelle Begründungen in Frage gestellt und unterstellt würde, die moderne Idee der Menschenwürde sei von allen moralischen und religiösen Bezügen abgeschnitten. Wenn das Potential des Begriffs als „verbindendes Prinzip zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft“43 erkannt und verwendet werden soll, darf dieser nicht von unhinterfragbaren, weil „gottgegebenen“, Autoritätsdiskursen okkupiert werden.44 Der Schutz des Rechts auf eigene Lebensgestaltung zwängt Religionen und anderen Kulturen kein bestimmtes Menschenbild auf, sondern bestätigt sie in ihrer eigenen religiösen und kulturellen Individualität: kulturelle Rechte sind individuelle Rechte.45 Gesucht ist laut Habermas eine „Interpretation der Menschenrechte, die der modernen Welt auch aus der Sicht anderer Kulturen gerecht wird“.46 Als sinnvolle, einzuschlagende Richtung plädieren viele Menschenrechtsphilosophen nicht für eine ständige Ausweitung, sondern für die Eingrenzung des Menschenrechtskatalogs auf den Schutz des Wesentlichen, zum Beispiel die individuelle Handlungsfähigkeit innerhalb einer Gesellschaft.47

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Igument Filip (Rjabych) im UNO-Menschenrechtsrat am 4. Oktober 2010: URL: http://www. mospat.ru/ru/2010/10/05/news27330 (besucht am 2. Mai 2014). Kirill, Freiheit und Verantwortung, 128. Vgl. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 159 und 169. Das vom „Europäischen Rat Religiöser Führer“ im Juni 2011 in Moskau unterzeichnete Dokument warnt vor dem „Missbrauch der Rede von traditionellen Werten zum Schutz von etablierten Machtstrukturen und vor dem Missbrauch der Sprache der Menschenrechte zur Förderung von mit der Menschenwürde inkompatiblen Agenden“. Die Website des Moskauer Patriarchats verweist nur auf den Eröffnungsvortrag von Patriarch Kirill, der diese Einschränkungen nicht erwähnt, vgl. ECRL Moscow Declaration (23. Juni 2011); URL: http://www.rfp-europe.eu/index.cfm?id=352430 (besucht am 2. Mai 2014). Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, 78. Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, 219. Vgl. James Griffin, „First Steps in an Account of Human Rights“, European Journal of Philosophy 9 (2001) 306–327; Clapham, Human Rights, 22.

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Konsens Auch dem Einwand, eine Rechtsordnung subjektiver Rechte sei auf Konflikt angelegt und widerstreite der Konsensorientierung der einheimischen Kultur, widerspricht Habermas. Im russisch-orthodoxen Diskurs stellt sich die Frage etwas anders: Er unterstellt der Menschenrechtskonzeption nicht Konfliktorientierung, sondern „moralische Neutralität“, welche die Rechte des egoistischen, konsumorientierten Erfolgsmenschen und nicht diejenigen der gesellschaftlichen Mehrheit schütze.48 Allerdings ist laut Habermas auch ein moralischer Konsens nur innerhalb einer Rechtsgemeinschaft denkbar, „die auf der gegenseitigen Anerkennung freiwillig assoziierter Mitglieder beruht“.49 Dafür müsse aber auch der Westen „den metaphysischen Ballast der Annahme eines vor aller Vergesellschaftung gegebenen Individuums“ abwerfen, das heißt ebenfalls ein romantisches Persönlichkeitsverständnis verabschieden, das der Gemeinschaft feindselig gegenüber steht. Die Antwort auf die totalitäre Überhöhung der Gemeinschaft ist kein umso radikalerer Individualismus. Gesucht ist auch keine Position der moralischen Neutralität, sondern eine Sicht des Menschen als Verantwortungssubjekt mit politischem Willen zur Gemeinschaft. Hierzu sind sowohl im Westen als auch im Osten zahlreiche weiterführende Gemeinschaftskonzeptionen entwickelt worden, die miteinander in einen fruchtbaren Dialog treten könnten.50 Wie bereits erwähnt, wird in der russisch-orthodoxen Position die historische, konsensorientierte Dimension der Entstehung der Menschenrechte kaum berücksichtigt. Die Menschenrechte sind ja gerade nicht zur Konfliktförderung oder in „neutralisierender Absicht“ formuliert worden, sondern sie erteilen sozusagen ein Recht auf Teilnahme an gesellschaftlicher Konsensfindung im Sinne einer moralischen Pflicht dieser Gesellschaft, die Würde ihrer einzelnen Mitglieder zu wahren – und ihnen ein Recht auf Rechte zu erteilen, wie es Hannah Arendt formuliert hat.51 Unter Philosophen wird auch eine Debatte darüber geführt, ob die Menschenrechte nur als abstrakte, philosophische Frage oder auch als konkretes, historisches Projekt betrachtet werden sollen, das durch ein in der Geschichte verankertes Bewusstsein gestärkt würde.52 Hierzu müsste man allerdings einwenden, dass auch „die Geschichte“ sich nie eindeutig interpretieren lässt.53 Trotzdem halte ich diesen Aspekt für wichtig, um nicht alle beliebigen Interessen mit Rechten zu verwechseln.54

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Kirill, „Prava þeloveka i tradicionnye cennosti v Evrope“. Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, 223. Vgl. Kristina Stoeckl, Community after Totalitarianism: The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity, Frankfurt am Main 2008. Hannah Arendt, „`The Rights of Man´“, 24–37. Rolf Zimmermann, „Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt“, Erwägen, Wissen, Ethik 20/3 (2009) 415-428 und 485-496, hier 493 (Sonderdruck). Eindrückliches Beispiel ist gerade die Interpretation des Zweiten Weltkriegs, vgl. zum Beispiel: Natalia Narotchnitskaya, Que reste-t-il de notre victoire?, Paris 2008. Vgl. eine Passage in Milan Kunderas Roman Die Unsterblichkeit, Paris 1990, 172: „Da die Menschen im Westen aber nicht von Konzentrationslagern bedroht sind und sagen und schreiben

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Oft ist auch moniert worden, dass die Russische Orthodoxe Kirche zu viel Konsens mit dem Staat suche, die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland hingegen nicht anspreche.55 Indem die Kirche sowohl mit dem Staat kooperieren als auch eine Harmonisierung der Menschenrechtsdoktrin mit dem christlichen Menschenbild erreichen will, läuft sie Gefahr, die Grenzen zwischen staatlichem Recht und christlicher Moral zu verwischen.56 Die Institution der Menschenrechte darf weder im Osten noch im Westen zu einer Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen werden, die grundlegenden Überzeugungen einer Mehrheit der Staatsbürger widersprechen.57 In diesem Zusammenhang beruft sich Patriarch Kirill gerne auf den Artikel 29 der Menschenrechtsdeklaration, in dem von den „Pflichten gegenüber der Gemeinschaft“ die Rede ist: Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Einschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheit anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen des Ethos, der öffentlichen Ordnung und des Allgemeinwohls in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.58

Nun hat sich auch Leonid Brežnev im Jahre 1977 auf diesen Artikel bezogen, und zwar in Erwiderung auf die westliche Kritik am neuen Verfassungsentwurf der UdSSR, die bemängelte, dass darin kein Recht auf Kampf gegen die sozialistische Ordnung verbürgt sei.59 Menschenrechte werden – im Westen wie im Osten – ideologisch vereinnahmt. Vergessen wird oft, dass die Menschenrechtsdebatte von 1948 schon unter

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können, was sie wollen, verlor der Kampf für die Menschenrechte immer mehr an konkretem Inhalt, je größer seine Popularität wurde, und wurde schließlich zu einer allgemeinen Haltung aller gegen alles, zu einer Art Energie, die jeden menschlichen Wunsch in ein Recht verwandelte.“ Marina Shishova, „Geistliche und politische Dimensionen des Verständnisses von Würde, Freiheit und Menschenrechten in der Russisch-Orthodoxen Kirche“, Ökumenische Rundschau 59 (2010) 330-345, hier 340. Gleichzeitig betont Kostjuk, dass die russisch-orthodoxe Sozialkonzeption von 2000 die Kirche erstmals als eine selbständige, vom Staat unabhängige Institution definiert; Konstantin Kostjuk, „Sozialdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche: Entwicklungen im 21. Jahrhundert“, in: Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes (Hg.), Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 45), Münster 2011, 139–150, hier 149. Athanasios Vletsis, „Die letzte Bastion einer byzantinischen Symphonie? Die Deklaration der ROK zu Menschenrechten (2008) als Ausdruck einer vormodernen Kirche-Staat-Beziehung“, Ökumenische Rundschau 59 (2010) 346-362. Zum Paradebeispiel wurde der Fall „Kruzifix im Schulzimmer“, gegen das eine Mutter in Italien bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorging. Das erstinstanzliche Urteil (2009) gab ihr Recht, was europaweit Proteste auslöste. Das letztinstanzliche Urteil (2011) hob dieses wieder auf und übertrug die Entscheidungskompetenz in ähnlichen Fällen an die einzelnen Mitgliedsstaaten (vgl. G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 5, 2011, 4). Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 133. L. I. Breshnew, Über den Entwurf der Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Ergebnisse der Volksaussprache über den Entwurf, Moskau 1977, 21.

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Stalin zu einem Propagandainstrument für den fortschrittlichen Charakter des sowjetischen Rechts und der sowjetischen Moral geworden war.60 Die sowjetischen Vertreter bei der UNO erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg den Einbezug wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte in die Deklaration, deren Verletzungen im kapitalistischen Westen sie daraufhin kritisieren konnten.61 Menschenrechte decken nicht alle Rechte ab, die Menschen haben können: Sie entsprechen einer speziellen Rechtskategorie, die den Staat und seine Bürger hinsichtlich des Zusammenlebens in die Pflicht nimmt, nicht aber hinsichtlich persönlicher moralischer Vervollkommnung.62 Der kategorische Imperativ Kants hat die Menschenwürde als Quelle jedes vernünftigen Konsenses festgelegt: „Die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein.“63 Die Moral der Aufklärung besteht nicht in einem rücksichtslosen Individualismus, sondern basiert auf gemeinsam entwickelten Werten und einem „intersubjektiven Konsens“.64 Gerade dies ermöglicht eine demokratische und rechtsstaatliche Variante der sobornost’, wie sie zum Beispiel Nikolaj Losskij entwickelt hat: Er hatte sich dagegen gewehrt, die Orthodoxie eng an die Monarchie zu knüpfen, weil ja auch die orthodoxe Kirche konziliär geleitet werde.65 Insofern stellt sich jedoch die Frage, ob man sich mit John Rawls’ Konzept des „übergreifenden Konsenses“, das diverse Begründungen der Menschenrechte zulässt, zufrieden geben muss: Sollte es Menschen, die sich gegenseitig als Verantwortungssubjekte anerkennen, nicht möglich sein, die Menschenrechte nicht nur zu postulieren,

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Die russisch-orthodoxe Sozialdoktrin sieht allerdings ein Recht auf zivilen, gewaltlosen Widerstand gegen den Staat vor (im Kapitel III. Kirche und Staat, Teil 5). Als die ROK 2011 einen Katalog „ewiger Werte der russländischen Identität“ veröffentlichte, fühlten sich viele an den „Moralkodex des Erbauers des Kommunismus“ von 1961 erinnert. Olga Gumanova, Monitoring SMI: Svod veþnych rossijskich cennostej obsuždaetsja: URL: http://www. pravda.ru/faith/dialog/26-01-2011/1064746-cennosti-0/ (besucht am 2. Mai 2014); zum kommunistischen Moralkodex, siehe Richard T. DeGeorge, Soviet Ethics and Morality, Ann Arbor 1969. Auf die Ähnlichkeiten sowjetischer und russisch-orthodoxer Kritik an den Menschenrechten verweist auch Luchterhandt, „Menschenrechte“, 203. Jennifer Amos, „Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–1958“, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 142–168. Vgl. „We are not talking about all the rights that human beings may have – we are considering a rather special category of rights.“ (Clapham, Human Rights, 5). Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977, 73. Todorov, L'esprit des Lumières, 35. Nikolaj Losskij, „Organiþeskoe stroenie obšþestva i demokratija“, Sovremennye zapiski 25 (1925) 334–355; Wilhelm Goerdt, „Sobornost“, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Freiburg im Breisgau 1995, 993–1000.

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sondern auch gemeinsam zu begründen?66 Dass eine solche Begründung in einer säkularen Sprache erfolgen müsste, hat laut Bielefeldt nichts mit einem „Verlust religiöser Substanz“ zu tun, vielmehr handle es sich um ein „menschenrechtsbasiertes Fairnessprinzip im staatlichen Umgang mit religiösem und weltanschaulichem Pluralismus“.67 Eine säkulare Sprache ist ein wirksames Konsensinstrument, das aus Respekt vor der Überzeugung des Anderen auf die Bindung an die eigene religiöse Wahrheit verzichtet, ohne diese aufzugeben.68

Säkularität Das säkulare Toleranzprinzip richtet sich laut Habermas nicht etwa „gegen die Authentizität und den Wahrheitsanspruch religiöser Bekenntnisse und Lebensformen“, sondern soll „allein deren gleichberechtigte Koexistenz innerhalb desselben politischen Gemeinwesens ermöglichen“.69 Das jüngste Beispiel dieser Sichtweise lieferte der türkische Ministerpräsident Erdogan, der in einem ägyptischen Fernsehsender kundtat, dass ein säkularer Staat kein gottloser Staat sei, sondern ein Staat, in dem alle ihre Religion frei ausüben könnten.70 Dieser Aspekt ist in Europa und gerade für den russländischen Vielvölkerstaat wichtig. Wichtig ist aber auch, dass ein säkulares Verständnis der Menschenwürde auch von den Religionen als für die politische Gemeinschaft „ausreichend“ anerkannt wird, was Patriarch Kirill in Frage stellt.71 Damit setzt er die Errungenschaft einer gemeinsamen Sprache aufs Spiel, die einen moralischen Grundkonsens ermöglicht hat. Bielefeldt kritisiert eine derartige „krypto-theologische Lesart der Säkularisierung, [die] ungewollt zu einer Delegitimierung des säkularen Verfassungsrechts beziehungsweise der säkularen internationalen Menschenrechte“ führt.72 Kirills Argumentation spielt 66

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Diese Frage beantwortet Zurbuchen („Lässt sich die universale Geltung der Menschenrechte [...] verteidigen?“, 270) positiv. Ähnlich argumentiert die Juristin Belser: „Die Universalität der Menschenrechte ist nicht Vorgabe, sondern Aufgabe, ein Ziel, das uns zur Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kultur zwingt“; Eva Maria Belser, „Universelle Menschenrechte und Menschlichkeit“, in: Holderegger, Weichlein und Zurbuchen (Hg.), Humanismus, 233–250, hier 248. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 155. Laut Bielefeldt muss Böckenfördes viel zitiertes Diktum, dass der säkularisierte Verfassungsstaat von Voraussetzungen zehre, die er selbst nicht garantieren könne, nicht im Sinne der Rückkehr zum Konfessionsstaat verstanden werden, sondern im Sinne der rücksichtsvollen religiösen Zurücknahme zugunsten weltanschaulichen Friedens (Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 147). Habermas, „Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte“, 225. Jürg Bischoff, „Erdogan predigt den Säkularismus“, Neue Zürcher Zeitung 218 (19. September 2011) 2. Kirill, „Prava þeloveka i tradicionnye cennosti v Evrope“; Alshanskaya, „Die Russische Orthodoxe Kirche und die europäischen Institutionen”, 20. Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde?, 151.

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wiederum denjenigen Religionskritikern in die Hände, welche einen Dialog von säkularen und religiösen Weltanschauungen auf der Basis der Menschenrechte ohnehin für unmöglich halten.73 Die Modernisierung hat die Rolle der lokalen Traditionen und Religionen nicht in dem Maße marginalisiert, wie man es erwartet hat, und die Institution der Menschenrechte spielt im gegenwärtigen Dialog zwischen säkularen und religiösen Bewegungen eine wesentliche Rolle. Weder die römisch-katholische Kirche noch die evangelischen Kirchen behaupten, die Menschenrechtskonzeption sei allein auf ihrem Boden gewachsen.74 Wichtig ist im europäischen Kontext die Einsicht, dass weder eine säkulare noch eine christliche „Leitkultur“ die Förderung der Menschenrechte für sich alleine reklamieren kann. Habermas betont die Notwendigkeit eines „komplementären Lernprozesses“, der die „säkulare Tradition der Aufklärung wie die religiösen Lehren zur Reflexion ihrer jeweils eigenen Grenzen nötigt“ und beide befähigt, „ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit [...] gegenseitig ernst zu nehmen“75. Dabei stellt sich die Frage, ob die Gegenüberstellung von „säkular“ und „religiös“ überhaupt legitim ist.76 Der Religionssoziologe José Casanova erinnert beispielsweise daran, dass die Säkularisierung als eine „säkulare Reform“ innerhalb eines theologischen Diskurses begonnen hat, und zwar als Versuch, das „religiöse Leben aus den Klöstern in das Säkulum hinaus zu tragen“77. Insofern solle man die Prozesse der Säkularisierung und der religiösen Transformationen als fortlaufende, sich wechselseitig konstituierende, globale Prozesse statt als sich gegenseitig ausschließende Entwicklungen betrachten. Er erinnert daran, dass die Säkularisierung der westeuropäischen Gemeinschaften erst nach der Konsolidierung der Demokratie stattfand und nicht davor. Deswegen wäre es inkongruent, nicht nur die Säkularisierung des Staates und der Politik, sondern auch noch die Säkularisierung der Gesellschaft als eine Bedingung für Demokratie hinzustellen.78

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Vgl. die von Bielefeldt (Auslaufmodell Menschenwürde?, 13–18) dargestellten „Fundamentalismusvorwürfe“ gegenüber dem Menschenwürdebegriff aus Philosophie und Jurisprudenz. Josef Isensee, „Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, 138–174; Stefan Tobler, „Rezeption und Bedeutung der Menschenrechtsidee in der evangelischen Kirche“, Ökumenische Rundschau 59 (2010) 388–402. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 106, 116–117. Diese Frage stellte Evert van der Zweerde bei seinem Einführungsvortrag zur Konferenz „Orthodox Christian Tradition and the Integration of Europe“, September 2011 in Leuven. José Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009, 85–87. Agamben versteht die Säkularisierung gar „als eine spezifische Leistung des christlichen Glaubens […], der dem Menschen erstmals die Welt in ihrer Weltlichkeit und Geschichtlichkeit eröffnet hat“ (Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, Berlin 2010, 18). Casanova, Europas Angst, 20.

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Deshalb betont er, dass Religion innerhalb demokratischer Gesellschaften auch heute nicht als „Problem“, sondern als „globale soziale Tatsache“ betrachtet werden müsse.79 Im Umkehrschluss gilt für die Religionsgemeinschaften, dass sie die Säkularität des Staates (wie auch den Religionspluralismus) als Tatsache und nicht als Problem betrachten sollten. Gibt es jedoch gute Gründe für eine Privilegierung einer Religionsgemeinschaft, so ist Casanova der Überzeugung, dass „eine strikte Trennung von Kirche und Staat weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für Demokratie ist“.80 Der „condition moderne“ sind alle Kulturen und Weltreligionen auf ähnliche Weise ausgesetzt. Die Menschenrechte sind erst nach den Weltkriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts formuliert worden, was nicht bedeutet, dass sie nicht auch aus „traditionellen Werten“ hergeleitet werden können. Die Initiative der Russischen Orthodoxen Kirche ist als Beitrag zu einem kommunikativen Prozess zu verstehen, welcher auf der Basis von gemeinsamen moralischen Werten und einer stark miteinander verflochtenen Geschichte weitergeht. Das ist sowohl eine Herausforderung für den europäischen Säkularismus als auch für alle religiösen Gemeinschaften und Kirchen in Europa. Die Herausforderung besteht darin, eine öffentliche Sphäre zu schaffen, die weder „postchristlich“ noch „post-säkular“ ist, sondern „eine unverzerrte Kommunikation zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern – Christen, Muslimen und Juden, Atheisten, Agnostikern und Gläubigen – garantiert“81. Im Umgang mit der Moderne ist die Realisierung des moralischen Potentials der Aufklärung grundlegend, und die Sprache der Menschenrechte ist dabei nicht das einzige, aber eines der wichtigsten Kommunikationsmittel.

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Ibidem, 87, 94. Ibidem, 17–19. Laut Casanova ist die europäische Palette unterschiedlicher Modelle der Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen schon heute sehr breit. Vgl. auch Jennifer Wasmuth, „Die ROK und die Menschenrechte“, in: G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West 5 (2010) 12–14, hier 14. Casanova, Europas Angst, 30.

„Orthodoxie, Christentum, Demokratie“: Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten Alfons Brüning This chapter attempts to highlight the actual relationship of Russian Orthodox clerics and priests towards the idea of human rights. Going beyond the often adopted agenda of a clearcut opposition between the Russian Orthodox Church on the one hand, and Human Rights organisations on the other, a hypothetical scheme of three generations of priests (Soviet dissident priests, intellectual opposition, post-Soviet clerics) is applied, in order to better capture and understand the actually multi-faceted reception of the human rights concept among Russian Orthodox clergymen. Two biographical sketches, that of father Pavel Adel’geim from Pskov, and that of father Veniamin Novik from St. Petersburg, serve as illustrative examples for two out of the three mentioned generations. Crucial in both approaches outlined in this chapter are an emphasis on the institution of objective rights and a sophisticated theological argumentation, connected with a high esteem of the pastoral task of a priest and with a specific notion of Russian patriotism.

Das Verhältnis zwischen russischen Menschenrechtsorganisationen und der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) ist seit Jahren, gelinde gesagt, gespannt. Während erstere angesichts des orthodoxen Bemühens um Einfluss auf das gesellschaftliche Leben regelmäßig Anlass sehen, vor einer „Klerikalisierung“ von Staat und Gesellschaft zu warnen,1 sehen Kirchenvertreter ihrerseits in den säkularen Menschenrechten oft und gern ein Mittel, die Kirche erneut aus der Gesellschaft herauszudrängen – ganz so wie es zu Sowjetzeiten schon versucht worden sei.2 Das im August 2008 von der Synode der ROK verabschiedete Dokument zu „Würde, Freiheit und Rechten des

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Vgl. zum Beispiel die jährlichen Berichte der Moskauer Helsinki-Gruppe: Sergej Bur´janov, „Svoboda ubeždenij, sovesti i religii“ [Freiheit der Überzeugung, des Gewissens und der Religion], in: Prava þeloveka v Rossijskoj Federacii. Sbornik dokladov o sobytijach 2007 g. [Menschenrechte in der Russischen Föderation. Berichtssammlung zu Ereignissen des Jahres 2007], Moskau: Moskovskaja Chel’sinkskaja gruppa [Moskauer Helsinki Gruppe], 2008, 84–138; ders., „Svoboda ubeždenij, sovesti i religii“ [Freiheit der Überzeugung, des Gewissens und der Religion], in: Prava þeloveka v Rossijskoj Federacii. Sbornik dokladov o sobytijach 2010 g. [Menschenrechte in der Russischen Föderation. Berichtssammlung zu Ereignissen des Jahres 2007], Moskau: Moskovskaja Chel’sinkskaja gruppa [Moskauer Helsinki Gruppe], 2010, 30–95, besonders 33. Ferner zur Diskussion bereits die Beiträge in: Politiþeskij Žurnal 15, Nr. 110 (24. April 2006), URL: http://politjournal.ru (besucht am 19.3.2014). Zur Kritik der ROK-Kirchenleitung an den Menschenrechten (die freilich von liberaleren wie von eher fundamentalistischen Strömungen unter den Gläubigen unterschieden werden muss) vgl. Joachim Willems, „Die Russische Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte“, in: Heiner Bielefeldt u. a. (Hg.), Religionsfreiheit. Jahrbuch Menschenrechte 2009, Wien (u. a.) 2008, 152–165.

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Menschen“3 enthält eine Reihe kritischer Passagen zur Menschenrechtskonzeption aus der Sicht der orthodoxen Theologie. In der Presse ließen nach dessen Publikation verärgerte Reaktionen nicht lange auf sich warten. In Kommentaren wurde der Kirche vorgeworfen, einer neuen Art Totalitarismus das Wort zu reden, in dem die Menschenrechte letztlich in vollem Umfang eigentlich nur – noch dazu besonders eifrigen – orthodoxen Kirchenmitgliedern zukommen könnten.4 Indes besteht die Front zwischen Menschenrechtsaktivisten und Kirchenvertretern eigentlich nicht in dieser Schärfe und Zuspitzung. Denn zum einen war der eben erwähnte Entwurf einer „orthodoxen“ Menschenrechtskonzeption, ungeachtet seiner kritischen Elemente, gerade dazu gedacht, den Dialog mit Vertretern einer „weltlichen“ Menschenrechtsauffassung wieder aufzunehmen. Das Dokument stellt in dieser Form auch eine Korrektur einer noch distanzierteren, und nach landläufiger Meinung einigermaßen verunglückten kirchlichen Stellungnahme zu den Menschenrechten dar, die 2006 vom „Allgemeinen Russischen Volkskonzil“ (einem unter Ägide der ROK organisierten öffentlichen Forum) verabschiedet worden war.5 Andererseits ist die orthodoxe Kirche auch hier nicht so homogen, wie dies von westlichen Beobachtern häufig wahrgenommen wird. Das Verhältnis zu Menschenrechten als Konzeption6 ist in der Orthodoxie sowohl inhaltlich als auch in seiner gleichsam sozialen Wirklichkeit unter Priestern und Gläubigen deutlich komplexer, als dies aus der von außen meist zuerst rezipierten „Generallinie“ der Moskauer Kirchenleitung7 geschlossen werden kann. „Orthodoxie, Christentum, Demokratie“ ist der Titel eines im Jahr 2000 erschienenen, von dem Priester und ehemaligen Dozenten der Petersburger Geistlichen Akademie, Vater Veniamin (Novik), herausgegebenen Sammelbandes, dessen Titel sich bewusst – und für den Eingeweihten leicht erkennbar – absetzt von der einst im 19. Jahrhundert vom zarischen Unterrichtsminister Sergej Uvarov geprägten Dreiheit von „Orthodoxie, Selbstherrschaft, Nationalität“ (Pravoslavie, Samoderžavie, Narodnost’).8 Vater Veniamin steht einerseits für eine relativ kleine Gruppe publizistisch oder 3

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Osnovy uþenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach þeloveka [Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen], Bischofskonzil 2008, URL: http://www.patriarchia.ru/db/print/ 428616.html (besucht am 10. Oktober 2011). Vgl. zum Beispiel Sergej Egorov, „Prava þeloveka po-archierejski. RPC-MP brosaet vysov meždunarodno priznannym pravam þeloveka“ [Menschenrechte klerikal: Die ROK Moskauer Patriarchat fordert die international anerkannten Menschenrechte heraus], URL: http://www.portal-credo.ru/ site/?act=monitor&id=12744 (besucht am 19.3.2014). Zur Diskussion um die Menschenrechte innerhalb der ROK und einschlägige Medienreaktionen s. ausführlicher Alfons Brüning, „`Orthodoxe Werte´ und Menschenrechte – Hintergründe eines aktuellen Diskurses“, Journal of Eastern Christian Studies 62 (2010), 87–136, hier 118.. Mit der Bezeichnung der Menschenrechtskonzeption soll hier deutlich gemacht werden, dass es um ein Verhältnis zu den Menschenrechten als Gesamtkonzept geht, einschließlich ihrer Voraussetzungen wie Säkularität, Universalitätsanspruch etc., nicht in erster Linie um einzelne und womöglich strittige Unterpunkte. Vgl. oben Anmerkung 2 und 3. Veniamin (Novik), Pravoslavie. Christianstvo. Demokratija. Sbornik Statej, St. Petersburg 1999.

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gar politisch zugunsten der Menschenrechtsidee aktiver „Dissidentenpriester“, aber das Echo und der Zuspruch, den er und seinesgleichen durchaus erfahren, zeigen, wie weite Kreise eine positivere Einstellung zum Konzept der Menschenrechte in der ROK zu ziehen vermag. Die folgenden Ausführungen gelten exemplarisch zwei russisch-orthodoxen Geistlichen, in deren Werk und Wirken die Menschenrechtskonzeption eine andere und deutlich positivere Bewertung erfahren, und dies gerade im Licht der orthodoxen Theologie, so wie sie hier verstanden wird. Gleichzeitig soll versucht werden, beider Werk in einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext zu stellen – einen Kontext, der einen schärferen Blick zulässt auf die Rolle, die die Konzeption der Menschenrechte in der ROK der Gegenwart hat. Hier ist zunächst eine allgemeine Vorbemerkung nötig.

Ein Generationenproblem Der heutige Patriarch, damals noch Metropolit Kirill (Gundjaev) von Smolensk und Kaliningrad, äußerte sich 2006 grundsätzlich so: Einerseits dienen Menschenrechte dem Wohl der Menschen. Wir dürfen nicht vergessen, dass dank deren Einfluss auf die öffentliche Meinung in den Ländern der früheren sowjetischen Einflusszone die Russische Orthodoxe Kirche zusammen mit anderen religiösen Gemeinschaften in Osteuropa von den Fesseln des Atheismus befreit wurde. Darüber hinaus stehen die Menschenrechte für den Kampf gegen Missbräuche, Demütigungen und Übel, die in der Gesellschaft gegenüber der menschlichen Person vollzogen werden. Auf der anderen Seite allerdings sind wir Zeuge der Tatsache geworden, dass das Konzept der Menschenrechte benutzt wird, um Lügen und Falsch und Übergriffe gegen religiöse und nationale Werte zu decken. Mehr noch, der Katalog der Menschenrechte und -freiheiten wird nach und nach erweitert durch Ideen, die sich im Konflikt befinden nicht nur mit dem christlichen, sondern auch mit dem allgemein traditionellen Verständnis der menschlichen Person. Das ist alarmierend, denn hinter den Menschenrechten steht die verpflichtende Macht des Staates, die Menschen dazu bringen kann, Sünden zu begehen, mit ihnen zu sympathisieren oder sie zu gestatten aus Gründen banalen Konformismus.9

Hier spiegeln sich nicht allein theoretische Bedenken. Mit seinem Statement gibt Kirill, der ja selbst seine kirchliche Karriere noch zu Sowjetzeiten begonnen hatte,10 in gewissem Sinne auch die historischen Erfahrungen mehrerer Generationen russischer orthodoxer Geistlicher wieder – Erfahrungen, in deren Licht das Verhältnis orthodoxer 9

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Metropolit (Patriarch) Kyrill beim 10ten Allrussischen Volkskongress 2006, auf Englisch URL: http://www.mospat.ru/center.php?page=30688&newwin=1&prn=1 und auf den Internetseiten der ROK-Repräsentation in Brüssel zu finden, URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/97.aspx#3 (besucht am 10. Dezember 2010). Zunächst, ab 1970, persönlicher Sekretär von Metropolit Nikodim (Rotov) von Leningrad, dem damaligen Chef des Kirchlichen Außenamtes, wurde er 1976 Bischof und vier Jahre später Erzbischof von Vyborg und Rektor der Leningrader Theologischen Akademie (vgl. Jane Ellis, The Russian Orthodox Church: A Contemporary History, London 1986, 204).

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Geistlicher zu den Menschenrechten recht verschiedenartig bestimmt werden kann. Hinzu kommt, dass – worauf noch einzugehen sein wird – die Differenzierung zwischen Gemeindegeistlichen auf der einen und dem höheren, aus dem Mönchtum stammenden orthodoxen Klerus auf der anderen Seite auch hier eine Rolle spielt. Man hat geschätzt, dass es im Jahr 1966 auf dem Territorium der Sowjetunion noch 7466 aktive russische orthodoxe Gemeinden gegeben hat – aktiv freilich in dem Sinn, den die damalige, eben unter Nikita Chrušþev wieder deutlich restriktiver gestaltete Religionsgesetzgebung gestattete. In den 1950er Jahren waren es noch nahezu die Hälfte mehr gewesen. Nicht jede dieser Gemeinden hatte überdies einen eigenen Priester.11 Nach einem vielschichtigen religiösen Aufbruch in der späten PerestrojkaZeit und nach dem Fall des Sowjetregimes wurden im Jahr 1993 bereits 14113 Gemeinden und 12013 Priester und Diakone der russischen orthodoxen Kirche gezählt, darunter aber auch Gemeinden außerhalb des Territoriums der Russischen Föderation (also etwa in der Ukraine und in Weißrussland und im westlichen Ausland). Ende 2001 verzeichnete das Moskauer Patriarchat allein auf dem Territorium der Russischen Föderation 13907 Gemeinden, 13048 Priester und 1905 Diakone. Hinzuzurechnen sind etwa allein auf dem Gebiet der Ukraine, die bereits zu Sowjetzeiten eine erheblich höhere „Kirchendichte“ aufwies, 11539 Gemeinden (für das Jahr 2003).12 Das bedeutet ein zahlenmäßiges Anwachsen, aber auch den Hinweis auf mehrere Generationen Geistlicher unter einem Dach. „Generationen“ meint zwar in erster Linie eine gewisse Gleichheit der Bedingungen des Wirkens und der persönlichen Erfahrungen – nicht unbedingt eine Gleichheit der daraus gezogenen Schlüsse und angenommenen Haltungen. Dennoch kann man, was das Verhältnis zu den Menschenrechten angeht, auch hier bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern. Ein relativ kleiner Teil inzwischen meist älterer Geistlicher blickt aus der Gegenwart auf eine Aktivität unter den Restriktionen der Sowjetzeit zurück und ist geprägt von persönlichen erfahrener Diskriminierung, Behinderungen bei der Berufsausübung, teilweise sogar Gefängnis oder Lagerhaft. Die Menschenrechte, unter denen ja das Recht auf Gewissensfreiheit und auf freie Religionsausübung einen prominenten Platz einnimmt, werden hier meist positiv bewertet. Eine recht bedeutsame Komponente in dieser Generation ist der kritische Umgang mit den Verstrickungen der Hierarchie in die Machtstrukturen des Sowjetregimes, die meist unter dem Schlüsselbegriff des „Sergianstvo“ abgehandelt werden und öfter ein gewisses Misstrauen auch der gegenwärtigen Hierarchie gegenüber zur Folge haben. Gegebenenfalls kann das

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Zahlen nach Zoe Knox, „Postsoviet Challenges to the Moscow Patriarchate, 1991–2001“, Religion, State & Society 32 (2004), 87–113, hier 89 (mit weiteren Verweisen). Sovremennaja religioznaja zizn´ Rossij [Religiöses Leben Russlands in der Gegenwart], Teil 1, Moskau 2004, 29. Für die Ukraine vgl. Viktor Yelensky, „Religiosity in Ukraine According to Sociological Surveys“, Religion, State & Society 38 (2010) 213–227, hier 217 (mit weiteren Verweisen).

Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten

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heißen, dass auch der eigenen Kirchenleitung Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.13 Priester, die zur Zeit der Sowjetherrschaft Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren, zeigten sich häufig tief enttäuscht von der fehlenden Unterstützung durch die Kirchenoberen, die ihrerseits ihren Kurs einer scheinbar loyalen Anbiederung an das Regime fortsetzten und bisweilen sogar bei der Verfolgung ihrer unbotmäßigen Priester mithalfen. Herausragendes Beispiel ist Priester Gleb Jakunin, dessen offener Protestbrief an Staat und Kirchenleitung Mitte der 1960er Jahre Furore machte.14 Ab 1976, dem Jahr der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, war Jakunin als Gründungsmitglied eines „Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen in der UdSSR“ aktiv, was ihm schließlich die Verurteilung zu mehreren Jahren Lagerhaft einbrachte. In der Perestrojka-Periode entlassen, trat Jakunin seit dem Fall des Kommunismus für eine Säuberung der Kirche, eine Offenlegung der KGB-Verstrickungen der Hierarchie und eine Demokratisierung ihrer inneren Strukturen ein. Die Kirchenleitung wollte diesen „radikaldemokratischen“ Kurs freilich nicht lange mitgehen. Offiziell, weil er sein Duma-Mandat trotz des Verbotes politischer Tätigkeit für orthodoxe Priester nicht aufgeben wollte, wurde Jakunin 1994 zwangsweise in den Laienstand versetzt.15 Er amtiert inzwischen als Priester der abgespaltenen Apostolischen Orthodoxen Kirche, einem von ihm miterrichteten Zweig der ukrainischen, aus dem Exil zurückgekehrten Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche. Gleich ihm sind eine Reihe der „Dissidentenpriester“ der 1960er und 1970er Jahre nach dem Fall der Sowjetunion bald auf deutliche Distanz zur eigenen Kirchenleitung gegangen, der sie fortgesetzte Verstrickungen mit der Macht vorwerfen. Nicht alle gingen freilich derart radikale Wege wie Vater Gleb. Meistens, wie etwa im Fall von Priester Georgij Edel’štejn16 und anderen, amtieren sie weiterhin als Priester der ROK,

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Der Begriff „Sergianstvo“ bezieht sich auf die im Jahr 1927 vom damaligen Patriarchatsverweser Sergij (Stragorodskij, Patriarch ab 1943) abgegebene, umstrittene Loyalitätserklärung zum Sowjetstaat. Sowohl von Geistlichen in den eigenen Reihen als auch von der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (in der westlichen Emigration) wurde diese Erklärung stets heftig kritisiert. Sie wurde als Beginn einer Korrumpierung der Russischen Orthodoxen Kirchenleitung im Sowjetsystem gesehen, die vor allem nach der teilweisen Wiederzulassung der Kirche im Jahr 1943 eine gleichsam konstitutive Funktion hatte und das Verhältnis zwischen Hierarchie und Gläubigen belastete, vgl. William C. Fletcher, A Study in Survival: The Church in Russia 1927– 1943, London 1965, 29ff.; Gerd Stricker, „Die `Katakombenkirchen´ in Russland. Versuch einer Bestandsaufnahme“, Osteuropa 10 (1996) 1020–1035. Vollständige englische Übersetzung bei M. Bordeaux (ed.), Patriarch and Prophets. Persecution of the Russian Orthodox Church Today, London 1969, S. 189–224. In Auszügen in dt. Wiedergabe Peter Hauptmann und Gerd Stricker (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Russland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), Göttingen 1988, no. 349, S. 852f.; vgl. Michael Bordeaux, „Dissent in the Russian Orthodox Church“, Russian Review 28 (1969) 416–427. Vgl. Kathrin Behrens, Die Russische Orthodoxe Kirche: Segen für die „neuen Zaren“? Religion und Politik im postsowjetischen Russland (1991–2002), Paderborn (u. a.) 2002, 260ff. Vgl. dessen Interview auf URL: http://www.portal-credo.ru/site/?act=news&id=39122&cf= (besucht am 20. Oktober 2011).

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publizieren sogar ihre kritischen Stimmen in Zeitschriften, im Internet und in Buchform. Andere, die sich vor allem in der Nachfolge des seinerzeit gleichermaßen kritischen, aber wesentlich unpolitischeren Alexander Men’ sehen, streiten zurückhaltender für eine offene Orthodoxie als Gegengewicht zum Staat.17 Das Reservoir für den relativ sprunghaften Anstieg unter den Priestern seit der offiziellen Wiederzulassung im Jahr 1988 geht hingegen im Wesentlichen zurück auf die religiösen Aufbrüche der späten 1970er Jahre und der Perestrojka-Zeit bis in die Jahre unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion. Auch hier herrscht eine dissidentisch-nonkonformistische, wenngleich weniger kämpferische als intellektuell experimentierende Komponente vor. Menschenrechte wurden als Teil eines besseren politischen Systems, als Element des gesellschaftlichen Lebens und in ihrer Vereinbarkeit mit der christlichen Lehre kritisch diskutiert. Der Aufbruch der 1980er Jahre war allerdings bereits erkennbar pluralistischer und ließ neben liberal-politisch ausgerichteten auch sozial engagierte und bereits konservative und nationalistische Strömungen zu.18 Kennzeichnend scheint zu sein, dass sich diese beiden gleichsam „älteren Generationen“ bereitwilliger an intellektuellen Debatten beteiligen, so wie ja etwa auch der religiöse Aufbruch dieser späten Sowjetphase nicht selten als der einer Intellektuellenreligiosität beschrieben wird. Auch die meisten späteren Anhänger des 1990 ermordeten, in weiten Kreisen noch immer populären Aleksandr Men’ sind dieser Gruppe zuzurechnen. Die jüngere Generation schließlich, die ihre Weihen nach dem Ende der Sowjetunion erhielt, lässt sich allgemein als durch die Zeiten des Mangels in der Jel’cin-Ära und das Scheitern der radikalliberalen Option geprägt charakterisieren. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele Priester ihren Dienst sehr jung und angesichts des allgemeinen Mangels an adäquaten Ausbildungsstätten wie an Priestern für die rasch anwachsende Zahl von Gemeinden und Gläubigen nur recht unzureichend vorbereitet antreten mussten. Mitte der 1990er Jahre wurde zeitweise von 4000–5000 fehlenden Priester gesprochen, und in Kirchenkreisen beklagte man das Phänomen des mladostarþestvo, das heißt die Erscheinung, dass oftmals junge Priester gezwungen waren, die Rolle geistlicher Väter zu übernehmen, ehe sie dazu wirklich reif waren.19 Erst mit Beginn des neuen Jahrtausends und nach einer Zeit intensiver und schwieriger Aufbauarbeit, hat sich dies Missverhältnis, wie man den Zahlen entnehmen kann, offenbar etwas entspannt. Wenn die Menschenrechte, in einem Zug mit Begriffen wie „freiheitlicher Demokratie“ oder „Marktökonomie“ nun in allen gesellschaftlichen Segmenten bis

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Vgl. zu den Fraktionen Knox, „Postsoviet Challenges“, 101–105. Zur späten Sowjetzeit und den frühen 1990ern vgl. allgemein die Darstellung von Kathy Rousselet, „Die Russische Orthodoxe Kirche in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten von den sechziger Jahren bis heute“, in: Norbert Brox (u. a.) (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. 13, Freiburg im Breisgau (u. a.) 2002, 391–427. Einige Differenzierungen zum „religiösen Boom“ der späten 1980er Jahre bei Kimmo Kääriäinen, „Religiousness in Russia after the Collapse of Communism“, Social Compass 46 (1999) 35–46. Knox, „Postsoviet Challenges“, 93.

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hinein in die Kirchenhierarchie nach und nach als etwas Fremdes und vor allem „Westliches“ gesehen wurden, das für russische Verhältnisse offenkundig nicht anwendbar war,20 konnten sich viele junge Geistliche auch infolge ihrer eher unzureichenden theologischen Vorbereitung diesem Sog kaum entziehen. Vor diesem Hintergrund ist die zitierte Äußerung des Patriarchen auch als Abbildung einer Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts zu verstehen. Kurz gesagt, ein relativ kleiner Teil der gegenwärtig in der Russischen Orthodoxen Kirche aktiven Gemeindepriester dürfte angesichts der eigenen Erfahrungen uneingeschränkt der ersten der beiden von Patriarch Kirill getroffenen Feststellungen zustimmen und den Akzent auf die Verdienste der Menschenrechte um die Kirche und die Religionsfreiheit im besonderen legen. Eine Generation später wird die Konzeption der Menschenrechte bereits im Zuge eines gesellschaftlich-politischen Aufbruchs reflektiert und geht einher mit politischen Konzeptionen, die, gleichsam theologisch untermauert und von der Kirche auf die Gesellschaft übertragen werden. Die Erfahrung der Relativierung einstiger liberaler Vorbilder und Muster für die Gesellschaft, einhergehend mit den Mühen gesellschaftlicher Arbeit, sorgt schließlich in einem dritten Teil für eine gewisse Distanz zu den Menschenrechten und ihren Voraussetzungen als Gesamtkonzept. Dem durchaus immer noch vorhandenen Verständnis für deren caritativen Inhalt steht dabei eine kritischer Distanz gegenüber zu einer Reihe von im Menschenrechtskonzept enthaltenen Freiheiten, wie sie in Kirills Zitat im zweiten Teil, und theoretisch im jüngsten Dokument der ROK zum Ausdruck kommen. Die Frage ist freilich auch, wie die jeweils eine Generation ihre Einsichten der nächsten übermittelte und wie sich das Gesamtspektrum der Ansichten zur Menschenrechtskonzeption in der gegenwärtigen ROK infolgedessen heute darstellt. Hier sollen nun zunächst zwei Repräsentanten der beiden ersten Generationen samt ihrer theoretischen Ansätze vorgestellt werden und danach der Versuch unternommen werden, den aktuellen Stellenwert von deren Haltungen und Ansichten einzuschätzen.

Zwei Aktivisten Vater Pavel Adel’geim Pavel Anatoleviþ Adel’geim wurde 1938 geboren und ist väterlicherseits von baltendeutscher Abstammung. Seinen Vater, einen Schauspieler und Theaterdirektor, hat Va-

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Bereits im März 1992 äußerte sich der damalige Sekretär des Patriarchen, Diakon Andrej Kuraev, kritisch gegen einen unkritisch übernommenen Liberalismus und eine ausschließlich politische Interpretation von Freiheit (vgl. Rousselet, „Die Russische Orthodoxe Kirche“, 417). Eingehend dokumentiert ist der beschriebene Trend der 1990er Jahre bei Christopher Selbach, „The Orthodox Church in Post-Communist Russia and her Perception of the West: A Search for a Self in the Face of the Other“, Zeitschrift für Religionswissenschaft 10 (2002) 131–173.

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ter Pavel allerdings kaum gekannt, dieser fiel im Jahr 1942 den Repressalien der Stalinzeit zum Opfer. Seine Mutter wurde nach Sibirien deportiert, Pavel wuchs eine Zeitlang in einem Waisenhaus auf. In Karaganda in Kasachstan traf er nach dem Krieg auf den Priestermönch Sebastian (Fomin), ursprünglich ein Mönch des Optina-Pustyn’-Klosters und später als Sebastian Karagandinskij als einer der „Neo-Märtyrer“ der Sowjetzeit kanonisiert.21 Unter dessen Einfluss erst bekehrte sich Pavel zum Christentum und wollte sogar Mönch werden, was sich aber – wohl aufgrund seines jungen Lebensalters, in dem das orthodoxe Kirchenrecht noch keine Mönchsweihe zulässt – als unmöglich erwies. 1956 trat er ins Priesterseminar von Kiev ein, wurde aber schon 1957 von der Einrichtung entfernt, offensichtlich aufgrund von Differenzen mit dem damaligen Direktor der Einrichtung, Filaret (dem späteren Metropoliten von Kiev, und, seit 1992, Haupt der abgespaltenen Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiever Patriarchats). Pavel wurde stattdessen Diakon in Taškent, später Student der Moskauer Geistlichen Akademie; 1964 wurde er zum Priester geweiht. In Kagan, einem Vorort von Buchara in Usbekistan, baute er, unterstützt vom lokalen Bischof, eine neue orthodoxe Gemeinde auf.22 1969 aber wurde er verhaftet und wegen „anti-kommunistischer Aktivitäten“ zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt.23 Nach schweren Misshandlungen durch die Lageraufseher verlor er ein Bein, kam auf eine Krankenstation und konnte schließlich durch Eingreifen seiner Frau befreit werden. Erst 1972 war Vater Pavel offenbar vollkommen wiederhergestellt und bemühte sich darum, eine Gemeinde zugewiesen zu bekommen. Nach einigen Wirren erhielt er schließlich einen Posten als Gemeindepriester in einem abgelegenen Dorf im Bezirk Pskov. 1978 trat er in einer anderen Gemeinde in einem Vorort der Stadt Pskov seinen Dienst an. Seit der Lockerung der Religionsgesetzgebung in der Perestrojka-Zeit konnte Vater Pavel in Pskov eine Reihe sozialer Initiativen verwirklichen. Es entstanden ein Waisenhaus, eine kleine Fabrik für Kirchengüter wie etwa Kerzen und eine orthodoxe Schule. Der kleine Mikrokosmos, der entstand, wurde von den lokalen Behörden und von

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Sebastian überlebte allerdings die Jahre der Lagerhaft und Folter und starb 1966 in Karaganda (vgl. das Verzeichnis „Novomuþenniki, ispovedniki, za Christa postradavšie v gody gonenij na Russkuju Pravoslavnuju Cerkov v XX v“ [Neomärtyrer, Bekenner und um Christi willen Leidende in den Jahren der Verfolgung der Russischen Orthodoxen Kirche im 20. Jh.] der Moskauer St. Tichon-Universität, URL: http://213.171.53.29/bin/code.exe/frames/m/ind_oem.html/charset/ans ?notextdecor (besucht am 20. Oktober 2011). Vgl. Paul Baars, „`Human Rights as a Pre-Condition for the Inner Life of the Church´: Life, Initiatives and Theology of Father Pavel Adelheim (Pskov, Russia)“, in: Alfons Brüning und Evert van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, Leuven 2012, 337–350. Baars, ibidem, 326–329. Von jetzt an empfing Vater Pavel Postkarten von westlichen Menschenrechtsorganisationen. Ein persönlich gefärbter Bericht über Vater Pavel bei Finn Sivert Nielsen, „The Eye of the Whirlwind. Russian Identity and Soviet Nation Building. Quests for Meaning in a Soviet Metropolis (Interlude: Father Peter and Tolya)“, URL: http://www.anthrobase.com/Txt/N/ Nielsen_F_S_03.htm (besucht am 19. Oktober 2010). „Father Peter“ ist anhand der biographischen Gegebenheiten leicht als Vater Pavel Adel’geim zu identifizieren.

