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German Pages 251 [254] Year 2006
Christentum und Demokratie
Christentum und Demokratie Herausgegeben von Manfred Brocker und Tine Stein
Das Buch erscheint mit freundlicher Untersttzung der Heinrich-Bçll-Stiftung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermçglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Bttelborn Umschlagmotiv: Benedikt XVI. und Bundesprsident Kçhler auf dem Weltjugendtag 2005 in Kçln. Foto: picture-alliance, dpa. Satz: WMTP Wendt-Media Text-Processing GmbH, Birkenau Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN-13: 978-3-534-20055-9 ISBN-10: 3-534-20055-1
Inhalt
Manfred Brocker/Tine Stein Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Maier Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wre anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Henning Ottmann Athen und Jerusalem – eine Umwertung antiker Werte durch das christlich-jdische Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Theo Kobusch Nachdenken ber die Menschenwrde . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Forst Die Ambivalenz christlicher Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Roth Ordnungskrise von Kirche und Reich und die Genese des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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William J. Hoye Neuenglischer Puritanismus als Quelle moderner Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Uertz Katholizismus und demokratischer Verfassungsstaat . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Vçgele Mßigung der Macht durch Mitverantwortung und Recht. Bemerkungen zum Verhltnis von Protestantismus und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Graf Ballestrem Katholische Kirche und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Tine Stein Rechtliche Unverfgbarkeit und technische Machbarkeit des Menschen: Zur metaphysischen Begrndung der Menschenwrde . . . 170 Gerd Roellecke Kann sich das skulare Recht in Lebensfragen auf meta-positive Grundlagen beziehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Ulrich K. Preuß Der Universalittsanspruch der konstitutionellen Demokratie und das Vçlkerrecht: Humanitre Interventionen und christlicher Missionarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Manfred Brocker Demokratischer oder christlicher Missionarismus in der US-amerikanischen Außenpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Ein Gesprch zwischen Katajun Amirpur, Ralf Fcks, Josef Isensee und Hans Maier Moderation: Otto Kallscheuer Postskulare Gesellschaft und konstitutionelle Demokratie: Was ist die Grundlage der europischen Wertegemeinschaft? . . . . . . 227 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Manfred Brocker/Tine Stein
Einleitung Das Thema des vorliegenden Bandes, „Christentum und Demokratie“, bedarf in dieser Zeit keiner ausfhrlichen Begrndung. Sptestens seit dem Ende des Irakkriegs und dem weitgehend erfolglos gebliebenen Versuch der US-Regierung, das Land am Tigris zu demokratisieren, stellt sich in der politisch interessierten ffentlichkeit die Frage nach den soziokulturellen und insbesondere religiçsen Voraussetzungen funktionsfhiger und stabiler Demokratien. Auch die vergleichende Demokratieforschung hat das Thema inzwischen fr sich entdeckt. Whrend sie ihre Untersuchungen zuvor primr auf die sozioçkonomischen und sozialen Bedingungen gelungener Demokratisierungsprozesse konzentriert hatte, wie wirtschaftliches Entwicklungsniveau, soziale Machtverteilung, Bildung, Sozialkapital oder ethnische Homogenitt, erscheint ihr heute als gewiss, dass die religiçse Kultur und Struktur eines Landes eine weitere wichtige Erklrungsvariable bildet (vgl. etwa Clague/Gleason/Knack 1997). Das war nicht immer so. Lange Zeit schenkte die Politikwissenschaft diesem Zusammenhang kaum grçßere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt deshalb, weil sich bei vielen Vertretern des Fachs – wie der Sozialwissenschaften insgesamt – eine allgemeine Skularisierungs- und Modernisierungsthese durchgesetzt hatte, der zufolge die Religionen in der sozialen Welt zunehmend an Bedeutung verlieren und durch andere, innerweltliche Impulse und Motive des Handelns ersetzt werden wrden. Mittlerweile ist von einer „Rckkehr der Religionen“ die Rede (Riesebrodt 2000) – wobei es sich weniger um eine „Rckkehr“ der Religion auf die weltpolitische Bhne als vielmehr auf die Agenda der Politikwissenschaft handelt, die das Thema trotz seiner in vielerlei Hinsicht offenkundigen Bedeutung insgesamt allzu sehr vernachlssigt hat. Der Konnex von Religion und Demokratie jedenfalls springt unmittelbar ins Auge, wenn man die Weltkarte betrachtet: Alle alten Demokratien – also die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Australien, die Schweiz u. a. – wurden in Gesellschaften mit christlicher Kulturprgung begrndet. Nicht-christlich geprgte Staaten dagegen
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sind bis heute zumeist keine Demokratien, wie der Blick beispielsweise auf den afrikanischen Kontinent oder die arabische Welt deutlich macht. Auch statistisch lsst sich ein solcher Zusammenhang nachweisen. Die Organisation „Freedom House“ sammelt jhrlich die Daten von mehr als 190 Staaten und stuft sie auf dieser Basis als „demokratisch“ oder „nichtdemokratisch“ bzw. als „frei“ oder „unfrei“ ein. So gut wie alle, nmlich rund 90 % der am Anfang des dritten Jahrtausends existierenden „freien“ Staaten sind durch ihre Geschichte christlich geprgt (www.freedomhouse.org; vgl. Schmidt 2000, 448). Fr die islamische Welt sieht das Verhltnis genau umgekehrt aus: Von den 47 „islamischen Staaten“ (solche mit mehrheitlich moslemischer Bevçlkerung) sind mehr als 90 % nicht „frei“; 77 % mssen sogar als Diktaturen bezeichnet werden (vgl. Merkel 2003, 68). Andere Daten zeigen ebenfalls die Korrelation zwischen Christentum und Demokratie, die sich mit Manfred G. Schmidt auf eine einfache Formel bringen lsst: „Je hçher der Anteil der christlichen Religionen, desto tendenziell hçher der Demokratisierungsgrad“ (Schmidt 2000, 444 f.). Der Unterschied zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie variiert erkennbar mit dem Anteil von Protestanten und Katholiken an der Bevçlkerung. Fllt er unter einen bestimmten Wert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Gesellschaft keine demokratische Ordnung wird entwickeln und erhalten kçnnen. Zwar kann daraus kein „Unvereinbarkeitstheorem“, keine „Kulturalismus-Hypothese“ (Merkel 2003, 64) abgeleitet werden, der zufolge allein das Christentum Normen und Werte bereithlt, die die Errichtung demokratischer Ordnungen ermçglichen. Immerhin gibt es einige (wenige) Demokratien in nicht-christlich geprgten Lndern – beispielsweise im jdischen Israel, im berwiegend hinduistischen Indien, dem von Schintoismus und Buddhismus geprgten Japan, dem mehrheitlich konfuzianischen Sdkorea, dem buddhistisch geprgten Thailand. Und auch in der islamischen Welt finden sich neben den vielen Diktaturen einige freiheitliche Staaten. Mali etwa erreicht bei „Freedom House“ hohe Demokratiewerte (vgl. Hanke 2001). Dennoch legen die Zahlen nahe, dass offenbar vor allem das Christentum einen guten Nhrboden fr die Etablierung freiheitlich-demokratischer Verfassungsordnungen abgibt. Nicht zuletzt die Transformationsprozesse der letzten drei Jahrzehnte scheinen dafr zu sprechen. Beginnend mit Griechenland, Spanien und Portugal leiteten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts insgesamt 87 Staaten demokratische Reformen ein, d. h. sie etablierten zumindest das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht, das als Minimalkriterium fr eine demokratische Ordnung gilt. Nur sieben dieser Lnder hatten eine mosle-
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mische Bevçlkerungsmehrheit (Merkel 2003, 67 f.). Dagegen wurden so gut wie alle christlich geprgten Staaten von dieser „dritten“ und „vierten“ „Demokratisierungswelle“ (vgl. Huntington 1991; Schmidt 2000, 463 ff.) erfasst und gaben sich seither demokratische Verfassungen. Welche politiktheoretisch und ideengeschichtlich fundierten Grnde lassen sich fr diesen empirischen Befund anfhren? Darum soll es in diesem Band gehen. Woran liegt es, dass sich freiheitliche Demokratien vor allem in den Gesellschaften entwickeln konnten, die vom (westlichen) Christentum geprgt sind? Welche historischen Faktoren trugen hier zur Entwicklung demokratischer Verfassungsordnungen bei? Welche Rolle spielten dabei christliche Werte, Normen und Leitvorstellungen – im Verfassungsverstndnis, fr die Begrndung von Grund- und Menschenrechten, fr die Vorstellung von Gewaltenteilung, mterordnung und einer politischen Macht, deren Herrschaftsanspruch prinzipiell begrenzt ist? Diese Fragen sind – von Ausnahmen abgesehen – in der zeitgençssischen ideengeschichtlichen und politiktheoretischen Forschung der Politikwissenschaft bislang eher vernachlssigt worden. Verkrzt gesagt lokalisiert man noch immer die Wurzeln der Demokratie in der Brgerversammlung der polis Athen, die der Rechtsbindung des politischen Handelns in der Rçmischen Republik und die Verallgemeinerung individueller Rechte zu Menschenrechten in der Amerikanischen und Franzçsischen Revolution. Als die wesentliche geistige Impulsgeberin wird die Aufklrung angesehen, die mit dem berhmten Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmndigkeit nur allzu oft als eine Emanzipation aus religiçser Heteronomie verstanden wird. Aber die ideellen und institutionellen Quellen des demokratischen Verfassungsstaates fließen reicher und sind vielschichtiger. Ob und inwieweit sie auch aus religiçsem Grund entspringen, soll im vorliegenden Band ermittelt werden: Wie ist der Beitrag „Jerusalems“ gegenber dem „Athens“ und „Roms“ zu gewichten? Welche geistig-ideellen Anstçße sind von den biblischen Religionen fr unser Menschenbild und unser Weltverhltnis ausgegangen? Htten sich die radikalen Postulate der Freiheit und Gleichheit, die Vorrangstellung des Individuums in der politischen Ordnung, entfalten kçnnen ohne die biblisch begrndete Lehre von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen als Geschçpf Gottes? Und inwiefern waren die christliche Tradition und ihre institutionellen Vergemeinschaftungsstrukturen fr die Entwicklung des Gedankens der Volkssouvernitt und der zur gleichen Zeit auftretenden Idee der Bindung der Souvernitt an eine Verfassung von Bedeutung? Das sind einige der Fragen, die im vorliegenden Band erçrtert werden, wobei die bezogenen Positionen durchaus kontrovers sind. Denn die beteiligten Autoren sehen den Zusammenhang zwischen
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Christentum und Demokratie in institutioneller, politischer und rechtlicher Hinsicht unterschiedlich. Einige erkennen eine starke und grundlegende Beziehung zwischen konstitutioneller Demokratie und Christentum (vgl. Maier), bzw. bestimmter seiner gedanklichen Elemente, wie dem der Gottebenbildlichkeit und seiner Bedeutung fr die Idee einer unantastbaren Wrde (vgl. Kobusch; Stein) oder von Spielarten wie dem neuenglischen („basisdemokratisch“ orientierten) Puritanismus und seiner Rolle im amerikanischen Grndungsprozess (vgl. Hoye). Andere Autoren erkennen einen nur indirekten und vermittelten Zusammenhang, indem sie mehr auf Strukturanalogien des Denkens verweisen, weniger aber die Tradierung materieller Gehalte im Vordergrund sehen (vgl. Preuß). Wieder andere heben neben der Anerkennung der geistigen und institutionellen Impulse, die vom Christentum fr die Herausbildung der politischen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates ausgegangen sind, zugleich die unhintergehbare Bedeutung des griechischen Denkens und seiner „Entdeckung der Politik“ (H. Ottmann) hervor. Zudem wird die Auffassung vertreten, dass sich die konstitutionelle Demokratie erst gegen das Christentum entwickelt habe: durch die konfliktreiche Emanzipation der politischen Ordnung von kirchlicher Vormundschaft und ihre „Verweltlichung“ im Sinne einer institutionellen Autonomisierung (vgl. Roth); durch die Erkmpfung der positiven und negativen Religions- bzw. Glaubensfreiheit angesichts eines dem Christentum eigenen Wahrheitsanspruchs, der einflussreiche christliche Denker dazu fhrte, den Grundwert der Toleranz zu relativieren bzw. ganz abzulehnen (vgl. Forst). Darber hinaus gab es im Christentum bzw. einiger seiner konfessionellen Ausprgungen lange Zeit eine starke Opposition, ja eine offene Ablehnung der Gedanken von Menschenrechten und liberaler Demokratie, die teilweise (in einzelnen Fragen jedenfalls) bis in die Gegenwart anhlt (vgl. Uertz; Vçgele; Ballestrem). Bei aller Differenz geht aber keiner der in diesem Band versammelten Autoren davon aus, dass das Christentum keinen Einfluss auf das moderne politische Denken und die Entwicklung der konstitutionellen Demokratie hatte. Der vor kurzem verstorbene Kçlner Politikwissenschaftler Ulrich Matz, einer der besten Kenner der Materie und einer der wenigen, der sich schon frh mit den hier gestellten Fragen intensiv auseinandergesetzt hat, betonte in seinen Arbeiten, dass zwar auch eine Vielzahl von anderen, eigenstndigen Faktoren wirksam gewesen seien, wie das jdische Denken,1 die antike griechische und rçmische Kultur, germanische und rçmische Rechtstraditionen, nicht zuletzt auch Elemente des mittelalterlichen Islam, deren jeweiliger Einfluss nur schwer zu bestimmen sein drfte (Matz 1987, 29 f.). Doch riet er darum nicht von der Auseinandersetzung mit dem vor-
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liegenden Themenbereich ab. Im Gegenteil. Man solle sich nur, so Matz, strker auf jene Aspekte konzentrieren, bei denen der dominante Einfluss des Christentums – in positiver wie negativer Hinsicht – keinen begrndeten Zweifeln unterliegt und gut gegen konkurrierende Traditionsstrnge abgegrenzt werden kann. In diesem Sinne verfahren die Beitrge des vorliegenden Bandes. Dabei sollen hier aber nicht nur ideengeschichtliche Untersuchungen angestellt werden, sondern darber hinaus auch der aktuellen Bedeutung der christlichen Religion fr den demokratischen Verfassungsstaat nachgegangen werden. Diese Frage hat einen normativen und einen empirischen Aspekt. Welche normative Bedeutung kçnnte ein Geltungsanspruch der Religion unter den Bedingungen der religiçsen und weltanschaulichen Neutralitt des Staates berhaupt haben? Kçnnen etwa religiçs konnotierte Ansichten ber Leben und Tod und ber die Begrndung der menschlichen Wrde fr das Recht von Belang sein (vgl. Kobusch; Stein; Roellecke)? Und empirisch betrachtet: Wenn Alexis de Tocqueville mit seiner Beobachtung Recht hat, dass die Religiositt der Brger fr das Wohlfunktionieren der Demokratie ein entscheidender Faktor ist, was bedeutet es dann, wenn sich die religiçsen Bindungen in der Gegenwart in Westeuropa lockern oder ganz auflçsen? Fr die Europische Union wird jedenfalls kontrovers diskutiert, welcher Stellenwert der christlichen Herkunftsgeschichte fr die europische Wertegemeinschaft und die politische Union zukommen kann. Diese Frage ist angesichts der gegenwrtigen Debatten um einen religiçsen Bezug in der Europischen Verfassung, die angestrebte Vollmitgliedschaft der Trkei und die Integration moslemischer Minderheiten in den europischen Gesellschaften von besonderer Brisanz (vgl. dazu die Diskussion zwischen Amirpur, Fcks, Isensee, Maier und Kallscheuer). Auch in globaler Hinsicht stellt sich heute die Frage nach der Religion erneut. Das Christentum ist seit jeher in besonderer Weise eine Religion, die die nationalen Grenzen und Identitten bersteigt und sich an alle Menschen richtet. Auch die Menschenrechte sind nur als universelle Rechte begrndbar, nicht als Rechte des „westlichen“ Menschen. Gibt es zwischen dem christlichen Missionarismus und dem politischen – mitunter auch militrischen – Bemhen, Menschenrechten und Demokratie universell zur Geltung zu verhelfen, eine Parallele (vgl. Brocker)? Zeigt sich historisch eine Verbindung zwischen der Herausbildung und Entwicklung des modernen Vçlkerrechts und dem christlichen Denken? Aufmerksamkeit verdient in dieser Hinsicht die innere Spannung zwischen der Partikularitt einzelner politischer Gemeinschaften und der Idee einer universalen und globa-
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len Gemeinschaft aller Menschen, die sich im Horizont des mittelalterlichen religiçsen Universalismus wie auch im Horizont der Universalitt der Vçlkergemeinschaft einstellt (vgl. Preuß). Die Beitrge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung zurck, zu der die Herausgeber im Januar 2005 auf Schloss Eichholz eingeladen hatten, gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Heinrich-BçllStiftung, welche die Konferenz und die Drucklegung des vorliegenden Bandes großzgig untersttzt haben. Beiden Stiftungen sei hierfr herzlich gedankt. Besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die trotz zahlreicher anderer Verpflichtungen die Mhen der Bearbeitung und schriftlichen Ausformulierung ihrer Referate und Diskussionsbeitrge auf sich genommen haben. Alle Beteiligten sehen sich in der Hoffnung vereint, dass ihre berlegungen und kritischen Reflexionen Anlass zu weiterer Auseinandersetzung mit einem zu Unrecht vernachlssigten Thema geben mçgen.
Literatur Clague, Christopher/Gleason, Suzanne/Knack, Stephen: Determinants of Lasting Democracy in Poor Countries. Center for Institutional Reform and the Informal Sector, Working Paper No. 209, University of Maryland at College Park, September 1997. Hanke, Stefanie: Systemwechsel in Mali. Hamburg 2001. Huber, Wolfgang: Die jdisch-christliche Tradition. In: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 22005, S. 69–92. Huntington, Samuel P.: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century. Norman, Okla. 1991. Matz, Ulrich: Zum Einfluß des Christentums auf das politische Denken der Neuzeit. In: Gnther Rther (Hg.), Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegungen in Deutschland. Bonn 1987, 27–56. Merkel, Wolfgang: Religion, Fundamentalismus und Demokratie. In: Wolfgang Schluchter (Hg.), Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg. Weilerswist 2003, 61–86. Putnam, Robert: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton, N. J. 1993. Riesebrodt, Martin: Die Rckkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. Mnchen 2000. Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien. Opladen 32000.
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1 Dass auch das jdische Israel zu den wenigen Demokratien außerhalb des christlichen Kulturkreises zhlt, berrascht jene nicht, die eine enge Beziehung von Religion bzw. Christentum und Demokratie sehen, gilt die jdische Religion doch gewissermaßen als die ltere Schwester des Christentums. Die gegenwrtig hufig zu hçrende Wendung von der „jdisch-christlichen Tradition“ zeugt von der engen Verbindung (vgl. Huber 2005, 70 ff.).
Hans Maier
Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wre anders? Die Frage, „was wre, wenn …, was wre anders?“ war in der ernsten Forschung lange Zeit verpçnt. Das ist verstndlich; denn beweisen lsst sich auf diesem Feld so gut wie nichts und vermuten fast alles. Aber nachdem auch strenge Methodiker in jngster Zeit gegenber dem Kontrafaktischen freundlichere Tçne angeschlagen haben (und dies nicht nur im nahegelegenen Feld der Zeitgeschichte), lasse ich die entsprechenden Hemmungen beiseite. Ich will fragen, ob es eine spezielle Beziehung zwischen dem Christentum und dem demokratischen Verfassungsstaat gibt – und ob der Wegfall des einen fr den anderen sprbar wre. Dabei spitze ich die Frage auf die Entstehungsbedingungen des regimen limitatum zu: Wre der demokratische Verfassungsstaat, wie wir ihn kennen, ohne das Christentum berhaupt entstanden? Und welche christlichen Impulse sind in ihn eingegangen, in ihm „aufgehoben“? Ich will diese beiden eng miteinander verbundenen Fragen – sie bilden gewissermaßen das Ob und das Wie unseres Themas – am Beispiel von drei Vorgngen nher verfolgen, die ich, ganz vorlufig, mit folgenden Stichworten charakterisiere: 1. Entgçtterung der Welt, 2. Neues Bild des Menschen, 3. Zeit und Verantwortung. „Christentum“ verstehe ich dabei als ein Ganzes, ungeachtet der zweifellos vorhandenen geographischen, historischen und konfessionellen Trennungen; und mit dem „demokratischen Verfassungsstaat“ ist nicht eine spezifische historisch-nationale Gestalt gemeint, sondern die in der westlichen Geschichte hervortretende (und im demokratischen Zeitalter unumkehrbar gewordene) Tendenz, politische Gewalt unter ethische und rechtliche Bindungen zu stellen, ihr Ziele vorzugeben und Schranken zu setzen.
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1. Entgçtterung der Welt Fragen wir zunchst danach, wie das Christentum die Denk- und Lebensformen der umgebenden politischen Welt verndert hat. Offensichtlich handelt es sich um eine „Umwertung aller Werte“: Denn an die Stelle der Einheit von Kult und Politik, an die Stelle des Anspruchs der Polis, „Kirche ihrer eigenen Religion zu sein“ (Joseph Ratzinger), tritt in den neutestamentlichen Zeugnissen eine Zweiheit, wie sie am bndigsten im so genannten Zinsgroschengleichnis (Mk 12, 13-17) umschrieben wird, wo es heißt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.“ Das bestimmt auch das Verhltnis der frhen Christen zu den politischen Gegebenheiten ihrer Zeit. Das Christentum tritt hervor in einer Welt, in welcher der Friede Roms, die Pax Romana, herrscht. Und es trifft in den ersten Jahrhunderten seiner Ausbreitung auf eine universelle politische Religion: den Kaiserkult. Auf der Hçhe der augusteischen Epoche wird das goldene Zeitalter ausgerufen; die Gçtter sollen fr immer versçhnt, ein Friede soll auf ewige Zeiten gesichert werden. Eine politische Eschatologie breitet sich aus in der gesamten von Rom beherrschten Welt, mit verschiedenen Akzenten in West und Ost, aber mit dem selben universellen Anspruch: Whrend der Kaiser in Rom als princeps auctoritate regiert, wird er in der çstlichen Reichshlfte als Gottheit verehrt, zu der man um die Fortdauer des Friedens betet. Der rçmische Staat war der Erbfolger der griechischen Polis-Idee. Er hatte diese Idee ins kumenische erweitert, indem er das Brgerrecht der Stadt ausgeweitet hatte zu einem rçmischen Weltbrgerrecht. Er hatte zugleich die alte Polis-Einheit von Kult und Politik erneuert und sie zum zwingenden Gesetz des Reiches gemacht. In der Verehrung der rçmischen Kaiser gipfelte der Kult der Gçtter. An diesem Punkt, dem Kaiseropfer, entbrannte der Streit mit dem jungen Christentum. Die Haltung der frhen Christenheit zu Kaiser, Obrigkeit, politischer Gewalt ist, wie bekannt, nicht auf eine einfache Formel zu bringen. Quietistische Bescheidung, duldender Gehorsam finden sich in den Zeugnissen ebenso wie die herausfordernde These „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29) – Vorbote jahrhundertelang immer wieder aufflammender Kmpfe zwischen christlicher Kirche und weltlichem Regiment. Als Kontinuum in den wechselnden geschichtlichen Situationen treten zwei Zge hervor: Die Christen gehorchen, apostolischer Weisung folgend, der Obrigkeit; und sie beten – selbst in Verfolgungszeiten und ungeachtet ihrer entschiedenen Ablehnung des Kaiseropfers – fr den Kaiser und fr das Heil des Reiches. Freilich, wem gehorchen, fr wen beten sie?
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Sie gehorchen einer Obrigkeit, die unter Gottes Gericht steht; und sie beten fr einen Kaiser, der ein Herrscher ist, nicht ein Gott. Wo Obrigkeit ist, da ist sie im christlichen Verstndnis von Gott verordnet. Wo ein Kaiser herrscht, da hat er keine Macht – es sei denn, sie wre ihm „von oben gegeben“. So ist aller Gehorsam eingebettet in eine fundamentale Reduktion weltlicher Macht: Kein irdischer Herrscher kann sich post Christum natum absolut setzen und fr das Ganze ausgeben, keiner kann die Geschichte ans Ende bringen, die Gçtter versçhnen, den Weltfrieden ausrufen. Mit Christi Inkarnation und Opfertod ist „die Zeit erfllt“, der Bann irdisch-geschichtlicher Macht gebrochen. Alle Mchte und Gewalten werden durch Christus „zur Schau gestellt“ und ihres dmonischen Charakters entkleidet. Dmonisch ist nach christlicher Lehre, was sich Gott nennt, ohne es zu sein. Kaiser und Reich, Staat und Herrscher werden zu Dmonen, wenn sie gçttliche Allmacht fr sich beanspruchen. Diesem Anspruch darf, ja muss sich der Christ widersetzen, denn er weiß, dass er auf Usurpation beruht und damit nichtig ist; er durchschaut die Faszination des Scheingçttlichen als eitles Blendwerk, als Maskerade, als pompa diaboli. Damit werden Staat und Politik etwas anderes, als sie bis dahin waren – sie enthllen sich in einem radikalen Sinn als menschliche Schçpfung, als „Menschenwerk“. Das Politische ist nichts Gçttliches. Es wird – christlich gesprochen – zu sich selbst, zu seinen irdischen Zwecken befreit. Seine eigene, nicht mehr mit Religion und Kult ununterscheidbar verflochtene Geschichte beginnt. In mancher Hinsicht beginnt sie erst jetzt. So steht vor dem Dienst der alten Kirche am Staat in Gestalt von Gebet und Gehorsam ein anderer, fundamentalerer Dienst: die Entdivinisierung, Entgçtterung (oder wiederum christlich gesprochen: die Entdmonisierung) des Staates – die Auflçsung der sptantiken Symbiose von Kaiser, Reich und Gottesverehrung. Dass dies ein Dienst am Staat sei, eine Befreiung des Staates zu sich selbst, ein Schritt zu seiner rechtlichen Bindung, Vergesetzlichung, Kontrolle – das musste heidnischen Betrachtern freilich wie eine Blasphemie erscheinen. Viele verdchtigten daher die Christen, die in ihren Augen die Sorge um die Gçtter, die religio, vernachlssigten, als „Atheisten“. Aber auch die Christen selbst lçsten sich nur langsam von den berlieferten politisch-religiçsen Denkweisen. Das zeigen die regelmßigen Rckflle in eine – nunmehr christlich gefrbte – Rom- und Reichstheologie in der Geschichte des Christentums seit Konstantin. Allzu nahe lag die Versuchung, auch in christlichen Zeiten Himmel und Erde immer wieder durch ein forderndes „Gott will es!“ kurzzuschließen und so den welttranszendenten Gott in irdische Kmpfe und Konflikte zu verstricken. ber-
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haupt: Die leidenschaftlich-gewaltttige Versicherung der Welt in Gott scheint ein ewiges menschliches Bedrfnis zu sein. Man kann die Linien aus bis in die Gegenwart hinein ausziehen. Immer wieder kommt es auch in der Moderne zu Regressionen in die mythische Einheit von Kult und Politik, zur Leugnung des fr die Geschichte nach Christus geltenden „eschatologischen Vorbehalts“. Selbst in der abgeschwchten Form der „Zivilreligion“ rivalisiert diese Tendenz bis heute mit den Krften christlicher Weltfreigabe. Bei vielen herrscht die illusionre Erwartung, Christus sei der „Ordner der Welt“ und nicht vielmehr deren „tçdliche Freiheit“ (Reinhold Schneider). Dennoch: Die Geschichte des Christentums ist die Geschichte einer fortwhrenden Destruktion „politischer Theologien“. Die Lehre von der gçttlichen Monarchie scheiterte am trinitarischen Dogma. Die Pax Augustea im Sinn eines ewigen Friedens fand ihre Grenze an der christlichen Eschatologie. Der christliche Kaiser des Mittelalters verlor im Investiturstreit seine numinosen Qualitten. In der Neuzeit wurden nacheinander die monarchische Geschichtstheologie Bossuets und ihr Gegenstck, die theologische Demokratielehre der Konstitutionalisten in der Franzçsischen Revolution, entzaubert. Darin wird deutlich, dass das Politische im christlichen on nicht mehr, wie in der Antike, rundum den Daseinssinn des Menschen bestimmt und beherrscht, dass es vielmehr ein Nicht-Absolutes, ein Vorletztes darstellt, das fr den Menschen Dienst- und Instrumentcharakter hat. Der Christ nmlich soll, nach einer Formulierung Augustins, diese Welt, auch die politische, nicht „anbeten“, sondern „pflgen“ – das heißt sie erkennen und konstruktiv weiterbilden. Ist dieser christliche Exorzismus am selbstbezogenen Staat in den neueren Jahrhunderten schwcher geworden? Kehrt am Ende der Neuzeit die antike Theopolitie zurck? 1929 schrieb Hermann Heller angesichts der modernen Totalitarismen den prophetischen Satz: „Der Staat kann nur totalitr werden, wenn er wieder Staat und Kirche in einem wird, welche Rckkehr zur Antike aber nur mçglich ist durch eine radikale Absage an das Christentum“ (Heller 1929, 56). Eric Voegelin und Raymond Aron haben die Gewaltregime der jngsten Vergangenheit – Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus – als „politische Religionen“ bezeichnet. Sie sahen in deren Bemhen um eine quasi-religiçse Dimension politischer Ordnung Parallelen zu den Modellen der antiken politisch-religiçsen Einheitskultur. Die modernen totalitren Regime sind aber zugleich auch die Fratze eines pervertierten Christentums, von dem nur ußere Ordnungen, Zwang und Disziplin brig geblieben sind. Mit ihren „reinen Lehren“, ihren Inquisitionstribunalen und Ketzergerichten, ihren Dissidenten und Re-
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negaten, Apostaten und Proselyten ffen sie problematische Entwicklungen in der Geschichte des Christentums nach. „Was nachgeahmt wird“, sagt Marie-Joseph Le Guillou, „ist oft die Snde des Christentums“. Es ist kein Zufall, dass der Auftritt der modernen Gewaltregime Hand in Hand geht mit einem berdimensionalen Wiederaufleben von Personenkult, Vergçttlichung der Herrscher, Apotheose der „toten Helden“ im Umkreis totalitrer Politik. Dafr gibt es nur antike Parallelen. Man denke an die „Pantheonisierung“ Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, an die kultische Verehrung des Revolutionsfhrers durch Menschen aus Russland und der ganzen Welt (bis heute!), an die Erlçsungsund Auferstehungsdramaturgie der Feiern fr die Toten des 9. November im Deutschland Adolf Hitlers, an anbetungsgleiche Aussagen ber politische Fhrer wie „Er organisierte die Berge, und ordnete die Ksten“ (Stalin) oder: Seine Ideen sind „die Sonne die ewig scheint“ (Mao Tse Tung). Man kçnnte denken, das sei heute Vergangenheit, ein Rckfall in mythische Vorstellungen einer „politischen Religion“ sei wenig wahrscheinlich, die Schreckenserfahrungen totalitrer Herrschaft lgen noch zu nahe. Doch der „redivinisierte“ (Eric Voegelin) Staat bleibt nach meiner Meinung auch fr die Zukunft eine reale Gefahr – zumal in vielen Teilen der einstmals christlichen Welt das postchristliche religiçse Vakuum fortbesteht. berall, wo die christliche Scheidung der Gewalten in Frage gestellt wird, wird der Staat notwendigerweise zum Alleinherrscher ohne Appellationsinstanz, zur selbstbezogenen Macht, gegen die sich der einzelne nur unter Aufbietung aller Krfte des Willens und des Intellekts zu wehren vermag. Es gehçrt zum Bild einer „Welt ohne Christentum“, dass in ihr mit dem omnipotenten Staat zugleich auch der Terror antiquus und der panische Angstschrei der Opfer wiederkehrt.
2. Neues Bild des Menschen Aber das Christentum hat nicht nur die sptantike Welt „entgçttert“ – es hat auch ein neues Bild des Menschen entworfen. Wie sieht es aus? Wie wird der Mensch in den Texten der Evangelien geschildert? Welche Bedeutung hat die christliche Anthropologie fr den Staat und sein Handeln? Das Neue Testament sieht den Menschen unter mancherlei Winkeln der Fragwrdigkeit. Nicht das Edle, Wohlgeratene, Vollendete steht im Vordergrund – auch Arme, Kranke, Besessene, Hssliche, Niedrige, und gerade sie haben ihren Platz in den biblischen Erzhlungen. Dass sie ebenso zu den Adressaten der „Frohen Botschaft“ gehçren wie die Reichen und Mchtigen
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dieser Welt, dass auch fr die letzten unter ihnen, die am Rand der Gesellschaft leben, der Ruf des Menschensohnes gilt, dass der Ruf zur Umkehr buchstblich „an alle“ ergeht – das hebt das christliche Menschenbild ab vom griechischen Ideal der Schçnheit und „Wohlgeratenheit“, einem Ideal, das nur wenige erreichen kçnnen, das den meisten verschlossen bleiben muss. Der Mensch wird im Christentum auf eine neue Weise gesehen. Er wird in seiner Schwche, Unzulnglichkeit, Erbrmlichkeit erkannt und ohne Vorurteile angenommen. Krankheiten, Behinderungen gehçren mit zu seiner Bestimmung. Die alten Unterscheidungen – „Wohlgeborene“ und „Missgeborene“, Eigene und Fremde, Kulturmenschen und „Barbaren“ – fallen mit der Zeit dahin (es dauert freilich auch in christlichen Zeiten lange!). Jesus ist nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Snder zur Buße. So ist auch die moralische Sphre, die Sphre der Gerechtigkeit, nicht mehr die hçchste; hçher steht die Liebe, um derentwillen „viel vergeben wird“ – eine Liebe, die sich den Menschen erst erschließt, seitdem „der Menschensohn mit Zçllnern und Sndern zu Tisch gesessen hat“. Erik Peterson hat das Neue des christlichen Menschenbildes mit den Worten gekennzeichnet: „Der Menschensohn, der in die Hnde des Menschen berliefert wird, muß vieles leiden (Lk 9, 22). Aber in dem Opfer des Menschensohnes vollzieht sich nun ein Austausch der Begriffe vom Menschen. Es stirbt der alte Mensch mit seinen Fanghnden, und es ersteht der neue Mensch, der sich opfert. Wer also eine klare Antwort auf die Frage haben will: ‚Was ist der Mensch?, dem ist sie in dem ‚Ecce homo des mit Dornen gekrçnten Menschensohnes gegeben“ (Peterson 1994, 136 f.). Das frhe Christentum nimmt diese Linien auf; es entwickelt Formen des Zusammenlebens, die sich von den Gewohnheiten seiner Umgebung deutlich abheben. Neue charakteristische Elemente treten hervor: die Aufhebung sozialer Schranken, die Praxis des Miteinander (allelon), die Bruderliebe und die Feindesliebe – endlich das Verstndnis der Gemeinde als Gemeinschaft der Heiligen in der Welt und als Zeichen fr die Vçlker. War das frhe Christentum eine Zeit der Distanz, der Kritik an der umgebenden Kultur, der Erwartung des Weltendes und der Wiederkunft Christi, so kehrten sich in der Folgezeit die Akzente um. Mit der Entstehung einer christlichen Gesellschaft in Ost- und Westrom, spter im Norden, Nordwesten und Osten Europas erwachte eine strkere Weltaktivitt der Christen. Mit dem Christlich-Werden ganzer Vçlker wuchs die Kirche im Abendland aus ihrer alten Minderheits- und Diasporasituation hinaus. Kirche und Staat begannen die Menschen eines bestimmten Raumes gemeinsam zu umfassen. Eine Identifikation der Kirche mit der politischen
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Gemeinschaft des Volkes wurde mçglich. Christliche Impulse wirkten vielfltig in die ffentlichkeit hinein. Der Staat wurde zum erweiterten Leib des Kirchenvolkes. Was wir heute „Volkskirche“ nennen, nimmt seinen Anfang von dieser historischen Konstellation. Im Unterschied zur antiken Anschauung, die mit Herren und Sklaven als einem selbstverstndlichen, „natrlichen“ Faktum rechnete, war das Vorhandensein von Herrschafts- und Dienstrngen in einer vom Christentum geprgten Gesellschaft nicht einfach eine naturhafte, mit der Geburt gegebene Tatsache. So musste sich der jeweilige Herrschaftstrger vor seinen Mitmenschen und vor Gott verantworten, da er seine Herrschaft als „Lehen“, als Amt und Auftrag (trust), nicht als willkrlichen Besitz innehatte. Hierin lag die Mçglichkeit einer Modifikation von Herrschaft, ihrer Umwandlung in eine Ordnung, in der sich eine allseitige Verantwortlichkeit entwickeln konnte – die Grundvoraussetzung fr den modernen Rechts- und Verfassungsstaat. Kirche und geistlicher Stand waren an diesem Prozess in doppelter Weise beteiligt. Einmal war der Klerus selbst – in Grenzen – ein Aufstiegsstand. Er konnte frei gewhlt werden, man wurde nicht in ihn hineingeboren. Sodann hielt die kirchliche Predigt und Erziehung ber den Hierarchien und Wrden, der Pracht und dem Stolz der Mchtigen immer wieder den Gedanken der evangelischen Gleichheit wach. Diese Vorstellung begann vor allem im hohen und spten Mittelalter wirksam zu werden. Sie wurde zum Ferment einer geistigen und politischen Neugestaltung. In den Totentanzdarstellungen malte sich die Zeit ein Gegenbild ihrer purpurn-hochmtig einherschreitenden stndischen Ehren und Wrden. Der große Rollentausch am Jngsten Tag war ein Leitmotiv in der Predigt der Bettelmçnche. So differenzierte die Kirche das adelig-buerliche Herrschaftsgefge, formte es aus einem Verhltnis von Gewalt und Gehorsam zu einem Verhltnis gegenseitiger Rechte und Pflichten um. Erst dadurch konnten aus Machttrgern und Machtunterworfenen „Stnde“ innerhalb eines grçßeren Ganzen werden. Unreflektierte Machtausbung wurde zur Wahrnehmung eines „Amtes“. Noch die reformatorische Sittenlehre und in ihrer Fortsetzung die christliche Staatslehre eines Seckendorff stand in dieser Tradition, wenn sie die weltlichen Stnde, Obrigkeiten und Untertanen in eine christliche Ordnung eingefgt und durch „allgemeine Vergliederung und Einleibung in die Gemeinschaft der Kirche“ zu einem „geistlichen Leibe“ verbunden sah. So versteht man, dass sich im Schoß der Kirche eine Vielzahl von Ttigkeiten entwickelte, die wir heute ganz unreflektiert als „staatlich“ empfinden: Personenstandswesen, Sorge fr Arme und Kranke, Einrichtungen der
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Erziehung, Bildung, Wissenschaft. Das waren keine Usurpationen. Dem Staat – der noch kaum existierte – wurde nichts weggenommen. Vielmehr entstanden diese Ttigkeiten unmittelbar aus dem Eingehen der Kirche in die Welt. Sie standen im Dienst einer sich allmhlich ausformenden christlichen Ordnung des Lebens. So der Personenstand: Der einzelne wurde – ber Familie, Sippe, Stand hinaus – in seiner Individualitt erkannt. So Erziehung und Bildung: Die breite Wirkung christlicher Lehren wre nicht mçglich gewesen ohne sie. So das Armen- und Krankenwesen: In einer christlichen Umwelt durfte kein Mensch ins Leere fallen. Hier sind Elemente moderner politischer Kultur vorgeprgt: Es gibt in der Antike keine institutionellen Einrichtungen, die modernen Schulen, Frsorgeanstalten, Krankenhusern vergleichbar wren. So hinterlsst das biblische Menschenbild deutliche Spuren in der Geschichte des modernen Rechtsstaats, Sozialstaats, Kulturstaats. Das Bild des leidenden, geopferten Menschensohnes hlt die Erinnerung wach an die Leidenden und Armen – und an die Pflichten der Gesunden, Reichen, Mchtigen ihnen gegenber. Das christliche Kreuz wirft die Frage auf nach dem Sinn von Leid und Tod. Es erinnert an die Grenzen menschlichen Handelns und Planens und leistet dadurch Aufklrung ber den Zustand der wirklichen Welt. Auch hier kann man die Frage stellen: Existiert der heutige Rechts- und Sozialstaat, der den Menschen in seiner Individualitt und Sozialitt schtzt, seine Entfaltung mçglich macht und ihn im Alter, in Krankheit und Not nicht im Stich lsst, unabhngig von seinen christlichen Ursprngen? Trgt er sich – wie vieles in postchristlichen Zeiten – „von selbst“, ohne einer geschichtlichen oder geistigen Begrndung zu bedrfen? Oder braucht er noch den christlichen Bezugsrahmen? In der Tat sind viele Anstçße des Christentums in die politischen Sachstrukturen der Moderne eingegangen. Wir vertrauen darauf, dass Menschenwrde und Menschenrecht, Freiheit und sozialer Ausgleich fr alle einleuchtend, berzeugend, selbst-evident sind – tatschlich scheinen sie es weithin zu sein. Und doch wissen wir nicht, ob die Kultur des Sozialstaats den Untergang der Nchstenliebe berstehen wrde, ob die Solidaritt mit dem Nchsten nicht verschwinden msste, wenn dieser nur noch der Fremde, der Andere wre, der Konkurrent, ja der Feind. Und kann es so etwas wie soziale Verantwortung berhaupt noch geben, wenn der Schutz des Lebens grundstzlich in Frage gestellt wird, sei es nun das Leben der Ungeborenen oder das der Alten, Behinderten, Dementen? „Nicht alles Leben ist heilig“ – so zitierte „Der Spiegel“ in Heft 48/2001 den in Princeton lehrenden australischen Bioethiker Peter Singer. „Wir fl-
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len Entscheidungen darber, welche Art von Leben wir fortsetzen wollen und welche nicht.“ Singer spricht von einer Revolution der Ethik, von einer kopernikanischen Wende, hervorgerufen durch neue biologische Erkenntnisse ber das Frhstadium wie ber das Endstadium des Menschen. Seine ‚neujustierte utilitaristische Ethik luft darauf hinaus, dass nur der Mensch, der ber ein Bewusstsein verfgt, nicht aber „jeder atmende, warme menschliche Organismus“ ber Menschenrechte und Menschenwrde verfge. Singer weist auf den Wandel der Werte hin – und auf die Tatsache, dass in lteren Kulturen die Tçtung von Neugeborenen keineswegs als grausam galt. „Im antiken Griechenland wurde ein Kind erst nach 28 Tagen in die Gesellschaft aufgenommen – vorher durfte man es in den Bergen aussetzen.“ Singer kann sich nach eigenem Bekunden eine Gesellschaft vorstellen, die „eine Unterscheidung machen wrde zwischen den Babies, die wirklich geliebt und aufgezogen werden, und anderen, die man der Wissenschaft spendet.“ Das volle Lebensrecht will er einem Neugeborenen erst nach einer Phase von 28 Tagen zuerkennen – gleichfalls eine aus dem antiken Griechenland entlehnte Idee. Einer der Vter der Genforschung, Erwin Chargaff, hat schon vor Jahren sein Erschrecken darber geußert, dass im gegenwrtigen Forschungsdiskurs dem Machbaren keinerlei ethische Schranke mehr entgegenzustehen scheine. „Der Ton im Labor hat sich unerhçrt verndert. Es war anfangs tatschlich bukolisch, wie eine freudige Angelpartie. Die Sprnge, die man jetzt macht, sind dagegen schreckenerregend“; „ich meine seit langem, daß die Molekularbiologie ber die Strnge schlgt und Sachen tut, die sie nicht verantworten kann“ (zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.6.2001). Nicht nur bei Naturwissenschaftlern, Philosophen, Ethikern weckt die Gentechnik widersprchliche Gefhle, die zwischen utopischen Erwartungen und der Furcht vor unkalkulierbaren Risiken schwanken. Die bioethischen Debatten beschftigen auch ein breites Publikum. Ein 2003 erschienenes Buch mit dem Titel Was wollen wir, wenn alles mçglich ist? enthlt 8500 Fragen von Brgern zur Bioethik, die im Internet gesammelt wurden. Sie spiegeln Hoffnungen und ngste. „Werden Eltern behinderter Kinder eines Tages bestraft?“ lautet eine der Fragen, eine andere: „Heißt das, dass jede Behinderung eines Menschen nun noch mehr niederschmetternde Blicke auslçsen wird, die da signalisieren, warum haben dich deine Eltern nicht verhindert?“ „Kann man bald auch ein gewnschtes Verhalten zchten?“ „Jede Geburt ein Volltreffer! Schçn, schlau und kerngesund. Was passiert mit den Nieten?“ Andere fragen: „Wenn man mit einem Leben tausend andere retten kçnnte, kann man dieses eine Leben dafr opfern?“ „Ist
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es nicht an der Zeit, den hippokratischen Eid umzuformulieren, um klare Grenzen abzustecken?“ „Defekte Gene – selber schuld?“ Und wieder andere: „Wer hat eigentlich beschlossen, dass ein Mensch mit Down-Syndrom kein lebenswertes Leben hat?“ „Kann sich keiner vorstellen, dass man auch mit Behinderung glcklich sein kann?“ „Wer darf darber entscheiden, was ethisch ist und was nicht?“ Und zugespitzt: „Ich bin schizophren. Werde ich jetzt bald getçtet?“ (zit. nach Sddeutsche Zeitung vom 25.9.2003). Eines zeigen diese Fragen deutlich: Vieles Moralische versteht sich in unserer Gesellschaft nicht mehr „von selbst“. Die festen berzeugungen – „Das tut man einfach nicht, das ist unmçglich!“ – sind ebenso im Schwinden wie der Konsens ber die Heiligkeit und Unverfgbarkeit des Lebens. Vieles lange Zeit hindurch Selbstverstndliche muss heute stndig neu diskutiert, begrndet, verteidigt werden. Die allen gemeinsamen, „egalitren“ Voraussetzungen von Moral und Recht geraten aus dem Blick. Daher die Konjunktur der „Ethikrte“ und die Verwandlung vieler Normen in flexible Positionen eines offenen, nie abgeschlossenen „Diskurses“. Vor allem die Stellung des behinderten Lebens in der Gesellschaft gert angesichts immer besserer und frherer biomedizinischer Erkenntnis- und Verhtungsmçglichkeiten in Gefahr. Es droht zu einem der Abwgung unterworfenen „Gut unter Gtern“ zu werden. Auf die drohenden Gewçhnungseffekte solcher Instrumentalisierung, auf den unvermeidlichen Verlust kultureller berlieferungen, die bisher allen gemeinsam waren, und das moralische Vakuum, das entstehen muss, wenn Menschenwrde und „Heiligkeit des Lebens“ zur Disposition gestellt werden, haben jngst Jrgen Habermas, Wolfgang Frhwald und Ernst-Wolfgang Bçckenfçrde eindringlich warnend hingewiesen.