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Bekannten im Westen unterstützt, während die lokale Kirchenleitung eher Schwierigkeiten machte. Seit 1991 war Vater Pavel Mitglied der lokalen Menschenrechtsorganisation „Veþe“,24 eines Pskover Ablegers des Moskauer Helsinki-Komitees. Zudem lehrte er seit 2004 am von Priester Georgij Koþetkov gegründeten unabhängigen Filaret-Institut in Moskau als Experte für kanonisches Recht. Vater Pavel schrieb unter anderem eine Reihe kritischer Artikel zur Menschenrechtsfrage, die etwa in der Zeitung „Zastupnica“ [russ. Fürsprecherin] der Organisation „Veþe“ erschienen. Sein Einsatz für die Menschenrechte erscheint darin in erster Linie als Einsatz gegen eine dem Menschen ungemäße Konzentration von Macht, die er in totalitären Regimen ebenso gegeben sieht wie etwa in der Macht von Funktionären, Bürokraten und Beamten, deren Macht nicht auf einem „demokratischen“ Mandat beruht. Von solchen Strukturen ist nach seiner Ansicht sowohl der Staat und die Gesellschaft, als auch die Kirche selbst bedroht. Eine Verletzung der Menschenrechte wird immer dann augenfällig, wenn der Einzelne wehrlos bleibt, weil es keine Instanz gibt, an die er sich wenden kann, um widerfahrenes Unrecht namhaft zu machen und seine Rechte zu verteidigen. Wohl sei es die Pflicht des Christen, dem Bösen Widerstand zu leisten – innerlich der eigenen Neigung zur Sünde, äußerlich aber verderbten Strukturen, die zu Unterdrückung und Verfolgung des Einzelnen führen. Seine jeweiligen Rechte sind es, die ihm dazu verhelfen. Im Besitz von Rechten aber ist der Einzelne grundsätzlich als nach Gottes Ebenbild geschaffener Mensch – das ist gleichsam der traditionelle orthodoxe Ansatz – und als Mitglied einer auf einer entsprechenden Auffassung von Recht und Gerechtigkeit beruhenden Gemeinschaft, also eines Staates oder einer Kirche. Indes sind diese Rechte verletzt in einem Gemeinwesen in dem es keine auf diesen Rechtsprinzipien beruhende Appellationsinstanz gibt. „Es gibt keinen, bei dem du dich beklagen könntest“ (russ. Žalovatвsja tebe nekomu) – so lautete schon die zynische Auskunft der gewalttätigen Lageraufseher angesichts ihres Willkürregiments, und damit hatten sich auch die Geistlichen zu sowjetischen Zeiten abzufinden, die weder sich noch den klagenden Gläubigen helfen konnten. Dabei wird die Anerkennung eines säkularen Staates insofern geleistet, als nach Ansicht Vater Pavels eine „staatsbürgerliche“ und eine Position der christlichen Moral nicht zusammenfallen müssen. Vor allem ist die Ethik des Widerstandes bei den Christen eine andere, sie hat dialogisch und friedlich zu sein, während Widerstand bei den Bürgern auch, der historischen Erfahrung nach, zu Gegengewalt und Revolution führen kann. Die „staatsbürgerliche“ Option immerhin kann man wählen oder ablehnen, auch als orthodoxer Christ. 25 Auch die Kirche selbst ist durch die Missachtung der Rechte der Gläubigen in Gefahr. Unter dem Titel „Die Lehre von der Kirche in Recht und Praxis. Reanimierung 24

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Veþe war ursprünglich der Name der Bürgerversammlung in den russischen Städten Pskov und Novgorod des späten Mittelalters, eine Art Stadtparlament, dem auch der Fürst rechenschaftspflichtig war. Vgl. Pavel Adel’geim, „Etika suprotivlenija“ [Ethik des Widerstands], Zastupnica 3 (12. Oktober 2005) 3–6.

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des kirchlichen Gerichts“ veröffentlichte Vater Pavel im Jahr 2002 eine ausführliche Streitschrift für die Geltung von Menschenrechten auch innerhalb der Kirche. Basierend auf einer Argumentation, die sich fast ausschließlich auf die Schrift, das kanonische Recht und zuweilen die Kirchenväter stützt, wird hier eine Theorie des Rechts innerhalb der Kirche entwickelt: Neben der Gottesebenbildlichkeit, die für alle Menschen als Basis des Rechts angenommen werden muss (Verweise auf westliches Naturrecht finden sich freilich bei Vater Pavel nicht), ist es die gottgewollte Gleichheit aller und die darauf gegründete korporative Verfasstheit der Kirche, von der sich das Recht ableitet. Insofern nämlich das Wesen der Kirche im Dialog besteht – im Dialog des Gläubigen mit Gott, aber ebenso der Gläubigen untereinander – braucht es eine Reglementierung dieses Dialogs, damit er dauerhaft bestehen kann. Wesentliche Schritte zu einer solchen Reglementierung sind nach seiner Ansicht in den Regelungen des Landeskonzils der ROK von 1917/18 erreicht worden. Darauf immer wieder verweisend, kritisiert er scharf den gegenwärtigen Zustand der orthodoxen Kirche, besonders nach dem Erlass der gegenwärtigen Kirchenordnung (Ustav) sowie der „Sozialdoktrin“ im Jahr 2000. Laien, so schreibt er, seien darin nahezu vollkommen machtlos, während der Priester und viel mehr noch der Bischof nicht bevollmächtigte Seelsorger mit einem Gleichgewicht von Pflichten und Prärogativen seien, sondern gleichsam geistliche Funktionäre mit einer durch keine Kontrollinstanzen eingeschränkte Verfügungsgewalt, die zum Missbrauch geradezu einlade.26 Vater Pavels Ausführungen hatten eine praktische Seite. Der ohnehin scharfe Grundton seines Buches wurde noch verstärkt dadurch, dass Vater Pavel seine Ausführungen mit zahlreichen Fallbeispielen illustrierte, von denen die meisten unmittelbar auf die Diözese Pskov und deren Bischof Jevsefij bezogen werden konnten – wenn der letztere nicht sogar ausdrücklich genannt wurde. Das schon vorher gespannte Verhältnis zur kirchlichen Obrigkeit verschlechterte sich daraufhin rapide. Während eine nationale Kommission das Buch noch immer untersucht (inwieweit hier überhaupt eine Bewertung erfolgen wird, scheint fraglich), liegen gesammelte Reaktionen der Priestervertretungen der Diözese schon vor. Das mildeste Statement darin spricht von „psychisch krank“, das Spektrum reicht bis zu einer Charakterisierung von Vater Pavel als „Genossen des Teufels“.27 Immerhin, der Verdacht auf „judaisierende Irrtümer“ wurde später vom Kirchengericht der Diözese für unbegründet gehalten.

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Prot. Pavel Adel’geim, Dogmat o cerkvi v kanonach i praktike. Reanimacija cerkovnogo suda [Das Dogma von der Kirche in den Kanones und in der Praxis. Wiederbelebung des kirchlichen Gerichts] Pskov 2002. Eine Zusammenfassung seiner Ansichten findet sich auch in: ders., Perspektivy dialoga v Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi (Doklad na Meždunarodnoj nauþno-bogoslovskoj konferencii „Vera – dialog – obšþenie: problemy dialoga v cerkvi“, Moskva, 24–26 sentjabrja 2003 g.) [Perspektiven des Dialogs in der Russisch-Orthodoxen Kirche (Vortrag auf der internationalen wissenschaftlich-theologischen Konferenz „Glaube-Dialog-Kommunikation: Probleme des Dialogs in der Kirche“, Moskau, 24.-26. September 2003)], Moskau 2004. „Blagodatnye Luþi“ [Strahlen der Gnade] in: Kirchenzeitung der Diözese Pskov (Juli 2002) 22; vgl. Baars, „Father Pavel Adelheim“, 330.

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Es ist von außen schwer zurückzuverfolgen, wo die eigentlichen Ursachen des Konfliktes liegen – in Konfrontationen auf praktischer Ebene oder in ideologischen Differenzen oder in beidem. Der Streit zog sich bereits Jahre hin, und zu einer Lösung kam es nicht.28 Bischof Jevsefij nahm im März 2008 einen – mit dem Buch ansonsten in keinem Zusammenhang stehenden – Konflikt in den Pskover Gemeinden zum Anlass, Vater Pavel von seinen Posten zu entfernen. Er ist seitdem zwangspensioniert und Priester ohne Gemeinde. Der Gemeinderat, der Vater Pavel unterstützte, wurde aufgelöst. Am gleichen Tag wurde hingegen Bischof Jevsefij in den Rang eines Metropoliten erhoben. Vater Pavels Nachfolger im Priesteramt versucht, die von ihm aufgebauten Einrichtungen nach Möglichkeit weiter zu führen. Immerhin führte eine Berufungsklage zu einem Teilerfolg. Im Juni 2010 bestätigte Patriarch Kirill eine Berufungsentscheidung des Obersten Kirchengerichts des Moskauer Patriarchats, demzufolge die Amtsenthebung Vater Pavels unbegründet gewesen sei. Gleichzeitig werden beide Parteien aufgefordert, sich zu treffen und ihren Konflikt „im Geist christlicher Liebe“ auszuräumen.29 Vielleicht kam die Aufforderung aber zu spät. Vater Pavel hat offenkundig nicht die von ihm erwartete vollständige Rehabilitation erhalten, trotz allem. Er hat in der Zwischenzeit seine Erinnerungen veröffentlicht, die die Jahrzehnte seines Priesterdaseins Revue passieren lassen und ein düsteres Bild seiner Kirche zeichnen: Die erhoffte Wiedergeburt sei ausgeblieben, sie habe sich nur äußerlich auf die Restauration und Rückgabe von Kirchengebäuden beschränkt, doch statt einer spirituellen Erneuerung unter den Gläubigen sei nur eine neue bürokratische Herrschaftseinrichtung mit Hierarchen als Funktionären alten Stils entstanden. Der einfache Priester aber, an dessen Werk so Entscheidendes hänge, sei so rechtlos wie zu Sowjetzeiten.30 Die Kehrseite dieses desillusionierten Bildes ist und bleibt freilich die Überzeugung, dass in der Kirche wie auch im Staat das Recht als unabhängige und objektive Instanz verankert sein müsse. Vater Pavel argumentiert in seinen Schriften nahezu ausschließlich biblisch und mit Verweis auf das (ihm außerordentlich gut vertraute) orthodoxe Kirchenrecht. In den Revisionen des Konzils von 1917/18, am Vorabend der Revolution, sieht er wesentliche Momente des „konziliaren Geistes“ der Orthodoxie verwirklicht. Verweise auf westliches Naturrecht indes sind bei ihm offenbar kaum zu finden. Er agiert in erster Linie als Priester, der sich auf der Seite der Opfer zu finden hat, und es ist vor allem das Recht der Gläubigen, das ihm ein Anliegen ist, und das Gesicht der Kirche, die er durch deren Rechtlosigkeit korrumpiert sieht. Diese Kirche 28

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Weitere Dokumente zur Auseinandersetzung Vater Pavels mit dem lokalen Bischof seit dem Jahr 2002 sind veröffentlicht in einer Sondernummer von: Christianskij Vestnik, 4 (2007), no. 2: „Materialy k istorii RPC konca XX veka“ [Materialien zur Geschichte der ROK zum Ende des 20. Jh.] Veröffentlicht auf der offiziellen Website des Moskauer Patriarchats, URL: http://www.patriarchia. ru/db/text/1181727.html (besucht am 21. Oktober 2011). Ierej Pavel Adel’geim, Svoimi glazami [Mit eigenen Augen], Moskau 2010. Ein auf einer ganz ähnlichen Analyse beruhendes Plädoyer für Rechte innerhalb der Kirche veröffentlichten Vater Gleb Jakunin und Lev Regelson im November 2010, URL: http://www.portal-credo.ru/site/?act= english&id=383 (besucht am 2. November 2011).

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ist freilich immer die orthodoxe Kirche Russlands, die mithin das Schicksal auch Russlands bestimmt. Ein eigenes – wenn man so will – patriotisches Element erhellt sich aus den immer wieder verwendeten Zitaten aus der russischen Literatur, die die russische Lebenswirklichkeit über die Jahrhunderte hinweg erhellen sollen. Vater Pavel hat nie politische Ambitionen gezeigt. Die Politik ist ihm nicht unmittelbar von Bedeutung – hierin unterscheidet er sich, will man denn eingangs versuchte Kategorisierungen weiterführen, von den politischeren Naturen der oben genannten „radikaldemokratischen Opposition“ vor allem der frühen 1990er Jahre. Doch auch im Staat müssen seiner Überzeugung nach die Rechte den Einzelnen vor Machtmissbrauch und Korruption schützen können, unabhängig von deren Konfession oder nationaler Zugehörigkeit. Geschieht das nicht, sollte eigentlich die Kirche den Protestierenden – mindestens – Zuflucht bieten. Vater Pavels Auseinandersetzung mit dem örtlichen Bischof hat ein recht breites Echo gefunden. Dank seines „Heldenstatus“ als standhafter Verfolgter des Sowjetregimes, aber wohl auch dank seiner Schriften und der Qualität seiner Predigten genoss er einige Popularität.31 Seine Wirkmöglichkeiten reichten damit weiter, als es sein marginaler Status innerhalb der Kirche vermuten lässt. Am 5. August 2013, wenige Tage nach seinem 75. Geburtstag, wurde Vater Pavel von einem offenbar geistig verwirrten jungen Mann, den er zeitweise in seinem Haus beherbergt hatte, mit einem Messer erstochen. Obwohl von manchen vermutet, wurden bisher keine Anzeichen dafür gefunden, dass der Mord an dem unbotmäßigen Geistlichen auf höheren Auftrag hin geschehen wäre.

Vater Veniamin (Novik) Vater Veniamin wurde als Valerij Novik 1946 in der Familie eines Militärs geboren. 1976 schloss er zunächst eine Ausbildung am Polytechnischen Institut in St. Petersburg ab und arbeitete einige Jahre als Ingenieur. Später nahm er ein Studium an der Geistlichen Akademie St. Petersburg auf, wo er 1987 seine Dissertation verteidigte. Danach wurde er hier Dozent und bekleidete von 1992–1995 den Posten eines Vizerektors für den Lehrbetrieb. Als er 1997 eine Petition gegen das neue russische Religionsgesetz unterzeichnete (das die Betätigungsmöglichkeiten „neuer“ religiöser Gemeinschaften stark einschränkte und insbesondere der Orthodoxen Kirche besondere Vorrechte einräumte), kostete ihn dies seine Stellung als Dozent. Seitdem war er – bis zu seinem viel zu frühen Tod im September 2010 – weiterhin publizistisch tätig, hielt Vorträge, unterrichtete an der katholischen Akademie St. Petersburg und veröffentlichte zahlreiche Artikel in angesehenen russischen wissenschaftlichen Zeitschriften und Zeitungen sowie in westlichen Zeitschriften. Nur einige wenige seiner zahllosen Publikationen können hier ausgewertet werden. Hinzu kam eine intensive Vortragstätigkeit, die – humorvoll und ironisch, aber engagiert und zugleich kenntnisreich wie seine Vorträge

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Die Predigten werden regelmäßig auf einer ihm gewidmeten Website zugänglich gemacht, URL: http://adelgeim.livejournal.com (besucht am 20. Oktober 2011).

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waren – meist zahlreiche Hörer anzog. Seine drei letzten Lebensjahre lang wirkte er wiederum als Gemeindepriester in St. Petersburg.32 Vater Veniamin stammt aus keiner religiösen Familie, und der Ausgangspunkt seiner Bekehrung ist in den intellektuellen Zirkeln der späten 1970er Jahre zu suchen, die sich oft um Priester wie Aleksandr Ogorodnikov, Dmitrij Dudko oder Aleksandr Men’ zusammenfanden – Persönlichkeiten, die alle unter der Verfolgung durch die Behörden zu leiden hatten und zugleich in der Folgezeit auch recht unterschiedliche intellektuelle Wege einschlugen. Die Themen dieser Bewegungen und Zirkel waren weitgefächert, doch stand spätestens in der frühen Perestrojka-Zeit die Frage nach dem Beitrag der Religion und der Kirche im Besonderen zu einer besseren Gesellschaftsordnung weit oben auf der Agenda.33 Vater Veniamin wird von auswärtigen Beobachtern in der Regel der Strömung einer gesellschaftlich liberalen und ökumenisch gesinnten Orthodoxie zugeordnet, die die Gesellschaftsform einer liberalen Demokratie aus christlichen Wurzeln zu begründen sucht. Vorläufer dieser Denkformen waren der Religionsphilosoph Vladimir Solovjev und der schon mehrfach erwähnte Priester Aleksandr Men’.34 Tatsächlich wurde Vater Veniamin im Laufe der 1990er Jahre zu einer führenden Stimme im Versuch der Versöhnung von liberaler Demokratie, Menschenrechten und orthodoxer Theologie. Auch Vater Veniamins Beiträge sind geprägt von der Klage über die russische Lebenswirklichkeit, die Kluft zwischen hehren Gesetzen auf dem Papier und verantwortungsloser Exekutive, Korruption und Rechtlosigkeit auf der anderen Seite. Zunächst in der Perestrojka-Periode und dann nach dem Wegfall der Sowjetherrschaft sollte es besser werden – nur wie? Zunehmend bewegte sich Vater Veniamin im Laufe der 1990er Jahre in eine Frontstellung gegenüber konservativen, monarchistischen und nationalistischen Kreisen in seiner Kirche, die das Rad der Geschichte scheinbar zurückdrehen wollten und meist argumentierten, Demokratie und Menschenrechte passten eben nicht zur russischen Tradition. Er hat jedenfalls die wachsenden Spannungen persönlich deutlich empfunden: Zu Beginn der 1990er Jahre sah Vater Veniamin Anlass, den damaligen, zwischen diesen Lagern zerrissenen Zustand der Kirche schon beinahe als „Schisma“ zu charakterisieren.35 Ein Verständnis von objektivem Recht, an das Institutionen in Staat und Gesellschaft gebunden seien, ist nach Vater Veniamin etwas, was der russischen Wirklichkeit fehlt. Dabei seien Menschenrechte und orthodoxes Christentum nicht nur vereinbar,

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Biographische Informationen zu Vater Veniamin, der auch im Westen ein häufiger Gast von Diskussionsforen war, sind den anlässlich seines frühen Todes erschienenen Nekrologen zu entnehmen, zum Beispiel auf der Website des St. Filaret-Bibel Instituts in Moskau, URL: http:// archive.sfi.ru/rubrs.asp?art_id=12977&rubr_id=186 (besucht am 21. Oktober 2011). Zur ROK in der Perestrojka vgl. Rousselet, „Die Russische Orthodoxe Kirche“, 400–407. Mikhail Sergeev, „Liberal Orthodoxy: From Vladimir Solov’ev to Fr. Alexander Men“, in: Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 23/5 (2003), URL: http://www.georgefox.edu/ academics/undergrad/departments/soc-swk/ree/2003/sergeev03.html (besucht am 21. Oktober 2011). Veniamin Novik, „Russia – between Past and Future“, Religion, State & Society 22 (1994) 183– 189, hier 183; vgl. Knox, „Postsoviet Challenges“, 101.

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sondern wesensmäßig aufeinander bezogen – eine Erkenntnis, die Vater Veniamin der russischen Religionsphilosophie um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert zuschreibt, namentlich Autoren wie Vladimir Solovjev und Nikolaj Berdjaev. Gegen die Unterstellung, Recht und liberale Demokratie seien kaum anderes als „der Kampf aller gegen alle“ unter dem Vorzeichen eines libertinären, durch nichts gebundenen Individualismus, zitiert er etwa die beiden Genannten wie folgt: Recht ist Freiheit, gebunden durch die Gleichheit. In dieser grundlegenden Definition des Rechts ist das Individualitätsprinzip der Freiheit untrennbar verbunden mit dem gesellschaftlichen Prinzip der Gleichheit, so dass sich sagen lässt, dass Recht nichts anderes ist als eine Synthese von Freiheit und Gleichheit.36

Freiheit und Gleichheit sind dabei durchaus aus dem christlichen Menschenbild abzuleiten, insofern der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Andererseits ist das Recht eine durchaus säkulare Kategorie, die – wiederum nach Solovjev – bestehe, nicht um das Paradies auf Erden zu errichten, sondern das vorzeitige Hereinbrechen der Hölle abzuwenden. Recht garantiere die Einschränkung der weltlichen Macht und die Freiheit der Wahl auch in Religionsdingen – letzteres eine unabdingbare Voraussetzung für den wahren Glauben. Folglich – hier begibt sich Vater Veniamin auf den Spuren Solovjevs häufig in die Nähe des westlichen Naturrechts – sei das Recht auch kein Charakteristikum, das allein Christen oder gar Orthodoxen zukomme, sondern a priori allen Menschen. Andererseits könne Recht keine Moral regeln. Der alte, aus der russischen Geistesgeschichte so bekannte Gegensatz von „Recht und Gnade“ in seinen verschiedenen Facetten bestünde fort, und es sei wohl so etwas wie Rechtmäßigkeit (pravda), nicht aber die Wahrheit (istina) kodifizierbar. Moralische Vervollkommnung und spirituelle Reifung des Christen seien von den Menschenrechten nicht geregelt. Diese seien einerseits hierzu nicht bestimmt, andererseits aber unabdingbare Voraussetzung für ersteres in der Gesellschaft.37 Solche Überlegungen sind freilich allein sinnvoll vor dem Hintergrund eines verstärkten Engagements der Kirche in der Gesellschaft, sei es auf dem Gebiet der Bildung, der Gesetzgebung oder der sozialen Fürsorge. Vater Veniamin hat sich schon vor Verabschiedung der Sozialdoktrin der ROK im Jahr 2000 entschieden für ein solches Engagement ausgesprochen.38 Die freiheitliche Demokratie sei dabei diejenige Gesellschaftsform, die dem Menschen am ehesten entspreche und die Verwirklichung seiner Rechte entsprechend der Balance zwischen Freiheit und Gleichheit garantiere. Demokratie zwinge den Menschen, sich – letztlich zu seinem eigenen Heil – selbst Grenzen

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Veniamin Novik, „Christianskoe ponimanie prav þeloveka“ [Christliches Verständnis der Menschenrechte], in: ders., Pravoslavie, Christianstvo, Demokratija, 303–365, hier 315f. Ibidem, passim. Siehe auch ders., „Bog i pravo“ [Gott und das Recht], URL: http://www.sovacenter.ru/religion/publications/religion-human-rights/2007/07/d11259/ (besucht am 21. Oktober 2011); ders., „Neponjatnyi Vladimir Solovjev“ [Der unverständliche Vladimir Solovjev], URL: http://www.philosophy.ru/library/novik/solovyov.html (besucht am 21. November 2010). Veniamin Novik, „Social doctrine: Will the Russian Orthodox Church Take a Daring Step?“, Religion, State & Society 26 (1998) 197–203.

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zu setzen. Menschenrechte dienten, unter den Bedingungen der technischen Moderne und der pluralen Gesellschaft, eben diesem Zweck und seien daher in die Verfassung der Russischen Föderation eingegangen. „Da Gott allein ohne Sünde ist, sollten alle anderen durch das Gesetz gebunden sein“.39 Der Vorteil der Demokratie aus christlicher Perspektive bestünde, so schreibt er, ebenfalls im Ausgleich zwischen den Extremen ausschließlicher Gottesverehrung (was unter anderem eine Erblast der orthodoxen Kirche sei) und der Nächstenliebe als ausschließlichem Ideal (ein Irrweg der Kommunisten, mit den bekannten Folgen).40 Im Zusammenhang hiermit spricht er sich auch für eine vorsichtige Modernisierung der Kirche selbst aus.

Position im Gesamtbild Wie ist nun die Wirkung solcher Stimmen in der Gesamtheit der Orthodoxie, insbesondere unter orthodoxen Geistlichen, im Hinblick auf die Haltung zum Thema Menschenrechte? Um diese zu bestimmen, lassen sich einige Faktoren heranziehen, die vor dem Hintergrund des eingangs geschilderten Generationenverhältnisses von Bedeutung sind. Zunächst lässt sich grundsätzlich festhalten, dass beide besprochenen Geistlichen zwar der Form nach innerhalb der Kirche marginalisiert sind und von der „kirchlichen Obrigkeit“ diszipliniert und damit gleichsam erkennbar vom offiziellen Mainstream entfernt wurden. Es wäre aber womöglich verfehlt, hieraus den Schluss einer ganz abgeschnittenen öffentlichen Wirkung zu ziehen. Die beiden Geistlichen waren bekannte Persönlichkeiten. Insgesamt kann man, wie jeweils geschildert, von einer recht breiten Rezeption in der russischen kirchlichen Öffentlichkeit ausgehen. Beiden geht es vor allem um die Kirche selbst. Zu einiger Wirkung ihrer Ansichten mag auch beigetragen haben, dass von beiden in einer theologisch anspruchsvollen Form zugunsten einer nicht-hierarchischen und nicht-autoritären Kirche argumentiert wird – Kirche ist in den Ansichten beider die „konziliare“ (sobornaja) Kirche, nicht die hierarchisch-autoritäre. In Nuancen kommt hier das Generationenproblem zum Ausdruck – Vater Pavel Adel’gejm benutzt den Begriff der Menschenrechte kaum ausdrücklich, und wenn es ihm um das Recht geht, dann um dasjenige, das gleichsam das „wahre“ Gesicht der Kirche konstituiert. Diese Kirche müsse gerade der Zufluchtsort und die Fürsprecherin der Rechtlosen sein. Das ist hier nur zum Teil deckungsgleich mit politischem Liberalismus – so unterscheiden sich auch Vater Pavels Ansichten zu einer Reihe moralischer Fragen deutlich von dem, was man gemeinhin einem westlichliberalen Verständnis zuschreiben würde (der seinerseits oft unter Berufung auf die 39

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Veniamin (Novik), „Russkaja pravoslavnaja cerkov’ i problema modernizacii obšþestva“ [Die Russisch-orthodoxe Kirche und das Problem der Modernisierung der Gesellschaft], Religija i pravo 3 (2002) 13–15; engl. Wiedergabe in East-West Church & Ministry Report 13/2 (2005) 4; URL: http://eastwestreport.org/articles/ew13202.html (besucht am 21. Oktober 2011). Veniamin Novik, „Democracy: A Question of Self-limitation“, Religion, State & Society 25 (1997) 189–198.

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Menschenrechte argumentiert). Demgegenüber ist Vater Veniamin, der einer etwas anderen Strömung entstammt, weit mehr an einer aktiven Rolle der Kirche in der Gesellschaft interessiert und sieht diese gerade als Verteidigerin der Menschenrechtskonzeption – aber auch diesmal, wenngleich offensiver und unter aktiver Gestaltung der Gesellschaft (in Bereichen wie in Bildung, Legislative etc.), zugunsten der Minderheiten, der Rechtlosen. Dass dabei Kirche nicht in erster Linie der Patriarch und eine Reihe offizieller Leitdokumente bedeutet, sondern die Erfahrung der Gemeinde vor Ort, ist in beiden Fällen exemplarisch erkennbar und wird zudem in einer differenziert argumentierenden und einigermaßen politikfernen, nicht-ideologischen Weise vertreten. Dabei ist ein Moment der Seelsorge des Geistlichen zentral. Zu dem gezeichneten Bild trägt die wichtige Tatsache bei, dass beide sich zeitlebens selbst dezidiert und ausdrücklich als Gemeindepriester verstanden haben und der pastoralen und caritativen Arbeit in ihrem Selbstverständnis als Geistliche und Katecheten einen zentralen Platz eingeräumt haben. Vater Pavels karitative Initiativen sind ebenso bekannt wie seine Schriften. Vater Novik wiederum hat sich bei Gelegenheit – im Jahr 2004, als er ohne Gemeinde war – sehr betrübt darüber geäußert, dass er als Priester gleichsam heimatlos sei und „nur“ schreiben könne.41 Beide sind übrigens, in ihrer Art, „Russophile“. Stets fühlbar bleibt in den Schriften beider die tiefe Verbundenheit sowohl mit der russischen geistesgeschichtlichen und theologischen Tradition einerseits als auch mit den Nöten und Unzulänglichkeiten der russischen Lebenswirklichkeit andererseits – auch ihre Klagen darüber stehen gleichsam in jahrhundertealter Tradition und sind oft auch schon die Klagen Puškins, ýechovs, Jesenins, Marina Cvetaevas und anderer Größen der russischen Literatur, die kenntnisreich zitiert werden. Lösungsansätze aber entnehmen sie ebenfalls der russischen Religionsphilosophie, wie dem seit Aleksej Chomjakov beschriebenen sobornost’-Prinzip oder den zitierten Ansichten Solovjevs. Nirgends findet sich – soweit wir sehen konnten – ein Ausspruch, etwa allein westlichen Vorbildern folgen zu müssen. Vielmehr sind vereinzelte Elemente von Kritik zumindest an der Unzulänglichkeit der westlichen Menschenrechte für das eigentliche, geistliche Leben des Christen auch immer wieder wahrzunehmen. Man ist in jüngster Zeit, worauf in diesem Zusammenhang hingewiesen werden kann, auch bei anderen der führenden „Liberalen“ in der russischen Orthodoxie auf deren Verbundenheit mit den spirituellen Schätzen des „Heiligen Russland“ aufmerksam geworden.42 Die letztlich weniger ideologische als vielmehr karitativ-pastorale Komponente ist womöglich am ehesten geeignet, eine Brücke zur Mehrheit der Priester der Russischen Orthodoxen Kirche in der Gegenwart zu schlagen. Karitativ verstandene Aufbauarbeit ist wohl vor allem für die jüngere Generation diejenige Form, in der – eingestanden oder nicht – Menschenrechtsarbeit gegenwärtig verstanden wird. Jenseits einer ideolo-

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In einer Diskussionsrunde, veröffentlicht vom ukrainischen Magazin „Ji“, im Jahr 2002, URL: http://www.ji-magazine.lviv.ua/seminary/2002/sem20-04.htm (besucht am 21. Oktober 2011). Vgl. Wallace L. Daniel, „Father Alexander Men’ and the Struggle to Recover Russia’s Heritage“, Demokratizatsija 17/1 (2009) 73–92.

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gisierten öffentlichen Diskussion gestatten sich Gemeindepriester vor diesem Hintergrund durchaus Äußerungen, die bisweilen von der Generallinie abweichen. Solche sind zu hören etwa hinsichtlich staatlicher Restriktionen der Gewissensfreiheit (mit Bezug auf das Religionsgesetz von 1997) – konziliantere Stimmen verschieben den Akzent auf einen Einsatz für die Benachteiligten in der Gesellschaft.43 Zudem verstehen sich viele Aktivisten in bekannten Menschenrechtsgruppen – wie den Petersburger Soldatenmüttern oder Memorial – explizit als durch ihren orthodoxen Glauben motiviert, und man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese Aktivität auch von den Priestern der orthodoxen Gemeinden, zu denen sie gehören, unterstützt wird.44 Entsprechend verwies Erzpriester Vsevolod ýaplin, der ansonsten oft gegen die seiner Ansicht nach „westlich-liberale, säkulare Konzeption der Menschenrechte“ polemisiert, schon 2006 darauf, dass auch die Kirche schon lange mit ihrer Arbeit gegen Gewalt in Armee und Gefängnissen und zugunsten materiell wie sozial Benachteiligter für Menschenrechte eintritt – eben mit dieser Koinzidenz der Interessen wird ja auch die im genannten Dokument von 2008 enthaltene Notwendigkeit einer Annäherung zwischen Kirche und Menschenrechtsaktivisten begründet.45 Das soll nicht von den in der öffentlichen Diskussion nach wie vor bestehenden scharfen Gegensätzen zwischen Menschenrechtlern und Vertretern vor allem eines autoritär-konservativen Kirchenflügels ablenken. Dieser Kirchenflügel ist immer noch lauter als die vereinzelten Stimmen, die orthodoxes Christentum und Menschenrechte zusammendenken – eine Tatsache, die die Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung von außen mit sich bringen kann. Was die beiden hier untersuchten Personen und deren Zugang indes signifikant von einem nur karitativ verstandenen Einsatz für die Menschenrechte unterscheidet, ist die theoretisch, und vor allem theologisch untermauerte Annahme eines Rechts als objektiv bindende Gegebenheit und zugleich menschliches Charakteristikum. Rechte werden bei diesen beiden orthodoxen Priestern verstanden als unveräußerlich und zugleich die Macht bindend. Es ist oft festgestellt worden, dass dies – eine besondere Spielart des russischen Themas von „Recht und Gnade“ – der russischen Rechtstradition fremd sei: Recht ist hier etwas, das durch die Gnade des Herrschers gewährt wird, nicht diesen als objektive Instanz verpflichtet.46

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Vgl. die Äußerungen bei Maija Turunen, „Official and Unofficial Voices of the Russian Orthodox Church: Analyzing Human Rights in Official Documents and Personal Interviews“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 237–249. Da allerdings die Konfessionszugehörigkeit oder Religiosität bei diesen Organisationen nicht erfragt, geschweige denn offiziell erfasst wird, ist es recht schwierig, hier zu konkreten statistischen Angaben zu kommen. Ich danke hier Regina Elsner, Münster, für hilfreiche Hinweise. Erzpriester Vsevolod ýaplin, „Prava þeloveka ili pravo na grech?“ [Menschenrechte oder Recht auf Sünde?], Interview, URL: http://sedmitza.ru/text/407582.html (besucht am 21. Oktober 2011). Zuletzt etwa bei Tatjana Artemyeva, „From `Natural Law´ to the Idea of Human Rights in 18th Century Russia: Nobility and Clergy“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 111–123.

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Dieser Gegensatz bleibt einstweilen. Auf theoretischer Ebene stehen sich hier gleichsam Menschenrechte als unverletzliche und objektive Rechte des Individuums und die orthodoxe Konzeption der Person, die auch durch ihre kollektiven Bezüge und das ihr als gottgeschaffen immanente, aber erst zu verwirklichende Selbst bestimmt wird, gegenüber. Zu dieser Auffassung von Person aber gehört eine moralische Komponente, die in Widerstreit mit den Freiheiten der Menschenrechtskonzeption geraten kann. Solche Auffassungen von Person und Moral hatten einen wesentlichen Einfluss auf das Dokument der ROK von 2008 und die darin enthaltenen und kontrovers diskutierten Auffassungen von Würde und Freiheit.47 Dahinter stehen eine Reihe von Fragen zum Verhältnis von säkularem Recht und kirchlicher Moral, über die die Debatten andauern. Dass diese Gegensätze nicht unüberbrückbar sein sollten, haben engagierte Priester mehrerer Generationen zu zeigen versucht.

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Vgl. zur Umsetzung der theosis-Idee in diesem Dokument Alexander Agadjanian, Russian Orthodox Vision of Human Rights: Recent Documents and their Significance, Erfurt 2008 (Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums, 7).

Der Europarat als Adressat des Menschenrechtsdiskurses der Kirchen Katja Richters This chapter examines the position of the Russian Orthodox Church to the human rights politics of the Council of Europe, as well as the reaction of the Council to religious attempts to participate in shaping the human rights debates. It shows how the Russian Orthodox Church appeals to freedom of religion and conscience in order to claim a voice for Christians at the Council of Europe. The Council of Europe, on the other hand, perceives organised religion as a potential conflict factor that has to be treated very carefully.

Der Europarat mit Sitz in Straßburg wurde im Mai 1949 von zehn westeuropäischen Staaten gegründet. Seine Aufgabe ist es, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und den Respekt für Menschenrechte in seinen Mitgliedsstaaten zu fördern und zu überwachen. Aus diesem Grund wurde im November 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet, deren Einhaltung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewährleistet werden soll. Neben dem Gerichtshof besteht der Europarat unter anderem aus der Parlamentarischen Versammlung, die die Richter des EGMR und den Menschenrechtskommissar wählt, und aus dem Ministerkomitee, das die Einhaltung der vom EGMR gefällten Urteile überwacht.1 Der Europarat stellt neben den Vereinten Nationen eine der größten und wichtigsten Menschenrechtsorganisationen weltweit dar. Aus rechtlicher Sicht sind die Entscheidungen des EGMR für die Mitglieder verbindlich. Allerdings werden sie nicht auf internationaler, sondern auf nationaler Ebene umgesetzt, so dass der Rat selber wenige Möglichkeiten hat, die Einhaltung der Urteile durchzusetzen. Die einzigen Maßnahmen, die die Parlamentarische Versammlung bei Nichtbeachtung ergreifen kann, sind entweder die Suspendierung des Wahlrechts des entsprechenden Mitgliedsstaats oder der totale Ausschluss desselben. Diese Sanktionen sollen aber nur bei groben Menschenrechtsverletzungen angewendet werden. Bislang hat der Europarat noch keinem Staat die Mitgliedschaft gekündigt und auch das Wahlrecht wurde Mitgliedern eher selten entzogen.2 Seit Anfang der 1990ger Jahre sind dem Rat zwölf Staaten aus Osteuropa und neun ehemalige Sowjetrepubliken beigetreten. Seine Mitgliedschaft ist dadurch auf 47 angestiegen und umfasst alle Länder, die im weitesten Sinne zu Europa gehören, mit

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Europarat, „Wie wir arbeiten“, auf der offiziellen Seite des Europarats URL: http://www.coe.int/ aboutCoe/index.asp?page=CommentTravaillonsNous&l=de (besucht am 28. Mai 2014). Pamela Jordan, „Does Membership have its Privileges? Entrance into the Council of Europe and Compliance with Human Rights Norms“, Human Rights Quarterly 25 (2003) 660–688, hier 663.

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Ausnahme von Belarus und Kasachstan.3 Durch diese Erweiterung hat der Europarat nicht nur viele ehemals kommunistische Staaten aufgenommen, sondern auch solche, in denen orthodoxe Kirchen die Mehrheit der Bevölkerung vereinen. Diese haben nach dem Beitritt ihrer Heimatländer angefangen, Niederlassungen in Straßburg aufzubauen. Allgemeines Ziel der dort tätigen Kirchenvertreter ist es, die Ansichten ihrer Institutionen beim Europarat zu vertreten und seine Entscheidungen dementsprechend zu beeinflussen. Sie sollen außerdem über Entwicklungen, die für die Gläubigen von Interesse sein könnten, informieren.4 Eine der sichtbarsten dieser religiösen Niederlassungen ist die der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Sie wurde auf Beschluss des Heiligen Synods im März 2004 eröffnet und bis Anfang 2011 von Filaret Bulekov geleitet. Seit seiner Versetzung nach Moskau ist Abt Filipp (Riabych) der Leiter des Straßburger Büros und der dazugehörigen Gemeinde.5 Die Einrichtung dieser Vertretung unterstreicht, wie wichtig dem Moskauer Patriarchat der Dialog mit europäischen Institutionen und die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten ist. Aus diesem Grund unterhält es auch Repräsentationen in Brüssel, New York und Genf.6 Ihre Überlegungen bezüglich der Menschenrechte hat die ROK in mehreren Dokumenten wie zum Beispiel den Grundlagen der Sozialkonzeption und der Lehre über die Würde, Freiheit und die Menschenrechte kundgetan. Im Oktober 2007 ist der damalige Patriarch Aleksei II. persönlich nach Straßburg gereist, um eine Rede vor der Parlamentarischen Versammlung zu halten.7 Außer dem Moskauer Patriarchat sind die katholische und auch andere orthodoxe und protestantische Kirchen sowie muslimische und jüdische Organisationen beim Europarat vertreten. Dem Vatikan wurde aufgrund seiner Staatlichkeit ein Sonderstatus

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Ibidem und Europarat, „47 Staaten, ein Europa“, URL: http://www.coe.int/aboutCoe/index.asp? page=47pays1europe&l=de (besucht am 5. März 2012). „Igumen Filipp: `Nužno otstaivat’ pravdu tverdo, nepreklonno, no spokojno i mirno´“, 24. November 2011 in der Internet-Zeitung Stoletie, URL: http://www.stoletie.ru/rossiya_i_mir/igumen_ filipp_nuzhno_otstaivat_pravdu_tverdo_nepreklonno_no_spokojno_i_mirno_2011-11-24.htm; Metropolit Kirill von Smolensk und Kaliningrad, „Russian Orthodox Church in Strasbourg: why are we here?“, 11. Januar 2006 auf der Webseite der Repräsentanz der Russischen Orthodoxen Kirche in Straßburg, URL: http://strasbourg-reor.org/?topicid=288 (beide besucht am 28. Mai 2014). „Representation of the Russian Orthodox Church in Strasbourg“, 16. Januar 2006, URL: http:// strasbourg-reor.org/?topicid=259; ROK, „Žurnaly No. 1–29 zasedanija Svjašþennogo Sinoda Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi ot 25 marta 2004 goda“, auf der offiziellen Webseite des Moskauer Patriarchats, URL: https://mospat.ru/archive/page/synod/2004-2/298.html; und ROK, „Žurnaly zasedanija Svjašþennogo Sinoda ot 22 marta 2011 goda“, URL: http://www.patriarchia.ru/db/text/ 1498448.html (alle Webseiten besucht am 28. Mai 2014). ROK, „Mitropolit Kirill: Vystuplenie Predstojatelja Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi v Parlamentskoj assamblee Soveta Evropy stalo znakovym sobytiem v politiþeskoj žizni kontinenta“, 24. Juni 2008, URL: http://www.patriarchia.ru/db/text/427139.html (besucht am 28. Mai 2014). ROK, ಱVystuplenie Patriarcha Moskovskogo i vseja Rusi Aleksija II na sessii Parlamentskoj assamblei Soveta Evropy (2 oktjabrja 2007 goda)ಯ, URL: http://strasbourg-reor.org/?topicid=114 (besucht am 28. Mai 2014).

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eingeräumt: er genießt die Rechte eines offiziellen Beobachters, was es ihm erlaubt, Repräsentanten in bestimmte Expertenkomitees zu entsenden, unter Umständen auch auf Konferenzen und andere Treffen.8 Dadurch eröffnen sich der römisch-katholischen Kirche Wege der Informationsgewinnung und der Einflussnahme, die anderen religiösen Organisationen verwehrt bleiben. Eine Ausweitung dieser Rechte oder eine Mitgliedschaft sind allerdings unmöglich, da der Vatikanstaat als Theokratie gilt und somit die Aufnahmebedingungen des Europarats nicht erfüllt.9 Durch diese Abgrenzung wird noch einmal deutlich, dass sich der Rat als säkulare Einrichtung versteht und seine religiöse Neutralität unter anderem auf diese Weise zu wahren sucht. Trotzdem kann er die Äußerungen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften nicht ignorieren und muss sich mit ihren Vertretern in Straßburg auseinander setzen. Wie gestaltet sich nun diese Begegnung? Und wie reagiert der Europarat auf die Bemühungen der ROK, des Vatikans und anderer religiöser Organisationen, ihre Ansichten in die Menschenrechtsdebatte einzubringen? Im Folgenden wird diesen Fragen nachgegangen, indem anfangs die Einstellung des Moskauer Patriarchats gegenüber dem Rat kurz skizziert wird. Danach wird mit Hilfe ausgewählter offizieller Dokumente die Sichtweise des Europarats auf die Religionsgemeinschaften im Allgemeinen und die ROK im Besonderen dargestellt.

Der Europarat aus der Sicht des Moskauer Patriarchats Die von Straßburg angestrebte Neutralität gegenüber jeglicher Form von organisierter Religion bringt eine gewisse Ausgrenzung der Kirchen aus dem politischen Bereich mit sich, die zu Spannungen führen kann und dies im Falle der ROK auch tut. In seiner Rede vor der Parlamentarischen Versammlung brachte Aleksei II. dies unmissverständlich zum Ausdruck, als er das vom Europarat geförderte Verständnis der Menschenrechte verurteilte. Er kritisierte dabei nicht die Rechte, wie sie in der Europäischen Konvention artikuliert werden, sondern lobte dieses Dokument als „höchste Errungenschaft Europas“.10 Dabei hob er hervor, dass die Konvention unter dem Einfluss der christlichen Lehre über die Würde, die Freiheit und die Moral des Menschen entstanden sei und auch explizit auf letztere hinweise. Nach Ansicht des mittlerweile verstorbenen Patriarchen sei allerdings der Zusammenhang zwischen Moral und Menschenrechten irgendwann verlorengegangen, was sich in dem „Erscheinen einer neuen Generation von Menschenrechten, die der Moral widersprechen, und der Rechtfertigung von unmoralischen Taten mit Hinweis auf die

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„Igumen Filipp: `Nužno otstaivat’ pravdu tverdo, nepreklonno, no spokojno i mirno´“. Europarat, ಱStatute of the Council of Europeಯ, 5. Mai 1949, URL: http://conventions.coe.int/ Treaty/en/Treaties/Html/001.htm: Kapitel II ದMembership (besucht am 28. Mai 2014). ROK, „Vystuplenie Patriarcha Moskovskogo i vseja Rusi Aleksija II na sessii Parlamentskoj assamblei Soveta Evropy (2 oktjabrja 2007 goda)“, URL: http://strasbourg-reor.org/?topicid=114 (besucht am 28. Mai 2014).

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Menschenrechte“11 widerspiegele. Er warnt, dass diese Entwicklung für die europäische Zivilisation fatal sein und zum Verlust der menschlichen Freiheit führen könne. Das Oberhaupt der ROK wirft den Mitgliedern des Europarats also vor, die ursprüngliche Konzeption der Menschenrechte fundamental misszuverstehen und sich so weit von ihr entfernt zu haben, dass ihre Arbeit der europäischen Bevölkerung mehr Schaden als Nutzen bringt. Aleksei II. schlägt deshalb vor, den in Vergessenheit geratenen Zusammenhang zwischen Moral und Menschenrechten wieder herzustellen und dabei die Ansichten des Moskauer Patriarchats und anderer religiöser Akteure einzubeziehen. Seine Rede endet mit dem Aufruf, keiner Weltanschauung in Europa oder auf globaler Ebene ein Monopol zu gewähren und der Religion einen angemessenen Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen.12 Er kritisiert somit die Säkularität des Europarats und macht seine Bevorzugung nicht-religiöser Haltungen indirekt für die aus seiner Sicht fehlgesteuerte Entwicklung des Menschenrechtsverständnisses verantwortlich. Dies kommt einer Kritik an einem der grundlegendsten Charakteristiken der Straßburger Organisation gleich. Obwohl seit Alekseis Rede einige Veränderungen eingetreten sind, wie später noch kurz erwähnt werden wird, hat sich die Einstellung des Moskauer Patriarchats gegenüber dem Europarat nicht fundamental geändert. So hat der jetzige Patriarch Kirill in seinem Vortrag auf einer internationalen Konferenz über Glaubensfreiheit im Dezember 2011 darauf hingewiesen, dass in Europa die heftigsten Angriffe auf moralische Vorstellungen und Normen, die seit Jahrhunderten in religiösen Traditionen bewahrt worden sind, stattfinden. Die Verabsolutierung der persönlichen Freiheit auf Kosten der moralischen Verantwortung macht aus Christen Gegner der politischen Korrektheit und setzt Sünde mit Tugend gleich.13

Ähnlich wie sein Vorgänger ist Patriarch Kirill also der Ansicht, dass europäische Institutionen wie zum Beispiel der Europarat religiöse Moralvorstellungen nicht nur ignorieren, sondern aktiv unterdrücken und unmoralische Verhaltensweisen legitimieren oder sogar begrüßen. Als Beispiel für die aus seiner Sicht feindselige Haltung europäischer Institutionen gegenüber der Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen führte Kirill in seinem Vortrag das Urteil des EGMR im Fall Lautsi vs. Italien an.14 Hier hatte der Gerichtshof im November 2009 entschieden, dass das Aufhängen von Kreuzen in öffentlichen Schulen der Säkularität des italienischen Staats widerspreche und dass die Kruzifixe deshalb zu entfernen seien.15 Dieses Urteil stieß auf bedeutenden Widerstand

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Ibidem. Ibidem. ROK, „Vystuplenie Svjatejšþego Patriarcha Kirilla na vstreþe s uþastnikami konferencii `Svoboda veroispovedanija: problema diskriminacii i presledovanija christian´ (Moskva, 30 nojabrja – 1 dekabrja)“, URL: http.//www.mospat.ru/ru/2011/12/01/news 53788/ (besucht am 28. Mai 2014). Ibidem. Lautsi v. Italy Nr.30814/06, Urteil vom 3. November 2009.

Der Europarat und der Menschenrechtsdiskurs der Kirchen

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in der Öffentlichkeit, so dass der Fall vor der Großen Kammer des EGMR neu verhandelt wurde. An der Verhandlung beteiligten sich mehrere internationale NGOs wie auch Vertreter von acht Mitgliedsstaaten des Europarats, inklusive Russland, Griechenland, Malta und Litauen. Das Ergebnis des Prozesses war, dass das Urteil des EGMR vom November 2009 aufgehoben wurde und Kreuze weiterhin legal an italienischen Schulwänden hängen können.16 Seit der Entscheidung der Großen Kammer weisen nicht nur der Patriarch, sondern auch andere hochrangige Mitglieder des Moskauer Patriarchats auf diese Kontroverse hin, um auf die anti-religiöse Haltung des EGMR und anderer europäischer Institutionen und auf die dadurch entstandenen Spannungen aufmerksam zu machen. Aus dem säkularen Ansatz des Rates ergeben sich für die ROK weitere Schwierigkeiten. So beklagen sich ihre Vertreter regelmäßig darüber, dass der Meinungs- und künstlerischen Freiheit ein zu freier Lauf gelassen werde und dass Menschenrechtsorganisationen wie der Europarat die Gläubigen nicht ausreichend vor Beleidigungen und Provokationen schützten. Im Juni 2006 schrieb Filaret Bulekov einen Brief an die Parlamentarische Versammlung, die sich zu dem Zeitpunkt mit der Beziehung zwischen Meinungsfreiheit und Respekt vor religiösen Empfindungen auseinandersetzte. In seinem Brief betont Bulekov, dass die europäische Bevölkerung nicht komplett unreligiös sei und dass es auf dem Kontinent auch Menschen gäbe, die ihren Glauben sehr ernst nähmen und ihn dementsprechend praktizierten. Er kritisiert, dass der Europarat diesem Teil der Gesellschaft zu wenig Beachtung schenke und dass die Meinungsfreiheit deshalb zugunsten der säkularen und religionskritischen Bevölkerung ausgelegt werde. In diesem Zusammenhang erwähnt Bulekov, dass manche Journalisten und Künstler in ihrer Arbeit Ansichten über die Religion geäußert hätten, die sie selbst als schockierend und provokant bezeichneten, die aber aus Sicht des Moskauer Patriarchats „charakteristisch für das moderne künstlerische Milieu und den Journalismus“17 seien. Hier bezieht sich der damalige Leiter des Straßburger Büros indirekt auf die umstrittene Ausstellung „Vorsicht, Religion!“, die im Moskauer Andrei Sacharow Museum im Januar 2003 eröffnet wurde, und auf die kontroversen Cartoons über den Propheten Mohammed, die die dänischen Zeitung Jyllands-Posten im September 2005 veröffentlicht hatte. Die Ausstellung zeigte unter anderem das Coca Cola-Logo mit einer Abbildung Jesu Christi und der Aufschrift „This is my blood“ (auf Englisch). Laut Aussage der Kuratoren sollten dieses und ähnliche Exponate die Besucher dazu anregen, über die Rolle der Religion im alltäglichen Leben und die Beziehungen zwischen dem russischem Staat und der ROK nachzudenken. Kurz nach der Eröffnung zerstörten russische orthodoxe Fundamentalisten die ausgestellten Objekte, woraufhin sie wegen Hooliganismus (chuliganstvo) angezeigt wurden. In den darauf folgenden

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Lautsi and Others v. Italy, 30814/06, Urteil vom 18. März 2011, § 4–9. ROK, „Moscow Patriarchate Representative addresses the Council of Europe on relationships between freedom of expression and respect for religious feelings“, 28. Juni 2006, URL: http:// Strasbourg-reor.org/?topicid=416 (besucht am 28. Mai 2014).

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Gerichtsverfahren wurden sie frei gesprochen und die Künstler und Kuratoren der Ausstellung wegen Anstiftung religiösen Hasses zu Gelstrafen verurteilt.18 Diese Ereignisse sind in Russland und auch bei ausländischen Beobachtern verständlicherweise auf große Resonanz gestoßen. In seinem Brief stellt Bulekov dazu die rhetorische Frage, ob es angebracht sei, das Nachdenken bzw. eine gesellschaftliche Reaktion auf diese Weise anzuregen. Um zukünftige Kontroversen dieser Art zu vermeiden, schlägt Bulekov vor, dass in der Öffentlichkeit klar zwischen Meinungsfreiheit und Religionsbeleidigung unterschieden werden solle. Außerdem ruft er säkulare Menschen und Religionskritiker dazu auf, Rücksicht auf ihre gläubigen Mitbürger zu nehmen. Der Parlamentarischen Versammlung empfiehlt er, regelmäßig Beratungsgespräche mit Vertretern religiöser Einrichtungen zu führen.19 In einem Artikel in der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats mit dem Titel „Religiöse Werte und Menschenrechte: wo ist die Grenze?“ wird diese Thematik wieder aufgegriffen. Hier argumentiert der unbenannte Autor, dass sowohl die künstlerische oder die Meinungsfreiheit als auch die Religionsfreiheit in der Europäischen Konvention für Menschenrechte verankert seien und dass diese wie auch andere internationale Abkommen ihre Mitgliedsstaaten dazu verpflichteten, die öffentliche Ordnung und Moral zu wahren und ihre gläubigen Bürger vor Beleidigung, Diskriminierung und Gewalt aufgrund ihres Glaubens zu schützen. Daraus wird hergeleitet, dass die Meinungsfreiheit an Bedingungen, wie zum Beispiel die Empfindungen religiöser Menschen, geknüpft sei. Deshalb können bestimmte Akte der Gotteslästerung, die in den meisten säkularen Rechtssystemen nicht von selbst juristisch qualifiziert sind, als Straftat angesehen werden, wenn sie auf die Minderung der Menschenwürde einzelner Personen oder Gruppen auf der Grundlage von ihrer Beziehung zur Religion angesehen werden.20

Die Organisation der Islamischen Konferenz hat in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen mehrmals ähnliche Vorschläge eingebracht, die von den EU-Staaten und anderen westlichen Ländern stets abgelehnt wurden.21 Mit dem soeben genannten Fazit widerspricht die ROK der Parlamentarischen Versammlung, die 2007 entschieden hatte, dass Gotteslästerung keine Straftat sein dürfe, da sonst die freie Meinungsäußerung eingeschränkt würde.22 Hier versucht also das Moskauer Patriarchat 18

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Anastasia Mitrofanova, The Politicization of Russian Orthodoxy: Actors and Ideas, Stuttgart 2005, 38; Zoe Knox, „Religious Freedom in Russia: The Putin Years“, in: Mark D. Steinberg und Catherine Wanner (Hg.), Religion, Morality and Community in post-Soviet Societies, Bloomington/Indianapolis 2008, 281–314, hier 289–293. ROK, „Moscow Patriarchate Representative addresses the Council of Europe“. ROK, „Religioznye cennosti i prava þeloveka: gde granitsa?“, Žurnal Moskovskoj Patriarchii 1 (2011) 66–67, hier 67. Stephan Ackermann, „Vorwort“, in: Marianne Heimbach-Steins und Heiner Bielefeldt (Hg.), Religionen und Religionsfreiheit. Menschenrechtliche Perspektiven im Spannungsfeld von Mission und Konversion, Würzburg 2010, 9. Europarat, „Blasphemy, religious insults and hate speech against persons on grounds of their religion“, Doc. 11296, 8. Juni 2007, § 65–6, URL: http://assembly.coe.int/ASP/Doc/XrefDocDetails_

Der Europarat und der Menschenrechtsdiskurs der Kirchen

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den Europarat davon zu überzeugen, dass Einschränkungen der Religionsfreiheit zugunsten religiöser Menschen mit der Europäischen Konvention vereinbar wären, und dass dies in der Praxis geschehen solle. Ein weiterer Punkt, der die Beziehungen zwischen der russischen Kirche und dem Rat in Straßburg belastet, ist der Umgang mit so genannten sexuellen Minderheiten, d. h. Homosexuellen. Wie alle religiösen Organisationen lehnt das Moskauer Patriarchat gleichgeschlechtliche Beziehungen ab.23 Deshalb ist es auch mit den Bemühungen des Europarats, die Diskriminierung gegen Homosexuelle zu bekämpfen und ihnen zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen, nicht einverstanden. Die Diskussion über dieses Thema wurde im Juni 2011 erneut dadurch angefacht, dass die Parlamentarische Versammlung eine Resolution verabschiedet hatte, in der zu Sanktionen gegen Kritiker der Homosexualität aufgerufen und das Verbot der Gay Pride Parade in Moskau verurteilt wird.24 Riabych sprach sich im Namen der ROK gegen den Inhalt dieses Dokuments aus und meinte, dass Menschen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ablehnen, nicht als Homophobe oder Befürworter von Stereotypen oder Vorurteilen bezeichnet werden sollten.25 Seiner Meinung nach nehmen vor allem religiöse Menschen eine kritische Haltung gegenüber diesen sexuellen Minderheiten ein. Die Gruppe der Kritiker beinhalte aber auch Personen mit homosexuellen Neigungen, die diese ablegen wollten, so Riabych. In Bezug auf die Gay Pride Paraden in Russland, die in der Vergangenheit von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet waren,26 vertrat Riabych die Ansicht, dass sie absichtlich soziale Konflikte schürten, um finanzielle Unterstützung aus dem Ausland anzuwerben, und dass sie die Sexualität der Teilnehmer unnötigerweise zur Schau stellten.27 Da dieses eine private Angelegenheit sei, solle sie nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Wie auch in dem oben erwähnten Artikel über die Meinungsfreiheit stützt sich Riabych in seiner Argumentation auf die existierenden Menschenrechtserklärungen.

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E.asp?FileID=11521 (besucht am 28. Mai 2014). „Osnovy Social’noj Koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi“, Sbornik Dokumentov i Materialov Jubilejnogo Archierejskogo Sobora Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi, Nižnij Novgorod 2001, 171– 250, hier 233 (§ 12.9). Europarat, „Discrimination on the basis of sexual orientation and gender identity“, Doc. 12185, 23. März 2010, § 58, URL: http://www.assembly.coe.int/ASP/Doc/XrefDocDetails_E.asp?FileID =12403 (besucht am 28. Mai 2014). Ol’ga Lipich, „Predstavitel’ RPTs v SE sajavil o prave na kritiku gomoseksualisma“, 23. Juni 2011 auf der Webseite der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti, URL: http://www.ria.ru/society/ 20110623/392061884.html und dies., „Predstavitel’ RPTs pri SE: my – za pravo kritikovat’ gomo seksualism“, 23. Juni 2011, URL: http://ria.ru/ interview/20110623/392064446.html (beide Webseiten besucht am 28. Mai 2014). Luke Harding, „It was the second worst beating of my life“ (basierend auf einem Interview mit Peter Tatchell), The Guardian 29. Mai 2007, URL: http://www.theguardian.com/world/2007/may/ 29/russia.gayrights (besucht am 28. Mai 2014). Lipich, „Predstavitel’ RPTs v SE sajavil o prave na kritiku gomoseksualisma“ und dies., „Predsta vitel’ RPTs pri SE: my – za pravo kritikovat’ gomoseksualism“.

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So sagte er, dass „das Recht [die sexuellen Minderheiten zu kritisieren – KR] durch das Recht auf Meinungs- und Gedankenfreiheit garantiert wird“.28 Deshalb ist er der Ansicht, dass diese Kritiker nicht diskriminiert werden dürften. Auf die Frage einer russischen Journalistin, ob die Teilnehmer der Gay Pride Paraden nicht das Recht auf Versammlungsfreiheit nutzten, antwortete der Geistliche, dass es zwar in Ordnung sei, wenn Menschen für ihre Rechte auf der Straße demonstrierten, aber dass die Gay Pride Märsche keine Einklagung von Rechten darstellten und unter anderem deshalb nicht gestattet werden sollten.29 Indem er das Verbot der Gay Pride Parade durch die Moskauer Behörden rechtfertigt, widerspricht Riabych dem EGMR, der im Oktober 2010 mit Verweis auf die Versammlungsfreiheit geurteilt hatte, dass Russland diese Demonstrationen zulassen müsse. In diesem Fall wurde das Urteil nach einem weiteren Prozess vor der Großen Kammer aufrechterhalten.30 Als er zu diesem Punkt befragt wurde, erklärte der Vertreter des Moskauer Patriarchats in Straßburg, dass auch Deutschland nicht alle Urteile des EGMR umsetze, und dass Russland als souveräner Staat die Möglichkeit habe, genau so zu handeln.31 Seine Ansicht wird vom Interreligiösen Rat Russlands, der aus orthodoxen, muslimischen, jüdischen und buddhistischen Geistlichen besteht, geteilt.32 Dieser Überblick zeigt, dass die ROK den Europarat als eine anti-religiöse Einrichtung wahrnimmt, die die Europäische Konvention für Menschenrechte missversteht und zu Ungunsten der Gläubigen auslegt. Dies führt ihren Angaben nach zu Spannungen mit der religiösen Bevölkerung und der Verschärfung verschiedener gesellschaftlicher Probleme. Riabych meint dazu, dass die Kirche daraus den Schluss ziehen könnte, sich so fern wie möglich von dieser und anderen europäischen Institutionen zu halten.33 Allerdings hat sie dieses nicht getan, sondern hat sich für einen Dialog und Einflussnahme entschieden. Wenn der Europarat als Verfechter der Freiheit und Gleichheit für alle ernstgenommen werden will, muss er sich auf diesen Dialog einlassen, da er nicht leugnen kann, dass auch Christen und Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften zur Bevölkerung Europas gehören, die seine Aufmerksamkeit beanspruchen können. Wie hat er also auf die Kritik der russischen Kirche und gleichgesinnter Organisationen reagiert?

Der Blick des Europarats auf religiöse Gemeinschaften Aus den relevanten Dokumenten ist deutlich abzulesen, dass der Europarat die Religion im Allgemeinen als einen Faktor ansieht, der in der Vergangenheit zu Konflikten in

28 29 30 31 32 33

Lipich, „Predstavitel’ RPTs pri SE: my – za pravo kritikovat’ gomoseksualism“. Ibidem. Lipich, „Predstavitel’ RPTs v SE saiavil o prave na kritiku gomoseksualisma“. Ibidem. Lipich, „Predstavitel’ RPTs pri SE: my – za pravo kritikovat’ gomoseksualism“. „Igumen Filipp: `Nužno otstaivat’ pravdu tverdo, nepreklonno, no spokojno i mirno´“.

Der Europarat und der Menschenrechtsdiskurs der Kirchen

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Europa beigetragen hat und dies auch heute noch tut. So steht in dem im Mai 2008 veröffentlichten White Paper über interkulturellen Dialog, dass „Konflikte, in denen der Glaube ein kollektives Identitätsmerkmal darstellte, ein Kennzeichen von Europas älterer und neuerer Vergangenheit“34 seien. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich der Rat für die Trennung von Religion und Politik bzw. von staatlichen und religiösen Institutionen einsetzt. In demselben White Paper erinnert der Europarat daran, dass der Staat das Leben der Gesellschaft und der Gläubigen auf neutrale und unparteiische Weise organisieren und das Recht aller seiner Einwohner auf Religionsfreiheit respektieren solle.35 Des Weiteren räumt der Rat den Religionsgemeinschaften kein Monopol auf die Formulierung gesellschaftlicher Moralvorstellungen ein. Stattdessen hat er diesen Prozess als einen konzipiert, an dem sowohl Gläubige als auch nicht-religiöse Menschen gleichermaßen teilnehmen können und sollen.36 Hier widerspricht er indirekt der Idee, dass Moral in seiner Arbeit keine Rolle spiele und dass dem nur durch die Einbeziehung von kirchlichen Vertretern abgeholfen werden könne, wie es in der oben erwähnten Rede von Aleksei II. vor der Parlamentarischen Versammlung angeklungen war. Außerdem distanziert sich der Rat vom Dialog zwischen den Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften mit der Begründung, dass er dies nicht als seine Aufgabe betrachte.37 Trotzdem begrüßt er diese Kontakte, weil er den interreligiösen Dialog als einen Teil des interkulturellen Dialogs ansieht. Letzterer wurde im Mai 2008 zum neuen Paradigma der Politik des Europarats proklamiert. „Der interkulturelle Dialog wird als ein offener und respektvoller Meinungsaustausch zwischen Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Hintergründen [...] verstanden“.38 Es wird erwartet, dass „kein Bereich von der Teilnahme am interkulturellen Dialog ausgeschlossen sein soll – sei dies die Nachbarschaft, der Arbeitsplatz, das Bildungssystem und die daran angegliederten Institutionen, die Zivilgesellschaft und besonders der Jugendsektor, die Medien, die Künste und die Politik“.39 Obwohl religiöse Organisationen hier nicht explizit aufgeführt werden, wird an anderer Stelle deutlich, dass sie unter den Begriff der Zivilgesellschaft fallen und ihr Beitrag erwünscht ist.40 Daran lässt sich erkennen, dass der Europarat die Gläubigen als einen Teil der Gesellschaft akzeptiert, die nicht nur Konfliktpotential mit sich bringen, sondern auch ein Recht darauf haben, an der Gestaltung ihres Lebensraums mitzuwirken. In dem

34

35 36 37 38 39 40

Europarat, White Paper on Intercultural Dialogue ಯLiving Together as Equals in Dignityರ, Stra¡ burg, 7. Mai 2008, 1ದ61, hier 22. Ibidem, 22. Ibidem, 23. Ibidem, 24. Ibidem, 10. Ibidem, 10. Ibidem, 40.

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White Paper wird konstatiert: „Eine Reihe von Religionen, genauso wie säkulare Lebenseinstellungen, sind Teil von Europas reichem kulturellen Erbe. Das Christentum, das Judentum und der Islam, zusammen mit ihren internen Interpretationsausrichtungen, haben unseren Kontinent stark beeinflusst.“41 Da es sich der Europarat zur Aufgabe gemacht hat, das vielfältige kulturelle Erbe Europas zu pflegen und zu schützen,42 bedeutet diese Aussage, dass er sich auch den Mitgliedern religiöser Organisationen verpflichtet fühlt. Er ist also nicht so religionsfeindlich, wie die ROK es darstellt. Ganz im Gegenteil: Geistliche und Vertreter anderer Glaubensgemeinschaften werden dazu angehalten, interkulturelle und interreligiöse Treffen zu organisieren.43 Somit gibt der Europarat zu verstehen, dass er religiöse Institutionen als potentielle Partner versteht, die seiner Politik nicht im Weg stehen, sondern sie unterstützen können und sollen. Er ruft sie besonders dazu auf, der Intoleranz und der Diskriminierung von Gläubigen entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang werden die Bemühungen des Vatikans gelobt, mit Vertretern anderer Religionsgemeinschaften ins Gespräch zu kommen und zusammen mit ihnen den „aus ihrer Sicht materialistischen und `gottlosen´“44 Entwicklungen im Staat oder der Gesellschaft entgegenzutreten. Außerdem wird an dieser Stelle erwähnt, dass es auch Liberalisierungs- und Modernisierungsprozesse innerhalb anderer Religionen, besonders des Islams, gibt.45 Des Weiteren äußern sich namhafte Persönlichkeiten in einem Bericht über kulturelle Vielfalt und Freiheit vom April 2011 im Namen des Europarats besorgt darüber, dass die Intoleranz gegenüber Christen, Juden und vor allem Muslimen in der Gesellschaft zugenommen habe. Sie kritisieren diese Entwicklung, indem sie betonen, dass „weder der Islam noch irgendeine andere Religion als grundsätzlich inkompatibel mit den Europäischen Werten angesehen“46 werden solle. Hier wiederholt also der Europarat sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Gläubigen in Europa. Gleichzeitig werden aber auch die religiöse (und die politische) Elite dafür kritisiert, dass sie diesem Trend bislang nicht ausreichend entgegengesteuert haben.47 Ihr wird also empfohlen, nicht nur Schutz bei staatlichen Institutionen zu suchen, sondern sich so weit wie möglich selbst zu helfen. Wie diese Diskussion zeigt, ist der Europarat sehr bemüht, mit den Gläubigen zusammenzuarbeiten und sie vor Diskriminierung oder anderen illegitimen Einschränkungen zu schützen, ohne dabei seine religiöse Neutralität zu verlieren. Der Versuch, diese Balance zu halten, bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, die sich am Beispiel der Debatte um die Meinungsfreiheit gut veranschaulichen lassen. Wie im vorherigen 41 42 43 44

45 46 47

Ibidem, 22. Vgl. ibidem, 44. Ibidem, 31. Europarat, Living Together: Combining Diversity and Freedom in 21st-century Europe (Report of the Group of Eminent Persons of the Council of Europe), April 2011, URL: http://book.coe.int/ftp/ 3664.pdf, 1ದ79, hier 44 (besucht am 28. Mai 2014). Ibidem, 44. Ibidem, 34. Ibidem, 31.

Der Europarat und der Menschenrechtsdiskurs der Kirchen

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Abschnitt bereits erwähnt, ist die ROK der Ansicht, dass der Europarat zu liberal mit religionskritischen Äußerungen umgegangen sei und sich dadurch auf die Seite der teilweise sehr provokanten Religionskritiker gestellt habe. In der Tat nimmt der Rat die Religion als eine potentielle Gefährdung für die Meinungsfreiheit wahr: Es geht eine Bedrohung für die Freiheit – besonders für die Meinungsfreiheit – von einem anderen Ort aus, nämlich von den Befindlichkeiten derjenigen Gruppen, die die Einschränkung dieser Freiheit im Namen des Respekts für ihre eigenen religiösen Ansichten und Symbole fordern.48

In diesem Kontext werden die Kontroversen um Salman Rushdies Roman Die satanischen Verse und die dänischen Cartoons des Propheten Mohammed genannt. Die Debatte um die international etwas weniger bekannte Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ in Moskau hätte hier auch als Beispiel dienen können. Über die Cartoons schreibt der Europarat, dass kein Zweifel daran bestanden hätte, dass ihre Veröffentlichung absichtlich provokativ war und dass viele Medien-Experten meinten, dass die dänische Zeitung unverantwortlich gehandelt hätte.49 Daraus zieht der Rat aber nicht den Schluss, dass Publikationen dieser Art rechtlich verboten werden sollten. Er weist stattdessen darauf hin, dass der EGMR strenge Kriterien bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit ansetze und dass er „selbst Äußerungen, die beleidigen, schockieren oder beunruhigen“,50 als solche ansähe, die durch die Europäische Konvention für Menschenrechte geschützt wären. Der Europarat geht fest davon aus, dass diese liberale Meinung von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt werde.51 Gleichzeitig bemüht er sich aber auch, Verständnis für die betroffenen religiösen Organisationen zu zeigen, wie zum Beispiel in diesem Zitat deutlich wird: „Fromme Gläubige einer Religion können sehr verletzt sein oder meinen, dass ihre Identität oder ihre Gemeinschaft angegriffen werden, wenn die betroffene Religion, ihre Gründer oder ihre heiligen Symbole öffentlichem Spott oder Verunglimpfung ausgesetzt sind“.52 Der Rat ist überzeugt, dass es eine Grenze gäbe, bei deren Überschreitung das Recht auf Meinungsfreiheit verfällt. Wann dies so ist, hänge von den konkreten Umständen ab und wird vom EGMR in jedem Fall anders entschieden.53 Oberflächlich betrachtet sieht es also so aus, als ob der Europarat keine klare Linie verfolge und seine verkündete Sympathie für die Empfindungen der Gläubigen nicht konsequent in die Tat umsetze. Der von der ROK geäußerte Vorwurf der Religionsfeindlichkeit bzw. des mangelnden Schutzes der Kirchen und ähnlicher Organisationen scheint demnach naheliegend. Dieser Kritik liegt allerdings ein Missverständnis

48 49 50 51 52 53

Ibidem, 25. Ibidem, 25ದ26. Europarat, White Paper on Intercultural Dialogue, 26. Europarat, Living Together: Combining Diversity and Freedom, 26. Ibidem, 36. Europarat, White Paper on Intercultural Dialogue, 26.

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zugrunde, das auf unterschiedlichen Wahrnehmungen des Staates und seiner Befugnisse beruht. Wie der Europarat erklärt, soll das Recht auf Meinungsfreiheit besonders von den Massenmedien verantwortungsbewusst und mit Rücksicht auf die Mitglieder religiöser Gemeinschaften benutzt werden. Allerdings betont er auch, dass es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers oder anderer Behörden sei, dieses Verantwortungsbewusstsein einzufordern.54 Statt staatlicher Kontrolle schlägt der Rat vor, eine Balance zwischen Meinungsfreiheit und Religionskritik mit Hilfe öffentlicher Debatten, wie zum Beispiel in den Medien, zu finden. Seine eigene Rolle und die anderer politischer Akteure sieht der Europarat in diesem Prozess darin, den gegenseitigen Austausch zu koordinieren und ihn auf eine angemessene Grundlage zu stellen. Letzteres soll unter anderem durch Bildung und Religionsunterricht geschehen, an denen Vertreter der Kirchen beteiligt sein sollen.55 Dies ist im Prinzip das, was Aleksei II. und andere Vertreter der ROK gefordert hatten. In diesem Punkt scheinen die Ansichten des Rates und des Moskauer Patriarchats also übereinzustimmen, was auf eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen hindeutet. In der Tat beschreibt die russische Kirche eine relativ positive Entwicklung in ihrem Verhältnis zum Europarat. In einem Interview mit der Internet-Zeitung Stoletie der Stiftung „Historische Perspektiven“ vom November 2011 führte Riabych diesen Trend auf den Vorsitz der Russischen Föderation des Ministerkomitees im Jahre 2006 zurück. Seinen Angaben zufolge hatte sich Moskau während dieser Zeit sehr für den interkulturellen und interreligiösen Dialog eingesetzt, was zu einer Intensivierung der Kontakte mit den Vertretern religiöser Organisationen in Straßburg geführt habe.56 2007 wurden sie dazu eingeladen, an der Abfassung des oben erwähnten White Paper mitzuwirken.57 Diese Möglichkeit hat die ROK natürlich genutzt.58 Einen ersten Erfolg erzielte die religiöse „Lobby“ im Oktober 2009, als in der Parlamentarischen Versammlung eine Resolution besprochen wurde, die es Ärzten untersagen wollte, Abtreibungen zu verweigern. Wie alle organisierten Religionen sieht das Moskauer Patriarchat diesen Eingriff als sündhaft an und war deshalb der Überzeugung, dass Ärzte das Recht haben müssten, diese Maßnahme zu verweigern. Seine Vertreter, zusammen mit denen des Vatikans und der anderer Glaubensgemeinschaften, argumentierten also, dass die genannte Resolution die Religions- bzw. Gewissensfreiheit der Ärzte auf unakzeptable Weise einschränke. Sie wurde daraufhin abgelehnt und durch eine andere ersetzt, die es Medizinern ausdrücklich erlaubt, Abtreibungen abzulehnen.59 54 55 56 57 58

59

Europarat, Living together: Combining diversity and freedom, 36. Europarat, White Paper on Intercultural Dialogue, 44ದ47. „Igumen Filipp: CNuzhno oststaivatಬpravdu tverdo, nepreklonno, no spokoino i mirnovಯ. Europarat, White Paper on Intercultural Dialogue, 8. ROK, „Preparation of the White Paper of the Council of Europe on Intercultural Dialogue”, 12. März 2007, URL: http://Strasbourg-reor.org/?topicid=428 (besucht am 28. Mai 2014). ROK, „Igumen Filipp (Riabych) Zadaþa predstavitel’stva Russkoj Cerkvi v Strasburge – tvorþeski uþastvovat’ v obšþem dele stroitel’stva edinoj Evropy“, 29. April 2011, URL: http://www.Patriar

Der Europarat und der Menschenrechtsdiskurs der Kirchen

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Trotz dieser angeblichen Annäherung kann von einem harmonischen Verhältnis zwischen dem Europarat und den Religionsgemeinschaften im Allgemeinen und der ROK im Besonderen nicht die Rede sein. Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, äußern sich Vertreter des Moskauer Patriarchats immer noch kritisch gegenüber dem Rat und anderen europäischen Institutionen. In Straßburg stand auch 2007 noch zur Debatte, ob bzw. wie ein Dialog mit religiösen Organisationen stattfinden solle. Dies wurde von der ROK selbstverständlich bejaht.60 Allerdings wird gerade sie als eine besondere Gefahr für die Gewährung der Religionsfreiheit in Russland wahrgenommen. So berief sich der EGMR in mehreren Urteilen auf eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung vom April 2002, in der dem russischen Staat empfohlen wird, die Bevorzugung der ROK durch lokale und regionale Behörden zu unterbinden und es nicht zuzulassen, dass bestimmte religiöse Einrichtungen die Erlaubnis des Moskauer Patriarchats einholen müssten, bevor sie ihre Aktivitäten aufnehmen könnten.61 Des Weiteren wurden Verfahren vor russischen Gerichten, in denen der Meinung einer der ROK nahestehenden Gruppierung große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, vom EGMR als unfair kritisiert.62 Die russische Kirche wird auch in anderen Urteilen als eine die Freiheit anderer religiöser Organisationen einschränkende Institution erwähnt.63 Daran lässt sich ablesen, dass es den Straßburger Richtern nicht entgeht, was die ROK in ihrem Heimatland tut, und dass sie diese als zum Teil inkompatibel mit der Konvention für Menschenrechte einschätzt.

Fazit Diese Diskussion hat gezeigt, dass sich die Beziehungen des Moskauer Patriarchats und anderer religiöser Einrichtungen zu dem Europarat aufgrund der anhaltenden Debatte um den „Säkularismus“ als spannungsreich gestalten. Während die Kirche die Säkularität als eine religionskritische und bisweilen religionsfeindliche Haltung versteht, steht genau dieser Begriff aus der Sicht des Europarats für Toleranz, Freiheit und die weltanschauliche Neutralität politischer Institutionen. Da weder die Politik die Religion noch die Religion die Politik ignorieren will bzw. kann, muss hier also nach einem Kompromiss gesucht werden, der bislang noch nicht gefunden wurde. Beide Seiten scheinen sich aber darin einig zu sein, dass dieser durch Dialog und gegenseitiges Verständnis zustande kommen soll.

60 61

62 63

chia.ru/db/text/1465251.html (besucht am 28. Mai 2014). ROK, ಱPreparation of the White Paper of the Council of Europe on Intercultural Dialogueಯ. Moscow Branch of the Salvation Army v. Russia, Nr. 72881/01, Urteil vom 15. Oktober 2006, § 49 und Church of Scientology Moscow v. Russia, Nr. 18147/02, Urteil vom 5. April 2007, § 63. Jehovah’s Witnesses of Moscow and Others v. Russia, Nr. 302/02, Urteil vom 10. Juni 2010, § 16. Alekseyev v. Russia, Nr. 4916/07, 25924/08, 14599/09, Urteil vom 21. Oktober 2010, § 62 und 72; Kimlya and Others v. Russia, Nr. 76836/01, 32782/03, Urteil vom 1. Oktober 2009, § 49–50 und 66; Barankevich v. Russia, Nr. 10519/03, Urteil vom 26. Juli 2007, § 21 und 38; Kuznetsov and Others v. Russia, Nr. 184/02, Urteil vom 11. Januar 2007, § 42.

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In diesem Tauziehen um die „richtige“ Balance zwischen Respekt für religiöse Normen und Symbole einerseits und der kritischen oder sogar ablehnenden Betrachtung derselben andererseits spiegeln sich auch unterschiedliche Meinungen über Verfassungsfragen, d. h. über die Rechte und Pflichten des Staates, wider. Zu diesem Punkt meint das Moskauer Patriarchat, dass es die Aufgabe der Regierung oder anderer öffentlicher Behörden sei, religiöse Einrichtungen vor zu starker Kritik oder Beleidigung zu schützen. Es plädiert deshalb dafür, die Gotteslästerung für illegal zu erklären und strafrechtlich zu verfolgen. Der Europarat meint, dass dies gerade nicht der Fall sein soll, sondern dass der Staat lediglich mit den Gläubigen zusammenarbeiten soll, um diesen unangenehmen Situationen vorzubeugen. Es besteht hier also eine Spannung zwischen Befürwortern eines „starken“ Staates, der regulierend in gesellschaftliche Prozesse eingreift, und Gegnern desselben, die der Ansicht sind, dass sich die Gesellschaft weitestgehend selbst regulieren soll. Obwohl Russland ein Mitglied des Europarates ist, hat es ein Gesetz „Über die Verletzung religiöser Gefühle“ verabschiedet, das im Juli 2013 in Kraft getreten ist. Seitdem können „öffentliche Handlungen, die eine klare Missachtung der Gesellschaft bedeuten und mit dem Ziel vollzogen werden, religiöse Gefühle von Gläubigen zu verletzen“64 mit Bußgeldern von bis zu 7.000 Euro, obligatorischem Arbeitseinsatz oder einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr belegt werden. Die Strafen steigen auf bis zu 12.000 Euro oder drei Jahre obligatorischen sozialen Arbeitseinsatzes oder Gefängnisaufenthalts, falls das Delikt in Sakralbauten einer der „traditionellen“ Religionsgemeinschaften Russlands oder an einem Ort statt gefunden hat, an dem diese üblicherweise Sakralhandlungen durchführen. Vor der Verabschiedung des Gesetzes war die Beleidigung religiöser Gefühle zwar auch nicht rechtens, doch wurde sie lediglich mit kleineren Bußgeldern geahndet.65 Diese Erweiterung des russischen Strafkodexes wird allgemein als eine Reaktion auf das kontroverse Punk-Gebet, das die feministische Performance Art Gruppe Pussy Riot im Februar 2012 in der Christi-Erlöser-Kathedrale des Moskauer Patriarchats aufgeführt hatte, gesehen. Die Sponsoren und Befürworter des Gesetzes, die bei der entscheidenden dritten Lesung im Juni 2013 hauptsächlich aus Abgeordneten der Regierungspartei „Einiges Russland“ bestanden, begründeten seine Annahme mit dem Verweis auf die Notwendigkeit, sozialen und religiösen Konflikten entgegenzuwirken und die gesellschaftliche Toleranz gegenüber religiösen Gruppen zu fördern.66 Kritiker 64

65

66

„Russland: Duma verabschiedet `Blasphemie-Gesetz´“, G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West, URL: https://www.g2w.eu/news/847-russland-dumaverabschiedet-blasphemie-gesetz (besucht am 28. Mai 2014). „Analysis on Russia’s New Blasphemy Law“ auf der Website des Institute on Religion and Public Policy, 28 Februar 2013, URL: http://www.religionandpolicy.org/reports/the-institute-countryreports-and-legislative-analysis/europe-and-eurasia/russia/analysis-on-russia-s-new-blasphemylaw-2013/ und Geraldine Fagan, „Russia: `Religious feelings´ not offended – or the calm before the storm?“, Forum 18, 14 August 2013, URL: http://www.forum18.org/archive.php?article_id= 1864 (beide Webseiten besucht am 28. Mai 2014). Yekaterina Kravtsova, „`Blasphemy Bill´ passes Duma Unanimously“, The Moscow Times, 11.

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betonen jedoch, dass es die Säkularität des russischen Staates untergrabe und dass seine Formulierungen zu vage seien und deshalb willkürlich angewendet werden können. In der Tat wird nirgends definiert, was „religiöse Gefühle“ seien und wie sie verletzt werden könnten.67 Somit entspricht das Gesetz nicht den Richtlinien des EGMR, die festlegen, dass Gesetzestexte klar und deutlich zu verstehen geben sollen, welche Taten strafbar sind und wie welche Zuwiderhandlungen geahndet werden.68 Diese Art der Kritik an russischen Gesetzen ist nichts Neues. Sie wurde u.a. auch laut, als 1997 das kontroverse Gesetz ‚Über die Gewissensfreiheit und religiöse Gemeinschaften’ verabschiedet wurde. Die uneindeutigen Formulierungen öffnen der selektiven Strafverfolgung Tor und Tür und scheinen darauf abzuzielen, die Macht des Staates gegenüber der Bevölkerung bzw. Regierungskritikern oder anderen ‚unliebsamen’ Personen und Institutionen zu stärken. Vor diesem Hintergrund ist es nicht allzu erstaunlich, dass die Reaktion der ROK auf die Verabschiedung des Gesetzes von 2013 eher verhalten war, obwohl seine Vertreter – wie oben dargestellt – eine derartige Änderung der Rechtslage im Prinzip befürworteten. Lediglich Wsewolod Tschaplin, der Leiter der Abteilung des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zur Gesellschaft, lobte das Gesetz als eine Maßnahme, die anzeige, dass der Staat auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagiere. Wie auch bei dem Prozess gegen die drei Frauen von Pussy Riot, widersprach ihm Erzdiakon Andrej Kurajew. Dieser wies darauf hin, dass das Gesetz willkürlich und ggf. auch gegen orthodoxe Gläubige angewendet werden könne.69 Auch Patriarch Kirill warnte, dass „alle Gesetzentwürfe zum Schutz von religiösen Symbolen und den Gefühlen der Gläubigen sorgfältig ausgearbeitet sein sollten, damit sie nicht für improvisierte Beschränkungen der Meinungsfreiheit und der Kreativität gebraucht werden können.“70 Hier präsentiert sich die Kirche also als Verteidigerin bestimmter Menschenrechte. An diesen Kommentaren lässt sich ablesen, dass die ROK nicht das Gesetzesvorhaben als solches kritisiert, sondern eher seine inhaltliche Ausarbeitung. Mit anderen Worten, ein Gesetz, das Religionsgemeinschaften effektiver schützt und die Staatsmacht weniger ausweitet als das im Sommer 2013 verabschiedete, wäre in russisch-orthodoxen Kreisen immer noch willkommen. Abschließend ist noch zu bemerken, dass die Menschenrechte und die dazugehörigen Institutionen wie der Europarat ausgesprochene „Soft Power Instrumente“ sind. Wie eingangs erwähnt, hat der Rat sehr wenige Möglichkeiten, seine Mitgliedsstaaten zur Einhaltung seiner Resolutionen und der Umsetzung der EGMR Urteile zu zwingen. Die ihm angehörigen Staaten sind freiwillig beigetreten und verfolgen damit häufig

67 68 69 70

Juni 2013, URL: http://www.themoscowtimes.com/news/article/blasphemy-bill-passes-dumaunanimously/481495.html (besucht am 28. Mai 2014). Ibidem und „Analysis on Russia’s New Blasphemy Law“. „Analysis on Russia’s New Blasphemy Law“. Fagan, „Russia: `Religious feelings´ not offended“. „Analysis on Russia’s New Blasphemy Law“.

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nationale Interessen und strategische Ziele.71 Wenn die Politik des Europarats diesen widerspricht, werden seine Entscheidungen häufig einfach ignoriert. Dies ist besonders in den ehemaligen Teilen der Sowjetunion und Jugoslawiens der Fall und das Gesetz „Über die Verletzung religiöser Gefühle“ stellt ein gutes Beispiel dafür dar.72 Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu beobachten, wie ernst die ROK, der Vatikan und andere religiöse Organisationen den Europarat und die Menschenrechtsagenda nehmen. Offensichtlich liegt die Wichtigkeit dieses Themenbereichs nicht in seiner konkreten politischen Macht, sondern in seiner kulturellen Brisanz.

71 72

Jordan, „Does Membership have its Privileges?“, 662. Ibidem, 679ದ680.

Positionen zu den Menschenrechten in der rumänischen Orthodoxie Mihai-Dumitru Grigore This chapter arises from the general observation that there is no common and uniform Orthodox Christian position towards human rights. It is argued that, contrary to the Russian Orthodox Church, the Romanian Orthodox Church adopts a less systematic and programmatic strategy on human rights. Its stance is characterised by pragmatism with punctual finality depending on different contexts and themes, starting with bioethics and ending with problems regarding abuses against minorities and migrants. The main doctrinal and argumentative patterns of these two Orthodox Churches are further underpinned, on the one hand by the official document of the Russian Church on human rights of 2008, and on the other hand by various statements of the Holy Synod of the Romanian Church.

Die post-sozialistische Geschichte Rumäniens der letzten zwei Dekaden hat die rumänische Orthodoxie nolens volens in Kontakt mit den Menschenrechten gebracht. Das, was wir als „europäische Wertegemeinschaft“1 bezeichnen, beruft sich auf die zivilisatorische Zentrierung durch die Menschenrechtssemantik, die unter anderem auch als Kriterium für den EU-Beitritt eine zentrale Stellung einnimmt. Als größte Kirche eines neuen EU-Mitglieds sieht sich die Rumänisch-Orthodoxe Kirche2 in der Situation, sich ernsthaft und unmittelbar mit den Menschenrechten auseinandersetzen zu müssen. Wie für die rumänische Gesellschaft im Allgemeinen stellt sich die Menschenrechtsdebatte auch in der Rumänischen Kirche als terra incognita dar, während sie im Abendland seit Jahrzehnten auf Hochtouren läuft.3 Die These der folgenden Studie lautet: Die Rumänische Orthodoxie setzt sich nicht direkt, gezielt und programmatisch mit den Menschenrechten auseinander, sondern in reaktiver, konkreter und pragmatischer Art und Weise. Ihr Umgang mit dem Thema ist – wie wir sehen werden – eher situationsbedingt, was ich mit „reaktiver“ statt „aktiver“ 1

2

3

Hans Joas und Christof Mandry, „Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft“, in: Gunnar Folke Schuppert (u. a.) (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 541–572. Im Folgenden als „Rumänische Orthodoxie“ oder „Rumänische Kirche“ bezeichnet, da die Abkürzung „ROK“ in diesem Band schon an die „Russische Orthodoxe Kirche“ vergeben ist. Vgl. Radu Preda, „Ortodoxia úi drepturile omului“ (I) [Orthodoxie und Menschenrechte], URL: http://radupreda.blogspot.com/2009/05/ortodoxia-si-drepturile-omului-i.html (besucht am 28. April 2014). Dazu siehe den Wikipedia-Beitrag „Biserica ortodoxă română ‫܈‬i drepturile omului“ [Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte], URL: http://ro.wikipedia.org/wiki/Bi serica_Ortodox%C4%83_Rom%C3%A2n%C4%83_%C8%99i_drepturile_omului (besucht am 28. April 2014); Răzvan Stan Nicolae, „Rela‫܊‬ia dintre demnitatea umană ‫܈‬i drepturile omului din perspectiva ortodoxă“ [Das Verhältnis zwischen Menschenwürde und Menschenrechten in orthodoxer Perspektive], Studii Teologice 2 (2008) 35–73; Răzvan Stan Nicolae (Hg.), Biserica Ortodoxă Юi drepturile omului [Die Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte], Bukarest 2010.

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Haltung gemeint habe: ein konjunkturabhängiges Verhältnis zwischen der Menschenrechtssemantik und den Herausforderungen des sozialen, politischen und konfessionellen Alltags. Wir befinden uns also, wenn wir von Menschenrechten und rumänischer Orthodoxie sprechen, eher auf der Ebene der Praxis als auf der Ebene systematisch dogmatischer oder sozialethischer Argumentation. Außerdem tut sich die Rumänische Kirche schwer, mit der Moderne, welche die heutige Menschenrechtssemantik in sich trägt, umzugehen. Ich werde mich im folgenden Beitrag, der hauptsächlich historisch-beobachtend angelegt ist, zunächst auf einen Vergleich zwischen der theologischen Begründung der Menschenwürde in der Rumänisch- bzw. Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) einlassen. Diesem werden ein paar konkrete Beispiele folgen. Zum Schluss versuche ich dann, diese Beispiele zu erörtern und in ihrer Relevanz für die Menschenrechtsproblematik überhaupt oder speziell für Menschenrechte in der Rumänischen Orthodoxie zu beleuchten. Zu diesem Zweck scheint es mir sinnvoll, mich hauptsächlich an der medialen Debatte zu orientieren, die mir als Quelle für diesen Beitrag die offiziellen Statements des rumänischen Patriarchats sowie die Kommentare und Echos in der rumänischen Presse zur Verfügung stellte.

Ein Vergleich zwischen der Rumänisch- und der RussischOrthodoxen Kirche Es kommt nicht von ungefähr, dass rumänische Theologen und Akademiker, die sich mit der Stellung der Rumänischen Orthodoxie zu den Menschenrechten beschäftigen, paradoxerweise auf die Stellungnahme der Russischen Kirche aus dem Jahre 2008 Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte zurückgreifen müssen.4 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche hat keinen vergleichbaren Ansatz aufzuweisen. Das mag mehrere Gründe haben: Möglicherweise denkt man in Rumänien, dass die ROK bereits vorgelegt hätte, was die Orthodoxie insgesamt zu Menschenrechten zu sagen hat, also dass nachträgliche Stellungnahmen womöglich redundant seien. Es könnte ebenfalls sein, dass man in der Rumänischen Orthodoxie zu wenig von der Notwendigkeit einer prinzipiellen, gewissermaßen abstrakten und auf theologischen Grundlagen aufbauenden Diskussion überzeugt ist und eher auf konkrete Anwendungen wie z. B. im Falle der Abtreibung, des Religionsunterrichts, der Ikonen in der Schule usw. setzt. Ein weiterer Grund könnte wiederum sein, dass sich die Rumänische Kirche im Rückgriff auf ihre eigene jahrhundertelange, menschenfreundliche Spiritualität für die Herausforderungen der Aktualität ausreichend gerüstet fühlt und sich in der 4

Vgl. Radu Preda, „Ortodoxia úi drepturile omului“ (III) [Orthodoxie und Menschenrechte], URL: http://radupreda.blogspot.com/2009/06/ortodoxia-si-drepturile-omului-iii.html (besucht am 28. April 2014). Eine Übersetzung der russisch-orthodoxen Stellungnahme zu Menschenrechten s. unter URL: http://www.kas.de/ru-moskau/de/publications/15307/ (besucht am 28. April 2014).

Positionen zu den Menschenrechten in der rumänischen Orthodoxie

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Lage sieht, auf die Menschenrechte – als Produkt der Aufklärung – in ihrer „politisch säkularen“ Auffassung zu verzichten. Es scheint der Rumänischen Kirche – wie allen christlichen Kirchen eigentlich – verdächtig, die Menschenrechte vom religiösen Diskurs abzukoppeln.5 Ein letzter Grund könnte schließlich in den Spannungen liegen, die zwischen den beiden Kirchen herrschen; Spannungen, die hauptsächlich von Jurisdiktionsstreitigkeiten in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien genährt werden6, aber sich auch in auseinandergehenden Richtungen in Theologie und Praxis der beiden Schwesterkirchen konkretisieren: Wahrscheinlich wird die russische Stellungnahme in den kirchlichen Kreisen Rumäniens als Wiederherstellung von Vormachtansprüchen interpretiert, sich eigenmächtig – ohne dazu aufgefordert zu werden – zum Sprecher der weltweiten Orthodoxie zu erheben. Denn die Rumänische Orthodoxie sucht immer noch nach eigener Identität und träumt als zweitgrößte Orthodoxie (nach Anzahl der Gläubigen), aus dem Schatten sowohl der Griechisch- als auch der Russisch-Orthodoxen Kirche zu treten. Da jedoch jegliche offizielle Stellungnahmen in dieser Richtung fehlen, bleiben die oben genannten Gründe im Bereich der Vermutungen. Wie auch immer, sowohl die Rumänische Kirche als auch die ROK beklagen die Abkoppelung der Menschenwürde – auf die sich die Menschenrechte stützen7 – vom religiösen Sinn christlicher Tradition. In laizistisch geprägten westlichen Staaten besitzt die Menschenwürde eine Bedeutung an sich. Sie kannte eine Verselbständigung, in der Gott irrelevant wurde. Der Mensch ist in dieser Logik wert an und für sich. Die Orthodoxie dagegen möchte dies nicht so stehen lassen und zeigt, dass der Mensch wertvoll ist, weil er von Gott erschaffen wurde. Deshalb sind alle Verletzungen des Menschlichen (des Lebens, der Freiheit, des Glaubens, des Eigentums usw.) Eingriffe in das Werk Gottes, also Verletzungen des Göttlichen. Ad ultimum gedacht, stellt die Verletzung der Menschenrechte im moralischen und theologischen Sinne eine Sünde dar. In dieser Art und Weise rekonstruiert die orthodoxe Argumentation die Menschenrechte als Anhängsel der christlichen Kosmologie, Soteriologie und Anthropologie. Es geht der orthodoxen Theologie darum, klar zu stellen, woher die Menschenrechte ihren Gültigkeits- und Universalitätsanspruch bekommen. Eine rein naturrechtliche Logik

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Siehe in diesem Band den Beitrag von àukasz Fajfer. Dazu noch Vasilios N. Makrides, „Die Menschenrechte aus orthodox-christlicher Sicht: Evaluierung, Positionen und Reaktionen“, in: M. Delgado, V. Leppin und D. Neuhold (Hg.), Schwierige Toleranz. Der Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsgeschichte, Stuttgart 2012, 293–320, hier 295, 299ff. Vgl. URL: http://www.regnum.ru/english/927412.html sowie http://www.patriarhia.ro/ro/relatii_ externe/probbas1.html (beide besucht am 5. Juni 2013). Die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 spricht in ihren einleitenden Bemerkungen von „Menschenwürde“ und „Wert der menschlichen Persönlichkeit“, ohne jedoch diese beiden Kategorien näher zu erläutern (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung [Hg.], Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 20044, 42). In dieser Offenheit des Diskurses liegt sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil. Einerseits wird eine aufgezwungene Dogmatik, eine coercitio durch Menschenrechte vermieden. Andererseits entsteht eine ewige Debatte, die an der Kohärenz und Konsequenz der Menschenrechte zehrt und sogar bis zu deren Infragestellung geht (Franz J. Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart 2002).

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der innewohnenden Würde jedes Menschen könnte die Existenz einer göttlichen Instanz extra nos überflüssig machen, also die Schöpfung ohne den Schöpfer denken. Im Gegensatz zum „säkularisierten“ Abendland, wo sich die Menschenwürde als Prinzip der Menschenrechte per se durchgesetzt hat, betont die Stellungnahme der ROK – wie andere Beiträge dieses Sammelbandes deutlich zeigen –, dass Menschenwürde eine Gabe Gottes darstellt. Gott hat uns Menschen nach seinem Bild erschaffen und uns die Möglichkeit eingepflanzt, ihm durch Tugend gleich zu werden. Dabei wird der Genesis-Vers 1, 27 in zwei Richtungen ausgelegt: 1. des Bildes Gottes im Menschen, eikón, das alle Menschen unabhängig von ihrem moralischen Status ontologisch besitzen – und 2. des Gleichnisses, homoíosis, das durch Pflege der Tugenden und Teilhabe an den Gnade vermittelnden Sakramenten noch zu erreichen und daher nicht allen Menschen eigen ist. Somit bildet die Menschenwürde kein Argument mehr, den Menschen selbst ins Zentrum eines Wertesystems zu stellen. Die Menschlichkeit, humanitas, artikuliert sich moralisch und relational im Horizont Gottes. Die Aussage der ROK ist somit, dass Menschen nur in ihrem sündenfreien Status die uneingeschränkte Fülle an Menschenwürde besäßen: Auf diese Weise hat der Begriff „Würde“ in der östlichen christlichen Tradition in erster Linie einen sittlichen Sinn. Deshalb sind die Vorstellungen darüber, was würdig ist und was nicht, mit dem sittlichen oder unsittlichen Verhalten eines Menschen und mit der inneren Verfassung seiner Seele eng verbunden. In Anbetracht der durch die Sünde verfinsterten Verfassung der menschlichen Natur ist es wichtig, das Würdige und das Unwürdige im Leben eines Menschen voneinander zu unterscheiden. […] Ontologisch führt ein sittlich unwürdiges Leben nicht zur Zerstörung der von Gott gegebenen Würde, aber es trübt sie so weit ein, dass sie kaum wahrnehmbar ist. Gerade deshalb bedarf es einer starken Willensanstrengung, um die natürliche Würde eines Schwerverbrechers oder eines Tyrannen zu sehen und erst recht, um sie anzuerkennen.8

Die Erläuterungen der ROK zum Thema „Menschenwürde“ schließen mit einer dialektischen Untermauerung der ontologischen Würde, die in Sittlichkeit Konkretisierung findet, also in moralischer Performanz: Die Bewahrung der gottgegebenen Würde und das Wachsen in ihr ist nach der orthodoxen Tradition abhängig vom Leben im Einklang mit den sittlichen Normen, denn diese Normen drücken die ursprüngliche und somit die wahre Natur des Menschen aus, die von keiner Sünde verfinstert wurde. Deshalb gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Würde des Menschen und der Sittlichkeit. Mehr noch, die Anerkennung der Würde einer Person bedeutet die Behauptung ihrer sittlichen Verantwortlichkeit.9

Das ist alles aus Sicht des orthodoxen Dogmas einwandfrei formuliert und wird in mehrheitlich orthodoxen Ländern wie Russland oder Rumänien kaum als problematisch wahrgenommen. Die russische Stellungnahme bezieht die Menschenwürde auf 8

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Rudolf Uertz und Lars P. Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, Übersetzung aus dem Russischen von Nadja Simon, Moskau 2008, 11 und 13; s. auch Anm. 3 oben. Uertz und Schmidt, Die Grundlagen, 14.