3. Zeit und Verantwortung Ein drittes Fundament des modernen Verfassungsstaates hngt deutlich mit christlichen berlieferungen zusammen: Ich meine das Gefhl fr den Wert der Zeit, ihre Unwiederbringlichkeit und Unwiederholbarkeit – und das daraus erwachsende responsible government, die Wahrnehmung politischer Aufgaben in festen, kontrollierbaren Verantwortungszeiten und -rumen. Es hat sich dem westlichen Menschen in Jahrhunderten christlicher Erziehung tief eingeprgt, dass die Zeit eine Frist ist, begrenzt und kostbar, und dass sie unaufhaltsam voranschreitet, dem Ende zu. Aus diesem Gefhl erwuchs eine strenge Kultur der Lebensgestaltung, eine Ordnung des
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Zhlens, Messens, Einteilens, die vom Stundengebet der Mçnche bis zum Kalender der Kaufleute, vom altchristlichen „Ora et labora“ bis zum modernen Countdown, vom Computus der Computisten, die im Frhmittelalter den Ostertermin berechneten, bis zum modernen Computer reicht. Arno Borst hat diese sprachlichen und geschichtlichen Zusammenhnge in seinem Buch Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (1991) eingehend dargestellt. Das Christentum hat deutliche Spuren in unserem Zeitbewusstsein hinterlassen. Die Abkehr von sozial differenzierten Ortszeiten, die Zhlung und Messung der Zeit nach allgemeinen Maßstben, die Entstehung einer einheitlichen Weltzeit – das alles hngt mit der Kultur der Zeiteinteilung und Zeitverwendung zusammen, wie sie seit den Anfngen der Christenheit vor allem in den Klçstern (aber auch in der Liturgie, im christlichen Kalender, im Kirchenjahr) entwickelt worden war. Ganz selbstverstndlich zhlen wir unsere Jahre nach einem Ereignis, das nicht am Anfang, sondern in der Mitte der Geschichte liegt, der Geburt Jesu Christi. In Handel und Kommunikation, in der Erinnerungskultur, in den Datierungen geschichtlicher Ereignisse gilt die christliche Zeitrechnung sogar global – selbst in Gebieten mit anderer Zeitrechnung (China, die islamischen Lnder usw.) wird, zumindest ergnzend, nach ihr gerechnet. Auch die modernen Instrumente der Zeitmessung sind in einer christlichen Zivilisation entstanden. Moderne Zeit als „gezhlte Zeit“ beginnt mit der mechanischen Uhr, beruhend auf der Spindelhemmung mit Waagbalken, die im spteren Mittelalter – also in Europas „Erster Moderne“ – erfunden wurde. Zwar folgte die Konjunktur der Uhren bald eigenen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, knstlerischen und modischen Gesetzen Aber noch in der europischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert, in Mission und Kolonisation erscheinen Uhren zunchst in einem christlichen Kontext. Als europische Jesuitenpatres im 16. Jahrhundert in China missionieren, fhren sie Uhren mit sich – diese çffnen ihnen sogar die Pforten des kaiserlichen Palastes in Peking. Bis zur Auflçsung ihrer Mission leitete immer ein Jesuit die Uhrenwerkstatt und -sammlung des Kaisers. Auch Franz Xaver soll schon 1550 Yoshitaka Ouchi, dem Gouverneur vom Yamaguchi, eine Uhr berreicht haben – nach allgemeiner Meinung die erste mechanische Uhr europischer Herkunft in Japan. Die Uhr ist ein Ausdruck der Herrschaft ber die Zeit. Auch der christliche Kalender erwuchs aus einem Herrschaftsanspruch: Christi Herrschaft ber die Zeit war fr Christen der Anlass, die Orientierung an der kaiserlichen Zeitrechnung zu berprfen – eine Entwicklung, die dann zu einer eigenen christlichen Zeitrechnung fhrte. Seit 525 ist die Zhlung nach
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Christi Geburt bezeugt. Die Jahre vor Christi Geburt zhlte man noch lange – jdischer bung folgend – von Erschaffung der Welt an. Erst in der Neuzeit, genauer in der Aufklrung, wurde auch die Zhlung nach rckwrts allgemein blich – die Grnde lagen in der grçßeren Przision gegenber den stark divergierenden Daten der Weltschçpfung. Whrend noch Bossuet mit beiden Zhlungen gearbeitet hatte, verwendete Voltaire die „volle“ prospektive und retrospektive Zeit-Zhlung: nach Christus und vor Christus. Auch der moderne Verfassungsstaat hat, wenigstens indirekt, einen seiner Ursprnge im christlichen Umgang mit der Zeit. Denn das Christentum macht politisches Handeln rechenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Damit werden die berlieferten Formen politischer Identifikation des einzelnen mit der Brgergemeinde brchig. Es gengt jetzt nicht mehr, dass der politisch Handelnde fr die Brgerschaft das ußerste wagt und sich mit seiner Gemeinde – wenn er erfolgreich ist und nicht untergeht – in ewigem Ruhm verbindet. Die bedingungslose brgerliche Hingabe, der „Heimfall ans Allgemeine“ (Jacob Burckhardt), – Kern des antiken politischen Ethos – wird in christlichen Zeiten fragwrdig. Die Vergçttlichung erfolgreicher Feldherrn, Magistrate, Kaiser erscheint als pure Blasphemie. Whrend die Antike in Gestalt des Heros und der Tragçdie die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart hineinreißt (und sie damit aus Zeit und Vergnglichkeit herausnehmen will), stellt das Christentum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verantwortungsrume der politisch Handelnden klar und scharf nebeneinander. Am Beispiel des Ruhmes enthllt Augustin die Selbstbezogenheit, die latente Verantwortungs-Unfhigkeit der antiken politischen Kultur. Der Staat wird von ihm entschlossen in die Zeit gestellt und auf das Recht gegrndet. Denn ohne Gerechtigkeit sind die Staaten nach seinem berhmten Wort nichts als „große Ruberbanden“. Verantwortung wird in christlichen Zeiten neu und strenger gefasst: Wie der Mensch ber sein ganzes Leben Rechenschaft ablegen muss vor dem ewigen Richter, so wird jetzt auch der politische Bereich zum Raum persçnlicher Verantwortung; jeder Schritt muss bedacht, jede Handlung berlegt und abgewogen werden. In den Frstenspiegeln entwickeln sich Formen einer religiçs-pdagogischen Ethik. Mittelalterliche Politik arbeitet mit religiçs begrndeten Instrumenten und Sanktionen. In der Neuzeit macht der Katholizismus die Herrscher rechenschaftspflichtig gegenber Kirche, Priestertum, Gewissen. Im Protestantismus sind die institutionellen Gewichte schwcher, die inneren Gewissensinstanzen aber bestehen fort – von der bewusst kirchlichen Politik evangelischer „Betefrsten“ zur Zeit
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der Reformation bis zu dem individualistischen Umgang Bismarcks mit den Losungen der Brdergemeinde. Den entscheidenden Schritt zur Organisation von Verantwortlichkeit tut dann freilich erst der moderne Verfassungsstaat. Er schafft klare Verantwortungsrume und Verantwortungszeiten. Er macht deutlich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Abstnden, vor welchen Instanzen, mit welchen Verfahren der Besttigung oder Verwerfung. Vor allem: Er zerlegt die Machtausbung und macht sie dadurch der bersicht und Kontrolle zugnglich. Eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortungsfelder entsteht. Sie dehnen sich in der modernen Demokratie auf die ganze Breite des Staatslebens aus: responsible government heißt schließlich, dass die Herrschenden insgesamt den Beherrschten verantwortlich sind. Zeit und Verantwortung – die Gegenwart bietet ein vielgestaltiges, oft verwirrendes Bild. Einerseits erleben wir, wie die kulturellen Folgen des Christentums in vielen Bereichen ihre letzte Steigerung erfahren – oft gelçst von ihrer Herkunft. Anderseits schwindet die Bereitschaft zur bernahme und Weitergabe dieses Erbes – selbst unter Christen. Einerseits lsst die technische Zivilisation alle Menschen, und keineswegs nur die Christen, die unerbittliche Linearitt der Geschichte empfinden – die schattenlose Verantwortlichkeit des Menschen in einer „weltlichen Welt“. Anderseits erschrickt der Mensch vor seinen Taten: viele mçchten ausbrechen aus dem christlich initiierten „Ein-fr-allemal“, hinein in alte und neue Kosmologien, in Esoterik, Wiederkehr des Gleichen, in Wiedergeburt und Wiederherstellung. Die weite und diffuse Diskussion zu diesem Thema kann hier nicht referiert werden. Eines scheint mir aber sicher: Die christliche Zeitlinie darf nicht aufgegeben werden – sie kann auch nicht zum Kreis gebogen werden im Sinn einer „ewigen Wiederkehr“. Fluchtbewegungen aus dem strikten Zusammenhang des „Gestern-Heute-Morgen“ wrden nicht nur das christliche Zeitverstndnis preisgeben, sondern auch die Kultur der Verantwortung, ja die Struktur unseres çffentlichen Lebens im ganzen in Frage stellen. Wie will man politische und soziale Rechenschaftspflicht begrnden, wenn an die Stelle des linearen Fortgangs der ewige Kreislauf tritt? Gilt dann nicht allein der Wille vor aller Vernunft, wird nicht jedes Recht notwendig zum Vorrecht der Mchtigen, landet man nicht notwendig in einer Gesellschaft, in der nichts wahr und daher alles erlaubt ist? Wer dies feststellt, muss nicht blind sein gegenber den Schwierigkeiten, denen die christliche Zeiterfahrung heute bei vielen begegnet. Sie ist hufig vom Fortschrittsparadigma berlagert worden; ihr personaler und geschichtlicher Charakter erscheint verdunkelt. Politisches Handeln von
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Christen ist aber mehr als eine mechanische Fortbewegung nach dem Gesetz des „grçßer-hçher-schneller“. Es ist eine Fortbewegung auf ein Ziel, ein Ende zu. Die Zeit hat einen Anfang und ein Ende. Der Christ weiß, dass das Ende immer schon nahe ist. So misstraut er den Programmen innergeschichtlicher Perfektibilitt. Er weiß, dass der Fortschritt – den er begrßt – nicht unendlich sein kann, weil die Welt auf ihr Ende zuluft und eines Tages von „Gottes Zeit“ eingeholt wird. Diese Einsicht muss keineswegs bedrckend sein, sie kann befreiend wirken. Denn sie macht den Menschen fhig, ber sachliche und pragmatische Lçsungen in politischen Fragen nachzudenken. Auch der Christ soll und darf das bedenken, was das Zweite Vaticanum die „Autonomie der weltlichen Sachbereiche“ genannt hat. Er weiß, dass ewiges Heil und irdisches Wohl nicht einfach identisch sind, dass man der „Welt unter Gott“ nicht mit dem Gestus der Allwissenheit, noch weniger mit einem Auserwhltheitswahn begegnen darf. Und so kann er sich in den profanen Feldern von Wirtschaft, Politik, Kultur vertrauensvoll und ohne Zwang bewegen – „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“, wie unser Grundgesetz behutsam und bescheiden sagt.
Literatur Borst, Arno: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Berlin 21991. Heller, Hermann: Europa und der Fascismus. Berlin 1929. Peterson, Erik: Theologische Traktate. Ausgewhlte Schriften, Bd. 1, hg. v. Barbara Nichtweiß. Wrzburg 1994.
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Athen und Jerusalem – eine Umwertung antiker Werte durch das christlich-jdische Denken? Das Wort „Polis“ begegnet im Neuen Testament 161 mal. Es hat dort aber nicht mehr die Bedeutung, die es fr die Griechen einmal besaß. Bei den Griechen war die Stadt das Zentrum des Lebens. Nach dem Zeugnis des Aristoteles findet der Mensch im politischen Leben seine Ehre und Anerkennung. Zwar gab es auch ein die Politik transzendierendes Leben, wie es der bios theoretikos der Philosophen darstellt. Aber fr den Normalbrger war die Politik das, was sein Leben bestimmte. Nur die kleine Zahl der Philosophen fhrte ein Leben apolitischer oder berpolitischer Art. Mit dem Christentum wird dies anders. Fr das Christentum gibt es zwei Stdte: die irdische und die himmlische. Alle Politik wird dadurch auf eine nie dagewesene Weise relativiert. Das Zentrum des Lebens kann Politik nicht mehr sein. Entscheidend wird die Ausrichtung auf das knftige Leben und das jenseitige Heil. Der Spielraum der Politik erweitert sich. Viele Arten von Politik werden mçglich, weil es eine alleinseligmachende Politik nicht mehr geben kann. Ein Blick auf das Neue Testament zeigt, der Spielraum der Politik ist derart weit geworden, dass die Grenze des Widersprchlichen gestreift wird. In Rçmer 13, 1-2 heißt es: „Jedermann sei unterworfen der Obrigkeit, die Gewalt ber ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden ber sich ein Urteil empfangen.“ Gibt Paulus damit eine Loyalittserklrung fr Rom ab, so ist Rom in der Apokalypse des Johannes das „Tier aus der Tiefe“, eine satanische, Anbetung fordernde Macht. Der Basler Theologe Cullmann (1961) hat einmal versucht, die Johannes-Apokalypse als Kritik eines totalitren Systems avant la lettre zu lesen, und er hat dabei erstaunliche Resultate erzielt. Das Neue Testament pldiert fr und gegen Rom. Es fordert Gehorsam und Widerstand. Die enorme Spannweite mçglicher Politikformen bedeutet allerdings nicht, dass alle politischen Ziele und Inhalte gleichgltig geworden wren. Ein reiner Dezisionismus wird nicht verkndet, und eine
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complexio oppositorum, wie sie Carl Schmitt (1925) der Katholischen Kirche zuschrieb, ist nicht gleichbedeutend mit einer Politik der Beliebigkeit. Im erweiterten Spielraum der Politik gibt es Grenzen, und es gibt dort auch Hierarchisierungen, die zu beachten sind. Das Beispiel der Zinsperikope mag pars pro toto erlutern, wie Grenzen und Hierarchisierungen zu denken sind. Als man Christus im Tempel den Silberdenar mit dem Bilde des Tiberius zeigt und ihm die Frage stellt, ob dem Kaiser Steuern zu zahlen seien, antwortet er bekanntlich: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22, 21-22). Der Merksatz drckt aus, zwischen Politik und Religion ist zu trennen. Gott und Caesar besitzen je ihr eigenes Reich. Selbst ein heidnischer Kaiser wie Tiberius verdient, dass man ihm Steuern zahlt, selbst ein Kaiser, auf dessen Mnze steht: PONTIFEX MAXIMUS und DIVI AUGUSTI FILIUS (vgl. Schottroff 1984; Bnker 1989). Jesus war kein Zelot. Er war kein nationaler Befreiungskmpfer. Zum Widerstand gegen Rom hat er nicht aufgerufen. Neben der Trennung der Reiche enthlt der Merksatz eine weitere Botschaft. Er fordert die berordnung des Gottesreiches ber das Reich des Caesar. Die Betonung des Merksatzes liegt auf dem zweiten Teilsatz, dass ‚Gott zu geben ist, was Gottes ist. In freier bersetzung kann man die Zinsperikope etwa so umformulieren: Gebt dem Kaiser doch seine Steuermnze zurck (reddite)! Wie es sein Bild auf der Mnze zeigt, gehçrt ihm die Mnze sowieso. Wenn er sie zurckerhlt, bekommt er, was ihm zusteht. Entscheidender freilich als der Gehorsam gegenber der weltlichen Macht ist der Dienst im Reiche Gottes, ‚Gott zu geben, was Gottes ist. Zur christlichen Politik gehçrt eine Kunst der Grenzziehung und Trennung. Zu trennen sind Weltliches und Geistliches, irdisches Glck und ewiges Heil, irdischer und ewiger Frieden, Revolution und Erlçsung. Um die exakte Linie der Grenzziehung ist immer wieder gerungen worden. Jedoch sind alle Wege verfehlt, auf denen versucht worden ist, die Grenzziehung vçllig aufzuheben und im Sinne des Dictatus Papae (1075) eine Hierokratie oder im Sinne Konstantins einen Csaropapismus zu errichten. Die Gewalten kçnnen kooperieren. Man kann sie auch parallel agieren sehen. In jedem Fall sind sie aber erst einmal voneinander zu scheiden, wenn das Spezifikum christlicher Politik in den Blick kommen soll. Fr den Christen kann Politik kein Letztes mehr sein. Christlich wird Politik zur Kunst der Regelung vorletzter Dinge, weil die Religion zustndig fr das Letzte ist. Die Verteilung der Kompetenzen fhrt nicht nur zur Politikrelativierung, sie fhrt auch zu einer Politikentlastung. Politik wird entlastet von der Zumutung, zustndig fr das Letzte zu sein. Wenn die Trennung von Letztem und Vorletztem gelingt, hlt Religion der Politik
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den Rcken frei. Sie wird nach dem Wort Hermann Lbbes zur „Liberalittsgarantie“ (1986, 325). Religion kann verhindern, dass der Staat sich ideologisch in sich schließt, sich fr allzustndig erklrt. Ein Paradebeispiel fr die Unterscheidung von christlicher und antiker Politikauffassung bietet Augustinus. Sein Interesse galt mehr der Trennung der Reiche und dem Bruch mit dem imperium Romanum als dem Bestreben, Politik durch Religion zu sttzen. Es ist bezeichnend, dass man bei Augustinus darber diskutieren kann, ob er mit seiner berhmten Frage „was sind die Reiche anders als Ruberbanden?“ jedes irdische Reich verurteilt oder nur solche, denen die Gerechtigkeit fehlt (Ottmann 2004, 28 ff.). Wie dem auch sei, fr den Kirchenvater hat sich Politik auf eine der Antike nicht gekannte Weise relativiert. Sie erklrt sich fr ihn aus der Sndhaftigkeit des Menschen, und schon dies zwingt dazu, Politik nicht als eine Verheißung irdischer Vollkommenheiten, sondern als eine Minimierung erwartbarer bel zu verstehen. Im Buch Genesis ist der erste Stdtegrnder ein Bruder-Mçrder. Die Geschichte des Menschen ist ein einziger Brudermord, und nur die Verheißung eines Friedens auf Erden bringt Augustinus dazu, doch noch eine (aber auch nur eine) Parallelaktion von civitas terrena und civitas divina anzusetzen. Es ist eine Parallelaktion, welche die Differenz der Reiche nicht aufhebt, da diese bis ans Ende der Tage bestehen bleibt. Politik als Kunst der Grenzziehung, Religion als Politikentlastung und Politikrelativierung, diese Thesen kçnnen Fragen und Einwnde hervorrufen. Wo bleibt hier der Auftrag des Christen, die Welt zu gestalten? Wo bleibt das Potential christlicher Weltvernderung? Haben jene politischen Denker recht, die wie Machiavelli oder Rousseau dem Christentum vorwerfen, dass mit ihm keine anspruchsvolle Politik zu machen sei? Hat das Christentum die antike Brgerpolitik ruiniert? Hat es das Leben derart entpolitisiert, dass jede anspruchsvolle Politik Schaden nehmen muss? Machiavelli und Rousseau haben diese Fragen bekanntlich mit Ja beantwortet. Sie und andere Denker der Neuzeit haben, um den antiken Anspruch der Politik zu retten, auf ein Heilmittel zurckgegriffen, das im Alten Rom eine große Rolle gespielt hatte: die Zivilreligion. Hobbes empfahl sie als ein Mittel zur Schlichtung des konfessionellen Brgerkrieges (Hobbes 1984, Kap. 42), Rousseau als ein Mittel, die Trennung von Mensch und Brger wieder aufzuheben (Rousseau 1977, IV, 8). Aber Zivilreligion kann unter den Bedingungen der Neuzeit ein Heilmittel werden, das von einem Gift nur noch schwer zu unterscheiden ist. Auf der einen Seite kann sie ein Abglanz echter Religion sein, und nur wenn sie dies ist, hat sie einen religiçs ertrglichen Sinn. Auf der anderen Seite ist sie stets verdchtig, Religion
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fr die Zwecke der Politik zu instrumentalisieren, sie zu erniedrigen zum Lieferanten des Sozialkitts oder zum Surrogat fr die verlorene politische Homogenitt. Wenn sie etwas von echter Religion haben soll, ist Zivilreligion nicht instrumentalisierbar. Wird sie instrumentalisiert, fehlt ihr die Wrde echter Religiositt. Der Verdacht, dass das Christentum anspruchsvolle Politik verhindert, hat einen Anhaltspunkt bereits an den ersten Jahrhunderten christlicher Geschichte. Die ersten Christen waren Fremde in dieser Welt. Sie haben sich vom blichen Leben abgesondert. Die von den Massen geschtzten Spektakel waren ihnen verchtlich. Den Kriegsdienst wollten sie nicht leisten oder zumindest haben sie berlegt, ob sie ihn denn leisten sollten. In Tertullians Apologeticum (197 n. Chr.) heißt es: „Nichts ist uns [den Christen; H. O.] fremder als die çffentliche Angelegenheit“ („nobis … nec nulla magis res aliena quam publica“; Apol. 38). Derselbe Tertullian war es auch, der das Christentum nicht nur scharf abgrenzte vom Judentum, sondern auch von der griechischen Philosophie. Den griechischen Philosophen, schrieb er, werde jede Verrcktheit nachgesehen, whrend die Wahrheiten des christlichen Glaubens auf Unverstndnis stießen. Pythagoreer etwa wrden glauben, dass aus einem Maulesel wieder ein Mensch entstnde. Sokrates stelle Dmonisches (wie sein „Daimonion“) neben die Gçtter. Die Gçtter der Griechen seien sowieso nur vergçttlichte Menschen, wie es Euhemeros gezeigt habe: „Was also“, fragt Tertullian, „haben gemeinsam der Philosoph und der Christ, der Schler Griechenlands und der des Himmels …?“ (Apol. 46, 18). Oder an anderer Stelle: „Was hat Athen mit Jerusalem, was die Akademie mit der Kirche zu tun?“ (de praes. haer. 7). Athen und Jerusalem, Akademie und Kirche waren zunchst voneinander getrennt. Aber die Zeit Tertullians, die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert, ist bereits auch die Zeit des Umschlages. Bei Clemens von Alexandria etwa wird zur gleichen Zeit schon die Brcke zur griechischen Philosophie geschlagen. Zwar seien, schreibt Clemens, in der Philosophie „nicht alle Nsse“ essbar. Aber die Philosophie einfach nur abzuwehren, hnle der Angst der Kinder „vor Gespenstern“ (strom. VI, 80, 5). Griechische Philosophie und Christentum wurden von nun an miteinander verbunden. Das Christentum wurde nun auch fr die Gebildeten attraktiv. Mit Augustinus gewinnt es einen Denker, der den Philosophen der Antike auf Augenhçhe gegenbertreten kann. In den verschiedenen Renaissancen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit erneuert sich in der christlichen Welt immer wieder das Erbe der Antike. Athen und Jerusalem wachsen zusammen, so dass sie mit fortschreitender Geschichte nur noch schwer von-
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einander zu trennen sind. Als Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) seine Attacke gegen Aristoteles ritt, hatte er damit keinen Erfolg. Durchgesetzt hat sich Melanchthon, der das Erbe der Antike fr den Protestantismus gerettet hat. Christen waren und sind Fremde in dieser Welt. Gleichwohl geht das Verhltnis des Christentums zur Welt in Weltfremdheit nicht auf. Zwar ist es den Christen immer geboten, sich der Welt nicht gleichfçrmig zu machen. Aber das christliche Weltverstndnis ist eigentlich geprgt durch eine Balance von Weltabwendung und Weltzuwendung: Abwendung von dieser zeitlichen Welt der Snde und des Unheils, Zuwendung zur Welt, die eine an sich gute und erlçste Schçpfung ist. Diese Balance kann unterschiedlich ausfallen, in gewissen Zeiten mehr zur Weltabwendung, in anderen mehr zur Weltzuwendung neigen. Entscheidend ist jedoch, dass es immer zwei Pole sind, zwischen denen das christliche Weltverstndnis oszilliert. Nietzsches Kritik an der Flucht der Christen aus dieser Welt in die „Hinterwelt“ hat diese Doppelung im Weltverstndnis nicht erkannt. Das Christentum hat die Welt verndert. Es hat die tragische Weltauffassung der Griechen durch eine neue Lehre von der Gerechtigkeit ersetzt. Eine Tragçdie kann es christlich nicht mehr geben, da ein Missverhltnis zwischen der Tat und ihren Folgen nicht mehr auftauchen kann. An die Stelle der Tragçdie tritt die „Gçttliche Komçdie“. Durch sein Liebesgebot hat das Christentum eine neue Auffassung von Mitmenschlichkeit und Brderlichkeit gebracht, eine Zuwendung auch zum Schwachen und Hilflosen. Das Christentum hat die zyklische Zeitauffassung der Antike ersetzt durch die Vorstellung einer zielgerichteten, befristeten Zeit. Alle Geschichtsphilosophie der Neuzeit beruft sich darauf, noch in ihrer das Christentum skularisierenden Form. Das Christentum hat die Welt verndert. Der Prozess dieser Vernderung ist allerdings nicht leicht zu fassen. Das Wort „Verweltlichung“ ist doppeldeutig. Es kann bedeuten, dass die Religion sich so in der Welt verwirklicht, dass sie diese nach ihrem Bilde formt. Es kann aber auch bedeuten, dass sie sich in der Welt verliert, sich durch Selbst-Skularisierung auflçst. Dies ist dem Christentum um so mehr mçglich, als ihm eine Tendenz zur Skularisierung von Anfang an innewohnt. Man sieht dies sowohl an den Folgen des Monotheismus als auch an der Geschichte der Subjektivitt, am Weg christlicher Freiheit und Gleichheit in die Welt. Der Monotheismus, ob jdisch oder christlich, bringt die erste große Skularisierung. Er ist eine Form der Entzauberung der Welt. Hatten die Alten die Natur mit Gçttern, Dmonen und anderen numinosen Wesen bevçlkert, so vollzieht der Monotheismus die große Entgçtterung der Welt.
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Aus dem „Hain“ wird – wie Hegel einmal in anderem Zusammenhang, im Blick auf die Subjektivitt und seine eigene Zeit formuliert – das „Holz“ (Hegel 1968, 317). Vom Hain zum Holz, oder sagen wir, von der Transzendenz und dem Herausziehen des Gçttlichen aus der Welt zur Versachlichung und Verdinglichung der Außenwelt. Der Monotheismus ist eine der großen Kulturschwellen. Durch ihn entsteht das, was Gehlen die „FaktenAußenwelt“ nennt (Gehlen 1975, 97 ff.). Nun teilt das Christentum den Monotheismus mit dem Judentum und dem Islam. Aber die christliche Form des Monotheismus bringt andere politische Konsequenzen mit sich, als sie im Kalifat des Islam oder in der Geschichte des auserwhlten Volkes zu bemerken sind. An die Stelle der Einheit von Politik und Religion, wie sie der Kalifat fordert, tritt die Trennung der Reiche. An die Stelle der auf ein auserwhltes Volk beschrnkten Religion tritt der Universalismus. Dieser folgt nicht der Formel „ein Gott – ein Volk“. Diese wird vielmehr ersetzt durch die Formel „Ein Gott – eine Menschheit“. Der Monotheismus ist, wie es schon bei den Stoikern zu bemerken ist, eine Voraussetzung des universalen Denkens. Ohne ihn htte sich weder die Idee der einen Menschheit durchgesetzt noch das, was daraus folgt: das Menschenrecht. Zu diesem hat trotz Stoa und linker Sophistik das Altertum nicht gefunden. Es hebt den Satz Nietzsches nicht auf: „Menschenrechte gibt es nicht“, gemeint ist, gibt es nicht in der Antike (Nietzsche 1967, 578). Der Monotheismus kann zur Theokratie neigen. Flavius Josephus, der den Begriff geprgt hat (contra Apionem II, 165-166), hatte damit etwas umschrieben, was die Griechen und die Rçmer nicht kannten, wçrtlich eine Gottesherrschaft, de facto eine Herrschaft der Priester. Auch in der Geschichte des Christentums ist die Idee einer Priesterherrschaft des çfteren erwogen worden, und noch bei den Puritanern ist sie wiederaufgelebt. Der monotheistische Universalismus ist darber hinaus anfllig fr Reichstheologien: „Ein Gott – ein Reich“, „ein Gott – ein Kaiser“ – seit Konstantin liegen solche politisch-theologischen Analogien nahe. Sie verfehlen freilich die Spannung, die die christliche Zwei-Reiche-Lehre und der doppelsinnige Weltbegriff enthalten. Sie ziehen die Transzendenz, die die Politik entlastet, wieder in diese Welt hinein. Die politisch-theologischen Versuchungen, denen der Monotheismus unterliegen kann, sind allerdings zu unterscheiden von der Behauptung, der Monotheismus sei eine Theologie der Gewalt, der Feindschaft, der Intoleranz, so wie dies krzlich Jan Assmann (1998; 2000) behauptet hat. Der Monotheismus kann so, wie er die Natur entdmonisiert, auch die Politik entzaubern. So wie er das Gçttliche aus der Natur zieht, kann er es
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auch aus der Politik ziehen. Schon im Alten Testament finden sich Spuren eines solchen Denkens. Neben den kçnigsfreundlichen Traditionen finden sich dort auch kçnigskritische wie beispielsweise in der Geschichte des Saul (vgl. Crsemann 1978). Die Inthronisierung des Kçnigtums wird dort so verstanden, dass sich Israel damit seines eigentlichen Kçnigs und seiner Eigentmlichkeit gegenber anderen Vçlkern beraubt. Wenn Gott der wahre Herrscher ist, wie kann dann ein Mensch berhaupt Kçnig sein? Vor Gott sind nach christlicher Lehre alle Seelen gleich, und das Christentum verheißt seit seinen Anfngen eine Aufhebung der Unterschiede der Nationen, der Stnde und der Geschlechter. Im Galater-Brief des Paulus heißt es: „Jetzt gilt nicht mehr Jude noch Grieche, Sklave noch Freier, Mann und Weib“ (3, 28). Man muss dies wohl so verstehen: Jetzt gilt nicht mehr vor Gott, was bisher nach Religionen, Stnden und Geschlechtern geschieden war. Vor Gott sind alle Seelen gleich. In der Welt dagegen mag es Ungleichheit geben. Im Blick auf das Seelenheil ist sie irrelevant. Fast zwei Jahrtausende spter hat der Philosoph Hegel an dieses Wort des Paulus angeknpft. Im Blick auf seine eigene Zeit schreibt er: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist“ (Hegel 1955, § 209 A). Die christliche Verheißung von Freiheit und Gleichheit ist fr Hegel Wirklichkeit geworden. Franzçsische Revolution und brgerliche Gesellschaft haben die verheißene Freiheit und Gleichheit in die Welt gebracht. Sie verwirklichen, was die Religion verkndet hat, dass der Mensch als Mensch gilt, der Mensch als Mensch frei und gleich geworden ist. Hegels Brckenschlag ber fast zwei Jahrtausende hinweg erzhlt die Geschichte der Freiheit und Gleichheit aus dem Geist des Protestantismus. Die Geschichte der Subjektivitt wird zu einer protestantischen Erfolgsgeschichte. Ein gerader Weg fhrt von der Reformation zur Revolution. Die zunchst im Inneren gewonnene Freiheit wird ußerlich. Sie geht in die Welt, und dort verndert sie das Arbeitsethos und die Wirtschaftsweise, die Gesellschaft und den Staat. Hegel hatte den Ehrgeiz, die Versçhnung noch in den modernen Formen der „Entzweiung“ zu erkennen. Was wie der moderne „Atheismus der sittlichen Welt“ (Hegel 1955, Vorrede) dem Christentum schnurstracks entgegengesetzt zu sein scheint, bewies nur die Kraft des Geistes, sich in immer grçßeren Gegenstzen zu behaupten. Im Blick auf den modernen Staat und die brgerliche Gesellschaft musste dies heißen, dass sie nicht als Gegensatz zum Christentum verstanden werden mssen. Der moderne Staat ist nicht nur ein Kind der konfessionellen Brgerkriege und insofern das Produkt einer Notlage, die nur noch durch die Neutralisierung der Konfes-
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sionen zu bewltigen war. Der in der Moderne entstandene Freiraum fgt sich durchaus ein in die Freiheitsgeschichte des Christentums. Wo immer der Staat relativiert ist, das heißt, sich nicht als irdischer Garant des Heils aufspielt, ordnet er sich dem christlichen Verstndnis von Politik und Welt ein. Den großen Spielraum der dem Christentum mçglichen Politik sprengt er nicht. Anders zu beurteilen, ist freilich eine andere Folge der Skularisierung. Diese fhrt ganz und gar nicht zu einer Politikrelativierung. Vielmehr kann sich die Verweltlichung auch auf die Weise vollziehen, dass Ansprche, die in die Religion gehçren, verlagert werden in die Politik. Von dieser verhngnisvollen Form der Skularisierung erzhlen die Erfolgsgeschichten der Verweltlichung nichts. Aber wenn absolute Ansprche der Religion in die Politik verlagert werden, dann wird die christliche Politikrelativierung aufgehoben. Dann wird Politik mit Ansprchen belastet, die von ihr prinzipiell nicht zu erfllen sind. Beispiele dafr liefern die neuzeitlichen Geschichtsphilosophien von Lessing ber Kant und Hegel bis zu Marx. Sie bersteigern Geschichte zu einer skularistischen Heilsgeschichte. Ein anderes Beispiel bietet die Geschichte der neuzeitlichen Souvernitt. Es entsteht eine omnipotente unfehlbare Macht auf Erden, eine Nachffung des omnipotenten unfehlbaren Gottes, und es spielt dabei keine Rolle, ob dieser Souvern eine einzelne Person oder ein Volk ist (Ottmann 1990). Neben einer gelingenden Verweltlichung des Christentums steht in der Neuzeit eine Skularisierung, die aus dem Ruder gelaufen ist. Nur wo die christliche Kunst der Trennungen bewahrt wird, kann Verweltlichung gelingen. Nur dort kann Politik gemßigt, pragmatisch, eine Kunst der Regelung vorletzter Dinge sein.
Literatur Assmann, Jan: Moses der gypter. Entzifferung einer Gedchtnisspur. Mnchen/Wien 1998. – : Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altgypten, Israel und Europa. Mnchen 2000. Bnker, Michael: ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist! – Aber: Was ist des Kaisers? berlegungen zur Perikope von der Kaisersteuer. In: Kairos 31, 1989, 85–98. Crsemann, Frank: Der Widerstand gegen das Kçnigtum: Die antikçniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frhen israelitischen Staat. Neukirchen-Vluyn 1978.
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Cullmann, Oscar: Der Staat im Neuen Testament. Tbingen 21961. Gehlen, Arnold: Urmensch und Sptkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt a. M. 31975. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hg. v. Johannes Hofmeister. Hamburg 1955. – : Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivitt, in der Vollstndigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie. In: Hartmut Buchner/Otto Pçggeler (Hg.), Jenaer Kritische Schriften. Hamburg 1968, 313–414. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und brgerlichen Staates. Hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher. bers. v. Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1984. Lbbe, Hermann: Religion nach der Aufklrung. Graz 1986. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Herbst 1877. In: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Kritische Gesamtausgabe. Vierte Abteilung, zweiter Band. Berlin 1967, 577–581. Ottmann, Henning: Politische Theologie als Begriffsgeschichte. Oder: Wie man die politischen Begriffe der Neuzeit politisch-theologisch erklren kann. In: Volker Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Grnde politischen Handelns. Stuttgart 1990, 169–188. – : Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2: Das Mittelalter. Stuttgart/ Weimar 2004. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes. In: ders., Politische Schriften. Paderborn 1977, Bd. 1, 59–208. Schmitt, Carl: Rçmischer Katholizismus und politische Form. Stuttgart 1984 (nach der Ausgabe 1925). Schottroff, Luise: ‚Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehçrt, und Gott, was Gott gehçrt. Die theologische Antwort der urchristlichen Gemeinden auf die gesellschaftliche und politische Situation. In: Jrgen Moltmann (Hg.), Annahme und Widerstand. Mnchen 1984, 15–58.
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Nachdenken ber die Menschenwrde „Ich appelliere hierbei an das alte Vorurteil, daß im Wissen Wahrheit sei, daß man aber vom Wahren nur insofern wisse, als man nachdenke, nicht so, wie man gehe und stehe“ (Hegel).
1. Der Begriff der Menschenwrde – in reduzierter Form Das Denken des Menschen ist wesentlich „Nachdenken“. Wir denken immer sowohl hinter der Wirklichkeit als auch ihren Deutungen her. Wir kommen zu spt, um sie, die Welt des wirklichen Seins wie die Welt der Begriffe, erst hervorbringen zu kçnnen. Die Griechen haben das empfunden und gedacht, indem sie das menschliche Denken „Epinoia“ nannten, und Hegel hat eben dies nachempfunden, indem er vom „Nachdenken“ (z. B. gçttlicher Gedanken in der Logik) sprach. Nachdenker ist der Mensch auch, insofern er beim Denken die Sprache benutzt und die in ihr geprgten Begriffe. Die Begriffe einer Sprache reprsentieren das immer schon Gedachte, das Vorgedachte. Wir kçnnen mit ihm nicht umgehen wie mit anderen Instrumenten. Vielmehr haben wir zur vorgegebenen Sprache ein sittliches Verhltnis. Das bedeutet, dass die Sprache uns im Modus des sittlichen Seins vorgegeben ist. Wir sind ihr verpflichtet, auch ihren Inhalten. In jngster Zeit hufen sich die Versuche philosophischerseits, das unliebsame Erbe besonders metaphysischer Begriffe loszuwerden, bzw. sie mit neuem Inhalt zu fllen. Die Begriffe der Person und der Menschenwrde sind dafr das beste Beispiel. Im Falle des Personbegriffs, dessen hoffnungslose Verstricktheit in metaphysische Geschichten von den Kritikern wohl durchschaut ist, wird schlicht deswegen seine Abschaffung gefordert – als sei es Sache der Philosophie, die Purifizierung der Sprache durch Auslçschen der Begriffe durchzufhren. Der Begriff der Menschenwrde erlebt zur Zeit ein hnliches Schicksal. Er wird, wie die Begriffe der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit, als „Leerformel“ oder „Worthlse“ angesehen, die deswegen angeblich beliebig mit „hçchstpersçnlichen Wert-
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vorstellungen“ angefllt werden kçnnten (Birnbacher 2004, 249). Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Begriff der Menschenwrde ist so reich an Bedeutung und mit so vielen auch metaphysischen Implikationen ausgestattet, dass er Gefahr luft, nicht mehr verstanden zu werden. Deswegen muss man ihn erneut nachdenken, d. h. seine historischen Implikationen aufzudecken versuchen. Andererseits wird dem Begriff der Menschenwrde gerade aufgrund seiner – meist falsch verstandenen – metaphysischen Herkunft eine allgemeingltige Begrndbarkeit abgesprochen (Wetz 2004, 230 f.). Die Gottebenbildlichkeit oder andere metaphysische bzw. religiçse, also weltanschaulich gefrbte Begrndungen der Menschenwrde – wie man sich heute leichtfertig ausdrckt, als sei die Metaphysik eine Weltanschauung – seien heute einem pluralistischen Gemeinwesen oder gar einer multikulturellen Weltçffentlichkeit nicht mehr vermittelbar. Deswegen kann allein eine „anthropologisch fundierte Wrdeauffassung“ damit rechnen, grenzbergreifend anerkannt zu werden. Eine solche Auffassung begreift die Menschenwrde als eine negative Norm, als das Verbot der Demtigung und krnkenden Missachtung des Menschen, als „Gestaltungsauftrag“, der sich nicht so sehr am Gesunden, Erfolgreichen, Schçnen und Starken als vielmehr am Kranken, Gescheiterten, Hsslichen und Schwachen orientiert (Wetz 2004, 233). Diese Anthropologisierung des Wrdebegriffs ist die Grundlage zahlreicher, neuerlich erhobener Stellungnahmen (Werner 2004, 194). Indes, bedarf es wirklich eines Beweises, dass der Ausgangspunkt fr diese Stellungnahmen, die angeblich neue Sensibilitt fr das Kranke und Schwache, in jenem christlich-metaphysischen Denken verankert ist, das sie als weltanschauliche Einseitigkeit zu umgehen trachten? Und wenn diese Antimetaphysiker, die vor der Metaphysik wie vor einem Pestbehafteten fliehen, vielleicht nicht die große Tradition der Ecclesiastes-Kommentierung wahrgenommen haben, wo die Nichtigkeit der Welt besonders eindrucksvoll beschrieben wird, und vielleicht auch nicht jene mittelalterlichen Erkenntnislehren, in denen die Schwche der menschlichen Vernunft wie nirgendwo sonst dokumentiert ist, oder auch nicht die verschiedenen Variationen der Erbsndenlehre und Christologie von Augustinus bis Kant, die das Kranke und Leidende der menschlichen Natur bewusst gemacht haben, ganz abgesehen von den Sozialphilosophien des frhen Christentums – haben sie denn nicht wenigstens ihren Nietzsche gelesen? Ganz in die Nhe dieser anthropologisch fundierten Wrdeauffassung gehçren auch jene Vorschlge, die im Namen einer so genannten interessenzentrierten Konzeption der Moral die Wrde als die Anzeige grundlegender Be-
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drfnisse bzw. des einen Bedrfnisses nach Respekt verstehen (Baumann 2003). Schließlich mssen in diesem Zusammenhang die Konzeptionen eigens erwhnt werden, die von vorneherein die Menschenwrde ihres ursprnglichen absoluten Charakters entkleiden. Das sind solche, die die Menschenwrde an das Kriterium der Selbstachtung binden oder sie von einer bestimmten Fhigkeit oder einem Interesse abhngig machen wollen (Luhmann 1965). Andere bestimmen sie als ein „hçchstes Sollen“ (Hçffe 2002, 114) oder als einen moralischen Anspruch, aber ist sie nicht vielmehr die Grundlage allen Sollens, also das Wollenkçnnen? Wieder andere verstehen sie als ein Prinzip oder als ein bestimmtes Recht oder als ein Ensemble von Grundrechten, z. B. als das Grundrecht, nicht erniedrigt zu werden (Balzer/ Rippe/Schaber 1998, 28–30), und das, obwohl die traditionelle Wrdediskussion immer unterschieden hat zwischen dem, was die Wrde wirklich und ihrer ursprnglichen Bedeutung nach ist, nmlich ein ausgezeichneter Wert, und dem, was wir die Grundrechte nennen. Mit Recht hlt Jean-Yves Goffi den einheitlichen Sinn des traditionellen Wrdebegriffs fest: „Je d finirai donc ainsi la dignit selon les modernes: c’est une valeur attach e
tout Þtre humain, du simple fait qu’il est un Þtre rationel de libert , c’est -dire qu’il est capable d’exercer sa raison pratique“ (Goffi 2000, 252). Die genannten Anstze werfen in Wirklichkeit mehr Fragen auf als sie beantworten kçnnen. Nicht nur, weil in der Liste der angeblichen wrderelevanten Bedrfnisse notorisch das Bedrfnis auf Wahrheit fehlt, das – wider den schlimmen Satz aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx: „Das Bedrfnis nach Wahrheit ist kein wahres Bedrfnis“ – als das eigentliche Grundbedrfnis des Menschen anzusehen ist (Oeing-Hanhoff 1985). Vor allem aber kann so die Wrde des Menschen kaum mehr in ihrer grundlegenden Funktion fr jegliche Form des Selbstverhltnisses gedacht werden. Die Anthropologisierung des Wrdebegriffs ist, wie auch im Folgenden gezeigt werden soll, die unzulssige Reduzierung einer ursprnglichen Bedeutung. Sie hat ihn seines ursprnglich absoluten Charakters beraubt und damit auch der unbedingten Forderung der Achtung der Menschenwrde theoretisch den Boden entzogen. Was in der Tradition zusammenging, das konstruiert die anthropologische Deutung der Menschenwrde zum Gegensatz. Denn in der Tradition gingen immer die metaphysische und die anthropologische Fundierung der Menschenwrde Hand in Hand. Giovanni Pico della Mirandola und Pascal – das war nie ein Widerspruch. Die Menschenwrde selbst aber ist – gemß diesen neuen Vorstçßen, die nicht auf das Fach der Philosophie beschrnkt sind – zu einem Gut unter Gtern geworden, zu einem Bedingten, d. h. bedingt Ge-
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wollten, zu einem Relativen. Wollen wir das wirklich durch den Begriff der Menschenwrde ausdrcken? Oder wollen wir durch ihn nicht gerade etwas Unvergleichliches, etwas Unbedingtes, etwas Absolutes zur Geltung bringen? Die anthropologische Wrdedeutung ist in Wirklichkeit der Totengrber des Wrdebegriffs. Weiß sie aber eigentlich, wer da zu Grabe getragen wird? Wir mssen erneut ber den Begriff der Menschenwrde nachdenken, auch ber sein verpflichtendes historisches Erbe.
2. Das Verlierbare und das Unverlierbare der Menschenwrde Wenn wir die Reduktionen des Menschenwrdebegriffs durch die Philosophie und andere Fcher zunchst beiseite legen und uns an die offiziellen oder gar promulgierten Texte wie Art. 1, Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes halten, werden wir unvermittelt mit einem Widerspruch konfrontiert, den zu lçsen eine philosophische Aufgabe ist. Denn dieser Artikel sagt einerseits aus, dass die Wrde des Menschen „unantastbar“ sei und andererseits, dass es die Aufgabe aller staatlichen Gewalt sei, diese Wrde zu schtzen und zu achten. Pollmann hat den Widerspruch klar und przis auf den Punkt gebracht: „Wieso muss geschtzt werden, was doch im Prinzip unverlierbar ist?“ Und selbst wenn dieser erste Artikel so zu verstehen wre, wie die Verfassungsrechtler vorschlagen, dass die Wrde unter gar keinen Umstnden angetastet werden drfe, bleibt der Widerspruch, dass von einem Absoluten und einem Relativen oder von einem ausnahmslos Gleichen und einem Graduellen im gleichen Atemzug die Rede ist (Pollmann 2005, 611). Tatschlich sind die beiden Elemente des Wrdebegriffs im deutschen Grundgesetz zu unterscheiden. Sie werden von den meisten Forschern auch auseinander gehalten. Selbst so verschieden argumentierende Philosophen wie Hçffe oder Wetz oder Birnbacher oder auch Habermas sind sich darin einig, dass der Begriff der Wrde zwei Momente in sich birgt. Nach Hçffe kann der „unstrittige Grundgehalt“ der Menschenwrde nur vor dem Hintergrund der zwei Bedeutungen des Wrdebegriffs, nmlich des „komparativen“ und „absoluten“, als solcher bewusst werden (Hçffe 2001, 66 f.). Fr Wetz ist die Menschenwrde einerseits ein „abstraktes Wesensmerkmal“, durch das der Einzelne als Mensch schon einen unbedingten Wert besitzt, andererseits ein Wert, „den die Menschen einander zusprechen“ und durch die „Achtung“ konstituieren, ein „Gestaltungsauftrag“ (Wetz 2004, 228 f.). Birnbacher unterscheidet entsprechend zwischen einer
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Menschenwrde im starken Sinne, die prinzipiell „unabwgbar“ ist, und der Menschenwrde im schwachen Sinne, die bloß abwgbare Rechte und Pflichten zur Folge hat und von beiden noch einmal die so genannte Gattungswrde, die, obwohl aus finsterster Metaphysikzeit stammend, in der modernen Diskussion immer wichtiger wird (Birnbacher 2004). Habermas schließlich bernimmt diese Sicht der Dinge, indem er die „Wrde des menschlichen Lebens“ als ein Abwgbares und so prinzipiell Verfgbares von der grundrechtlich geschtzten „unantastbaren“ personalen Menschenwrde unterscheidet (Habermas 2001, 67 ff.). Mit dieser Unterscheidung zwischen dem Unverlierbaren, Unabwgbaren, Unverfgbaren und Absoluten der Menschenwrde einerseits und ihrem komparativen, verfgbaren und verlierbaren Element andererseits geht eine Differenz in der Interpretation des Wrdebegriffs einher, die von fundamentaler Wichtigkeit ist. Wird die Wrde des Menschen nmlich als ein Absolutes angesehen, so kann sie auch nur in einem minimalistischen Sinne verstanden werden, insofern sie ein Minimum an materialen Grundgtern beinhaltet. Die Bedeutung des Begriffs der Menschenwrde ist aus dieser Sicht auf jenes Minimum beschrnkt, wodurch der Mensch als Mensch konstituiert ist. Was ist dieses Minimum, das wir durch den Begriff der Wrde ausdrcken wollen? Die Formel „Mensch als Mensch“, die erst in christlicher Zeit nachweisbar ist, gibt einen Hinweis. Sie ist ja nicht im Sinne der besonders von Maihofer in seiner Rechtsontologie thematisierten „Als-Seinsweisen“, d. h. nicht als eine bestimmte Rolle zu verstehen, die der Mensch spielte. Vielmehr deutet diese Formel der Aufklrungsphilosophie an, dass der Mensch, insofern er ein Wesen der Freiheit und kein Naturding ist, als Bedingung der Mçglichkeit aller Rollen, die der Mensch spielen kann, zu denken ist. Deutlich geht das aus jener Philosophie hervor, die den Begriff des Menschen als Menschen zum ersten Mal ins Zentrum des Denkens rckte. Christian Wolff hat eine neue Disziplin kreiert, in der die Prinzipien des Naturrechts behandelt werden: die „Philosophia Practica Universalis“, die ganz eng mit dem Naturrecht von 1740 und den Institutiones juris naturae et gentium von 1750 verbunden ist. Der eigentliche Gegenstand dieser Abhandlungen ist der „homo moralis“. Der „homo moralis“ ist der eigentliche Mensch, der Mensch als Mensch. Es ist eine der großen Errungenschaften des Naturrechts, diese Abstraktion, oder wie Wolff selbst sagt, diese ntzliche Fiktion des moralischen Menschen, d. h. des Menschen als Menschen oder des Menschen als eines Freiheitswesens geleistet zu haben und die Bestimmungen zu benennen, die ihm als solchem zukommen (Wolff, Ius naturae § 70). Das dem Menschen als Menschen zukommende Recht
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muss ein angeborenes, universales Recht sein, denn es ist nicht abhngig von irgendeinem hinzu erworbenen Status oder vom Alter oder von Umstnden anderer Art, sondern „was dir ein angeborenes Recht ist, dasselbe ist es auch fr mich“ (I, § 31). Was Wolff eigentlich sagen will, ist, dass „im moralischen Sinne“, d. h. im Hinblick auf die ursprnglich jedem Menschen gegebene Freiheit, „die Menschen gleich sind, deren Pflichten und Rechte dieselben sind“. Die eigentliche Natur des Menschen ist also seine Freiheit. Deswegen kann Wolff auch sagen, dass „die Menschen als Menschen von Natur aus gleich sind“ (Wolff, Institutiones § 70). Gleichheit und Freiheit sind gleichursprngliche Bestimmungen des Menschen als Menschen. Deswegen entspricht es auch ganz dem Geist dieser Philosophie, wenn neuerdings die Menschenwrde als das Recht des Menschen verstanden wird, Rechte haben zu kçnnen (vgl. Enders 1997, 117). Man msste im Sinne der Aufklrungsphilosophie bzw. des Naturrechtsgedankens hinzufgen: und Pflichten. Rechte und Pflichten haben kann nur der Mensch. Alle bestimmten Rechte, auch das Recht auf Leben, sind diesem absoluten Grundrecht untergeordnet. Doch schon das Recht auf Leben ist ein spezifisches Menschenrecht. Bereits Hegel verweist zur Begrndung fr das Recht auf Leben auf das besondere Verhltnis, das der Mensch zu seinem Leib hat: „Ich habe diese Glieder, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht selbst verstmmeln oder umbringen, aber der Mensch“. Deswegen kann der Mensch ein Recht auf Leben haben, die Tiere haben kein Recht auf ihren Kçrper, auch nicht auf ihr Leben, „weil sie es nicht wollen“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 47). Nur der Mensch kann Rechte haben, weil er frei ist, nicht aber das Tier. Also kann auch das Tier keine Wrde besitzen, jedenfalls dann nicht, wenn die Wrde als ein Moment unserer Freiheit verstanden wird. Genauer gesagt ist sie das erste Moment aller Freiheit, das, was Hegel abstrakte oder formelle Freiheit nennt, die jeglicher konkreten Form der Freiheit und damit allen Inhalten momenthaft zugrundeliegt. In diesem Sinne hatte schon vor fast drei Jahrzehnten der Moraltheologe Bruno Schller (1978) die These vertreten, dass die Wrde der Person ein transzendentales Prinzip der Sittlichkeit sei, das weder durch bestimmte Handlungsweisen, noch durch bestimmte empirische Mngel verletzt werde. Gegen diese Position hat Robert Spaemann geltend gemacht, dass das „apriorische Prinzip der Sittlichkeit seine Wirklichkeit nur hat in der empirischen Existenz konkreter Menschen“. Deswegen seien auch bestimmte Handlungsweisen, wie die Tçtung unschuldiger Menschen, die sexuelle Exhibition in Peep-Shows und die Retortenproduktion immer mit der Menschenwrde unvereinbar. Wer so handelt, entußere sich seiner Wrde. Die
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Menschenwrde ist nach dieser Sicht nur in dem Sinne unantastbar oder „unverlierbar“, „daß sie von außen nicht geraubt werden kann“, whrend sie „durch den, der sie besitzt“, vernichtet werden kann. „Nicht Maximilian Kolbe und nicht Kaplan Popieluszko haben ihre Wrde verloren, sondern deren Mçrder“ (Spaemann 1987). So richtig es nun ist, dass die beiden durch ihren Heroismus sicher nicht ihre Wrde eingebßt, sondern sie durch ihn eher sichtbar gemacht haben – was aber kçnnte es bedeuten, dass ihre Mçrder durch die Mordhandlung ihre Menschenwrde verloren haben sollen? Soll es etwa bedeuten, dass diese Mçrder, weil sie ja ihre Menschenwrde verloren haben, einer wilden Lynchjustiz berlassen werden drften anstatt, wie es allen Menschen zusteht, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden? Das kann nicht die Meinung von Spaemann sein. Im Hintergrund scheint die auch fr eine ganze Tradition reprsentative These des Thomas von Aquin zu stehen, nach der sich der Mensch durch die Snde mehr und mehr von der Wrde seiner Natur entfernt (Quodl. V 1, 2). Doch diese These macht allererst offenbar, dass es der neuplatonische Wrde-Begriff ist, von dem hier die Rede ist. Im neuplatonischen Sinne kann ein Mehr und Weniger der Wrde, ihr Abnehmen und ihr vçlliger Schwund und in diesem Sinne auch ihr Verlust gedacht werden. Im Sinne Kants kann es aber keine Stufung der Wrde geben. Sie ist der in der Freiheit begrndete Wert der Person und nur der Person. Kann die Person sie also verlieren? In dieser Frage kann man vernnftigerweise nur der Meinung einer sehr langen Tradition sein, die immer davon ausging, dass es ein schlechthin unverlierbares Element unserer Freiheit gibt, das nicht einmal durch die Schandtaten des Subjekts selbst in seiner Existenz gefhrdet ist. Der Mensch kann – mit Kant gesprochen – die Wrde der Menschheit in seiner eigenen Person „verletzen“, er kann sie „verleugnen“, aber nicht verlieren. Deswegen spricht Kant auch ausdrcklich von der „unverlierbaren Wrde“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre § 11).1 Die minimalistische Interpretation der Menschenwrde meint zuletzt dieses Unverlierbare, Unabwgbare, Unverfgbare, Absolute und Unbedingte als das selbst abstrakte Moment konkreter Freiheit. Es ist jene ursprngliche Abstndigkeit zu sich, die konkrete Selbstdarstellungen, Selbstverzichtleistungen und Selbstrelativierungen des Subjekts erst ermçglicht. Auf diesem Grundgedanken beruhen die Entwrfe ber die individuelle Menschenwrde von Seelmann (2003). Diesem minimalistischen Wrdeverstndnis steht jene klassische Interpretation der unantastbaren Menschenwrde gegenber, dergemß sie eine materiale Grundnorm darstellt, aus der sich die Verfassungsprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Sozial-
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staatlichkeit und der Demokratie als einer Fundamentalprmisse herleiten lassen, so dass der Sinn des modernen, auf dieser Grundnorm fußenden Staates darin besteht, jene Erhaltungs- und Entfaltungsbedingungen des Menschlichen zu schaffen, „welche nach unserem heutigen Verstndnis fr ein menschenwrdiges Dasein des Menschen frei von Verknechtung und Ausbeutung, frei von Furcht und Not, unverzichtbar sind“ (Maihofer 1968, 35). Dieses materiale Verstndnis der Menschenwrde bewegt sich offenkundig im Reich des Mehr oder Weniger, des Relativen, Abwgbaren, Verfgbaren und Verlierbaren. Es geht aber darum, beides, das Verlierbare wie das Unverlierbare, als Wesensmomente endlicher Freiheit zu erkennen. Vorgedacht wurde diese Unterscheidung zwischen dem Verlierbaren und Unverlierbaren unserer Freiheit in der christlichen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Eine große Tradition, die von Irenus, Clemens von Alexandrien oder Origenes bis ins hohe Mittelalter reicht, hat zwischen dem „Bild“ und „Gleichnis“ als zwei Momenten des inneren Menschen unterschieden (vgl. Crouzel 1956, 67–69, 218–245; Frensch 2000, 213 ff.; Meyer-Drawe 2002). Bild Gottes ist der Mensch danach als das durch die erste Schçpfung Geschaffene, Gleichnis Gottes aber durch die selbstttige Vollendung des Menschen (vgl. Clemens, Stromata II 22, 131, 6). Wie so oft hat auch in diesem Falle Origenes den schul- und traditionsbildenden Grundgedanken formuliert: Was die Philosophen, d. h. vor allem Platon, die Verhnlichung mit Gott nannten, das hatte doch schon Moses im Buch Genesis im Blick, als er ber die erste Erschaffung des Menschen berichtete mit den Worten: „Und Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und nach unserer hnlichkeit“. Wenn Moses dann aber im nchsten Vers sagt: „Nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie“, hat er nicht etwa in schludriger Weise die hnlichkeit vergessen, sondern durch das Verschweigen der „hnlichkeit“ darauf hinweisen wollen, dass der Mensch zwar die „Wrde des Bildes“ (imaginis dignitas) bei der ersten Schçpfung empfangen hat, dass aber die Vollendung der „hnlichkeit“ in seine eigenen Hnde gelegt ist (Origenes, De principiis III 6, 1, p. 280, 10). Fr die Kirchenvter, besonders fr die griechischen, war es ganz evident, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen in seiner Freiheit besteht. Deswegen bezeichnen die biblischen Begriffe des „Bildes“ und des „Gleichnisses“ Momente der Freiheit. Das Bild meint die Freiheitsausstattung, das Gleichnis die Freiheitsverwirklichung. Wir kçnnten sagen: Bild Gottes ist der Mensch dadurch schon, dass er als unsterblicher, freier Geist, der Kinder zeugen und Huser bauen kann, erschaffen wurde. Gleichnis Gottes aber wird er durch seinen aktuellen Willen, d. h. durch seine Freiheit, die
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ihn Gott hnlich oder dem Tier hnlich macht. Die Gleichnishaftigkeit kann somit verlorengehen, die Bildhaftigkeit nicht (Gregor Nyss., De creatione hominis 28, 13). Die menschliche Freiheit hat etwas Verlierbares, insofern der menschliche Wille fehlbar und schwach ist und einen Hang zur Snde hat. Sie hat aber auch etwas Unverlierbares, insofern sie ein absolutes Beisichsein darstellt, das aller menschlichen Verfgbarkeit entzogen, der Dingwelt enthoben und Grund der individuellen Besonderheit ist. Da die Freiheit aber der Grund der Wrde des Menschen ist, enthlt auch sie diese beiden sie konstituierenden Momente: das Unverlierbare und das Verlierbare. Wenn wir von der Unantastbarkeit der Wrde sprechen, meinen wir dieses unverlierbare, absolute, unbedingte, unverfgbare, unvergleichbare und unschtzbare Element unserer Freiheit. Wenn wir aber sagen, dass die Wrde des Menschen zu schtzen ist, dann meinen wir jenes anfllige, menschlicher Willkr und Verfgungsgewalt ausgesetzte, situationsabhngige, umstandsbedingte und in materiellen Gtern manifestierbare Element unserer Freiheit.
3. Menschenwrde und Metaphysik Doch der mit der Idee der Menschenwrde verbundenen bzw. in ihrem Begriff enthaltenen historischen Implikationen sind noch mehr, als sich heutige Verfassungsrechtler und Philosophen trumen lassen. Sie liegen im Begriff der Menschenwrde bzw. der Wrde berhaupt verborgen und sind metaphysischen Inhalts. Wie sollte man auch sonst die Anwesenheit des Absoluten in den Verfassungen unserer Tage erklren, wenn nicht durch die Bezugnahme auf eine metaphysische Tradition? Denkt man dem historischen Gebrauch dieses Begriffs der Wrde als eines absoluten Wertes genauer nach, wird man mindestens zwei Traditionen unterscheiden mssen, die miteinander zu vermischen die Konfusion der Begriffsbedeutung noch erhçht. Da ist einmal die neuplatonisch-christliche Tradition des Wrde-Begriffs. In diesem Sinne betet die Kirche seit frhester Zeit: „Gott, der du die Wrde der menschlichen Natur wunderbar gegrndet und noch wunderbarer erneuert hast“ (Leo I., Sacramenta Romanae Ecclesiae, PL 55, 146 B). Das bekannteste Zeugnis fr diesen neuplatonischen Begriff der Wrde des Menschen ist die 1486 entstandene Oratio de hominis dignitate des Giovanni Pico della Mirandola, die in ihren entscheidenden Aussagen auf dem Denken der Kirchenvter beruht (vgl. Kobusch 2006). Die Wrde ist nach dieser Vorstellung eine allgemeine Qualitt alles Seienden, die je-
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doch in gestufter Form der toten Materie, dem Lebendigen und schließlich dem Vernnftigen zukommt. Von der neuplatonischen Tradition ist eine andere zu unterscheiden, nach der allein der Mensch (und andere vernunftbegabte Wesen) Wrde besitzt. In der Philosophie Kants hat diese These ihre stichhaltigste Begrndung und dadurch jene allgemeine Geltung erlangt, durch die sie auch als der intellektuelle Hintergrund des deutschen Grundgesetzes identifizierbar ist (Enders 1997, 20). Vermischt man diese Traditionen oder hlt man – im Sinne einer philosophia perennis – das Eine fr die Fortsetzung des anderen, so kann der Widerspruch auftreten, dass einerseits der Menschenwrde als einem den Menschen vor der außermenschlichen Natur auszeichnenden Rang das Wort geredet wird, andererseits jedoch auch dem Tier als einem „Mitgeschçpf“ – und wenn ihm, dann auch der Pflanze – Wrde zugesprochen wird (Ottmann 1999). Wodurch der Begriff der Menschenwrde am meisten Bestimmtheit erlangt, ist – nach Kant – der Gegensatz zum Begriff des Preises. Wrde und Preis aber sind verschiedene Formen des „Wertes“. Bisweilen setzt Kant den lateinischen Oberbegriff valor mit hinzu, um anzudeuten, in welcher Tradition er sich weiß (Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre § 11). Es ist die Tradition des Naturrechts, die sptestens seit Samuel Pufendorf (De existimatione § 2) den Wert der Sachen, den Preis, geflissentlich von dem Wert der Person im allgemeinen Leben (existimatio), d. h. ihrem guten Ruf, ihrem Renomm e, ihrer Reputation, die Georg Friedrich Meier (Recht der Natur § 139) dann auch die „Achtung“ nennt, unterschieden hat. Was jedoch fr das Verstndnis des Wrdebegriffs in diesem Zusammenhang das Wichtigste ist und von den Kant-Interpreten bis hin zu den gelehrten Kommentaren notorisch bersehen wird, betrifft den ontologischen Charakter des Wertes und damit sowohl der Wrde als auch des Preises. Der Wert ist nmlich ein Gewolltes. Im Reich des Gewollten, d. h. der Zwecke, hat nach Kant alles einen Wert, entweder wie die „Sachen“ einen endlichen, den Kant den „Preis“ nennt, oder einen absoluten Wert, d. i. „Wrde“, die der Person als solcher zukommt. Beide Arten des Wertes sind im Menschen selbst zu entdecken. Der Mensch als „homo phaenomenon“ hat kaum mehr Bedeutung als ein Tier und insofern nur einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Allerdings erhçht seine Verstandesbegabtheit seinen Gebrauchswert, seinen „Preis“, insofern er als Ware angesehen wird, die ge- und verkauft werden kann, ohne jedoch jenen ausgezeichneten Wert (pretium eminens) je erreichen zu kçnnen, den das Geld als allgemeines Tauschmittel besitzt. Ganz anders steht es mit dem Menschen als „homo noumenon“ betrachtet, d. h. als Person. Die Person ist fr Kant,
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der damit einer großen mittelalterlichen Tradition folgt, ein moralischer Begriff, d. h. kein Begriff, der ein Naturding bezeichnet. Der Mensch als moralisches Wesen sieht denn auch die Naturdinge weder als Ursachen oder Triebfedern noch als Gegenstnde des Wollens an, „vielmehr tritt an deren Stelle nur die moralische Person der Menschheit“ (Der Streit der Fakultten; Bd. 7, 72). Was den Menschen als Menschen ausmacht, ist daher auch nicht sein Verstand – der verschafft ihm vielmehr nur einen hçheren Verkaufswert –, sondern die Moralitt und die ihr zugrunde liegende Freiheit.2 Das Wesen aber, das in diesem Sinne frei ist, so dass es sollen, d. h. das Gebot des moralischen Gesetzes wahrnehmen und nach diesem Gesetz auch fr zurechnungsfhig gehalten werden kann, ist die Person. Indem Kant die Person als Wesen der Freiheit versteht, bernimmt er die Grundthese einer jahrhundertelangen, gleichwohl heute nahezu vergessenen metaphysischen Tradition, die die Welt der Freiheit und in ihrer Mitte die Person von der Welt des Naturhaften unterschieden hatte (vgl. Kobusch 1997). Als ein Schlsselsatz dieser Metaphysik der Freiheit kann angesehen werden, was bei Pufendorf steht, aber auch in der mittelalterlichen Philosophie belegbar ist: „libertas inaestimabilis res est“. D. h. die Freiheit entzieht sich jeder quantifizierenden Wertschtzung, die Person infolgedessen auch (Kobusch 1997, 31). Das Merkwrdigste in diesem Zusammenhang ist aber, dass ein Hinweis Kants auf diese Tradition von der bisherigen Kantforschung kaum wahrgenommen wurde. In der Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die in besonders reichem Maße die Rezeption traditioneller Begrifflichkeit des Naturrechts und bestimmter metaphysischer Traditionen verrt – deren Aufarbeitung eigentlich die Sache solcher Arbeiten ist, die sich als „Kommentar“ verstehen –, sieht sich Kant an markanter Stelle gezwungen, „einen Schritt hinaus zu tun, nmlich zur Metaphysik“, genauer gesagt zur Metaphysik der Sitten. Dies geschieht, um die notwendige Verknpfung zwischen dem Begriff des Willens eines vernnftigen Wesens berhaupt (also einschließlich des gçttlichen Willens) und dem kategorischen Imperativ als einem objektiv praktischen Gesetz einsichtig zu machen. Das entscheidende Verbindungsglied stammt aus der traditionellen Metaphysik der Sitten, die bei Pufendorf „Ethica universalis“, bei Christian Wolff „Philosophia practica universalis“, in der Wolff-Schule auch „Metaphysica moralis“ genannt wurde. Was Kant in Bezug auf die Metaphysik der Sitten vorgegeben war, war somit nicht bloß – in der Gestalt der „Metaphysica moralis“ des Israel Canz – ein „erratischer Einfall“, wie Brandt (1990, 74) gesagt hat, sondern eine Tradition der Metaphysik, die als Disziplin unter verschiedenen Namen noch nicht sehr lange existierte, deren Wurzeln aber bis ins Mittelalter zurckreichten.
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Ihr Gegenstand ist der Mensch als Mensch oder der Mensch als Person. Auf diese Grundidee der traditionellen Metaphysik der Sitten, d. i. die Idee der Person greift Kant an entscheidender Stelle zurck, nmlich da, wo er den Grund des praktischen Gesetzes aufzeigen will. Er sagt selbst: „Gesetzt aber, es gbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein kçnnte, so wrde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines mçglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“. Dann folgen die berhmten viel zitierten Bestimmungen des absoluten Wertes der Person und des relativen Wertes der Sachen. So wichtig die inhaltliche Bestimmung des Personbegriffs ist, so wichtig ist doch auch die Funktion dieses Versatzstckes aus der traditionellen Metaphysik der Sitten. Die Lehre vom absoluten Wert der Person, die jedem vernnftigen Willen, auch dem gçttlichen, wenn nicht Achtung (als der fr endliche Vernunftwesen angemessenen Form der Schtzung), dann eine andere Form der Wertschtzung hervorruft,3 liegt der Vorstellung von einem mçglichen kategorischen Imperativ zugrunde. Das oberste praktische Prinzip beruht auf dem metaphysischen Grundsatz von der Person als einem mit Wrde ausgestatteten Wesen, oder wie Kant selbst das ausdrckt: „wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufllig wre, so kçnnte fr die Vernunft berall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden“ (Kant, Bd. 4, 428). Deswegen ist auch die Formulierung des praktischen Prinzips, die sich aufgrund der Idee des Menschen als eines Zweckes an sich ergibt, gar nicht mehr bloß formal, sondern mit dem Zentralbegriff der traditionellen Metaphysik des Moralischen, nmlich dem der Person angefllt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (429). Die Kant-Forschung scheint die Brisanz und Problematik dieser Bezugnahme auf, bzw. den „Schritt“ hinaus in die Metaphysik der Sitten gar nicht recht deutlich erkannt zu haben. Die vorliegenden Kommentare lassen den Leser vçllig im Stich.4 Einzig Brandt und Horn haben sich mit dieser merkwrdigen Bezugnahme Kants auf die Metaphysik der Sitten eingehend auseinandergesetzt. Wie Horn in seiner intensiven Studie ber die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs zu zeigen sucht, ist der in der Autonomie des Menschen begrndete absolute Wert der Person nur fr ein menschliches Bewusstsein, d. h. er erscheint als „unberbietbar hochwertiges Ziel“ nur aus menschlicher Perspektive. Damit aber verliert sie konsequenterweise den Charakter eines „metaphysisch-objektiven Gutes“ (Horn 2004, 211 f.). Doch worin besteht dann der Schritt hinaus in die Metaphysik der Sitten? Kant hat zudem ausdrcklich darauf hingewiesen,
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dass der absolute Wert der Person auch fr das hçchste Wesen der Beurteilungsmaßstab ist. Nach Brandts (1990) Interpretation bezeichnet der von Kant angezeigte „Schritt“ (Kant, Bd. 4, 426) den bergang von der philosophia practica universalis zur Metaphysik der Sitten. Und zwar bestehe dieser Schritt allein darin, dass der Begriff eines Willens von vernnftigen Wesen berhaupt gewonnen wird. Doch das kann nicht sein. Denn die populre sittliche Weltweisheit, von der zur Metaphysik der Sitten bergegangen wird, ist nicht identisch mit der philosophia practica universalis. Und der entscheidende Begriff, der durch den bergang gewonnen wird, ist nicht der des vernnftigen Willens berhaupt, sondern der des Zwecks an sich, bzw. der Person. Der Begriff der Person ist aber ganz ohne Zweifel ein metaphysischer Begriff fr Kant. Nicht von ungefhr gehçrt auch er zu den der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Teilen vorangestellten, aber ihnen gemeinsamen Begriffen. Dort steht zudem unter IV der „Einleitung“ hinter dem Titel der Metaphysik der Sitten in Klammern: „philosophia practica universalis“. Das zeigt mit aller Deutlichkeit, dass Kant seine eigene Metaphysik der Sitten als die kritische Fortsetzung dieser Tradition, die er durch seinen Lehrer Martin Knutzen schon frh hatte kennenlernen kçnnen, verstanden hat (Kobusch 1997, 99). Dem widerspricht weder die in der Vorrede zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten geußerte methodologische Kritik an der „allgemeinen praktischen Weltweisheit“ noch der ihr von Kant – wie Brandt (1988, 180 ff.) das wahrscheinlich gemacht hat – quasi in den Mund gelegte vitiçse Zirkel im letzten Abschnitt der Schrift. Doch nicht nur die Idee von der Person und der ihr zukommenden Wrde stammt aus der traditionellen Metaphysik der Sitten. Auch die Vorstellung von einem „Reich der Zwecke“ (Kant, Bd. 4, 433), d. i. einem Reich der Personen, das Kant auch das Reich der Freiheit oder das Reich der Sitten oder das Reich der Gnade nennen kann, stammt offenkundig aus der Tradition der Metaphysik der Sitten.5 Gottfried Wilhelm Leibniz, der den Einfluss dieser Metaphysik des Moralischen erfahren hat, hat schon im Discours de Mtaphysique und in den Briefen an Arnauld die Idee einer moralischen Welt, d. h. einer Welt von Personen oder Ichs entwickelt, die er in seinen spten Schriften Principes de la Nature et de la Grace und in der so genannten Monadologie unter dem Titel einer „moralischen Welt“ innerhalb der „natrlichen Welt“ bzw. des Reichs der Gnade oder Freiheit wiederaufgenommen hat. Kant hat das Reich der Gnade mit dem Reich der Zwecke direkt gleichgestellt.6 Im Reich der Freiheit sind nach Kant alle vernnftigen Wesen vereint. Die endlichen Personen, die als autonome Wesen sich selbst das moralische Gesetz geben, zugleich aber doch auch dem Gesetz unterworfen
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sind, heißen Glieder des Reichs der Zwecke. Dasjenige Wesen jedoch, das nicht dem Willen eines anderen unterworfen ist, wird hier, im Reich der Freiheit, das „Oberhaupt“ genannt. Leibniz hat auch diese Vorstellung vorbereitet: Nach seiner Lehre ist Gott fr die materiellen Substanzen dasjenige, was die aristotelische Tradition immer lehrte, nmlich die gemeinsame Ursache aller Wesen. Im Verhltnis zu den Geistern aber, d. h. auch im Verhltnis zu den Personen erscheint Gott im Reich der Gnade als das „Oberhaupt“. Was der unbewegte Beweger im Reich der Natur ist, das ist das Oberhaupt im Reich der Personen (vgl. Schneider 1967; Kobusch 1998; Timmermann 2004, 132). In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch nicht ganz unangebracht darauf hinzuweisen, dass es Leibniz war, der Kenntnis hatte von der gerade entstandenen „Ontologie“ oder „Metaphysik des Rechts“, so dass Kant auch mit dem fr die Rechtslehre in Erwgung gezogenen Titel einer „Metaphysik des Rechts“ (Metaphysik der Sitten, Vorrede) schon auf dieses neue Genre Bezug nimmt (Kobusch 1997, 240 f.). Aus all dem ergibt sich aber – was durch eine genauere Prfung der Grundlegung und der Metaphysik der Sitten noch erhrtet werden kçnnte –, dass die Kantische Metaphysik der Sitten und die in ihrem Zentrum stehenden Begriffe der Person und der Menschenwrde angemessen nur vor dem Hintergrund der Tradition der Metaphysik des Moralischen verstanden werden kçnnen. Als Person versteht Kant das Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft. Eben als solches ist der Mensch ber allen Preis erhaben und niemals bloß ein Mittel zum Zweck. Vielmehr ist er selbst der Zweck allen Wollens, d. h. ein Zweck an sich. Deswegen hat der Mensch als Person gar keinen endlichen Wert, sondern ist als ein Zweck an sich zu schtzen. Eben dies, den inneren Wert des Menschen, sofern er als Person angesehen wird, nennt Kant die „Wrde“, „wodurch er allen andern vernnftigen Weltwesen Achtung fr ihn abnçthigt“ (Bd. 6, 435). Indem Kant den Preis als den endlichen, relativen, quantitativ abschtzbaren und austauschbaren Wert einer Sache und die Wrde als den unendlichen, absoluten, inkommensurablen und unersetzbaren Wert der Person gegenberstellt, hat er zwei Lehrstcke aus der oben erwhnten Tradition der Ontologie des Moralischen, die auch weite Teile des Naturrechts beeinflusst und bestimmt hat, kunst- und wirkungsvoll zur Geltung gebracht. Da die begriffliche Unterscheidung zwischen Preis und Wrde erstmals bei Seneca belegbar ist, wird in der Kantforschung ein direkter Einfluss auf Kant angenommen (vgl. Forschner 1998, 37). Doch scheint das wenig wahrscheinlich zu sein. Vielmehr verraten die zitierten einzelnen Differenzierungen des Begriffs des Wertes (pretium vulgare, pretium usus, pretium eminens), denen an anderer Stelle noch die Unterscheidung zwischen dem
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Marktpreis und dem Affektionspreis hinzugefgt ist,7 dass Kant hier eine durchaus im Zusammenhang der Metaphysik des Moralischen entwickelte, im Naturrecht breit aufgenommene, auch bei Nettelbladt, Achenwall und G. F. Meier nachweisbare Preislehre aufgenommen hat (Kobusch 1997, 81 ff.). Ferner ist die enge Verbindung zwischen dem Begriff der Person und dem der Wrde bei den Stoikern nicht belegbar. Es gibt aber eine in der mittelalterlichen Christologie grundgelegte Lehre, nach der die menschliche Person ein moralisches Wesen ist (und somit nicht nur Naturwesen), dem als solchem die „Wrde“ im Sinne einer hervorragenden Eigenschaft zukommt oder besser: dessen Wrde in einer besonderen Wertschtzung zu erkennen ist (Kobusch 1997, 23–30). Kants Wrdebegriff steht insofern nicht am Anfang einer neuzeitlichen Geschichte, sondern stellt den Hçhepunkt einer im Mittelalter beginnenden Lehre vom moralischen Sein dar, die selbst bis in unsere Tage wirkt (anders: Jaber 2003, 126).
4. Menschenwrde und Achtung Die Formulierungsverbesserung im vorletzten Satz deutet auf eine sachliche Problematik hin, die beim Nachdenken ber die Menschenwrde notwendigerweise in den Blick kommt. Wenn der Mensch als Person, d. h. der Mensch als Mensch mit Kant einen absoluten Wert hat, fragt es sich, worin dieser absolute Wert begrndet liegt. Die Antwort Kants ist allberall bekannt: Es ist die Freiheit selbst, genauer die Art der Gesetzgebung, nmlich die Autonomie, die unbedingten und unvergleichbaren Wert besitzt. Der absolute Wert der Person, der in ihrer Autonomie begrndet ist, kann aber nur im Modus der Achtung erfasst werden. Die Achtung als die dem absoluten Wert der Person angemessene Wertschtzung besteht aber – konkret und negativ – darin, dass eine Person niemals zum bloßen Objekt gemacht werden darf. Der Begriff der Achtung impliziert somit ein „Totalinstrumentalisierungsverbot“ (Braun 2004, 87 ff.). Kein Geringerer als Arthur Schopenhauer hat den Kantischen Begriff der Menschenwrde einer Fundamentalkritik unterzogen. Der Begriff der Wrde im Sinne eines in der Freiheit begrndeten „unbedingten, unvergleichlichen Wertes“ scheint nmlich, wie auch der des „absoluten Gutes“, selbstwidersprchlich zu sein, weswegen er einer hohlen Hyperbel gleicht, in deren Innerem als nagender Wurm die contradictio in adiecto nistet, denn ein Wert ist immer ein Vergleichbares und somit also ein Relatives (vgl. Kobusch 1997, 187). Doch diese Kritik ist ganz unberechtigt. Denn keine andere Disziplin außer
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der Metaphysik der Sitten und ihren Vorgngerinnen – der Ethica universalis, der Philosophia practica universalis, der Metaphysica moralis – hat ein so waches Bewusstsein dafr entwickelt, dass Werte allgemein, auch die Wrde als absoluter Wert, sich – nicht in jedem Falle in ihrer Existenz – einem Wertbewusstsein oder einer Wertschtzung verdanken. Diese Wertschtzung des absoluten Wertes – der ja nur deswegen „absolut“ genannt wird, weil er mit anderen Gegenstnden nicht verglichen werden kann – heißt bei Kant die Achtung. Die Wrde der Person ist immer nur im Modus der Achtung. Da, wo Wrde ist, ist auch diese Form der Wertschtzung. Die Achtung konstituiert nicht die Wrde, aber nur sie vermag sie zu erkennen. Kant sagt ausdrcklich: „Diese Schtzung giebt also den Werth einer solchen Denkungsart als Wrde zu erkennen und setzt sie ber allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung gebracht werden kann, ohne sich gleichsam an der Heiligkeit derselben zu vergreifen“ (Bd. 4, 434). Auch der endliche Wert, der Preis, ist nur im Modus des „çffentlichen Urteils“ ber den Wert der Sache (Bd. 6, 288). Offensichtlich bernimmt auch in dieser Frage Kant die Position der traditionellen Metaphysik des Moralischen, nach der sich sogar die gesamte Welt der „entia moralia“, zu der auch und vor allem die Person, das Geld, die Schuld, alles, was mit unserer Freiheit zu tun hat, gehçrt, einer Wertschtzung verdankt. Petrus Aureoli, der hier reprsentativ fr diese Tradition stehe, sagt: „Esse enim morale non consistit in re extra, sed in aestimatione hominum“ (Petrus Aureoli, In IV Sent. d. 14 q. 1 a. 4, ed. Rom 1605, II 134 aE). Surez, Pufendorf und andere Vertreter dieser Metaphysiktradition haben zudem deutlich gemacht, dass die Welt des Moralischen nicht mit jenen Kategorien zu fassen ist, die Aristoteles mit Blick auf die Welt der Natur gewonnen hatte. Daher kann man im Sinne der Tradition der Metaphysik der Sitten auch nicht sachgemß sagen, dass die Wrde der Person „zukomme“, denn das Zukommen bezeichnet in der aristotelischen Tradition das Verhltnis einer Eigenschaft zu einer Substanz, der sie inhriert. Doch weder ist der Preis eine der Sache anhaftende noch die Wrde eine der Person zukommende Eigenschaft – mçglicherweise im Unterschied zum Recht, das traditionell eine „qualitas moralis“ genannt wurde oder zu den Grundrechten, die in der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung „inherent rights“ heißen. Vielmehr haben beide, der Preis wie die Wrde, ihren Grund in einer bestimmten Form der Wertschtzung. Der angemessene Ausdruck der Wertschtzung gegenber der Wrde der Person ist die Achtung – jedenfalls seitens endlicher, genauer gesagt: sinnlichkeitsbedingter endlicher Wesen, also der Menschen. Im Begriff der Achtung liegt das Bewusstsein der Unterordnung des Wil-
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lens unter das moralische Gesetz, das mir gebietet, eine Person niemals bloß als Mittel zu gebrauchen, und somit eine Art der Demut vor dem reinen Gesetz. Deswegen kann die Achtung auch nicht als die Ursache des Gesetzes, sondern muss als eine Wirkung desselben angesehen werden (Kant, Bd. 4, 405). Kurzum: Die Achtung ist jene Form der Wertschtzung, die nur menschlichen Personen und niemals dem hçchsten Wesen oder reinen Geistern ohne Sinnlichkeit „beigelegt“ werden kann (Bd. 5, 75). Kant hat uns diesen alten Begriff der Wertschtzung nher gebracht, indem er ihn gewissermaßen bersetzte mit dem der Anerkennung. Die Achtung ist deswegen auch die Anerkennung einer Wrde an anderen Menschen, d. h. eines unvertauschbaren Wertes (Bd. 6, 462). Doch was ist die Ursache fr die Existenz der Wrde des Menschen, wenn es die Achtung als sinnlichkeitsbedingte Wertschtzung nicht sein kann? Auch wenn uns an dieser Stelle der metaphysischen Spekulation die Kantische Systematik und Begrifflichkeit verlsst, muss doch auch diese Frage im Sinne eines Nachdenkens ber die Menschenwrde erschçpfend, d. h. bis zu einer befriedigenden Antwort durchdacht werden. Als Ursache fr die Existenz der Wrde, also des absoluten Wertes des Menschen, kommt, da auch die Existenz des Preises, also des endlichen Wertes, auf die Wertschtzung eines endlichen Bewusstseins als Ursache zurckzufhren ist, nur irgendeine Form der Wertschtzung, d. h. der Anerkennung in Frage. In dieser Situation kommt uns die Philosophie Hegels zu Hilfe, dessen Rechtsphilosophie ohnehin, auch nach zeitgençssischen Einschtzungen, die legitime Fortfhrung und Erbschaft der Kantischen Metaphysik der Sitten ist. Nach Hegels Lehre kçnnen zwei ußerungsformen der Anerkennung angenommen werden, nmlich die Ehre und die Liebe. Die Liebe fhrt zu Ende, was doch schon in der Ehre als dem Bedrfnis, sich anerkannt, d. h. die Unendlichkeit der eigenen Person in einer anderen aufgenommen zu sehen, angelegt ist (Hegel, Vorlesungen ber die sthetik; Bd. 14, 182). Das Christentum hat nach Hegel das Bewusstsein von dem unendlichen Wert des einzelnen Individuums in unsere Welt gebracht. Bei den Griechen war der „Mensch als solcher noch nicht anerkannt in seinem unendlichen Werte und seiner unendlichen Berechtigung“ (Hegel, Enzyklopdie I, § 163). Das Christentum dagegen enthlt die Lehre, „daß die Subjektivitt einen unendlichen Wert hat“ (§ 147), weil Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Es ist somit das Christentum, nach dem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist, an sich zur hçchsten Freiheit bestimmt (III, § 482; Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, Bd. 19, 500). Es war auch
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das Christentum, bzw. die christliche Philosophie des Mittelalters und die Christologie des Surez – so kann man, so muss man Hegel beipflichten – die die Vorstellung und den Begriff, d. h. das Bewusstsein vom „unendlichen Wert“ der Person allererst geweckt hat, indem sie die Erlçsungstat Christi als ein Werk von „unendlichem Wert“ bezeichnet, der in der physischen Welt nicht vorkommen kann, sondern Kennzeichen des Moralischen ist und zuletzt in der „unendlichen Wrde seiner Person“ grndet. Daher kann es keinen Zweifel geben: Im Moralischen liegt per se ein unendlicher Wert beschlossen (Bonaventura, III Sent. d. 32 a. un. q.5, ed. Quaracchi III 705b). Die Wrde der Person als absoluter Wert ist so fr uns vernnftige Sinneswesen nur im Modus der Anerkennung, die Kant die Achtung nennt, konstituiert aber wird sie durch jene Form der Anerkennung, die Hegel die gçttliche Liebe nennt. Die spekulative Ethik des 19. Jahrhunderts hat diesen Gedanken Hegels aufgenommen und der gçttlichen Liebe den Charakter des Schçpferischen bescheinigt (vgl. Kobusch 1997, 210–216), weil sie von sich her das Wollen anderer Freiheit ist. Die menschliche Person, die in diesem Zusammenhang auch die „hypostasierte Freiheit“ genannt worden ist, weil sie Abstand von sich gewinnen und das ben kann, was Goethe die „Entsagung“ nennt, ist das von der gçttlichen Liebe gewollte und durch sie geadelte Wesen. Deswegen sagen wir, dass es unendlichen Wert, also Wrde besitzt. Von all diesen metaphysischen Gedanken, die im Begriff der Menschenwrde ursprnglich und immer schon implizit enthalten waren, scheint bei den modernen Entwrfen eines anthropologischen Menschenwrdebegriffs Abstand genommen worden zu sein. ber die Legitimitt oder Illegitimitt eines solchen Abstraktionsvorgangs mçgen andere urteilen. Was jedoch dem anthropologischen Rasiermesser dieser Art zum Opfer fllt, das sollte hier in Erinnerung gerufen und in ihr auch bewahrt werden.