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die performative, leistungsabhängige Angleichung an Gott und nicht auf das ontologische Bild Gottes im Menschen – wie es z. B. die evangelische Theologie tut. Menschenwürde besitzen folglich alle Menschen nur de jure. De facto ist sie eigentlich performativ bedingt (etwa: nur in sittlich lebenden und handelnden Menschen ist eine Würde erkennbar). Das würde ferner die Ausgrenzung ganzer sozialer Segmente (Homosexuelle; Frauen, die abtreiben; Nicht-Christen usw.) bedeuten, die nach dieser Logik Sünder sind. Dass das Ganze nicht nur aus modern-säkularer, rechtsstaatlicher Perspektive, sondern auch nach Auffassung anderer christlicher Konfessionen so nicht bestehen kann, zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 2009 eine Stellungnahme veröffentlichte.10 Hier erklärte man, die Menschenwürde sei an sich wertvoll, sie sei an die einfache Existenz des menschlichen Individuums gebunden und könne daher keineswegs von Leistungen abhängen: Auch aus evangelischer Sicht ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen der zentrale Punkt für die Begründung seiner einzigartigen Würde und der Unverletzlichkeit der menschlichen Rechte. Die unantastbare und unveräußerliche Würde des Menschen liegt darin begründet, dass Gott den Menschen „zu seinem Bilde“ geschaffen hat, wie die Schöpfungsgeschichte erklärt (Gen 1, 27). Die Reformatoren haben die Menschenwürde deshalb immer relational als Ausdruck der menschlichen Existenz in Gegenüber und Beziehung zu Gott verstanden. Damit wird die Würde des Menschen nicht durch eigene Leistungen bestimmt, sondern allein durch Gottes Gnade, also eine Voraussetzung, die seiner Verfügung schlechterdings entzogen ist.11

Auch katholische Kreise tun sich mit der Stellungnahme der ROK schwer. Einerseits tendierten katholischen Theologen im Umfeld der Universität Fribourg, das Dokument wohlwollend aufzunehmen und zu verteidigen. Andererseits stellten sich katholische Gelehrten wie Ingeborg Gabriel einer solchen Unterstützung der russischen Auffassung durch Katholiken mit der Begründung entgegen, einer solchen Parteinahme wäre durch das 2. Vatikanum jegliche Legitimität und Argumentation entzogen worden.12 Aber auch die Rumänische Kirche geht auf Distanz zur russischen Position. Sie macht die Menschenwürde am ontologischen Bild Gottes und an dem daraus resultierenden Respekt gegenüber allen Menschen fest: Da es Träger des Bildes Gottes ist, besitzt jedes menschliche Wesen unabhängig vom Alter, von [sozialer] Lage und gesundheitlicher Verfassung eine reale Würde und fordert einen besonderen Respekt. Daher ist alles, was gegen das menschliche Wesen geschieht, gewissermaßen auch gegen den Willen Gottes gerichtet […] (Pentru că este purtătoarea chipului lui Dumnezeu, orice fiinĠă omenească, oricare ar fi vârsta, situaĠia sau starea fizică, deĠine o demnitate reală úi impune un deosebit respect. De

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Dazu auch Makrides, „Die Menschenrechte“, 299. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Menschenrechte und christliche Moral, Wien 2009; auch URL: http://www.leuenberg.eu/sites/default/files/doc-9805-2.pdf (besucht am 5. Juni 2013) 2. Vgl. Makrides, „Die Menschenrechte“, 300.

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Mihai-Dumitru Grigore aceea, tot ce este comis împotriva fiinĠei umane este comis, într-o anumită măsură, împotriva voinĠei lui Dumnezeu […])13

Die Notwendigkeit einer moralisch performativen Angleichung an Gott für die Menschenwürde wird somit stillschweigend abgelehnt. Leider befindet sich diese grundsätzliche Problematik in keiner programmatischen, direkten und prinzipiellen Stellungnahme wie im russischen Fall. Sie wurde mit Bewilligung der Heiligen Synode nur nebenbei in einer Resolution der „Nationalkommission für Bioethik der RumänischOrthodoxen Kirche“ im Juni 2004 erwähnt, die sich eigentlich der Abtreibung, der Euthanasie und der Organspende widmete.14 Wir haben es folglich mit einer konjunkturbedingten, pragmatischen Stellungnahme zu tun. Wie dem auch sei, die rumänisch-orthodoxe Polarität „Bild Gottes“ und „Respekt gegenüber Menschen“ ist vor allem theologisch problematisch, denn „Respekt“ ist kein christlicher bzw. biblischer Begriff: In der Luther-Bibel wie auch in der rumänischen Übersetzung kommt er nicht ein einziges Mal vor. Die christliche und biblische Konsequenz spräche eigentlich eher für die Polarität „Bild/Ebenbildlichkeit“ und „Liebe“. Die Wahl dieses Begriffs ist jedoch in diesem Falle verständlich, da die erwähnte Resolution der Kommission für Bioethik auch durch Mitwirken von Nicht-Theologen zustande kam. Außerdem erhob sie den Anspruch auf generelle gesellschaftliche Relevanz. Daher bedient sie sich nach Möglichkeit einer religiös neutralen Sprache. Dass jedoch die erwähnte Polarität „Ebenbildlichkeit“ und „Respekt“ theologisch nicht vertretbar ist, zeigt sich in einem anderen Dokument: Im Jahre 2008 schickte der rumänische Patriarch Daniel in eigenem Namen einen Begrüßungsbrief an die Teilnehmer des 11. Symposions für Menschenrechte an der Universität Iaúi. Darin zeigte er, dass die Menschenwürde auf der Qualität aller Menschen gründe, Träger des Bildes Gottes zu sein, ein Status, der gesellschaftlich und anthropologisch durch Nächstenbzw. Menschenliebe verwirklicht wird: In konkreten Situationen muss der Respekt für menschliche Würde und für Menschenrechte in konkrete sozial-philanthropische Taten und Programme übergehen. In diesem Sinne stellen die Kirchen an die Basis ihres Denkens das Evangelium der Liebe Christi für alle Menschen, eine Liebe, die auch zum Wertschätzungskriterium des menschlichen Lebens in der Geschichte wird, gemäß Matthäus 25, 31–46.

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Ortodoxia úi bioetica – RezoluĠii ale Sinoadelor Bisericii Ortodoxe Române úi Bisericii Ortodoxe Ruse privind probleme de bioetică [Orthodoxie und Bioethik – Resolutionen der Synoden der Rumänischen und Russischen Orthodoxen Kirchen zur Problemen der Bioethik], URL: http:// provitabucuresti.ro/docs/bioetica/bioetica.BOR.pdf (besucht am 5. Juni 2013) 2. S. auch URL: http://www.patriarhia.ro/ro/opera_social_filantropica/bioetica.html (besucht am 5. Juni 2013). Dazu auch Sebastian Moldovan, „Transplantul de organe ‫܈‬i argumentul cre‫܈‬tin-ortodox al iubirii“ [Organtransplantation und das christlich-orthodoxe Argument der Liebe], Revista română de bioetică 7/4 (2009) 84–95.

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(În situaĠii concrete, respectul pentru demnitatea umană úi drepturile omului se cere tradus în acĠiuni úi programe social-filantropice concrete. În acest sens, Bisericile au ca bază a gândirii lor Evanghelia iubirii lui Hristos faĠă de toĠi oamenii, iubire care devine úi criteriul evaluării vieĠii umane în istorie, cf. Matei 25, 31–46.)15

Die Menschenwürde entfalte sich also in der Liebe (und nicht bloß im Respekt), die alle Menschen indifferent der Religion oder der Moralität umschließt. Dies stellt jedoch wieder lediglich eine Stellungnahme des Patriarchen als Theologen und nicht als offiziellem Repräsentanten der Rumänischen Kirche dar: es ist also konjunkturell.

Vier Beispiele Die Stellungnahme gegen die Abtreibung In der erwähnten Resolution der Nationalkommission für Bioethik bezieht die Rumänische Kirche entschlossen Stellung gegen die Abtreibung, die nach orthodoxer Auffassung einem Mord gleicht. Die Rumänische Kirche besteht auf das Recht der Menschen zu leben und schafft – wie die Katholische Kirche auch – eine Hierarchisierung der Menschenrechte: Reproduktive Rechte (Abtreibung, Fertilisation in vitro) werden dem Recht auf Leben untergeordnet.16 Theologisch gesehen ist bereits der Embryo ein menschliches Individuum. Die Begründung lautet ferner: Der Mensch besitzt ein Recht auf Leben wie auf ein Geschenk aus der Hand Gottes. Abtreibung oder Euthanasie bedeuten die Verachtung Gottes. Gott „ist absoluter Herr über das Leben“. „Das Leben im Leib ist Leben einer Person. Über eine Person kann niemand nach Belieben verfügen“. 17 Zwischen den Zeilen gelesen, kann nicht einmal die jeweilige Person über sich selbst nach Belieben verfügen, etwa durch Selbstmord oder Euthanasie. Abtreibung ist demzufolge nicht zulässig, auch die verhütenden Maßnahmen nicht – außer dem Kondom.18 Es gibt jedoch Ausnahmen, wann die Abtreibung tolerierbar ist. Erstens, wenn das Leben der Mutter durch die Geburt gefährdet wird, sollte man statt dem Baby die Mutter vorziehen, denn von ihr hängen auch anderer Menschen Leben ab. Zweitens, wenn man vor der Geburt entdeckt, dass der Fötus genetische Anomalien aufweist, wird den Eltern die Entscheidung überlassen, ob sie das Kind noch wollen; es wird ihnen jedoch ausdrücklich empfohlen, das Kind doch zu bekommen.19 Mit Hinblick auf die moderne Debatte der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist diese Auffassung fragwürdig, denn es wird der Weg zur freien Entscheidung eröffnet, ob der kranke Fötus am Leben bleibt oder nicht. Es muss auch gesagt werden, dass die Rumänische Kirche gegen die Fertilisation in vitro ist, daher indirekt auch die klassische Praxis der PID ablehnt. Zusammenfassend, die Rumänische Kirche empfiehlt den 15 16 17 18 19

URL: http://www.patriarh.ro/Nou/Mesaje/mesaj%200010.html (besucht am 28. April 2014). Siehe den Beitrag von àukasz Fajfer in diesem Band. Vgl. Ortodoxia úi bioetica, 7. Ibidem, 5. Ibidem, 6.

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Verzicht auf Abtreibung, da das Leben nicht per se, sondern relational, als Geschenk Gottes wertvoll ist. Außerdem wird das Recht des Individuums auf Leben dem Gemeinwohl unterstellt. Es handelt sich um eine kumulative Logik, mehrere Leben wären wertvoller als ein einziges.

Ikonen und Kruzifixe in öffentlichen Institutionen Ebenso wie die ROK ist auch die Rumänische Kirche der Überzeugung, dass die religiösen Symbole der Mehrheit unantastbar sind und nicht nur eine religiöse, sondern auch eine öffentliche Relevanz besäßen. Die ROK hatte gesagt, dass die Menschenrechte den religiösen Werten der Orthodoxie unterstünden.20 In diesem Sinne sei das Entfernen von religiösen Symbolen (Ikonen, Kruzifixen) nicht durch das Menschenrecht auf religiöse Gleichheit oder durch das säkulare Prinzip der religiösen Neutralität zu rechtfertigen. Die Entfernung dieser Symbole aus öffentlichen Plätzen, Schulen, Parlamentskammern usw. gleiche aus orthodoxer Sicht einem Eingriff in die religiöse Freiheit. Denn Ikonen oder Kruzifixe erfüllten vornehmlich die Funktion einer öffentlichen Bezeugung kollektiver Identität und des Glaubens. Öffentliche Verkündigung gehöre zum Wesen des Christentums. Verbot der Verkündigung sei gleich Verbot des Auslebens eines religiösen Glaubens, also Menschenrechtsverletzung.21 Nur weil in einer Schulklasse ein einziger nicht-christlicher oder nicht-orthodoxer Schüler sitze, sei dies – nach dem so oft in orthodoxen Ländern anzutreffenden Proportionalitätsargument22 – immer noch kein Grund, den anderen neunundzwanzig Schülern die öffentliche Kundmachung ihrer religiösen Werte, Angehörigkeit und Identität zu verwehren. Die Rumänische Kirche stellte sich vehement gegen den International Religious Freedom Report 2008 des amerikanischen State Department23, wo sie wegen diesen Aussagen stark in die Kritik geriet. In diesem Zusammenhang ist auch die damalige, äußerst gereizte Reaktion der Rumänischen Kirche vom 21. November 2009 gegenüber einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verorten.24 Dieser stufte die Präsenz christlicher Symbole in einer italienischen Schule als unzulässig ein.25

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Vgl. Uertz und Schmidt (Hg.), Die Grundlagen, 19ff. Vgl. Radu Preda, „Ortodoxia úi drepturile omului“ (IV) [Orthodoxie und Menschenrechte], URL: http://radupreda.blogspot.com/2009/07/ortodoxia-si-drepturile-omului.html (besucht am 28. April 2014). Vgl. URL: http://patriarhia.ro/o-abordare-superficiala-si-agresiva-cu-privire-la-viaa-religioasadin-romania-1521.html (besucht am 28. April 2014). Vgl. URL: http://www.state.gov/g/drl/rls/irf/2008/108467.htm (besucht am 28. April 2014). Vgl. URL: http://stiri.lacasuriortodoxe.ro/news/invatamant-seminarii-facultati/1341-patriarhia-ro mana-considera-nedreapta-recenta-hotarare-a-curtii-europene-a-drepturilor-omului-cedo-privind -indepartarea-crucifixelor.html (besucht am 28. April 2014). Vgl. URL: http://voxpublica.realitatea.net/life/icoanele-din-scoli-incalca-drepturile-omului-a-de cis-cedo-12377.html (besucht am 28. April 2014).

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Das Kultusgesetz vom Dezember 2006 Die Notwendigkeit eines eigenständigen Kultusgesetzes in Rumänien wurde mehrmals in Frage gestellt, denn die religiösen Rechte sind bereits im Grundgesetz klar untermauert. Trotzdem drangen die großen Kirchen Rumäniens – neben der Orthodoxen auch die Katholische und Griechisch-Katholische Kirche –26 darauf, dass die Definition, die Rechte und Pflichten eines Kultes gesetzlich geregelt werden, also ein Kultusgesetz erlassen wird. Denn mit einer solchen gesetzlichen Regelung hängen auch die finanziellen Zuwendungen des Staates an religiöse Gemeinschaften zusammen. Außerdem wird der Proselytismus durch Scientologen, Zeugen Jehovas, Mormonen, Evangelikale usw. unterbunden, ein wichtiges Problem, mit dem sich die traditionellen Kirchen Rumäniens konfrontiert sehen. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die großen Kirchen auch miteinander Probleme hatten. Die Rumänische Kirche hat lange Zeit die Verhandlungen zum neuen Gesetzentwurf blockiert, weil sie darauf bestand, im Text expressis verbis als „Nationalkirche Rumäniens“ bezeichnet zu werden. Diese Bezeichnung blieb ihr jedoch verwehrt aufgrund des starken Widerstands aller anderen religiösen Gemeinschaften; das Gesetz erwähnt trotzdem an separater Stelle ausdrücklich die herausragende Bedeutung der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, was die anderen Kulte freilich stört und das Grundrecht auf religiöse Gleichstellung relativiert: Der rumänische Staat erkennt die wichtige Rolle der Rumänisch-Orthodoxen Kirche und aller anderen Kirchen und Kulte an, welche im Laufe der Nationalgeschichte Rumäniens und im Leben der rumänischen Gesellschaft anerkannt wurden. (Statul român recunoaúte rolul important al Bisericii Ortodoxe Române úi al celorlalte Biserici úi culte recunoscute în istoria naĠională a României úi în viaĠa societăĠii româneúti.)27

Die gesetzlich nicht zulässige Formulierung „Nationalkirche“ wird in den Dokumenten der Rumänischen Kirche weiterhin benutzt und aufrechterhalten, manchmal direkt, manchmal dissimuliert in „Kirche des rumänischen Volks“ („Biserica neamului românesc“), zum Beispiel in einer Erklärung der Heiligen Synode vom Jahre 2010.28 Dabei wird unterschwellig das nationale Narrativ am Leben erhalten, dass nur, wer rumänisch-orthodox sei, dem rumänischen Volk angehöre.29

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Die Reformierte Kirche wird hier nicht berücksichtigt, denn bei der letzten Volkszählung von 2011 sich nur 3% der rumänischen Bürger als Reformierte Christen meldeten. Rumänisches Gesetz 489/2006, Kap. II, Art. 7(2), URL: http://www.crestinism-ortodox.ro/TEX TE/LegeaCultelor-Nr489-2006.pdf (besucht am 28. April 2014). Vgl. URL: http://www.patriarhia.ro/_upload/documente/12659590116712358431.pdf (besucht am 5. Juni 2013). Vgl. Sandu Frunză, Statul naĠional úi politicile multiculturale [Der Nationalstaat und die multikulturelle Politik], URL: http://jsri.ro/ojs/index.php/jsri/article/viewFile/133/133 (besucht am 28. April 2014), 60ff.

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Die Abschiebung der rumänischen Roma aus Frankreich Dieser Skandal, der 2010 sogar Spannungen zwischen Frankreich und der Europäischen Kommission wegen Verletzung der Menschenrechte hervorgerufen hat, veranlasste auch alle orthodoxen Bischöfe Frankreichs zur Stellungnahme. Emblematisch ist hierbei, dass der Pariser Metropolit der Rumänischen Kirche in Frankreich, Iosif (Ilie) Pop, vom Patriarchat in Bukarest beauftragt wurde, sich einzuschalten. Auch wenn die betroffenen Roma rumänische Bürger und in Rumänien gemeldet waren und noch sind, nahm sich damals das Patriarchat in der Heimat nicht die Zeit, sich mit ihrem Problem auseinanderzusetzen. Das Bukarester Patriarchat forderte unter dem Vorwand, die Sache sei in Frankreich eskaliert und demnach Angelegenheit der dortigen Metropolie, dass der Metropolit Iosif Stellung beziehe: Weil sich der Sitz der Rumänisch-Orthodoxen Metropolie West- und Südosteuropas in Paris befindet und sich von hier über ganz Frankreich seine Pastoraljurisdiktion erstreckt, hat man es für effizienter empfunden, dass die Stellungnahme des Rumänischen Patriarchats gegenüber der Abschiebung der Roma aus Frankreich lieber von Seiner Hochheiligkeit, dem Metropoliten Iosif, Mitglied der Heiligen Synode der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, geäußert werden soll. Demzufolge hat Seine Hochheiligkeit, Metropolit Iosif, zusammen mit den orthodoxen Bischöfen Frankreichs [also nicht allein und im eigenen Namen – MDG], folgende öffentliche Stellungnahme zum Problem der Roma-Abschiebung verkündet […]. (Întrucât Mitropolia Ortodoxă Română a Europei Occidentale úi Meridionale are sediul la Paris úi jurisdicĠie pastorală în toată FranĠa, s-a apreciat că este mai eficient ca punctul de vedere al Patriarhiei Române în problema expulzării romilor de pe teritoriul FranĠei să fie exprimat de către ÎnaltpreasfinĠitul Părinte Mitropolit Iosif, membru al Sfântului Sinod al Bisericii Ortodoxe Române. Ca atare, împreună cu episcopii ortodocúi din FranĠa, ÎnaltpreasfinĠitul Părinte Mitropolit Iosif a adoptat următoarea poziĠie publică în problema expulzării romilor […].)30

Es scheint eher, dass die Rumänische Kirche die gesamte Geschichte als lästig empfand. Obwohl nur Rumänien und Rumänen betreffend, wurde die menschenrechtsfeindliche Abschiebung der Roma aus Frankreich am 17. September 2010 durch eine Erklärung aller orthodoxen Bischöfe in Frankreich verurteilt. Also kein direktes, eigenes und entschlossenes Engagement der Rumänischen Kirche, was allerdings von der rumänischen Zivilgesellschaft scharf kritisiert wurde.31

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Dazu URL: http://basilica.ro/stiri/bdrept_la_replica_doamna_mungiu_vorbe_fara_fapteb_1147. html (besucht am 28. April 2014). Alina Mungiu-Pippidi, „Papa, catedrala úi Ġiganii“ [Der Papst, die Kathedrale und die Zigeuner], România Liberă, 23. September 2010, URL: http://www.romanialibera.ro/ opinii/comentarii/papacatedrala-si-tiganii-200409.html (besucht am 28. April 2014).

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Schlussbetrachtungen Im Bewusstsein, dass sie in einer sich modernisierenden Gesellschaft an den Rand öffentlicher Relevanz verdrängt wird, bemüht sich die Rumänische Kirche, ihre soziale Präsenz durch Beteiligung an aktuellen Thematiken stark zu machen. Dies zeigt sich einerseits durch Bildung kirchlich-laikaler Kommissionen zur Besprechung von konkreten gesellschaftlichen Themen wie bioethischen Fragen. Andererseits strebt die Rumänische Kirche in solchen Belangen eine möglichst religiös neutrale Sprache und Logik an, die ich exemplarisch an der Polarität zwischen „Menschenwürde“ und „Respekt“ statt „Menschenwürde“ und „Menschenliebe“ zeigte. Die Rumänische Kirche weist folglich geringere Berührungsängste zur säkularen Begrifflichkeit auf als die ROK und verzichtet, wenn nötig, auf eine theologische Sprache. Die theologische Leistung der Rumänisch-Orthodoxen Kirche ist an dieser Stelle zu würdigen: Die theologische Rede über die Liebe als Medium der Menschenwürde und der Wahrnehmung des Bildes Gottes in Mitmenschen wird leider ausschließlich in persönlichen Stellungnahmen mancher Theologen angesprochen, obwohl sich die Liebe als Erfahrung und Leben prägendes existenzielles Ereignis viel konkreter als die abstrakte und nur den Christen zugängliche Vorstellung von der Ebenbildlichkeit Gottes herausstellt. Solche Sachverhalte sind in offiziellen Stellungnahmen quasi abwesend. Ad ultimum gedacht, brechen alle abstrakten Konstruktionen in sich zusammen, während die Liebe als nicht-rationale und nicht-sprachliche Erfahrung allen Menschen zugänglich ist. Die Christen erleben allein in der Liebe die Gegenwart bzw. Präsenz Gottes, denn „Gott ist die Liebe“ (1. Joh 4, 8). Statt sich mit Prinzipien zu beschäftigen, zieht es die Rumänische Kirche vor, die Menschenrechtsdiskussion auf konkrete Fälle anzuwenden, was ich als eine pragmatische Haltung betrachte, die in gewisser Hinsicht mehr Aussicht auf Effizienz verspricht. Diese Art von Auseinandersetzung geschieht einerseits nicht programmatisch, prinzipiell, theoretisch, direkt und gezielt, sondern eher als Reaktion auf unterschiedliche Herausforderungen und Lebenssituationen. Andererseits droht das Vermeiden von theoretischen Problematisierungen zu einer gewissen „Verdünnung“ und Inkonsistenz der Argumentation zu führen, indem man eben ganz zentrale Dimensionen des christlichen Ethos bzw. der Theologie aus dem Blick verliert. Obwohl die Rumänische Kirche auf die lange Tradition der „Menschenrechte im Christentum“ anspielt – auch in der katholischen Tradition ein beliebter Topos –, bemerkt man bei näherer Betrachtung, dass sie eine zwiespältige Haltung gegenüber Menschenrechten aufweist. Einerseits versucht man, nicht indifferent an ihnen vorbei zu sehen. Auf der anderen Seite zeigt man durch die Überbetonung des christlichen Ursprungs der Menschenrechte eine unterschwellige Bagatellisierung der weltlichen, aufklärerisch-säkularen Menschenrechte. So unterstellt man dieser weltlichen Auffassung von Menschenrechten eine gewisse Überflüssigkeit und Redundanz eines Diskurses, der im Grunde wenig Neues biete, außer der Entleerung von jeglichen religiös-

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transzendenten Inhalten. Diese Haltung zeigt sich meines Erachtens auch in der selektiven Beteiligung an Problemen, wie im Fall der rumänischen Sinti und Roma in Frankreich. Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche wie auch die ROK zeigt sich nicht selten besorgt, dass die säkular geprägten Menschenrechte zur Alternative des christlich-orthodoxen Angebots werden könnten. Menschenrechte können gewissermaßen auch als politische Religion aufgefasst werden, die sich sowohl transpersoneller Begriffe wie „Menschenwürde“ bedient, institutionell im Recht, in Behörden, Ämtern, Vereinen usw. angelegt ist und sich zur Verbindlichkeit eines eigenen Wertesystems bekennt. Die vorigen Beispiele zeigen, dass die Rumänische Kirche noch nicht ausreichend mit manchen Herausforderungen der Moderne, wie Pluralismus, Multikulturalismus oder Individualität umzugehen weiß. a) Am Beispiel der Zulässigkeit von Abtreibung zeigte ich, dass die Rumänische Kirche immer noch ein problematisches Verständnis für menschliche Individualität aufbringt. Das Individuum wird grundsätzlich als Teil der Gemeinschaft angesehen, also individuelle Bedürfnisse werden gemeinschaftlichen Interessen unterstellt. b) Am Beispiel der Ikonen in öffentlichen Institutionen und des damit verbundenen Proportionalitätsarguments zeigte ich, dass Gleichberechtigung in einer pluralisierten, gestuften und ausdifferenzierten Gesellschaft für die Rumänische Kirche nicht ernsthaft ein Thema bildet. Es besteht weiterhin das Ideal einer gesellschaftlichen Nivellierung und Homogenisierung, welche die Rechte an dem Mehrheitscharakter einer Glaubensgemeinschaft fest macht. Auch wenn Minderheiten nicht direkt bekämpft werden, werden sie beispielsweise durch das Bestehen auf die Rechte der Mehrheit einfach übergangen. Dies ist auch der Fall des nationalbewussten Selbstverständnisses, das von der Rumänischen Kirche als „Nationalkirche Rumäniens“ an den Tag gelegt wird. c) Am selben Beispiel der Ikonen und Kruzifixe zeigte ich, dass sich die Rumänische Kirche vom Prinzip des modernen Staates, der auf seine religiöse Neutralität und Äquidistanz besteht, nicht wirklich angesprochen füllt. Verbot von christlichen Symbolen in Öffentlichkeit wird als Einschränkung religiöser Freiheit betrachtet und somit als Verletzung der Menschenrechte. Wenn nicht reaktiv, so ist die Position der Rumänischen Kirche zu Menschenrechten zumindest konjunkturbedingt. Trotz elf Symposien des „Rumänischen Instituts für Menschenrechte“ zusammen mit der Universität Jassy kann man nicht behaupten, dass sich die Kirche in ihrer Gesamtheit, als Institution, der Menschenrechte wirklich angenommen hätte. Sie bleiben weiterhin ein nach Bedarf aktivierbares Thema akademi scher Beschäftigung und politischer Handlung im regionalen Kontext. Die wenigen Ergebnisse solcher Auseinandersetzungen erreichen die breite rumänische und europäische Öffentlichkeit sowieso nicht.

Anerkennung und Theologie der Menschenrechte in der Katholischen Kirche Ingeborg Gabriel In its first part, this chapter describes the long way towards recognition of human rights by the magisterium of the Catholic Church, their rejection being partly the result of the secularist excesses of the French Revolution and partly of an outright rejection of modernity. This was mainly because the right of religious freedom collided with the status of a state church. In the wake of the atrocities of various brands of totalitarianism during the 20th century the Pastoral Constitution “Gaudium et spes” and The Declaration on Religious Freedom “Dignitatis humanae” of Vatican II introduced a new line of theological argumentation. Civil liberties are now seen as the obligatory basis of a more humane society. Theologically, this is based on the universal notion of human dignity, which however, as the chapter argues, has to be complemented by additional theological reflections and elements. Under modern conditions human rights must constitute a central part of a Christian ethos of justice embedded in an eschatological theology for which the temporary political order will be completed in the full justice of the Kingdom of God. This has important ethical implications for the Christian engagement in society.

Zur Einleitung In seiner Hale Memorial Sermon zum Thema Social Teaching in Modern Russian Orthodox Theology aus dem Jahre 1934 verglich Sergej Bulgakov die Begegnung von Christentum und moderner Welt mit der Begegnung mit einer Sphinx.1 Wie diese gäbe die Moderne allen, die mit ihr in Kontakt kommen, Rätsel zu lösen auf. Gelinge ihnen dies nicht oder verweigern sie die Antwort, werden sie von dem mythischen Wesen lebendig verschlungen. Die Metapher zeigt auf eindringliche Weise die Bedeutung der theologischen wie ethischen Auseinandersetzung mit der modernen Welt, ihren theoretischen Grundlagen und praktischen Erfindungen für jede christliche Theologie. Nur auf der Basis der so gewonnenen Erkenntnisse ist es möglich, die christlichen Wahrheiten in dieser Zeit angemessen zur Sprache zu bringen.2 Dies stellt alle christlichen Konfessionen vor beachtliche geistige und intellektuelle Herausforderungen, die nicht weniger anspruchsvoll sind als jene, mit denen sich das Frühchristentum in den ersten Jahrhunderten konfrontiert sah. Die theologische Inkul-

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Sergej Bulgakov, Social Teaching in Modern Russian Orthodox Theology (Annual Hale Memorial Sermon 20), Evanston, Illinois 1934, 10. Eben dies war das Ziel des aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils. Programmatisch findet es sich in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) mit dem Titel „Die Kirche in der Welt von heute“.

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turation in zeitgenössische, ihrerseits plurale Kontexte verlangt vielfältige Unterscheidungen entsprechend dem Wort des Apostels Paulus: „Prüft alles, und behaltet das Gute“ (1 Thess 5, 21). Werden wichtige Zeitfragen ausgeblendet oder versucht man, sich durch simple anti-moderne Positionierung der Argumentation zu entziehen, dann verliert die Theologie ihre Kraft und Bedeutung. In biblischen Worten: Das Salz wird schal. Dies wiederum wirkt sich notwendig negativ auf das christliche aber auch auf das gesellschaftliche Leben insgesamt aus. Eine Theologie, die sich der modernen Welt gegenüber rein abgrenzend verhält, verfällt zudem leicht in Dualismen. Dies kann in einer Ekklesiozentrik seinen Ausdruck finden, insofern die Kirche ihren Standort in der Welt nicht mehr mitreflektiert, oder in einer jenseitsorientierten individualistisch verengten Glaubenssicht, in der die Rettung der eigenen Seele zum eigentlichen Ziel christlicher Existenz wird. Beides – so Bulgakov – erweise sich als eine Folge des Verlusts jener umfassenden Zielperspektive, die biblisch in der eschatologischen ReichGottes-Botschaft Jesu vermittelt wird. In der in jeder ihrer Phasen neu zu führenden Auseinandersetzung mit der Moderne in ihren vielfältigen Dimensionen kommt den Menschenrechten als ihrem zentralem politisch-rechtlichem Konzept besondere Bedeutung zu.3 Dies umso mehr als sich in ihnen die ethische Grundinspiration dieser Moderne politisch konkretisiert, wonach das eigene wie das fremde Leiden, gelindert ja so weit wie möglich überwunden werden soll.4 Gerade an dieser grundlegenden Zielbestimmung der Verringerung von vermeidbarem Leiden zeigt sich im Übrigen ihr Naheverhältnis zum Christentum, dessen Ethik der Nächstenliebe und Gerechtigkeit hier - wenn auch mit anderen Gewichtungen – übernommen wird.

Der lange Anweg zur Anerkennung durch das katholische Lehramt In einem sich mit der orthodox-theologischen Positionierung gegenüber den Menschenrechten befassenden Band scheint es angebracht, zum einen die philosophische und rechtliche Konzeption der Menschenrechte kurz zu reflektieren, sowie einen Überblick über den Anweg bis hin zu ihrer Anerkennung durch die Katholische Kirche zu geben. Ersteres, weil die Mehrdimensionalität des Konzepts, das in der Ethik wurzelt, aber zugleich über das Recht tief in den politischen Bereich hineinwirkt, ein hohes Maß an Interdisziplinarität verlangt und es aufgrund der Sprachbarrieren zwischen Theologie, Ethik, Recht und Politikwissenschaften hier häufig zu Missverständnissen kommt.

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Vgl. dazu die Beiträge von Konstantinos Delikostantis, „Die Menschenrechte aus orthodoxer Sicht“, Ulrich H.J. Körtner, „Protestantismus und Demokratie“ und Rudolf Uertz, „Das Ringen der Katholischen Kirche um die Demokratie“, in: Ingeborg Gabriel (Hg.), Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern 2008, 81–98; 146–171; 172–194. Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1994, 17.

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Sozialethisch werden die Menschenrechte als jedem Menschen von Natur zukommende Rechte verstanden, die über verfassungsmäßig garantierte Grundrechte in das positive Recht überführt werden sollen. Sie zielen demnach darauf ab, allen Bürgern gleiche Rechte im und gegenüber dem Staat zu sichern. Geschützt werden sollen vor allem die physische Integrität sowie Gewissensüberzeugungen. Willkürliche obrigkeitliche Akte, wie Verhaftungen und Enteignungen, Folter und Gewissenszwang sollen auf diese Weise durch ein rechtliches Verbot verhindert werden. Rechtsgarantien sollen es über einen Instanzenzug dem Einzelnen zudem ermöglichen, sich gegen Übergriffe des Staates und seiner Organe effektiv zur Wehr zu setzen. Freiheitsrechte als Abwehrrechte haben damit den rechtlich einklagbaren Schutz des Individuums im Falle von Unrechtbehandlung durch staatliche Autoritäten zum Ziel. Ihre anthropologische Grundlage bildet die Verletzbarkeit des Menschen, ihre damit verbundene ethische Basis seine Schutzwürdigkeit als Person. Die Forderung nach Schutz menschlicher Würde ist dabei keine Idee der Philosophie der Aufklärung, sondern jeder Form des Rechts, wiewohl im Christentum die Gleichheit eine besondere Rolle spielt. Das Neue in der Aufklärungsphilosophie ist jedoch, dass nun diese von Natur gegebenen Rechte rechtlich positiviert und zur Grundlage der Staatsordnung gemacht werden sollen. Moralische Gebote sollen verrechtlicht und in verfassungsmäßig garantierte Grundrechte, die judiziell durchgesetzt werden können, umgewandelt und zur Grundlage der rechtlichen Ordnung werden. Die Menschenrechte als philosophisches Konzept haben demnach ein Janusgesicht: Sie sind sowohl der Moral als auch dem Recht und damit zugleich dem Politischen zugewandt.5 Die Anerkennung der Freiheitsrechte erfolgte historisch zusammen mit jener der demokratischen Partizipationsrechte. Diese beiden Arten von Menschenrechten sind auch systemisch aufeinander bezogen insofern demokratisch legitimierte Regierungen, die sich Wahlen stellen müssen, eher dazu angehalten werden können, Freiheitsrechte im Sinne einer Machtbegrenzung effektiv zu respektieren. Die damit verbundene Begrenzung politischer Macht vollzog sich historisch in zwei Etappen: Im Zuge der nationalen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden in den Vereinigten Staaten sowie in den meisten europäischen Staaten nationale Verfassungen mit Grundrechtskatalogen durchgesetzt, deren Kern die Freiheits- und demokratischen Partizipationsrechte bildeten. Konkret verlief dieser politische Prozess freilich in verschiedenen Regionen höchst unterschiedlich. Dies galt besonders in Bezug auf das Verhältnis zur Religion. Die amerikanische Virginia Bill of Rights, die im Zuge der Amerikanischen Revolution von 1776 verabschiedet wurde, war hier um vieles religionsfreundlicher als die nur kurze Zeit später verabschiedete Erklärung der Droits de l’homme et du citoyen von 1789, die zum Vorbild vieler kontinentaleuropäischer Verfassungen wurde und religionsfeindlich war.6 Anders als die amerikanische

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Jürgen Habermas, „Zur Legitimation durch Menschenrechte“, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, 170–194, hier 171. Zu den verschiedenen Ausprägungsformen der Moderne vgl. Gertrude Himmelfarb, The Roads to Modernity. The British, French and American Enlightenments, New York 2005.

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Menschenrechtserklärung war sie „menschenrechtlich wie auch totalitär“ – so der französische Historiker François Furet – und vertrat einen ideologischen Säkularismus.7 Die Erinnerungen an die atheistischen Exzesse der Französischen Revolution und die damit verbundenen Kirchenverfolgungen wirkten in der Katholischen Kirche lange nach. Sie verdunkelten den humanistischen und damit auch christlichen Gehalt der Menschenrechtsidee und waren ein Grund für die strikte kirchliche Ablehnung im 19. Jahrhundert. Ein zweiter Grund war, dass für die katholischen Autoritäten die enge Bindung von Thron und Altar zu einem wesentlichen Element kirchlichen Selbstverständnisses geworden war und sie die privilegierte Stellung als Staatsreligion nicht aufgeben wollten. In der langen konstantinischen Epoche seit dem 4. Jahrhundert hatte man gleichsam vergessen, dass das Christentum nicht als Staatsreligion begonnen hatte und eine staatskirchliche Stellung nicht zu seinem Wesen gehörte, sondern dass sie vielmehr Ausdruck einer spezifischen historischen Konstellation war. Die lehramtlichen Begründungen für die Ablehnung der Menschenrechte und damit der politischen Kultur der Moderne durch die Katholische Kirche im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts argumentierten im Wesentlichen mit der behaupteten Inkompatibilität zwischen dem modernen politischen Freiheitsverständnis mit seinen Forderungen nach Meinungs-, Presse-, Gewissens- und Religionsfreiheit und einem katholischen Staatsverständnis.8 Papst Leo XIII. (1878–1903) schärfte dann die rigide Position seiner Vorgänger ab und anerkannte in der Enzyklika Rerum novarum von 1891 die sozialen Menschenrechte (ohne diese freilich so zu benennen) wie auch einzelne Freiheitsrechte, wie das Versammlungs- und Streikrecht der Arbeiter.9 Zudem sollten sich Katholiken demokratisch engagieren, um die Interessen der Kirche zu schützen und zu einer dem Gemeinwohl entsprechenden Sozialgesetzgebung beitragen. Die politische Durchsetzung der ersten Elemente eines Sozialstaats am Ende des 19. Jahrhunderts in mehrheitlich katholischen Ländern wurde so wesentlich von christlich-sozialen Parteien mitgestaltet. Katholische Theologen suchten zudem bereits seit

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François Furet, Das Ende einer Illusion, München 1996, 8; ähnlich Samuel N. Eisenstadt, Die Antinomien der Moderne. Die jakobinischen Grundzüge der Moderne und des Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1998. Vgl. Ingeborg Gabriel, „Freiheit“, in: Bertram Stubenrauch/Andrej Lorgus (Hg.), Handwörterbuch Theologische Anthropologie, Freiburg 2013, 249-256. Russisch: dies., „Swoboda“, in: Bertram Stubenrauch/Andrej Lorgus (Hg.), Bogoslovskaja antropologija, Moskwa 2013, 72–78. Vgl. Rerum novarum (Leo XIII. 1891), wie alle weiteren lehramtlichen Texte zit. nach: Bundesverband der katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (Hg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, 9. erw. Auflage, Waldmünchen 2007, ebenso: URL: http://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/encyclicals/documents/ hf_l-xiii_enc_15051891_rerum-novarum_en.html (Zugriff am 28.10.2013).

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Beginn des 19. Jahrhunderts, Brücken zwischen modernen Freiheitsrechten und christlicher Theologie zu schlagen.10 Bis zum Zweiten Vatikanum standen sie jedoch unter Verdacht, damit falschen modernistischen Ideen Vorschub zu leisten.11 Die lange Zeit der Ablehnung der modernen Freiheitsrechte durch das katholische Lehramt hatte höchst negative Rückwirkungen sowohl für die Gesellschaft wie auch für die Katholische Kirche selbst, da ihre anti-moderne Haltung den Widerstand gegen totalitäre und autoritäre Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend schwächte. Dies war umso tragischer, als die Kirche dem Rechtsstaat und der Demokratie keine überzeugenden Alternativen entgegensetzen konnte. Die den Konfessionsstaat stützende (absolutistische) Monarchie war eindeutig passé und eine tendenziell ablehnende bzw. neutrale lehramtliche Haltung im Hinblick auf die Staatsform unterstützte implizit faschistische Regierungen. Dies stellt bis heute vor die beklemmende Frage: Wäre die schreckliche Geschichte Europas im 20. Jahrhundert mit ihren Millionen und Abermillionen durch Staatsterror Ermordeten anders verlaufen, hätte sich das katholische Lehramt bereits im 19. Jahrhundert klar für Menschenrechte und Demokratie ausgesprochen? Hat sich die Katholische Kirche, indem sie in ihrer anti-modernen, menschenrechts- und demokratieskeptischen Haltung verharrte – trotz der vielen christlichen Märtyrer dieser Zeit und der Initiativen zur Unterstützung von Verfolgten – nicht einer schweren Unterlassung schuldig gemacht? Wie alle hypothetischen historischen Fragen muss auch diese notwendig unbeantwortet bleiben. Sie stellt jedoch einen Stachel im Fleisch der Kirche dar, umso mehr als diese Absenz auch den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft verringerte und zur Säkularisierung beitrug. Darin zeigt sich im Übrigen, dass lehramtliche wie theologische Positionen im Hinblick auf die politische Kultur alles andere als ein folgenloses Glasperlenspiel sind. Die zweite Phase der Menschenrechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog nach den Gräueln zweier Weltkriege und jener totalitären Menschenverachtung, die in KZ’s und Gulags ihren schrecklichsten Ausdruck fand, eine Umkehr. Um eine Wiederholung derartiger Zustände zu verhindern, griff man auf die Menschenrechte als grundlegende Schutzrechte und Rückgrat der internationalen Ordnung zurück. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist das Resultat dieser politischen Neuausrichtung.12 Auch für die Katholische Kirche leiteten diese Erfahrungen einen Wandel ein. Eine kirchenoffizielle Kursänderung findet sich erstmals in der

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Vgl. Wilhelm Dantine/Eric Hultsch, „Tübinger Schule“, in: Carl Andresen/Adolf M. Ritter (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, 3. Bd., 2. Auflage, Göttingen 1998, 304-309. Zur Geschichte vgl. Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789– 1965), Paderborn 2005. Völkerrechtlich verbindlich sind die Internationalen Pakte von 1966 (in Kraft seit 1976), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, vgl. Bruno Simma (Hg.), Menschenrechte – ihr internationaler Schutz, 6. Auflage, München 2010, 44–59; 87–95, ebenso: URL: http://www.institutfuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr _de.pdf (Zugriff am 31.10.2013) und URL: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/filead

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Weihnachtsbotschaft Papst Pius XII. von 1944, in der er von den Rechten der Person spricht.13 Eine Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erfolgte dann mit der Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. im Jahre 1963.14 Diese wurden dann als Teil der lehramtlichen Sozialverkündigung in die Texte des Zweiten Vatikanums übernommen. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes sowie die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae gehen von einem menschenrechtlichen Ansatz aus.15 Wie schwierig der Weg zu einem innerkirchlichen Konsens hier war, zeigt sich daran, dass die von der römischen Kurie verfassten konziliaren Vorbereitungspapiere im Hinblick auf die Religionsfreiheit als dem eigentlichen Stolperstein für die Anerkennung an einer selektiven „Zwischenposition“ festhielten.16 Katholiken sollten demnach in jenen Staaten, in denen sie in der Minderheit waren, volle Religionsfreiheit genießen. In Ländern mit katholischer Mehrheit sollte die Katholische Kirche jedoch ihre staatskirchlichen Rechte und Privilegien behalten. Diese eigenartig verquer anmutende Position wurde theologisch damit begründet, dass die (katholische) Wahrheit andere Rechte habe als der Irrtum, eine Position, die freilich nicht auf die Katholische Kirche beschränkt war und ist, sondern sich auch in anderen Religionsgemeinschaften findet.17 Sie wurde nicht zuletzt aufgrund der theologischen

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min/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICESCR/icescr_de.pdf (Zugriff am 30.10. 2013). „Weihnachts-Rundfunkbotschaft“ (Pius XII. 1944), zit. nach: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, vgl. URL: http:// www.iupax.at/index.php/liste-soziallehre/142-1944-pius-xii-weihnachtsrundfunkbotschaft.html (Zugriff am 28.10.2013). Zu den theologischen Grundlagen, vgl. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 363–405. Vgl. Pacem in terris (Johannes XXIII. 1963), Nr. 143, vgl. URL: http://www.vatican.va/ holy_father/john_xxiii/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem_en.html (Zugriff am 28.10.2013). Die theologischen Grundlagen dafür waren in der Zwischenkriegszeit gelegt worden. Vgl. Dignitatis Humanae – Erklärung über die Religionsfreiheit (1965) mit Kommentar, zit. nach: Lexikon für Theologie und Kirche 13 (1967) 704–747. Vgl. auch URL: http://www.Vatican.va/ archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651207_dignitatis-humanae_ ge.html (Zugriff am 28.10.2013). Zum Thema Religionsfreiheit vgl. folgende neue Veröffentlichungen: Eberhard Schockenhoff, „Das Recht, ungehindert die Wahrheit zu suchen. Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae“, in: Jan-Heiner Tück (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, 2. Auflage, Freiburg/Basel/Wien 2013, 701–742; Marianne Heimbach-Steins, „Religionsfreiheit Katholisch“, in: dies., Religionsfreiheit. Ein Menschenrecht unter Druck, Paderborn 2012, 53–68; weiters: Heiner Bielefeldt, „Die Religionsfreiheit – ein vielfach missverstandenes Menschenrecht“, in: Wolfram Karl (Hg.), Österreichisches Institut für Menschenrechte: Religionsfreiheit im Zeichen der Globalisierung und Multikulturalität, Wien 2013, 3–48. Vgl. Josef Isensee, „Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 154; Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Überlegungen zu einer Theologie des modernen säkularen Rechts (2002)“, in: ders., Kirche und christlicher Glaube

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wie praktischen Inkohärenz mit der Erklärung Dignitatis humanae aufgegeben. Diese löste den gordischen Knoten von Wahrheitsanspruch und Glaubensfreiheit neu und theologisch durchaus überzeugend.18 Wesentlich daran ist, dass die theologisch durch die ganze Geschichte hin anerkannte notwendige Freiheit des Glaubensaktes nun auch als bestimmend für das Recht angesehen und so gewissermaßen auf die rechtliche Ebene transponiert wird. Die Religionsfreiheit ist als ein staatsbürgerliches Recht anzuerkennen, weil so die Freiheit des Glaubensaktes am besten rechtlich abgesichert und damit effektiv gewährleistet werden kann (DH 2). Der Staat und seine Organe sind aus diesem Grund verpflichtet, nicht in die Glaubensentscheidung ihrer Bürger und Bürgerinnen einzugreifen (DH 4; 10). Diese müssen sich vielmehr frei und ohne äußere Repressionen für oder gegen eine bestimmte Religion (oder jede Form von Religion) entscheiden können. Der Staat hat nur dort das Recht, der religiösen Praxis Grenzen zu setzen, wo diese das Gemeinwohl gefährdet (DH 7). Die Erklärung begründet den Wandel in der kirchlichen Position damit, dass das Recht auf Religionsfreiheit durch „die menschliche Vernunft durch die Erfahrung der Jahrhunderte vollständiger erkannt“ (DH 9) wurde. Sie geht damit von einem Erkenntnisfortschritt im Sinne eines Rechtsfortschritts aus, der von der Katholischen Kirche nun rückwirkend anerkannt wird. Das Modell, das Dignitatis humanae dabei vor Augen hat, ist jenes einer wohlwollend-neutralen Beziehung zwischen dem Staat und den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dies schließt auch eine aktive Unterstützung ein (DH 4; 6), die freilich auf der Basis der Gleichheit zu erfolgen hat. Die Erklärung orientiert sich dabei an den staatskirchenrechtlichen, kontinentaleuropäischen Mischsystemen, wie sie in Deutschland und Österreich praktiziert werden, die anders als das laizistische Modell (z. B. in Frankreich) keine feindliche Trennung vornehmen und die wesentlichen Leistungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften für das staatliche und gesellschaftliche Gemeinwohl anerkennen. Die Pflicht des Einzelnen nach Wahrheit zu suchen und sich öffentlich zu ihr zu bekennen, wird durch die Anerkennung der Religionsfreiheit in keiner Weise relativiert (DH 2). Das Recht auf Religionsfreiheit soll vielmehr die persönliche Wahrheitssuche unterstützen, da die meisten Menschen leichter dem eigenen Gewissen zu folgen bereit sind, wenn ihnen daraus keine schwerwiegenden Nachteile, z. B. die Verfolgung durch staatliche Organe, erwachsen.

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in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957–2006, 2. Auflage, Berlin 2007, 393–414. Sie konnte dafür auf die schon in vorkonstantinischer Zeit von einigen Kirchenvätern gestellte Forderung nach religiöser Toleranz zurückgreifen. So spricht Tertullian von „einem fundamentalen menschlichen Recht, einem Privileg der Natur, dass alle menschlichen Wesen Gott entsprechend ihrer eigenen Überzeugung anbeten“ und spricht sich gegen jeden „Zwang in Fragen der Religion“ aus, vgl. Tertullian QSF, Liber ad Scapulam, in: Jacques Paul Migne (Hg.), Patrologiae Cursus Completus. Seria Latina, Paris 1844, 1, 777. Auch der afrikanische Apologet Lactanz ist von einer innigen Verbindung zwischen Religion und Freiheit überzeugt. Er sieht die Religion als „Wohnsitz der Freiheit“ an. Daraus folgt für ihn, dass niemand gezwungen werden kann, etwas gegen seinen Willen anzubeten. Vgl. Joseph Lecler SJ, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, Bd. I, Stuttgart 1965, 96.

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Mit der Anerkennung des Rechts auf Religions- und Kultfreiheit am Zweiten Vatikanischen Konzil gab die Katholische Kirche das Ideal eines katholischen Staates endgültig auf und bekannte sich zu einer Staatsordnung, in der allen Religionen und Konfessionen gleiche Rechte auf der Basis der Nicht-Diskriminierung zukommen. Damit war auch das wesentliche Hindernis beseitigt, das einer grundsätzlichen Anerkennung der Menschenrechten entgegen stand und die Basis gelegt für den beachtlichen weltweiten Einsatz der Katholischen Kirche seit den 1960er Jahren. Papst Johannes Paul II., der selbst zwei Totalitarismen erlebt hatte, machte sie zur Kernidee seiner Sozialverkündigung. Viele der friedlichen Revolutionen seit den 1980er Jahren, beginnend mit der Rosenkranzrevolution auf den Philippinen (1987), den Samtenen Revolutionen in Mitteleuropa (1989), der Orange Revolution in der Ukraine (2003) sowie die Demokratiebewegungen in Lateinamerika und Afrika wurden und werden von katholischen Christen und Christinnen unterstützt und verantwortlich mitgetragen.19 Nicht zuletzt ihrem Mut bis hin zum Martyrium ist es zu verdanken, wenn in diesen Ländern Menschen nicht mehr in Gefängnissen und Folterkammern verschwinden oder ermordet werden. Der bekannte britische Historiker Timothy Garton Ash hat diese friedlichen Revolutionen als eines der großen Hoffnungspotentiale des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Zugleich stellt sich heute eine Vielzahl neuer Herausforderungen im Menschenrechtsbereich auch für die kirchliche Verkündigung, Theologie und Praxis. Die wohl wichtigste stellt eine bessere Verwirklichung der sozialen Rechte dar, die in der politischen Praxis der letzten Jahrzehnte vielfach vernachlässigt wurden. Doch menschliche Würde wird durch die Verweigerung grundlegender Sozialstandards ebenso verletzt, wie durch die Missachtung von Freiheitsrechten. Da diese gleichsam zum Urgestein der katholischen – wie jeder christlichen – Sozialethik gehören, sollten sie stärker in die nationalen und globalen Debatten eingebracht werden. Ein Anliegen, für das sich Papst Franziskus seit seiner Wahl vor einem Jahr stark macht.20

Elemente einer Theologie der Menschenrechte Nach der lehramtlichen Anerkennung der Menschenrechte in den 1960er Jahren wurden sie in der katholischen Theologie nur mehr bedingt grundsätzlich reflektiert, was im Übrigen für wesentliche Teile der auf dem Konzil durchaus innovativ konzipierten Sozialtheologie gilt.21 Darin spiegelt sich unter anderem die in der katholischen Theo-

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In Lateinamerika war die katholische Kirche ein wesentlicher Akteur für die Demokratisierungswelle in den 1990er Jahren, vgl. Samuel Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman/London 1991. Vgl. sein Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, vgl.: URL: http://w2.vatican.va/content/ francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii -gaudium.html (Zugriff am 02.06.2014). Ingeborg Gabriel, „Christliche Sozialethik in der Moderne. Der kaum rezipierte Ansatz von

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logie seit dem 19. Jahrhundert tief verankerte Unterscheidung von philosophisch-naturrechtlichen und im engeren Sinn theologischen Themen wider. Während die Akzeptanz der Menschenrechte durch die Katholische Kirche ein wichtiger, wenn auch verspäteter Schritt war, blieben viele der damit verbundenen theologischen Fragen daher unbeantwortet. Die Einbettung der Menschenrechte in das Ganze der katholischen Theologie ist so bis heute ein Desiderat.22 Dabei könnte ihre vertiefte theologische Reflexion durchaus einen Beitrag auch zu öffentlichen Debatten leisten, sowohl hinsichtlich der besseren Durchdringung ihres Gehalts und ihrer anthropologischen Voraussetzungen wie auch hinsichtlich der den Menschenrechten inhärenten Grenzen. Dies vor allem auch deshalb, weil sich heute mehr als noch vor einigen Jahrzehnten zeigt, dass die anthropologischen Grundlagen keineswegs „self-evident“ sind, wie die Aufklärungsphilosophie angenommen hatte. Ein derartiger Beitrag der Theologie zum Menschenrechtsdiskurs wäre zudem gerade in einer Zeit wichtig, in der auch andere Religionen mit diesem modernen zwischen Moral, Recht und Politik angesiedelten Konzept ringen. In anderen Worten: Theologie kann und soll aufzeigen, was Menschenrechte sind und was sie nicht sind. Was sie politisch und rechtlich leisten können und was außerhalb des Bereiches ihrer Zuständigkeit liegt. Drei theologische Themenkreise scheinen hier bedeutsam: Die für die christliche Anthropologie grundlegende Einsicht in die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Gottesebenbildlichkeit (Gen 1, 27) (1); die Verpflichtung jedes Christen auf die Nächstenliebe, die immer auch ein Ethos der Gerechtigkeit einschließt (2); sowie das eschatologisch fundierte Wissen um die Unvollendbarkeit aller innerweltlichen Gerechtigkeitskonzepte (3). Diese drei Elemente sollen nun in ihrer Bedeutung für eine Theologie der Menschenrechte knapp skizziert werden.

„Sakralität der Person“ und Gottesebenbildlichkeit Hans Joas geht davon aus, dass den Menschenrechten historisch eine Anthropologie zugrunde liegt, die in einer schrittweise erkannten Sakralität der Person ihren letzten Grund hat.23 Dies entspricht der vor allem schöpfungstheologischen Begründung der Menschenrechte in der katholischen Theologie: Jeder Mensch, Mann und Frau, ist Geschöpf Gottes nach seinem Ebenbild geschaffen (Gen 1, 27). Diese Gemeinsamkeit in der Geschöpflichkeit begründet die Gleichheit unabhängig von Rasse, Nation,

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Gaudium et spes“, in: Tück, Jan-Heiner (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, 2. Auflage, Freiburg im Breisgau/Wien (u.a.) 2013, 605–621. Vgl. dazu die Beiträge in Markus Vogt Theologie der Sozialethik, vor allem Ingeborg Gabriel, „Naturrecht, Menschenrechte und die theologische Fundierung der Sozialethik“, sowie HansJoachim Sander, „Sozialethik, theologisch. Der locus theologicus alienus Menschenrechte“, in: Markus Vogt (Hg.), Theologie der Sozialethik, Freiburg im Breisgau 2013 (questio disputata, 255), 229–251; 252–278. Vgl. Hans Joas, Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2011.

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Geschlecht und Religion. In ihr hat die Würde jedes Menschen, die durch die Erbsünde nicht gänzlich verloren wurde, ihren Ursprung.24 Die anthropologisch-theologische Definition des Menschen als imago Dei hat in der westlichen Theologie eine höchst reichhaltige Geschichte.25 Sie verbindet sich in der spanischen Spätscholastik erstmals mit einer die Gleichheit aller Menschen rechtlich fassenden Konzeption der natürlichen Rechte.26 Die gleiche geschöpfliche Würde aller Menschen verlangt demnach, dass diese vom Souverän in Form von gleichen Rechten anerkannt werden soll. Die Menschenrechte erweisen sich von daher als rechtsförmiger, gegen absolutistische Herrschaft gerichteter Ausdruck eines christlichen Universalismus und haben in ihm ihre theologischen Wurzeln.27 Denn die Geschöpflichkeit des Menschen und seine damit verbundene Gottesunmittelbarkeit entziehen ihn der absoluten Verfügungsgewalt der politischen Autorität. Aus diesem Grund sind die als natürliche Rechte gesehenen Menschenrechte dem Staat vorgegeben und sollen zugleich als staatliche Grundrechte verankert werden. In eben diesem Sinn begründet die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 die bürgerlichen Grundrechte mit den berühmten Worten: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights that among these are life, liberty and the pursuit of happiness.“28 Die Verankerung dieser Rechte in Gott begründet zugleich das Recht auf Widerstand, wo immer sie von staatlichen Autoritäten verletzt werden. Die allgemein christliche Pflicht sich gegen jede Form des Gewissenszwangs zur Wehr zu

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Würde als neuzeitlicher Begriff – vgl. Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, lateinisch-deutsch, Hamburg 1990. Vgl. den Überblick bei Heinrich Schmidinger, „Der Mensch in Gottesebenbildlichkeit. Skizzen zur Geschichte einer einflussreichen Definition“, in: Heinrich Schmidinger/Clemens Sedmak (Hg.), Der Mensch – ein Abbild Gottes? Geschöpf – Krone der Schöpfung – Mitschöpfer, Darmstadt 2010, 7–42. Vgl. Markus Kremer, Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez, Stuttgart 2008, 71–95 (bes. 81–83), Salvador Castellote, „Der Beitrag der spanischen Scholastik zur Geschichte Europas“, in: Markus Kremer (Hg.), Macht und Moral – Poltisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 2007, hier 17–38 und Francis Oakley, Natural Law, Laws of Nature, Natural Rights. Continuity and Discontinuity in the History of Ideas, New York (u. a.) 2005, 63f. Alle Untersuchungen zeigen, dass es nur geringfügige Unterschiede zwischen den spätscholastischen und den dann geschichtswirksam gewordenen angelsächsischen Menschenrechtskonzeptionen gibt. Sie als einen locus alienus der christlichen Theologie zu begreifen, wie dies Hans-Joachim Sander tut, überbewertet die Diskontinuität von Christentum und Moderne, vgl. Hans-Joachim Sander, Macht in der Ohnmacht: eine Theologie der Menschenrechte, Freiburg im Breisgau/Wien 1999. Im Gegensatz dazu rekurriert die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 auf die natürlichen Rechte der Menschen: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“, vgl. Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, 5 octobre 1789. Es gibt demnach zwei unterschiedliche Traditionen, die angelsächsisch religiös fundierte und die französisch säkulare Tradition. Vgl. dazu auch Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009, 20–30; 53f.

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setzen, „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29), wird so gleichfalls rechtlich gewendet. Wiewohl in dieser Weise seit dem Spätmittelalter eine rechtliche Operationalisierung der Gottesebenbildlichkeit in der westlichen Theologie vorgenommen wird, bedeutet dies in keiner Weise, dass das mit Gottesebenbildlichkeit Gemeinte in seinem Gehalt damit ausgeschöpft wäre. Denn diese meint offenkundig weit mehr. Der Mensch als imago Dei wird vor allem durch seinen Transzendenzbezug auf Gott hin charakterisiert, aus dem wesentliche menschliche Eigenschaften, vor allem Vernunft und Selbstbestimmung, abgeleitet werden. Die rechtliche Dimension ist hier durchaus nachgeordnet. Ihr kommt jedoch eine unverzichtbare Schutzfunktion zu, da – wie übrigens bereits im Alten Testament – das Recht den Machtmissbrauch durch politische Herrschaft, der die Entfaltung des Menschen in seiner physischen und geistigen Integrität behindert, einhegen soll. In diesem Sinn kann die Menschenrechtsidee nicht als Ausdruck einer modernen Anthropozentrik begriffen werden, die den Menschen an die Stelle Gottes setzt. Ein derartiger Vorwurf geht von einer theologisch höchst problematischen Entgegensetzung von Gott und Mensch aus und kehrt damit die religionskritische Position der (französischen) Moderne gleichsam um. Jede Form einer Dichotomie von Theo- und Anthropozentrik29 widerspricht dem Glaubensgeheimnis der Inkarnation. Die Menschwerdung Gottes bedeutet eben, dass sich Gott und Mensch nicht gegenüber stehen, schon gar nicht Konkurrenten oder Gegner sind – wie dies die atheistische Religionskritik annimmt - sondern dass Gott als Schöpfer und Erlöser aller Menschen jedem Menschen im Menschgewordenen aufs engste verbunden ist (so auch Gaudium et spes 22). Mehr noch: Indem Gott in Jesus Christus Mensch wird, stellt er den Menschen, sein irdisches wie ewiges Schicksal, in besonderer Weise ins Zentrum. Dies verdichtet sich im eindrücklichen Wort des hl. Irenäus: „Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis visio Dei“30 Das Anthropozentrik – Theozentrikschema erweist sich von daher zur theologischen Beurteilung der Menschenrechte in keiner Weise geeignet. Es lässt sich nicht anders deuten, als dass auf der Ebene des Politischen und des Rechts damit der Anspruch auf eine religiös fundierte Staatsordnung zum Ausdruck gebracht soll. Eine derartige theokratische Ordnung - ein Begriff, der im Übrigen gleichfalls widersprüchlich ist, da nie Gott selbst herrscht, sondern immer Menschen - ist jedoch weder biblisch-theologisch gefordert (das Christentum war über Jahrhunderte hinweg substaatlich), noch wurden in christlich legitimierten Staatsordnungen die christlichen Gebote historisch gesehen immer besser beachtet. Die Entlastung von einer zu engen Bindung an den Staat, d.h. eine fördernde Trennung von Kirche und Staat, macht es für

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Vgl. Walter Kasper, „Autonomie und Theonomie. Zur Ortsbestimmung des Christentums in der modernen Welt“, in: ders., Theologie und Kirche, Mainz 1987, 149–175. Irenäus von Lyon, Adversus Haereses IV, 20,7, in: Irenäus von Lyon, Adversus Haereses IV, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1997, 166.

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die Kirche leichter, gegen Unrecht und Gewalt der Staatsmacht Widerstand zu leisten.31 Sie entspricht zudem der Freiheit des Glaubensaktes am besten.

Menschenrechte als Ausdruck eines Ethos der Gerechtigkeit Nun ist die rechtliche Dimension, die in der geschöpflichen Gleichheit ihren Ursprung hat, von jener der Ethik und Spiritualität erst einmal zu unterscheiden. Dies hervorzuheben ist wichtig, weil hier viele Missverständnisse in der interkonfessionellen und interreligiösen Debatte über Menschenrechte ihren Ursprung haben. Christliche Ethik und Asketik zielen auf eine Entfaltung des Menschen auf Gott hin, die unlösbar mit seinem Handeln im Dienste des Nächsten verbunden ist. Es gilt sowohl Gott wie auch dem Nächsten gerecht zu werden. Gottes- und Nächstenliebe sind jene beiden Pole, innerhalb derer sich menschliche Personwerdung vollzieht. Denn jeder Mensch ist ja nicht nur Mensch, sondern soll zum Menschen werden. Ebenso wird der Christ durch die Taufe zum Christen, muss aber zugleich erst zum Christen (oder zur Christin) werden. Diese dynamische Entwicklung, zu der alle Menschen – die Christen in bestimmter Weise – berufen sind, vollzieht sich im Zusammenspiel von Gnade und individuellem Handeln. Sie steht offenkundig nicht im Gegensatz zur geschöpflichen Dimension des Menschseins, sondern setzt diese voraus, wobei beides von der göttlichen Gnade geprägt und umfangen ist.32 Dies gilt für die Schöpfung (creatio) jedoch in anderer Weise als für die Neuschöpfung (re-creatio), da letztere die aktive Mitwirkung des Menschen, eben sein freies Handeln, voraussetzt.33 In diesem Gravitationsfeld von Gnade, freiem Handeln und Schuld vollzieht sich das gesamte Drama menschlicher Existenz, das in einer christlichen Ethik und Asketik reflektiert wird. In diesem Zusammenhang geht es offenbar nicht um Rechte, die es hier nicht gibt und geben kann, sondern um die Entfaltung des Menschen als Person in seiner Beziehung zu Gott und zum Nächsten. Man könnte auch von einer aktiven Menschenwürde spre-

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Mit dem Vorwurf des Anthropozentrismus verbindet sich vielfach jener des Individualismus der Menschenrechte, vgl. dazu Ingeborg Gabriel, „Menschenrechte und Religionen: Kann der Brückenschlag gelingen? Theologische Stolpersteine und Ressourcen“, in: Brigitte Schinkele/René Kuppe/Stefan Schima u.a. (Hg.), Recht Religion Kultur, Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, 87–101. Zum Naturbegriff und dazu dass auch in der westlichen Theologie Natur immer von Gnade unterfangen ist vgl. Hans Urs von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, 4. Auflage, Einsiedeln 1976, 278–334. Die Unterscheidung von creatio und re-creatio findet sich in der Anthropologie des Thomas von Aquin, Summa theologica, vollständige deutsch-lateinische Ausgabe, Regensburg 1933-1961, q. I 93,4 – „Darum unterscheidet die Glosse zu Psalm 4,7: `Aufstrahlt über uns das Licht Deines Angesichts o Herr´ ein dreifaches Ebenbild, nämlich das `der Schöpfung (creationis), der Neuschöpfung (recreationis) und das der Ähnlichkeit (similitudinis)´. Das erste Bild findet sich in allen Menschen, das zweite nur in den Gerechten, das dritte jedoch nur in den Seligen.“

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chen. Während demnach die passive Menschenwürde, die den Menschenrechten zugrunde liegt, allen Menschen in gleicher Weise zukommt, ist aktiv Würde nicht ohne verantwortliches sittliches Handeln zu erlangen. Der in Menschenrechtsdebatten vielfach umstrittene Begriff der Würde ist demnach sowohl rechtlich wie auch moralisch konnotiert, was auch in der Alltagssprache seinen Niederschlag findet. Sein rechtlicher Aspekt ist gemeint, wenn es im Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.34 Hingegen ist die moralische Dimension angesprochen, wenn von einem würdevollen oder würdelosen Verhalten die Rede ist. Eine ganze Reihe von Missverständnissen im Menschenrechtsdiskurs wurzelt in eben dieser Doppeldeutigkeit des Würdebegriffs als eines sowohl dem Bereich der Legalität als auch der Moralität zugehörigen Terminus. In engem Zusammenhang damit steht im Übrigen der in diesen Debatten vielfach erhobene Vorwurf, dass Menschenrechte fälschlich die Rechte den Pflichten vorordnen. Auch hier handelt es sich um eine Verwechselung unterschiedlicher Ebenen. Während auf der Ebene des Rechts die Rechte den Pflichten per definitionem vorgehen, gilt dies nicht für die Ebene der Gesellschaft, die auf das verantwortliche und pflichtbewusste Handeln ihrer Mitglieder angewiesen ist. Dies gilt auch und in besonderer Weise für Gemeinwesen, in denen ein möglichst hohes Ausmaß an Freiheit verwirklicht werden soll. Hier besteht ein klarer Vorrang der Pflichten gegenüber den Rechten, da die Erfüllung ersterer immer und überall die Grundlage für ein geordnetes Zusammenleben bildet und ihrerseits die Voraussetzung für die Einhaltung des Rechts darstellt. Diese Pflichten sind in einer christlichen Ethik in der Spannung von Gerechtigkeit und Liebe differenziert zu entfalten. Die Menschenrechte stellen dabei insofern eine wesentliche Verwirklichungsform von Gerechtigkeit dar, als sie Menschen vor dem Unrecht staatlicher Organe schützen, ihnen die Erfüllung ihrer (auch religiösen) Pflichten erleichtern und in Form der sozialen Rechte, menschenwürdige Lebensgrundlagen zu garantieren suchen. Sie wollen und können jedoch das aktive Handeln für den Nächsten nicht ersetzen. Das Recht auf Gesundheitsfürsorge macht die christliche Liebe für Kranke nicht überflüssig, erleichtert sie jedoch wesentlich. An dieser Stelle ist die Frage zu stellen, inwieweit jene an der Schnittstelle von Recht und Moral gegenwärtig verhandelten Reizthemen, vor allem Abtreibung, Euthanasie und die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen sowie die komplexen Fraugen der Bioethik dem Menschenrechtsdiskurs zugeordnet werden können. Ihre gesellschaftliche Bedeutung gewinnen sie nicht zuletzt daraus, dass sie in seit einigen Jahren ein überproportionales Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zu starken politischen, wie auch religiösen Polarisierungen innerhalb der Gesellschaften und Kirchen führen. Es handelt sich dabei vor allem um konfliktuelle Anschauungen darüber, inwieweit bestimmte Güter durch rechtliche Normen zu schützen sind und inwieweit es sich dabei um menschenrechtliche Normen handelt bzw. handeln soll. Da die Menschenrechte eine hohe Signalwirkung im Diskurs haben, werden sie gerne für 34

Vgl. Rolf-Peter Horstmann, „Menschenwürde“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 (1980) 1124–1128, hier 1125.

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eine Vielzahl von Anliegen in Anspruch genommen, mit denen sie jedoch weder sozialphilosophisch noch entsprechend den Menschenrechtserklärungen und -katalogen, oder auch den daraus abgeleiteten Grundrechten in einem ursprünglichen Zusammenhang stehen. Es geht demnach hier um Forderungen nach Weiterentwicklungen des Menschenrechtsschutzes respektive die (fälschliche) Annahme, dass derartige Weiterentwicklungen bereits stattgefunden haben, die von unterschiedlichen Gruppen ablehnend oder zustimmend thematisiert werden. Die oben genannten Themen werden jedoch in den allermeisten Fällen nicht auf der Basis der Grundrechte, sondern auf einfach gesetzlicher Basis geregelt Die Polemiken beider Seiten übersehen zudem meist die Rolle der Judikatur. So findet gegenwärtig in der theologisch höchst kontroversiell diskutierten Frage der Gleichstellung von homosexuellen mit heterosexuellen Personen, eine Weiterentwicklung des Rechtsbestandes vor allem über die europäische Judikatur statt, die mit dem Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschrechtskonvention (Art. 14) argumentiert. Konkrete Rechtsregelungen sind jedoch weiterhin höchst unterschiedlich. Fälle wie jener eines schwedischen Pastors, der vor einiger Zeit wegen einer Predigt gegen Homosexualität rechtlich belangt worden sein soll, könnten rechtlich auf dem Verbot der Herabwürdigung von Bevölkerungsgruppen (Hasspredigten) behandelt worden sein, die dann nicht durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind, wenn sie den gesellschaftlichen Frieden gefährden. Hier wie in anderen Rechtsbereichen kommt zudem richterlichen Entscheidungen im Einzelfall ein nicht unbeträchtlicher Spielraum zu, was bedeutet, dass ähnliche Sachverhalte wie auch in anderen Materien höchst unterschiedliche Urteile nach sich ziehen können. All diese Unwägbarkeiten wären die in den emotional aufgeladenen öffentlichen Debatten zu berücksichtigen. Aus der Sicht einer christlichen Ethik verwundert dabei vor allem auch, dass die in der Tradition sowie in der Bibel nur begrenzt oder gar nicht verankerte Themen nun zu den „christlichen Werten“ hochstilisiert und in inner- wie außerkirchlich hochgradig polarisierten Kulturkämpfen (culture wars) als Essenz der christlichen Botschaft vertreten werden. Was ihre Verbindung zu den Menschenrechten betrifft, so ist diese, wie angedeutet, höchst komplex. Die knappen Anmerkungen sollten jedoch gezeigt haben, dass sie nicht für eine generelle Menschenrechtskritik ebenso wenig wie für eine Fundamentalkritik moderner Gesellschaften heran gezogen werden können.

Menschenrechte als „letzte Utopie“? Neben dem Theologumenon der Gottesebenbildlichkeit und den Verpflichtungen, die sich aus einer christlichen Ethik für ein Menschenrechtsethos ergeben, scheint die vielfach unterbelichtete Eschatologie für eine Theologie der Menschenrechte in doppelter Weise bedeutsam. Zum einen weist die eschatologische Dimension sowohl individuell als auch kollektiv über die Legalität wie Moralität nochmals hinaus. Dies drückt der hl. Ignatius von Antiochien in einem Brief, den er am Weg zum Martyrium in Rom diktiert hat, folgendermaßen aus: „Für mich ist es besser, durch den Tod zu Christus

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Jesus zu kommen, als König zu sein über die Grenzen der Erde. […] Wenn ich dort angelangt bin, dann werde ich ein Mensch sein.“35 (Kursivsetzung IG). Diese individuelle Hoffnung auf Vollendung der eigenen Personalität steht ihrerseits im weiteren Rahmen einer universalen eschatologischen Zukunftsverheißung. Innerirdisch können derartige Erwartungen nicht verwirklicht werden. Sosehr demnach Menschenrechte dazu beitragen können, menschliches Leiden zu mindern und menschliche Entfaltung zu fördern, so können sie doch in keiner Weise Antwort geben auf die Grundfragen menschlicher Existenz, wie Schuld, Tod und den Sinn von Leiden geben. Zudem sind die in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannten Ziele, die „Freiheit von Furcht und Not“, zwar anzustreben, sie können jedoch innerirdisch nie zur Gänze realisiert werden. Erst am Ende der Zeiten wird Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage…“ (Apk 21, 4). Menschenrechte stellen daher keine „letzte Utopie“ dar,36 sondern sind wie alle immanenten Gerechtigkeitsvorstellungen mit ihrer bleibenden Unvollendbarkeit konfrontiert. Einen derartigen „eschatologische Vorbehalt“ anzubringen, ist nicht nur theologisch sondern auch politisch wie rechtlich bedeutsam, da überzogene Gerechtigkeitserwartungen entweder zu Zwang oder zu Resignation führen können. Hier stellt sich zudem die Frage, ob nicht gewisse Hypertrophien im Menschenrechtsdiskurs gegenwärtig dadurch entstehen, dass der Wegfall des Glaubens an die eschatologische Vollendung zu ihrer übermäßigen Aufladung führt. Gegenüber derartigen überzogenen Erwartungen hat die Theologie immer auch die Grenzen menschlicher Bemühungen um Gerechtigkeit aufzuzeigen sowie dass es Christen wie (säkularen) Humanisten gleichermaßen aufgetragen ist, diese ohne Resignation anzuerkennen. Zur politischen Bedeutsamkeit dieser Einsicht tritt somit ihre ethische. Die Menschenrechte stellen laut Jürgen Habermas die „einzige unzweifelhafte kulturelle Innovation des Jahrhunderts“ dar.37 Sie sind jene Seite der Moderne, in der sich ihr humaner Gehalt am stärksten ausdrückt. Die Sphinx, mit der Sergej Bulgakov die Moderne verglichen hat, war bekanntlich halb Mensch und halb Löwe. In diesem Sinn spiegelt diese Metapher auch die Ambivalenz als wesentliches Charakteristikum der Moderne wider. Ihr Fortschrittsmythos, eine sich exponentiell entwickelnde Technik als Ausdruck einer überbordenden instrumentellen Vernunft, die ethisch kaum mehr in ihre Schranken gewiesen werden kann, und eine damit verbundene komplexe Bürokratie, alles Entwicklungen die die menschliche Freiheit immer auch bedrohen, ebenso wie die Möglichkeit einer Entartung dieser Freiheit in Willkür – all dies sind 35

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Ignatius von Antiochien, „Ignatius an die Römer“, in: Franz Zeller (Übers.), Die Apostolischen Väter, München 1918, 6, 1–2, ebenso online: URL: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel9-6.htm (Zugriff am 20.11.2013). So der Titel des Buches von Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010. Jürgen Habermas, „Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf das kurze 20. Jahrhundert“, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, 65–90, hier 75; ausführlich im Artikel „Zur Legitimation durch Menschenrechte“ im selben Band, 70–194.

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gewaltige mit der Moderne gegebene Gefahrenpotentiale. Das in den Menschenrechten inkorporierte Ethos ist jedoch wohl jene ihrer Erfindungen, die ohne Einschränkung ihrer menschlichen Seite zugerechnet werden kann.

Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte: Kirchliche Stellungnahmen zu ausgewählten Menschenrechtsdebatten àukasz Fajfer This chapter gives a brief overview of the attitudes and strategies that the Catholic Church in Poland utilises with regard to human rights. The main focus is placed on issues concerning the three following categories: reproductive rights, rights of sexual minorities, and freedom of conscience and religion. Such issues have become quite controversial in the public sphere and discourse between the Catholic Church hierarchy and various politicians supported by a significant number of voters. The rhetoric used by the church and the arguments raised in this context are also critically examined. Beforehand, however, an introduction to the attitudes of the Catholic Church towards human rights in general will be provided, as well as some background information on the situation of the church in Polish society.

„Die Katholische Kirche und die Menschenrechte – […] das passt nicht zusammen. […] Stimmt das?“, fragt ein österreichischer Rechtswissenschaftler und emeritierter Professor an der Universität Linz Herbert Schambeck in einem Artikel.1 Die Ambivalenz der Katholischen Kirche in ihrer Position zu den Menschenrechten wird oft hervorgehoben. Dies betrifft in erster Linie die Presse, ähnliche Stimmen werden jedoch auch von Seiten der Wissenschaft gehört.2 Schambeck kommt aber am Ende seiner Ausführungen zu der Schlussfolgerung, dass das durch diese Frage zum Ausdruck kommende Stereotyp eher ungerecht und veraltet sei, da die Katholische Kirche einen Beitrag zur Menschenrechtsdebatte geleistet habe und dies immer noch täte. Dieser Meinung sind auch andere Autoren, die sich mit den Positionen der Katholischen Kirche zu den Menschenrechten beschäftigen.3 1

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Herbert Schambeck, „Menschenrechte katholisch gesehen“, Zenit, 15. Januar 2010, URL: http://www.zenit.org/article-19560?l=german (besucht am 15. Juni 2014). „Kündigung wegen Ehebruchs verstößt gegen Menschenrechte“, Spiegel Online vom 23. September 2010, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/urteil-kuendigung-wegen-ehebruchsverstoesst-gegen-menschenrechte-a-719111.html (besucht am 15. Juni 2014); Tamara Bloch, Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte seit 1215: Eine historische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Gewährleistungen im CIC/ 1983, Frankfurt am Main 2008. Paweá Baáa und Adam Wielomski, „Prawa czáowieka – refleksje krytyczne“, Studia Erasmiana Wratislaviensia 4 (2010) 456–487, hier 473; Markus Graulich, „Die Menschenrechte als Gegenstand kirchlicher Verkündigung – ein Kommentar zu can. 747 § 2 CIC“, in: Sven van Meegen und Markus Graulich (Hg.), Menschen – Rechte. Theologische Perspektiven zum 60. Jahrestag der Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Berlin 2008, 46; Guido Brune, Menschenrechte und Menschenrechtsethos. Zur Debatte um eine Ergänzung der Menschenrechte durch Menschenpflichten, Stuttgart 2006, 31.

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In dem vorliegenden Kapitel wird dieses Thema im polnischen Kontext behandelt. Im Zentrum des Interesses stehen dabei diejenigen Bereiche der Menschenrechtsthematik, bei denen die Katholische Kirche Widerspruch erhebt. Mit anderen Worten: Es werden Menschenrechte angesprochen, die von der Kirche als problematisch angesehen werden. Darüber hinaus liegt ein besonderer Fokus auf Argumenten, die in Bezug auf diese Menschenrechtsthemen seitens der Kirche hervorgehoben werden. Diese Untersuchung zieht dabei die besondere Stellung der Katholischen Kirche in Polen in Betracht und befasst sich somit auch mit dem Thema des Einflusses von lokalen Bedingungen auf Menschenrechtsdebatten. Der Aufbau des Kapitels entspricht seiner thematischen Ausrichtung und besteht aus drei Hauptteilen. Zuerst wird auf das katholische Verständnis der Menschenrechte hingewiesen. Dieser erste Teil dient der Vergewisserung über das Anliegen der Menschenrechte und gibt eine theoretische Basis für darüber hinausgehende Überlegungen. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes wird die Lage der Katholischen Kirche in Polen dargestellt. In diesem Teil wird zudem auf den Einfluss dieser auf den Menschenrechtsdiskurs hingewiesen. Hierbei wird untersucht, ob spezielle polnische Besonderheiten festzustellen sind. Der dritte Teil dieses Aufsatzes befasst sich mit konkreten Beispielen von Auseinandersetzungen in Bezug auf das Thema Menschenrechte in Polen. Der Ablauf von Debatten wird hier dargestellt und die Argumente der Katholischen Kirche werden analysiert. Im Zentrum der Analyse stehen die sogenannten Reproduktiven Rechte (Abtreibung und künstliche Befruchtung – in vitro), Rechte sexueller Minderheiten und Religions- und Gewissensfreiheit. Diese Gruppen von Rechten wurden für die vorliegende Untersuchung ausgewählt, da sie als Hauptstreitpunkte in den Menschenrechtsdebatten gelten, und zwar nicht nur im polnischen Kontext. Wie Baáa und Wielomski hervorheben, führt die Kirche heftige Auseinandersetzungen diese Rechte betreffend. Ihre Argumente vertritt sie hier besonders vehement.4 Aus diesem Grund ist es lohnenswert, Debatten über die genannten Rechte zu untersuchen. Zum Zwecke der Ausarbeitung der genannten Thematik werden in diesem Kapitel zwei Gruppen von Quellen verwendet. Einerseits handelt sich um Erklärungen, Hirtenbriefe und Interviews kirchlicher Hierarchen. Andererseits wird auf Presseartikel hingewiesen, die sich mit diesem Thema befassen. Da das Ziel dieses Kapitels in der Wiedergabe gegenwärtiger Debatten liegt, werden grundsätzlich die neuesten Quellen benutzt, die kurz vor oder im Jahre 2012 veröffentlicht wurden. Dank dieser Quellenauswahl bietet dieses Kapitel einen guten Überblick über die aktuelle Auseinandersetzung mit der Menschenrechtsthematik in Polen.

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Baáa und Wielomski, „Prawa czáowieka – refleksje krytyczne“, 481–482.

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Die Katholische Kirche und die Menschenrechte Das Nachdenken über Menschenrechte innerhalb der Katholischen Kirche hat eine lange Geschichte. Die ersten Grundideen, die heutzutage zu den Menschenrechten gezählt werden können, wie beispielsweise das Konzept der Gerechtigkeit, sind schon in der Bibel zu finden und gehören seit der Antike zum christlichen Weltbild.5 Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte die Kirche eine ganz eigene Position zu den Menschenrechten.6 Parallel entstand aber auch ein säkulares Verständnis der Menschenrechte, das diese in anderer Weise thematisiert. Der Höhepunkt dieses Abgrenzungsprozesses wurde im 18. Jh. erreicht. An dieser Stelle lohnt es sich, die Ursachen dieser Spaltung näher zu betrachten, da so Licht auf das katholische und das säkulare Verständnis der Menschenrechte geworfen werden kann. Es gibt vier Gründe für die unterschiedliche Entwicklung beider Auslegungen. Erstens vertrat die Katholische Kirche im 18. Jh. die Meinung, dass die Ansprüche des Individuums den Ansprüchen von Gruppe, Institution oder Staat unterzuordnen seien. Nach diesem Denkmuster kritisierte die Kirche die Überbetonung von Individualität und verwies auf die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft.7 Zweitens wurde die Staatsgewalt von Päpsten legitimiert, weil in ihren Augen der Staat eine von Gott gegebene Ordnung war, die nicht herausgefordert werden darf, solange der Staat sich von Gott (respektive der Katholischen Kirche) nicht entfernt.8 Zwei weitere Gründe für ein unterschiedliches Verständnis der Menschenrechte werden von Konrad Hilpert genannt. Er weist darauf hin, dass in den Augen der Kirche Wahrheit den Vorrang vor der Freiheit hatte, was in modernen Menschenrechtserklärungen nicht der Fall ist. Hilpert betont auch, dass die Kirche Sozialität anders sah als ebendiese Erklärungen.9 Zudem wurden die Menschenrechte durch die Katholische Kirche auf Grund politischer Gründe kritisiert. Gemeint ist die Tatsache, dass der moderne Kampf um die Menschenrechte die Rolle der Kirche in der Gesellschaft in Frage stellte. Die Päpste versuchten diesem Prozess entgegenzusteuern, manchmal auch mit Hilfe von heftiger Kritik an

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Sven van Meegen, „Menschenrechte – Gottesrechte. Eine dynamische Entwicklung der Gerechtigkeit im Alten Testament“, in: van Meegen und Graulich (Hg.), Menschen – Rechte, 8–29. Einen entscheidenden Einfluss auf das katholische Verständnis von Menschenrechten übte vor allem das Menschenbild der Gottesebenbildlichkeit aus, das durch Thomas von Aquin theologisch ausgearbeitet wurde. In den Augen von Thomas ist ein Mensch würdig, da er Gott ähnlich ist. Auf dieser Menschenwürde beruhen Rechte, die jedem zustehen, vgl. Brune, Menschenrechte und Menschenrechtsethos, 23. Die Schriften des Thomas von Aquin trugen zudem entscheidend zur Entwicklung des Konzepts der Freiheit bei und fanden ihren Platz in späteren menschenrechtlichen Werken, wie z. B. von Bartolomé de las Casas, vgl. Thomas Eggensperger, Der Einfluss des Thomas von Aquin auf das politische Denken des Bartolomé de las Casas im Traktat „De imperatoria vel regia potestate“. Eine theologisch-politische Theorie zwischen Mittelalter und Neuzeit, Münster 2000. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte. Theologie. Aktualität, Düsseldorf 1991, 154– 155. Brune, Menschenrechte und Menschrechtsethos, 24. Hilpert, Die Menschenrechte, 151–156.

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den Menschenrechten. „Dementsprechend heißt die Katholische Kirche vom 18. über das 19. Jahrhundert hinweg die Menschenrechte nicht willkommen, sondern lehnt sie eher schroff ab“.10 Die Katholische Kirche vertrat diese kritische Sicht auf die Menschenrechte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Die ersten Anzeichen einer Wende im Menschenrechtsdiskurs der Katholischen Kirche wurden z. Zt. Papst Leos XIII. deutlich (1878–1903), wobei eine wirkliche Annäherung an den modernen, säkularen Diskurs erst unter den Päpsten Pius XI. (1922–1939) und Pius XII. (1939–1958) erfolgte.11 Einen neuen Abschnitt im Nachdenken über Menschenrechte innerhalb der Katholischen Kirche brachte das II. Vatikanische Konzil (1962–1965). Aus diesem Grund wird manchmal die Soziallehre der Katholischen Kirche im Unterschied zu der früheren – „traditionellen“ – als „post-konziliare“ Lehre bezeichnet.12 In den Dokumenten des Konzils wie Nostra Aetate, Gaudium et Spes und vor allem Dignitatis humanae wurde die bisherige Denkweise über Menschenrechte grundlegend verändert. Die Kirche erkannte nun viele Menschenrechte der Moderne an und sah sich als deren Beschützerin. In diesem Sinne äußerte sich bei vielen Gelegenheiten Papst Johannes Paul II. (1978–2005), für den das Thema der Menschenrechte eines der Hauptanliegen seines Pontifikats war. Unter Johannes Paul II. entwickelte die Kirche einen eigenen Menschrechtsdiskurs. Wie es Guido Brune zusammenfasst: Nach dem langen und schwierigen Prozess der Kirche von einer Gegnerschaft zur Identifikation mit dem Anliegen der Menschenrechte, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen zu verteidigen, deren Rechte verletzt werden […]13

Trotz der Anerkennung der Menschenrechte durch die Katholische Kirche, auch der Rechte der so genannten „Dritten Generation“,14 kommt es noch zu Spannungen sowohl mit staatlichen Institutionen, politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen als auch mit den Eliten jeweiliger Länder. Die Gründe dafür sind nicht in der kritischen Einstellung gegenüber den Menschenrechten an sich zu suchen, wie es bis Ende des

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Brune, Menschenrechte und Menschrechtsethos, 25. Leo XIII. sprach die Thematik der Menschenrechte an, ohne sich aber mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Seine Überlegungen fanden Eingang in seine Enzyklika Rerum Novarum von 1891. Pius XI. schrieb ausführlich und auch positiv über die Menschenrechte allgemein sowie über die Idee der Menschenrechte (Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937). Pius XII. engagierte sich für die Menschenrechte während der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, vgl. Graulich, „Die Menschenrechte als Gegenstand kirchlicher Verkündigung“, 52–53. Baáa und Wielomski, „Prawa czáowieka – refleksje krytyczne“, 481. Brune, Menschenrechte und Menschenrechtsethos, 31. Baáa und Wielomski, „Prawa czáowieka – refleksje krytyczne“, 481. Zu den Rechten der Dritten Generation gehören kollektive Rechte wie z. B. Rechte auf Selbstbestimmung der Völker, Rechte der Völker auf freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer, Recht auf Entwicklung, Recht auf Frieden und Sicherheit und Recht auf eine zufriedenstellende Umwelt, vgl. Karl Peter Fritzsche, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten, Paderborn (u. a.) 2004, 25.

Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte

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19. Jahrhunderts der Fall war, sondern im katholischen Verständnis bestimmter Menschenrechte. An diesen Gedanken anknüpfend werden im nächsten Schritt diese Rechte und ihr Verständnis durch die Katholische Kirche kurz analysiert. Die Menschenrechte, die von der Katholischen Kirche besonders schwierig zu akzeptieren sind, gehören zu den drei oben erwähnten Gruppen: die reproduktiven Rechte (I.), die Rechte sexueller Minderheiten (II.) und die Religions- und Gewissensfreiheit (III.). Für die Kirche stellen die Rechte der ersten Gruppe ein Problem dar, da sie ihrer Meinung nach gegen das Recht auf Leben verstoßen. Das menschliche Leben, das laut der Kirche schon bei der Empfängnis beginnt und bis zum natürlichen Tod dauert, gehört zum Wohl Gottes und darf nicht sachlich behandelt werden.15 Dieser Logik nach stehen Abtreibung und künstliche Befruchtung gegen die von Gott festgelegte Ordnung und lassen diese außen vor, deswegen sind sie ein Tabu für die Kirche. Es lässt sich also sagen, dass der Unterschied zwischen kirchlichem und säkularem Verständnis bezüglich reproduktiver Menschenrechte in einer unterschiedlichen Axiomatik begründet ist.16 Die Kirche legt das Recht auf Leben anhand des Naturrechts aus, während Menschenrechtserklärungen dies anhand eines modernen Verständnisses dieses Rechtes tun. Die Kritik der Kirche an den Rechten der zweiten Gruppe geht in eine ähnliche Richtung. Die Menschen mit homosexueller Orientierung einzuräumenden Rechte, wie Eheschließung und Adoption von Kindern, verstoßen nach Auffassung der Kirche gegen die göttliche Ordnung. Die Kontroversen betreffen das Konzept der Ehe und darüber hinaus auch das Verständnis der Familie. Die Akzeptanz der Kirche richtet sich nur auf heterosexuelle Beziehungen, weil nur sie – laut Bibel – von Gott zugelassen wurden.17 Die katholische Soziallehre betrachtet daher homosexuelle Ehen als Verstoß gegen Naturrecht. Dieselbe Ablehnung betrifft auch das Recht homosexueller Paare auf eine Adoption.18 Die dritte Gruppe der Rechte, die in diesem Aufsatz angesprochen sein soll, lässt sich in der Rubrik Religions- und Gewissensfreiheit zusammenfassen. Die Rechte aus dieser Gruppe zählen zu den Grundrechten der Menschen und fanden daher Eingang in viele Menschenrechtserklärungen, unter anderem in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es handelt sich hierbei grundsätzlich um das Recht auf Verwendung von religiösen Symbolen (Kreuze) im öffentlichen Raum und um die Rolle

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Tomasz Królak und Marcin Przeciszewski, „W trosce o czáowieka i dobro wspólne“: Dokument spoáeczny Episkopatu, URL: http://www.orrk.pl/index.php/artykuy/677-w-trosce-o-czowieka-idobro-wspolne-dokument-spoeczny-episkopatu (besucht am 25. Januar 2013). Baáa und Wielomski, „Prawa czáowieka – refleksje krytyczne“, 481–482. Die Katholische Kirche versteht Ehe als Beziehung von Mann und Frau. Im Zusammenhang damit wird auf folgende Passagen aus der Bibel hingewiesen: Gen 1, 27–28, Gen 2, 21–24, Mt 19, 1–7. Tadeusz ĝlipko, Wojciech Wierzejski und Sáawomir Olejniczak, Rewolucja homoseksualna. Homoseksualizm w etyce katolickiej, polityce i jego spoáeczne konsekwencje, Warszawa 2005, 6– 7. Dieser kleine Sammelband ist eine wichtige Studie zur Frage der katholischen Haltung gegenüber der Homosexualität.

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kirchlicher Verkündigung im modernen Staat (Kirche-Staat-Beziehung). In diesem Bereich beruft sich die Katholische Kirche sowohl auf die Bedeutung des Kreuzes für das Christentum19 als auch auf das Recht auf freie Religionsausübung. In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten, dass Kirchenoberhäupter öfter hervorheben, dass letzteres Recht begrenzt werde.20 Dieses Thema kommt auch im polnischen Kontext vor und wird daher im dritten Teil dieses Kapitels anhand konkreter Beispiele dargestellt. Zuvor jedoch muss auf die Stellung der Katholischen Kirche in Polen eingegangen werden.

Die Stellung der Katholischen Kirche in Polen und ihr Einfluss auf die Menschenrechtsthematik. Die Katholische Kirche spielt unzweifelhaft eine besondere Rolle in Polen. Dies ist erstens darauf zurückzuführen, dass Polen ein äußerst einheitliches Land ist, was die Konfessionszugehörigkeit der Einwohner angeht. Laut Angaben des Hauptstatistikamtes von 2011 gehören 88% der Bevölkerung der Katholischen Kirche an.21 Daher kann die bekannte Gleichung „polnisch – katholisch“ nicht überraschen, und dies trotz der Tatsache, dass dasselbe Hauptstatistikamt die Anzahl der Mitglieder der Katholischen Kirche in Polen im Jahre 2000 auf 95% schätzte.22 Zweitens ergibt sich die besondere Stellung der Katholischen Kirche in Polen aus ihrer historischen Bedeutung für das polnische Volk und den polnischen Staat. Einer der besten Kenner der Katholischen Kirche in Polen – der Deutsche Theo Mechtenberg – unterstreicht, dass die Besonderheit der polnischen Kirche bzw. ihre Andersartigkeit gegenüber der Katholischen Kirche in Deutschland ihre Wurzeln in der Geschichte hat. Diese Andersartigkeit kann ihm zufolge nur dann verstanden werden, wenn man sich intensiv mit der Geschichte Polens befasst.23 In diesem Beitrag ist es zwar nicht möglich, der Empfehlung Mechtenbergs zu folgen. Aber es soll wenigstens der Versuch unternommen werden, die geschichtlichen Wurzeln der gegenwärtigen Bedeutung der Kirche zu beleuchten.

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Mehr zu diesem Thema Jan Paweá II, KrzyĪ Zbawiciela, Kraków 2010. Papst Benedikt XVI. unterstrich in seiner Ansprache am 10. Januar 2011 anlässlich des Neujahrstreffens mit Diplomaten im Vatikan, dass dieses Recht begrenzt werde. Als Beispiele nannte das Oberhaupt der Katholischen Kirche die Kritik an der Verwendung christlicher Symbole zur Weihnachtszeit und die Einführung des Sexualkundeunterrichts als Pflichtfach in den Schulen: Benedykt XVI, „WolnoĞü religijna jest najwaĪniejszym prawem czáowieka“, URL: http:// poznajmy-prawde.blog.onet.pl/2011/01/11/benedykt-16-wolnosc-religijna-jest-najwazniejszymprawem-czlowieka/ (besucht am 25. Januar 2013). Gáówny Urząd Statystyczny (Hg.), Maáy Rocznik Statystyczny 2011, Warszawa 2011, 133. Gáówny Urząd Statystyczny (Hg.), Rocznik Statystyczny Rzeczypospolitej Polskiej 2000, Warszawa 2000, 119. Theo Mechtenberg, Polens katholische Kirche zwischen Tradition und Moderne, Dresden 2011, 11–13.