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1 Lçhrer (1995, 349) stimmt der Meinung Spaemanns zu. Doch sie entspricht nicht der Lehre Kants. Der Kantischen Lehre entsprechend dagegen sagt Hçffe (2002, 132): „Auch ein Verbrecher bleibt Zweck an sich selbst, behlt also Wrde“. 2 Vgl. Kant, Der Streit der Fakultten (Bd. 7, 72): „Diese Moralitt und nicht der Verstand ist es also, was den Menschen erst zum Menschen macht.“ 3 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Bd. 4, 439): Und „was (…) den absoluten Werth des Menschen allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch sei, selbst vom hçchsten Wesen beurtheilt werden“. 4 Vgl. Kaulbach 1988, 74; Schçnecker/Wood 2002; Hçffe 1989; Timmermann 2004. 5 Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. 6, 82. Der Streit der Fakultten, AA VII 69; Kritik der reinen Vernunft B 840. Vgl. auch J. G. Canzius, Disciplinae morales omnes, Frankfurt/Leipzig 1752 (Nachdr. in: Chr. Wolff, Gesammelte Werke, III 32, Hildesheim/New York 1994), §§ 181/182 (1315):
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„regnum morum“. Noch nach J. G. E. Maaß, Grundriß des Naturrechts, § 27 (S. 19) – einer Naturrechtslehre im Geiste Kants – ist der Gegenstand der „reinen practischen Philosophie“, d. h. der Metaphysik der Sitten, ein Reich der Freiheit berhaupt. 6 Vgl. Kant, Antwort an Eberhard (Bd. 8, 250): „(…) dem Reiche der Gnaden (dem Reiche der Zwecke in Beziehung auf den Endzweck, d. i. den Menschen unter moralischen Gesetzen) (…)“. 7 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 4, 434 f.
Rainer Forst
Die Ambivalenz christlicher Toleranz 1. Wer das Thema „Christentum und Toleranz“ in einem kurzen Beitrag behandeln will, sieht sich vor zwei Probleme gestellt. Erstens scheint dies unmçglich zu sein, denn das Thema ist nahezu unberschaubar, historisch weit verzweigt und im Lichte aktueller Kontroversen beraus facettenreich. Aber gesetzt, man wagt das Unternehmen dennoch, ist man zweitens von vornherein zu dialektischen Formulierungen gezwungen. Denn so sehr es zutrifft, dass das Christentum an der Wiege des westlichen Toleranzverstndnisses steht, so trifft es ebenso zu, dass dies zugleich der Beginn einer spezifischen Geschichte der Intoleranz ist; das Christentum prgt einige der nach wie vor zentralen Toleranzbegrndungen, doch haftet diesen eine tiefe Ambivalenz an, so dass eine Dialektik der Toleranz droht, ein Umschlagen in Intoleranz. Dies sei im Folgenden gezeigt.1
2. Zunchst jedoch, da der Begriff der Toleranz selbst klrungsbedrftig ist, einige analytische Bemerkungen dazu. Meines Erachtens zeigt sich bei klarer Betrachtung, dass es nicht (wie oft behauptet wird) eine Mehrzahl von „Toleranzbegriffen“ gibt, sondern nur ein sinnvolles Toleranzkonzept. Dazu gehçren, und ich beschrnke mich auf das absolut Wesentliche, drei Komponenten: (a) Die erste ist die so genannte Ablehnungs-Komponente. Sie besagt, dass die tolerierten berzeugungen oder Praktiken als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt werden. Ohne diese Komponente lgen entweder Indifferenz oder Bejahung vor, nicht aber Toleranz. (b) Zweitens gehçrt zur Toleranz eine positive Akzeptanz-Komponente, die Grnde dafr nennt, wieso es richtig oder gar geboten ist, die falschen oder schlechten berzeugungen bzw. Praktiken zu tolerieren. Dabei wer-
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den die Ablehnungsgrnde freilich nicht aufgehoben, sondern nur aufgewogen und bertrumpft. (c) Drittens schließlich gehçrt eine Zurckweisungs-Komponente hinzu, die Grnde fr die Bestimmung der vieldiskutierten Grenzen der Toleranz enthlt. Hier berwiegt eine eindeutig negative Bewertung, die ein Ende der Toleranz und gegebenenfalls ein Eingreifen fordert. Diese sehr knappe Analyse zeigt, dass wir es mit drei Arten – bzw. drei Funktionen – von Grnden zu tun haben, so dass eine Toleranzbegrndung alle drei Komponenten ausfllen kçnnen muss; und eine im umfassenden Sinne religiçse Toleranzbegrndung wird an allen drei Stellen aus religiçsen Quellen schçpfen. Ich berspringe an dieser Stelle eine Diskussion der verschiedenen Toleranzkonzeptionen, die sich historisch entwickelt haben und bis in die Gegenwart reichen (vgl. Forst 2003, 42 ff.). Sie lassen sich nach der Beziehung zwischen den Tolerierten und den Tolerierenden unterscheiden, von einer hierarchischen Form, die ich „Erlaubnis-Konzeption“ nenne, und in der eine machthabende Autoritt allein festlegt, aus welchen Grnden und bis zu welchem Punkt Minderheiten zu tolerieren sind, ber eine „KoexistenzKonzeption“ der Toleranz zwischen ungefhr gleich starken Gruppen bis zu einer „Respekt-Konzeption“, in der Personen bzw. Gruppen einander wechselseitig aus normativen Grnden achten und auch tief greifende Differenzen tolerieren, bis hin zu einer „Wertschtzungs-Konzeption“, der gemß Toleranz von Unterschieden auf einer gemeinsam geteilten ethischen Wertebasis beruht.
3. Nun zu den Toleranzargumenten, die im frhen Christentum zu finden sind. Fr die im rçmischen Reich verfolgten Christen wurde die Tugend der Toleranz (virtus tolerantiae), etwa bei Tertullian, noch in stoischer Weise als Tugend des Aushaltens und der Duldsamkeit in schwerer Zeit und in Bedrngnis verstanden, dem Beispiel Jesu folgend und auf „ewige Belohnung“ (Augustinus) fr diese Beharrung hoffend. „Mutua tolerantia“ heißt bei Cyprian denn auch, dass die Glubigen einander im Geiste der Liebe dulden, so sie denn fehlen, whrend die „Bçsen“ in der Zuversicht auf Gott ertragen werden. An die Adresse des Kaisers richten die Kirchenvter freilich weniger die Forderung nach „tolerantia“, sondern einer „libertas religionis“: Nicht nur wird eine Gleichbehandlung zu anderen, geduldeten Kulten eingefordert, sondern grundstzlicher heißt es:
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„Jedoch ist es ein Menschenrecht und ein Naturrecht [humani iuris et naturalis potestatis est], das zu verehren, was man fr gut hlt, und die Gottesverehrung des einen bringt dem andern weder Schaden noch Nutzen. Es liegt nicht im Wesen der Gottesverehrung, zur Gottesverehrung zu zwingen, da sie von freien Stcken unternommen werden muß und nicht aus Zwang; denn auch Opfer werden nur von einer willigen Gesinnung gefordert“ (Tertullian 1915, 2). Auch Laktanz wird spter hervorheben: „Nichts ist so vom freien Willen abhngig wie die Religion; sie verschwindet, sie wird zunichte gemacht, wenn das Opfer widerwillig dargebracht wird“ (zit. nach Lecler 1965, Bd. 1, 96 f.). Fr die Begrndung solcher Toleranzforderungen griffen die Kirchenvter insbesondere auf die im Neuen Testament entwickelten Ideen des freien Gewissens und der Trennung der zwei Reiche zurck. Paulus schreibt im ersten Brief an die Korinther, das „schwache Gewissen“ der noch an alten Kulten hngenden Menschen sei zu schonen, da ein rechter Glaube, der nicht aus innerer berzeugung komme, nicht Gott zu Gefallen sei, so auch im Rçmerbrief: f „Was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Snde“ (Rçm. 14, 23). Dabei aber ist wichtig, dass es sich um adiaphora handelt (hier Speiseregeln), d. h. nicht um einen zentralen, die Frage des Seelenheils betreffenden Punkt. Diesbezglich, was Gçtzendiener, falsche Propheten und Gotteslsterer angeht, sind Jesus ebenso wie Paulus unnachgiebig. Doch soll das Schwert, das Jesus bringt, ein geistiges, kein irdisches sein, und dabei spielt die Differenz der zwei Reiche eine wichtige Rolle. Die Wahrheit soll durch das Wort siegen, und die weltliche Macht soll sich nicht als geistige mit einem religiçsen Zwangsrecht verstehen. Was die vertikale Toleranz, also die des Staates gegenber einer religiçsen Minderheit, anlangt, sind daher die wesentlichen Argumente die Trennung der zwei Reiche und die Illegitimitt bzw. Unmçglichkeit des Gewissenszwanges. Auf der horizontalen Ebene der Toleranz des Christen gegenber Andersglubigen hingegen gilt die Duldsamkeit als Forderung der Liebe, so wie Jesus das „zerstoßene Rohr“ (Matth. 12, 20) nicht zerbricht. Auch beweist die Toleranz eine innere Strke als Zeichen des wahren Glaubens. Zudem gilt hier ebenfalls die Doppelthese von der Nichtzwingbarkeit des Gewissens: Der wahre Glaube soll nicht und kann auch nicht erzwungen werden. Und letztendlich gibt es hier ein Gebot der Zurckhaltung angesichts der obersten Autoritt Gottes, Richter in diesen Dingen zu sein. Im berhmten Unkraut-Gleichnis (Matth. 13, 24 ff.) ermahnt Jesus die Jnger, das Unkraut unter dem Weizen nicht auszuraufen, sondern bis zur Ernte
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zu warten, denn die Gefahr, den Weizen mit zu vernichten, sei zu groß: Erst am „Ende der Welt“ wird sich das Rechte vom Unrechten scheiden, und „da wird ein Heulen und Zhneklappern sein“. Die Toleranz ist eine menschliche, irdische Tugend; dereinst freilich wird die Wahrheit siegen und die Gerechtigkeit walten. Stellt das Gleichnis vom Unkraut das wohl bedeutendste hinsichtlich der Toleranz dar, so ist spiegelbildlich das in anderer Hinsicht wirkmchtigste hinzuzufgen, das vom „compelle intrare“, dem Zwang, zum Abendmahl einzutreten (Luk. 14, 16 ff.): Das Abendmahl ist bereitet, doch unter fadenscheinigen Grnden bleiben die Gste aus, und so schickt der Herr die Knechte aus, alle mçglichen zu laden, auch die Armen und die Krppel, und als dann noch immer die Tafel nicht voll ist, ruft er zum Knecht: „Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zune und nçtige sie hereinzukommen, auf daß mein Haus voll werde.“
4. Im Laufe von nur einem, dem vierten Jahrhundert, steigt der christliche Glaube von einer verfolgten zu einer geduldeten und schließlich zur herrschenden Religion auf, und nun findet sie – bzw. die Kirche – sich in einer neuen Toleranzsituation vor. Fr diese Phase ist das Werk des Augustinus prgend – das Werk, an dem sich die Ambivalenz der christlichen Toleranz in paradigmatischer Weise zeigt. Bei Augustinus findet sich eine Reihe von klassischen Toleranzargumenten: (a) Die Toleranz aus Liebe. Schwache irdische, gefallene Wesen, wie Menschen es sind, sind gegenseitig zur Duldung der Schwchen der Anderen aufgerufen, auch zur Duldung der Feinde der Kirche. (b) Die Toleranz aufgrund der Trennung der zwei Reiche. Auf Erden sind das Reich der Welt und das Reich Gottes „miteinander verwirrt“, und es ist nicht Sache der unvollkommenen Menschen, diese zu entwirren. (c) Toleranz zur Bewahrung der Einheit. Um Trennungen und Schismen nicht zu verschrfen, sind die Andersdenkenden „mit Sanftmut zurechtzuweisen“, nicht aber zu verstoßen. (d) Das Argument der Freiheit des Gewissens. Allein ein frei zustande gekommener, nicht ein geheuchelter Glaube kann Gott gefallen, und anders kann wahrhaftiger Glaube auch gar nicht entstehen: „credere non potest nisi volens“ (Augustinus 1845, 26, 2). Es soll keinen „Zwang zum Eintreten“ geben.
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Die andauernden und eskalierenden Auseinandersetzungen mit den Donatisten whrend seiner Zeit als Bischof von Hippo bewegen Augustinus allerdings dazu, seine Auffassung ber die Toleranz gegenber Hretikern und Schismatikern zu revidieren. Und nun sind es dieselben Grnde, die vordem fr Toleranz sprachen, die Intoleranz nicht nur erlauben, sondern zur Pflicht machen. (a*) Die Liebe des Nchsten kann nicht erfordern, tatenlos zuzusehen, wie dieser sein Seelenheil aufs Spiel setzt, ein solches Dulden erscheint nun selbst als Snde: „Denn wenn jemand she, wie sein Feind, durch ein gefhrliches Fieber wahnsinnig geworden, dem Abgrund zuliefe, wrde er da nicht Bçses mit Bçsem vergelten, wenn er ihn so laufen ließe, statt ihn zurckzuhalten und binden zu lassen? Und doch wrde er gerade dann als sein grçßter Feind und Gegner erscheinen, wenn er am meisten sich als ntzlich erwies und ihm Erbarmen zuteil werden ließ! Sicher aber wrde dieser ihm nach wiedererlangter Gesundheit um so grçßeren Dank sagen, je mehr er sehen wrde, daß man seiner durchaus nicht geschont habe“ (Augustinus 1917, Brief 93, 2). Augustinus fhrt fort, Beispiele von solchermaßen Bekehrten zu zitieren, die, von ihrer Krankheit geheilt, sich fr die Fesselung und Bewahrung vor der Selbstzerstçrung bedankten. „Vterliche Frsorge“ ist es, bzw. die „heilende Liebe“ einer Mutter, der es allein um das Heil ihrer Kinder geht, die die Kirche dazu motiviert, die Verirrten auf den rechten Weg zurckzubringen. Wenn dazu eine vorbergehende „Geißelung“ notwendig ist, dann geschieht sie aus Liebe und nicht aus Hass – und dies ist Augustinus zufolge der Unterschied ums Ganze. Die Liebe zum Anderen, die in der Liebe zu Gott wurzelt, fordert die Rettung seiner Seele vor der ewigen Verdammnis – auch gegen seinen verblendeten Willen. Diesem Gebot nicht zu folgen wre schlechte Toleranz, „unfruchtbare und eitle Geduld“. (b*) Diesem Gebot entsprechend entwickelt Augustinus die Lehre vom „guten Zwang“, der zufolge „es nicht darauf ankommt, ob jemand berhaupt gezwungen wird, sondern wozu er gezwungen wird“ (Brief 93, 16). Dies setzt freilich eine zweifache Rcknahme des Zwei-Reiche-Arguments fr Toleranz voraus. Erstens muss es mçglich sein, schon auf Erden die Fden der Gerechten und der Snder zu entwirren, um zu einem hinreichend begrndeten Urteil zu kommen, und zweitens wird es dann auch Sache der weltlich-irdischen Gerechtigkeit des Staates sein, der Wahrheit zur Geltung zu verhelfen. Zunchst muss folglich das Gleichnis vom Unkraut rein-
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terpretiert werden. Als der Herr davor warnte, das Unkraut nicht auszureißen, habe er dies damit begrndet, dass damit mçglicherweise der Weizen mit vernichtet wrde. Und Augustinus fhrt fort: „Damit zeigt er hinreichend, daß, wenn diese Befrchtung nicht besteht, wenn man ganz sicher ist, daß das gute Korn feststeht, d. h. wenn das Verbrechen eines einzelnen bekannt ist und es alle so abscheulich finden, daß es keinen Verteidiger findet (…), dann soll die Strenge der Zucht nicht schlafen, denn je sorgfltiger die Nchstenliebe gewahrt wird, um so wirksamer ist die Zchtigung der Verderbtheit“ (Augustinus, Contra epistulam Parmeniani III, II, 13; zit. nach Lecler 1965, Bd. 1, 120) Das Unkrautgleichnis erlaubt dann „guten Zwang“, wenn es mçglich wird, gut und bçse hinreichend voneinander zu unterscheiden. So schreibt Augustinus an die Donatisten, dass sie dadurch, dass sie die Kirche ablehnen, beweisen, „daß ihr das Unkraut seid und euch, was noch rger ist, vor der Zeit vom Weizen losgetrennt habt“ (Brief 76, 2). Zweitens zhlt Augustinus Hresie und Schisma zu Verbrechen, die ihrer Natur nach unter die weltliche Gerichtsbarkeit fallen, und zwar nicht nur wegen des gesellschaftlichen Unfriedens, den sie bringen. Unter Berufung auf Paulus, der den Gçtzendienst zu den verwerflichen „Werken des Fleisches“ (Gal. 5, 19) zhlt, schreibt Augustinus: „Warum finden es nun die Donatisten gerecht, daß man mit aller Strenge des Gesetzes gegen die Giftmischer vorgeht, und ungerecht, daß man gegen Hresie und gottlosen Zwist wtet, da doch diese letzten Verbrechen vom Apostel in die Reihe der anderen Werke der Bosheit gestellt werden? Sollte es den menschlichen Mchten verboten sein, sich mit diesen Verbrechen zu beschftigen?“ (Augustinus, Contra epistulam Parmeniani I, X, 16; zit. nach Lecler 1965, Bd. 1, 119) (c*) War Toleranz gegenber Andersglubigen als Weg der Bewahrung christlicher Einheit geboten, so fordert diese Einheit im Fall eines weitgehenden Schismas – Augustinus spricht von der „schismatischen Raserei“ – Intoleranz und Bekmpfung der Hresie. Um der katholischen Einheit willen werden zwar die Sakramente der Donatisten anerkannt, doch mssen sie zum Eintreten in die wahre Kirche gezwungen werden. Hier nimmt Augustinus auf die Bibelstelle vom „compelle intrare“ Bezug und legitimiert den Zwang zum Eintreten:
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„Wenn deshalb die Kirche kraft der Gewalt, die ihr Gott zu gegebener Zeit bertragen hat, mit Hilfe der religiçsen und glubigen Kçnige jene in ihren Schoß einzutreten zwingt, die sie auf den Wegen und an den Hecken findet, d. h. unter den Schismen und Hresien, so sollen sich jene nicht beklagen, daß man sie gezwungen hat, sondern sollen schauen, wohin man sie treibt“ (Brief 185, 24). (d*) Was das wichtige Argument der Freiheit des Gewissens angeht, so nimmt Augustinus nicht die Auffassung zurck, dass der Glaube auf eigener Einsicht und berzeugung beruhen muss, doch ist er nun der Ansicht, dass Zwang zum Zustandekommen dieser Einsicht entscheidend sein kann. Die These der Nichtzwingbarkeit des Gewissens ist damit widerlegt. Der „Schrecken“ (terror), den die Ketzer durch Zwang erleiden, lenkt die „Aufmerksamkeit ihrer Seele auf die Erwgung der Wahrheit“, und çffnet ihnen die Augen, so dass sie sich anschließend fr die Befreiung von der Verblendung und der Krankheit bedanken. „Nicht als ob jemand gegen seinen Willen gut sein kçnne, sondern aus Furcht vor dem, was er nicht erleiden will, gibt er entweder die ihm im Wege stehende Bitterkeit des Gemtes auf oder sieht sich gezwungen, die Wahrheit zu erkennen, indem er aus Furcht den frher behaupteten Irrtum abweist und die Wahrheit sucht, die er nicht kannte, und so freiwillig annimmt, wozu er sich frher nicht verstehen wollte. Es wre vielleicht vçllig nutzlos, dies mit Worten auszusprechen, wenn es nicht durch so viele Beispiele erwiesen wrde. Wir haben nicht nur diese oder jene Menschen, sondern ganze Stdte vor Augen, die donatistisch waren, jetzt aber katholisch sind und das teuflische Schisma ber alles verabscheuen, whrend sie die Einheit aufs eifrigste lieben“ (Brief 93, 16). Damit rechtfertigt Augustinus die besonders ab 405 sehr strengen Gesetze gegen die Donatisten, welche diesen schließlich ihre Kirchen und Besitztmer nahmen. Und er fhrt fort in der Erklrung der Vernderung seiner Position: „Ursprnglich war meine Absicht, es solle niemand zur Einheit Christi gezwungen werden; man msse das Wort wirken lassen, den Irrtum durch Erçrterung bekmpfen und durch Grnde besiegen, damit wir nicht an denen, die wir als aufrichtige Hretiker kannten, gezwungene Katholiken bekmen. Aber diese meine Ansicht unterlag nicht dem Widerspruche in Worten, sondern dem Beweise in Beispielen“ (Brief 93, 17).
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Er zhlt verschiedenste Beteuerungen von Donatisten auf, die aus Angst vor staatlicher Repression von ihrem Glauben gelassen htten und sich nun glcklich zeigten, vom Schlechten gelçst worden zu sein und den Pfad der Wahrheit betreten zu haben. Die „Gewissensfreiheit“ besteht folglich in der Freiheit, den wahren Glauben anzunehmen, keine Freiheit gibt es in Bezug auf Irrlehren: „Gibt es denn einen schlimmeren Seelentod als die Freiheit des Irrtums?“ (Brief 105, 10). Das Gewissen ist keine eigene, an sich zu respektierende Instanz; es steht selbst im Dienste der Wahrheit und des Seelenheils. Diesem Heil gilt die ganze Aufmerksamkeit des sorgenden Hirten.
5. Diese kurze Darstellung der Dialektik christlicher Toleranz am Beispiel des Augustinus soll gengen, um einige strukturelle Eigenschaften christlicher Unduldsamkeit benennen zu kçnnen. (1) Der erste Punkt betrifft das oben genannte Argument der Liebe. Dabei ist zentral, dass die Nchstenliebe (a) ber Gott vermittelt ist und (b) allein dem Heil des Anderen gilt. Dieses Heil ist eine objektiv bestimmbare Grçße und hat nichts mit „fleischlichen“ Vorlieben und Wnschen eines Menschen zu tun – und auch nichts mit seinen „falschen“ berzeugungen. Geliebt wird der Andere folglich „in Gott“, d. h. um seines Seelenheiles nach Maßgabe der wahren Religion willen. Im christlichen Verstndnis, wie Augustinus es erklrt, kann dies heißen, dass das Seelenheil eines Individuums gegen dessen ausdrcklichen Willen gerettet werden muss, kurz, dass man Zwang zur Befreiung vom Falschen und zum Erreichen der Wahrheit ausben muss (sofern dies ein effektives Mittel ist). Im Extrem kann dies sogar bedeuten, zugunsten der Rettung der Seele den Kçrper zu peinigen und sterben zu lassen. Letzteres – ein Gedanke, der auf die Inquisition vorweist – lehnt Augustinus zwar ausdrcklich ab. Doch spricht er (Augustinus 1978, XIII, 2) von zwei Arten des Todes, dem Tod des Leibes und dem der Seele. Ersterer ist unvermeidlich und „fr die Guten gut“, da ihm die ewige Seligkeit – durch Gottes Gnade – folgt; der zweite, der Tod der Seele, erfolgt dann, wenn Gott eine Seele der Verdammnis berlsst, was vor oder nach dem leiblichen Tod geschehen kann. Dies zu verhindern – was Menschen aus eigener Kraft ohne gçttliche Gnade freilich nicht vermçgen – ist oberste Christenpflicht. Bei Thomas von Aquin wird es in der Summa theologiae (II, II, 10, 12) dann heißen: „In hçherem Maße ist man
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verpflichtet, einem Menschen in der Gefahr des ewigen Todes beizuspringen als in der Gefahr des leiblichen Todes.“ Die Verkehrung des Liebesarguments hat allerdings noch eine weitere Dimension. Denn auch wenn Zwang aus Liebe zunchst dem Heil dessen gilt, der von seinem Irrglauben abgebracht werden soll, kann der Zwang auch dann noch legitim sein, wenn er sich als zwecklos herausstellt und sich keine Vernderung der Haltung des Hretikers einstellt. Denn dann kann die Eindmmung seines schdlichen Einflusses auf Andere eine Pflicht jenen und ihrem Heil gegenber sein. Nicht umsonst bezeichnet Augustinus den Ketzer als „Giftmischer“, und spter wird er als gefhrlicher Krankheitserreger angesehen, der andere infizieren kann. In beiden Dimensionen zeigt sich die Zweischneidigkeit einer Liebe, die primr als Liebe zu Gott begrndet ist und sich von dort erst auf die Menschen erstreckt. Sie ist damit nicht im moralischen Sinne unbedingt, sondern in besonderer Weise qualifiziert, sie gilt nicht dem Menschen schlechthin in seiner rein „irdischen“ Selbstbestimmung. Diese Verdopplung des Menschen in den Respekt und Frsorge fordernden Teil, der in die Ewigkeit weist, und den Teil, der am bloß Irdischen hngt, wird auch die Brde sein, die sptere christliche Auffassungen der „Wrde“ des autonomen Menschen tragen. Es gibt hier keine Respekt gebietende Wrde des Menschen, die nicht in erster Linie auf das zurckginge, was man Gott schuldet: Eine in Gott gegrndete und damit im Glauben unbedingte, moralisch gesehen aber bedingte Form der Achtung. (2) Der Umschlag der augustinischen Argumente zeigt auch, auf welch dnnem Eis die Toleranz sich bewegt, wenn sie auf Gleichnissen wie dem vom Unkraut und dem Weizen oder auf der Annahme der Nichtzwingbarkeit des Gewissens beruht. Ersteres schlgt fehl, sobald die behauptete Urteilsunsicherheit in Bezug auf die Vergehen und Snden Einzelner in Zweifel gezogen wird und keine prinzipiellen normativen Grnde gegen die Anmaßung solch eines Urteils sprechen. Solche zu liefern werden sptere Toleranzbegrndungen versuchen. Und Letzteres erweist sich, obwohl es im Toleranzdiskurs der Neuzeit, etwa bei Locke, an prominenter Stelle zu finden ist, als empirisch nicht haltbar, wenn es gelingt zu zeigen, dass „milder“ Zwang zur nderung von berzeugungen fhren kann, die von den Betroffenen im Nachhinein als Erkenntnisfortschritt angesehen und verinnerlicht werden. Augustinus war sich sicher, dass dies mçglich ist; und er st damit einen bedeutenden Zweifel an einer der prominentesten Begrndungen der Gewissensfreiheit. Wieder gilt das christliche Verdopplungsargument: Nicht das Gewissen an sich ist zu respektieren, sondern die subjektive Instanz des Glaubens, der Gottes Werk ist. Die Freiheit des Gewis-
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sens im christlichen Verstndnis ist eine Freiheit zum Glauben, keine Freiheit jenseits des Glaubens.
6. Ich berspringe im Folgenden eine wichtige Phase des christlichen Toleranzdiskurses – etwa in der Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Islam –, in der Formen der diskursiven, dialogischen Toleranz gesucht werden, die freilich das Ziel haben, auf dem Wege inhaltlicher Auseinandersetzung die Wahrheit des christlichen Glaubens zu erweisen, wenn auch als ethisch reduzierter wie bei Abailard, als Ausdruck letzter metaphysischer Wahrheit wie bei Raimund Llull oder als frhhumanistischer, katholischer Einheitsglaube wie bei Cusanus; dabei werden neue Wege erkundet, der Pluralitt der Religionen zu begegnen – was sich auch, in anderer Form, bei Maimonides und Averroes findet (vgl. Forst 2003, § 6). Auch auf den irenischen Humanismus eines Pico oder Erasmus gehe ich nicht weiter ein und beschrnke mich auf einige Bemerkungen zur Reformation (vgl. Forst 2003, §§ 8–9). Luther radikalisiert die augustinische Gewissensauffassung: Die Freiheit des Gewissens ist keine subjektive berzeugungsfreiheit, sondern zunchst einmal negativ die Freiheit von falschen Lehren und Autoritten und positiv die Freiheit hin zu Gott; nur als sich an Gott gebunden wissendes kann das Gewissen Freiheit beanspruchen. So bezeichnet Luther in seiner berhmten Rede auf dem Reichstag zu Worms (1521) sein Gewissen als „in den Worten Gottes gefangen“ (Luther 1983, 269). Genau wegen dieser Gefangenschaft ist das Gewissen von Zwang frei zu geben: „Denn es ist eyn frey werck umb den glawben, dazu man niemandt kan zwingen. Ya es ist eyn gottlich werck ym geyst, schweyg denn, das es eußerliche gewallt sollt erzwingen und schaffen“ (Luther 1959, 379). Das Gewissen lsst sich Luther zufolge nicht zwingen, und man darf es auch nicht zwingen, da man sich sonst anmaßt, Gottes Werk zu tun. Dessen Wort allein soll wirken, das Gewissen gehçrt zu seinem Reich und „Regiment“. Wie Luther in spteren Schriften darlegt, bedeutet diese Freiheit von direktem Gewissenszwang jedoch nicht, dass ein umfassender Anspruch auf Kultfreiheit besteht, womit das Verbot katholischer Messen in protestantischen Lndern legitimiert wird (Forst 2003, 161).
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7. So erfhrt der Gedanke der religiçs gegrndeten Gewissensfreiheit innerhalb des Protestantismus (aber nicht nur dort, denkt man an Spinoza) eine bedeutsame Karriere und wird zum zentralen neuzeitlichen Toleranzargument, so etwa in John Lockes Toleranzbrief (der freilich auf Vorlufer wie William Walwyn, John Milton oder Roger Williams zurckgreift). Bei Locke findet sich eine ganze Reihe von Toleranzargumenten, doch die entscheidende Idee ist die des sozusagen „unfreien freien Gewissens“: Niemand kann seine Sorge um sein Seelenheil, seine Verantwortung vor Gott, an jemand anderen abtreten oder sie einem anderem abnehmen; diese „hçchste Verpflichtung“, sich vor Gott zu rechtfertigen, hebt den Einzelnen ber die Verfgung anderer hinaus. Weder kann er noch darf er die Autoritt ber Glaubensdinge abgeben bzw. sich in Bezug auf andere anmaßen: „Denn niemand kann, selbst wenn er wollte, seinen Glauben dem Diktate anderer anpassen. Alles Leben und alle Macht wahrer Religion besteht in der inneren und vollkommenen Gewissheit des Urteils, und kein Glaube ist Glaube ohne Frwahrhalten [faith is not faith without believing]“ (Locke 1996, 15). An der Stelle, an der Locke sich die schwierige Frage stellt, was denn wre, wenn die Obrigkeit, die Religionszwang ausbt, die Wahrheit unzweifelhaft auf ihrer Seite htte, stellt er als Hauptberlegung seiner Argumentation heraus, dass auch dann das Heil des Gezwungenen verfehlt wrde: „Ich kann nicht selig werden durch eine Religion, der ich mißtraue, und durch einen Gottesdienst, den ich verabscheue“ (55). Locke erinnert sich an dieser Stelle nicht der Einwnde des Augustinus, der ebenfalls nicht davon ausgeht, dass Zwang den rechten Glauben direkt implantieren kann, der aber davon berzeugt ist, dass terror dabei ntzlich sein kann, Irrlehren abzuwenden und die Menschen von ihnen zu befreien, damit sie die Wahrheit sehen und aus eigenen Stcken annehmen kçnnen. Genau diese Argumente verwendet denn auch der Anglikaner Jonas Proast in seiner Kritik an Locke gleich nach dem Erscheinen von dessen erstem Brief ber Toleranz. Proast stimmt Locke darin zu, dass Zwang nicht anstelle von Grnden und Argumenten wirken darf, aber er behauptet, dass er indirekt von Nutzen sein kann: „But notwithstanding this, if Force be used, not in stead of Reason and Arguments, i. e. not to convince by its own proper Efficacy (which it cannot do), but onely to bring men to consider those Reasons and Arguments which are proper and sufficient to convince them, but which, without being forced, they would not consider: who can deny, but that indirectly
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and at a distance, it does some service toward the bringing men to embrace that Truth, which otherwise, either through Carelesness and Negligence they would never acquaint themselves with, or through Prejudice they would reject and condemn unheard, under the notion of Errour?“ (Proast 1984, 5). Da die Menschen in der ihnen aufgegebenen Sorge um ihr Heil oft sorglos seien, trge und voller Vorurteile, was sich nicht zuletzt an den vielen Sekten und Verirrungen zeige, sei es wahre Christenpflicht, ihnen auf ihre Irrwege „thorns and briars“ zu legen, also einen gewissen – doch nicht zu harten – Zwang auszuben. „What human method can be used (…) to make a wiser and more rational Choice, but that of laying such Penalties upon them, as may balance the weight of those Prejudices which enclined them to prefer a false Way before the True (…)?“ (11). Diese Methode, so Proast, habe sich vielfach bewhrt, und dies beweise, dass entgegen Locke ußerer Zwang zur Fçrderung des wahren Glaubens sowohl notwendig als auch hilfreich sei, denn anders ließen sich die Fesseln des Geistes nicht abstreifen, um die Freiheit zu gewinnen, die Wahrheit anzuhçren und zu begreifen. Die Sorge um die Wahrheit sei dem weltlichen Souvern aufgegeben, der dazu im besten Interesse der Brger autorisiert sei, denn welches Interesse kçnne schon wichtiger sein als das des eigenen Seelenheils. In Lockes Antwort auf Proast, dem Second Letter Concerning Toleration von 1690, zeigt sich zweierlei: Einerseits die Schwchen seines Hauptarguments der Nichtzwingbarkeit, auf die Proast zu Recht hinweist. Andererseits aber auch, dass Lockes Letter noch andere Argumente bereithlt, mit denen er Proast zurckweisen kann, und zwar diejenigen, die zuvor schon Pierre Bayle in seinem Commentaire philosophique von 1685, einer expliziten Auseinandersetzung mit Augustinus’ Rechtfertigung der Intoleranz, umfassend ausgearbeitet hatte: erstens das normative Argument, dass die Ausbung von Zwang unter moralisch gleichberechtigten (und mit praktischer Vernunft ausgestatteten) Personen wechselseitig rechtfertigungsbedrftig ist, und zweitens das epistemologische Argument, dass es unter vernnftigen Menschen zu Recht Streit darber geben kann, welche die wahre Religion ist. Und in eben diesem Sinne – ohne direkten Bezug auf Bayle – fordert Locke Proast heraus, ein Argument vorzulegen, „without supposing all along your church in the right, and your religion the true; which can no more be allowed to you in this case, whatever your church or religion be, than it can be to a papist or a Lutheran, a presbyterian or an anabaptist; nay, no more to you, than it can be allowed to a Jew or a Mahometan“ (Locke 1963, 111). Denn ein jeder Zwang ist grundstzlich
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rechtfertigungsbedrftig, und fr Glaubenszwang fehlen wechselseitig ausweisbare, gute Grnde. Um diese Argumentation besser zu verstehen, ist ein Blick auf Bayle notwendig.
8. Man wird nicht sagen kçnnen, dass der Hugenotte Bayle von christlichen Toleranzbegrndungen und vom protestantischen Gewissensbegriff unbeeinflusst ist – ganz im Gegenteil, er versteht seine Theorie als Auseinandersetzung mit diesen und verfngt sich selbst an einer Stelle in den Fallstricken einer Auffassung der Freiheit des „irrenden Gewissens“ (vgl. Forst 2003, 335 ff.). Die Hauptargumentation seines Textes, die erwhnte normativ-epistemologische Doppelthese, fhrt aber aus diesen Begrndungen und Fallstricken heraus. Sein Pldoyer fr allgemeine Toleranz und die Zurckweisung der „konvertistischen“ Lesart des Gleichnisses vom „compelle intrare“ (in Anlehnung an die Augustinus-Rezeption seiner Zeit, etwa bei Bischof Bossuet) im ersten Teil des Commentaire hebt mit dem Gedanken an, dass das „natrliche Licht“ der Vernunft allen Menschen „allgemeinste und unfehlbare“ (Bayle 1965, 367; bers. des Verf.) Prinzipien der Metaphysik und der Moral „offenbart“ – Prinzipien einer „allgemeinen Vernunft“ (raison universelle), die „alle Geister erleuchtet und sich niemals denjenigen versagt, die sie aufmerksam zu Rate ziehen“ (369). Sie bilden das Fundament, das Gott allen Menschen, auch den Heiden, eingegeben hat. Die begrenzte menschliche Vernunft, die auf dem Gebiet „spekulativer Wahrheiten“ zu vernnftigerweise nicht auflçsbarem Streit fhrt, fhrt in Fragen der Moral, der „Idee der natrlichen Gerechtigkeit“ (368), nicht zu solchen Differenzen: Hier liegen „moralische Gesetze ohne Ausnahme“ vor. Das wichtigste moralische Gesetz ist dabei, so Bayle, dass man fr sich nur die Rechte beanspruchen drfe, die man anderen nicht vorenthalte. Bayle sieht klar, inwiefern dieses Reziprozittsargument voraussetzt, dass der Anspruch, die wahre Religion zu vertreten (und damit gegebenenfalls auch „milden Zwang“ einseitig zu legitimieren), zumindest „auf Erden“ unter endlichen Vernunftwesen nicht mit Grnden einzulçsen ist, die nicht vernnftigerweise wechselseitig zurckweisbar sind. Am Ende des ersten Teils des Commentaire heißt es daher: „Wenn jemand sagte, ‚Es ist sehr wahr, daß Jesus seinen Jngern befohlen hat zu verfolgen, aber das geht euch nichts an, denn ihr seid Hretiker; nur wir, die wir fr die wahre Kirche stehen, kçnnen diesen Befehl ausfh-
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ren, so wrde sie [sc. die andere Partei] antworten, daß sie mit dem Prinzip bereinstimme, doch nicht mit seiner Anwendung, denn sie allein habe das Recht zu zwingen, da die Wahrheit auf ihrer Seite sei. (…) Wenn man all dies unvoreingenommen prft, wird man notwendigerweise auf den schçnen Grundsatz zurckgeworfen, ‚Ich habe die Wahrheit auf meiner Seite, daher sind meine Gewaltttigkeiten gute Werke; dieser und jener aber irrt, daher ist seine Gewaltausbung strafbar. Man sage mir, wozu all diese Vernnftelei dient. Hilft sie dem bel ab, das die Verfolger anrichten, oder bringt sie sie zum Umdenken? Ist es nicht notwendig, um den Eifer eines rasenden Bekehrers zu beenden, der ein ganzes Land verwstet, oder um ihn sehen zu lassen, was er anrichtet, ihn aus seinen besonderen Streitigkeiten herauszuziehen und an Grundstze zu erinnern, die beiden Parteien gemein sind, so wie die Grundstze der Moral, die Vorschriften der zehn Gebote, von Jesus und seinen Aposteln bezglich der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Enthaltung von Diebstahl, Mord, der Verletzung des Anderen etc.?“ (391 f.). Bayle macht hier deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, an einen unabhngigen und allen Beteiligten gemeinsamen vernnftigen Sinn fr Moral als Moral, frei von fanatischen Verstellungen, zu appellieren, um moralische und religiçse Wahrheit auf dem Boden der Vernunft zu entzerren, sondern auch darauf, religiçse Streitfragen insofern zu entschrfen, als sie nicht als schlechthin sinnlos, aber doch als auf Erden nicht mit Mitteln der Vernunft allein letzthin auflçsbar angesehen werden. Dazu bedarf es einer Auffassung von der Endlichkeit der Vernunft, die besagt, dass es in Glaubensfragen unter endlichen Vernunftwesen notwendigerweise zu Differenzen kommen muss. Nicht nur, aber besonders in Fragen der Religion gilt, dass „Evidenz eine relative Qualitt“ (396) ist, dass Gewohnheit, Erziehung oder andere Faktoren dazu fhren, dass vernnftige Personen zu sehr unterschiedlichen Einschtzungen und Urteilen kommen, und dass es Differenzen geben mag, die nicht mit einem eindeutigen Urteil der Vernunft entscheidbar sind. Ein vernnftiger Mensch ist sich daher der „Brden der Vernunft“ – um einen Terminus von Rawls (1992, 336 ff.) zu gebrauchen – bewusst und weiß, so Bayle, dass „die Verschiedenheit der Meinungen ein unabtrennbares Kennzeichen des Menschen ist, so lange er einen so eingeschrnkten Geist hat und sein Herz so unstet ist“ (Bayle 1965, 418). In seinem berhmten Dictionnaire historique et critique (1696/1702) fhrt Bayle diese Position nher aus, indem er religiçse Wahrheitsberzeugungen als Glaubensberzeugungen auszeichnet, die nicht widervernnftig, wohl aber „ber der Vernunft“ (dessus de la raison) sind (Bayle 2003, 584).
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Weder soll die Vernunft sich anmaßen, in Glaubensfragen letzte Sicherheit zu erwirken, noch soll der Glaube sich anmaßen, mit Mitteln der Vernunft eindeutig zu beweisen zu sein. Diese Konzeption eines sozusagen „vernnftigen Fideismus“ zweifelt somit nicht den Glauben (und seine Wahrheitsansprche) in skeptischer Weise an, sieht ihn jedoch als eben das an, was er ist: ein Glaube. Auf der Basis dieser Selbsterkenntnis und der Einsicht in die Grenzen der theoretischen sowie in die Forderungen der praktischen Vernunft ist Toleranz die von der Vernunft eindeutig gebotene Haltung.
9. Mit dieser Toleranzargumentation vermeidet Bayle die Probleme einer Toleranzbegrndung auf der Basis eines christlichen Gewissensbegriffs, insbesondere folgende Aporien der Gewissensfreiheit: (a) Sie umgeht das von Augustinus und Proast benannte Problem, dass die Betonung der Notwendigkeit eines auf innerer berzeugung beruhenden Glaubens, der allein Gott gefallen kann, nicht ausschließt, dass man milden oder „guten Zwang“ mit geschickten Mitteln anwendet, um falsche berzeugungen aufzubrechen und „authentische“ berzeugungen herzustellen. (b) Wenn die Gewissensfreiheit mit Verweis auf die Unantastbarkeit innerer, ernsthafter berzeugungen (vor Gott) begrndet wird, dann kçnnte das Problem entstehen, wie man denn feststellen kann, ob eine berzeugung wirklich eine ernsthafte, „wahrhaft geprfte“ Gewissensberzeugung ist – denn nur solche drften ja toleriert werden. Daraus kçnnten sehr enge Grenzen der Toleranz resultieren. (c) Sehr weite Grenzen der Toleranz, bzw. gar keine mehr, wrden allerdings folgen, wenn man alle Entscheidungen, die als Gewissensentscheidungen (die allein das Individuum und Gott betreffen) geltend gemacht werden, tolerieren wollte. (d) Zudem schließt das Argument des „unfreien freien Gewissens“, wie bei Locke besonders offensichtlich, verschiedene Gruppen aus. Zunchst einmal Atheisten, denn diese kçnnen auf den Respekt eines solchen Gewissens keinen Anspruch erheben (vgl. Locke 1996, 95). Und schließlich auch, in einer protestantischen Interpretation, diejenigen, die bereit sind, ihr religiçses Gewissen nicht direkt an Gott, sondern an innerweltliche Autoritten gebunden zu sehen, die mçglicherweise die Glubigen in doppelte Loyalitten bringen und zu nicht vertrauenswrdigen Brgern machen. Locke hat an dieser Stelle die Katholiken im Sinn, formuliert dies jedoch
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in Bezug auf Muslime (und die Aktualitt dieser Formulierung muss nicht eigens betont werden): „Es ist lcherlich, wenn einer sich bloß in seiner Religion als Mohammedaner bekennen wollte, aber in allen anderen Dingen als loyalen Untertan einer christlichen Obrigkeit, whrend er doch gleichzeitig seine Verpflichtung zu blindem Gehorsam gegenber dem Mufti von Konstantinopel anerkennt, der seinerseits dem ottomanischen Sultan gnzlich hçrig ist und die angeblichen Orakel dieser Religion nach dessen Gefallen zurechtmacht“ (Locke 1996, 95). Spiegelbildlich dazu erscheint auf katholischer Seite die Idee, es kçnnte ein im Lichte der Wahrheit gnzlich unqualifiziertes Recht auf freie Religionsausbung geben, lange Zeit als ein „Delirium“, so Pius IX. 1864; und noch in der „Toleranzansprache“ von Pius XII. von 1953 heißt es, dass das, was nicht der „Wahrheit und dem Sittengesetz“ entspricht, „objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion“ hat (vgl. Forst 2003, 523). Erst in der Erklrung De libertate religiosa (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils wird das Recht auf Religionsfreiheit mit der Wrde der Person begrndet, freilich im Dienste der Wahrheit und im Lichte der Pflicht, diese zu suchen. Allgemein gesprochen, vermeidet Bayles Toleranzbegrndung nicht nur solche Aporien, sondern fhrt zu einer normativ eindeutigen, reflexiven Toleranzbegrndung, da die Forderung der Toleranz als allgemein und wechselseitig verbindliche aufgefasst wird, ohne auf Seiten der Toleranz benden bzw. auf Seiten der Tolerierten vernnftigerweise umstrittene, religiçse Einsichten vorauszusetzen; damit wird einerseits fr eine moralische Pflicht zur Toleranz in den Fllen argumentiert, in denen keine teilbaren Grnde fr Zwangsausbung vorhanden sind, und andererseits kommt diese Toleranz all jenen zugute, die nicht selbst den damit implizierten Grundrespekt anderen gegenber verletzen. Eine christliche Toleranzbegrndung hingegen relativiert diese Pflicht, und zwar: 1. in Bezug auf die, die Toleranz ben kçnnen bzw. von denen Toleranz verlangt werden kann, nmlich nur diejenigen, die den rechten Glauben haben; 2. (zumindest potentiell) in Bezug auf die, die toleriert werden kçnnen, nmlich nur die, die entweder ein religiçses Gewissen der rechten Form haben oder aber zumindest nicht Handlungen begehen und berzeu-
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gungen verbreiten, die die religiçse Grundlage der Toleranzfhigkeit der rechtglubigen Menschen gefhrden; sowie 3. in Bezug auf den Sinn der Toleranz generell. Da dieser im christlichen Denken letztlich darin liegt, den Einzelnen den Weg zur Wahrheit zu ebnen, besteht die oberste Verpflichtung stets Gott gegenber und nicht primr gegenber den Menschen, wie sie sind, sondern wie sie unter Heilsgesichtspunkten erscheinen. Diese Verdopplung des Menschen, die auf ihn das Licht des Absoluten wirft und darin das Schicksal seiner Seele erscheinen lsst, fhrte zu dem Umschlag der Toleranzargumentation des Augustinus, und an ihr laboriert, wie gesehen, auch Locke angesichts der Einwnde von Proast. Erst Bayle berwindet diese Dopplung, und zwar mit Hilfe eines deontologischen Reziprozittsarguments und mit Hilfe einer Konzeption der Endlichkeit der Vernunft bzw. der (vorsichtigen) Selbstrelativierung des Glubigen, der weiß, dass sein Glaube ein Glaube ist. Das aber heißt, dass die normative Grundlage der Toleranzforderung als moralisch autonom gedacht werden muss und nicht als religiçs bedingt – und dass zwischen Wissen und Glauben getrennt werden kann. Nur so kann Toleranz allseits gefordert und allseits gewhrt werden, innerhalb der Grenzen des Gebots der wechselseitigen Anerkennung als autonome vernnftige Wesen.
10. Erst wenn Menschen auf diese Weise die Wrde des Anderen uneingeschrnkt anerkennen, d. h. das nicht relativierbare „Recht auf Rechtfertigung“ (Forst 2005) einer jeden autonomen Person, ungeachtet dessen, woran diese Person im religiçsen Sinne glaubt, kann Toleranz ohne einengende Qualifizierung der Toleranz benden und der Tolerierten gelingen. Dies ist die entscheidende Lehre aus der Geschichte der christlichen Toleranz in ihrer Ambivalenz, die ich hier nur kurz anreißen konnte. Das heißt, dass die Anerkennung dieser Wrde unbedingt geboten ist, ohne dass es dazu eines religiçsen Fundaments bedarf. Denn eine religiçse Begrndung implizierte, dass Atheisten etwa diesen absoluten Wert nie ganz sehen kçnnten, so dass man ihnen nicht vollstndig vertrauen kçnnte, und es hieße auch, dass diese Wrde zu haben zuallererst hieße, ihr vor Gott und in zweiter Linie erst vor den Menschen gerecht zu werden. Ist man aber Gott vorrangig verpflichtet bzw. den Menschen nur im Lichte ihrer Geschçpflichkeit, so ergibt sich stets die Mçglichkeit einer Relativierung der Art, wie sie zu respektieren sind und ob man sie zu respektieren hat.
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Thomas von Aquin: Summa Theologica. Dt.-lat., bers. v. Dominikanern und Benediktinern. Bd. 15 (II-II, 1-16). Heidelberg et al. 1950.
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Mein Beitrag folgt der sehr viel ausfhrlicheren Rekonstruktion der Geschichte der Toleranz seit der Antike, die ich in Toleranz im Konflikt (Forst 2003), Teil I, vorgelegt habe. Dort finden sich weiterfhrende Verweise und Diskussionen.
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Ordnungskrise von Kirche und Reich und die Genese des modernen Staates Das christliche Reich geriet im hohen Mittelalter in eine schwere Krise, die zur Erschtterung der Reichsidee und zur Suche nach alternativen Ordnungsformen fhrte. Mit der Papstrevolution des spten 11. Jahrhunderts begann ein nicht enden wollender, bis in die frhe Neuzeit andauernder Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium, weltlicher und geistlicher Gewalt, der zum Katalysator der Ausdifferenzierung des europischen Staatensystems wurde.1 Das Reformpapsttum des hohen Mittelalters wurde so – wider Willen – zum Geburtshelfer des modernen Staates. Es zerstçrte die berkommene Reichsidee und leitete den Prozess der Trennung von Religion und Politik ein. Durch den Rckzug der Kirche aus dem umfassenden Herrschaftsverband des Reiches verlor die mittelalterliche Ordnungsidee ihre Legitimitt und die neuzeitliche Staatsidee wurde auf den Weg gebracht. Indem die Kirche aus der universalen, die einzelnen Kçnigreiche (Regna) bergreifenden Einheit der Ekklesia ausbrach, verlor das Reich (Imperium) seine Schutzfunktion (defensor ecclesiae) und hçrte auf, Universalmonarchie und integrierende Instanz Europas zu sein. Die kaiserliche Macht und Autoritt begann zu wanken. Die auseinanderstrebenden Territorien verselbstndigten sich, die Entstehung und Konsolidierung von Staaten war eingeleitet. Dass Papst Gregor VII. wusste oder ahnte, welch folgenreiche Entwicklung er in Gang setzte, als er 1075 den Dictatus Papae redigierte und 1076 den Bann ber Heinrich IV. verhngte, darf ausgeschlossen werden. Er zerschlug den mittelalterlichen Kosmos, die religiçs-politische Einheitswelt des orbis christianus. Dies war keineswegs seine Absicht gewesen. Sein Ziel war die Reform der Kirche, die Eindmmung der feudalen und lokalen Einflsse und der mit ihnen verknpften Korruption. Die Reform, die sich zur Revolution steigerte, zielte zunchst nur auf die Beseitigung der Simonie und des Nikolaitismus, des mterschachers und der Priester-Ehe, d. h. der innerkirchlichen Pfrnden- und Vetternwirtschaft. Folge der Zurckdrngung des weltlichen Einflusses auf die inneren Angelegenheiten der Kirche war die Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt und die
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Verselbstndigung der Kirche zu einem eigenstndigen Apparat mit eigener Jurisdiktion. Dadurch wurde die berkommene religiçs-politische Einheit gesprengt und die politische Gewalt aus der geistlichen Bevormundung befreit und auf ihre eigene Bahn gebracht. Die Staatsidee ist Resultat des Scheiterns der Erwartung, dass durch das harmonische Mit- und Gegeneinander von Kaiser und Papst, Imperium und Sacerdotium – als Glieder/Ordines der universalen Ekklesia – die ganze Menschheit zum christlichen Glauben bekehrt, die Welt befriedet und eine „gute“, d. h. gottgefllige Ordnung errichtet werden kçnne.2 Diese Vorstellung zerbrach nicht erst mit der Reformation des 16. Jahrhunderts (vgl. Schmitt 1950, 30, 96 ff.), sondern bereits mit der Papstrevolution. Die Reformation hat nur vollendet, was mit dem Investiturstreit begonnen wurde. Die Enttuschungsverarbeitung auf Seiten der entsakralisierten weltlichen Gewalt und der sich aus religiçsem Dogmatismus emanzipierenden Philosophie und Jurisprudenz bestand im allmhlichen Rckzug auf den Staat als einer aus ihrer Heilsfunktion und ihrer historischen Mission entlassenen Institution, die nun anstelle des heiligen Reiches die Selbsterhaltung der europischen Vçlker sichern und fr Gerechtigkeit sorgen sollte. Ziel dieses Aufsatzes ist die Rekonstruktion dieser Desillusionierung, der abendlndischen Enttuschungserfahrung und -verarbeitung. Im ersten Schritt wird die christliche Reichsidee charakterisiert (1). Sodann werden die Krisensymptome thematisiert, die aus dem Konflikt zwischen Kaiserund Papsttum resultierten bzw. von ihm geschrt wurden (2). Schließlich wird die Lçsung der Konflikte im entstehenden europischen Staatensystem skizziert (3).
1. Die christliche Reichsidee Die christliche Reichsidee war entstanden durch die Rezeption der in der jdischen Tradition (Philo von Alexandrien, Flavius Josephus u. a.) entwickelten Theorie der gçttlichen Monarchie (vgl. Peterson 1935, 85 ff.) und durch Verschmelzung des urchristlichen Denkens mit der altorientalischen Herrschaftstheorie. Letztere hatte ihren Kern in der Legitimation der gottgewollten Monarchie und in der Verknpfung von Herrschaft und Heil, von Dominat und Pastorat. Hatten die ersten Christen noch ein distanziertes und ablehnendes Verhltnis zum imperium Romanum (vgl. Roth 2003, 263 ff.), so verkehrte sich dieses seit der „Konstantinischen Wende“ (313 n. Chr.) in sein Gegenteil. Das Reich wurde nunmehr heilig gesprochen und
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schien der angemessene Rahmen zur Ausbreitung des Christentums zu sein, das schließlich unter den christlichen Kaisern seit Theodosius (379–395) zur alleinigen Religion des Imperiums wurde, whrend die anderen Kulte verboten wurden. Und schon vor Konstantin wurde die Gleichzeitigkeit von Augustus und Christus betont. Von den frhen Apologeten bis zu den spteren Kirchenvtern, von Hippolyt von Rom ber Melito von Sardes und Tertullian bis zu Origenes reicht die Liste derer, die dem Rçmischen Reich heilsgeschichtliche Bedeutung beimaßen. Das große Ziel des Christentums war die Missionierung der Welt. Das Kaisertum sollte die Rolle des defensor ecclesiae bernehmen. Seit Konstantin dem Großen (306–337) und seinem Hoftheologen Eusebios von Caesarea (ca. 260–339) war die Idee einer potentiell die ganze Welt umspannenden, von Kaiser und Papst im harmonischen Miteinander gelenkten Ekklesia zum Paradigma der christlichen Denker geworden. Die Monarchie der Csaren erschien nun als irdisches Abbild der gçttlichen Weltregierung. Der Kaiser galt als Stellvertreter Gottes (vicarius Dei oder Christi) auf Erden und avancierte zum Schutzherrn der universalen Ekklesia. Er agierte als Dominus, der als Pastor seine Herde zum richtigen, d. h. gottgewollten Ziel zu fhren hatte. Imperium und Sacerdotium verschmolzen in der Lehre zu einer untrennbaren Einheit, in der die beiden Funktionen und mter vçllig ungeschieden waren nach „weltlich“ und „geistlich“. Zwar hatte Augustinus anlsslich des Westgoteneinfalls von 410 das christliche Denken aus der Symbiose mit dem Rçmischen Reich wieder gelçst, doch blieb in Byzanz die alte Idee lebendig, die nach der Kaiserkrçnung Karls des Großen auch im Westen ihre Resurrektion erlebte. Das Rçmische Reich wurde nicht lnger als Vorbote oder Ausdruck, sondern nunmehr als Aufhalter (kat-echon) des Antichrist begriffen. Es erschien als Bollwerk gegen den drohenden Untergang und galt als letztes der vier Daniels-Reiche. Dem Traum Nebukadnezars entsprechend, den Daniel ihm zu deuten hatte, wrden dem gldenen babylonischen Reich ein silbernes und diesem zwei eiserne Reiche folgen. Danach endet die Geschichte, der Antichrist tritt auf, Teuerungen und große Plagen, die Pest und andere Seuchen kndigen das jngste Gericht und damit das Ende aller Tage an (vgl. Koch 1980, 182 ff.). Nun war dem babylonischen aber bereits das medische, das griechische und das rçmische Reich gefolgt, so dass mit dem Ende des letzteren zugleich das Ende der Welt drohte. Diese Erwartung bestimmte das christliche Denken im Mittelalter. Man glaubte, im letzten der vier Reiche zu leben und wollte seinen Untergang mit allen Mitteln aufhalten, um das Ende hinauszuzçgern. Auf dem von Eusebios geebneten Weg schritten die spteren Kirchenv-
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ter bei aller Ernchterung fort (Peterson 1935, 93 ff.). Die Vier-ReicheLehre diente als Orientierungsrahmen und wurde zum allgemeinen Paradigma verfestigt, das die knftigen Reichsspekulationen im christlichen Mittelalter und selbst noch in der Neuzeit inspirieren und lenken sollte (vgl. Koch 1997; Lbbe-Wolff 1984). Das Rçmische Reich galt nicht mehr als gottwidrige Macht, die vor dem Anbruch des Gottesreiches vernichtet werden musste, sondern als jene Heilsinstanz, die eine Galgenfrist gewhren und einen Aufschub des jngsten Gerichts ermçglichen konnte. Es erschien als endgltig letztes Reich, das dem Ansturm des Bçsen zu trotzen hatte, und wurde als hemmende Instanz betrachtet, die allein noch das Ende der Zeiten und die Heraufkunft des Antichrist aufzuhalten vermochte, um Zeit fr die weitere Missionierung zu verschaffen. Das sptere Karolingerreich und seine Nachfolger galten als Fortsetzer des Rçmischen Reiches. Seit Pippin dem Jngeren (741–768) wurden die frnkischen Kçnige von der Kirche gesalbt, um den sakralen Charakter des Kçnigtums zu betonen. Als Karl der Große (768–814) schließlich das Langobardenreich erobert und die Sachsen unterworfen hatte, als er seinen Machtbereich gewaltig ausgedehnt und dafr an Weihnachten 800 von Papst Leo III. (795–816) die Kaiserkrone erhalten hatte, schien das Ziel der katholischen Weltkirche ein gutes Stck nher gerckt. Um die Tatsache erklren und rechtfertigen zu kçnnen, dass die Macht auf die Franken (und ihre Nachfolger) bergegangen war, erfand man die Idee der translatio imperii, d. h. der bertragung des Reiches von den Rçmern auf die Franken. Durch die Salbung Karls des Großen durch Leo III. war demnach das Imperium auf ihn bergegangen. Diese Idee diente den spteren Ppsten im Heiligen Rçmischen Reich zur Legitimation ihres Anspruchs auf Entscheidung der Kçnigswahl.3 Zwar standen dem christlich-frnkischen Reich mit Byzanz und der arabisch-islamischen Welt zwei fremde Kulturkreise und feindliche Mchte gegenber, doch war das westliche Imperium wiedererstanden und konnte nun den Anspruch erheben, aufgrund der translatio imperii der wahre Fortsetzer des Rçmischen, d. h. des vierten Daniel-Reiches zu sein. Das Verhltnis von Imperium und Sacerdotium sollte nach den Regelungen geordnet werden, die Papst Gelasius I. (492–496) am Ende des 5. Jahrhunderts mit der Zwei-Schwerter-Lehre gefunden hatte. Ihr zufolge steht das Sacerdotium in spiritualibus hçher als das Regnum, whrend in temporalibus das Regnum vom Sacerdotium unabhngig und unmittelbar von Gott ist. Die Kirche sollte also ihre eigenen Angelegenheiten bestimmen, whrend das Reich die weltlichen Dinge regeln und dabei unabhngig sein sollte von der Kirche.4 Gegen diesen Grundsatz verstießen die Machthaber al-
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lerdings immer wieder. Nicht nur die knftigen Ppste, sondern auch die Kaiser beanspruchten die Suprematie. Das Frankenreich wurde 814 aufgrund des geltenden Gebltsrechts unter die Sçhne Karls geteilt, die nach den Wnschen ihres Vaters seine Einheit wahren sollten, statt dessen aber partikulare Herrschaftsinteressen verfolgten. Die Reichsidee wurde deshalb zur Fiktion. Erst durch die Krçnung Ottos des Großen (936–973) erfuhr das Reich, das seit langem darniederlag, 962 eine Wiedergeburt. Zwar entzog sich ganz Westeuropa der Herrschaft (potestas) des deutschen Kaisers (vgl. Holtzmann 1939, 252), doch blieb der Weltherrschaftsgedanke lebendig (vgl. Schramm 1929). Zwar konnte Otto den anderen Kçnigen keine Befehle erteilen, doch stellte er das Ansehen und die Wrde (auctoritas) des Kaisertums wieder her. Zu seiner wichtigsten Sttze wurde die neuartige, von ihm selbst geschaffene und von seinen Nachfolgern ausgebaute Reichskirche (vgl. Santifaller1964). Der Kaiser hielt beide Schwerter in seinen Hnden und vereinigte die weltliche und geistliche Amtsgewalt in seiner Person. Er setzte nach Belieben Bischçfe ein, von denen er Loyalitt erwartete, verlieh ihnen Grafenrechte und schenkte ihnen Grundbesitz. Er rumte den Kirchenfhrern Privilegien ein, zog sie zu Verwaltungsgeschften in den Stammesherzogtmern heran und forcierte so den innerkirchlichen Feudalisierungsprozess. Die „Verweltlichung“ des Klerus war damit programmiert. Ottos Nachfolger schritten auf den von ihm eingeschlagenen Wegen fort und intensivierten das Reichskirchensystem. Die Geistlichen dankten ihnen ihre neue Stellung, indem sie die monarchische Gewalt als gottgewollt legitimierten und in ihrem Kampf gegen ihre aristokratischen Widersacher untersttzten. Gegen die Verfilzung von geistlicher und weltlicher Sphre, gegen Korruption und Nepotismus wandten sich seit dem 10. Jahrhundert neue Armuts- und Protestbewegungen, die den angehuften Kirchenbesitz und die kirchliche Machtentfaltung anprangerten. Fhrend hierbei waren die Reformer aus dem Kloster in Cluny, die sich bereits im 10. Jahrhundert gegen die verderblichen Folgen der „Skularisierung“ und „Instrumentalisierung“ der Religion fr çkonomische Zwecke gewandt hatten und nunmehr mit Gregor VII. den Schutzherrn der Ekklesia selbst attackierten. Sie wollten zwar das Reich nicht liquidieren, sondern stabilisieren, trugen aber doch zu seinem Untergang bei. Am Ende des lange whrenden Kampfes stand das europische Staatensystem, das sich aus der kirchlichen Bevormundung emanzipierte, alle Gewalt in Hnden von Monarchen und/oder Parlamenten konzentrierte und sich mit Hilfe von Brokratien und stehenden Heeren institutionell konsolidierte.
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2. Der Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium Analytisch lassen sich zwei zentrale Konfliktherde unterscheiden, die zum Zerfall der Reichseinheit und zum Verblassen der christlichen Reichsidee fhrten: 1. die Auseinandersetzung zwischen Imperium und Sacerdotium, Kaiser und Papst; 2. der Kampf der beiden Spitzen der Zentralgewalt mit den anderen Krften und Mchten in Reich, Kirche und Territorien. Zum Streit zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt gesellte sich der Kampf zwischen Kaisertum, Kçnigen, Frsten, Stnden und Stdten sowie die innerkirchliche Spannung zwischen Papsttum und Episkopat, kirchlicher Zentralgewalt und religiçsen Gemeinden, Bistmern, Klçstern, Reformorden, Ketzern usw. um die konkreten Organisationsformen der Kirche. Der Kaiser sah sich seit dem hohen Mittelalter Kçnigen und Frsten konfrontiert, die keinen Hçheren in weltlichen Dingen mehr anerkennen wollten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und sich selbst als oberste Gesetzgeber und Richter ihrer Kçnigreiche oder Frstentmer begriffen (rex in regno suo imperator est).5 Hinzu kam das Brgertum der aufstrebenden Stdte, das in die laufenden Auseinandersetzungen hineingerissen wurde, fr Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kmpfte und sich gegen die Willkr der aristokratischen Mchte, aber auch gegen einzelne Monarchen wehrte. Der Papst hingegen hatte sich nicht nur mit dem Kaisertum, sondern auch mit dem Reichsepiskopat und den Landeskirchen auseinanderzusetzen, die um ihre Pfrnden frchteten und selbst ber ihre Angelegenheiten entscheiden wollten. Die einzelnen Konflikte lassen sich nicht suberlich voneinander trennen. Sie berlagerten sich und schaukelten sich gegenseitig hoch. Sie kreisten letztlich um die Frage: Universalismus oder Partikularismus, Zentralismus oder Territorialismus sowie um die Entscheidung, wer im einen oder anderen Fall Trger der hçchsten Gewalt sein und wie sich das Verhltnis der unterschiedlichen Instanzen gestalten sollte. Idealtypisch waren knftig vier Alternativen der Herrschaftsorganisation denkbar: 1. eine vom Kaiser gefhrte, von den Kçnigen und Frsten untersttzte Universalmonarchie; 2. die spirituelle Einheit unabhngiger Monarchien unter ppstlicher Leitung, wie sie von Innozenz III. (1198–1216) erstrebt wurde; 3. die gnzliche Unabhngigkeit und Selbstndigkeit der westlichen Monarchien und der Frsten, die in einigen Lndern gefordert und schließlich am Hof Philipps IV. des Schçnen von Frankreich (1285–1314) begrndet und praktiziert wurde; 4. die Autonomie (und Autokephalie) der Stdte und Stdtebnde, die keinen Hçheren ber sich anerkennen. Alle vier Ideenkreise fanden ihre Verfechter, die miteinander rivalisierten und sich gegenseitig
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zu bertrumpfen suchten, die aber in der realgeschichtlichen Entwicklung zu Kompromissen gençtigt wurden. Ergebnis dieser endlosen Kmpfe, die sich bis weit in die Frhe Neuzeit hineinzogen, war das europische Staatensystem, das 1648 im Westflischen Frieden vertraglich fixiert wurde. Zum Auftakt und entscheidenden Antrieb der ganzen Entwicklung wurde das Aufbegehren der Ppste gegen die deutschen Kçnige und Kaiser im Investiturstreit.6 Der Kampf der Reformer richtete sich zunchst nicht gegen das Kaisertum und das Reich, sondern gegen das ottonisch-salische Reichskirchensystem. Er zielte auf die Zurckdrngung der feudalen und lokalen Einflsse und auf die Beseitigung der Simonie und des Nikolaitismus. Es ging um die Freiheit der Kirche. Erstrebt wurde kein Vorrang des Sacerdotium gegenber dem Imperium, sondern nur die Entflechtung von geistlichen mtern und weltlicher Macht. Im Verlauf des Konflikts verhrteten sich jedoch die Fronten. Der Kampf kulminierte schließlich doch in der Forderung nach Suprematie, nach berordnung der geistlichen ber die weltliche Gewalt. Der alte Hierokratiegedanke erlebte eine Renaissance und wurde zur Idee der papalistischen Weltherrschaft gesteigert. Bereits Gregor VII. (1073–1085) postulierte im Dictatus Papae (1075) das Recht des Papstes, den Kaiser abzusetzen und den Glubigen von dem einem „Ungerechten“ gemachten Treueid zu entbinden. Damit war als Ziel die plenitudo potestatis formuliert. Das Recht, den Kaiser abzusetzen, hatte sich bis dahin noch kein Papst angemaßt. Und mit dem Recht, den Glubigen vom Treueid zu entbinden, war die Ordnung des Feudalismus als solche in Frage gestellt. Diese basierte auf Herrschaftsvertrgen, in denen sich Herren und Knechte gegenseitig Treue schworen. Die Herren verpflichteten sich zum Schutz ihrer Untertanen, whrend diese im Gegenzug Gehorsam versprachen. Htte der Papst jedoch Glubige nach Belieben vom Treueid entbinden kçnnen, wre seine Macht unbegrenzt gewesen. Er wre de facto die oberste Herrschaftsinstanz im Abendland geworden. Aufgrund dieser geforderten Kompetenzen verhngte Gregor VII. 1076 den Bann ber den deutschen Kçnig, der sich zum Bußgang nach Canossa gençtigt sah, weil seine Anhnger durch den Bannspruch aufgerttelt und hinsichtlich seiner Rechtmßigkeit gespalten waren. Damit waren die Konflikte allerdings nicht gelçst. Sie schwelten weiter. 1080 verhngte Gregor VII. einen zweiten Bann ber den Kçnig, der aber im Gegensatz zum ersten ohne Folgen blieb, da seine Rechtmßigkeit von weiten Teilen des Reichsepiskopats bezweifelt wurde. Heinrich IV. nominierte im Gegenzug Wibert von Ravenna zum Gegenpapst, der 1084 gewhlt wurde und sich Clemens III. (1084–1100) nannte. Im selben Jahr erfolgte die Kaiserkrçnung, woraufhin Gregor VII. die Normannen zu Hil-
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fe rief, die ihn untersttzten, indem sie Rom in Schutt und Asche legten. Da die stadtrçmische Bevçlkerung darber empçrt war, musste der Papst nach Salerno ins Exil fliehen, wo er 1085 starb. Der Konflikt zwischen beiden Machtsphren wurde 1122 durch Kaiser Heinrich V. und Papst Calixt II. im Wormser Konkordat vorlufig beigelegt, indem erstmals in der Geschichte des Okzidents eine offizielle Trennung von Sacerdotium und Imperium oder Regnum festgelegt wurde. Die weltlichen Herrscher sollten sich fortan aus kirchlichen Angelegenheiten heraushalten und weder in Glaubensfragen noch in Organisationsfragen der Kirche mitreden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sich die geistlichen Oberhupter in der Folge aus den weltlichen Dingen heraushielten, sie erstrebten im Gegenteil auch knftig die Suprematie und somit die Letztentscheidung in temporalibus. Die von Gregor VII. formulierte Position blieb die dominante Haltung der Ppste von Alexander III. (1159–1181) ber Innozenz III. (1198–1216), Gregor IX. (1227–1241) und Innozenz IV. (1243–1254) bis hin zu Bonifaz VIII. (1294–1303), der den Hierokratiegedanken in der Bulle Unam Sanctam (1302) radikalisierte.7 Der Streit zog sich bis in die Frhe Neuzeit hinein und fand seine Lçsung erst im Staat, der sich von der Kirche lçste und die Trennung von Politik und Religion institutionalisierte. Einen weiteren Hçhepunkt und eine dramatische Zuspitzung erreichte der Konflikt zur Zeit der Staufer, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. (1212–1250) und den Ppsten Innozenz III., Gregor IX. und Innozenz IV. Whrend Friedrich I. Barbarossa und sein Sohn Heinrich VI. den frheren Ppsten Paroli boten, hinterließ der plçtzliche Tod Heinrichs VI. am 28. September 1197 ein Machtvakuum, das die alten Rivalen der Staufer zu nutzen suchten. Papsttum, Kçnige, Frsten und Stdte pochten auf ihre Eigenrechte. Die Vakanz des Throns rief die Welfen auf den Plan und erçffnete ein neues Kapitel im staufisch-welfischen Streit um die Fhrungsrolle im Reich. Da Heinrichs Sohn Roger-Friedrich gerade drei Jahre alt war, bestimmte seine Mutter Konstanze, die im darauf folgenden Jahr starb, auf dem Sterbebett Papst Innozenz III. zum Lehnsherrn ber Sizilien und zum Vormund des Knaben. Dieser nutzte die Gunst der Stunde und baute seine eigene Machtsphre systematisch aus. Er reklamierte den Titel des vicarius Christi fr sich und beanspruchte – nach dem Vorbild Melchisedechs, des alttestamentarischen Priesterkçnigs von Salem – die oberste Befehlsgewalt (plenitudo potestatis) innerhalb der Ekklesia sowie das Recht der Eignungsprfung fr das von den deutschen Frsten gewhlte weltliche Oberhaupt. Zugleich billigte er dem franzçsischen Kçnig Philipp II. Augustus (1179/1180–1223) in der Bulle Per venerabilem
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(1202) das Recht zu, keinen Hçheren in weltlichen Dingen anzuerkennen. Dieser konnte folglich fr sich in Anspruch nehmen, selbst Princeps in seinem Reich und nur dem Papst in geistlichen Angelegenheiten unterworfen und rechenschaftspflichtig zu sein – ein Privileg, das spter auch von anderen westlichen Monarchen fr sich reklamiert werden konnte. Schon um die Jahreswende 1200/1201 erklrte Innozenz III. apodiktisch, es sei sein Recht und seine Pflicht, den von den deutschen Frsten gewhlten Kçnig auf seine Eignung fr das Amt des Kaisers zu prfen. Damit war eine neue Qualitt im ppstlichen Anspruch auf Suprematie erreicht. Noch nie zuvor hatte ein Papst die Wahl des deutschen Kçnigs angefochten und sich zum obersten Richter aufgeschwungen, der den Gewhlten einer Eignungsprfung unterzog. Innozenz steigerte seine Ansprche im Umgang mit den anderen Herrschaftstrgern, die durch die innerdeutschen Querelen ermutigt wurden, ihre schon frher beanspruchte Selbstndigkeit und Unabhngigkeit zu behaupten. Im Lehnstreit zwischen Johann Ohneland von England (1199–1216) und Philipp II. Augustus von Frankreich (1179/1180–1223) um die Besitzungen des Hauses Anjou reklamierte er aufgrund seiner geistlichen Jurisdiktionsgewalt ber alle Christen auch Gerichtskompetenz in weltlichen Streitfllen. Gegen den Willen Johanns ernannte Innozenz 1206 Stephan Langton zum Erzbischof von Canterbury und belegte den englischen Kçnig, der sich widersetzte, mit dem Kirchenbann. Er zwang ihn 1209 durch ein Absetzungsurteil gnzlich in die Knie und nçtigte ihn, sein Land als Lehen der ppstlichen Protektion zu unterstellen. Als Friedrich II. unter der ppstlichen Obhut herangewachsen und mndig geworden war, untersttzte Innozenz seine Wahl zum deutschen Kçnig und zum Kçnig Siziliens – unter der Voraussetzung, dass Sizilien nicht dem Reich zugeschlagen und die ppstlichen Machtbezirke nicht angetastet werden. Auch der neue Kçnig entwickelte sich aber zum entschiedenen Widersacher des Papstes. Durch seine Kaiserkrçnung (1220) wurde die alte Hoffnung auf die Universalmonarchie noch einmal genhrt. Er selbst verhalf ihr zu neuer Kraft und verschaffte ihr Ausdruck in seiner sizilianischen Gesetzgebung seit 1231, in der er sich zum neuen Messias, zum Stellvertreter und Abbild Gottes auf Erden, zum Ursprung und zur Quelle des gçttlichen wie menschlichen Rechts sowie zum Propheten und Priester der Gçttin Justitia stilisierte (vgl. Kantorowicz 1957, 115 ff.). Er wollte nicht nur oberster Richter, sondern zugleich Gesetzgeber sein, der den Erdkreis befriedet und die Gerechtigkeit verwirklicht, den Antichrist bezwingt und das goldene Zeitalter bereitet. Das Papsttum blieb jedoch ein beharrlicher Antipode des Kaisers. Den „Endkampf“ zwischen Imperium und Sacerdoti-
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um hatte Friedrich mit Gregor IX., der ihn zweimal exkommunizierte, sowie mit Innozenz IV. auszufechten, der ihn auf dem Ersten Konzil von Lyon (1245) wegen Meineids, Beleidigung der Kirche und Hresie fr abgesetzt erklrte und zur Wahl eines neuen Kçnigs aufrief. Der Tod Friedrichs II. im Jahr 1250 leitete den Untergang der Hohenstaufen und damit des mittelalterlichen Kaisertums ein. Mit ihm starb der letzte „echte“ Kaiser, doch wurde nur das Kaisertum, nicht die Kaiseridee mit ihm begraben. Das so genannte Interregnum begann. Lange Zeit wurde kein Kaiser mehr gekrçnt. Die spteren „kleinen Kaiser“ mussten sich mit geringerer Reputation bescheiden. Ihre Autoritt reichte kaum mehr ber ihre Stammlande hinaus. An die Stelle der alten Reichspolitik trat die kçnigliche Hausmachtpolitik. Schon das Kaisertum Rudolfs von Habsburg (1273–1291) diente allein der Symbolisierung eines Reiches, das „nur noch Sehnsucht und Mythos war“ (Romano/Tenenti 1967, 44). Das Papsttum war alleine auf dem Feld brig geblieben. Es wandte sich dem franzçsischen Kçnig zu, der zum mchtigsten Herrscher im Abendland geworden war. Den Hçhepunkt der ppstlichen Machtanmaßung erreichte Papst Bonifaz VIII. mit der Bulle Unam Sanctam (1302). Darin wird die Suprematie der spirituellen Gewalt unumwunden postuliert. Beide Schwerter sollen in der Hand der Kirche liegen, wobei das geistliche vom Papst, das weltliche aber von den Kçnigen und Kriegern gefhrt werden sollte, jedoch unter Anleitung und unter der Oberaufsicht der Kirche. Bonifaz hat den Anspruch allerdings berdehnt. Er steigerte den hierokratischen Weltherrschaftsanspruch des Apostolischen Stuhles in einer bislang unbekannten Weise und drohte dem franzçsischen Kçnig Philipp dem Schçnen mit Exkommunikation, weshalb dessen Siegelbewahrer Guillaume de Nogaret den Papst am 7. September 1303 zu Anagni gefangensetzte, um ihn durch einen Ketzerprozess des Amtes zu entheben. Bonifaz VIII. starb an den Folgen dieses Gewaltaktes. So war die Bulle Unam Sanctam zugleich der große Wendepunkt. Der Kçnig von Frankreich hatte gewonnen. Er konnte in der Folge das Papsttum dominieren und 1309 zum Umzug nach Avignon zwingen. Es begann die „babylonische Gefangenschaft“ der Kirche in Avignon (1309–1377), die bis zum großen „abendlndischen Schisma“ (1378–1409) whrte. Der erwachende Etatismus trug letztlich den Sieg ber den hierokratischen Papalismus und den imperialen Csaropapismus davon. Nach dem Ende der Auseinandersetzungen war die Pluralitt der westlichen Monarchien auch im Bewusstsein der Juristen und Philosophen fest verankert (vgl. Kmpf 1935; Wyduckel 1979). Die Christianitas bildete nur noch die
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Summe divergierender, mit- und gegeneinander agierender Dynastien und Vçlkerschaften, die zwar noch den Glauben an den Gekreuzigten und einige aus ihm deduzierte ethische Maximen teilten, ansonsten aber vor allem widerstreitende Interessen verfolgten. Der franzçsische Staat hatte sich endgltig aus der Klammer von Imperium und Sacerdotium befreit (Kienast 1943). Das Kçnigtum hatte den Klerus mit seiner ppstlichen Spitze unterworfen und den weltlichen Adel und die Stdte in die Verwaltung eingebunden. Das Politische gewann eine neue Qualitt, die Politische Philosophie erlebte einen gewaltigen Aufschwung und befreite sich aus der Gngelung durch die Theologie. Transpersonale Staatsvorstellungen entstanden, das Amt des Regenten wurde bedeutsamer als die Person des Herrschers (Kantorowicz 1957). Wichtigstes Resultat der hoch- und sptmittelalterlichen Auseinandersetzungen war aber die juristische Verfestigung der Amtskirche zu einer durch das kanonische Recht getragenen monarchischen Anstalt, die ihrerseits die ihr nachfolgende Verrechtlichung der weltlichen Gewalt animierte. Regnum und Sacerdotium verwandelten sich in juristisch verfasste Kçrperschaften, die sich – wie schon in frheren Zeiten (Schramm 1947) – gegenseitig imitierten.