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Von Anfang an ist die Verbindung von Religion und Staat in Polen eng. So gehen die Ursprünge des polnischen Staates auf die Christianisierung des Landes im Jahre 966 zurück. Die Taufe von Mieszko I. – Fürst eines Piastenstaates mit Hauptstadt in Gniezno (Gnesen) – ist als Beginn des polnischen Staates anzusehen. Die symbolische Bedeutung des katholischen Glaubens für die polnische Staatlichkeit wird außerdem während zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen verstärkt, in denen die Polen mit ausschließlich nichtkatholischen Gegnern kämpfen; sei es im Krieg gegen das Osmanische Reich oder im Zweiten Nordischen Krieg im 17. Jahrhundert, sei es auch in der Schlacht bei Warszawa (Warschau) 1920.24 Im Laufe aller Kriege verstärkte sich die Bindung an die Katholische Kirche, die als unabdingbar für die Existenz des polnischen Staates angesehen wurde. Die Kirche wurde zum Synonym des Unabhängigkeitskampfes und darüber hinaus auch zum Synonym des Polentums. Die besondere gesellschaftliche Stellung der Katholischen Kirche heutzutage geht aber nicht nur auf die symbolische Bedeutung der Kirche für den Erhaltung des polnischen Staates zurück, sondern besteht im konkreten Beitrag sowohl zur Erhaltung der polnischen Kultur und Identität als auch zur Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit. Die Katholische Kirche hat große Verdienste in diesem Bereich aufzuweisen, sei es während der Teilung Polens oder der Aufstände gegen die Besatzungsmächte, sei es auch während des kommunistischen Regimes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.25 Ebenso haben einzelne Priester großen Einfluss auf die polnische Kultur und 24

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Nach dem Osmanisch-Polnischen Krieg (1620–1621) wurde der Polnisch-Litauische Staat in die Reihe der sog. antemurale Christianitas-Staaten aufgenommen. Der Terminus antemurale bedeutet so viel wie Vormauer oder Bollwerk. Der polnisch-litauische Staat war also ein Bollwerk des (katholischen) Christentums gegen Muslime, später auch gegen orthodoxe Christen und Bolschewiken. Die antemurale-Vorstellungen wurden in der polnischen Kultur und Identität sehr ernst genommen. Der Zweite Nordische Krieg (1655–1660) wurde zwischen polnisch-litauischen und schwedischen Truppen ausgetragen. Den vorwiegend protestantischen Schweden gelang es fast, den gesamten polnisch-litauischen Staat zu besetzten, bis sie das Marienkloster in CzĊstochowa (Tschenstochau) im Winter 1655 zu erobern versuchten. Die Belagerung von Jasna Gȩra, welches schon damals ein polnischer Wallfahrtsort und nationales Heiligtum war, wurde ein Wendepunkt des Krieges. Der bisher zerstrittene polnisch-katholische Adel vereinigte sich gegen die protestantischen Angreifer und drängte die Schweden aus dem Land zurück. Der Sieg wurde von Volk, Adel und König der Unterstützung der Mutter Gottes zugeschrieben. Die Hilfe der Mutter Gottes wird auch anderen schicksalshaften militärischen Siegen zugeschrieben, so zum Beispiel dem Sieg gegen die Sowjettruppen in der Schlacht bei Warschau (1920, auch als Wunder an der Weichsel bezeichnet). Die Schlacht wurde einen Tag nach dem Fest Mariä Himmelfahrt (15. August) entschieden, als polnische Truppen einen Gegenangriff gestartet hatten. Der Begriff „Teilung Polens“ bezieht sich auf die Jahre 1795–1918, als es keinen unabhängigen polnischen Staat gab. In dieser Zeit war die Katholische Kirche der einzige Ort, an dem es möglich war, die polnische Kultur zu pflegen. Zudem war die Kirche eine Anlaufstelle für den Unabhängigkeitskampf. Messen „für das Vaterland“ wurden öfter zu großen Manifestationen des Polentums. Auch haben katholische Priester aktiv den Unabhängigkeitskampf unterstützt. Ähnlich war es während der kommunistischen Ära (1945–1989). Die Kirche trug zur Entstehung freier Gewerkschaften bei, unterstützte die Freiheitskämpfer und vermittelte in Gesprächen zwischen der kommunistischen Partei und dem Volk. Die Bedeutung der Kirche und des katholischen Glaubens

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Staatlichkeit ausgeübt: Piotr Skarga trug zu Reformen in der polnischen Adelsrepublik im 16. Jahrhundert bei, Stanisáaw Konarski und Hugo Koááątaj reformierten das Schulwesen und setzen sich für eine weitgehende Modernisierung des Landes im 18. Jahrhundert ein, Jerzy Popieáuszko unterstützte die Opposition unter dem kommunistischen Regime. Die Bereitschaft der Hierarchie, aber auch einzelner Priester, zum Wohlstand des polnischen Staates beizutragen, verstärkte entscheidend die Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft einerseits und Staat und Kirche andererseits. Es muss also betont werden, um diese kurze Zusammenfassung der historischen Relevanz der Katholischen Kirche für die polnische Kultur, Identität und Staatlichkeit abzuschließen, dass im Laufe der Geschichte eine enge Verbindung des Polentums mit dem Katholizismus entstanden ist, weswegen die Katholische Kirche eine symbolische Bedeutung für die polnische Staatlichkeit erhielt. Diese Besonderheit des polnischen Katholizismus hängt mit einer anderen zusammen. Sie liegt darin, dass in Polen trotz merklichen Rückgangs in Großstädten eine hohe Anzahl Kirchgänger zu verzeichnen ist. Im Jahr 2009 besuchten ungefähr 50% der Befragten einmal in der Woche den Gottesdienst.26 Gleichzeitig blieb auch die Anzahl der Befragten, die an Gott glauben, sehr hoch. Im Jahr 2009 bezeichneten sich zwischen 93–97% der Polen als gläubig.27 Diese Angaben spiegeln aber nur einen Teil der Wahrheit wider. Eine weitere Besonderheit des polnischen Katholizismus ist nämlich, dass die Polen oft die Vorgaben der Kirche nicht befolgen. Diese Haltung betrifft vor allem die Einmischung der Kirche in die Politik, die generell nicht erwünscht ist. In einer Umfrage von 1999 äußerten 88% der Befragten, dass die Kirche weniger Einfluss als bisher auf die Politik des Staates haben sollte.28 Auch in den letzten Jahren trifft diese Form von kirchlicher Aktivität auf viel Ablehnung.29 Ebenso lehnen viele Polen Vorgaben der Kirche im Bereich der Moral und des Privatlebens ab. Damit ist unter anderem die Akzeptanz für Sex vor der

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für den Unabhängigkeitskampf lässt sich plausibel anhand der Tatsache darstellen, dass die Bilder der Mutter Gottes und des Papstes an den Eingangstoren der streikenden Werke angebracht wurden. Der Führer der SolidarnoĞü-Gewerkschaft – Lech WaáĊsa – trug immer ein kleines Bild der Mutter Gottes auf dem Jackett. In beiden Fällen wurde der Glauben zu einer Art Schutz vor feindlichen Kräften. Dazu kommen noch 15–20% „unregelmäßig Praktizierende“, die den Gottesdienst einmal oder zweimal im Monat besuchen und fast 20% „selten Praktizierende“, die nur einige Male im Jahr die Kirche aufsuchen., vgl. Centrum Badania Opinii Spoáecznej (Hg.), Dwie dekady przemian religijnoĞci w Polsce, Warszawa 2009, 4. Im Vergleich dazu waren es 2008 nur 5–14% „regelmäßig Praktizierende“ in Deutschland und 15–24% in Spanien, vgl. Loek Halman, Inge Sieben and Marga van Zundert (Hg.), Atlas of European Values: Trends and Traditions at the Turn of the Century, Leiden 2012, 65. Zum Rückgang der Anzahl der Kirchgänger in Großstädten Andrzej Kaluza, „Die katholische Kirche in der Defensive – auch in Polen“, Polen-Analysen 79 (2010) 2– 6. Centrum Badania Opinii Spoáecznej (Hg.), Dwie dekady przemian religijnoĞci w Polsce, 3. Dominik Hierlemann, Lobbying der katholischen Kirche. Das Einflussnetz des Klerus in Polen, Wiesbaden 2005, 101. Kaluza, „Die katholische Kirche in der Defensive“, 2.

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Ehe, Verhütung und Abtreibung gemeint. Man hat es also mit einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu tun: Einerseits betonen die Polen ihren Glauben und gehen regelmäßig zur Kirche, andererseits richten sie sich in praktischen Lebensfragen nach ihrer eigenen Moral. Diese Besonderheit wird von Adam Szostkiewicz bildhaft zusammengefasst: Die Polen sind religiös, aber nicht klerikal. Sie sind traditionsbewusst, aber nicht bigott. Sie begehen die katholischen Feiertage, erziehen ihre Kinder katholisch und gehen zur Kirche […]. Aber im privaten Leben orientieren sie sich eher an ihren eigenen Wünschen, Überzeugungen und Interessen als an den zehn Geboten.30

Die Ablehnung von Vorgaben der Kirche ist nur eine der Besonderheiten des polnischen Katholizismus, die von Szostkiewicz in diesem Zitat angesprochen wird. Er weist auch darauf hin, dass die Polen Traditionalisten sind. Tatsächlich werden traditionelle Riten und Gebräuche, die auf religiösen Inhalten basieren, sehr gepflegt. Gemeint sind hier vor allem Bräuche in Verbindung mit Weihnachten und Ostern, wie z. B. das Fasten am Karfreitag und Heiligabend, der Verzehr der traditionellen Heiligabendspeisen und das Oblatenbrechen. Die zwei letzteren Bräuche werden von 99% Polen gepflegt, also von mehr als der Anzahl der sich als gläubig Bezeichnenden.31 Szostkiewicz beobachtet außerdem, dass die Polen nicht klerikal sind. Zu den neuesten Beispielen dafür zählt ein Protest gegen die Klerikalisierung, welcher spontan im Sommer 2010 ausbrach. Während einer großen Demonstration in Warschau protestierten Tausende von vornehmlich jungen Menschen gegen die hohe Präsenz der Kirche im öffentlichen Raum, gegen die Einmischung in die Politik und die katholischen „Fundamentalisten“. Es waren Bänder mit Sprüchen wie „Kreuz in die Kirche. Polen ist ein säkulares Land. Grundgesetz beachten“, oder „Genug von der Diktatur des Kreuzes“ zu sehen.32 Diese Manifestation ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Katholische Kirche in Polen zum Zielobjekt einer massiven Kritik wird. Darüber hinaus verringert sich nach und nach der Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft. An dieser Stelle lohnt es sich, die Informationen über die Stellung der Katholischen Kirche in Polen zur Menschenrechtsthematik zusammenzufassen. Es muss wiederholt werden, dass sich die Kirche über eine hohe Zahl an Mitgliedern, hohes Ansehen und Traditionsverbundenheit der Polen freuen kann. Wichtig ist aber gleichzeitig, dass die Säkularisierung ihren Stempel aufgedrückt hat und die geschichtlich begründete Sonderstellung der Kirche teilweise angegriffen wird. Die Anzahl der Kirchenmitglieder

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Adam Szostkiewicz, „Der Preis des Ausnahmestatus. Polen widersetzt sich der raschen Säkularisierung“, in: Deutsches Polen-Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2009. Religion, Wiesbaden 2009, 35– 45, hier 41. Stanislaw Jopek, „Die Lage der katholischen Kirche in Polen“, in: Manfred Spieker (Hg.), Katholische Kirche und Zivilgesellschaft in Osteuropa, Paderborn 2003, 37–56, hier 54. „KrzyĪ do koĞcioáa. Polska to kraj Ğwiecki. Szanujmy konstytucjĊ“, „DoĞü dyktatury KRZYĩAkȩw“, Dariusz Bartoszewicz, „Kilka tysiĊcy osób w proteĞcie przeciwko krzyĪowi“, in: gazeta.pl, URL: http://warszawa.gazeta.pl/warszawa/1,34889,8233542,Kilka_tysiecy_osob_w_protescie_ przeciwko_krzyzowi.html (besucht am 25. Januar 2013).

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geht zurück, es verringert sich die Zahl der Kirchgänger. Der Rückgang ist zwar nicht so rasant und weitgehend wie in anderen katholischen Ländern Westeuropas,33 dennoch ist er erkennbar und betrifft vor allem die Jugend, was ein deutliches Zeichen für mögliche zukünftige Entwicklungen sein kann. Es lassen sich auch deutliche Anzeichen eines Entfremdungsprozesses zwischen der Gesellschaft und der Kirche feststellen: Weniger Menschen fühlen sich mit ihren Gemeinden verbunden, im Gegensatz dazu erleben viele den Glauben auf eigene Art und Weise,34 die Kirche wird heftiger Kritik unterzogen (zum Beispiel die Demonstration in Warschau 2010), weniger Polen befolgen die katholische Ethik. Die Kluft zwischen öffentlich erklärtem Glauben und Verbundenheit mit der Kirchenlehre scheint immer größer zu werden. Dieser Prozess der letzten Jahre ist von großer Bedeutung auch für die Menschenrechtsdebatten, da immer weniger Menschen sich nach den Vorgaben der Kirche richten. Die Wahrnehmung in der Praxis wird im nächsten Teil des Kapitels Thema sein.

Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte Die Debatten, die unter Beteiligung der Katholischen Kirche in den letzten Jahren stattgefunden haben, betreffen, wie zuvor angedeutet, drei Gruppen von Menschenrechten. In diesem Teil des Aufsatzes werden die Debatten bezüglich aller drei Gruppen kurz beschrieben. Zunächst werden die sogenannten „Reproduktiven Rechte“ genauer betrachtet. Besonders heftige Auseinandersetzungen werden in diesem Bereich um das Thema der Abtreibung und der künstlichen Befruchtung (in vitro) durchgeführt. Die kirchlichen Hierarchen halten Abtreibung für unzulässig und zwar aus den im ersten Teil dieses Kapitels genannten Gründen. Zurzeit ist in Polen ein restriktives Abtreibungsgesetz in Kraft, das 1993 unter dem Einfluss der Katholischen Kirche eingeführt wurde. Laut diesem Gesetz ist Schwangerschaftsabbruch nur aus streng medizinischen Gründen sowie wegen Missbildung des Fötus oder Vergewaltigung erlaubt.35 Seit seiner Einführung trifft dieses Gesetz immer wieder auf heftige Kritik und zwar sowohl seitens linker als auch rechter Parteien der politischen Szene. So wurde im Jahr 1997 ein weniger restriktives Gesetz vom linken Parlament beschlossen, dieses wurde aber vom Verfassungsgericht kassiert. Eine heftige Debatte um das Thema der Abtreibung brach erneut im Oktober 2011 aus, weil die rechtskonservative Solidarna Polska-Partei (Solidarisches Polen) ein strengeres Abtreibungsgesetz im Parlament vorgeschlagen hatte. Ihr Gesetzesentwurf sah vor, eine Abtreibung selbst

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Die Zahl der Kirchenmitglieder in Italien wurde 2008 auf 75–89% der gesamten Bevölkerung bestimmt. In Spanien waren es 60–74%, in Deutschland 45–59%, vgl. Halman, Sieben and van Zundert (Hg.), Atlas of European Values, 63. Für die Zahl der Kirchgänger siehe Fußnote 26. Darauf weisen auch die Statistiken des Meinungsforschungsinstituts von 2009 hin, vgl. Centrum Badania Opinii Spoáecznej (Hg.), Dwie dekady przemian religijnoĞci w Polsce, 5. In Deutschland hingegen ist laut § 218a StGB eine Abtreibung bis 12 Wochen nach der Befruchtung straffrei.

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dann zu verbieten, wenn auf Grund von Pränataldiagnostik eine Missbildung des Fötus festgestellt werden kann. Die Debatte um diesen Entwurf führte zur Spaltung in der regierenden Platforma Obywatelska-Partei (Bürgerplattform) von Premierminister Donald Tusk, da ein Teil seiner Partei-Mitglieder für den Entwurf stimmte. Trotzdem wurde das neue Abtreibungsgesetz mit 245 zu 184 Stimmen am 24. Oktober 2012 abgelehnt.36 Auch polnische Bischöfe nahmen an der Debatte teil. Fünf Tage vor der Abstimmung über das geplante Abtreibungsgesetz gaben sie eine öffentliche Erklärung ab. In dieser äußerten sich die Bischöfe dahingehend, dass sie die Arbeit am Entwurf eines neuen Gesetzes unterstützen, weil „Kinder mit genetischen Erkrankungen – genauso wie alle andere Menschen – das Recht haben, geboren zu werden und unter uns zu leben, um zu lieben und geliebt zu werden“.37 Am Ende der Erklärung bedankten sich die Bischöfe bei allen, die das Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod schützten. Diese Stellungnahme polnischer Hierarchen wurde von vielen Beobachtern und liberalen Politikern als unerwünschte Einmischung in die Angelegenheiten des Staates kommentiert. Sie interpretierten die Erklärung seitens der polnischen Bischofskonferenz als einen Versuch, Druck auf die Abgeordneten auszuüben, wohingegen die konservativen Abgeordneten die Erklärung „mit höchster Anerkennung“ bedachten.38 Ähnlich hoch ist das Interesse der Öffentlichkeit am Thema der künstlichen Befruchtung. Der Grund für öffentliche Diskussionen sind die Entscheidungen der lokalen Behörden für die Mitfinanzierung künstlicher Befruchtungen. Im Oktober 2012 entschieden sich beispielsweise die Stadtratsmitglieder der Stadt CzĊstochowa (Tschenstochau) dafür, die künstliche Befruchtung bei Ehepartnern, die auf natürlichem Wege kein Kind bekommen können, aus öffentlichen Mitteln mitzufinanzieren. CzĊstochowa ist damit die erste Stadt in Polen,39 die sich für eine finanzielle Unterstützung aussprach. Gleichzeitig ist dies ein besonders herber Schlag für die Katholische Kirche, gilt diese Stadt doch als eines der religiösesten Zentren Polens. Nach der Entscheidung des dortigen Stadtrats überlegen auch andere Städte, den gleichen Schritt

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„`Báąd naprawiony´. `Tusk wystraszyá Godsona´. Komentarze po gáosowaniu ws. aborcji“, wprost, URL: http://www.wprost.pl/ar/353987/Blad-naprawiony-Tusk-wystraszyl-Godsona-Komentarzepo-glosowaniu-ws-aborcji/ (besucht am 25. Januar 2013). „Dzieci ze schorzeniami genetycznymi mają prawo do tego, by – tak jak wszyscy inni ludzie – urodziü siĊ i Īyü wĞród nas, by kochaü i byü kochanymi“ (aus dem Polnischen à.F.); „WaĪne oĞwiadczenie polskich biskupów: dzieci ze schorzeniami genetycznymi mają prawo, by urodziü siĊ i Īyü wĞród nas“, URL: http://wpolityce.pl/ wydarzenia/38853-wazne-oswiadczenie-polskichbiskupow-dzieci-ze-schorzeniami-genetycznymi-maja-prawo-by-urodzic-sie-i-zyc-wsrod-nas (besucht am 25. Januar 2013). Renata Grochal und Jacek Kowalski, „Biskupi do posáów: MoĪecie zaostrzyü ustawĊ antyaborcyjną. JesteĞmy z wami“, URL: http://m.wyborcza.pl/wyborcza/1,105226,12705759,Biskupi _do_ poslow__Mozecie_zaostrzyc_ustawe_antyaborcyjna_.html (besucht am 25. Januar 2013). Dorota Steinhagen, „Sosnowiec, Katowice, PoznaĔ teĪ dopáacą mieszkaĔcom do in vitro?“, URL: http://wyborcza.pl/1,76842,12705242,Sosnowiec__Katowice__Poznan_tez_doplaca_mieszkanco m.html#ixzz2HxTrRRF2 (besucht am 25. Januar 2013).

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zu wagen. Dieser Trend kommt nicht allzu überraschend, betrachtet man die neuesten Statistiken des Meinungsforschungsinstituts (CBOS) bezüglich der in vitro-Befruchtung. In einer Umfrage vom August 2012 unterstützen 79% aller Befragten künstliche Befruchtungen, nur 16% waren dagegen. Innerhalb der letzten zwei Jahre stieg die Unterstützung für in vitro-Befruchtungen um 6%.40 Die Kirche versucht, diesem Trend mit Drohungen entgegenzuwirken. Der Erzbischof von Szczecin i Kamieniec Pomorski (Stettin-Cammin) – Andrzej DziĊga – drohte so in einem Hirtenbrief im November 2012, dass Menschen, die sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden, keine Kommunion bekommen sollten. Auch der Erzbischof von CzĊstochowa – Wacáaw Depo – hat sich entschlossen gegen in vitroBefruchtungen gewandt.41 Die Stellung polnischer Hierarchen zu diesem Problem ist seit einigen Jahren gleichbleibend. Bereits im Juni 2010 drohte die Polnische Bischofskonferenz mit Kommunionsverweigerung für Menschen, die für künstliche Befruchtung stimmen oder sich für sie entscheiden.42 Hierarchen und auch Priester bringen drei Argumente vor, die gegen künstliche Befruchtung sprechen: Erstens berufen sie sich auf – wie sie es bezeichnen – Gottes Gesetz und die Menschwürde, die ihrer Meinung nach durch in vitro verletzt würden. So argumentierten auch die zuvor zitierten Erzbischöfe DziĊga und Depo, die aus diesem Grund künstliche Befruchtung als eine schwere Sünde ablehnten. Ihr zweites Argument gegen künstliche Befruchtung ist der Prozess der Tötung künstlich gezeugter Embryonen, für die kein Bedarf besteht. Laut Ryszard Sztychmiler – katholischer Priester und Professor an der Universität ErmlandMasuren (Uniwersytet WarmiĔsko-Mazurski) –, der sich auf wissenschaftliche Studien beruft (Mladovsky, Sarenson),43 werden 60 bis sogar 90% aller Embryonen zerstört.44 Für katholische Hierarchen ist das nicht akzeptabel, weil, wie bereits erwähnt, das menschliche Leben laut katholischer Ethik bei der Befruchtung beginnt. Aus dieser Perspektive wird die Zerstörung von Embryonen als Tötung empfunden. Ryszard Sztychmiler liefert auch das dritte Argument gegen in vitro-Befruchtungen. In-vitroKinder würden häufiger erkranken, wiesen eine zweimal höhere Sterblichkeitsrate auf,

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CBOS (Hg.), Postawy wobec stosowania zapáodnienia in vitro, Warszawa 2012, 1. Ewa K. Czaczkowska, „Albo in vitro, albo komunia?“, Rzeczpospolita, URL: http://www. rp.pl/ artykul/81429,953403-Albo-in-vitro--albo-komunia-.html?p=1 (besucht am 25. Januar 2013). Ibidem. Sztychmiler verzichtet leider auf bibliografische Angaben. Er meint aber wohl folgenden Beitrag: Philipa Mladovsky und Corinna Sorenson, „Public Financing of IVF: A Review of Policy Rationales“, Health Care Analysis 18/2 (2010) 113–128. Marcin Osiak, „Dlaczego KoĞcióá potĊpia in vitro?“, URL: http://www.familie.pl/artykul/ Dlaczego-Kosciol-potepia-in-vitro,1133,1.html (besucht am 25. Januar 2013).

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zudem würden bei ihnen mehr Geburtsfehler als bei „normal“ gezeugten Kindern auftreten.45 Die Befürworter der künstlichen Befruchtung bringen eigene Argumente vor,46 sodass eine energische Debatte geführt wird, die zudem auch einen lebhaften Widerhall in der Presse gefunden hat. Die früher zitierten Statistiken in Bezug auf die Akzeptanz der künstlichen Befruchtung innerhalb der polnischen Bevölkerung zeigen jedoch, dass die Polen eher den Argumenten der Befürworter von in vitro Folge leisten als denen der Kirche. Zu der zweiten Gruppe von Menschenrechten, die in diesem Beitrag besprochen werden sollen, gehören die Rechte sexueller Minderheiten. Es handelt sich hier um Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Das Diskriminierungsverbot, das im internationalen Recht und vielen Menschrechtserklärungen formuliert wurde, ist aus den im ersten Teil dieses Beitrages genannten Gründen ein Dorn im Auge der Katholischen Kirche. In Polen wurden seit dem Zerfall des kommunistischen Regimes bittere Kämpfe in diesem Bereich geführt. Als Mitte der 1990er Jahre ein Entwurf eines demokratischen Grundgesetzes vorgestellt wurde, protestierte der katholische Episkopat. Polnische Bischöfe kritisierten vor allem neben dem Fehlen an invocatio Dei in der Präambel eben auch die Formulierungen in Bezug auf die Rechte sexueller Minderheiten.47 Ein Jahrzehnt später nahmen katholische Hierarchen an Diskussionen über die Charta der Grundrechte der Europäischen Union teil und bemängelten dort das geschilderte Problem des Diskriminierungsverbots und Formulierungen über Familie und Ehe.48 Unter dem Einfluss der Hierarchen lehnte die konservative Regierung von Jarosáaw KaczyĔski 2007 dieses Dokument ab und vereinbarte eine Ausnahmereglung

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Ibidem. Dieses Argument von Sztychmiler wird nur teilweise durch wissenschaftliche Studien bestätigt. In vitro-gezeugte Kinder leiden häufiger am Beckwith-Wiedemann-Syndrom, cerebralen Lähmungen und Schlafstörungen. Bei vielen anderen Erkrankungen konnten keine Unterschiede zwischen in vitro und „normal“ gezeugten Kindern festgestellt werden. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass es nur wenige ausführliche Studien zu diesem Thema gibt. „IVF: Keine vermehrten Fehlbildungen durch Imprinting“, URL: http://www.wunschkinder.net/aktuell/wissenschaft/ivfund-icsi/ivf-keine-vermehrten-fehlbildungen-durch-imprinting-54/ (besucht am 25. Januar 2013). Sie beziehen sich ebenso wie die Gegner auf wissenschaftliche Studien, die aber andere Ergebnisse darstellen. So wird beispielsweise von Monika Adamczyk-Popáawska – wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Warschau (Uniwersytet Warszawski) – zusammengefasst, dass in-vitroKinder keine gravierenden Unterschiede bei Erkrankungen und Sterblichkeitsraten aufweisen, vgl. Monika Adamczyk-Popáawska, „Dzieci z in vitro“, URL: http://www.proinvitro.pl/badania-nadin-vitro/badania-nad-in-vitro---publikacje/dziecizinvitro-opracowaladrmonikaadamczyk-poplaws ka. Es wird auch die Tatsache hervorgehoben, dass keine Embryonen getötet werden, vgl. „Fakty o in vitro“, URL: http://www.proinvitro.pl/Home (beide Webseiten besucht am 25. Januar 2013). Mehr zu diesem Thema: Dieter Bingen, Katholische Kirche und Demokratie in Polen 1990–1995, Köln 1996, 29–32. Bischöfe wiesen darauf hin, dass diese Formulierungen unpräzise seien. Darüber hinaus konnten sie indirekt suggerieren, dass es keine andere Ehe geben konnte als die zwischen einem Mann und einer Frau, vgl. Klaudyna Biaáas-ZieliĔska, „Polscy przeciwnicy Karty Praw Podstawowych Unii Europejskiej“, Studia Erasmiana Wratislaviensia 4 (2010), 425–438, hier 431–432.

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für die Auslegung der Charta in Polen (sog. Opt-Out-Klausel). Seitdem müssen nicht alle Beschlüsse der Charta in Polen umgesetzt werden. Der Erfolg des Lobbyings der Katholischen Kirche in dieser Angelegenheit kann darauf zurückgeführt werden, dass die Akzeptanz von Homosexualität in Polen niedriger als in den übrigen (west-)europäischen Ländern ist. Laut Angaben des Meinungsforschungsinstituts (CBOS) aus dem Jahre 2008 akzeptieren 79% der Polen homosexuelle Ehen nicht (18% Zustimmung); 69% meinen, dass Homosexuelle ihre Lebensweise nicht öffentlich zeigen sollten (25% Zustimmung) und 90% sind der Meinung, dass Schwule und Lesben kein Recht auf Adoption haben sollten (6% Zustimmung).49 Damit wird also deutlich, dass die Kritik der Kirche an den Rechten sexueller Minderheiten auf fruchtbaren Boden trifft. Verschiedene Organisationen von Schwulen und Lesben50 versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und organisieren Aufklärungskampagnen, deren Ziel es ist, die Einstellung der polnischen Bevölkerung der Homosexualität gegenüber zu verändern. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die 2003 stattgefundende Billboard Kampagne „Niech nas zobaczą“ („Sollen sie uns doch sehen“), im Rahmen derer Bilder von dreißig homosexuellen Paaren gezeigt wurden. Es werden auch zahlreiche Festivals organisiert wie „Kultura dla Tolerancji“ („Kultur für Toleranz“) in Krakȩw (Krakau), „Queer Fest“ in ToruĔ (Thorn) und „Festiwal TĊczowych Rodzin“ („Das Festival der Regenbogenfamilien“). Anlässlich vieler dieser Aktionen lassen sich Stimmen von Hierarchen, konservativen Politikern und katholischen Gruppierungen vernehmen, die sie als „homosexuelle Propaganda“ stigmatisieren.51 Als Antwort auf diese Aktionen unterstützt die Kirche Kampagnen, die ein traditionelles Bild der Familie propagieren. In diesem Zusammenhang ist der jährlich stattfindende „Marsz dla ĩycia i Rodziny“ („Marsch für Leben und Familie“) zu erwähnen. In der Argumentation der Katholischen Kirche in Polen bezüglich der Homosexualität lassen sich keine spezifisch polnischen Besonderheiten feststellen. Es wird also von polnischen Hierarchen und Priestern, genauso wie von anderen katholischen Geistlichen darauf hingewiesen, dass Homosexualität ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung und das göttliche Recht sei, wie bereits im ersten Teil dieses Beitrags erwähnt. Gleichzeitig kann aber gesagt werden, dass polnische Bischöfe zu den Hardlinern gehören, die besonders weit in ihrer Kritik an der Homosexualität gehen. Immer wieder wird beispielweise Homosexualität als Krankheit oder, im besten Fall, als Sünde bezeichnet.52 Es wird auch betont, dass homosexueller Geschlechtsverkehr „das Tor 49

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Centrum Badania Opinii Spoáecznej [Meinungsforschungsinstitut] (Hg.), Prawa gejȩw i lesbijek, Warszawa 2008, 2–5. Zum Beispiel Lambda, Kampania Przeciw Homofobii, Stowarzyszenie Gejȩw i Lesbijek na Rzecz Kultury, Fundacja Kultura dla Tolerancji. „Tygodnik Lisa pod ostrzaáem: Nachalna propaganda homoseksualna!“, URL: http://wiado mosci.dziennik.pl/media/artykuly/397431,tygodnik-lisa-pod-ostrzalem-nachalna-propaganda-ho moseksualna-w-newsweeku.html (besucht am 25. Januar 2013). „Problematyka homoseksualizmu – Rozmowa z ks. prof. dr hab. Tadeuszem ĝlipko SJ“, URL: http://www.bibula.com/?p=25003 (besucht am 25. Januar 2013).

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zum Himmel schließt“, wie es bildhaft Bischof Pieronek beschreibt.53 Die Katholische Kirche beruft sich im Zusammenhang mit den Rechten sexueller Minderheiten auch auf die Menschenrechte. Im Juli 2011 fand in Polen die Aussage des Erzbischofs Silvano Tommasi – Ständiger Vertreter des Heiligen Stuhls beim Büro der Vereinten Nationen in Genf – einen lebhaften Widerhall. Der italienische Geistliche kritisierte die zunehmende Auffassung von Rechten von Lesben und Schwulen als Menschenrechten und beschrieb die Forderung der Kodifizierung dieser Rechte als widersprüchlich zu den „wahren Menschenrechten“ wie Religionsfreiheit oder das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen.54 Die Katholische Kirche in Polen stimmt durchaus mit dieser Argumentation überein und verwendet ihrerseits ebenso die Rhetorik des Menschenrechtsdiskurses. Dem Diskriminierungsverbot von Homosexuellen wird die Diskriminierung von „traditionellen Werten“ gegenübergestellt und darüber hinaus wird die Befürwortung der Rechte von Lesben und Schwulen als diskriminierend für katholische Familien eingestuft.55 Die Übernahme der Menschenrechtssprache für die Argumentation in eigener Sache ist nicht atypisch und lässt sich auch bei der nächsten Gruppe der Menschenrechte feststellen. Es handelt sich hier um die Religions- und Gewissensfreiheit. Im ersten Teil dieses Aufsatzes wurde bereits erwähnt, dass Rechte, die zu dieser Gruppe gehören, unter dem Schutz vieler Menschenrechtserklärungen stehen. Interessanterweise berufen sich auf diesen Schutz sehr oft beide streitenden Parteien. Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Beitrages sind es die Katholische Kirche einerseits, linke Parteien und atheistische Gruppierungen andererseits. Gegenstand des Disputes sind vor allem der Religionsunterricht an den Schulen, das Thema des Kreuzes in öffentlichen Gebäuden und die höhere Präsenz der Katholischen Kirche bei staatlichen Festen, Festakten oder Einweihungen von öffentlichen Gebäuden. Im Folgenden wird vor allem auf Debatten über die Verwendung von religiösen Symbolen (Kreuze) im öffentlichen Raum eingegangen. Dieses Thema ruft immer große Emotionen hervor, was mehrere Gründe hat. Das Kreuz gilt als ein heiliges Symbol für alle Christen. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass in Polen eine besonders starke Verehrung des Kreuzes festzustellen ist. Dies gilt nicht nur für die offizielle Lehre der Kirche (das Kreuzerhöhungsfest wird feierlich zelebriert, viele Kirchen und Gemeinden sind nach der Kreuzerhöhung benannt), sondern auch für die Volksreligiosität (bis heute ist die Tradition des Aufstellens von Kreuzen an Wegkreuzungen im ländlichen Raum sehr lebendig; Kreuze werden über Türschwellen in Wohnungen und Häusern angebracht). Dies ist nicht zu unterschätzen, 53

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„Polski biskup: seks homoseksualny blokuje drogĊ do Nieba“, URL: http://wiadomosci.wp.pl/ kat,1356,title,Polski-biskup-seks-homoseksualny-blokuje-droge-do-Nieba,wid,11790966,wiado mosc.html?ticaid=1fe66 (besucht am 25. Januar 2013). „Prawa do zachowaĔ homoseksualnych sprzeczne z prawami czáowieka uwaĪa Watykan“, URL: http://www.gazetaprawna.pl/wiadomosci/artykuly/530711,prawa_do_zachowan_homoseksualny ch_sprzeczne_z_prawami_czlowieka_uwaza_watykan.html (besucht am 25. Januar 2013). Czesáaw Ryszka, „Homoseksualne rĊce precz od Polski“, URL: http://www.niedziela.pl/artykul_ w_niedzieli.php?doc=nd200720&nr=32 (besucht am 25. Januar 2013).

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weil, wie im zweiten Teil beschrieben, die Polen sehr traditionsverbunden sind. Ein anderer Grund für die besondere Aufregung bei Debatten über die Verwendung religiöser Symbole liegt in der oben beschriebenen Bedeutung der Religion / Katholischen Kirche für die polnische Staatlichkeit. Das Kreuz wurde oft als Symbol des Kampfes um Unabhängigkeit verwendet, sei es seit dem 17. Jahrhundert (antemurale Christianitas), sei es auch unter dem kommunistischen Regime. Unter diesen Umständen kann die Aufregung vieler Polen über die Entfernung von Kreuzen aus dem öffentlichen Raum nicht verwundern. Die letzte Bemerkung wird zudem von Meinungsforschungsinstituten bestätigt. Laut Statistiken aus dem November 2011 sagen 88% aller Polen, dass sie ein Kreuz in öffentlichen Gebäuden nicht stört.56 Zieht man sowohl diesen Fakt in Erwägung als auch die besondere Bedeutung des Kreuzes in Polen, muss festgestellt werden, dass die Gegner der Verwendung von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum die besonders schwierige Aufgabe haben, die Öffentlichkeit von ihrem Postulat zu überzeugen. Sie bringen tatsächlich zwei gewichtige Argumente vor. Zum einen weisen linke Parteien und atheistische Gruppierungen auf das polnische Grundgesetz hin, laut dessen in der polnischen Republik eine Trennung von Staat und Kirche besteht. Zum anderen fühlen sie sich wegen ihrer atheistischen Weltanschauung diskriminiert.57 Diese Diskriminierung versuchen linke Politiker zu beheben, indem sie verschiedene Gesetzesentwürfe fördern (zum Beispiel das Postulat der Ruch Palikota-Partei [Palikot-Bewegung] vom Oktober 2011, welches die Entfernung des Kreuzes aus dem Plenarsaal des Parlaments forderte). Atheistische Gruppierungen führen ihrerseits Aufklärungskampagnen durch.58 Die Katholische Kirche in Polen setzt sich für die Verwendung von Kreuzen im öffentlichen Raum ein und verteidigt ihr Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben. Wie früher angedeutet, beruft sich die Kirche auch hier auf Menschenrechte. Es wird darauf hingewiesen, dass die Freiheit der Kirchen zu öffentlicher Verkündigung ihres Glaubensgutes zu ihren in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausdrücklich formulierten Rechten gehöre (Art. 18). Auf diese (und andere) Menschenrechtserklärungen berief sich im Juni 2012 auch der Sozialrat des Erzbistums PoznaĔ (Posen). Seine Mitglieder schrieben in einer öffentlichen Erklärung an die Abgeordneten des polnischen Parlaments, dass die Infragestellung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, die Entfernung von Kreuzen aus dem öffentlichen Raum, die Beanspruchung von Stillschweigen öffentlicher

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Centrum Badania Opinii Spoáecznej (Hg.), ObecnoĞü krzyĪa w przestrzeni publicznej, Warszawa 2011, 2. Zum Beispiel die Satzung einer atheistischen Organisation: „O nas“, URL: http://www.Wolnoscod religii.pl/index.php?id=o-nas (besucht am 25. Januar 2013). Zum Beispiel eine Billboardkampagne „Nie zabijam. Nie kradnĊ. Nie wierzĊ“ (Ich töte nicht. Ich stehle nicht. Ich glaube nicht). Im Laufe dieser Kampagne wurden Billboards mit atheistischen Sprüchen in ganz Polen zwischen Oktober 2012 und Januar 2013 aufgestellt.

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Personen bezüglich ihrer sittlichen Grundsätze oder Weltanschauung als Versuche der Begrenzung von Religionsfreiheit gelten.59

Die Sprache dieser Erklärung ist repräsentativ für die Argumentation der Katholischen Kirche. Die Hierarchen betonen neben menschenrechtlichen Argumenten auch die religiöse Bedeutung des Kreuzes für das Christentum. Das Kreuz ist ihrer Meinung nach ein Symbol besonderer Bedeutung, die Entfernung des Kreuzes aus dem öffentlichen Leben ein großer Verlust für die Gesellschaft.60 Ein maßgebendes Urteil in Bezug auf den Platz des Kreuzes im öffentlichen Raum hat Johannes Paul II. verlauten lassen, als er die Katholiken aufforderte, Kreuze in Schulen, Ämtern und Krankenhäusern zu verteidigen.61 Polnische Hierarchen richten sich treu nach dieser Forderung.

Schlusswort Wie bereits angeführt, ist die Katholische Kirche immer ein wichtiger Mitstreiter bei verschiedenen Debatten um die Menschenrechte in Polen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Kirche (immer noch) ein besonders großes Ansehen im Lande genießt. Anhand dreier Gruppen von Menschenrechten und einiger Beispielen diesbezüglicher Diskussionen lassen sich wichtige Schlussfolgerungen über die Stellungnahmen der Katholischen Kirche zu Menschenrechtsdebatten in Polen ziehen. Erstens lässt sich ohne Zweifel sagen, dass die Katholische Kirche in Polen aufgrund der großen Zahl ihrer Mitglieder und ihrer besonderen geschichtlichen Rolle, die sie im Land gespielt hat, viele Menschen ansprechen und darüber hinaus auch für politisches oder soziales Engagement mobilisieren kann. In Anlehnung daran versucht zweitens der polnische Episkopat Druck auf das Parlament auszuüben, um auf diesem Wege seine Forderungen zu verwirklichen. Dies wird bei allen oben beschriebenen Gruppen von Menschenrechten deutlich, am deutlichsten jedoch in der Abtreibungsdebatte. In Bezug auf die Diskussion über die Rechte Homosexueller und über die Religionsfreiheit muss auch drittens die Tatsache hervorgehoben werden, dass die Kirche bei diesen Diskussionen selbst die Menschenrechtssprache benutzt. Zum Zwecke der weiteren Etablierung traditioneller Ziele verwendet die Kirche somit moderne Methoden. Trotz dieser Taktik lässt sich jedoch viertens beobachten, dass die Ergebnisse neuester Parlamentsabstimmungen bezüglich der Menschenrechte keine eins-zu-einsÜbernahme kirchlicher Forderungen aufweisen. Ganz im Gegenteil richten sich bei

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„OĞwiadczenie Rady Spoáecznej przy Arcybiskupie PoznaĔskim o wolnoĞci religijnej“, URL: http://ekai.pl/biblioteka/dokumenty/x1407/oswiadczenie-rady-spolecznej-przy-arcybiskupie-poz nanskim-o-wolnosci-religijnej/ (besucht am 25. Januar 2013), aus dem Polnischen vom Verfasser. Bischof Stanisáaw Napieraáa, „KrzyĪ – znak Jezusa. KrzyĪ – Jezus ukrzyĪowany i zmartwychw staáy“, URL: http://www.diecezja.kalisz.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=1 88:krzyz-znak-jezusa&catid=28:akta-biskupa-kaliskiego& Itemid=378 (besucht am 25. Januar 2013). Jan Paweá II, KrzyĪ Zbawiciela, 150.

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dem Abtreibungsgesetz und der in vitro-Politik die Abgeordneten nicht nach der deutlichen Lehre der Bischöfe. Es muss also hervorgehoben werden, dass der Einfluss der Katholischen Kirche auf die Menschenrechtsdebatten zwar bedeutend ist, aber auch klare Grenzen hat und nicht überschätzt werden darf. Vielmehr lässt sich fünftens eine Tendenz hin zur Reduzierung der Bedeutung der Katholischen Kirche in den Menschenrechtsdebatten im Besonderen und in der Gesellschaft im Allgemeinen beobachten. Darauf weisen die in diesem Beitrag genannten Statistiken und Beispiele eines Entfremdungsprozesses zwischen der Gesellschaft und der Kirche hin. Die Zukunft wird zeigen, ob diese Tendenz fortschreiten wird.

Menschenrechte und christliche Tradition – Evangelische Aspekte Hans G. Ulrich In addition to the parallels between human rights and Christian ethos, it is important to argue from an evangelical perspective that the validity of and compliance with human rights are rooted in an ethic of judicial practice. This is in accordance with the political theory claiming that human beings have to be recognised as citizens and therefore as members of a legal community with equal rights. There can be no state of exception, holding that some human beings may become fundamentally dependent on others. This corresponds to the theological distinction between divine law (and rights) and human law (and rights). Thus, to protect human rights implies that the conditions necessary to claim such rights and the maintenance of the respective institutions are basically granted. This also includes the protection of the main characteristics of the human condition altogether.

Welche Impulse die Artikulation und die praktische Einforderung von Menschenrechten von den christlichen Traditionen erhalten haben, ist in vieler Hinsicht umstritten, aber mehr noch eine in vieler Hinsicht offene Frage. Vor allem ist offen, wie die Fraugestellung überhaupt lauten kann und welcher Weg der Klärung einzuschlagen ist, wenn man eine Verbindung zwischen Menschenrechten und christlichen Traditionen sucht. Zu diskutieren ist in Bezug auf die Fragestellung auch, von wo aus und woraufhin sie zu stellen ist. Wenn etwa gilt, im Rückblick festzustellen, was an Impulsen aus der christlichen Tradition registriert werden kann, die wie auch immer das Hervortreten von Menschenrechten beeinflusst oder gar bestimmt haben, dann ist diese Fragerichtung selbst noch daraufhin zu befragen, woraufhin sie gestellt wird. Soll sie etwa dazu dienen, eine gegenwärtig nicht sichtbare Verbindung zwischen Menschenrechten und christlicher Tradition ins Licht zu rücken, um die Geltung der Menschenrechte zu stärken, soll sie etwas Inhaltliches verdeutlichen, das für die gegenwärtige Arbeit mit den Menschenrechten wichtig ist oder soll sie das Nachdenken über das Inhaltliche auf eine neue Spur setzen, die womöglich bisher noch nicht kenntlich geworden ist, oder soll sie womöglich Urheberrechte reklamieren, um umgekehrt die Geltung christlicher Tradition zu stärken? Es gibt eine Reihe von solchen Zugängen, von denen einige mehr oder weniger erkundet worden sind. Es liegt nahe, dass für einzelne christliche Traditionen dies im Besonderen geklärt wird. Damit ist vermutet, dass sich durchaus verschiedene Zugänge zu den Menschenrechten und verschiedene Verortungen abzeichnen. Eine andere Frage ist dann, was die Reichweite dieser Traditionen ist, wo und wie

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von ihnen Impulse ausgegangen sind und wie gegenwärtig oder künftig ihre Verbindung zu den Menschenrechten explizit werden kann. Diese nachträgliche Interpretation erfordert eine eigene hermeneutische Arbeit.1 Manche Versuche der Rekonstruktion und Interpretation sind unternommen worden. Die Verbindung zwischen der Artikulation und Begründung der Menschenrechte in verschiedenen philosophischen und rechtstheoretischen Hinsichten mit theologischen Kontexten und umgekehrt ist unterschiedlich eng oder lose. Davon bleibt unterschieden, wie die Menschenrechte in die Grammatik, die Systematik der Traditionen eingeschrieben sind – wie sie sich genuin damit verbinden, wenn dies denn möglich ist, und über welche Brückentopoi das möglich ist. Auch von evangelischer Seite sind manche Versuche unternommen worden, zu zeigen, wie die Menschenrechte in der theologisch-ethischen Tradition verortet werden können. Dazu gehört die Interpretation von Wolfgang Huber und Heinz-Eduard Tödt, die von einer Analogie zwischen den Menschenrechten und christlich verstandenen Kennzeichen der Menschlichkeit des Menschen sprechen.2 Sie finden die Analogie im Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Kennzeichen humanen Lebens. In christlicher Sprache wird so per analogiam entschlüsselt, was die Menschenrechte voraussetzen oder enthalten.3 Zu fragen ist dann, in welcher Weise die theologische Pointe in diesen Analogien – etwa beim Verständnis der Freiheit der Person – einen genuinen Impuls setzt, der die Bedeutung der Menschenrechte profiliert. Es ist aber deutlich, dass diese Interpretation keine tiefere Verwurzelung der Menschenrechte in der christlichen Tradition, gar eine in geschichtlicher Wirksamkeit fassbare, aufgezeigt hat. Die zentrale Frage ist, an welchen neuralgischen Punkten die Menschenrechte im Besonderen einzufordern gewesen sind oder auch künftig eingefordert werden müssen. Das betrifft nicht nur die Frage, welche Menschenrechte in welchem Zusammenhang besonders verletzt worden sind, sondern auch die Frage, inwiefern einzelne Menschenrechte eine systematische Bedeutung haben für das Verständnis der Menschenrechte, ihres inneren Zusammenhangs und ihrer darin wurzelnden Wirksamkeit, und wie diese Bedeutung in die christliche Tradition eingeschrieben ist. Zu den mit der christlichen Tradition untrennbar verbundenen neuralgischen Punkten gehört die Bekenntnisfreiheit und darin enthalten die Freiheit, den christlichen Glauben zu leben. Dieses Problem der Freiheit hat Christen immer betroffen. Hier haben Christen sich de facto in der Konfliktzone von Menschenrechten bewegt und Angriffsflächen geboten. Wo sie

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Siehe dazu auch: Hans G. Ulrich, „Menschenrechte und die Praxis der Gerechtigkeit. Zur Diskussion um christliche Impulse für eine Ethik der Menschenrechte“, in: Karl Möseneder (Hg.), Menschenrechte. Vier Vorträge. Erlanger Universitätstage Amberg 2012 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, 128), Erlangen 2013, 75–107. Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1977. Siehe Der Lutherische Weltbund (Hg.), Theologische Perspektiven der Menschenrechte, Genf 1976.

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Christus bekannt haben, haben sie ein Menschenrecht praktiziert, das andere Menschenrechte einschließt, sofern das Bekenntnis des christlichen Glaubens die Freiheit praktiziert, die mit der Christusherrschaft gegeben ist. Die These II der Barmer Theologischen Erklärung (1934) lautet: „Durch Gott seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“ (1. Kor. 1, 30) Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.

Dies ist zugleich die Proklamation einer Praxis von Freiheit, die nicht durch diese oder jene Herrschaftsverhältnisse definiert oder beschränkt werden kann. Was immer als Freiheit politisch oder rechtlich zu gelten hat, muss vielmehr mit dieser ihrerseits politischen Freiheitspraxis übereinstimmen. Die Barmer Theologische Erklärung hat damit die Bedeutung des christlichen Bekenntnisses für die Menschenrechte auf den entscheidenden Punkt gebracht, der der Grammatik dieses Bekenntnisses entspricht. Mit der Praxis der Bekenntnisfreiheit wird deutlich, dass Menschenrechte, die eine solche Praxis zu schützen haben, politische Rechte sind. Die Praxis, die sie schützen, betrifft das Zusammenleben unter gleichen Rechten für alle, die in einem entsprechend rechtlich verfassten politischen Gemeinwesen leben. Wenn Christen Bekenntnisfreiheit ausüben, dann muss dies auch für alle anderen gelten. An dem Recht auf Bekenntnisfreiheit wird sichtbar, dass es überhaupt darum geht, das Zusammenleben als ein politisches zu fassen und dieses nicht stattdessen durch wie auch immer verwurzelte inhaltliche Bindungen, erst recht nicht durch ideologische oder andere Überzeugungen zu sichern versuchen. Es geht um solche Rechte politischer Praxis, ohne die kein politisches Gemeinwesen existieren kann, wenn dieses zumindest daran gemessen als ein freiheitliches gelten soll. Menschenrechte werden so als Rechte explizit, die dieses Zusammenleben direkt als politisches schützen und die jeden Menschen als einen Bürger schützen, vor allem so schützen, dass er seine Bürger-Existenz wahrnehmen kann. In diesem Sinn sind sie Freiheitsrechte. Sie schützen die Praxis politischer Bürger. Es geht um die Freiheit einer bürgerlichen Existenz durch gleiche Rechte für alle, die in einem politischen Gemeinwesen zusammenleben. In der politischen Praxis, von Rechten geschützt, gleich zu sein, erweist sich so systematisch als der neuralgische Punkt, von dem alle anderen Rechte bestimmt werden. Hannah Arendt hat im Blick darauf von einem einzigen Menschenrecht gesprochen – dem Recht darauf, Rechte zu haben, und das heißt, in einer politischen

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Gemeinschaft die gleichen Rechte wie jeder Bürger zu haben.4 Eine politische Gemeinschaft ist per definitionem eine solche Rechtsgemeinschaft. Aus dieser kann niemand herausfallen dürfen. Die Gleichheit von Menschen als die Gleichheit von Bürgern aufgefasst, braucht damit keine weitere moralische Verankerung und ist in der Praxis dann auch von keiner weiteren moralischen Verpflichtung abhängig. Auf moralische Einstellungen oder Überzeugungen zu setzen erschien Hannah Arendt als unsicher, ja als gefährlich und eben dort nicht wirksam, wo gerade diejenigen Menschen geschützt werden müssen, denen ihre Bürgerrechte, die gleichen Rechte ihrer politischen Existenz, die sie mit anderen teilen, genommen worden sind. Moralische Verpflichtungen haben – so Hannah Arendt – nie Menschen sicher geschützt. Es kann nicht gut gehen, Menschen der Moral von Menschen auszusetzen. Die Sicherung von Menschenrechten als Bürgerrechte braucht keine inhaltlich-moralische Bestimmung von außen, von der aus ihre Geltung aufzurufen wäre. Bürgerrecht impliziert Rechtssysteme in den politischen Gemeinschaften, die entsprechende Grundrechte enthalten.5 Entscheidend ist, dass es keinen Raum außerhalb dieser geschützten Bürgerexistenz geben kann, in den Menschen geraten könnten. Das impliziert auch, dass es ein generelles und fundamentales Asylgebot geben muss, das gewährleistet, dass Menschen gleiche Rechte wie allen anderen Bürgern gewährt bekommen.6 Dass es keinen rechtsfreien Raum geben kann, in den Menschen versetzt werden, erweist sich so als systematischer Angelpunkt der Theorie des Politischen. Dann freilich geht es auch darum, wie Bürgerrecht selbst zu schützen ist dagegen, durch gegenläufige Praktiken von Herrschaft überlagert oder unterlaufen zu werden.