3. Die Entstehung des europischen Staatensystems Durch ihr energisches Auftreten ermunterten die Ppste die weltlichen Herrscher, sich als souverne Mchte zu verstehen und sich dem Einfluss nicht nur des Kaisertums, sondern schließlich auch des Papsttums zu entziehen. Sowohl die westlichen Monarchien als auch die Landesfrsten und die aufstrebenden Stdte nutzten den Konflikt zwischen Kaiser- und Papsttum zum Ausbau und zur Stabilisierung ihrer eigenen Macht. Zwar wehrten sich die Anhnger des Kaisertums und die Verfechter der ppstlichen Weltherrschaft noch lange gegen diese Entwicklung. Das letzte Aufbumen erfolgte in der katholischen Gegenrevolution des 19. Jahrhunderts, als sich franzçsische und spanische Katholiken (de Maistre, de Bonald, Donoso Cort s) bemhten, die Errungenschaften der Franzçsischen Revolution rckgngig zu machen und doch noch eine ppstliche Weltherrschaft zu errichten. Die 1848er Revolution offenbarte jedoch, dass dies nicht mehr mçglich war. Seit dem spten Mittelalter entstand der skulare, nach innen wie außen souverne, aus stndischer Herrschaft und geistlicher Bevormundung emanzipierte Staat, der auf einem fest umgrenzten Territorium das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ bzw. der „Gewaltsamkeit“ (Weber 1972,
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29, 516 ff.) innehat, mit Hilfe von Polizei und Verwaltung den innerstaatlichen Frieden sichert und seine Beziehungen zu anderen Staaten in Krieg und Frieden rechtlich regelt, ohne eine bergeordnete Entscheidungs- und Befehlsinstanz zu akzeptieren. Resultat der ganzen Entwicklung war folglich die Freisetzung der Politik. Sie geriet in der Folge auf ihre eigene Bahn. Gleichwohl blieb diese Option noch lange Zeit umstritten. Die Staatswerdung der europischen Gesellschaften war nur eine von mehreren Alternativen. Bedeutende Denker hielten noch lange Zeit am Gedanken einer Universalmonarchie fest, die unter der Regie des Kaisers (Dante Alighieri) oder aber des Papstes (Aegidius Romanus) die alte Reichsidee verwirklichen sollte (vgl. Bielefeldt 1987). Andere (Postglossatoren, Bartolus von Sassoferrato, Florentiner Brgerhumanismus) votierten fr die Autonomie der Stdte und Kommunen (vgl. Dilcher 1993; Walther 1976, 115 ff., 176 ff.). Dennoch setzte sich letztlich die Form „Staat“ politisch durch. Folge dieser Entwicklung war die Entzauberung der politischen Welt als Moment der allgemeinen „Rationalisierung der Welt“ (Max Weber), die in der Neuzeit jedoch zahlreiche Versuche einer Wiederverzauberung provozierte. Die Verselbstndigung der westlichen Monarchien gegenber Kaiserund Papsttum wurde begleitet bzw. beschleunigt durch die Konzentration und Zentralisation der Macht in ihrem Inneren.8 Die Kçnige institutionalisierten Brokratien, die sie in die Lage versetzten, die Gesamtheit ihrer Untertanen zu kontrollieren und fiskalisch zu schikanieren. Sie hatten sich dabei allerdings gegen den Hochadel ihrer Lnder zu behaupten, der seinen eigenen Machtbereich auf Kosten der Krone zu sichern und auszudehnen gedachte. Der unterschiedliche Verlauf und Ausgang dieses Kampfes entschied ber die konkrete Form des werdenden Staates, d. h. darber, ob absolute Monarchien oder von den Baronen dominierte Oligarchien oder ob „Mischverfassungen“ („king in parliament“) entstanden. Der erste Schritt und entscheidende Durchbruch in Richtung Staatlichkeit und absoluter Monarchie gelang im normannisch-staufischen Sizilien, das deshalb Vorbildcharakter erlangte und als „Modellstaat“ apostrophiert werden konnte (vgl. Marongi 1963). Vor allem Friedrich II., der sich als Kaiser (1220–1250) um die Verwirklichung eines christlichen Universalreiches bemhte und dessen Auflçsung noch einmal hinauszuzçgern suchte, schuf in seinem Kçnigreich Sizilien den ersten wirklich autonomen Staat, indem er den geistlichen und weltlichen Adel unterwarf und die von seinen normannischen Vorfahren begonnene Verwaltungszentralisation fortsetzte. Er konzentrierte die Macht in seinen Hnden und installierte einen straff organisierten, mit geschulten Juristen besetzten Beamtenapparat, der von seinen engsten Vertrauten kontrolliert und geleitet wurde. Whrend er als
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Kaiser im Reich das Nebeneinander und die Gleichberechtigung von Imperium und Sacerdotium betonte, praktizierte er in seinem Kçnigreich Sizilien das Gegenteil. Grundlegende Bedeutung fr die Genealogie des Staates und die Emanzipation des Politikdenkens erlangte die im spten 11. Jahrhundert einsetzende Rezeption des rçmischen Rechts und die in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnende Aristoteles-Rezeption. Mit Hilfe des rçmischen Rechts ließ sich der Anstaltscharakter der Kirche wie des werdenden Staates begrnden (vgl. Berman 1983, 199 ff.). Es ermçglichte die Systematisierung und Ausdifferenzierung der einzelnen Rechtssphren – des Kçnigs-, Stadt-, Handels-, Guts-, Feudal- und Kirchenrechts (473 ff.) – und gab den Kçnigen und Frsten wichtige Handreichungen bei der Stabilisierung ihrer Herrschaft gegen die alten universalen Mchte und die intermediren Gewalten, d. h. gegen Kaiser- und Papsttum einerseits, gegen die Stnde andererseits. Der Aristotelismus vermittelte darber hinaus ein neues, weltimmanentes Selbstverstndnis. Die natrliche Ordnung erlangte Eigenbedeutung innerhalb der Gnadenordnung. Die menschlichen Gemeinschaften – von der Familie ber die Nachbarschaft, das Dorf und die Stadt bis hin zur Provinz und zum Kçnigreich – wurden nun – neben der Kirche – als „natrliche“ Einheiten eigenen Rechts konzipiert. Die Rechtsgrnde der weltlichen Herrschaft wurden seither nicht nur bei Gott, sondern auch bei den Beherrschten gesucht, ihre Legitimation im Wohl und Willen der Brgerschaft gefunden. Die Herrscher reprsentierten nicht mehr nur das Gçttliche auf Erden, sondern auch ihre Untertanen. Die christlichen Aristoteliker begrndeten ihre Optionen mit rationalen, d. h. aristotelischen Mitteln sowie mit Bibelzitaten. Ihre politischen Vorstellungen gingen indessen weit auseinander. Whrend Thomas von Aquin die spirituelle Einheit unabhngiger Monarchien unter der Leitung des Papstes begrndete, folglich den Vorrang der geistlichen Gewalt und die Oberherrschaft des Papstes forderte, kmpfte Dante Alighieri fr die Wiederherstellung des Kaisertums und fr ein weltumspannendes christliches Reich, in dem die geistliche Gewalt der weltlichen untergeordnet ist. Jean Quidort von Paris begrndete am Hof Philipps des Schçnen von Frankreich die Eigenbedeutung der weltlichen Gewalt und ihre Unabhngigkeit von der geistlichen. Marsilius von Padua schließlich favorisierte selbstndige Staaten oder Stdte und gelangte dabei zur Idee der Demokratie. Wie Dante forderte auch er die Unterordnung der geistlichen unter die weltliche Gewalt. Fr ihn ist das Streben der Geistlichkeit nach Suprematie der Hauptgrund fr den Unfrieden unter den Menschen. Sollen Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen obwalten, so ist die Herrschaft des Ge-
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setzes nçtig, das vom Volk (populus seu civium universitas) bzw. seinem bedeutenderen Teil (pars valencior) erlassen wird und auch die weltlichen Machthaber und die Inhaber der geistlichen mter bindet. Marsilius wurde so zum Vordenker des neuzeitlichen Staates, indem er die Politik aus dem Bann der Religion lçste, die Regenten auf das Gemeinwohl verpflichtete und die Legitimitt der Herrschaft in ihrer Rckbindung an den Willen der Brgerschaft suchte. Auf dem von ihm geebneten Weg konnten die spteren Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Locke und Rousseau bis hin zu Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des gçttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermçglichung eines eintrchtigen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papst beherrschte Anstaltskirche nçtig. Es gengt, wenn sich die Stdte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu grçßeren Reichen oder zu Staaten zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt. Der christliche Glaube erlangte in der Zeit der Reformation und Gegenreformation noch einmal zentrale Bedeutung fr die Staatenbildung. Anstatt die Separation beider Sphren zu forcieren, wurde die von Luther, Zwingli und Calvin ausgelçste Bewegung zunchst zum Anlass einer neuen Amalgamierung und zum Ferment und Katalysator der knftigen Politik, der Freund-Feind-Unterscheidung und der Gemeinschaftsbildung. Infolge der Kirchenspaltung wurde Europa im 16. und 17. Jahrhundert durch konfessionelle Brgerkriege erschttert, die in blutigen Wellen ber den Kontinent hinwegschwappten und ungeheure Opfer forderten. Sie fanden ihren traurigen Hçhe- und Kulminationspunkt im Dreißigjhrigen Krieg, der noch „kein Staatenkrieg, sondern ein Staatsbildungskrieg“ (Burkhardt 1992, 26) war. Durch ihn gewann das System der europischen Staaten seine Konturen und seine endgltige Gestalt. Die sich formierenden und differenzierenden Landeskirchen wurden von den Mchtigen Europas im Sinne Machiavellis zur Stabilisierung ihrer Herrschaft und zur Legitimation ihrer dynastischen Interessen instrumentalisiert. Das jeweilige Glaubensbekenntnis diente zur Rechtfertigung der Machtentfaltung. In den Wirren der konfessionellen Brgerkriege begrndete Thomas Hobbes im Leviathan (1651) die klassische Staatstheorie, die zum Ausgangspunkt aller knftigen Staatstheorien wurde und das Politikdenken bis heute beeinflusst. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Staatswerdung der europischen Gesellschaft erfolgte in der Zeit vom 11. bis zum 17. Jahrhundert als Ausgrenzung der einzelnen Territorien aus dem bergeordneten Bezugssystem des mittelalterlichen Reiches (sacrum imperium), als Kon-
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zentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt in Hnden von absoluten Monarchen und/oder Parlamenten, die alle Machtmittel monopolisierten und so die Freisetzung der unpolitischen brgerlichen Gesellschaft durch Entmachtung der alten Herrschaftstrger bewirkten. Der Staat entstand folglich als ein System von Staaten, als Verbund institutionell stabilisierter Herrschafts- und Interaktionszusammenhnge, die sich als gleichberechtigte Partner anerkannten, ohne eine bergeordnete Entscheidungsinstanz zu akzeptieren. Seine Besonderheit liegt in der Befreiung der weltlichen Herrschaft aus der geistlich-religiçsen Bevormundung, in der Verdichtung der territorialen Herrschaftsbeziehungen und in der Abstraktion der Herrschaftsbefugnisse von ihren Trgern („mter“- oder „Anstaltsstaat“).
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imperii“ und „imitatio sacerdotii“. Eine geschichtliche Skizze zur Beleuchtung des „Dictatus papae“ Gregors VII. In: ders., Kaiser, Kçnige und Ppste. Bd. IV/1, Stuttgart 1970, 57–102 (zuerst 1947). Struve, Tilman: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter. Stuttgart 1978. – : Regnum und Sacerdotium. In: Iring Fetscher/Herfried Mnkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, Mnchen/Zrich 1993, 189–242. Tierney, Brian: Origins of Papal Infallibility, 1150–1350. Leiden 1972. Tilly, Charles (Hg.): The Formation of the National States in Western Europe. Princeton 1975. Ullmann, Walter: Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter. Graz/ Wien/Kçln 1960. Walther, Helmut G.: Imperiales Kçnigtum, Konziliarismus und Volkssouvernitt. Mnchen 1976. Watt, John A.: The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century. London 1965. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tbingen 51972. Wyduckel, Dieter: Princeps legibus solutus. Berlin 1979.
1 Zum Begriff „Papstrevolution“ siehe Rosenstock-Huessy 1949 und Berman 1983, 85 ff. Vgl. zum folgenden auch: Berman 1983, 144 ff.; Bçckenfçrde 1967; Mayer 1959; Miethke 1991; Roth 2002; 2003, 383 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen). 2 Zum mittelalterlichen Ordnungsdenken vgl. Bçckenfçrde 2002, 214 ff.; Bosl 1993a; 1993b; Carlyle/Carlyle 1962; Dempf 1929; Kantorowicz 1957; Kerner 1982; Miethke 1991; Ottmann 2004; Struve 1978; Walther 1976. 3 Zur Entwicklung der Translationsidee und ihrer Verknpfung mit der Vier-Reiche-Lehre, die beide unabhngig voneinander entstanden, vgl. Goez 1958, 4 ff., 366 ff. 4 Vgl. hierzu Borst 1988, 99, 102; Bosl 1993a, 181 ff.; 1993b, 246 ff.; Fuhrmann 1987, 121 ff.; Knabe 1930; Miethke 1991, 49; Struve 1993. 5 Zur Entstehung und Entwicklung dieser Formeln vgl. Calasso 1954; von der Heydte 1952, 36 f., 59 ff., 82 ff.; Kmpf 1935, 23 ff.; Post 1964, 453 ff.; Walther 1976, 65 ff. 6 Die Literatur dazu ist nicht mehr zu berblicken. Vgl. die Zusammenstellung der wichtigsten Schriften durch Laudage 1989, 93–118. 7 Vgl. hierzu Hauck 1905; Miethke 1978; ders./Bhler 1988; Tierney 1972; Ullmann 1960; Walther 1976; Watt 1965. 8 Vgl. Engel 1971; Hassinger 1959; Mitteis 1940; Reinhard 1999; Tilly 1975.
William J. Hoye
Neuenglischer Puritanismus als Quelle moderner Demokratie In Nordamerika war der neuenglische Puritanismus eine Hauptquelle der frhen Demokratie. Noch im 19. Jahrhundert vermochte Alexis de Tocqueville diesen Grundzug der amerikanischen Demokratie deutlich zu erkennen: „In den englischen Kolonien des Nordens, die meist unter dem Namen der Staaten von Neuengland bekannt sind“, schreibt er, „formten sich die zwei oder drei Hauptgedanken, die heute die Grundlage der Gesellschaftstheorie der Vereinigten Staaten bilden“ (Tocqueville 1959, 37). Er erlutert, wie die Neuenglnder christliche Religion und politische Freiheit miteinander kombinierten: „Das Puritanertum war nicht bloß eine religiçse berzeugung; in verschiedener Hinsicht war es mit den unbedingtesten demokratischen und republikanischen Lehren verbunden. Daraus waren ihm seine gefhrlichsten Gegner erwachsen. Die Puritaner, die durch die Regierung ihres Mutterlandes verfolgt und deren strenge Grundstze tglich verletzt wurden durch das Benehmen der Gesellschaft, in der sie lebten, suchten eine wilde und verlassene Gegend, um dort nach ihrer Weise zu leben und in Freiheit Gott anzubeten. Die Grnder Neuenglands waren glhende Sektierer und bereifrige Neuerer in einem“ (Tocqueville 1959, 38). Tocqueville folgert, dass Freiheit mit Religion zusammenhngt: „Das Gesagte drfte gengen, um das wahre Wesen der angloamerikanischen Zivilisation ins richtige Licht zu rcken. Sie ist das Erzeugnis (und diesen Ausgangspunkt gilt es stets gegenwrtig zu halten) zweier vçllig verschiedener Krfte, die sich anderswo hufig befehden; in Amerika hat man verstanden, sie miteinander zu verflechten und wunderbar zusammenzubringen. Ich meine den Geist der Religion und den Geist der Freiheit“ (Tocqueville 1959, 49).
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Der Nestor der Forschung ber den amerikanischen Puritanismus, Perry Miller, behauptet in seinem klassischen Werk ber den Puritanismus in Neuengland, dass die ersten Neuenglnder zwischen der religiçsen und der politischen Gemeinschaft nicht klar unterscheiden konnten (vgl. Miller 1961, 414).
1. Die maßgebliche Beteiligung puritanisch-christlicher Pfarrer an der amerikanischen Unabhngigkeitsbewegung Es wird geschtzt, dass um die Revolutionsepoche wenigstens 75 Prozent der amerikanischen Bevçlkerung ihre religiçse und moralische Grundlage dem Puritanismus verdankte (vgl. Shain 1994, 195). Zur Zeit der Revolution war die kongregationale Kirche die grçßte und die presbyterianische die zweitgrçßte in den amerikanischen Kolonien (vgl. Rossiter 1963, 68); beide sind puritanische Kirchen.1 Der Einfluss des kirchlichen Lebens auf die Glubigen ist mit der heutigen Situation kaum vergleichbar. Kirchgnger in Neuengland – dort vor allem entstand der Druck fr einen Unabhngigkeitskrieg – haben im Laufe ihres Lebens zur Kolonialzeit schtzungsweise etwa 15 000 Stunden bei Predigten verbracht (vgl. Shain 1994, 216 f.). Ungefhr 80 Prozent der whrend der 1770er Jahre gedruckten politischen Artikel waren Predigten. Eine Untersuchung ber die Zitationen in der çffentlichen politischen Literatur von 1760 bis 1805 hat herausgestellt, dass das am meisten zitierte Buch die Bibel war; aus ihr stammen etwa ein Drittel aller Zitate. Der heilige Paulus wird hufiger angefhrt als Montesquieu und Blackstone, die beiden meistgenannten weltlichen Autoren. Das alttestamentliche Buch Deuteronomium wird fast zweimal so oft zitiert wie alle Schriften von John Locke zusammen, dem von den skularen Autoren am hufigsten herangezogenen Verfasser (vgl. Lutz 1988, 140–142). In Neuengland spielte Religion eine besonders bestimmende Rolle im politischen Leben. In der Menschenrechtserklrung des Staates Massachusetts von 1779 ging man beispielsweise davon aus, dass Frçmmigkeit, Religion und Moralitt fr das Glck des Volkes und das Wohlergehen des Staates wesentlich seien, woraus die Schlussfolgerungen gezogen wurden, dass çffentliche Gottesdienste durchgefhrt und finanziert werden mssten und durch den Unterhalt von staatlichen Lehrern fr Frçmmigkeit, Religion und Moralitt zu sorgen sei, gegebenenfalls auch unter Zwang (vgl. Rossiter 1963, 206; allerdings galt auch diese Vorschrift ausdrcklich nur fr protestantisch-christliche Lehrer). Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass Blasphemie in Bezug auf die christliche Religion vom Staat bestraft
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wurde; in Massachusetts wurde noch im Jahre 1836 – also einige Jahrzehnte nach der Verabschiedung des Ersten Zusatzes zur US-Verfassung, der nach einem verbreiteten Missverstndnis eine „Trennungsmauer“ zwischen Staat und Kirche errichtete (vgl. Hamburger 2004) – ein gewisser Abner Kneeland wegen Blasphemie zu einer Gefngnisstrafe von zwei Jahren verurteilt (vgl. Commager 1935).2 Massachusetts besaß bis 1833 eine durch çffentliche Steuern finanzierte Staatskirche. Andere Neuengland-Staaten gaben ihre Staatskirchen etwas frher auf: Vermont 1807, Connecticut 1818, New Hampshire 1819 (vgl. Kramnick/Moore 1996, 118). Der erste Prsident der Vereinigten Staaten, George Washington, bekannte sich in seiner Abschiedsrede zur Wichtigkeit der Religion fr die Moral sowie der Moral fr die Politik. Die Frage, ob aufgeklrte Individuen eventuell Ausnahmen bilden, ließ er auf sich beruhen; fr ihn zeigte sowohl die Vernunft als auch die Erfahrung, dass die Moralitt einer Nation ohne religiçse Prinzipien nicht bestehen kann. Dasselbe gilt ihm zufolge auch fr den Patriotismus (vgl. Vetterli/Bryner 1996, 69 f.). In einem Brief an Jefferson stellte der Deist John Adams fest: „die allgemeinen Prinzipien, auf denen die Vter Unabhngigkeit erreicht haben, waren die Prinzipien des Christentums, in dem alle vereinigt waren“ (zit. nach Shain 1994, 196; bersetzungen hier und im Folgenden vom Verfasser). Diese Prinzipien lassen sich insbesondere an drei Themen exemplifizieren: die Volkssouvernitt, die Vorsehung und die Gewissensfreiheit.
2. Die Verfassung von Connecticut (1639) und die Transposition der kongregationalistischen Ekklesiologie in die Politik Die erste staatsgrndende Verfassung in Nordamerika – vermutlich in der Welt berhaupt – war die Fundamental Orders (1639) von Connecticut (einem kongregationalistischen Staat), die nichts anderes darstellte als die Transposition der kongregationalistischen Ekklesiologie in die Politik. Die Idee einer Verfassung reprsentiert eine Entwicklung der christlichen Idee eines Bundes (covenant). Ursprnglich stellen Konstitutionen in Amerika Skularisierungen des biblischen Bundes zwischen Gott und seinem Volk dar. Wesentlich beim Bundesdenken ist die Vorbedingung der freien Einwilligung des Individuums. Jede puritanische Gemeinde in Neuengland fußte auf solchen freiheitlichen, individuellen Entscheidungen. Auch die politischen Gemeinden in Neuengland verstanden sich dezidiert als christlich. Die Magistrate waren oft Pfarrer. Kirche und Staat ergnzten sich in
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ihrem gemeinsamen Bemhen, den Willen Gottes auszufhren. Im Kontext einer umfassenden gçttlichen Finalurschlichkeit sah sich das Individuum in einem unausweichlichen Spannungsfeld, das als Verantwortung bezeichnet werden kann. Der christlich denkende Mensch fand sich durch seine bloße Existenz zur Verantwortung verpflichtet. Fr ihn luft die Welt nicht einfach aufgrund von unfreien effizienten Ursachen ab, sondern wird von Finalurschlicheit, also von Sinn und Absicht, getragen (vgl. Miller 1979, 30). Nachdem er seine Heimat England verlassen hatte, in der er wegen seiner puritanischen Gesinnung verfolgt worden war, zog der Puritaner-Pfarrer Thomas Hooker (1586–1647) – „der grçßte der Geistlichen von Neuengland“ (Miller 1961, 349) – bald auch aus seiner neuen Heimat in der Kolonie Massachusetts aus und grndete Connecticut, den ersten vçllig selbstndigen Staat in Amerika. Die Neugrndung von Connecticut besaß einige demokratische Grundzge, die hier erstmalig auftreten. Nicht neu allerdings waren die christlichen Einflsse bei der Staatsgrndung. In Hookers Augen war der ganze Auszug nach Amerika religiçs motiviert. Bevor er Europa verließ, hielt er eine große Abschiedspredigt, in der die biblische Exodusvorstellung deutlich anklang. Hooker schilderte England als ein Land, das so tief in Snde liege, dass Gott beschlossen habe, selbst auszuziehen. „Gott ist dabei, sein Evangelium einzupacken“, verkndete er. „Gott beginnt, seine Noahs zu verschiffen. (…) Und Gott sieht vor, dass Neuengland ein Refugium fr seine Noahs und seine Lots, ein Fels und ein Schutz fr seine Gerechten sein wird“ (zit. nach Bush 1980, 53). Das Sendungsbewusstsein ist also nicht im nachhinein gleichsam als ideologischer berbau in Amerika entworfen worden, sondern existierte schon vor der Emigration aus Europa (vgl. Bush 1980, 54). Das amerikanische Sendungsbewusstsein ist eine europische Idee. Nachdem Hookers Gemeinde einen harten Winter berstanden hatte, verabschiedete sie 1639 ein schriftliches Grundgesetz (die Fundamental Orders) und rief mit dieser volkssouvernen schriftlichen Gesetzgebung einen neuen Staat ins Leben. Diese frheste staatskonstituierende Verfassung Amerikas trgt dezidiert christliche Zge. Wie es fr die Demokratie in Amerika gut zwei Jahrhunderte charakteristisch bleiben sollte, fhren die Fundamental Orders ihre Existenz auf die gçttliche Vorsehung zurck. Sie beginnen mit den Worten: „Da es dem allmchtigen Gott durch die weise Einrichtung seiner gçttlichen Vorsehung gefallen hat, die Dinge so zu ordnen und einzurichten, dass wir, die Einwohner von Windsor, Hartford und Wethersfield (…)“ usw. Als Zweck der staatlichen [!] Gemeinschaft wird angegeben: „damit wir die Freiheit und Reinheit des Evangeliums unseres
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Herrn Jesu, zu dem wir uns jetzt bekennen, aufrechterhalten und aufbewahren, sowie auch die Lehre der Kirchen, die gemß der Wahrheit des genannten Evangeliums unter uns jetzt praktiziert wird“. Die Freiheit, die man dabei im Auge hatte, war die Freiheit des Evangeliums. Die Begrndung war also nicht nur theologisch, sondern spezifisch christlich. Als der Versuch der Bewohner von Connecticut, eine eigene Charta vom englischen Kçnig zu erhalten, 1662 gelang, wurde das Ziel der Kolonie immer noch definiert als „die Erkenntnis von und der Gehorsam gegenber dem einzigen wahren Gott und Erlçser der Menschheit“. Demnach drehte sich die Existenz dieser Kolonie um „den christlichen Glauben, der (…) der einzige und leitende Endzweck dieser Plantation ist“. Connecticut erweist sich in der Entstehungszeit insofern als zutiefst christlich. Unmittelbar vor der Verabschiedung der Fundamental Orders hielt Hooker vor der Versammlung der jungen Gemeinschaft eine programmatische Predigt, in der er die Prinzipien der Neugrndung erluterte und deutlich machte, wieweit die Politik von der Religion getragen wird. John Cotton, ein Zeitgenosse Hookers und renommierter Puritaner in Massachusetts, bemerkte ausdrcklich in einem Brief, dass die Kirche fr Hooker maßgeblichen Einfluss auf die Strukturierung des Staates hatte (vgl. Shuffelton 1977, 226). Als biblischen Text fr seine Predigt whlte Hooker Deuteronomium 1, 13, wo Jahwe Israel befiehlt: „Bringt fr jeden eurer Stmme weise, verstndige und erfahrene Mnner, damit ich sie als Oberhupter ber euch einsetze.“ Diese Predigt, die leider nicht publiziert wurde, existiert lediglich in Form von einigen Notizen, die ein anwesender Zuhçrer, Henry Wolcott jun., in einem kleinen, mit vielen stenographischen Predigtnotizen gefllten Heft zusammengefasst hat (vgl. Shepard 1957). Wenngleich die Notizen knapp gehalten sind, erweisen sie sich als aussagekrftig. Drei Grundstze der Predigt werden angegeben. Der erste, der die Volkssouvernitt sozusagen „theokratisch“ begrndet, lautet: „Die Wahl der çffentlichen Magistrate liegt beim Volk kraft der Zulassung Gottes.“ Die zweite Lehre betont, dass das Volk sein Wahlprivileg nicht nach seinen Launen, sondern in bereinstimmung mit dem Willen und Gesetz Gottes auszuben habe. Schließlich wird das Recht des Volkes angefhrt, die Befugnisse der gewhlten Magistrate sowohl zu definieren als auch zu beschrnken. In der Verfassung selbst wird außerdem festgelegt, dass die Brger das Recht haben, sich selbst zur Versammlung einzuberufen. Gerade diese Idee reprsentierte etwas Neues im Vergleich zur Situation im benachbarten Massachusetts, das zwar puritanisch, aber nicht so demokratisch wie Connecticut war. Nach dem bei den Predigten der Puritaner blichen Schema werden anschließend Grnde fr die getroffenen Setzungen angegeben. Als
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erster Grund wird notiert: „weil die Grundlage der Autoritt zuerst in der freien Einwilligung des Volkes beruht“. Nach diesem Teil der Predigt war es blich, praktische Anwendungen der Grundstze anzufhren. An dieser Stelle sollte die Argumentation die Gegner widerlegen. Hier hob Hooker die auf Gott zurckgefhrte Freiheit richtungsweisend hervor: „Um mich zu berzeugen: weil Gott uns Freiheit gegeben hat, sie zu nehmen.“ Zum Schluss wird eine letzte, theologische Begrndung und Ermahnung dargelegt: „Da Gott unser Leben fortgesetzt und es uns in Freiheit gegeben hat, die Herrlichkeit Gottes zu suchen und in Gott und fr Gott zu whlen.“ Auf diesen Ideen fußte die erste demokratische Staatsgrndung.
3. Die theologische Begrndung der Idee der Volkssouvernitt Wenn man Connecticut mit Massachusetts vergleicht, verdeutlicht sich die Originalitt der demokratischen Konzeption Hookers. Diesbezglich existiert eine aufschlussreiche Korrespondenz zwischen dem Gouverneur von Massachusetts, John Winthrop, ebenfalls ein Puritaner-Geistlicher, und Thomas Hooker. In einem Brief an Hooker vom Dezember 1638 argumentierte Winthrop gegen die neue, von Hooker vertretene Idee der Volkssouvernitt. Winthrops Ansicht nach bildeten die politisch fhigen „Weisen“ immer nur eine Minderheit. Infolgedessen muss Hooker sich im klaren gewesen sein, dass seine Position ein neuartiges Wagnis darstellte. Zu seiner Rechtfertigung berief er sich aber wohlgemerkt berhaupt nicht auf die persçnlichen Fhigkeiten des Volkes. Bei ihm finden wir keine romantische Verherrlichung des Volkes, wie sie im 18. Jahrhundert anzutreffen ist. Vielmehr beschrieb er sein Volk als „eine Gesellschaft von armen, sndhaften, jmmerlichen, elenden und verdammten Kreaturen, Staub und Asche, tote Hunde“ (Hooker 1640b, 57). In einem Brief stellte er die zwei verschiedenen politischen Konzeptionen unter den Puritanern heraus. Hooker zufolge liege fr Massachusetts die hçchste Autoritt beim „Staat“, whrend sie in Connecticut bei den „Magistraten und dem Volk“ liege. Hookers Begrndung fr das Bestimmungsrecht des Volkes berief sich auf ein mittelalterliches Axiom: „Was alle angeht, muss von allen gebilligt werden.“ Dieses Prinzip, das aus dem rçmischen Recht stammt, ist durch das Kirchenrecht an die Neuzeit vermittelt worden. Die kongregationale Ekklesiologie stellte Hooker in The Survey of the Summe of Church-discipline (1648) dar. Das Buch ist eine ausfhrliche und kritische Darstellung seiner Lehre, wie er sagt, „bezglich der Gewalt, die
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wir dem Volk geben, und unserer Behauptungen von der Unabhngigkeit und von den kongregationalen Kirchen“. Es geht dem Autor darum, den Kongregationalismus – der so genannte „Neuengland-Weg“ (the New England Way) – von dem nahe verwandten Presbyterianismus, d. h. die Form des Puritanismus, die in Massachusetts dominierte, zu unterscheiden, der die Gemeindeleitung in die Verantwortung einer kleinen Gruppe legen wollte. Darin sah Hooker ganz bewusst geradezu die Frage seiner Zeit. Im Unterschied zur Gegenwart, in der die Volkssouvernitt gar keine Begrndung erfhrt – oder eventuell eine durch den Hinweis auf die Verantwortung vor Gott –, erhielt die Behauptung der ekklesiologischen Volkssouvernitt in dieser Entstehungsphase der Demokratie ihre Legitimation durch eine explizit theologische Begrndung. Gegen das Argument, das Volk sei unfhig zu regieren, verteidigte Hooker die Volkssouvernitt, indem er sich auf das Versprechen Gottes berief, dies mçglich zu machen. Damit schloss er nicht nur Papst und Bischçfe aus, sondern sogar ein Presbyterium. „Es gibt keine Presbyteralkirche“, schrieb er, „um die vielen Kongregationen zu leiten. (…) Die Kongregationalkirche ist das erste Subjekt, der Schlssel“ (Hooker 1648, 18). Anders betrachtet: „Die Weihe [des Pfarrers] gibt es nicht vor der Auswahl.“ Ohne Gemeinde kçnne es keine Weihe geben. Nach Hooker „hat die Wahl des Volkes unter Christus eine instrumentalurschliche Kraft, einem Amtstrger eine Berufung zu erteilen“ (55). Da die Kirchengemeinde vor dem Pfarrer existiere, gehe sie auch der Taufe voraus (56). Die Gemeinde gehe einen Bund mit ihrem Pfarrer ein. Sowohl der Pfarrer als auch die obrigkeitlichen Amtstrger verdanken ihre Existenz der Wahl des Volkes. Aus kongregationalistischer Sicht bedrfe jede organisierte Gesellschaft, einerlei ob staatlich oder kirchlich, unterschiedslos der Zustimmung der Mitglieder (286 f.). Im brigen ist darauf hinzuweisen, dass Hooker ausdrcklich auch den Begriff „demokratisch“ fr seine Position benutzte: „In Bezug auf das Volk ist die Regierung der Kirche demokratisch.“ „Das Volk Gottes ist ein freies Volk“, lehrte er. Außerdem seien die einzigen Einschrnkungen der freien Entscheidung des Volkes entweder nur von der Natur oder der gçttlichen Vorsehung auferlegt worden (285 f.). Der Papst und die Bischçfe verkçrperten nach ihm das satanische Episkopat. Diese direkte „theokratische“ Bindung begrnde die Autonomie des Volkes. Die Gemeinde behalte das Recht, einen Oberen zu verurteilen und ihn seines Amtes zu entheben, falls er sich der Hresie schuldig mache (vgl. Teil 3, 42 f.). Wie jede legitime Autoritt ist fr alle Puritaner auch politische Autoritt religiçser Herkunft, und Freiheit ist, wie der Gouverneur von Massachusetts der Versammlung (General Court) der Kolonie 1645 vortrug, „das eigentliche Ziel
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und der Gegenstand der Autoritt und kann ohne sie nicht existieren. (…) Diese Freiheit (…) ist die gleiche Art Freiheit, wodurch Christus uns frei gemacht hat“ (zit. nach Shain 1994, 209). In der Verfassung von Connecticut ist die Idee der Volkssouvernitt im staatlichen Bereich ausdrcklich theologisch begrndet. Nicht nur die Moral gehçrte zur Grundlage des Puritanismus; die Idee des Bundes (covenant) war ebenfalls fundamental. Die puritanische Idee des Ursprungs der Kirche in der Einwilligung der Glubigen fhrte ohne weiteres zur Theorie des Ursprungs des Staates in der Einwilligung der Brger. Die verschiedenen Auswanderergruppen, die zwischen 1637 und 1640 New Haven, Rhode Island, Connecticut und Providence grndeten, mussten selbstndig einen Staat errichten. Ihre Souvernitt ergab sich gleichsam von selbst, d. h. schon allein von daher, dass sie keinen existierenden Staat vorfanden. Die neu angekommenen Christen mussten zwangslufig ihr politisches Leben selbst regeln. Sie verfuhren so, wie sie es als Kirchengemeinde schon kannten. Wie die Pilgervter vor ihnen, begannen sie mit der Niederschrift eines Gesellschaftsvertrages, dem alle Beteiligten zustimmten. Diese neue Verfahrensweise wurde von dem biblischen Bund Gottes mit Israel bernommen und auf das politische Wesen unvermittelt angewandt. Vertraut mit der Bibel, waren die Puritaner davon berzeugt, dass das gçttliche Gesetz eine geschriebene Form annehmen kann. Typisch fr solche schriftlichen Gesellschaftsvertrge ist der von den ersten Ankçmmlingen in Neuengland 1620 vereinbarte „Mayflower Compact“. Die Parallelitt mit kirchlichen Vertrgen ist auffallend. Zuerst wird Gott als Zeuge angerufen; dann werden die Grnde fr eine solche Vereinbarung angegeben. Durch Unterschrift wird schließlich eine Gemeinschaft gegrndet und, statt einer Kirche, eine Regierung (civil Body Politick) gebildet. Die Unterzeichner wollen ein Volk werden, das Gott verherrlicht, die christliche Religion fçrdert, den Kçnig und das Land ehrt sowie Gerechtigkeit, Gleichheit und das Allgemeinwohl hochschtzt (vgl. Lutz 1988, 25 f.). Das Konzept der Volkssouvernitt findet ferner 1643 bei der Grndung des Bundes der Kolonien von Neuengland (New England Confederation), an der Hooker maßgeblich beteiligt war, eine weitere politische Umsetzung. Dies war der erste Bundesschluss der amerikanischen Kolonien, der schließlich in der Grndung der Vereinigten Staaten kulminierte. Auch in diesem Przedenzfall wird eine theologische Motivation angegeben. In der Prambel des aus zwçlf Artikeln bestehenden Vertrages wird der gemeinsame Zweck des Bndnisses folgendermaßen angegeben: „das Reich unse-
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res Herrn Jesu Christi zu fçrdern und die Freiheiten des Evangeliums in Reinheit und Frieden zu genießen“. Die Volkssouvernitt der Puritaner war freilich keine absolute, sondern die von Bndnispartnern. Thomas Hooker legte eine Volkssouvernitt zugrunde, die durch Gott und seine Vorsehung begrndet wurde. Der Historiker Leopold von Ranke hat die Bedeutung der Argumentation der Unabhngigkeitserklrung von 1776 folgendermaßen eingeschtzt: „Dadurch, daß die Nordamerikaner abfallend von dem in England gltigen konstitutionellen Prinzip eine neue Republik schufen, welche auf dem individuellen Recht jedes Einzelnen beruht, kam eine neue Macht in die Welt. Bisher hatte man in Europa gemeint, daß die Monarchie den Vorteil der Nation am besten verstehe, jetzt kam die Theorie auf, die Nation selbst msse sich regieren. (…) Dies war eine grçßere Revolution, als frher je eine in der Welt gewesen war, es war eine vçllige Umkehr des Prinzips. Frher war es der Kçnig von Gottes Gnaden, um den sich alles gruppierte; jetzt tauchte die Idee auf, daß die Gewalt von unten aufsteigen msse. (…) Diese beiden Prinzipien stehen einander gegenber wie zwei Welten, und die moderne Welt bewegt sich in nichts anderem als in dem Konflikt zwischen diesen beiden. In Europa war der Gegensatz dieser Prinzipien noch nicht eingetreten; er kam aber zum Ausbruch in der franzçsischen Revolution“ (zit. nach Adams 1994, 29 f.). Die Volkssouvernitt in der Politik fand ihren Grund also im religiçsen Bund. Deshalb ist in den ersten Verfassungen und verfassungshnlichen Dokumenten ausdrcklich und argumentativ von Gott die Rede. Die religiçse Dimension lag nicht nur der Kirche bzw. den Kirchengemeinden zugrunde, sondern nicht weniger dem Staat. Staat und Kirche wurden als zwei unabhngige Sphren zwar voneinander unterschieden, aber beide waren dennoch theologisch begrndete Einrichtungen. Der puritanische Staat war keineswegs das Ergebnis einer Skularisierung, d. h. einer Ablçsung von Religion. „Der Bund war bei den Puritanern die zentrale Affirmation der Teilnahme an den Absichten Gottes, um Ordnung in eine korrupte Welt zu bringen“, schreiben Vetterli und Bryner. „Er war nicht nur eine bereinkunft; er war ein rechtlicher und verbindlicher Vertrag, Richter und Lehrer“ (Vetterli/Bryner 1996, 205). Diese Einstellung brachte mit sich, dass die Idee einer durch gçttliche Vorsehung auserwhlten Kleingruppe zurcktrat und durch das Bewusstsein einer Berufung zu einer Verantwortung fr alle ersetzt wurde.
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4. Die gçttliche Vorsehung „Verantwortung vor Gott“ reprsentiert eine skularisierte Form der Idee der gçttlichen Vorsehung, so wie diese im Puritanismus gesehen wurde. Die Menschen in Neuengland waren fest davon berzeugt, dass das Universum sinnvoll sei, d. h., dass es insgesamt und im einzelnen von einer berragenden Absicht gesteuert werde. In allem, was es tat, spielte jedes Individuum eine bestimmte unersetzliche Rolle mit ewiger Endgltigkeit. Dieser Individualismus, der spter in skularisierter Form aus dem theologischen Kontext abstrahiert und verselbstndigt wurde, grndete in der gçttlichen Vorsehung. „Das Individuum konnte nur fr Ziele frei sein, nicht von Zielen“ (Miller 1979, 43). Prdestination durchleuchtet alles, im kleinen wie im großen, den einzelnen und die Welt. Die von ihrem Mutterland weit entfernten neuenglischen Puritaner betrachteten die ganze bisherige Geschichte als Prolog zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Aufgabe; was in Boston geschah, stand im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen. Es waren nicht die Politiker, die zuerst gelehrt haben, dass Amerika mit einem gçttlichen Auftrag versehen worden ist, um Beispiel und Vorbild fr die Welt fr eine neue und hçhere Gemeinschaft zu sein, sondern es war die neuenglische Geistlichkeit. Schon am Anfang der Geschichte Amerikas war die Idee eines transzendenten Auftrags fr die Menschheit lebendig. In der Menschenrechtserklrung von Connecticut (1776) zum Beispiel wird die Vorsehung Gottes als Ursache der Freiheit und Unabhngigkeit des Volkes von Connecticut betrachtet. Daher rhrte das Recht, „sich selbst als einen freien, souvernen und unabhngigen Staat zu regieren“: „The People of this State, being by the Providence of God, free and independent, have the sole and exclusive Right of governing themselves as a free, sovereign, and independent State; and having from their Ancestors derived a free and excellent Constitution of Government whereby the Legislature depends on the free and annual Election of the People, they have the best Security for the Preservation of their civil and religious Rights and Liberties. And forasmuch as the free Fruition of such Liberties and Privileges as Humanity, Civility and Christianity call for, as is due to every Man in his Place and Proportion, without Impeachment and Infringement, hath ever been, and will be the Tranquility and Stability of Churches and Commonwealths; and the Denial thereof, the Disturbance, if not the Ruin of both“ (Connecticut Declaration of Rights, 1776).
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Bezeichnend fr die nationale Politik der Grndungszeit waren Vorschlge fr die Gestaltung des Großen Siegels der USA. Hier finden sich ebenfalls Zeugnisse der Aktualitt der unter der Leitung der gçttlichen Vorsehung gefhrten Befreiungstheologie in Amerika. Selbst ein aufgeklrter Deist wie Thomas Jefferson schlug nmlich eine Szene der Kinder Israels unter der Leitung Mose mit der Wolkensule bei Tag und der Feuersule bei Nacht vor. Von Benjamin Franklin stammte der Vorschlag, Moses mit ber das Meer ausgestreckter Hand mitsamt den ertrinkenden gyptern abzubilden und mit dem Motto zu versehen: „Aufstand gegen Tyrannen ist Gehorsam gegen Gott“ (vgl. Vetterli/Bryner 1996, 80). Das Bewusstsein der Verantwortung fr die Zukunft der Welt ist von Anfang an wirksam gewesen. Der beredte und viel gelesene Pamphletist Thomas Paine schrieb etwa in seiner berhmten patriotischen Schrift Common Sense (1776): „Das Anliegen Amerikas ist in großem Maße das Anliegen der ganzen Menschheit.“ Er hat sich auf „Gottes Schutz sowohl hier als auch danach“ verlassen und seine Hoffnung auf einen Zustand der Glckseligkeit jenseits des jetzigen Lebens zum Ausdruck gebracht (vgl. Vetterli/Bryner 1996, 102). Die christliche Idee der gçttlichen Vorsehung spielte bei der spteren Entwicklung der Demokratie in Amerika nach dem 17. Jahrhundert eine tragende Rolle. George Washington hat auf „das Eingreifen der Vorsehung“, „die eingreifende Hand des Himmels“ und „den Hçchsten Herrscher des Universums“ hufig hingewiesen. Er beteuerte, dass das „hçchste Seiende“ „die Freiheit und das Glck dieser Vereinigten Staaten“ geschtzt habe. In Bezug auf die Beschwernisse, die die junge Nation zu berwinden hatte, stellte er nachdrcklich fest: „Die Hand der Vorsehung ist in alldem dermaßen sichtbar gewesen, dass, wem es an Glauben mangelt, schlimmer als ein Unglubiger und, wer nicht genug Dankbarkeit hat, um seine Verpflichtungen anzuerkennen, mehr als bçse sein muss.“ In seiner Antrittsrede sagte der erste Prsident der USA: „Es lsst sich kein Volk finden, das die unsichtbare Hand, welche die Angelegenheiten der Menschen fhrt, mehr anerkennt und verehrt als das Volk der Vereinigten Staaten. Jeder Schritt, mit dem es dem Charakter einer unabhngigen Nation nher gekommen ist, scheint durch ein Zeichen der wirkenden Kraft der Vorsehung gekennzeichnet gewesen zu sein“ (68). In stark skularisierter Form existiert dieser Missionsauftrag im amerikanischen Bewusstsein bekanntlich noch heute. So hat etwa Prsident George W. Bush in seiner zweiten Antrittsrede 2005 gesagt: „Die Geschichte hat auch eine sichtbare Richtung, von Freiheit und von dem Urheber der Freiheit festgelegt.“ Der Einfluss des Puritanismus ist lange wirksam
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geblieben. Bis vor kurzem herrschte in Amerika allerdings die Tendenz, die Prsenz christlichen Gedankengutes in seiner Geschichte zugunsten der Skularisierung zurckzudrngen. In den letzten Jahren zeigt sich jedoch eine Gegenbewegung (vgl. Feldman 2005). John Adams, der zweite Prsident der USA, warnte, dass es „Hochverrat gegen die Hoffnungen der Welt“ (Vetterli/Bryner 1996, 67) sei, falls Amerika seinen von Gott gegebenen Auftrag verfehle. Bezglich der bisherigen Erfolge der Verselbstndigung der Vereinigten Staaten gestand James Madison, der Hauptverfasser der amerikanischen Verfassung, im 37. Artikel des Federalist: „Wer aufrichtig diesen Umstand berdenkt, muß in das Erstaunen einstimmen; fr einen religiçs gesinnten Menschen ist es unmçglich, darin nicht einen Fingerzeig des Allmchtigen zu erkennen, der so hufig und bedeutsam in kritischen Phasen der Revolution zu unseren Gunsten eingegriffen hat“ (Hamilton/Madison/Jay 1994, 214). Mit vielen anderen erkannte auch der angesehene Verteidiger der US-Verfassung, Alexander Hamilton, den „Finger Gottes“ in dem revolutionren Geschehen (vgl. Vetterli/Bryner 1996, 68). Benjamin Franklin, der die Grundlinien des skularisierten Christentums verkçrperte, stellte seine Glaubensgrundstze, zu denen die Vorsehung gehçrte, folgendermaßen dar: „Mein Credo ist folgendes: Ich glaube an den einen Gott, Schçpfer des Universums. Dass er es durch seine Vorsehung regiert. Dass ihm Verehrung gebhrt. Dass der akzeptabelste Dienst, den wir ihm leisten kçnnen, darin besteht, seinen anderen Kindern Gutes zu tun. Dass die Seele des Menschen unsterblich ist und in einem anderen Leben mit Gerechtigkeit entsprechend seinem Verhalten in diesem Leben vergolten wird. Diese halte ich fr die fundamentalen Punkte jeder gut fundierten Religion“ (Franklin 1970, Bd. 10, 84). Das (wenig bekannte) Credo von Thomas Jefferson ist hnlich: „1. Dass es nur einen einzigen Gott gibt und dass Er absolut vollkommen ist. 2. Dass es einen knftigen Zustand der Belohnungen und Bestrafungen gibt. 3. Dass es die Zusammenfassung der Religion ist, Gott mit deinem ganzen Herzen und deinen Nchsten wie dich selbst zu lieben“ (Jefferson 1903–1904, Bd. 15, 384 f.). Der Stellenwert der Vorsehung ist in solchen Glaubensbekenntnissen aus heutiger Sicht erstaunlich hoch. Zeugnisse der Wichtigkeit des Vorsehungsglaubens lassen sich leicht vermehren. In Pennsylvania wurde die Verfassungsbestimmung, die von allen Parlamentariern verlangte, die gçttliche Inspiriertheit des Alten und Neuen Testaments anzuerkennen, aufgrund eines Protests der jdischen Gemeinde
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von Philadelphia gendert. Das Entgegenkommen der Verfassung von 1790 verlangte von Amtstrgern des Staates nunmehr nur, dass sie sich zum Dasein Gottes sowie zur Existenz eines knftigen Zustands von Belohnung und Strafe bekennen sollten. Ebenfalls in der Verfassung (1778) des sdlicher gelegenen Staates South Carolina wird ausdrcklich vorausgesetzt, dass es einen knftigen Zustand der Belohnung und Bestrafung gibt. Die amerikanische Revolution kennt durchaus ihre eigene Befreiungstheologie, sogar ausdrcklich unter Berufung auf die Befreiung aus gypten. In seiner ersten Antrittsrede als Prsident der USA drckte Jefferson die Hoffnung aus, dass die Vereinigten Staaten „eine allgewaltige Vorsehung anerkennen und verehren, die durch all ihre Zuteilungen beweist, dass sie sich an dem Glck des Menschen hier und an seinem grçßeren Glck danach freut“. In seiner zweiten Antrittsrede pries selbst ein skeptischer Jefferson „jenes Wesen, in dessen Hnden wir uns befinden, das unsere Vorvter, Israel, von jeher aus ihrem Ursprungsland herausgefhrt, das ihnen ein Land mit all den Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens gegeben hat, das unsere Kindheit mit seiner Vorsehung und unsere reifen Jahre mit seiner Weisheit und Macht beschtzt hat“ (vgl. Vetterli/ Bryner 1996, 68).
5. Das Menschenrecht der Gewissensfreiheit als Folge der Religionsfreiheit In der Konzeption moderner Demokratie hat die Gewissensfreiheit als Grundrecht des Individuums eine kaum zu berbietende Tragweite. Nichts hebt den Stellenwert des demokratischen Individualismus deutlicher hervor. Die Relevanz der Gewissensfreiheit hat Roman Herzog mit aller wnschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen: „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit [wird man] als den Prfstein unserer gesamten Staatsauffassung deuten mssen“ (Herzog 1969, 719). „Das in ihr liegende Prinzip“, stellt weiterhin der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Staatsrechtler ErnstWolfgang Bçckenfçrde fest, „wird mit Recht als Grundlage der modernen individuellen Freiheitsrechte, ja des modernen Freiheitsgedankens berhaupt angesehen“ (Bçckenfçrde 1991, 203). Religionsfreiheit kommt uns heute wie ein Anwendungsfeld der umfassenderen Gewissensfreiheit vor. Eine historische Betrachtung macht aber deutlich, dass der ursprngliche Zusammenhang tatschlich umgekehrt war, d. h., dass Gewissensfreiheit aus der Religionsfreiheit gewachsen ist. Am Anfang der Geschichte der modernen Demokratie liegt kein Recht tiefer als die Religionsfreiheit. Sie er-
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gibt sich aus genau derselben Grundlage wie die Volkssouvernitt. Neben dem Recht eines Volkes, sich selbst zu regieren, galt kein anderes Recht als unverußerlich (vgl. Shain 1994, 251). Im 17. und 18. Jahrhundert spielte die Idee der unbeeintrchtigten Wrde des irrenden Gewissens bei der Grndung der Demokratie keine explizite Rolle. In den ungefhr 150 Kapiteln des moraltheologischen Lehrbuches von William Ames (1576–1633), der in den amerikanischen Kolonien bekannter als Calvin und Luther war und çfter als diese beiden zusammen zitiert wurde, findet sich berhaupt keine Erwhnung der Gewissensfreiheit. Damals stand vielmehr die Religionsfreiheit im Vordergrund. Fr die Puritaner fielen am Anfang der Demokratiegeschichte in Nordamerika Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit gleichbedeutend zusammen. So definiert das von Nathan Bailey herausgegebene Universal Etymological English Dictionary (1737) Gewissensfreiheit (liberty of conscience) als „ein Recht bzw. ein Vermçgen, sich zu jeder Religion zu bekennen, an die man ehrlich glaubt“. Gewissensfreiheit bestand offenbar in der Freiheit, zu jener christlichen Kirche zu gehçren, die das eigene Gewissen fr die richtige hielt. In der Charta der Kolonie Rhode Island sind mithin Religions- und Gewissensfreiheit identisch. In der Menschenrechtserklrung von Virginia aus dem Jahr 1776 wird das Gewissen zwar erwhnt, aber nur im Kontext der Religionsfreiheit. In der Erklrung der Religionsfreiheit von Virginia 1785 wird es nicht einmal genannt. Gewissensfreiheit wird weder in der franzçsischen Deklaration der Rechte des Menschen und des Brgers noch in der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung noch in der Bill of Rights erwhnt. Erst mit der sich allmhlich durchsetzenden Trennung von Staat und Kirche gewinnt die Gewissensfreiheit zunehmend an Bedeutung. Im 18. Jahrhundert drngte sich die Religionsfreiheit nicht aus wachsender Einsicht in die Natur von Religion ins Bewusstsein, sondern vielmehr aus der praktischen Situation heraus, nmlich aus der Tatsache, dass mehrere Religionsgemeinschaften vorhanden waren und nebeneinander existieren mussten. Im heutigen demokratischen Bewusstsein tritt das Gewissen statt dessen eigens fr sich in den Vordergrund, wobei es sich von Religion teilweise lçst. So hat die Gewissensfreiheit im Aufbau der Freiheitsrechte im deutschen Grundgesetz einen hçheren Stellenwert als die Religionsfreiheit. Damit wird ein Nerv des christlichen Wirklichkeitsverstndnisses freigelegt und aus seinem Lebenskontext herausgelçst. Gewissensfreiheit ist ein weiteres Beispiel fr ein skularisiertes Element des christlichen Denkens in der modernen Demokratie. Die Gewissensfreiheit ist zum einen aus der Religionsfreiheit hervorgegangen und zum anderen selbst ein ursprnglich
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christlicher Begriff. Genauso wurde die Gewissensfreiheit auch im 18. Jahrhundert verstanden. Thomas Jefferson etwa identifizierte das Gewissen ausdrcklich mit dem „moralischen Sinn“ bzw. dem „moralischen Prinzip“ (vgl. Jefferson 1955, 15), d. h. mit einer von Gott verliehenen Absicherung gegen mçgliche Verirrungen des Verstandes, und fhrte es unmittelbar auf Gott zurck (vgl. Jefferson 1903–1904, Bd. 14, 138–144). Das Menschenrecht der Gewissensfreiheit ist keineswegs das Ergebnis eines Skularisierungsprozesses. Will man solche demokratischen Prinzipien nicht einfach als selbstevident annehmen, ist es schwer, sich vorzustellen, wie die Gewissensfreiheit, die die Mçglichkeit zulsst und schtzt, das zu tun, was zumindest in den Augen der Mehrheit als das Falsche erscheint, anders als durch einen Gottesbezug zu rechtfertigen sein sollte (vgl. Hoye 1996). Kann man ferner die Volkssouvernitt ohne Gott theoretisch begrnden? Und welchen Sinn soll Verantwortung des Volkes fr die knftige Geschichte haben, wenn es niemanden gibt, vor dem solche Verantwortung getragen wird?
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Vgl. Rossiter 1984, 68: „The most reliable census of early American churches and congregations lists these figures for 1775: Congregational, 668; Presbyterian, 588; Anglican, 495; Baptist, 494; Quaker, 310; German Reformed, 159; Lutheran, 150; Dutch Reformed, 120; Methodist, 65; Catholic, 56; Moravian, 31; Congregational-Separatist, 27; Dunker, 24; Mennonite, 16; French Protestant, 7; Sandemanian, 6; Jewish, 5; Rogerene, 3 – a catalogue that could be rendered even more motley by calling attention to severe doctrinal conflicts in several of these groupings, for example, between ‚New Lights and ‚Old Lights in Connecticut Congregationalism and between ‚New Sides and ‚Old Sides in Virginia Presbyterianism. A study of Pennsylvania in 1776 gives this count of churches in the dissenters’ paradise: German Reformed, 106; Presbyterian, 68; Lutheran, 63; Quaker, 61; Anglican, 33; Baptist, 27; Moravian, 14; Mennonite, 13; Dunker, 13; Catholic, 9; Dutch Reformed, 1.“ 2 Vgl. McLoughlin 1973, 212: „Courts prosecuted citizens for blaspheming against the Christian religion until 1836 and most jurists throughout the nineteenth century believed that Christianity was part of the common law, Jefferson notwithstanding.“
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Katholizismus und demokratischer Verfassungsstaat Die katholische Kirche und an ihrer Spitze der Papst gehçren zu den prominenten Verfechtern von Menschenrechten und demokratischer Entwicklung. Religions- und Gewissensfreiheit als Kern der Menschenrechte wird weltweit gefordert und verteidigt. Doch das ist noch nicht lange so (vgl. Uertz 2005). Anders als in den USA, wo der Aufbau des neuzeitlichen und modernen Staates weitgehend unbelastet von Glaubenskmpfen und staatlich-kirchlichen Konflikten vor sich ging, vollzog sich die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in Kontinentaleuropa in scharfer Auseinandersetzung des Staates mit der Kirche und dem christlichen Glauben. Anders liegen die Verhltnisse in England, das ebenfalls von religiçs-politischen Auseinandersetzungen nicht verschont blieb, jedoch politisch, rechtlich und religionspolitisch einen anderen Weg ging. Im brigen ist das englische bzw. das angelschsische Staatsdenken nicht wie das kontinentaleuropische von rçmisch-germanischen Rechtsideen, sondern vom common law geprgt, dessen Grundlage die nicht-statuarische Rechtstradition ist. Mit diesen Abweichungen geht auch ein wesentlich anderes religionspolitisches Verstndnis einher. England hat mit dem Anglikanismus eine Staatskirche geschaffen, an deren Spitze der Monarch steht. Die USA wiederum unterscheiden sich von England; sie haben eine strikte Trennung von Religion und Staat vollzogen. Whrend die US-amerikanische Religionspolitik die Religion vor dem Staat zu schtzen trachtet, tendiert das moderne kontinentaleuropische Staatsdenken dazu, den Staat vor der Religion zu schtzen – eine Konstellation, die mit konfliktreichen religionspolitischen und -rechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat sowie mit bergriffen seitens des Staates in geistlich-religiçses Terrain verbunden ist. Man wird das spannungsreiche Verhltnis zwischen Christentum und demokratischem Verfassungsstaat, das jngst im Europischen Verfassungskonvent beim Streit zwischen christlich orientierten Mitgliedern und laizistischen Vertretern um die Bedeutung des Christentums fr die europische Kultur- und Verfassungstradition erneut Ausdruck fand, ohne Kenntnisse
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der komplizierten religiçs-politischen Entwicklungen in Europa kaum angemessen bewerten kçnnen. Die christliche Religion hatte in der Monarchie – in Deutschland bis zum Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 – ffentlichkeitsanspruch. Angesichts der engen Verbindungen von kirchlicher und staatlicher Macht, von Thron und Altar, wurden christlicher Glaube und Religion vielfach als Zwangssysteme erfahren. Die seit der Franzçsischen Revolution 1789 machtvoll voranschreitende Skularisierung und Privatisierung der Religion, die mit der Herauslçsung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik aus theologisch-kirchlichen Deutungen einhergeht, fhrten jedoch nicht zur „Erledigung der Religion“. Doch haben Religion und Christentum im pluralistischen Gemeinwesen einen wesentlich vernderten Stellenwert. Gleichwohl beschrnkt sich das Christliche nicht auf den persçnlichen und privaten Bereich, vielmehr ist es durch das Engagement der einzelnen Christen und christlicher Gruppierungen in Gesellschaft und Politik wirksam (vgl. Bçckenfçrde 1976). Der vorliegende Beitrag versucht, die ideengeschichtliche Entwicklung von christlicher bzw. katholisch orientierter Politik und Staatstheorie zu skizzieren. Im Katholizismus vollzog sich whrend der letzten 150 Jahre ein Wandel von konservativ-traditionalistischen Vorstellungen hin zu liberal-demokratischen Ideen. Dieser Wandel geht einher mit einer zunehmenden Bedeutung der Rolle des liberalen, politischen Katholizismus, der sich insbesondere durch seine Praxisnhe von kirchenoffiziellen Positionen unterscheidet. Das Verhltnis von Katholizismus und demokratischem Verfassungsstaat lsst sich nicht bloß von kirchenoffiziellen Dokumenten und Positionen her verstehen; vielmehr ist es – dem kulturellen und sozialen Kontext des Christentums entsprechend – auch unter dem Gesichtspunkt breiterer kirchlichen Strçmungen (Laienkatholizismus) und der Aktivitt der Katholiken als Staatsbrger und Politiker zu betrachten.
1. Religion und Politik Alexis de Tocqueville hat eine Definition der Religion gegeben, die fr ihre Verhltnisbestimmung zur Politik hilfreich ist: „Religionen“, so schreibt er, „sind ihrem Wesen nach gewohnt, den Menschen nur als solchen zu betrachten, ohne zu bercksichtigen, inwiefern die Gesetze, Gebruche und Traditionen eines Landes das Allgemeinmenschliche in besonderer Weise modifiziert haben mçgen. Ihre Hauptaufgabe ist es, die allgemeinen Beziehungen des Menschen zu Gott, die allgemeinen Rechte und Pflichten des
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Menschen untereinander, ohne Rcksicht auf die Form der Gesellschaften, zu ordnen“ (Tocqueville, 1969, 23). Die Religion vermittelt demnach vor allem allgemeine Normen und Impulse fr das Verhalten des Einzelnen zu seinen Mitmenschen und fr seinen Bezug zur Sozialordnung. Deren konkrete Gestaltung ist jedoch vor allem durch kulturspezifische Normen und Verhaltensweisen geprgt, die wohl von den religiçsen Werthaltungen mit beeinflusst, jedoch von diesen deutlich zu unterscheiden sind. Die Religion prgt primr die Motivation, die sittliche Grundeinstellung und die allgemeine Orientierung. Die material-inhaltlichen Normen christlich-sittlichen Handelns sind jedoch – wie jede religiçs begrndete Moral – historisch-kulturell vermittelt. Diese Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen des religiçsen Bekenntnisses und den Besonderheiten der Kultur sind ein Grunddatum politiktheoretischer und religionssoziologischer Betrachtung. Hinter Tocquevilles Definition der Religion steht die Erfahrung hçchst unterschiedlicher Kulturen und ihrer jeweiligen religiçsen Implikationen – Erfahrungen, die der Franzose in Amerika und Europa sammeln konnte. Whrend sich auf dem neuen Kontinent die Religion ganz unverkrampft mit Menschenrechten und Demokratie-Ideen verbinden konnte, wurden im revolutionren und nachrevolutionren Frankreich und in Kontinentaleuropa Christentum und Kirche – nicht zuletzt wegen ihrer engen Verschmelzung mit dem Ancien R gime – bekmpft, Priester, Ordensleute und Laien verfolgt und die Kirchen sowie kirchliche Sozial-, Kultur- und Bildungseinrichtungen, darunter eine Vielzahl von Universitten, gewaltsam geschlossen oder verstaatlicht. Mit der Skularisation im Gefolge der Franzçsischen Revolution wird zugleich das Ende der alten christlichen Staaten und der geistlichen Frstentmer eingelutet. Die christliche Religion, die bis dahin eine staatsrechtliche Funktion hatte (Glaube als rechtsartiges Treueverhltnis; vgl. Bçckenfçrde 1982, 19) wird als staatslegitimatorische Grçße abgelçst. Bezeichnet der Begriff der „Skularisation“ die berfhrung kirchlichen Eigentums und geistlicher Herrschaftsgewalt in weltliche Verfgungsmacht, so intendiert der Begriff „Skularisierung“ die Emanzipation des gesellschaftlich-kulturellen Lebens von kirchlicher Vormundschaft und theologischer Deutung – ein Prozess, der keineswegs seinen Abschluss gefunden hat. Mit skularisierter Gesellschaft bezeichnet man heute zumeist den ambivalenten Prozess der Religion im pluralistischen Gemeinwesen: In diesem ist die Religion zwar in hohem Maße privatisiert, ber den einzelnen sowie ber religiçs-christlich orientierten Gruppierungen und Institutionen (etwa des Verbandskatholizismus) ist sie jedoch weiterhin – auch politisch –
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wirksam, wenngleich sie nicht mehr unvermittelt auf die Staats- und Rechtsordnung einwirkt. Es gehçrt zu den tragischen Verstrickungen der kontinentaleuropischen Religions- und Kulturgeschichte, dass sich hier die Menschenrechts- und Demokratieideen zunchst im Gewande revolutionrer Entwicklungen und gravierender sozialer und politischer Umbrche vollzogen und mit gewaltttigen, kirchen- und religionsfeindlichen Bewegungen verbanden. Folglich waren in Europa die liberalen Staatsideen in kirchlichen und außerkirchlichen Kreisen lange Zeit diskreditiert, whrend umgekehrt vielen liberalen Theoretikern die modernen Politik- und Rechtsideen in einem prinzipiellen Widerspruch zur Religion und zur christlichen Sozialethik zu stehen schienen. Allerdings erklren diese religiçs-politischen Konflikte allein noch keineswegs die entschiedene Abwehrhaltung der katholischen Kirche gegenber dem demokratischen Verfassungsstaat und den Menschenrechten im 19. und in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts – eine Haltung, die nicht zuletzt auch mit der Entwicklung Roms und der rçmischen Kirche in Italien (Kirchenstaat bis 1870) sowie grundstzlichen Fragen des Verhltnisses von religiçs-kirchlichen und politisch-skularen Anschauungen zusammenhngt. Die von Tocqueville angefhrte Unterscheidung zwischen der Religion an sich und ihren kulturellen Implikationen zeigt, dass der christliche Glaube keineswegs wesensnotwendig auf einen bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Ordnungstypus wie Monarchie, Aristokratie oder Demokratie festgelegt ist, sondern sich vielmehr mit verschiedenen Herrschaftsstrukturen verbinden kann (historische Kontingenz des christlichen Glaubens). Genau dies ist das Fazit von Tocquevilles Vergleich des „alten Europa“ mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Fr den christlichen Glauben ist zunchst die Unterscheidung zwischen dem „Reich Gottes“ und dem „Reich der Welt“, zwischen religiçs-kirchlichen und kulturell-politischen Ansprchen ein Grunddatum, das katholischerseits vor allem in der naturrechtlichen Orientierung der katholischen Sozialethik zum Ausdruck kommt. Auch wenn das Naturrecht ber weite Strecken von kirchlich-kurialen Interessen beeinflusst war und der Interpretationshoheit der Amtkirche unterlag, so konnte es sich doch – insbesondere seit dem Mittelalter und verstrkt seit der frhen Neuzeit – auch in Laienkreisen großer Beliebtheit erfreuen. Das Naturrecht wird im Katholizismus aufgrund seiner Vernunftbegrndungen keineswegs als exklusiver Gegensatz zu theologischen und Glaubenssaussagen gesehen; vielmehr steht die Vernunfterkenntnis in einem konstruktiven Zusammenhang mit dem christlichen Glauben, indem sie diesem in einer Art Dialektik auch bestimmte Grenzen
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zieht und damit dem politischen Gemeinwesen als Ausdruck der Schçpfungsordnung Gottes prinzipiell eine natrliche Wrde zuweist. Das Naturrecht ist also das Instrument, mit dem die Verhltnisbestimmung von Theologie und Offenbarungsglauben zur historisch-kontingenten Weltordnung angemessen bewertet wird (vgl. Korff 1985, 33–47).
2. Revolution und Kirche Die Franzçsische Revolution war ein tiefer Einschnitt in die europische Staaten- und Lebenswelt, weil sie die in der Aufklrung vorbereiteten, neuen skular-politischen Legitimations- und Ordnungsideen zunchst in Frankreich, sodann in Kontinentaleuropa verstrkt verbreitete und damit die Religion ihre privilegierte Stellung als Legitimationsgrundlage des gesellschaftlich-kulturellen Lebens zusehends einbßte. Die menschliche Vernunft tritt nun selbst an die Stelle der das christliche Denken bestimmenden gçttlichen Vernunftidee. Mit der Subjektwende und Skularisierung ging eine radikale Immanentisierung des menschlichen Handelns und Planens einher. Die Verurteilungen der Menschenrechte und der liberalen Ordnungsideen durch die ppstliche Staatslehre beginnen mit dem Breve Quod aliquantum Pius’ VI. (1791), das eine Reaktion auf die Zivilkonstitution der Franzçsischen Nationalversammlung vom Juli 1790 ist. Das ppstliche Schreiben fordert unter Verweis auf den Rçmerbrief des Apostel Paulus den Gehorsam gegenber der Obrigkeit, der als gçttliches Gebot dekretiert wird („Denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott kommt“; Rçmer 13,1). ber Jahrhunderte hatte die Theologie mittels biblischer Normen die Monarchie rechtfertigt. Die christliche Moral forderte entsprechend von den Glubigen unbedingten Gehorsam gegenber Gottes Geboten, und das hieß zugleich gegenber dem Monarchen. In diesem Zirkelschluss verblieben die ppstliche Staatsdoktrin und die kirchliche Moral noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in Restspuren noch darber hinaus. So verlangt Papst Gregor XVI. in Mirari vos (1832) unter Verweis auf Gottes Gebote „unerschtterliche Treue gegenber den Frsten“ und verurteilt die modernen Grundrechte der Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit als „absurde Freiheitsrechte“, die im Widerspruch stnden zu den Forderungen Gottes und der Kirche. Die scharfe Verurteilung liberaler Grundrechte und Ordnungsideen durch die Ppste zwischen 1791 und 1878 (dem Beginn des Pontifikats Leos XIII.) beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass der Papst nicht nur geistliches Oberhaupt der katholischen
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Christenheit, sondern bis 1870 zugleich weltlicher Herrscher ber den Kirchenstaat ist. Die wichtigste theoretische Sttze der weltlichen Souvernitt des Papstes ist das traditionalistische Argument, dass der Kirchenstaat eine Manifestation der Geschichte bzw. der „Zeit“ sei, deren Lenker Gott ist. In den kirchlichen Lehrschreiben wird die Monarchie mit theologischen und traditionalistischen Begrndungen verteidigt. Dabei wird die skulare Gewalt durch das Argument gesttzt, der Papst kçnne sein Amt als Oberhaupt der katholischen Kirche nur dann frei ausben, wenn er keinem anderen weltlichen Herrscher untertan sei. Die politische Theologie der Ppste im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Restauration, der Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Gemß dem Wiener Kongreß 1814/1815, der die europischen Monarchien einschließlich den Kirchenstaat wiederherstellte, sollte in allen Bundesstaaten „eine landstndische Verfassung statt finden“, wie es in Artikel XIII der Deutschen Bundesakte von 1815 hieß. Mit der landstndischen Ordnung war zwar der Schritt zum konstitutionellen System getan; doch blieb diese Form der „verfaßten Reprsentation“ noch dem Denken der alten Stndeversammlungen verhaftet. So hatten die Verfassungen und Reprsentativorgane noch nicht dem Verlangen der breiteren Volksschichten nach mehr Mitsprache, nach Meinungs- und Pressefreiheit sowie nach Reprsentation der nichtbesitzenden Schichten Genge getan. Vorbereitet und begleitet wurde die Restauration durch eine Vielzahl konservativer Staatstheoretiker und Publizisten, allen voran der Savoyarde Joseph de Maistre, ferner die Franzosen Louis de Bonald und Robert de Lamennais (letzterer in seiner Frhphase; vgl. Maier 1988), die Deutschen Joseph Gçrres und Friedrich Schlegel, der Schweizer Carl Ludwig von Haller und andere. Gemeinsam ist ihnen – trotz unterschiedlicher Begrndungen und der Erkenntnis des Anbruchs einer neuen Zeit (besonders bei Gçrres) – der Legitimismus, der Verweis auf die angestammten historischen Rechte der Herrscher und Herrscherhuser, die gemß gçttlicher Vorsehung und geschichtlicher Manifestationen die politische Gewalt innehaben.
3. Politischer Katholizismus Von dem bretonischen Priester Robert de Lamennais wird erstmals die Demokratieidee als eine Option christlicher Haltung entfaltet. Unter Verweis auf die Verfassungsbewegungen 1830 in Belgien, Irland und Polen, die von
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skularen Krften und Katholiken gemeinsam getragen sind („Unionsgedanke“), werden die Forderungen nach Trennung von Kirche und Staat sowie nach verfassungsrechtlicher Sicherung der Religions-, Gewissens-, Unterrichts-, Presse- und Vereinsfreiheit erhoben. Entwickelte sich der moderne Staat in den kontinentaleuropischen Lndern als eine „Revolte gegen die Religion“ (Hans Maier), so sieht Lamennais, nachdem er sich vom Legitimismus abgewandt hat, Religion und Demokratie prinzipiell nicht mehr als Gegenstze, sondern als einander sttzende Grçßen an. Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit erkennt er als Elemente, deren religiçs-sittlicher Inhalt vom individualistischen Liberalismus abgehoben wird. So hofft er fr die Zukunft auf ein Bndnis von christlich-liberalen Krften und individualistisch-skularem Liberalismus. Von den Ppsten wurden die liberalen Grundstze und Gedanken Lamennais’ verurteilt (im Syllabus errorum Pius’ IX., 1864), nicht zuletzt wegen der Forderung, der Papst solle sich die Freiheitsidee zu eigen machen und an die Spitze des Fortschritts stellen. Whrend Lamennais den Katholizismus auf die demokratische Form verpflichten wollte, betrachtete sein Mitstreiter Charles de Montalembert „die Demokratie als unvermeidliches Schicksal“. Er ist weit von einer Dogmatisierung der Demokratie entfernt, lehnt aber auch den Legitimismus entschieden ab. Montalembert ist Demokrat weniger der Gesinnung als der politischen Methodik nach. hnliche Begrndungen von konstitutionellen Gedanken vertritt auch Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877). In seiner politischen Schrift Freiheit, Autoritt und Kirche (1862) entfaltet der Mainzer Bischof, der Mitglied des Paulskirchenparlaments und der Zentrumsfraktion im Deutschen Reichstag war, das Grundgerst fr die katholische Haltung zur Staatsmacht, zu Rechtsstaat und parlamentarischer Vertretung – eine Theorie, die auch die politischen und religionsrechtlichen Grundlinien des politischen Katholizismus im Deutschen Kaiserreich markiert. Mit seinen sozialen Ideen wird Ketteler zugleich zum Wegbereiter einer christlichen Sozialreform (sozialpolitisch einflussreich ist seine Schrift Die Arbeiterfrage und das Christentum von 1864). Kettelers politische Anschauungen sind eine Weiterfhrung der Ideen, wie sie von den Mitgliedern des katholischen Clubs, einer losen Verbindung katholischer Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849, vertreten wurden. Ketteler empfiehlt den Katholiken, alle politischen, parlamentarischen und publizistischen Mçglichkeiten zugunsten der katholischen Interessen wahrzunehmen. Pragmatisch stellt er sich auf den Boden gemßigt liberalrechtsstaatlicher Grundstze. Er wendet sich gegen den Absolutismus und
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den Polizeistaat, denen er den „wahren Rechtsstaat“ gegenberstellt, der „auf Freiheit und Selbstregierung“ beruht. Weitere Forderungen sind: Rechtsschutzgarantie des Staates, die angemessene Differenzierung zwischen Staats- und Privatrechtsordnung, eine Verwaltungsgerichtsordnung, ein oberstes Reichsgericht sowie ein unabhngiger Richterstand. Wesentliches Fundament des Rechtsstaats ist eine normative Ordnung, „ein gerechtes Maß, nach dem gemessen wird, ein gerechtes Gesetz, nach dem geurteilt wird“. Mit seiner Forderung, die in der Preußischen Verfassung 1848/1850 garantierte kirchliche Freiheit als Grundrecht auch in der Deutschen Reichsverfassung von 1871 zu verankern, ist er gescheitert. Die Grundlage seiner Ordnungsideen ist das Naturrecht, wie er sie im Anschluss an Thomas von Aquin vertritt. Das Naturrecht hatte fr den politischen Katholizismus eine hervorragende Bedeutung. Es ermçglichte sachlich-rationale Begrndungen und damit den Dialog mit nicht dezidiert christlichen Theorien und Programmforderungen anderer politischer Richtungen. Andererseits aber hat das Naturrecht in der neuscholastischen Phase (ca. 1850–1960) mit ihrer bermßigen Betonung der Orientierung der Katholiken an kirchenamtlichen Auslegungen gelegentlich zu ungebhrlichen Anlehnungen von katholischen Politikern und Gruppierungen an den Klerus und rçmische Weisungen gefhrt. Fr Ketteler ist das Naturrecht klar und unvernderlich. Aber Klarheit und Festigkeit des Naturgesetzes gelten nur fr die obersten Grundstze. Die Folgerungen fr die verschiedenen Wissens- und Sachbereiche sind nicht schon „von Natur aus“ bekannt, sondern sie sind durch Gebote der praktischen Vernunft zu erschließen. Die sich aus ihr ergebenden Normen sind das menschliche Gesetz. Die Grundrechtsforderungen Kettelers und des Katholizismus seiner Zeit sind ambivalent: Einerseits soll ein mçglichst großer Freiheitsraum fr die Kirche gegenber dem Staat erwirkt werden (korporative Rechte); andererseits werden die „Freiheitsrechte“ noch als „historische Rechte“ verstanden. hnlich wie viele konservative Theoretiker bleibt Ketteler dem historisch-organischen Gedankengut verbunden. Verfassung und Recht werden nicht so sehr als willentlich-schçpferische Produkte, als artifizielle Ergebnisse eines pluralen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses gesehen. Entsprechend werden die Freiheitsrechte als Wiederherstellung lterer „christlich-germanischer Freiheiten“ charakterisiert – eine Anschauung, die hnlich auch im konservativen Staatsdenken und bei Edmund Burke zu finden ist. Dem lteren Rechtsdenken verhaftet bleibt auch die neuscholastische Staatslehre, die von Papst Leo XIII. (1878–1903) zur kirchenoffiziellen Lehre erhoben wird. Er konstatiert, dass der liberale Verfassungsstaat nicht aus
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sich heraus antichristlich ist oder sein muss. Doch werden in der Staatslehre Leos XIII. theologisch-traditionalistische Ideen mit naturrechtlichen Begrndungen verbunden, die Katholizismus und konstitutionell-republikanische Ordnungsideen einander nherbringen – ohne jedoch den Legitimismus zu gefhrden. Leo XIII. vollzieht dieses Kunststck mittels einer Modifizierung der frhneuzeitlichen Naturrechtstheorie, wobei er sich unter anderem auf Kardinal Robert Bellarmin (1542–1621) sttzt.
4. Scholastische Volkssouvernitt Vor dem Hintergrund des Zerfalls der konfessionellen Einheit infolge der Reformation, der Abspaltung der Anglikanischen Kirche, der Entdeckung Amerikas und der Bedeutung neuer Handelsbeziehungen hatten spanische Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts (Franz Vitoria, Franz Surez und andere; vgl. Hçffner 1947) grundlegende Normen des Vçlkerrechts sowie der Rechts- und Eigentumslehre entwickelt. Ihre politische Theorie kulminiert in der Lehre vom Volke als dem ursprnglichen Trger der Gewalt. Diese so genannte scholastische Volkssouvernittsthese modifiziert die Gewaltenlehre des Rçmerbriefs, die den Grundstock des Legitimismus und der christlichen Monarchien darstellte. Das zentrale biblisch-theologische Argument war, dass die (rechtmßige) bestehende Gewalt von Gott komme. Diese These interpretieren die spanischen Denker der frhen Neuzeit schçpfungstheologisch. Das bedeutet: Die Staatsgewalt ist eine naturnotwendige Bedingung des Erhalts des Gemeinwesens; sie entspringt dem gçttlichen Willen. Aber die konkrete Bestellung und Ausbung der Herrschaft beruht auf historisch-kontingenten Gegebenheiten. Notwendigerweise ist daher das Volk, fr dessen Wohl die Herrschaftsgewalt besteht, der ursprngliche Trger der Gewalt. Das Volk bertrgt diese dann gemß den jeweiligen Gepflogenheiten auf einen oder mehrere Gewaltinhaber, deren Herrschaftsbefugnisse auch zeitlich befristet sein kçnnen. Bei der Mitwirkung des Volkes dachte man an vertragliche, jedoch nicht nher modifizierte Formen der Zustimmung. Zweifellos steckt in der scholastischen Volkssouvernittsthese, auch wenn man in der virtuellen Gewaltinnehabung des Volkes keine Gewohnheit, sondern nur eine Mçglichkeit sieht, politischer Sprengstoff. Potentiell ist sie demokratisch. So sah man in dieser These eine Vorwegnahme der modernen Volkssouvernitt und der Ideen Rousseaus. Die spanischen Sptscholastiker verstehen jedenfalls die politische Ordnung als historischkulturelles Produkt, an dem das Volk „irgendwie“ beteiligt ist. Doch blei-
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ben sie auf halbem Wege stehen, wenn sie – trotz voluntaristischer Anstze – an der traditionellen Vorstellung festhalten, dass der Mensch in eine vorgegebene Ordnung eingebunden sei. Lediglich der weltliche Jurist Fernando Vzquez sieht die Beauftragung des Herrschers durch das Volk als jederzeit widerruflich an. Aufgrund dieser Ambivalenz war die scholastisch-frhneuzeitliche Naturrechtstheorie fr Leo XIII. von besonderem Nutzen. Sie konnte dort, wo sich die republikanische und demokratische Ordnung durchgesetzt hatten, ebenso als Rechtfertigungsgrund dienen wie in den bestehenden konstitutionellen und absolutistischen Monarchien. Die Legitimation der jeweiligen Ordnung erfolgte theologisch mit Rçmer 13 und sozialethisch durch Verweis auf das Gemeinwohl als oberster staatsethischer Norm. So forderte Leo 1892 die Katholiken Frankreichs auf: „Acceptez la R publique“. Zweifellos hatte dieses Ralliement, die Aussçhnung der Katholiken mit der Republik, große Bedeutung fr ein positives Verhltnis der Katholiken zur demokratischen Ordnung. Aber andererseits war die neuscholastische Staatstheorie aufgrund verschiedener Kautelen nur bedingt mit der liberalen Staatsrechtstheorie vereinbar. Naturrechtlich betrachtet konnten gemß der aristotelisch-thomistischen Staatsformenlehre Monarchie, Aristokratie und Demokratie legitime Ordnungen sein, sofern sie gemß den sozialethischen Prinzipien des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit dem çffentlichen Wohl dienlich waren. Die katholische Doktrin war also bezglich der Staatsform neutral (Staatsneutralittsthese). Andererseits aber wurde vom traditionellen Kooperationsmodell von Kirche und Staat, dessen Ideal der katholische Glaubensstaat war, der weltanschaulich neutrale Staat als „nationale Apostasie“ bewertet. Zudem war das naturrechtlich-organische Ordnungsmodell (u. a. Postulat der Einheit von Moral und Recht), das Persçnlichkeitsrechte nur im Staatsganzen definieren konnte, individuellen, vorstaatlichen Grundrechtsideen abtrglich. Eine weitere Einschrnkung des Demokratiegedankens in der Lehre Leos XIII. ergab sich aus folgendem Grund. Mit seinen sozialen Rundschreiben gab der Papst der Entwicklung christlich-sozialer und christlich-demokratischer Parteien und Verbnde Auftrieb. In der Enzyklika Rerum novarum: ber die Arbeiterfrage (1891) fordert Leo Lohngerechtigkeit und strkere staatliche Aktivitten im Wirtschaftsprozess, ferner das Koalitionsrecht der Arbeiterschaft sowie zeitgemße Arbeitnehmerorganisationen. Diese Forderungen sind Elemente eines umfnglicheren Programms zur Lçsung der Sozialen Frage, das mittelbar auch demokratische Tendenzen enthielt. Das Rundschreiben gab jedenfalls in mehreren europischen Lndern den An-
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stoß zur Bildung sozialpolitischer, parlamentarischer und parteipolitischer katholischer Verbnde, Parteien und Bewegungen. Aus der Sicht der rçmischen Kurie drohten diese Gruppierungen des politischen und sozialen Katholizismus jedoch, einen autonomen Status anzunehmen und sich kirchlich-politischen Interessen zu entziehen. Zu diesen Befrchtungen gab unter anderem die interkonfessionelle Ausrichtung christlicher Parteien und Gewerkschaften in Deutschland Anlass. Leo XIII. hat daher in seinem Rundschreiben Graves de communi (1901) dekretiert, dass die partei- und verbandspolitischen Aktivitten von Katholiken sich lediglich auf soziale und karitative Aktivitten zu beschrnken htten. Gemß dem Rundschreiben durfte sich der christliche Demokratiegedanke daher nur auf die Volkswohlfahrt, t nicht aber auf politische und Verfassungsfragen richten. Die Katholiken sollten nach dem Willen des Papstes die gegebene staatliche Ordnung – ob monarchisch oder demokratisch – sttzen, selbst aber nichts unternehmen, um eine demokratische Ordnung herbeizufhren. In der kirchenamtlichen Doktrin wirkten unverkennbar noch traditionalistische Ideen nach.
5. Weimarer Katholizismus Der politische Katholizismus in Deutschland war in der Weimarer Republik 1919–1933 gespalten. Der grçßere Teil war zweifellos demokratisch gesinnt, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Verbandskatholizismus seit Bischof Ketteler und dem Fhrer der katholischen Zentrumspartei, Ludwig Windthorst (1812–1891), gewissermaßen als Erbe des Kulturkampfes die parlamentarischen Reprsentativorgane fr die „katholischen Interessen“ zu nutzen verstand (vgl. Morsey 1988). Zugleich aber sah man, auch in sozialpolitischer Hinsicht, die demokratisch-republikanische Ordnung als den besseren Weg an. So waren die Katholiken zum Mittrger der demokratischen Ordnung von Weimar geworden. Politiktheoretisch ist der politische Katholizismus dieser Epoche nicht einfach zu orten. Einerseits war das Gros der Katholiken einschließlich des Klerus der demokratischen Ordnung verbunden, und man verteidigte die politischen Grundrechte entschieden gegen Extremisten von links und rechts, als schon die ersten Notstandsgesetze in Kraft waren. In der NSDiktatur hatte sich die katholische Bevçlkerung um die Priester und Bischçfe geschart, in denen man auch fr den politisch-weltlichen Bereich die Fhrer sah, die das religiçse Lebensrecht gegen den bedrohenden Staat verteidigen. Andererseits aber bereiteten die liberalen Grundrechte, vor al-
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lem ihre verfassungstheoretische Positionierung gegen die diktatorischen Ansprche des Nationalsozialismus, dem „katholischen Gewissen“ betrchtliche Schwierigkeiten. „Die Treue zur bestehenden geschichtlichen Verfassung“, so formuliert es Ernst-Wolfgang Bçckenfçrde (1973, 60), „hatte keinen naturrechtlichen Ort“. Mit anderen Worten: Von der neuscholastisch-naturrechtlichen Staatslehre her konnte man gemß dem Gemeinwohlprinzip als oberster sozialethischer Norm nur die prinzipielle Neutralitt gegenber der bestehenden Staatsform postulieren. Nachdem Hitler aber legal an die Macht gekommen war, sah man sich vom moraltheologisch-kirchlichen Prinzipiendenken her veranlasst, den Anspruch der „rechtmßigen Obrigkeit“ auf Treue und Gehorsam seitens der Katholiken einzufordern. Der Kritik Bçckenfçrdes an den politiktheoretischen Aporien des deutschen Katholizismus im Jahre 1933 wurde vorgehalten, diese These sei theoretisch und unhistorisch. Tatschlich aber entspricht sie durchaus auch der Selbsteinschtzung einzelner Theologen und Kirchenvertreter jener Zeit. Dies belegt ein Artikel des Freisinger Moraltheologen und Ehrenkanonikus von St. Kajetan in Mnchen, Robert Linhardt (1895–1981). In seiner der Fachliteratur bisher unbekannten Schrift Verfassungsreform und katholisches Gewissen. Eine Besinnung auf die Prinzipien der katholischen Sozialund Staatsphilosophie (1933), unterzieht der Theologe – just am Vorabend der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten (sein Vorwort trgt das Datum 25. Januar 1933) – die katholische Staatsdoktrin einer beißenden Kritik (vgl. Uertz 2005, 347–359). Er kritisiert die Verrenkungen und unhistorischen Deutungen der katholischen Naturrechtsdogmatik, das so genannte „System der Mitte“. In verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen gibt es keine „‚Mitte zwischen Individualismus und Sozialismus“, kritisiert Linhardt die katholisch-solidaristische Schule seiner Zeit. Wird das Gemeinwohl – wie bei der nationalsozialistischen Regierung der Fall – von einem legalen Machtinhaber definiert, so sind die Katholiken „gegenber jedem uns historisch bekannten und zuknftig denkbaren Verfassungstyp zur Neutralitt verurteilt“. Linhardts Kritik an der Staatsneutralittsthese und der restriktiven Gemeinwohlinterpretation gipfelt in zwei Grundthesen: 1. Das „katholische Gewissen“ erfordere sptestens in der politisch-existentiellen Situation des Jahres 1933 den entschiedenen Rekurs auf die liberalen Grundrechte, von denen allein her die diktatorische Machtbernahme nicht nur ethisch, sondern auch staatsrechtlich delegitimiert werden kçnne – auch wenn die liberalen Grundrechte nicht zum Kernbestand der katholischen Dogmatik gehçrten. 2. Zur Sicherung der Humanitt des Gemeinwesens sei es von-
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nçten, das Subsidiarittsprinzip, das die Enzyklika Quadragesimo anno: ber die gesellschaftliche Ordnung Pius’ XI. (1931) lediglich als allgemeine gesellschaftliche Leitidee charakterisierte, mit den Rechtszwecken des Staates, d. h. der Rechts- und Friedensordnung seiner Brger zu verknpfen. Linhardts Grundstze einer Verfassungsreform sind – soweit erkennbar – das erste politiktheoretische Dokument des deutschen Katholizismus, das eine systematisch reflektierte demokratisch-rechtsstaatliche Grundrechtsund Verfassungsordnung aus sozialethischer Perspektive entwickelt. hnliche Argumente finden sich auch bei Heinrich Rommen (1897–1967). In sein Buch Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (1936) hat er allerdings noch keine expliziten Grundrechtsforderungen aufgenommen. Erst in der revidierten Neuauflage (1947, 161 f.) verknpft der katholische Jurist, der seit der nationalsozialistischen Diktatur im amerikanischen Exil lehrte, seine Naturrechtsgedanken mit personalen Grundrechten. Was ihn hierzu animierte war „diese lsterliche Umdeutung“ politik- und staatsethischer Grundstze im Kommentarband von Ernst Rudolf Huber Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches (1939). Der Begriff der Menschennatur, so kritisiert Rommen Huber, werde hier nicht gedeutet als „System angeborener und unverußerlicher Rechte des Individuums“, als „die vernnftige Natur, begabt mit Intellekt und freiem Willen, wie sie jedem Menschen zukommt und auf welcher dann die Wrde, die Freiheit und Initiative der individuellen Person beruhen“; vielmehr habe das nationalsozialistische Verfassungsrecht „die persçnlichen Freiheitsrechte des Individuums“ ganz und gar der Willkr des Fhrer- und Machtstaates unterstellt.