Menschenrechte in der evangelischen Ethik Auch diese Fassung der Geltung und Implementierung von Menschenrechten ist in den Traditionen gewiss verschieden zu verorten, auch innerhalb der evangelischen Ethik. Sie liegt derjenigen evangelischen Ethik besonders nahe, die – wie in der Barmer Theologischen Erklärung – das christliche Ethos als genuin politisches bestimmt, das heißt genauer als ein Ethos, das die Institution des Politischen – die Politia – voraussetzt. Die Politia gehört zu der verheißungsvollen Wirklichkeit, in die menschliches Leben gestellt ist. Jenseits oder außerhalb dieser Wirklichkeit kann keine Ethik oder Moral verortet sein. Dieser Wirklichkeit gilt es im Handeln, in der Ausübung der Gerechtigkeit (iustitia civilis) zu entsprechen, sodass nicht diese oder jene Vermögensverhältnisse oder gar Besitzverhältnisse das Zusammenleben bestimmen. Dies wären, wie

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Hannah Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in: Otfried Höffe, Gerd Kadelbach und Gerhard Plumpe (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik 2, Frankfurt am Main 1981, 152–167. Siehe Dolf Sternberger, „Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Neun Versuche über den Staat, Frankfurt am Main 1967. Siehe dazu die Diskussion zu Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

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Martin Buber gesagt hat, „biotische“ Verhältnisse, die dem Stärkeren „recht“ geben.7 Es gehört in diese Grammatik, dass die Ethik der Nächstenschaft, die Ethik der Nächstenliebe, das Insistieren auf dem „Recht des Nächsten“8 einschließt. Der Nächste kann hinsichtlich seiner Stellung im Zusammenleben nicht abhängig von der Macht oder auch Einstellung des einen oder anderen gedacht werden. Der Nächste erfährt Nächstenschaft in der (institutionell) gegebenen Praxis der Gerechtigkeit, die das politische Zusammenleben trägt.9 Es ist damit zugleich untrennbar im Blick, dass Menschenrechte ihren Sinn darin haben, dass sie auch direkt, in direkter Realisierung, ihre Geltung erweisen. So geht es um eine Begründung oder Verankerung der Menschenrechte, die zugleich eine bestimmte Praxis und Verfahren einschließt, sie direkt in ihrer Geltung zu vollziehen. Menschenrechte sind also nicht nur irgendwie einzufordern, sondern es gilt, auf eine Praxis zu setzen, die genuin mit den Menschenrechten verbunden ist – wie eben die Geltung von Rechten immer mit der Geltung von Rechtsprechung, von Urteil, verbunden ist. Zu unterscheiden ist damit für die Geltung von Menschenrechten die „Begründung“ im Sinne des substantiellen Inhalts, auf den man sich berufen kann und der zu bewahren ist, und die gegebene Praxis der Handhabung von Menschenrechten, die an bestimmten gefährdeten Punkten sichert, wie Menschen in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben. Es kommt immer zugleich auf die Geltung der Praxis und ihre Sicherung an, um die Geltung der Menschenrechte zu gewährleisten. Das macht sie zu Bürgerrechten. In diesem Sinne geht es um eine „Ethik“ der Menschenrechte. Sie setzt auf eine verbindliche Praxis, eine Praxis, die nicht von Überzeugungen, moralischen Einstellungen etc. abhängt. Es gehört zu den Konturen evangelischer Ethik, dass sie auf „Institutionen“ setzt.10 Der Begriff „Institution“, der auch für den Begriff „Ordnung“ steht, ist in dieser Tradition zentral. „Institutionen“ stehen gegen Macht- oder Besitzverhältnisse, die keinen externen Rechenschaftspflichten unterliegen. Menschen sind dort verletzt, unterdrückt und ausgebeutet worden, wo diese Institutionen zerstört waren. Hannah Arendt hat bemerkt, dass den verfolgten und vom Tode bedrohten Juden zunächst die Rechte abgesprochen wurden, bevor sie vernichtet wurden – ein Signal für die unumgehbare, allenfalls zerstörbare Bindung an die Praxis der Rechtsprechung. Wenn christliche Ethik und Christen versagt haben, so war es das Versagen gegenüber dieser grundle-

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Martin Buber, Recht und Unrecht. Deutung einiger Psalmen, Gütersloh/Gerlingen 19942, 31. Siehe Erik Wolf, Rechtstheologische Studien, Frankfurt am Main 1972. In Auseinandersetzung mit Nicholas Wolterstoff, siehe Bernd Wannenwetsch, „But to Do Right … Why the Language of `Rights´ Does Not Do Justice to Justice“, Studies in Christian Ethics 23 (2010) 138–147; Nicholas Wolterstorff, Justice: Rights and Wrongs, Princeton, NJ/Oxford 2008. Siehe besonders Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975, 173. Zur weiteren Entfaltung: Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2007.

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genden Voraussetzung, die durchaus tief in ihrer Tradition verwurzelt ist. Sie ist verwurzelt in einer politischen Theologie und Ethik, die festhält, dass „die Wege des Urteilens“11 immer konkrete Wege des Urteilens und seiner Institutionen sind. Im Blick auf eine institutionelle Fassung ist dann durchaus auch über die „Nationen“, die einzig als Rechtsstaaten zu verstehen sind, hinauszugreifen auf eine größere Gemeinschaft, die wiederum als politische zu fassen ist.12 Auch in dieser Dimension kann es keinen Raum ohne Rechtsprechung geben. Es muss entsprechende Institutionen geben. Diese sind durch keine andere Absicherung zu ersetzen. Dieser Grundgedanke des Schutzes der politischen Gemeinschaft kommt in der christlichen Tradition in der verheißungsvollen Aussage zur Geltung, dass jeder Mensch in Gottes Regiment und unter seinem Urteil (Ps 105, 10; 1 Kor 4, 4) steht – dies ist die institutionelle Gegebenheit – und dass daher keine politische Gemeinschaft absolute Herrschaft ausüben kann, sondern sich als Rechtsgemeinschaft konstituiert. Die Menschenrechte sind so mit einer Rechtsethik,13 das heißt mit einer Ethik der Rechtspraxis verbunden. In der Bestärkung dieses Zusammenhangs ist der besondere Beitrag evangelischer Ethik zu sehen. So ist es nicht eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen und dem, was daran zu schützen ist, sondern ein Rechtsethos, das damit gegeben ist, dass das menschliche Zusammenleben in seiner Rechtsbedürftigkeit wahrgenommen wird, die sich vor dem Hintergrund des Regiments Gottes abzeichnet. Die Geschichte der Geltung von Menschenrechten ist dann entsprechend als Institutionen-Geschichte zu beschreiben, als Geschichte von Achtung und Missachtung dieser Institutionen. Die biblischen Quellen, von denen diese Geschichte ausgeht, von denen sie ihre Impulse erfahren hat und auf die sich evangelische Ethik direkt immer wieder bezieht, sofern sie auch immer in der Verkündigung gegenwärtig sind, verweisen deutlich auf den Zusammenhang von Recht und Praxis der Gerechtigkeit. Das ist der hier entscheidende Aspekt zur Universalität der Menschenrechte im Modus der Praxis der Gerechtigkeit im Medium von Rechten. Die Universalität wird als geltende, praktizierte Universalität fixiert. Rechtsbedürftigkeit des Menschen besagt, dass es keinen Menschen geben darf, der nicht mit allen anderen in der politischen Gemeinschaft gleiche Rechtsprechung erfährt. Die Gleichheit ist darin begründet, dass es keine menschliche Macht geben kann, die über der Praxis der Gerechtigkeit im Medium des Rechts steht. Dieser Ausnahmezustand kann Menschen nicht zukommen. Die rechtsetzende Gewalt ist Gott allein vorbehalten.14 So bleibt menschliches Recht immer auf der Ebene der Praxis der Gerechtigkeit im Medium der Rechte, ihrer Ausdifferenzierung und Bewahrung – auch gegen ihre Transformation in andere „Gesetze“ 11

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Zur Traditionsgeschichte, siehe Oliver O’Donovan, The Ways of Judgment: The Bampton Lectures 2003, Grand Rapids, MI 2005. Siehe dazu Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998. Zum Überblick, siehe Hans-Richard Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, Gütersloh 1996. Siehe Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1. (Gesammelte Schriften), Frankfurt am Main 1991, 179–203.

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und entsprechende Praktiken. Die evangelische Ethik, soweit sie in der Reformation neu artikuliert worden ist, hat eben hier neu angesetzt, woran die Barmer Theologische Erklärung erinnert. Sie hat ihren theologischen Grund in der Abgrenzung gegen eine „politische Theologie“ oder auch gegen eine in Ekklesiologie transformierte politische Theologie, die die Differenz von Gottesrecht und Menschenrecht auflöst. Damit aber nicht dennoch, bei aller Gleichheit in der Rechtsprechung, Menschen durch Menschen verletzt, unterdrückt oder ausgebeutet werden, sind Menschenrechte im Zusammenhang mit all dem Weiteren gesehen worden, das die Menschlichkeit des Menschen tangiert, weil es das Zusammenleben unter gleichen Rechten stört oder unmöglich macht. Rechte erscheinen dann auch als Teilhabe-Rechte, die sichern, dass jeder Mensch Zugang hat zu allem, was allen gleichermaßen – um des Lebens in gleichen Rechten willen – zugänglich sein muss: Bildung, Wissen, Gesundheit, familiales Leben. Das Recht zur Teilhabe und die Verpflichtung, dieser Teilhabe entsprechend Gerechtigkeit auszuüben werden hier untrennbar. Die damit geforderte Praxis der Gerechtigkeit richtet sich darauf, Menschen in dem gerecht zu werden, was zur conditio humana gehört. Hier greifen weitere Gerechtigkeitstheorien, die diese conditio im Sinne von Verfahren sichern, damit auch in diesem weiteren Zusammenhang Gerechtigkeit nicht nur eine Forderung bleibt. Dies betrifft vor allem – auch im Sinne evangelischer Ethik – die Frage nach der öffentlich-staatlichen Verantwortung, die per se dort greifen muss, wo es um die Praktizierung dessen geht, was keinem Menschen vorenthalten werden kann, weil es zur conditio humana gehört und eine Bürgerexistenz ermöglicht. Die Diskussion um das Verhältnis zwischen den Menschenrechten als Bürgerrechten, die zu schützen sind, und den Rechten, die die conditio humana substantiell sichern, ist mit dem Problem behaftet, dass der Umriss und die Substanz dessen, was zu uns Menschen gehört, nicht direkt verbindlich zu machen sind, sondern in die vielfältigen Strukturen, Regierungspraktiken und Machtverhältnisse eingeschrieben sind. Doch genau deshalb sind die direkt zu sichernden Bürgerrechte als der Angelpunkt auch für die Sicherung der conditio humana wahrzunehmen – denn: Die substantiellen Inhalte der conditio humana sind die unabdingbaren Gehalte und Konditionen für die Ausübung politisch-bürgerlicher Praxis. Es wäre ein Widerspruch, wenn die direkt einzulösenden Menschenrechte nicht verbunden wären mit den wie auch immer indirekten, nicht fassbaren oder verborgenen Abhängigkeiten, die eine gemeinsame Praxis politischer Bürger verhindern. Es wäre ein Widerspruch, würde ein Mensch trotz Meinungsfreiheit keinen Zugang zur Bildung haben, also keine Möglichkeit, seine Meinung so gut wie möglich gemeinsam mit anderen zu entfalten. Es wäre ein abstraktes Nächsten-Recht, das nicht die leibliche Existenz des Nächsten schützen würde – dem Verständnis des Leibes entsprechend, durch den Menschen mit anderen Menschen kommunizieren. Auf diese Weise ist von dem Recht des Nächsten aus und auf dieses hin zur Geltung zu bringen, was im Sinne der Conditio humana zu schützen ist, ohne dass dies in ein bestimmtes „Menschenbild“ zu fassen oder in einem solchen zu „begründen“ ist.

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Das „Recht des Nächsten“ ist entsprechend im Sinne der notwendig ausgeübten Gerechtigkeit, die dem Nächsten gilt, und in seiner inhaltlichen Bedingtheit zu sehen. Darin zeichnet sich ab, inwiefern die Menschenrechte eine systemische Geltung haben und in einem einen inneren Zusammenhang stehen. Dies ist auch in solchen anthropologischen Begriffen wie „Person“15 und „Menschenwürde“ und ihrer Funktion festgehalten worden, die freilich ihre eigene Traditionsgeschichte haben. Jedenfalls ist festzuhalten, dass in den Menschenrechten Untrennbares aufeinander trifft. Dies zu erkennen und zu erschließen ist Aufgabe einer christlichen Ethik, die unabdingbare systematische Momente nicht ausschließen muss – wie etwa die Benennung des Rechtsgrundes, der von Menschen nicht besetzt werden oder durch andere „Begründungen“ ersetzt werden kann. Damit ist die Unterscheidung von Gottes Recht und Menschenrecht gegeben. Dieser Grammatik entspricht es, wenn Christen Gottesdienst als politischen Gottesdienst feiern, in dem sie von Gottes Gerechtigkeit hören und sein Urteil erfahren.16 Dieser Gottesdienst steht dem Ausnahmezustand entgegen, in dem Menschen ohne Recht wären und einem „Subjekt“ ausgeliefert, das Recht setzt. Dagegen steht die gottesdienstliche Situation, die in Psalm 82 zur Sprache kommt. Gott richtet die ungerechten Richter und behaftet sie dabei, Gerechtigkeit auszuüben. Die ungerechten Richter, die hier angeklagt werden, sind diejenigen, die in der Anonymität, im Hintergrund ihre Herrschaft ausüben, statt die Praxis der Gerechtigkeit walten zu lassen, die immer und jeder Zeit jedem einzelnen gilt, der so in dieser Praxis der Gerechtigkeit als Bürger erscheint. Dies ist – wie Martin Buber gesagt hat17 – der Psalm der Gegenwart, in dem politische Gemeinwesen durch anonyme Machthaber, Mächte und ihre Praktiken beherrscht werden und Menschen die Möglichkeit verlieren, politische Bürger zu sein. Wenn sich die christlichen Traditionen in ihrem verschiedenen Zugang zu den Menschenrechten zusammenfinden, dann ist der Gottesdienst, seine Liturgie18 und die darin enthaltende politische Ethik, das zentrale ökumenische Forum, auf dem sie sich treffen und ihr Gemeinsames finden können. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem Christen erfahren, was es heißt, nicht zurückgeworfen zu werden auf „bloßes Menschsein“, sondern Bürger zu sein: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist“ (Eph. 2,19–20).19

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Siehe dazu Marianne Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse, Konfliktfelder, Zukunftschancen, Mainz 2001, 16–23. Siehe dazu Bernd Wannenwetsch, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart (u. a.) 1997 [engl. Political Worship, Oxford 2004]. Buber, Recht und Unrecht in den Psalmen, 32. Siehe als Beitrag zum orthodoxen Verständnis von Gottesdienst in ethisch-politischer Perspektive: Picu Ocoleanu, Minima moralia eucharistica. Eine theologische Pathologie der Öffentlichkeit, Berlin/Münster 2001. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (1984).

Begründung der Menschenrechte jenseits von Religion und Säkularismus? Evert van der Zweerde Bei den Menschenrechten und der universalen Menschenwürde handelt es sich aber um einen so sensiblen Punkt, dass ein achselzuckendes oder spielerisches Verhältnis dazu wohl kaum in Frage kommt. Hans Joas, 20111 We are not born equal; we become equal as members of a group on the strength of our decision to guarantee ourselves mutually equal rights. Hannah Arendt, 19752 Ainsi, les droits ne font pas simplement l’objet d’une déclaration, il est de leur essence de se déclarer. Claude Lefort, 19753

This chapter casts a critical glance at complacent conceptions of human rights as being selfevident and therefore normatively right (and hence legitimately enforcible). It aims to counter this widespread view with both a more sober and more political understanding of human rights. Departing from the Arendtian and Lefortian notion of a “right to have rights”, it is argued that rights not only actually do, but should also rely on successful claims to have the rights in question. This also implies the necessity of self-restraint when it comes to the “foundation” of human rights, a point highlighted by Kwame Appiah and Jacques Maritain. A discussion, first, of debates about human rights in the world of Orthodox Christianity, second, of the contrasting notions of secularity and sacrality, and, third, of the relation between foundation and motivation, leads to an argument in favour of a primarily political understanding of human rights. The recognition, finally, of the vulnerability of the human being leads to the conclusion that human rights have to be declared inalienable and inviolable, precisely because they can be alienable and violable.

Drei Tatsachen lassen sich in Bezug auf das Thema Menschenrechte in der heutigen Welt zunächst feststellen. Erstens: die Befürwortung und Unterstützung der Menschenrechte ist ein groß angelegtes und globales Phänomen, das viele motiviert, nationale,

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Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2011, 14. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, San Diego CA (1951) 1975, 301. Claude Lefort, „Droits de l’homme et politique“, in: ders., L’invention démocratique, Paris (1981) 1994, 45–83, hier 65f.

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kulturelle, religiöse und „zivilisatorische“4 Grenzen transzendiert und in optimistischen Momenten auf einen weltweiten Konsensus zu weisen scheint.5 Zweitens: die Welt, in der wir leben, ist von einer ungeheuren Zahl von kleineren und größeren Verletzungen jener selben Menschenrechte gekennzeichnet, was in pessimistischen Momenten zu Zynismus und Nihilismus Anlass geben kann. Es besteht hier also eine beachtliche Diskrepanz. Drittens: es gibt in verschiedenen (politischen, akademischen, kirchlichen/theologischen) Kontexten andauernde Diskussionen bezüglich sowohl der genauen oder auch richtigen Substanz als auch der richtigen oder auch bequemsten Begründung der Menschenrechte, die nationale, kulturelle, religiöse und „zivilisatorische“ Grenzen teilweise gerade nicht überqueren und manchmal damit sogar zusammenzufallen scheinen; diese Diskussionen können in unreflektierten Momenten zu Relativismus und Indifferenz führen. Dort besteht ebenfalls eine Diskrepanz, und es ist wohl kaum zu erwarten, dass die zwei erwähnten Diskrepanzen in näherer Zukunft aufgehoben werden.6 Dieser drei Tatsachen wird in jeder Diskussion über Menschenrechte Rechnung getragen werden müssen. Vor den Hintergrund der fast automatischen, aber nicht selbstredenden Annahme, dass die Menschenrechte, ihre Behauptung und Berücksichtigung, ihre Einfügung in das positive Recht der meisten Länder und ihre tatsächliche Wahrung als eine wertvolle Sache, ein bonum, angesehen werden sollen, die sich weder auf faktische (westliche) Hegemonie noch auf reine Ideologie oder schlichtes window dressing reduzieren lässt (wenngleich alle drei reell sind), ergibt sich die Frage, auf welche Weise die Begründungsdiskussion mit dem Förderungsbedarf zu verbinden ist. Ich vermute hier zwei Fallstricke, nämlich einerseits einen Pragmatismus, der die Begründung instrumentalisiert und damit dem, was in den Diskussionen auf dem Spiel steht, nicht ausreichend Recht tut, und andererseits einen „Prinzipalismus“, der aus dem Auge verlieren kann, dass wir es letztlich mit vermeidbarem menschlichem Leiden zu tun haben, und dass Zeit darin eine wichtige Rolle spielt. Anderenorts7 habe ich versucht, eine nüchterne Perspektive zu entwickeln, die es ermöglicht, Menschenrechte vor allem als ein politisches Phänomen zu theoretisieren und die Universal Declaration of Human Rights von 1948 als eine Human Declaration of Universal Rights aufzufassen. Zugleich soll diese aber das konkrete „Wir“, das die Menschenrechte befürwortet bzw. sich für sie einsetzt (ich möchte es „Wir-HR“ nennen) über weltanschauliche oder zivilisatorische Differenzen hinweg ausdehnen. Ich teile dabei die Annahme, dass Menschenrechte ein bonum 4

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Mit „zivilisatorisch“ wird auf das weltweit populäre Paradigma von Samuel Huntington verwiesen („The West“, „The World of Orthodoxy“, „The Islamic World“ und so weiter); die Anführungszeichen drücken Skepsis aus. Amnesty International hat zum Beispiel weltweit über 3 Millionen Mitglieder in über 150 Ländern. URL: http://www.amnesty.org/en/who-we-are (besucht am 15. Februar 2012). Vgl. dazu auch die Einleitung von Stefan Gosepath und Georg Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 7–21, hier 9. Evert van der Zweerde, „Uneasy Alliances: Liberal, Religious and Philosophical Human Rights Discourse“, in: Alfons Brüning und Evert van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, Leuven/Paris/Walpole, MA 2012, 35–67, insbes. 62–67.

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sind – und ihre Verletzung ein malum –, ohne aber die Überlegenheit dieses Standpunkts zu unterstellen. Dass ein „Wir-HR“ Menschenrechte und deren Handhabung als „etwas Gutes“ angesehen werden, bedeutet an sich nicht, dass sich dieses „Wir“ auf Seiten des „Guten“ befindet. Die allgemeine Tendenz meiner Intervention zielt darauf, eine gewisse, meines Erachtens verheerende, Selbstzufriedenheit in Bezug auf die vorherrschende Menschenrechtekonzeption zu problematisieren. Zu leicht wird unterstellt, dass Wichtigkeit und Rechtfertigung der Menschenrechte sich von selbst verstehen. Zu leicht wird angenommen, dass der Inhalt der Menschenrechte oder ihre Rangordnung festliegt. Zu leicht wird akzeptiert, dass Menschenrechte, wie Elie Wiesel es ausdrückte, eine Art „world-wide civil religion“8 oder die lingua franca einer weltweiten wohlwollenden von NGOs und INGOs bevölkerten Zivilgesellschaft geworden sind. Diese Evidenzen und Akzeptanzen müssen hinterfragt werden. Die Frage ist hier, ob Menschenrechte bzw. der heute geltende Menschenrechtekatalog begründet oder gerechtfertigt werden sollten oder besser ohne letzten „Grund“ auskämen. Selbstzufriedenheit und Begründungsbedarf fließen dann darin zusammen, dass, falls es möglich wäre, die Menschenrechte theoretisch oder weltanschaulich oder philosophisch zu begründen, man damit auch die Rechtfertigung hätte, sie als normativ zwingend darzustellen bzw. ihre Realisierung legitim abzwingen zu wollen. Es geht also nicht um eine Kritik der Menschenrechte im Sinne einer Abweisung – ich bin „für“ die Menschenrechte wie auch andere das sind –, sondern um eine „Kritik der menschenrechtlichen Vernunft“, das heißt, um eine kritische Betrachtung des vorherrschenden Menschenrechtediskurses und dessen philosophischer bzw. weltanschaulicher Voraussetzungen. In diesem Beitrag werde ich somit einige Überlegungen ausarbeiten, die zu einem kritischeren und „politischeren“ Verständnis der Menschenrechte beitragen dürften, besonders in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Menschenrechtediskurs und Religion.

Vom Rechte, Rechte zu haben. Die erste Überlegung schließt sich an eine bekannte These Hannah Arendts an, die später von Claude Lefort aufgegriffen wurde: „Das wesentliche Menschenrecht ist das Recht, Rechte zu haben“.9 Anders gesagt: das Recht, als zoon politikon anerkannt zu sein, oder das Recht, Mitglied einer politischen Gemeinschaft zu sein. Noch anders gesagt: das allgemeine Recht, besondere Rechte beanspruchen zu dürfen. Das ist unabhängig davon, welche Rechte behauptet werden, und ist somit auch nicht an eine 8

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Elie Wiesel, „A Tribute to Human Rights“, in: Yael Danieli (u. a.) (Hg.), The Universal Declaration of Human Rights: Fifty Years and Beyond, Amityville NY 1999, 3 [zitiert nach Michael Ignatieff, „Human Rights as Politics and Idolatry“, in: Amy Gutmann (Hg.), Human Rights as Politics and Idolatry, Princeton, NJ/Oxford 2001, 3–98, hier 53]. Arendt, The Origins of Totalitarianism, 286 und 296; Claude Lefort, „Les droits de l’homme et l’État-providence“, in: ders., Essais sur le politique XIXe–XXe siècles, Paris 1986, 31–58, hier 51.

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bestimmte Begründung gebunden. Dieses allgemeine Recht, Rechte zu haben, wird weltweit von Menschen behauptet, die überhaupt keine Rechte haben oder bestimmte Rechte entbehren, und zwar implizit im Beanspruchen konkreter Rechte (dies trifft im Prinzip auf jeden Emanzipationsstreit zu, ob von Frauen, Immigranten, religiösen Minderheiten, Sklaven und so weiter). Die Frage, welche Rechte behauptet oder angestrebt werden, ist eine ganz andere, sowie auch die Frage, ob diese Rechte auch verwirklicht werden, d.h. ob die jeweilige politische Gemeinschaft sich dazu entschließt, diese einzuräumen oder nicht. Es könnte scheinen, als wäre dieses Recht, Rechte zu haben, etwas Minimales. Dass das nicht der Fall ist, wurde jüngst verdeutlicht von Bonnie Honig, die sich dabei außer auf Hannah Arendt auch auf Étienne Balibar stützt: The distinction between the unconditional and the conditional might illuminate from a new angle Arendt’s famous call for the right to have rights. This is a call in the name of an unconditional order of rights, something that is quite distinct [...] from such tables of rights as universal human rights, the Rights of Man, or EU charters. The right to have rights is itself a double gesture: It is a reproach to any particular order of rights (albeit certainly to some more than others) and a demand that everyone should belong to one such order.10

Und Balibar schreibt: L’idée du «droit aux droits» n’est pas une idée minimale, désignant un résidu juridique et moral que la politique devrait préserver, elle est au contraire une idée maximale, ou plus exactement elle désigne la façon dont le minimum, la reconnaissance de l’appartenance des êtres humains à la sphère «commune» des conditions d’existence, donc du travail, de la culture, de la parole publique et de la conviction privée, etc., renferme déjà l’exigence du maximum et la rend possible. Je vois là pour ma part un élément constituant qui est inséparable de toute construction ou constitution de la démocratie, exprimant le fait «insurrectionnel» que la démocratie, par définition, ne se construit pas comme imposition de statuts et distribution de fonctions par une autorité supérieure, mais seulement par la participation et l’intervention, directe ou indirecte, du «peuple» [...].11

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Bonnie Honig, Emergency Politics; Paradox, Law, Democracy, Princeton, NJ 2009, 117; mit Verweisen auf Arendt, The Origins of Totalitarianism, 296; siehe auch James D. Ingram „What Is a `Right to Have Rights´? Three Images of the Politics of Human Rights“, American Political Science Review 102 (2008) 401–416. Étienne Balibar, Nous, citoyens d’Europe, Paris 2001, 188; in Honigs Zitat aus der englischen Übersetzung: „[...] `right to have rights´ does not feature a minimal remainder of the political, made of juridical and moral claims to be protected by a constitution; it is much more the idea of a maximum. Or, better said, it refers to the continuous process in which a minimal recognition of the belonging of human beings to the `common´ sphere of existence (and therefore also work, culture, public and private speech) already involves – and makes possible – a totality of rights. I call this the `insurrectional´ element of democracy, which plays a determinant role in every constitution of a democratic or republican state.“ (Honig, Emergency Politics, 174, Anm. 14, Verweis auf Étienne Balibar, We, the People of Europe, Princeton 2003, 120).

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Es wäre also nicht nur anti-demokratisch, sondern auch gegen die menschliche Autonomie gerichtet, zu meinen, eine bestimmte positive Rechtsordnung könne die Idee der Menschenrechte je erfüllen: [...] l’État démocratique [...] fait l’épreuve de droits qui ne lui sont pas déjà incorporés, il est le théâtre d’une contestation [...] qui se forme depuis des foyers que le pouvoir ne peut entièrement maîtriser [Der demokratische Staat stellt diejenigen Rechte auf die Probe, die nicht bereits in ihm inkorporiert sind, er ist der Schauplatz einer Auseinandersetzung, die aus Quellen gespeist wird, welche die Macht nicht völlig beherrschen kann].12

Menschliche Autonomie weist auf das Recht hin, die eigene rechtliche Existenz kollektiv selbst zu bestimmen. Weltweit könnte diese Selbstbestimmung nur sein im Falle einer „Weltrepublik“ – ein alter Philosophentraum. In der heutigen politisch differenzierten Welt geht es vielmehr darum, das Recht, Rechte zu haben, prinzipiell zu beanspruchen und zu verteidigen, und die Frage, welche diese Rechte seien, der jeweiligen politischen Gemeinschaft, Oppositionsbewegung und so weiter zu überlassen. An diesem Punkte soll also festgehalten werden, dass der Ausgangspunkt, jeder Mensch habe das Recht, Rechte zu behaupten, zu einer prinzipiellen Offenheit und Unbestimmbarkeit führt, eben weil die konkrete Bestimmung den jeweiligen Befürwortern überlassen werden muss. Das bedeutet weiter, dass keine positiv-rechtliche Ordnung die Menschenrechte je wird erschöpfen können, und zwar nicht nur, weil es immer politisch gewollte bzw. demokratisch legitimierte Einschränkungen geben kann (zum Beispiel Guantánamo Bay), die angefochten werden können, und bei denen Menschenrechtslogik und Realpolitiklogik mit unsicherem Ergebnis aufeinanderprallen, sondern auch, und radikaler, weil gerade das Recht, Rechte zu behaupten, sowohl zu inhaltlich neuen Rechten führen kann (ein Beispiel wäre das kollektive Recht, eine kulturelle und religiöse Identität zu schützen), als auch zu neuen Gruppen von Trägern von Rechten (Beispiele wären indigene Gemeinschaften oder Kinder).13

Bitte nicht „Warum?“ fragen! Meine zweite Überlegung schliesst sich einer These von Kwame Anthony Appiah an: We do not need to argue that we are all created in the image of God, or that we have natural rights that flow from our human essence, to agree that we do not want to be tortured by government officials, that we do not want our lives, families, and property forfeited.14

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Lefort, „Droits de l’homme“, 67. Siehe dazu Alexander Agadjanian, „The Russian Orthodox Teaching on Human Rights: Its SocioCultural Significance and Its Social Theory Perspective“, in: Brüning und Van der Zweerde, Orthodox Christianity and Human Rights, 271–292, hier 280–281; siehe auch David Little, „Human Rights and Responsibilities in a Pluralistic World“, in: Emmanuel Clapsis (Hg.), The Orthodox Church in a Pluralistic World: An Ecumenical Conversation, Brookline MA 2004, 77–82, hier 81. Kwame Anthony Appiah, „Grounding Human Rights“, in: Amy Gutmann (Hg.), Human Rights as Politics and Idolatry, Princeton, NJ/Oxford 2001, 111–116, hier 106.

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Implizit ist damit eine Antwort gegeben auf eine mögliche kritische Frage in Bezug auf die erste Überlegung, nämlich dass, wenn man es den jeweiligen Beteiligten überlässt, welche Rechte behauptet werden, eine Situation entstehen kann, in der Menschen sich zu Rechten bekennen, die von anderen als unmenschlich abgewiesen werden; man kann sich leicht vorstellen, dass Elemente eines traditionellen religiösen Rechtssystems, zum Beispiel im Falle der Vermählung, einerseits gegen das Menschenrecht der „ehelichen Selbstbestimmung“ verstoßen,15 andererseits beansprucht werden können im Rahmen eines Rechtes auf kollektive Selbstbestimmung als traditionelle Gemeinschaft. Die eher optimistische Vermutung, die ich hier vorführen möchte, ist, dass Unterschiede zwar möglich und an sich auf Grund der ersten Überlegung auch berechtigt sind, dass aber zu erwarten ist, dass die konkreten Rechte, die beansprucht werden, in vielem übereinstimmen. Nicht willkürlich verhaftet zu werden, nicht gefoltert zu werden, die eigene Meinung äußern zu dürfen, in Freiheit die eigene Religion leben und ausüben zu dürfen, an der politischen Bestimmung der eigenen Gemeinschaft teilzuhaben, Zugang zu trinkbarem Wasser zu haben, reisen zu dürfen, den eigenen Beruf wählen zu können, nicht als Sklave arbeiten zu müssen, nicht verkauft zu werden, Sachen in Besitz haben zu können, die Kinder in die Schule schicken zu können usw. – alle jene Rechte sind Rechte, von denen man annehmen kann, dass sie von Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, ihres religiösen Glaubens, ihrer weltanschaulichen Überzeugung usw. gewollt bzw. beansprucht werden, falls es diesen Menschen tatsächlich (objektiv) überhaupt erlaubt ist, ihre Rechte zu beanspruchen, und falls sie tatsächlich (subjektiv) überhaupt auf den Gedanken kommen können, dass sie bestimmte Rechte haben.16 Sind diese Bedingungen erfüllt, so ist es vor allem eine praktische und politische Frage, ob und welche Rechte beansprucht werden. Aus dieser Sicht sind Versuche, Menschenrechte metaphysisch zu begründen, etwa mit Gott, Natur, Geschichte usw., überflüssig und sogar eher kontraproduktiv. Hier kann auf die wohlbekannte Aussage Jacques Maritains hingewiesen werden, in der er von den die Universal Declaration of Human Rights vorbereitenden Diskussionen erzählte: Maritain [...] raconte qu’un participant manifesta son étonnement de voir que certains défenseurs d’idéologies violemment opposées s’étaient mis d’accord pour rédiger une liste de droits: Mais oui, répliquèrent-ils, nous sommes d’accord sur les droits, à condition qu’on ne nous demande pas pourquoi. C’est avec le «pourquoi» que la dispute commence.17

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UDHR, Art. 16.2. Siehe Susan Moller Okin, „Konflikte zwischen Grundrechten; Frauenrechte und die Probleme religiöser und kultureller Unterschiede“, in: Stefan Gosepath und Georg Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 310–342, hier 310–313, für Beispiele von Frauen denen „das Bewußtsein [fehlt], dazu überhaupt ein Recht zu haben“. Elena Pribytkova, „La loi naturelle et les droits de l’homme selon Vladimir Soloviev et Jacques Maritain“, in: Patrick de Laubier (Hg.), Vladimir Soloviev, Jacques Maritain et le personnalisme chrétien, Paris 2008, 27–34, hier 33.

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Appiah schrieb: „We do not need to argue that we are all created in the image of God [...]“ – etwas stärker gesagt: wir können nicht nur, sondern sollen auch an solchen sensiblen Punkten die Tugend der Zurückhaltung üben.

Würdiges Ebenbild mit einer oder mit zwei Lungen? Wenn wir diese zweite Überlegung ernst nehmen, dann hat das, an dritter Stelle, Folgen für die Kontroversen zwischen verschiedenen religiösen Traditionen, etwa zwischen Islam und Christentum oder zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen. Nehmen wir als Beispiel die Kontroverse über die menschliche Würdigkeit als Grundlage der Menschenrechte zwischen Orthodoxen und westlichen Christen (Protestanten und Katholiken).18 Die sich hier zeigende Themenstellung wurde jüngst erforscht von Heta Hurskainen (am Beispiel der bilateralen Dialoge zwischen Vertretern der Russischen Orthodoxen und Finnischen bzw. Deutschen Lutherischen Kirchen) und Regula Zwahlen (am Beispiel Sergej Bulgakovs).19 Die Grundlage der Menschenrechte wird von orthodoxen wie von anderen Christen in der Anthropologie verortet, und zwar in der Idee des Menschen als „Ebenbild Gottes“ (imago Dei). Im maßgebenden römisch-katholischen Compendium of the Social Doctrine of the Church erfahren wir, wie die bekannte Bibelstelle über die Schöpfung des Menschen „als Ebenbild Gottes“ (in his image, naar zijn beeld/als zijn beeld, ɩɨ ɨɛɪɚɡɭ) und „Gleichnis Gottes“ (to the likeness, naar gelijkenis/op ons gelijkend, ɩɨ ɩɨɞɨɛɢɸ) (Gen. 1: 26–27)20 als gegebene Grundlage der Menschenrechte dargestellt wird: „Therefore, `being in the image of God the human individual possesses the dignity of a person, who is not just something, but someone´ [kursiv vom Verfasser]“.21 Aus orthodoxer Sicht hingegen ist die menschliche Würdigkeit [ɞɨɫɬɨɢɧɫɬɜɨ, dignity] nicht etwas, was jeder Mensch auf Grund seiner Geschaffenheit „als Ebenbild“ hat – was damit unveräußerlich wäre – und was in einem wertvollen Leben aktualisiert wird, sondern etwas, was ein Mensch sich eben durch ein wertvolles sittliches Leben erringen muss und was deshalb nicht permanent oder unveränderlich ist.22 In der 2008

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Es fehlt die Möglichkeit, auf die vierte traditionelle Strömung im Christentum, die orientalische, hier einzugehen. Heta Hurskainen, „Human Rights in the 2008 Bilateral Discussions of the Russian Orthodox Church with the Evangelical Church of Germany and the Evangelical Lutheran Church of Finland“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 155– 168; Regula Zwahlen, „Sergey N. Bulgakov’s Concept of Human Dignity“, ibidem, 169–186. Für Bibelstellen wurden benutzt: für die niederländische Sprache die (protestantische) Statenbijbel (Haarlem, 2002) und der (katholische) Willibrordvertaling (’s-Hertogenbosch, 1995), für die russische Sprache die Biblija; Pravoslavnoe svjašþennoe pisanie vetchogo i novogo zaveta (SanktPeterburg 1998). Compendium of the Social Doctrine of the Church, Washington 2004, 50 (§108). Siehe Hurskainen, „Human Rights“, 162–168.

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veröffentlichten expliziten Menschenrechtedoktrin der ROK wird eine ontologische Würdigkeit eines jeden Menschen zwar mit der Idee des Ebenbildes Gottes begründet, zugleich aber von einem „wertvollen Leben“ klar unterschieden: Wenn in der Orthodoxie die unveräußerliche, ontologische Würde und der höchste Wert jeder menschlichen Person vom Abbild Gottes abgeleitet werden, wird das dieser Würde entsprechende Leben mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit in Beziehung gesetzt, die nach der Göttlichen Gnade durch die Überwindung der Sünde, den Erwerb der sittlichen Reinheit und der Tugenden erreicht wird.23

Subtil, aber wesentlich unterscheidet sich also die Orthodoxie (jedenfalls die russische) von der „westlichen“ Position: „Im Zuge der Säkularisierung wandelten sich die erhabenen Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte zum Begriff der Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung zu Gott.“24 Es fehlt in der Orthodoxie aus kirchlicher und theologischer Sicht die positive Bewertung der Menschenrechte und deren positiv-gesetzliche Festigung in der Welt als bona in se. Die Spezifizität dieser Position erhellt sich aus einem Vergleich der russischen orthodoxen mit der römischkatholischen Sozialdoktrin. Im Compendium of the Social Doctrine of the Church wird die Universal Declaration of Human Rights (UDHR) bestimmt als „a true milestone on the path of humanity’s moral progress“.25 In den Osnovy social’noj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi wird die UDHR allerdings gedeutet als Exponent eines Prozesses der Säkularisierung, das die göttliche durch eine menschliche Ordnung ersetzt.26 Aus orthodoxer Sicht kann es im Grunde keinen „moralischen Fortschritt der Menschheit“ geben. Die Schwierigkeit, das orthodox-christliche Verständnis der Menschenrechte mit dem westlich-christlichen in Einklang zu bringen, erhellt sich implizit auch aus den Arbeiten von Hans Joas: Für sie [christliche, vornehmlich katholische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts – EvZ] wurde den Menschenrechten der Weg gebahnt durch das Verständnis der menschlichen Person, wie es aus den Evangelien spricht, und von der philosophischen Ausarbeitung dieser religiösen Inspiration in Verbindung mit einem personalistischen Gottesbegriff seit den Tagen der mittelalterlichen Philosophie. Diese Erzählung entstand, als sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts die katholische Kirche von ihrer ursprünglichen Verdammung der Menschenrechte als einer Form von liberalistischem Individualismus ab- und einer geradezu demonstrativen Verteidigung der Menschenrechte zuwandte.27

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Rudolf Uertz und Lars Peter Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte (Übersetzung Nadja Simon), Moskau 2008, 11 (I.2). Josef Thesing und Rudolf Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (Übersetzung Christiana Christova), Sankt Augustin 2001, 43 (IV.7). Compendium, 66-67 (§ 152), mit Verweis auf Papst Johannes Paul II., „Address to the 34th General Assembly of the United Nations (2 October 1979)“, Acta Apostolicae Sedis 71 (1979) 1147–1148. Thesing und Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin, 43 (IV.7). Joas, Sakralität, 16.

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Allgemein gesprochen sind die orthodoxen Kirchen und viele Gläubige wenig geneigt, diese Ab- bzw. Zuwendung nachzuvollziehen: in der „Orthodoxen Welt“ bleibt die Kritik der individuellen Menschenrechte vorherrschend, insofern diese als unveräußerliche Rechte des autonomen menschlichen Individuums aufgefasst werden. Der von Joas in seiner „affirmativen Genealogie“ hervorgehobenen „Sakralität der Person“ kann von orthodoxer Seite insofern leicht zugestimmt werden, als „Person“ nicht auf „Individuum“ reduziert werden muss. Ein prinzipieller Unterschied bleibt aber dort bestehen, wo die Person als Träger von Menschenrechten von orthodoxer Seite eben nicht als ein Gegebenes aufgefasst werden kann, sondern als ein Werdegang. Die affirmative Genealogie, die Joas schildert, wird von ihm auf die Entwicklung eines Begriffs bezogen, während aus orthodoxer Sicht ein Werdegang in jeder Person stattfinden soll und letztere dabei zwar als frei, aber nicht als autonom verstanden werden soll. Die orthodoxen Denker, die sich zu diesem Thema geäußert haben (ältere wie Semën Frank, Sergej Bulgakov, John Meyendorff oder Vladimir Solov’ëv, aber auch zeitgenössische wie Christos Yannaras, Radu Preda, John Zizioulas oder Mihai NeamĠu) kommen bei einem Autor wie Joas auffälligerweise, wenn auch nicht überraschend, nicht vor. In einer anderen Publikation wird diese „unübersehbare Lücke“ klar benannt: „So fehlen das orthodoxe Christentum, der Daoismus [...] Das Christentum wird in zwei seiner Varianten repräsentiert“.28 Da diese Lücke weder dem Fehlen von Quellen (die erwähnten Autoren sind in westlichen Sprachen gut erschlossen) noch Spezialisten zugeschrieben werden kann, ist die Vermutung gerechtfertigt, dass es sich hier um etwas Grundsätzlicheres handelt: die orthodoxe Tradition lässt sich schlecht in die von protestantischen und katholischen Denkern entwickelte „Erzählung“ hineinschreiben, weil sie sich jeder individualistischen und progressistischen Tendenz widersetzt. Es besteht hier eine deutliche Kluft zwischen dem westlichen und dem östlichen Verständnis der Menschenrechte hinsichtlich ihrer Begründung mit der imago Dei. Zugleich gibt es auch Versuche der Annäherung, und es ist nicht auszuschließen, dass besonders die Orthodoxie hier eine Entwicklung durchmachen kann. Was passiert, wenn versucht wird, diese Kluft zu überbrücken? Das lässt sich verdeutlichen mittels der bekannten, von Vjaþeslav Ivanov entworfenen und von Papst Johannes Paul II. eifrig aufgegriffenen Vorstellung vom Katholizismus und der Orthodoxie als den „zwei Lungen des europäischen Christentums“, eines Bildes, das Marek Kita an Maritain und Solov’ëv geknüpft hat.29 Ivanov schrieb: Als ich am 17. März 1926 [...] vor dem Altar meines Schutzpatrons im Querschiff der St. Peterskirche in Rom Credo und Bekenntnisformel sprach, [...] fühlte ich mich zum ersten

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Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt am Main 2007, 21 und 29. Vgl. Marek Kita, „Les expériences mystiques – non-chrétiennes – à la lumière de la doctrine de V. Soloviev et de J. Maritain“, in: Patrick de Laubier (Hg.), Vladimir Soloviev, Jacques Maritain et le personnalisme chrétien, Paris 2008, 35–40, hier 39.

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Evert van der Zweerde Male orthodox in der vollen Bedeutung des Wortes, im Vollbesitz des heiligen Schatzes, der seit der Taufe mein, dessen Genuß jedoch seit Jahren getrübt war durch das nach und nach immer schmerzlicher werdende Unbehagen, dieses lebendigen Schatzes an Heiligkeit und Gnade nur halb teilhaftig zu sein, gleichsam nur mit einer Lunge zu atmen.30

Robert Bird kommentierte: The combination of traditional rite and papal authority explains why Ivanov felt he was now breathing with both lungs. Interestingly, Pope John Paul II adopted Ivanov’s imagery of the two „lungs“ of the universal Church – with one significant difference; his image of the full Church seems to presume their equal coexistence, supposedly without the submission of the East to papal authority.31

Johannes Paul II. hat diesen Ausdruck verwendet in seinem Hirtenbrief Euntes in mundum anlässlich der Millenniumfeier in Russland 1988: Europe is Christian in its very roots. The two forms of the great tradition of the Church, the Eastern and the Western, the two forms of culture, complement each other like the two „lungs“ of a single body.32

Diese öfter verwendete Vorstellung ist umstritten: However attractive the idea of uniting East and West, Orthodoxy and Catholicism, just as two lungs are united in one body, this theory is unacceptable to the vast majority of Orthodox and also to more than a few Roman Catholics.33

Sie wurde von orthodoxer Seite aufgenommen von John Zizioulas, Metropolit von Pergamon, in seiner Antwort auf die Rede von Johannes Paul II.: „As Your Holiness has aptly put it some years ago, East and West are the two lungs by which the Church breathes; their unity is essential to the healthy life of the One, Holy, Catholic and Apostolic Church“34. Die Aneignung des Bildes ist älter: in Euntes in mundum (1988) wird auf die Enzyklika Redemptoris Mater verwiesen: „Such a wealth of praise, built up by the different forms of the Church’s great tradition, could help us to hasten the day when the Church can begin once more to breathe fully with her `two lungs´, the

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Wjatscheslaw Iwanow, „Brief an Charles du Bos [15.10.1930]“, in: Michail Gerschenson und Wjatscheslaw Iwanow, Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln, Stuttgart 1990 (aus dem Russischen übersetzt von Nicolai von Bubnoff nach der Ausgabe Perepiska iz dvuch uglov [Petrograd 1921]) 72; auch zugänglich in „V. Ivanov, Lettre à Charles Du Bos“ [1930], in: Vjaþeslav Vsevolodoviþ Ivanov und M. O. Gerschenson, Correspondance d’un coin à l’autre, Lausanne 1979, 90. Robert Bird, The Russian Prospero: The Creative Universe of Viacheslav Ivanov, Madison 2006, 289, Anm. 8. Zitiert nach URL: http://www.catholicculture.org/culture/library/view.cfm?recnum=3700 (besucht am 14. Februar 2012). „On Restoring the Spiritual Unity of Europe“, URL: http://orthodoxengland.org.uk/resteuro.htm (besucht am 14. Februar 2012), Teil von „Orthodox England on the `net´“. Rede „made in private audience following a Mass to celebrate the feast of Sts. Peter and Paul. Rome, 28 June 1998“, zitiert nach URL: http://www.orthodoxresearchinstitute.org/articles/ecume nical/john_pergamon_john_paul2.htm (besucht am 14. Februar 2012).

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East and the West.“35 Dies geht wiederum zurück auf einen Vortrag von Johannes Paul II. über Ivanov,36 in dem er ausführlich aus Ivanovs Brief an Du Bos zitiert. Aber das Bild lässt sich noch weiter zurückverfolgen: auf eine Rede in Istanbul im Jahre 1980, auf die Johannes Paul II. im selben Jahr in Paris verwiesen hat: È la stessa cosa che dicevo anch’io a Parigi ai rappresentanti delle comunità cristiane non cattoliche, il 31 maggio 1980, ricordando la mia visita fraterna al Patriarcato ecumenico di Costantinopoli: „Non si può respirare come cristiani, direi di più, come cattolici, con un solo polmone; bisogna aver due polmoni, cioè quello orientale e quello occidentale“.37

Aus den Titeln geht hervor, dass die zweite Lunge dazu dienen soll, mit der „slawischen Seele“ [anima slava] den Atem des einen christlichen Körpers zu vervollständigen. So schön aber das Bild der zwei Lungen auch sein mag, es erscheint als Problem, sobald man die politische Frage stellt, wer oder was dazugehört bzw. davon ausgeschlossen wird: Judentum und Islam, aber auch Protestantismus und andere „Sekten“ im Christentum, Freimaurer, Agnostiker, Atheisten usw. Ein Körper – hier: der europäische – kann nur zwei Lungen haben und im erwähnten Bilde überwiegt die Vorstellung, dass mit zwei Lungen der Atmungsapparat komplett ist: mit dieser „Koalition“ von Orthodoxie und Katholizismus wäre die Nische besetzt. Diese Beispiele weisen auf ein allgemeineres Problem religiös inspirierter Begründungsversuche der Menschenrechte (oder einer bestimmten Menschenrechtskonzeption) hin: obwohl sie für die Angehörigen einer bestimmten religiösen Weltanschauung stark motivierend sein und bei hinreichender gegenseitiger Offenheit zu einer gemeinsamen Position führen können, haben sie den in ihren theologischen und anthropologischen Voraussetzungen wurzelnden Nachteil, andere Positionen nicht nur logisch auszuschließen, sondern in manchen Fällen auch polemisch bekämpfen zu müssen. Diese dritte Überlegung legt somit die Schlussfolgerung nahe, dass religiös inspirierte Begründungsversuche sich schlecht mit der in der zweiten Überlegung hervorgehobenen Tugend der Zurückhaltung vertragen. Die Frage wäre dann, was die, historisch gesehen, große Alternative, der Säkularismus, an dieser Stelle zu bieten hat.

35 36

37

„Redemptoris Mater“ (25. März 1987), §34, Acta Apostolicae Sedis 79 (1987) 429. „L’anima slava, radicata nelle fede in Cristo, appartiene all’Oriente e all’Occidente“, L’Osservatore Romano 123 (37.313), 29. Mai 1983; die Einleitung auf Italienisch, der Vortrag selbst auf Französisch, eine russische Übersetzung erschien bald danach: Novyj žurnal (New York), 153 (Dezember 1983) 116–119; dazu URL http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/ 1983/may/documents/hf_jp-ii_spe_19830528_ivanov-cultura_it.html (besucht am 14. Februar 2012). Siehe die Bibliographie von Pamela Davidson, URL: http://www.rvb.ru/ivanov/3_biblio graphy/davidson/01text/1983.htm#1983_15 (besucht am 14. Februar 2012). „Discorso di Giovanni Paolo II ai partecipanti al simposio internazionale su `Ivanov e la cultura del suo tempo´ (Sabato, 28 maggio 1983)“, §5. Giovanni Paolo II, „Allocutio Lutetiae Parisiorum ad Christianos fratres a Sede Apostolica seiunctos habita“ (31 maggio 1980), Acta Apostolicae Sedis 72 (1980) 704.

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Säkularismus als unzureichende Alternative Eine „religiöse“ Begründung der Menschenrechte wird sie als unverletzlich darstellen, während eine „säkulare“ Begründung dieselben Menschenrechte eher als unveräußerlich auffassen wird. Im ersten Falle ist es keinem Akteur (Staat, Individuum, Firma, Partei usw.) erlaubt, die wohlbestimmten Rechte eines Menschen (oder einer Gruppe von Menschen) zu verletzen, was also diesem Akteur eine moralische oder sittliche Grenze setzt. Dies erklärt vielleicht, warum wir auf der religiösen Seite, in päpstlichen Reden, aber auch in Äußerungen des Russischen Orthodoxen oder Ökumenischen Patriarchen, vor allem die moralische Aufforderung finden, diese Rechte nicht zu verletzen. Das heißt: aus religiöser Sicht sind die Menschenrechte unverletzlich, aber nicht unverletzbar – der moralische Aufruf würde seinen Sinn verlieren, falls diese Rechte nicht verletzbar wären. Im zweiten Falle hingegen, wo Menschenrechte als unveräußerlich aufgefasst werden, ist die Verletzung dieser Rechte (obschon vielleicht genau so verwerflich im moralischen Sinne) wesentlich anderer Art, weil sie einen Verstoß gegen die Natur der Dinge ist. Während materiell genau dasselbe stattfinden kann (Vergewaltigung, Folter, Hunger usw.), passiert metaphysisch etwas Anderes. Menschenrechte sind, aus säkular-liberaler Sicht, nicht nur etwas Unverletzliches, sondern auch etwas Unentfremdbares; so lesen wir bei Thomas Pogge: „[...] it is widely accepted that persons cannot give up their rights not to be tortured or enslaved and their rights to the most basic necessities of human survival [kursiv vom Verfasser].“38 Die Römisch-Katholische Kirche gibt eine andere Deutung des Prinzips der Unveräußerlichkeit, indem es im Compendium heißt: These rights are „universal, inviolable [unverletzlich], inalienable [unveräußerlich].“ [...] Inalienable insofar as „no one can legitimately deprive another person, whoever they may be, of these rights, since this would do violence to their nature“.39

Wer die Menschenrechte als unverletzlich bzw. unveräußerlich darstellen will, ist gezwungen, ihnen Sakralität zuzuschreiben; es macht aber einen wesentlichen Unterschied, ob keiner meine Natur verletzen darf oder ich selber meine natürlichen Rechte nicht aufgeben kann. Die Verlegung der Sakralität von einer göttlichen (bzw. religiösen) auf eine menschliche Dimension hat erhebliche Folgen, und die Diskussionen zwischen Orthodoxen und Protestanten zeigen deutlich, dass im Rahmen des Protestantismus, und in geringerem Ausmaße auch im Katholizismus, diese Verlegung teilweise stattgefunden hat: man muss nicht orthodox sein, um zu sehen, dass die Diagnose einer Bewegung der westlichen Kirchen in Richtung Humanismus und Antropozentrismus zutrifft. Im Rahmen einer (post-)christlichen Weltanschauung lässt sich die Sakralität des Göttlichen nur dann behalten, wenn in jener Bewegung der Mensch „vergöttlicht“ wird. Genau das passiert im liberalen Säkularismus, was dann auch das Ziel der Kritik von 38 39

Thomas Pogge und Andres Follesdal (Hg.), Real World Justice, Dordrecht 2005, 9. Compendium (§ 153), mit Zitat aus: John Paul II, „Message for the 1999 World Day of Peace“, 3, Acta Apostolicae Sedis 1 (1999) 379.

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Seiten der Orthodoxie mindestens seit dem 19. Jahrhundert gewesen ist. Joas schildert uns das Dilemma: Eine der häufigsten, aber auch unfruchtbarsten Debatten dreht sich [...] um die Frage, ob die Menschenrechte eher auf religiöse oder auf säkular-humanistische Ursprünge zurückzuführen sind.40

Die Frage nach den Ursprüngen ist von der Frage nach der Begründung wohl zu unterscheiden, und Joas schlägt vor, beide Fragen im Rahmen einer „affirmativen Genealogie“ miteinander zu verbinden. Damit kann die Unfruchtbarkeit der Debatte aufgehoben werden, zugleich wird aber auch klar, dass es sich hier um eine und dieselbe Position handelt: eine säkular-humanistisch gewandte lateinisch-christliche. Es gibt eine klare Tendenz in den Diskussionen der letzten Jahre, sowohl in religiösen/theologischen als auch in nicht-gläubigen Kreisen, den Säkularismus als eine überholte Position zu deuten. Dazu sei zu jeder Seite ein Beispiel gegeben: In der Reihe der Blackwell Companions erschien ein Sammelband zum hot topic „politische Theologie“, in dem die jüdische Perspektive von Peter Ochs vertreten wird. Er behauptet in einem Plädoyer für eine „abrahamitische Theopolitik“ (Abrahamic Theo-politics), dass „die Epoche der `großen Dyaden´ vorbei ist [the epoch of the `great dyads´ has passed]“ und dass die Zeit angebrochen sei „für eine Theopolitik, die zugleich säkular und religiös ist [a theo-politics that is at once secular and religious]“ und gekennzeichnet wird durch die Einsicht in die Unangemessenheit von sowohl antimodernen religiösen Orthodoxien wie auch antireligiösen säkularen Universalismen als Quellen von Kriterien, um auf die Krise [die politische Krise des Westens – EvZ] zu antworten.41

Von der anderen, nicht-religiösen Seite her hat Judith Butler, im Kontext einer Diskussion mit Jürgen Habermas und Charles Taylor, scharfsinnig dieselbe Dyade in Frage gestellt: It makes a different kind of sense to refer to a secular Jew than to a secular catholic [...]; secularization may well be one way that Jewish life continues to be Jewish.42

Und dasselbe gilt implizit für Katholiken und explizit für Protestanten: If the public sphere is a Protestant accomplishment, as several scholars have argued, then public life presupposes and reaffirms one dominant religious tradition as the secular [als das Säkulare – EvZ].43

Das würde dann bedeuten, dass auch Säkularismus, als Befürwortung bzw. Untermauerung des säkularen Charakters von Gesellschaft und Politik, auf eine andere Weise mit

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42

43

Joas, Sakralität, 16. Peter Ochs, „Abrahamic Theo-Politics: A Jewish View“, in: Peter Scott und William T. Cavanaugh (Hg.), The Blackwell Companion to Political Theology, Malden MA 2007, 519–534, hier 520. Judith Butler, „Is Judaism Zionism?“, in: Eduardo Mendieta und Jonathan Vanantwerpen (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, 70–91, hier 72. Ibidem, 73.

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der protestantischen Tradition verbunden ist als mit der jüdischen oder mit der katholischen, die sich ja als Gegenreaktion modernisiert haben. Ohne auf die Details dieser Diskussionen eingehen zu wollen, möchte ich mich der Auffassung anschließen, die besagt, dass explizit säkularistische Positionen, wie zum Beispiel der Marxismus-Leninismus und seine Varianten, die französische laïcité, der türkische Kemalismus oder die Baath-Ideologie im Nahen Osten, derselben Vergangenheit angehören wie dogmatisch aufgefasste Religionen und dass sie, allgemein gesprochen, die modernen, säkularisierten Versionen derselben Weltanschauung sind. Die Frage ist dann, wie man den Säkularismus überwinden kann, ohne mit traditionell verstandener Religion zu enden. Die Idee, dass wir heute in einer „post-säkularen Gesellschaft“ leben, wurde vor etwa 10 Jahren von Jürgen Habermas lanciert44 und hat rasch zu einer Diskussion geführt, in die sich auch Charles Taylor eingemischt hat.45 Das deutet auf eine Anziehungskraft dieses Begriffes. Die heutige Gesellschaft als eine „post-säkulare“ zu verstehen – als wäre man zu einer neuen Epoche übergegangen – steht aber meines Erachtens im Widerspruch zur Bedeutung des Begriffes „Postsäkularität“: die heutige Gesellschaft ist genauso „post-säkular“ wie „post-religiös“, weil in ihr die repères de la certitude (Wahrzeichen der Gewissheit) endgültig aufgelöst sind46 und sie sich gerade deshalb nicht länger auf einen einzigen Begriff bringen lässt. Eduardo Mendieta und Jonathan Vanantwerpen haben die zentrale Idee Habermas’ mit dem Namen einer postsecular stance (Stellung) belegt,47 was adäquater ist: in der heutigen Gesellschaft sind alte und neue religiöse sowie säkularistische Positionen vertreten, denen die Legitimität gerade unter demokratischen Bedingungen nicht abgestritten werden kann, und neben ihnen ist eine „post-säkulare Stellung“ nicht nur möglich, sondern auch angemessen.48

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Siehe Jürgen Habermas, Glauben und Wissen (Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001), Frankfurt am Main 2001; Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung; Über Vernunft und Religion, Freiburg im Breisgau 2005; Michael Reder und Josef Schmidt, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, Frankfurt am Main 2008; Walter Reese-Schäfer, „Habermas, Ratzinger und die postsäkulare Gesellschaft“, in: Wilhelm Guggenberger, Dietmar Regensburger und Kristina Stöckl (Hg.), Politik, Religion und Markt: Die Rückkehr der Religion als Anfrage an den politisch-philosophischen Diskurs der Moderne, Innsbruck 2009, 61–86. Siehe zum Beispiel Eduardo Mendieta und Jonathan Vanantwerpen (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, und Péter Losonczi und Aakash Singh (Hg.), Discoursing the Post-Secular: Essays on the Habermasian Post-Secular Turn, Wien/Berlin 2010. „L’essentiel, à mes yeux, est que la démocratie s’institue et se maintient dans la dissolution des repères de la certitude“, vgl. Claude Lefort, „La question de la démocratie“, in: Philippe LacoueLabarthe und Jean-Luc Nancy (Hg.), Le retrait du politique, Paris 1983, 71–88, hier 84; auch in: Claude Lefort, Essais sur le politique XIXe–XXe siècles, Paris 1986, 17–30, hier 29. Eduardo Mendieta und Jonathan Vanantwerpen, „Introduction“, in: dies., The Power of Religion, 1–14, hier 4. Diese Thematik habe ich ausgearbeitet in: „Confronting the Confrontation – A World Beyond Secularism?“, in: Brain Black, Gavin Hyman and Graham Smith (Hg.), Confronting Secularism in Europe and India, London 2014.

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Die säkulare Begründung der Menschenrechte stellt sich somit als eine säkularisierte Offenbarung dar: statt an Gott zu glauben, haben Menschen angefangen, an „den Menschen“ zu glauben, und es ist gerade dieser Punkt, an dem Säkularität und Sakralität miteinander verknüpft werden. In den Gründungsdokumenten des 18. Jahrhunderts sind Säkularität und Sakralität gegenwärtig in der Idee der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, die irgendwie gegeben sein müssen, um gelten und Grundlage des positiven, gesetzten Rechts werden zu können.49 Von orthodoxer Seite wird die allmähliche Akzeptanz der Idee des Naturrechts, die sich im Katholizismus seit Thomas von Aquin (13. Jahrhundert) und Francisco de Vitoria (16. Jahrhundert) durchsetzte,50 als Säkularisierungsphänomen aufgefasst und abgewiesen: „Im Zuge der neuzeitlichen Säkularisierung erlangte die Naturrechtslehre, die in ihren Grundprämissen der Gefallenheit der menschlichen Natur nicht Rechnung trägt, maßgeblichen Einfluss.“51 Die Frage wird sein, wie man sich aus einer solchen „post-säkularen“ Stellung auf das Thema Menschenrechte beziehen kann oder soll.

Jenseits von Säkularismus und Religion – Menschenrechte ohne Begründung? Was sind die Konsequenzen aus diesen letzten Überlegungen für die anfängliche Frage nach dem Verhältnis von Förderung und Begründung der Menschenrechte? Das nicht zu lösende Problem scheint hier zu sein, dass Begründungsversuche sich einerseits in die faktischen Differenzen und Gegensätze von religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen verstricken (allgemein gesagt: Menschenrechte können aus unterschiedlichen Perspektiven „sakral“ sein, sind aber nie das Einzige, das aus einer bestimmten Anschauung her „heilig“ ist, was sich zum Beispiel im Familienrecht oder in ethischen Fragen zeigt), während andererseits Menschen und Organisationen eine Kopplung der Menschenrechte und ihrer eigenen Weltanschauung brauchen, um sich für die Menschenrechte dauerhaft einsetzen zu können. Es existiert hier also ein Spannungsfeld zwischen Begründung und Motivierung. Anderenorts habe ich diese Spannung im

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50

51

Declaration of Independence [1776]: „We hold these truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness“, zitiert nach Pauline Maier (Hg.), The Declaration of Independence and The Constitution of the United States, New York 1998, 53; und Déclaration des droits de l’homme et du citoyen [1791]: „Les représentants du peuple français [...] ont résolu d’exposer dans une déclaration solennelle les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’homme. [...] [Art. 2] [...] droits naturelles et imprescriptibles [...] [Art. 17] [...] droit inviolable et sacré“, zitiert nach Lucien Jaume (Hg.), Les déclarations des droits de l’homme (Du Débat 1789– 1793 au Préambule de 1946, Paris 1989, 11f. und 16. Johannes A. (Hans) van der Ven, „The Religious Scope of Human Rights“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 19–34. Thesing und Uertz (Hg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin, 43 (IV.7).

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Übergang von Begründung und Übereinstimmung zur zivilen und politischen Willensbildung [wie?] eingeordnet.52 Das Problem ist, dass für eine effektive Willensbildung eine rein pragmatische Übereinstimmung ohne letzte Begründung (also die von Maritain angedeutete und hier in der zweiten Überlegung betonte Strategie, die „Warum?“Frage auszulassen) für viele nicht hinreicht, besonders dann, wenn man wirklich motiviert sein soll, also ggf. auch bereit sein soll, dafür zu leiden oder zu sterben. Ein Katholik und eine Atheistin können zwar beide der Meinung sein, das Recht auf Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit sei unverletzlich, und sie können sich auch gemeinsam für dieses Recht politisch einsetzen oder in einer NGO zusammenarbeiten, aber sie werden kaum ihr gegenseitiges Misstrauen hinsichtlich der „letzten Gründe“ des Anderen loswerden können. Die Grenze zwischen Begründung und Motivierung kann von jedem gezogen werden, kann aber nicht „abgesichert“ werden, und es kann dem sich für Menschenrechte einsetzenden Bürger nicht gleichgültig sein, obschon er davon im Maritainschen Sinne abstrahieren kann, warum Mitbürger dasselbe machen. Auch hier ist die Position der ROK verdeutlichend, weil sie in ihrem Dokument über die Menschenrechte diese Rechte utilitaristisch akzeptiert, allerdings die säkulare Menschenrechtskonzeption prinzipiell zurückweist, weil „mit dem Hinweis auf den Schutz der Menschenrechte Ansichten umgesetzt werden, die sich von der christlichen Lehre grundlegend unterscheiden“.53 Es ist nicht nur „verständlich“, sondern aus ihrer Sicht auch zwingend, dass eine Kirche wie die ROK sich gegen die prinzipielle Gleichwertigkeit religiöser und nicht-religiöser Grundsätze ausspricht, wie sie in der UDHR, Art. 18, zum Vorschein kommt, denn eine individualistisch gedeutete Gewissensfreiheit ermöglicht die legitime Entwicklung und Verbreitung aus ihrer Sicht „sündhafter“ Auffassungen und Lebensführungen und hat somit, als objektiv gesetztes Prinzip (seit 1990 auch im Grundgesetz der Russischen Föderation), Teil an der Gefallenheit dieser Welt. Ein Beispiel von einer anderen Seite liefert die Diskussion über Frauenrechte: es ist nicht nur „verständlich“, sondern aus der Perspektive der Frauenrechte sogar zwingend, sich im Namen der Gleichberechtigung gegen beträchtliche Teile traditioneller Familienrechtssysteme zu wehren. Das unmittelbare Beispiel heißt Scharia [šarƯ‘a], aber auch orthodoxes Judentum oder die Sittlichkeit der Mormonen gehören dazu. Bestimmte Auffassungen werden also in ihrer praktischen Auswirkung unakzeptabel gefunden, obwohl man hinnehmen muss, dass die Auffassungen selbst aus menschenrechtlichen Gründen akzeptiert werden müssen.54 Die Begründungsdiskussion gerät jeweils in eine Sackgasse, weil die letzten Gründe nicht nur verschieden sind und kulturell differieren, sondern in vielen Fällen auch entgegengesetzt sind und zu Konflikten zwischen Menschenrechten und traditioneller Sittlichkeit führen. So paradox es scheinen mag, ist das Problem hier die Überforderung. Sowohl aus mancher religiösen als

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Van der Zweerde, „Uneasy Alliances“, 44. Uertz und Schmidt (Hg.), Die Grundlagen der Lehre, 9. Okin, Konflikte zwischen Grundrechten.

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noch stärker aus säkularistischer Sicht wird der Gedanke einer „gerechten Gesellschaft“ artikuliert. Die Frage ist aber, ob eine gerechte Gesellschaft je die „reell existierende Gesellschaft“ sein kann. In einer wirklich gerechten menschlichen Gesellschaft von nicht von sich selbst und einander entfremdeten Menschen wären die Menschenrechte überflüssig, weil völlig verwirklicht, während hingegen in einem auf der Trennung von Politik und Gesellschaft basierenden Staat die Menschenrechte zwar als unveräußerlich gelten können, allerdings diejenigen, die keine Bürgerrechte haben, zu „Sans-Papiers“ und damit zu „überflüssigen“ Menschen oder „l’humain jetable“ (Wegwerfmenschliches), wie Marie-Claire Caloz-Tschopp es nannte, werden.55 Marx behauptete, dass gerade wir, Bürger demokratischer Staaten, als voneinander getrennte Mitglieder des politischen Gemeinwesens und zugleich als voneinander getrennte Individuen die Elemente der vom Staat getrennten bürgerlichen Gesellschaft „Wegwerfmenschen“ oder, wie Marx es nennt, „Menschenkehricht“ sind.56 Es mag uns gesättigten Bürgern westlicher Gesellschaften im vollen Genuss unserer unveräußerlicher Menschenrechte, darunter das der religiösen Freiheit und des Gewissens, schwerfallen, uns als „Menschenkehricht“ zu empfinden, was aber von der Marxschen Kritik beizubehalten ist, das ist die Weigerung, menschliche Existenz, wie sie sich in historisch und geographisch wohlbestimmten Umständen faktisch vorfindet (etwa hier und jetzt, beim Autor und Leser – und Besitzer dieses Buches? – dieser Zeilen), zu einer menschlichen Natur zu erheben. Halten wir somit fest, dass wir die faktische menschliche Existenz keineswegs mit der menschlichen Natur gleichsetzen dürfen, so ergibt sich eine Alternative: entweder wir bestimmen – religiös oder pseudo-religiös wie bei Marx – die menschliche Natur anders, nämlich als der Faktizität gegenüberstehend, oder wir behaupten, radikaler, dass die Bestimmung der menschlichen Natur eben unsere menschliche Bestimmung der eigenen Natur ist, die also nicht „gegeben“ und insofern auch nicht „Natur“ ist. Die gleichermassen anti-marxistischen und anti-liberalen Worte Arendts sind hier aktueller als je zuvor, gerade weil wir heute einen „Siegeszug der Menschenrechte“ (Joas) zu erleben scheinen: The very language of the Declaration of Independence as well as of the Déclaration des Droits de l’Homme – „inalienable“, „given with birth“, „self-evident truths“ – implies the belief in a kind of human „nature“ which would be subject to the same laws of growth as that of the individual and from which rights and laws could be deduced.57

Folglich wären Menschenrechtsverletzungen eine Manifestation entweder eines falschen Verstehens – also: Dummheit, Faulheit, Rückständigkeit, Indoktrination – oder eines bösen Willens, die sich gegen (potenziell) besseres Wissen durchsetzen. Von der Perspektive eines „Wir“, das sich für Menschenrechte einsetzen will, wäre der Gegner dann entweder dumm oder böse (oder beides). Diese Logik kommt ins Spiel, wenn von 55

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Marie-Claire Caloz-Tschopp, Les sans-État dans la philosophie d’Hannah Arendt. Les humains superflus, le droit d’avoir des droits et la citoyenneté, Lausanne 2000, 12. Karl Marx, „Zur Judenfrage“ [1844], in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin (DDR) 1983, 359. Arendt, The Origins of Totalitarianism, 298.

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„westlicher“ Seite die Menschenrechts-Konzeptionen etwa einer orthodox-christlichen Kirche oder einer islamischen Universität oder einer kommunistischen Parteiführung kritisiert werden: die haben es dann (immer noch) nicht kapiert und/oder werden durch ihre Nähe zu menschenrechtsfeindlichen Regimen eingeschränkt. Obschon darin Wahrheit stecken mag (was übrigens auch in Fällen wie dem Vatikan, westlichen Regierungen und selbst Menschenrechtsorganisationen nicht ausgeschlossen ist), ist die Grundlage eines effektiven Verständnisses damit verzerrt und die Ausdehnung des „Wir-HR“ blockiert.

„It’s the political, stupid!“ Meine letzte Überlegung möchte ich anhand einer polemischen These entwickeln: „Jede Menschenrechtskonzeption und somit jede Menschenrechtspolitik darf den eigenen, wesentlich politischen Charakter weder verkennen, noch zurückhaltend anerkennen, sondern muss ihn bejahen“. Jede Form von Menschenrechtspolitik zielt darauf ab, sich als hegemoniale gesetzliche und moralische Ordnung zu setzen und zu erhalten. Sowohl die Frage, ob Menschenrechte einen juristischen Status haben sollten, sowie auch die Frage, welche Menschenrechte zum Katalog gehören und in welcher Prioritätsordnung und, letztlich, die Frage, wie diese Menschenrechte realisiert oder garantiert werden sollen, sind Fragen der „Politik“ im breitesten, nicht auf die institutionelle Ebene zu reduzierenden Sinne. Die Verwirklichung der Menschenrechte braucht nicht nur politische Macht, sie ist politische Macht. Eine Welt, in der Menschenrechte und ihre effektive Erzwingung real sind, ist eine Welt, in der eine politische Macht, die diese Realität will, hegemonial geworden ist. Um es konkret zu machen: es geht nicht darum, dass etwa die Chinesen, von ihrer Zivilisation her bestimmt, eine andere, gleichberechtigte Idee von Menschenrechten haben, womit ein Kompromiss erreicht werden könnte; es geht auch nicht darum, dass die Chinesen leider noch nicht zu einer Einsicht gekommen sind, die „wir“ aus der europäischen Geschichte gewonnen haben, und dass wir sie zu dieser Einsicht bringen müssen; es geht schlicht um die Frage, welches relative Gewicht wir den Menschenrechten geben wollen in Verhandlungen mit der chinesischen Regierung bzw. Gesellschaft, etwa bei wirtschaftlichen Kontakten, und umgekehrt auch darum, welches Gewicht die Chinesen ihnen beimessen wollen. Dabei dürfen wir uns natürlich Hoffnung machen, dass die chinesischen Autoritäten, in erster Linie die Partei, zu anderen Auffassungen und Praktiken kommen; wir dürfen ebenfalls Menschenrechtsaktivisten in der chinesischen Volksrepublik moralisch oder finanziell oder politisch unterstützen, etwa indem ihnen der Friedensnobelpreis gegeben wird, wie es vor kurzem mit Liu Xiaobo der Fall war; wir dürfen auch die eigenen Politiker und Regierungen, etwa in Europa, unter starken Druck setzen, um das Thema Menschenrechte immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Was wir aber nicht tun sollten, das ist eben, den Anspruch zu erheben, dass wir die Menschenrechte in einer Weise fundieren können, die ihre

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moralische Überlegenheit zeigt, um damit unser Recht, sie aufzuzwingen, zu untermauern. Anders gesagt: man soll den politischen Charakter nicht verkennen oder verneinen. Unser Recht, anderen eine bestimmte Menschenrechtskonzeption, einen bestimmten Menschenrechtskatalog aufzuzwingen zu versuchen, unterscheidet sich nicht vom Recht der anderen, diese Menschenrechte abzuweisen bzw. der „westlichen“ Konzeption eine andere, eigene Konzeption gegenüberzustellen bzw. zu versuchen, uns ihre Konzeption aufzuzwingen. Analog trifft dasselbe etwa auch auf Russland oder den Iran zu. Und das betrifft sowohl das ob als auch das welche als auch das wie der Menschenrechte. Alle Menschenrechte, wie alle Rechte überhaupt, sind letztlich real abhängig von dem politischen Willen, diese Rechte haben und handhaben zu wollen. Der Versuch, bestimmte Rechte jenseits des politischen Willens – und des politischen Streits – begründen zu wollen, ist unpolitisch und undemokratisch und damit in sich strittig. Menschenrechte sind ein politikon, was nicht nur bedeutet, dass Menschenrechte ohne Politik nicht auskommen, sondern auch, dass es innerhalb des politischen Feldes, welches sich auf Menschenrechte bezieht, politische Gegensätze und politischen Streit gibt. Es „gibt“ keine menschliche Natur, weder als eine gegebene – etwa offenbarte – noch als eine vom Menschen selbst geschaffene: weder Gott noch der Mensch ist das Maß aller Dinge, denn es gibt kein „Maß aller Dinge“. Natürlich stellt sich an diesem Punkt sofort eine Frage, die von Claude Lefort artikuliert wurde: „Comment [...] écarter les facilités du pragmatisme, sans céder au vertige du doute philosophique?“58 Dem ersten Fallstrick können wir entgehen, indem wir klarmachen, dass es eben um die Bildung und Verstärkung eines politischen Wir geht, und zugleich die Reduktion von Politik auf Pragmatik abweisen: Politik ist nie reine Pragmatik, weil Pragmatismus sich nur unter Verweis auf etwas Nicht-pragmatisches – Werte, ein bonum oder zumindest die Vermeidung eines malum – begründen lässt. Ein vielleicht banales Beispiel: Selbst die berühmte, dem „Pragmatiker“ Deng Xiao Ping zugeschriebene Aussage, es interessiere ihn nicht, ob eine Katze weiß oder schwarz sei, solange sie Mäuse fängt, deutet zwar auf Indifferenz in Bezug auf Katzenfarben, hat aber nur dann Sinn, wenn es gut ist, Mäuse zu fangen, bzw. schlecht, das nicht zu tun. Politik kann nicht ohne Werte bestehen. Dem zweiten Fallstrick, dem des philosophischen Skeptizismus, können wir erstens entgehen, indem wir in der Suche nach letzten Antworten und Begründungen zurückhaltend verfahren, allerdings nicht, weil das „nichts bringt“, sondern weil wir zeigen können, dass letzte Antworten und Begründungen sich nicht auf nicht-zirkularer Weise finden lassen (was eine alternative Formulierung der These ist, dass wir in einem post-metaphysischen Zeitalter leben), und zweitens dadurch, dass wir uns reflexiv vergegenwärtigen, was die eigentlichen Bedingungen dafür sind, die Frage nach der Begründung überhaupt zu stellen, und nicht nur „privat“, sondern auch im Rahmen einer öffentlichen Diskussion. Der georgische Philosoph Merab Mamardashvili hat, 58

Lefort, „Les droits de l’homme“, 46.

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auf bittere sowjetische Erfahrung gestützt, in einem Aufsatz mit dem Titel „Der Gedanke in der Kultur“ [Ɇɵɫɥɶ ɜ ɤɭɥɶɬɭɪɟ] gezeigt, dass für die Entwicklung des Gedankens lebendige Akte des Denkens nötig sind, die ihrerseits nicht ohne „gesellschaftlichen, öffentlichen Raum“ auskommen: „Gerade der öffentliche Raum ist eine Bedingung des Gedankens selbst“.59 Wenn eines der Menschenrechte die Freiheit des Denkens, der Religion und des Gewissens ist, einschließlich des Rechts, diese zu äußern, auch aber zu ändern,60 dann kann man dieses Recht im Namen der Konsistenz auch auf die Begründungsfrage selbst anwenden und behaupten, dass es jedem Menschen freisteht, aus eigenen geistigen, religiösen oder sonstigen Gewissensgründen die Menschenrechte oder deren aktuellen Katalog zu würdigen, zu bejahen, zu respektieren, zu fördern, zu vernachlässigen, zu bezweifeln oder zu verneinen – allgemeiner gesagt: sich zur performativen Dimension jeder Deklaration solcher Rechte frei zu verhalten.61 Kein Mensch hat ein gegebenes Recht, Rechte zu haben, sondern alle Menschen sind im Stande, Rechte für sich zu beanspruchen bzw. anderen zuzuschreiben; sie sind auch im Stande, auf Rechte zu verzichten bzw. sie anderen zu entsagen. Wir können es zwar schlecht, verwerflich oder verbrecherisch finden, wenn bestimmten Menschen bestimmte Rechte entsagt oder vorenthalten werden, wir können aber nicht behaupten, solches Verhalten, ob von Individuen oder Institutionen, sei abnorm, widernatürlich oder unmenschlich – im Gegenteil, es ist nur allzumenschlich. Wenn wir überhaupt von einer menschlichen Natur sprechen wollen, dann gehört dazu offensichtlich auch die Möglichkeit des Vorenthaltens und des Verstoßens.

Zum Schluss Am Ende dieser Überlegungen kehre ich zu den an den Anfang gestellten Zitaten zurück. Menschenrechte und Menschenwürde – wie auch Menschen selbst – sind tatsächlich eine verletzbare und sensible Sache. Statt spielerisch soll man sich ihnen gegenüber ernsthaft verhalten. Meines Erachtens bedeutet das, sie als von Menschen deklarierte Rechte und von Menschen angenommene Würde ernst zu nehmen, statt sie entweder zu sakralisieren, indem sie als gegeben, geoffenbart oder entdeckt und somit entweder als göttlich oder als natürlich aufgefasst werden, oder sie zu banalisieren, indem man sie auf hegemoniale Macht oder Ideologie reduziert. Zwischen dem Sakralen und dem Banalen gibt es eine vermittelnde Instanz: das Politische.

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Merab K. Mamardašvili, „Mysl’ v kul’ture“, in: ders., Soznanie i civilizacija [Raboty t. XIX], Moskva 2004, 30–43, hier 42: „ɂɦɟɧɧɨ ɩɭɛɥɢɱɧɨɟ ɩɪɨɫɬɪɚɧɫɬɜɨ ɹɜɥɹɟɬɫɹ ɭɫɥɨɜɢɟɦ ɫɚɦɨɣ ɦɵɫɥɢ“. UDHR, Art. 18: „Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief, and freedom [...] to manifest his religion or belief in teaching, practice, worship and observance.“ Zur Performativität siehe näher Van der Ven, „The Religious Scope“, 19, Fußnote 1.

Menschenrechtebegründung jenseits von Religion und Säkularismus?

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Rechte existieren insofern, als Menschen sie sich gegenseitig zuschreiben und garantieren: die Form der Allgemeinheit, die jedem Recht als solchem zukommt (sonst ist es ein Privileg), ist Ergebnis partikularer (nicht aber partikularistischer) Verallgemeinerung. Universalität heißt hier ausnahmslose Verallgemeinerung und ist anderer Art als etwa die Universalität des Pythagorischen Theorems. Diese Verallgemeinerung wird manifest in einer Deklaration, denn es gehört zum Wesen der Rechte, deklariert zu werden: sie sind nicht eine vorgefundene Sache, die Objekt einer Deklaration wird, sondern deren Absicht, und ihre objektive Existenz (auf Papier, in Marmor, im Internet, in Reden) ist der reproduzierte Ausdruck eines politischen Willens. Die Aufnahme der Menschenrechte in das positive Recht eines Staates oder in einen internationalen Vertrag (der den Status des positiven Rechts hat) verändert sie von deklarierten zu gesetzten, ohne dass das Gesetz das Recht je erschöpfen kann. Menschenrechte sind daher dreifach politisch. Erstens empirisch im Sinne der Menschenrechtspolitik von Staaten, UNO, NGOs, usw.; zweitens performativ als wiederholter Ausdruck des mehr oder weniger beständigen politischen Willens eines konkreten „Wir-HR“; und drittens im Innern, weil der konkrete Inhalt, die innere Konsistenz, die Rangordnung verschiedener Rechte usw. selbst auch Absicht von Politik ist. Wenn also die ROK, zum Beispiel, eine eigene Menschenrechtskonzeption entwickelt, so gehört sie weder automatisch zum „Wir-HR“, noch ist sie automatisch davon ausgeschlossen, sondern die Diskussion und, am Ende der Diskussion, die konkrete Willensbildung erneuert sich im Sinne einer Selbstbestimmung des innerlich pluralen „Wir-HR“. Menschenrechte müssen als unverletzlich dargestellt und deklariert, also „performativ reproduziert“ werden, eben weil sie verletzbar sind, sie müssen als unveräußerlich gelten, eben weil sie „veräußerbar“ und entfremdbar sind.

Autoren- und Autorinnenverzeichnis ALFONS BRÜNING (*1967) wurde 2005 in Freiburg (D) in den Fächern Geschichte und Slawischer Philologie promoviert. Seine Dissertation handelte von der Religionsgeschichte Polens und Litauens des 16. und 17. Jahrhunderts, und behandelte darin auch die Orthodoxie. Zwischen 2005 und 2007 war er Research Fellow am Ökumenischen Institut der Universität Münster. Seit 2007 ist er Fellow und wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ostkirchliche Studien der Radboud University Nijmegen. Seit 2012 ist er auch Associated Professor für „Orthodoxie, Menschenrechte und Friedensforschung“ an der Vrije Universiteit Amsterdam und der Protestantse Theologische Universiteit Amsterdam (NL). Seine Hauptforschungsinteressen sind die Christliche Orthodoxie in der frühen Neuzeit, Russische Orthodoxie in der Sowjetzeit, und die Orthodoxie und Menschenrechte. Unter seinen jüngsten Veröffentlichungen sind: „Morality and Patriotism – Continuity and Change in Russian Orthodox Occidentalism since the Soviet Era“, in: Andrii Krawchuk/Thomas Bremer (Hg.), Eastern Orthodox Encounters of Identity and Otherness. Values, Self-Reflection, Dialogue (London: Palgrave Macmillan, 2014), 29–46; „Different Humans and Different Rights? On Human Dignity from Western and Eastern Orthodox Perspectives“, Studies in Interreligious Dialogue 23/2 (2013) 150–175. àUKASZ FAJFER ist in Polen geboren und aufgewaschen. Sein Studium der Europäischen Gesellschaftskommunikation schloss er 2007 an der Adam-Mickiewicz-Universität in Gniezno/PoznaĔ ab. Im Rahmen dieser interdisziplinär angelegten Fachrichtung studierte er zwei Semester an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Während des Studiums setzte er sich mit religionswissenschaftlichen Fragestellungen auseinander und nahm an einer Studienreise auf dem Heiligen Berg Athos teil. Seitdem spezialisierte er sich im Orthodoxen Christentum und promovierte 2012 an der Universität Erfurt mit einer Arbeit zum Thema „Modernisierung im orthodox-christlichen Kontext. Der Heilige Berg Athos und die Herausforderungen der Modernisierungsprozesse seit 1988“, die 2013 in der Buchreihe „Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums“ (Bd. 7) erschien. Zurzeit arbeitet er an einem PostdocProjekt über die transnationalen Netzwerke der Orthodoxen Kirchen in Südosteuropa. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Orthodoxes Christentum, Religionen in der modernen Welt, und Kirchen in Europa in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Herausforderungen. INGEBORG GABRIEL, o. Univ. Prof. Dr. theol. und Mag. rer.soc. et oec., hat den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre inne und leitet das Institut für Sozialethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie ist Direktorin der nationalen Kommission Iustitia et pax der Österreichischen Bischofskonferenz und

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Autoren- und Autorinnenverzeichnis

Vizepräsidentin von Iustitia et pax Europa, sowie Vorsitzende der Vereinigung für Sozialethik in Mitteleuropa. Neue Publikationen: Gerechtigkeit in einer endlichen Welt. Ökologie – Wirtschaft – Ethik (hg. gem. mit P. Steinmair-Pösel) (2014); „Christliche Sozialethik in der Moderne“, in: J.-H. Tück (Hg), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil (2012); „Naturrecht, Menschenrechte und die theologische Fundierung der Sozialethik“, in: M. Vogt (Hg.), Theologie der Sozialethik (2013); Weltordnungspolitik in der Krise (Hg.) (2011); Perspektiven ökumenischer Sozialethik (hg. gem. mit A. Papaderos und U. H. J. Körtner) (2006). MIHAI-DUMITRU GRIGORE (*1975), PD Dr., 1999 Abschluss des Studiums Orthodoxe Theologie an der Universität Bukarest, Fachrichtung Historische Theologie und Byzantinische Geschichte, mit einer Arbeit über das Zweite Bulgarische Reich zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert; 2007 Promotion in Kirchengeschichte an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg mit einer Dissertation in historischer Anthropologie über symbolische Medien (Ehre) in der mittelalterlichen Gesellschaft mit einer Fallstudie über den Gottesfrieden im 10. und 11. Jahrhundert; 2007– 2012 Postdoktorand am Max-Weber Kolleg und an der Plattform „Weltregionen und Interaktionen: Area Studies, Transregionally“ an der Universität Erfurt mit einem Projekt über den Fürsten der Walachei Neagoe Basarab (1512–1521); vom Januar bis Mai 2012 Stanley S. Seeger Visiting Fellow am Center for Hellenic Studies der Universität Princeton; November 2013 Abschluss des Habilitationsverfahrens an der Universität Erfurt mit einer Habilitationsschrift zu „Neagoe Basarab – Princeps Christianus. Christianitas-Semantik im Vergleich mit Erasmus, Luther und Machiavelli (1513– 1523)“, die 2015 in der Buchreihe „Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums“ (Bd. 10) erschien; seit November 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz CYRIL HOVORUN, Dr. Theol., ist orthodoxer Priester und spezialisiert sowohl auf frühchristliche Traditionen als auch auf die zeitgenössische orthodoxe Welt. Als Research Fellow an der Yale University arbeitete er an einem Projekt zur Kirche in der Öffentlichkeit und untersuchte hierbei die Muster des Sozialverhaltens der Orthodoxen Kirchen. Er war Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in Kiev und war Erster Stellvertreter beim Bildungsausschuss des Moskauer Patriarchats. Vater Hovorun war auch einbezogen bei der Vorbereitung des Dokuments der Russischen Orthodoxen Kirche zu Menschenwürde, Freiheit und Grundrechten. Er ist an verschiedenen Ökumenischen Dialogen beteiligt und veröffentlicht zu Themen rund um Kirche und Gesellschaft. Hauptpublikationen: (2013) Orthodox Handbook on Ecumenism. Resources for Theological Education, Genf: WCCCEC-Volos Academy-Holy Cross School of Theology (Mitherausgeber); (2013) Reading the Gospels with the Early Church. A Guide. Genf: WCC (Mitherausgeber); (2008) Will, Action and Freedom: Christological Controversies in the Seventh Century. Leiden/Boston: Brill (The Medieval Mediterranean, 77).

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STEFAN KUBE studierte Katholische Theologie und Geschichte in Münster und Sarajevo. Seit 2009 ist er Chefredakteur der Zeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West“ (Zürich); Forschungsschwerpunkt: Kirchen und Religionsgemeinschaften in Südosteuropa. Neueste Publikationen: „Bischof Josip Juraj Strossmayer“, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, hg. von Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald und Thomas Wünsch, Göttingen 2013, 757–764; „Der Wallfahrtsort Medjugorje“, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, hg. von Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald und Thomas Wünsch, Göttingen 2013, 232–238; „Wer repräsentiert die Orthodoxie in Montenegro. Kirchliche Konflikte um den öffentlichen Raum“, in: Alojz Ivaniševiü (Hg.): Re-Sakralisierung des öffentlichen Raums in Südosteuropa nach der Wende 1989, Frankfurt am Main. 2012, 115–131. VASILIOS N. MAKRIDES (*1961), Dr. phil., ist seit 1999 Professor für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte und Soziologie des Orthodoxen Christentums, Ost-West-Beziehungen in Europa, und Religion und Moderne. Neueste Buchpublikationen: Hellenic Temples and Christian Churches: A Concise History of the Religious Cultures of Greece from Antiquity to the Present, New York/London: New York University Press, 2009; Orthodox Christianity in 21st Century Greece: The Role of Religion in Culture, Ethnicity and Politics, Farnham: Ashgate, 2010 (hg. zus. mit Victor Roudometof); Kulturna Istorija Pravoslavlja i modernost, Belgrad: KonradAdenauer-Stiftung, 2014. KATJA RICHTERS hat am University College London (UK) zu den Beziehungen zwischen der Orthodoxen Kirche und dem russischen Staat seit 1991 promoviert. Seit 2010 unterrichtet sie Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Universität Erfurt. Ihr Buch The post-Soviet Russian Orthodox Church: Politics, Culture and Greater Russia ist 2012 bei Routledge erschienen. Ihre Forschungsinteressen sind u.a. russisch-ukrainische Beziehungen, Orthodoxe Kirche und Staat in Japan und vergleichende Parteienforschung. KRISTINA STOECKL (*1977 in Österreich) studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Slawistik an der Universität Innsbruck, absolvierte einen MA in Internationalen Beziehungen an der Central European University in Budapest und legte 2007 ihr Doktorat in Sozial- und Politikwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz ab. Von 2007 bis 2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Forschungsprojekt zu Religion und Politik an der Universität Innsbruck, danach war sie bis 2012 als Marie Curie Fellow und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rom Tor Vergata tätig. Seit 2012 ist sie APART-Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien und am Institut für die Wissenschaften

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Autoren- und Autorinnenverzeichnis

vom Menschen (IWM) in Wien. Ihre Forschung im Bereich der politischen Philosophie und der russischen Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert sowie zu Religion und Politik im heutigen Russland ist in zahlreichen Publikationen in Sammelbänden sowie den Zeitschriften Religion, State & Society, European Journal of Social Theory, Studies in East European Thought, Journal of Ethnic and Migration Studies, und Journal of Contemporary Religion dokumentiert. Ihre Dissertation Community after Totalitarianism: The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity ist 2008 in der Buchreihe „Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums“ (Bd. 4) erschienen. Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Marie Curie Intra-European Postdoctoral Fellowship. Neueste Buchpublikation: The Russian Orthodox Church and Human Rights (London: Routledge, 2014). STEFAN TOBLER (*1959 in St.Gallen, Schweiz) ist Professor für Systematische Theologie am Departement für Geschichte, Kulturerbe und Protestantische Theologie an der Universität „Lucian Blaga“ Sibiu/Hermannstadt, Rumänien. Er ist Gründer und Co-direktor des Instituts für Ökumenische Forschung Hermannstadt und Mitherausgeber der Review of Ecumenical Studies Sibiu. Er studierte Theologie in Zürich, promovierte 1994 an der Freien Universität Amsterdam (Thema: trinitarische Grundlegung der Ekklesiologie) und habilitierte sich 2001 an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. 2003 folgte die Berufung nach Hermannstadt. Hauptwerke: Jesu Gottverlassenheit als Heilsereignis in der Spiritualität Chiara Lubichs. Ein Beitrag zur Überwindung der Sprachnot in der Soteriologie, Berlin/New York 2002; Testimoni della fede nelle chiese della riforma (Enzyklopädie, James Puglisi & Stefan Tobler, dir.), Roma 2010; Human Dignity and Poverty: A Research Project in Romania, Würzburg 2013. Forschungsschwerpunkte: ökumenischer Dialog (besonders evangelisch-orthodox), Ekklesiologie, Spiritualität, Armutsforschung. RUDOLF UERTZ, Dr. phil. habil., Dipl.-Theol. und Dipl. sc. pol.; Studium an der Universität München; 1981–1994 und 2000–2012 wissenschaftlicher Referent in der Konrad-Adenauer-Stiftung; 1985–1990 Lehrbeauftragter für Christliche Sozialethik am Fachbereich 1 der Universität Siegen; 1995–2000 wiss. Assistent an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; 2000 ebd. Privatdozent, 2006 apl. Prof. für Politikwissenschaft; außerdem 2001–2012 a. o. Prof. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Kardinal-Stefan-WyszyĔski-Universität in Warschau. HANS G. ULRICH (*1942), Prof. Dr. theol., Em. Professor am Fachbereich Theologie, Lehrstuhl Ethik, Universität Erlangen-Nürnberg; seit 1982 Professor, Universität Erlangen-Nürnberg; 2003–2007 Präsident der Societas Ethica; Mitglied der Arbeitsgruppe „Gentechnologie“ der EKiD, (1989–1997); Mitarbeit im Lutherischen

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Weltbund (2003–2005); Vorstand im Institut „Persönlichkeit und Ethik. Institut für Ethiklernen in beruflichen Kontexten“; Mitglied des Ethik-Komitees der UniversitätsKlinik, Erlangen und des Advisory Board McDonald Centre for Theology, Ethics & Public Life, Oxford, Schwerpunktgebiete: Ethik und Hermeneutik, Bioethik/Medizinische Ethik. Wirtschafts- und Unternehmensethik. Publikationen u.a.: Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik (Ethik im theologischen Diskurs, Bd. 2), 2. Aufl., Berlin: LIT, 2007. JENNIFER WASMUTH (*1969), Dr. theol.; 1989–1995 Studium der Ev. Theologie in Münster und Heidelberg; 1991–1997 Parallelstudium der Slawistik/Russistik in Heidelberg und Berlin; 1995–1996 Studienaufenthalt an der Geistlichen Akademie von St. Petersburg (Russische Föderation); 2005 Promotion in Erlangen; seit 2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchen- und Konfessionskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin Publikationen (in Auswahl): „Sozialethik in der russisch-orthodoxen Kirche der Gegenwart. »Die Grundlagen der Sozialkonzeption« in kritischer Betrachtung“, Evangelische Theologie 64/1 (2004) 37–51; Der Protestantismus und die russische Theologie. Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 113), Göttingen 2007; Thomas Bremer/Dies., „Gott und die Welt. Kirche und Religion in Osteuropa“, Osteuropa 59/6 (2009) 7–27; „Die Russische Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte“, G2W 38/5 (2010) 12–14; „Die aktuelle Situation der Russischen Orthodoxen Kirche“, Ostkirchliche Studien 62/1 (2013) 143–160; „Russian Orthodoxy between State and Nation“, in: Andrii Krawchuk/Thomas Bremer (Hg.), Eastern Orthodox Encounters of Identity and Otherness: Values, Self-Reflection, Dialogue, New York 2014, 17–27. REGULA M. ZWAHLEN hat an der Universität Freiburg (Schweiz) Slawistik, Kulturphilosophie und Politikwissenschaften Ost- und Ostmitteleuropas studiert und ist hier 2009 mit der Dissertation „Das revolutionäre Ebenbild Gottes. Anthropologien der Menschenwürde bei Nikolaj A. Berdjaev und Sergej N. Bulgakov“ zur Dr. phil. Promoviert worden, die 2010 veröffentlicht wurde (Münster: LIT). Als Leiterin der „Forschungsstelle Sergij Bulgakov“ an der Universität Freiburg (Schweiz) bereitet sie die deutsche Übersetzung dessen Werks zur Publikation vor. Seit 2010 ist sie Redakteurin der Zeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West (RGOW)“ am Institut G2W in Zürich. EVERT VAN DER ZWEERDE (*1958) ist Professor für politische Philosophie an der Radboud Universität zu Nijmegen, Niederlande. Er studierte Philosophie und Russisch in Nijmegen, Moskau und Fribourg, und verteidigte 1994 seine Dissertation (PhD) zum Thema „Philosophiegeschichte als Wissenschaft in der UdSSR“ – 1997

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Autoren- und Autorinnenverzeichnis

erschienen als Soviet Historiography of Philosophy (Dordrecht: Kluwer Academic). Seitdem hat er sich zunehmend mit politischer Philosophie beschäftigt, wobei er sich besonders auf die Themen Zivilgesellschaft, Religion (bes. Orthodoxie und Islam) und Politik und Demokratie richtet. Aus seinen Publikationen: „Gesellschaft, Gemeinschaft, Politik: zur Aktualität der Sozialphilosophie Semen Franks“, in: Holger Kuße (Hg.), Kultur als Dialog und Meinung [Specimina Philologiae Slavicae, Bd. 153] (München: Otto Sagner, 2008), 113–139; „Der Aufstieg des Volkes und die politische Philosophie in den Vechi“, in: Holger Kuße/Nikolaj Plotnikov (Hg.), Pravda; Diskurse der Gerechtigkeit in der russischen Ideengeschichte [Specimina Philologiae Slavicae, Bd. 164] (München: Verlag Otto Sagner, 2011), 155–191; (Hg. zus. mit Alfons Brüning) Orthodox Christianity and Human Rights (Leuven: Peeters, 2012). 2014 sind zudem folgende Bände erschienen: Alexander Agadjanian/Ansgar Jödicke/ Evert van der Zweerde (Hg.), Religion, Nation and Democracy in the South Caucasus (London & New York: Routledge), sowie Bas Leijssenaar/Judith Martens/Evert van der Zweerde (Hg.), Futures of Democracy (Nijmegen & Eindhoven: Wilde Raven). Er ist zudem Mitglied der Redaktion des Beirats von Religion, State & Society, Studies in East European Thought, Journal of Eastern Christian Studies, Transcultural Studies, und Amity.

Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums Herausgegeben von Vasilios N. Makrides Band

1

Vasilios N. Makrides (Hrsg.): Religion, Staat und Konfliktkonstellationen im orthodoxen Ost- und Südosteuropa. Vergleichende Perspektiven. 2005.

Band

2

Klaus Buchenau: Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek. 2006.

Band

3

Angelos Giannakopoulos: Tradition und Moderne in Griechenland. Konfliktfelder in Religion, Politik und Kultur. 2007.

Band

4

Kristina Stoeckl: Community after Totalitarianism. The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity. 2008.

Band

5

Nicolai Staab: Rumänische Kultur, Orthodoxie und der Westen. Der Diskurs um die nationale Identität in Rumänien aus der Zwischenkriegszeit. 2011.

Band

6

Sebastian Rimestad: The Challenges of Modernity to the Orthodox Church in Estonia and Latvia (1917-1940). 2012.

Band

7

Đukasz Fajfer: Modernisierung im orthodox-christlichen Kontext. Der Heilige Berg Athos und die Herausforderungen der Modernisierungsprozesse seit 1988. 2013.

Band

8

Alexander Agadjanian: Turns of Faith, Search for Meaning. Orthodox Christianity and Post-Soviet Experience. 2014.

Band

9

Thomas Heinzel: Weiße Bruderschaft und Delphische Idee. Esoterische Religiosität in Bulgarien und Griechenland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2014.

Band 10

Mihai-D. Grigore: Neagoe Basarab – Princeps Christianus. Christianitas-Semantik im Vergleich mit Erasmus, Luther und Machiavelli (1513-1523). 2015.

Band 11

Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube (Hrsg.): Christentum und Menschenrechte in Europa. Perspektiven und Debatten in Ost und West. 2016.

www.peterlang.com