6. Christlicher Personalismus Die politisch-programmatischen Aktivitten des deutschen Katholizismus artikulieren sich nach 1945 vor allem in den Unionsparteien CDU und CSU (vgl. Gauly 1991). Angesichts des Umstands, dass der Rechtspositivismus der Weimarer Zeit die Rechtsentartungen des nationalsozialistischen Staates so sehr begnstigte, gab es – weit ber den katholischen Raum hinaus – eine Rckbesinnung auf die Rechts- und Sittlichkeitsgrundstze des christlichen Naturrechts. Freilich liefert das Naturrecht keinen Bestand fester Regeln, die nur in Kraft zu setzen wren; aber es enthlt ein Grundwissen von Prinzipien, die Orientierung fr sachgerechte Normen zur Gestaltung einer freiheitlichen und gerechten Ordnung von Staat und Gesellschaft geben. Hierzu gehçren insbesondere die von der katholischen Sozialethik gepflegten Prinzipien der Subsidiaritt, der Gerechtigkeit und
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der Solidaritt, freilich in einer personal- und verantwortungsethisch modifizierten Sichtweise. Insofern versteht sich das Naturrecht eigentlich als ein Vernunft- oder Kulturrecht. Entsprechend wurde das christliche Naturrechtsverstndnis aus den Engfhrungen der Schultheologie und Kirchenrechtslehre herausgelçst. Solche Modifizierungen ergaben sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die interkonfessionelle Ausrichtung der Unionsparteien konfessionsspezifische Interpretationen im Sinne der katholischen Sozialdoktrin nicht zuließen. Die wichtigsten Motive aber fr die konsequente Hinwendung zur personalistischen Naturrechtskonzeption als Grundlage demokratisch-rechtsstaatlicher Ordnung waren die entschiedene Abgrenzung des Katholizismus von konservativ-traditionalistischen und organologischen Positionen, wie sie auch im Katholizismus der Weimarer Zeit anzutreffen waren (z. B. „organische Demokratie“ als Ausfllung der „Formdemokratie“). Mit der systematischen Hinwendung zum Persongedanken war der Freiheit und der Verantwortung Rechnung getragen, die Staatsmacht prinzipiell begrenzt; zugleich waren dem extremen Individualismus und szientistischen Ideen Grenzen gesetzt. Das christliche, personalistische Menschenbild beinhaltet einen anthropologisch-sittlichen Grundkanon von Prinzipien und Leitideen. Nherhin sind dies: die Wrde, Freiheit und Verantwortungsfhigkeit der Einzelperson, ihre Endlichkeit und Schuldfhigkeit (Gebrochenheit), ferner die Gleichheit der Menschen (vor Gott) und die Idee der Gerechtigkeit. Diese theologisch-anthropologischen Ideen intendieren ein Personverstndnis mit sozialen Implikationen, woraus sich die Sozialprinzipien der Solidaritt, Subsidiaritt und Gerechtigkeit ergeben. Ein weiteres zentrales kulturprgendes Element des Christentums ist die biblisch-theologische Differenzierung zwischen geistlicher und weltlicher Macht (Mk 12,13-17), zwischen religiçsen Ansprchen und politischer Zustndigkeit (so genannte ZweiGewalten-Lehre; protestantisch: Zwei-Reiche-Lehre), die vor allem seit dem Investiturstreit 1077 in der europischen und westlichen Kulturtradition zu ußerst produktiven staats- und rechtsethischen Grundstzen gefhrt hat, wonach die staatliche Macht prinzipiell beschrnkt und sittlich gebunden ist (Bçckenfçrde 1976). In ihrer neuzeitlichen Variante hat diese Differenzierung im religiçsen wie auch im skularen Denken die Idee der Religions- und Gewissensfreiheit entscheidend gefçrdert. Die Leitideen einer freiheitlichen, demokratischen und sozialen Ordnung sind notwendigerweise entwurfs- und gestaltungsoffen: Ihre Anwendung erfolgt entsprechend im Kontext politischer, wirtschaftlicher, finanzpolitischer und kultureller Umstnde (vgl. Korff 1985; Sutor 1992). Der politische Katholizismus konnte mit seinem Politik- und Sozialkon-
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zept nach 1945 auf die Programmatik der Unionsparteien betrchtlichen Einfluss ausben und im Grundgesetz fr die Bundesrepublik sowie in einzelnen Lnderverfassungen Akzente setzen (z. B. Adolf Ssterhenn). Aber auch die Neuorientierung der Sozialdemokratie im Godesberger Programm 1959, in dem nicht mehr der Marxismus die Grundlage des demokratischen Sozialismus bildet, sondern die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie genannt sind, lsst durchaus auch Spuren des christlichen Gesellschaftsdenkens erkennen. Nur durch diese Neuorientierung der Sozialdemokraten, der ein reger Austausch der sozialdemokratischen Parteitheoretiker mit katholischen Sozialethikern vorausgegangen ist, war es mçglich geworden, ab den spten 1960er Jahren verstrkt in die Whlerschaft vor allem katholischer Christen einzudringen. So sieht z. B. der katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning im zweiten Teil des Godesberger Programms „ein kurzgefaßtes Repetitorium der katholischen Soziallehre“.
7. Fazit Das politische Ideenspektrum des Katholizismus zeichnet sich durch eine betrchtliche Breite aus. Seit dem 19. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel von traditionalistischen und konservativen Ideen ber pragmatisch-konstitutionelle und neuscholastische Positionen hin zur demokratischen, menschenrechtlich fundierten politischen Ethik. Dieser Paradigmenwechsel von einer heteronomen Moral zu einer im Sinne des christlichen Personalismus verfochtenen Verantwortungsethik, die vor allem durch den liberalen und den Laienkatholizismus induziert wurde (etwa den franzçsischen Philosophen Jacques Maritain, in Deutschland durch Werner Schçllgen, Alfons Auer, Max Mller und andere) und schließlich in der kirchenoffiziellen Sozialethik seit Johannes XXIII. (1958–1963) seinen Niederschlag findet, ist mçglich geworden durch die im christlichen Glauben grundgelegte Differenzierung zwischen theologisch-biblischen Elementen und politisch-kulturellen Faktoren – eine Differenzierung, die in letzter Konsequenz in der kirchenamtlichen Soziallehre jedoch erst seit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) einen festen Platz beansprucht. Diese Kirchenversammlung hat einen wichtigen Beitrag zur Aussçhnung zwischen Kirche und Welt geliefert. Das lateinische Christentum hat in seinen konfessionsspezifischen Ausformungen des Katholizismus wie auch des Protestantismus die Kultur und Mentalitt, die Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Le-
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bensformen Europas geprgt. Der skulare Charakter des Gemeinwesens, der Gerechtigkeits- und Toleranzgedanke, die Religions- und Gewissensfreiheit als Basis der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung und des europischen Lebensgefhls, schließlich die Grenzziehung zwischen religiçsen Ansprchen und personaler Verantwortung sind nicht durch Beiseitestellen, sondern in konkreter Auseinandersetzung mit dem Christentum entstanden (vgl. Bçckenfçrde 1976, 57 ff.). Insofern stellen das Christentum und die Sozialethik auch einen bedeutsamen Ideenfundus und politiktheoretischen Faktor dar: Beide sind Ausweis der europischen Kultur und Identitt.
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Mßigung der Macht durch Mitverantwortung und Recht. Bemerkungen zum Verhltnis von Protestantismus und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland 1. Obrigkeit und Schçpfungsordnungen, Synode und Demokratie „Mag auch unser demokratischer Rechtsstaat ohne christliche Initiative, vielmehr aus den allgemeinen liberal-skularen Anstçßen des 19. Jahrhunderts und im besondern aus dem Erleben des hitlerschen Unrechtsstaates erwachsen sein, so braucht er darum doch nicht christlich irrelevant zu sein. Er lßt sich vielmehr sehr wohl nicht nur in seinen Grundrechten, sondern auch im ganzen als die Bemhung um ein gutes Verhltnis zwischen Macht und Recht, das heißt um die Mßigung der Macht durch das Recht und durch staatsbrgerliche Mitverantwortung zugunsten der Wrde des Menschen christlich interpretieren“ (Heinemann 1967, 35 f.). Was Gustav Heinemann, damals Justizminister, im Jahr 1967 in einer Aufsehen erregenden Rede vor der Theologischen Fakultt einer Universitt sagte, versammelt wie in einem Brennglas die zentralen Widersprche, Probleme und Umbrche im Verhltnis des Protestantismus zur Demokratie des Grundgesetzes. Der in der Tradition der Bekennenden Kirche stehende Christ und engagierte sozialdemokratische Rechtspolitiker Gustav Heinemann (vgl. Vçgele 1999b) beleuchtete das schwierige Verhltnis des Protestantismus zur Demokratie des Grundgesetzes. Dieses Verhltnis war auf protestantischer Seite von enormen Fortschritten und Vernderungen, aber auch von Brchen und Missverstndnissen geprgt. Heinemanns Rede setzte einen Akzent in eine ganze neue Richtung. Worin waren diese Brche und Missverstndnisse begrndet? Große Teile der deutschsprachigen evangelischen Theologie waren in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts durch ein Verstndnis des Staates als Obrigkeit geprgt. Als Obrigkeit war der Staat im Anschluss an Rçmer 13 zwar unmiss-
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verstndlich als Autoritt gekennzeichnet. Ihm schuldeten die Brger unbedingten Gehorsam, aber die evangelische Theologie vernachlssigte darber die Aufmerksamkeit fr Gestalt und Organisationsform des Staates: Hinter das politisch-ethische Verstndnis des Staates als Obrigkeit traten die Differenz zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie zurck. Diese Vernachlssigung sollte sich in der Zeit des Nationalsozialismus als verhngnisvoll erweisen, auch wenn das entscheidende Bekenntnisdokument der Bekennenden Kirche, die Theologische Erklrung von Barmen aus dem Jahr 1934, in ihrer berhmt gewordenen fnften These an die „Verantwortung von Regierenden und Regierten“ erinnert und dem Staat die Aufgabe zuweist, „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermçgens unter Androhung und Ausbung von Gewalt fr Recht und Frieden zu sorgen“ (Barmer Erklrung 1934, These 5). Dies konnte als frhe Abwendung von der Obrigkeitstheologie gelesen werden, und in diesem Sinn nahm Heinemann lange vor der Demokratie-Denkschrift der EKD diesen Impuls auf und machte ihn zum zentralen Baustein seiner berlegungen zum Verhltnis von Protestantismus und Demokratie. Der den Protestantismus kennzeichnende innere Pluralismus ist ein weiteres Merkmal, das die Verhltnisbestimmung zur Demokratie schwierig machte. Konfessionelle Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Reformierten brachen auf breiter Linie neu auf und wurden in der Nachkriegszeit mit neuer Heftigkeit ausgefochten: Lutheraner tendierten dazu, das alte Verstndnis vom Staat als Obrigkeit weiter zu verfolgen. Reformierten Theologen dagegen gelang es, durch das basisdemokratische Synodalprinzip, die strkere Betonung der Rolle von Laien und flachere konsistoriale Hierarchien leichter Zugang zu demokratischen Organisationsprinzipien wie Gewaltenteilung, Mehrheitsentscheidung, Gegenber von Regierung und Opposition zu finden. Den Pluralismus verstrkten innertheologische Streitigkeiten zwischen den Vertretern der Kçnigsherrschaft Christi im Gefolge Karl Barths und der lutherischen Zweireichelehre. Diese Kontroversen erschwerten eine nchterne Diskussion. Hinzu kam die Nhe zu den verschiedenen politischen Parteien: Kirchlich sehr engagierte Christen wie Gustav Heinemann, Erhard Eppler und Johannes Rau waren Sozialdemokraten, whrend andere wie Hermann Ehlers, Eugen Gerstenmaier, Richard von Weizscker Mitglied der CDU waren oder mindestens fr sie Sympathie zeigten (vgl. Huber 1990). Hinzu treten regionale Besonderheiten, die durch Landeskirchen und Bundeslnder bedingt sind. Die Hannoversche Landeskirche arbeitete in Niedersachsen anders mit der Landesregierung und dem Landtag zu-
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sammen als das z. B. in Bayern oder Nordrhein-Westfalen geschah (vgl. Vçgele 1999a). Erschwerend kam darber hinaus eine Konkurrenz zur katholischen Kirche hinzu, die sowohl Fragen des Einflusses in der politischen Kultur der Bundesrepublik wie auch theologische Grundsatzfragen (wie die des Gegenbers von katholischem Naturrecht und protestantischer Situationsethik) betraf. Denn gerade darin hatte Heinemann nicht Recht, dass er bei der Entstehung des Grundgesetzes keine „christlichen Initiativen“ sah. Diese existierten sehr wohl, allerdings fast ausschließlich im Bereich der katholischen Kirche. In den ersten Nachkriegsjahren zeigte sich, dass viele evangelische Theologen Menschen- und Grundrechten sehr skeptisch gegenber standen. Auf dem Feld der evangelischen Sozialethik waren die ersten Nachkriegsjahre geprgt durch eine intensive Diskussion ber den Begriff der Institution (vgl. Brinkmann 1997), der an die Stelle der alten Rede von den gottgegebenen Schçpfungsordnungen treten sollte. Ein fnfter Grund fr die Schwierigkeiten des Verhltnisses zwischen Protestantismus und Demokratie liegt darin, dass sich vor die grundstzliche Frage nach der Legitimation der Demokratie sehr hufig ußerst kontrovers diskutierte Sachfragen schoben, beispielsweise in den fnfziger Jahren die Frage der Wiederbewaffnung und das Gegenber von Kriegsdienstverweigerung und Wehrdienst, in den sechziger und siebziger Jahren die politische Aussçhnung mit Polen und der Sowjetunion, in den achtziger Jahren die Kontroversen um die Nachrstung, die Mçglichkeit zivilen Ungehorsams, das Asylrecht und die zivile Nutzung der Kernenergie. All diese Auseinandersetzungen und Probleme polarisierten den Protestantismus, verstrkten die in ihm latent angelegten zentrifugalen Krfte und fhrten schließlich dazu, dass die evangelische Kirche ihr prinzipielles Verhltnis zur Demokratie des Grundgesetzes erst ber 35 Jahre nach dessen Inkrafttreten klrte. Noch heute besteht ber die Bewertungen dieser Entwicklungen in der sozialethischen und politikwissenschaftlichen Forschung keineswegs Einigkeit (vgl. z. B. Inacker 1994). Im Folgenden soll nach diesen einleitenden Bemerkungen ber die Schwierigkeiten und Chancen des Verhltnisses von Protestantismus und Demokratie die Entwicklung der protestantischen Interpretation von Grund- und Menschenrechten, von Menschenwrde und staatsbrgerlicher Mitverantwortung – von der Heinemann so eindrucksvoll sprach – schlaglichtartig an zwei Beispielen dargestellt werden. Die erste Frage muss lauten: Inwiefern war die evangelische Kirche an der Entstehung des Grundgesetzes beteiligt? Wieso hat sie sich nicht strker engagiert? Dem stelle ich
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eine kurze Analyse der Demokratie-Denkschrift von 1985 an die Seite, denn sie ist das entscheidende Dokument, in dem der evangelischen Kirche der Durchbruch zu einer positiven Bewertung der Demokratie gelang. Den Beitrag werden Bemerkungen zum gegenwrtigen Stand des DemokratieDiskurses im Protestantismus abschließen.
2. Protestantische Verfassungsethik? Der Befund, dass die evangelische Kirche sich nicht oder nur sehr marginal an der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Diskussion um eine demokratische Verfassung fr die Bundesrepublik beteiligt hat (vgl. dazu Anselm 1990; Vçgele 2000), gewinnt aus einer kirchenpolitischkonfessionellen, einer theologischen und aus einer binnenkirchlichen Perspektive besondere Bedeutung. Die kirchenpolitisch-konfessionelle Perspektive: Im Gegensatz zur katholischen Kirche waren die evangelischen Landeskirchen bei den Debatten, die in Herrenchiemsee und in Bonn im Parlamentarischen Rat ber das entstehende Grundgesetz gefhrt wurden, kaum prsent. In den Archiven lassen sich mit wenigen Ausnahmen weder Briefe noch Stellungnahmen finden. Die Ausnahme betrifft das so genannte Elternrecht. Dabei handelte es sich um eine Initiative katholischer Bischçfe und Politiker, nach der Eltern das Recht haben sollten, fr ihre Kinder zwischen einer konfessionellen und einer staatlichen Schule zu whlen. Dieser Initiative schloss sich die evangelische Kirche an. Aber insgesamt konnten sich die Kirchen damit nicht durchsetzen. Das Elternrecht wurde nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Die katholische Kirche nahm auf das entstehende Grundgesetz sehr viel grçßeren Einfluss (vgl. van Schewick 1980), vor allem in der effektiven politischen Lobby-Arbeit des Prlaten Bçhler und des rheinland-pflzischen Politikers Adolf Ssterhenn (vgl. Ssterhenn 1991; Vçgele 2000), aber auch in einer kontinuierlichen Reihe von Stellungnahmen und Hirtenbriefen (Baadte/Rauscher 1985), welche die entstehende Verfassung begleiteten und kommentierten. Verfassungs- und rechtspolitisch lsst sich sehr wohl sagen, dass bei der Diskussion des Grundgesetzes und vor allem bei der Diskussion um Grund- und Menschenrechte theologische Elemente eine gewisse Rolle spielten. Das zeigt sich vor allem an der Diskussion darber, wie der Begriff der Menschenwrde zu verstehen sei und an der Frage, ob sich das deutsche Volk zu „heiligen“ Menschenrechten bekennen sollte. Theodor
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Heuss, der liberale Christ und FDP-Politiker prgte z. B. die berhmte Formel von der Menschenwrde als nicht-interpretierter These (vgl. Vçgele 2000). Aber ein dezidiert kirchlicher Einfluss lsst sich dabei nicht nachweisen. Das gilt genau so fr bestimmte Vorlufer-Dokumente fr eine deutsche Nachkriegsverfassung, die im Kontext des Kreisauer Kreises entstanden. In solchen Dokumenten sind theologische und christliche Elemente zu sehen. Aber theologische Reflexionen kamen aus dem Protestantismus, nicht aus der evangelischen Kirche, und fr die politischen Debatten des Parlamentarischen Rates waren sie spter nicht mehr von Bedeutung. Rechtspolitisch war die Nachkriegszeit durch eine gewisse Renaissance des Naturrechts gekennzeichnet. Rechtspolitisch und -philosophisch entdeckte man den Gedanken der Menschenrechte neu, was insbesondere durch die çffentlich gefhrten Debatten im Kontext der Entstehung der Vereinten Nationen nahe lag. Man verstand Menschenrechte als von Natur gegebene, selbstverstndliche und fr alle Menschen geltende Rechte. Nun konnte man darber streiten, ob Menschenrechte als von Natur gegeben oder als von Gott gegeben zu bezeichnen seien. Sicher ist, dass dieser Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Naturrecht fr die katholische Theologie eine Reihe von Anknpfungspunkten bot, die international und mit Bezug auf die Entstehung der Allgemeinen Erklrung der Menschenrechte von katholischen Philosophen wie Jacques Maritain und national von katholischen Bischçfen, Theologen und Politikern gerne aufgenommen wurden. In der evangelischen Theologie jedoch lçste diese Affinitt zwischen Naturrecht und Menschenrechten genau den umgekehrten Effekt aus. Der bekannte Gçttinger Sozialethiker Ernst Wolf zum Beispiel kritisierte die „ontologische Anthropologie“ (Wolf 1947/48, 66; vgl. Vogel 1951), die er als Grundlage der Menschenrechte identifizierte. Viele Theologen sahen es als problematisch an, dem Menschen, der nach theologischem Verstndnis als Snder zu begreifen war, eine Wrde zuzugestehen, die ihm – zumindest coram Deo – nicht zukam. Allerdings ist aus mehreren Grnden davor zu warnen, mit Hilfe dieses Befundes die katholische gegen die evangelische Kirche auszuspielen. In der Entstehungszeit des Grundgesetzes hatte der Begriff der Menschenwrde noch nicht die berragende zentrale Stellung fr die politische und rechtliche Kultur der Bundesrepublik, wie er sie nach der Verabschiedung des Grundgesetzes in Jahrzehnten der Interpretations- und Deutungsarbeit gewann (vgl. Vçgele 2000). Auch in der katholischen Kirche waren Menschenrechte und Menschenwrde lange deshalb verpçnt, weil man sie als
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Produkt von Aufklrung, Liberalismus und Skularismus verdchtigte. Endgltig wurden die nçtigen theologischen und ethischen Verbindungsschritte erst mit dem Zweiten Vatikanum vollzogen. Nicht zufllig setzt die Vorstellung evangelischer Deutungen des Wrdebegriffs mit einem Laien und Juristen ein. Gustav Heinemanns bereits zitierte Rede ist eines der ersten Dokumente, in dem, fast zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, Konturen einer protestantischen Interpretation des im Grundgesetz fixierten Wrdebegriffs sichtbar werden. Heinemanns Leistung ist um so hçher zu bewerten, als er sich in einer doppelten Frontstellung sah. Zum einen musste er sich gegen die protestantische Tradition wehren, die im Staat lediglich eine Gehorsam fordernde Obrigkeit sah, zum anderen gegen das katholische Naturrecht, welches in der Interpretationsgeschichte bis 1967 eine herausragende Rolle spielte. Das Naturrecht muss Heinemann deswegen ablehnen, weil er sein Gottesverstndnis nicht akzeptieren kann. Gott habe sich nicht an von der Vernunft erkennbare „zeitlose Ordnungsnormen oder Wesensbestimmungen“ (Heinemann 1967, 33) gebunden. Der naturrechtlichen Prinzipienethik stellt er darum eine protestantische Situationsethik entgegen: „Wirklicher Gehorsam geschieht vielmehr im stets neuen Wagnis der rechten Antwort auf die Frage, was Gott in der gegenwrtigen Situation von uns will“ (Heinemann 1967, 33). Die Freiheit und das Entscheidungsvermçgen des einzelnen sind gefhrdet, wenn der Staat, wie es nach Heinemann die protestantische Theologie seit Jahrhunderten gefçrdert hat, als Obrigkeit verstanden wird. Denn wer im Staat vor allem die Autoritt, die Obrigkeit sieht, sieht im Brger vor allem den Untertan. Wegen dieses Vorverstndnisses war die Theologie nicht in der Lage, die Demokratie der Weimarer Republik zu untersttzen. Wie die Demokratie der Weimarer Republik fußt auch die Demokratie des Grundgesetzes nicht auf einer autoritren Staatsfixierung; sie setzt beim Brger an, nicht bei der Obrigkeit. Ihr oberster Wert ist die Menschenwrde. Damit ist nach Heinemann fr die evangelische Theologie die Chance gegeben, ihr veraltetes Obrigkeitsverstndnis aufzugeben und ein neues Verhltnis zur Demokratie zu gewinnen, wobei es ausdrcklich nicht Heinemanns Ziel ist, der Demokratie des Grundgesetzes ein protestantisches Staatsverstndnis aufzupfropfen. Sein eigenes protestantisches Staatsverstndnis bildet sich unter den Bedingungen des Pluralismus. Der Kern des Grundgesetzes, das den Brger und die Wrde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, sind fr Heinemann die Grundrechte. Ihnen begegne die evangelische Theologie mit Misstrauen, da sie in ihnen nur die „Magna Charta menschlicher Autonomie“ erblicken kçnne (Heine-
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mann 1967, 34). Heinemann stellt dem eine christliche Interpretation der Grundrechte gegenber. An dieser Begrndung der Grundrechte und der Menschenwrde ist mehreres bemerkenswert: – Heinemann setzt ausdrcklich christologisch ein. Der Mensch hat nicht Wrde wegen seiner vorgegebenen Gottebenbildlichkeit, sondern weil er zuvor durch das Heilsgeschehen in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gewrdigt worden ist. – Mit dieser Begrndung ist zumindest indirekt ein Zusammenhang zwischen der Freiheit des Glaubens und den Freiheiten der Grundrechte geschaffen. Denn die Grundrechte kommen dem einzelnen, ob er glaubt oder nicht, deshalb zu, weil Jesus Christus auch fr ihn gestorben und auferstanden ist. Ob der einzelne dem im Glauben entspricht oder nicht, ist nicht von Belang. – Die fr das obrigkeitliche Verstndnis des Staates entscheidende Funktionsbestimmung, nmlich fr die Eindmmung des Bçsen zu sorgen, nimmt Heinemann auf, und er bertrgt sie auf die Institution der Grundrechte: Sie gewhrleisten dem einzelnen Schutz vor staatlichen bergriffen, die ihn zum Untertan degradieren. Die traditionell positive theologische Bewertung des Staates gibt Heinemann auf; an ihre Stelle tritt Ambivalenz: Es ist mçglich, dass der Staat seiner Aufgabe, fr Recht und Frieden zu sorgen, gerecht wird, und es ist mçglich, dass der Staat – wie im Nationalsozialismus – diese Aufgabe verfehlt und sich gegen diejenigen wendet, die er eigentlich schtzen sollte.
3. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe Fast zwanzig Jahre nach Heinemanns Ausfhrungen nimmt die evangelische Kirche seine politische Ethik und seine demokratietheoretischen und rechtspolitischen berlegungen auf. 1985 verçffentlicht sie die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ (Kirchenamt 1985).1 Die Denkschrift stellt den Begriff der Menschenwrde in den Mittelpunkt ihrer berlegungen. Die Anerkennung der menschlichen Wrde ist fr die Denkschrift der Grund, der Demokratie als Staats- und Verfassungsform zuzustimmen (vgl. Kirchenamt 1985, 12). Weil die Wrde des Menschen als Konsequenz des biblischen Gedankens der Gottebenbildlichkeit begriffen werden kann, konstatiert die Denkschrift eine besondere Nhe zwischen dem christlichen Menschenbild und den Grundgedanken der Demokratie (13). Die Menschenwrde ist fr die Autoren der Denkschrift
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der Maßstab, an dem sich staatliches Handeln messen lassen muss. Der Staat ist wie die Kirche eine Ordnung in der noch nicht erlçsten Welt. Es ist seine Aufgabe, „die Auswirkungen der Fehlsamkeit des Menschen in Grenzen“ zu halten (13 f.). An dieser Fehlsamkeit hat jedoch auch der Staat selbst Anteil; darum ist die Menschenwrde der Maßstab, an dem sich alles staatliche und gesellschaftliche Handeln zu orientieren hat. Wegen dieser Mitverantwortung aller an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft kann nur eine demokratische Verfassung der Menschenwrde entsprechen. Menschenwrde ist in diesem Verstndnis mehr als ein Rechtsprinzip; sie ist darber hinaus auch Prinzip gesellschaftlicher Gestaltung. Als Rechtsprinzip begrndet die Menschenwrde die Grundrechte. Fr die Kirche ist die Religions- und Gewissensfreiheit von besonderer Bedeutung. Fr die Werte, die einer demokratischen Gesellschaft zugrunde liegen, hat Menschenwrde nach der Denkschrift begrndende Funktion. Aus der Menschenwrde folgen die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidaritt. Dennoch ist die Demokratie keine christliche Staatsform, auch nicht wegen des Prinzips der Menschenwrde, und schon gar nicht die einzige fr einen Christen mçgliche Staatsform. Jedoch, so stellt die Denkschrift abschließend fest, enthlt die freiheitliche Demokratie die Grundvoraussetzungen, die es den Christen ermçglichen, sich im politischen Leben zu engagieren. Sie kçnnen das, „weil sie ihren Auftrag von Gott darin erkennen, fr die Wrde des Menschen und darum auch fr Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten“ (45 f.). Menschenwrde hat fr die Demokratie-Denkschrift drei Funktionen: Sie begrndet die Grundrechte, wie sie in Art. 1–20 GG festgelegt sind. Damit begrndet sie zweitens einen Maßstab, der das staatliche Handeln begrenzt und Freiheit und Gleichheit des einzelnen ermçglicht. Sie begrndet drittens die Werte, die allem gesellschaftlichen Handeln zugrunde liegen sollen. Es ist wichtig zu betonen, dass die EKD-Denkschrift zu Beginn nicht unumstritten war. Gerade Johannes Rau bte an ihr Kritik, die er im Anschluss an theologische Argumente von Gustav Heinemann und Helmut Simon verdeutlichte (Rau 1987). Fr ihn bersprang die Denkschrift zu schnell die Demokratie verneinende Tradition des Protestantismus, ihr Obrigkeitsdenken und die Fixierung auf staatliche Autoritten. Rau wollte eine konfliktstarke Kirche, die in politischen Fragen Position bezog. Und er warf der Denkschrift vor, dass ber der Betonung des Rechtsstaats die Frage nach dem Sozialstaat zurcktrat. Theologisch sah Rau die Tradition der „Barmer Theologischen Erklrung“ nicht gengend bercksichtigt, und er
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monierte eine zu starke Bercksichtigung der Schçpfungstheologie (Rau 1987, 1010).
4. Vom Konflikt zum Konsens und zurck Zwanzig Jahre nach der Publikation der Demokratie-Denkschrift (vgl. Huber 2005) stellt sich das Bild nochmals anders dar. In groben Konturen ist eine Geschichte des Verhltnisses von evangelischer Kirche und Demokratie in der Bundesrepublik deutlich geworden, fr das sich drei Phasen unterscheiden lassen, nicht ganz trennscharf, weil sie sich teilweise berlappen: a) Die Phase der Selbstfindung und Neu-Interpretation (1945–1967): Das durch das Grundgesetz vorgegebene Bekenntnis zu Menschenwrde, Menschen- und Grundrechten musste die politische Kultur der Bundesrepublik allererst einholen. Man musste lernen, was unter Menschenwrde und Grundrechten zu verstehen war. Ablesen lsst sich dieser Lernprozess an der enormen Bedeutung, die der Begriff der Menschenwrde in der politischen Kultur der Bundesrepublik gewonnen hat (vgl. Vçgele 2000). Im Detail wre das an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, an den Reden der Bundesprsidenten und anderer Staatsreprsentanten abzulesen. Auch in der evangelische Kirche ist derselbe Prozess festzustellen, allerdings in zwei Phasen: Zuerst musste man sich von der alten Fixierung auf den Staat als reine Machtinstitution und als Obrigkeit, dem Gehorsam geschuldet wurde, befreien, um dann in einem zweiten Schritt eine ganze Reihe von theologischen Anknpfungspunkten in der politischen Kultur zu entdecken, angefangen vom Begriff der Menschenwrde ber die Gottes-Klausel in der Prambel des Grundgesetzes bis hin zu Korrespondenzen zwischen grundrechtlich verankerten Freiheitsrechten und theologischen Freiheitskonzepten. b) Die Phase der Konflikte (1967–1985): Kirche und Protestantismus scheuten weder vor noch nach dieser Phase vor Konflikten mit politischen Parteien und dem Staat zurck. Was das Besondere dieser Phase ausmacht, ist die Tatsache, dass politische Konflikte und Sachfragen von einem demokratietheoretischen und einem politisch-ethischen Konflikt berlagert wurden. Das gilt fr die Fragen des zivilen Ungehorsams, des Asylrechts und der Nachrstung. Der demokratietheoretische Konflikt besteht in der Frage, welche Bedeutung Minderheitenvoten, politische Bekenntnisse von einzelnen und Gewissensentscheidungen in Fragen haben, in der die demokratisch gewhlte Mehrheit anders optiert als die – kirchliche – Minder-
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heit. Der politisch-ethische und darum innertheologische Konflikt besteht in der Frage, welche – zwingenden – politischen Schlussfolgerungen aus Glaubensentscheidungen zu ziehen sind. Ohne die Optionen nochmals darzustellen, die in diesen Konflikten heftig aufeinander prallten: In der Regel stellte man die politische Konfliktfrage ber die Grundsatzfrage. Dies nderte sich nachhaltig mit der Demokratie-Denkschrift, die diese Konflikte mit all ihren Widersprchen klar zum Ausdruck brachte. c) Die Phase des Konsenses hinter den Konflikten (1985 bis heute): Obwohl sie anfangs umstritten war, markiert die Demokratie-Denkschrift hier dennoch einen Wendepunkt. Mit ihr setzt sich im Protestantismus langsam die Einsicht durch, dass die Errungenschaften der rechtsstaatlichen, freiheitlichen Demokratie trotz aller Konflikte etwas Wertvolles und Bewahrenswertes sind. Diese selbstverstndlich positive Haltung kann sofort wieder in den Hintergrund treten, wenn sich Konflikte ergeben. Aber die Konflikte selbst gefhrden nicht mehr die Zustimmung zur Demokratie, wie das noch in der zweiten Phase der Fall war. An dieser Grundtendenz konnte auch der Fall der Mauer im November 1989 mit all seinen gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Folgen nichts ndern. Sehr wohl lassen sich noch unterschiedliche Strçmungen im Protestantismus unterscheiden: Wie in den beiden ersten Phasen stehen sich eine konservativere und eine linksliberale Richtung gegenber. Dennoch gilt, dass sich sowohl die konservative als auch die linksliberale Richtung in den drei Phasen sehr gewandelt haben. Was die Zustimmung zur Demokratie des Grundgesetzes angeht, so haben sich beide Strçmungen ohne Zweifel aufeinander zu bewegt. Was die Gewichtung von bestimmten politischen, sozialen und çkonomischen Konflikten angeht, so bestehen weiterhin erhebliche Differenzen. Ein verlsslicher Indikator fr das Selbstverstndnis dieses politischen Protestantismus ist hufig der Deutsche Evangelische Kirchentag. In seiner typischen Mischung aus Pilgerwegen und politischen Demonstrationen, aus Feierabendmahl und Jugendtreffen, aus Laienbewegung und kirchlicher Selbstdarstellung hat er die inneren Konflikte des Protestantismus in allen drei Perioden stets auf den Punkt und zum Ausdruck gebracht, wenn er nicht sogar zum Gegenstand solcher Konflikte wurde, wie im Fall der Bankkonten, die der Kirchentag bei der Deutschen Bank unterhielt. Den Kirchentag im Jahr 2007 in Kçln stellt das Prsidium unter die Losung „Lebendig und krftig und schrfer“ (Hebr 4,12). Auch wenn im Hebrerbrief mit diesen drei Bestimmungen Gottes Wort selbst charakterisiert wird, so kann dieses Motto, aus dem biblischen Kontext herausgelçst, nicht anders denn als Aufforderung an die evangelische Kirche verstanden
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werden, sich strker zu profilieren und çffentlich Partei zu nehmen. In einer Pressemeldung zum Kirchentagsmotto sprach der rheinische Prses Schneider davon, das Wort Gottes solle „parteilich und konkret“ fr „Trennschrfe und Profil“ sorgen. Das kçnnte auf die wachsenden çkumenischen Spannungen zwischen katholischer und evangelischer Kirche bezogen sein, ist aber mindestens genauso sehr politisch gemeint. Von neuem zeigt sich der alte Konflikt zwischen einer parteiischen politischen und einer berparteilichen unpolitischen Kirche. Neu ist, dass die Parteilichkeit fr die ffentlichkeitsarbeit in Dienst genommen wird. Doch bloße Parteilichkeit aus dem Wunsch, sich zu profilieren, kçnnte auch Differenzierungs- und Erkenntnisgewinne gefhrden, die in zwei Jahrzehnten des Miteinanders von evangelischen Kirchen, politischer Kultur und Verfassungsdemokratie gewonnen wurden. Abseits solcher berlegungen soll im folgenden in Gestalt kurzer Problemanzeigen eine Reihe von Konflikten benannt werden, welche das Verhltnis von Demokratie und Protestantismus weiterhin prgen. 1. Zivilreligion, Werte und Leitkulturen: Die aus den 1970er Jahren stammende Debatte ber die Werte, die Kultur, welche die Grundlagen von Rechtsstaat und auf Gewaltenteilung und Mehrheitswahlrecht beruhender Demokratie bilden, ist nicht abgerissen. Zwar ist es um die religionstheoretische Debatte ber die Zivilreligion (vgl. Vçgele 1994 und 2001) stiller geworden, dennoch wird weiterhin intensiv die Frage gestellt, auf welchen kulturellen, philosophischen, theologischen, historischen Grundlagen das politische System der Demokratie aufruht. Im Anschluss an Bçckenfçrdes Diktum von den Voraussetzungen des Rechtsstaates, die dieser selbst nicht garantieren kann, wird weiter nach Ethikmodellen, Werten, Tugenden und Gtern gefragt, welche die politische Kultur einer Demokratie notwendig bençtigt. Fasst man diese Grundlagen nicht mehr in einer Zivilreligion oder in einer zivilreligiçsen Dimension der politischen Kultur zusammen, so stellt sich die Frage, was denn dann an Prinzipien, Erfahrungen und Werten als grundlegende Voraussetzung der politischen Demokratie herhalten soll. Oft wird an diesem Punkt der Debatte die Zivilgesellschaft als Trger und Voraussetzung der politischen Kultur eingefhrt. Und es stellt sich die Frage, ob die Kirchen als freiwillige Assoziationen der Zivilgesellschaft zuzuordnen sind (vgl. Vçgele 1998) oder ob sie als Institutionen sui generis außerhalb der Zivilgesellschaft stehen. Diese Debatte ber die kulturellen Grundlagen der Demokratie ist in den letzten Jahren im Zuge der Vergrçßerung der Europischen Union sehr stark erweitert und ausgedehnt worden. Man fragt nun nicht mehr so sehr
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nach dem Verhltnis zwischen deutschem Protestantismus und der Demokratie des Grundgesetzes, sondern auf der europischen Ebene nach Verknpfungen zwischen christlichen, kirchlichen und theologischen Traditionen der europischen Geschichte und ihrem Verhltnis zu Demokratie, Menschenrechten und der Europischen Union (vgl. Vçgele 2003). Diese Diskussion enthlt neuerdings ihre besonderen Akzente durch die Frage nach dem EU-Beitritt der islamisch geprgten Trkei. Soll die Mitgliedschaft in der Europischen Union nur denjenigen Staaten offen stehen, die sich durch die eigene christliche Prgung kulturelle, politische und rechtliche Errungenschaften wie Menschen- und Grundrechte, Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche zu eigen gemacht haben? In der Trkei sprach man deshalb kritisch davon, die Europische Union sei kein exklusiver „Christenclub“. Ohne diese Beitrittsfrage abschließend und ausfhrlich diskutieren zu wollen, sicher ist, dass damit die Verhltnisbestimmung von Christentum und Europa eine ganz neue politische Brisanz gewinnt. Der Streit darber findet seinen Ausdruck auch in konservativeren und liberaleren Positionen innerhalb des Protestantismus. 2. Menschenwrde, Prambeln und Stammzellen: In der Frage, was unter Menschenwrde zu verstehen sei, fokussieren sich weiterhin die Fragestellungen, die man protestantisch mit dem Verhltnis von Demokratie und Kirche verbindet. Dieses gilt zum einen wiederum europisch, denn die viel diskutierte europische Verfassung bernahm in ihrem Grundrechtskatalog fast wortwçrtlich die deutsche Formulierung des Grundgesetzes ber den Schutz der Menschenwrde. Und es entstand eine intensive und kontrovers gefhrte Diskussion ber einen Gottesbezug in der Prambel der zu verabschiedenden europischen Verfassung, die dann durch den Verweis auf „spirituelle Grundlagen“ der europischen Geschichte gelçst wurde. Zum anderen spielte der Begriff der Menschenwrde eine wichtige Rolle in der Debatte darber, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt sei. Dieses war in der evangelischen Kirche durchaus umstritten. Der Streit entbrannte darber, ob schon der befruchteten Eizelle Menschenwrde zuzuerkennen sei oder ob diese erst zu einem spteren Zeitpunkt der Entwicklung dem Embryo zukomme. Zur Debatte steht dabei das grundlegende Verstndnis der Menschenwrde als Fundamentalbegriff des Grundgesetzes, als theologischer Terminus mit seiner Nhe zum Begriff der Gottebenbildlichkeit und als philosophisch-anthropologischer Begriff mit unmittelbaren Auswirkungen auf Rechtssetzung und Forschungspolitik (zu dieser Debatte vgl. Dabrock et al. 2005).
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3. konomie und Demokratie: In der Frage nach konomie und Demokratie kommen eine gesellschaftliche und eine sozialethisch-theologische Debatte zusammen. Gesellschaftlich wird angesichts der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit und sinkender Steuereinnahmen nach dem Verhltnis von Sozialstaat und Demokratie gefragt. Die Frage lautet, ob das Sozialstaatsprinzip eine notwendige Bedingung fr eine demokratische politische Kultur sei. Im Hintergrund steht eine Hypothese, die so lautet: Eine Reihe von sozialen, inneren Konflikten der Bundesrepublik habe in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums und der Prosperitt durch sozialstaatliche Umverteilungen ermßigt und korrigiert werden kçnnen. Falle diese finanzielle Option zur Regelung sozialer Konflikte weg, so gerate die Demokratie potentiell in eine schwere Krise. Dieser Problemkomplex verbindet sich theologisch und sozialethisch mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Die EKD hatte darauf unter anderem mit einer Denkschrift (Gemeinwohl 1992) und mit dem evangelisch-katholischen Gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage (Fr eine Zukunft 1997) reagiert. Dabei zeigte sich, dass die çkonomischen und sozialen Fragen auch demokratietheoretische Implikationen haben, die bedacht werden mssen. Neben diesen Hauptproblemen prgten und prgen eine Reihe weiterer sozialethischer Fragen das Verhltnis des Protestantismus zur Demokratie, so die Aussçhnung mit den çstlichen Nachbarn Deutschlands, vor allem mit Polen, welche gegenwrtig durch die Debatten ber das Zentrum gegen Vertreibungen neu belebt wird und zu der die EKD mit der so genannten Ost-Denkschrift (Lage 1965) schon in den 1960er Jahren einen bedeutenden Beitrag leistete. Und die Frage nach militrischen Interventionen, welche sptestens nach dem Kosovo-Krieg nicht nur in der evangelischen Sozialethik, sondern weit darber hinaus eine intensive neue Debatte ber die Legitimation gerechter Kriege nach sich zog. In all diesen Sachfragen zeigt sich der Protestantismus außerordentlich heterogen. Es ist sehr wohl zu unterscheiden zwischen den ganz unterschiedlichen Stellungnahmen der Landeskirchen und der EKD, einzelner christlicher Gruppen und Gemeinden, Bewegungen und Initiativen sowie der wissenschaftlichen Theologie. Es wre – am Ende dieser berlegungen – eine lohnende Aufgabe, dieses Verhltnis von evangelischer Kirche und Demokratie am Beispiel anderer Lnder, insbesondere der Vereinigten Staaten, weiter zu untersuchen.
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1 Eine ausfhrliche Analyse der Demokratiedenkschrift findet sich in Vçgele 1994, 45–60. Zum Verhltnis von Christentum und Demokratie vgl. auch die Erklrung des Rates der Evangelischen Kirche „Christentum und politische Kultur“ von 1997.
Karl Graf Ballestrem
Katholische Kirche und Menschenrechte Beim Nachdenken ber das Verhltnis von Katholischer Kirche und Menschenrechten stçßt man auf ein Quasi-Paradox, auf zwei Aussagen nmlich, die sich zu widersprechen und doch beide wahr zu sein scheinen: 1. Die Idee der Menschenrechte ist in einem christlichen Kulturkreis entstanden und enthlt christliches Gedankengut. 2. Das Christentum, insbesondere die katholische Kirche, stand der Idee der Menschenrechte bis zur zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts skeptisch bis feindlich gegenber.1 Wenn hier auch kein strenger Widerspruch vorliegt, so drngt sich doch die Frage auf, warum die Kirche christliche und vernnftige Gedanken bekmpfen sollte. Im Grunde gibt es drei Antworten auf diese Frage bzw. drei Wege, das scheinbare Paradox aufzulçsen: 1. Fr konservative Interpreten der neueren Kirchengeschichte ist die Idee allgemeiner Menschenrechte eine Frucht der Aufklrung, also einer im Wesentlichen anti-kirchlichen Bewegung. Zu Recht habe die Kirche diese Idee zurckgewiesen und verurteilt. Dass sie seit den 1960er Jahren Menschenrechte und Demokratie akzeptiere, sei ein Element im verhngnisvollen Prozess der Anpassung der Kirche an die moderne Welt (so etwa Madiran 1988). 2. Fr liberale Katholiken ist die Idee allgemeiner Menschenrechte christlich und vernnftig. Die kritische Haltung der Kirche kann deshalb nur mit Blick auf die besonderen historischen Umstnde erklrt werden: Zunchst auf die Kirchenverfolgung in der Franzçsischen Revolution, welche die Kirche auf die Seite der konservativen Krfte des 19. Jahrhunderts trieb; zuletzt auf die Erfahrungen der Kirche unter den totalitren Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die sie den Wert von Menschenrechten erkennen ließ. Nach dieser Interpretation handelt es sich also bei der Verurteilung der Idee der Menschenrechte um eine historisch verstndliche, aber sachlich nicht gerechtfertigte Reaktion, im Grunde um ein grobes Missverstndnis, das die tragische Konsequenz hatte, den Anschluss der Kirche an die Moderne um etwa 150 Jahre zu verzçgern (so zuletzt Uertz 2005). 3. Das Problem der konservativen und liberalen Antworten ist, dass sie relativ einseitig und oberflchlich sind. Ein dritter Weg besteht darin, die
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Idee allgemeiner Menschenrechte weder zu verdammen, noch einfach zu akzeptieren, sondern von einer spezifisch katholischen Auffassung von Menschenrechten auszugehen. Dieser Weg stellt die heute vorherrschende liberale Deutung in mehrfacher Hinsicht in Frage: – Hatte die Kirche nicht gute Grnde, den Prinzipien der Revolution mit Skepsis zu begegnen, unabhngig davon, ob sie vom Ancien Rgime profitierte und unter dem Revolutionsregime zu leiden hatte? – Sind nicht die Menschenrechte selbst zwar christlich begrndbares Gedankengut, aber – wenn man den Entstehungskontext mit bedenkt – skularisiertes Christentum, postmetaphysische Restbestnde des Christentums, bei denen fraglich ist, was sie – ohne ihre theologischen Bezge – eigentlich bedeuten? – Unterscheidet sich eine christliche Deutung von Menschenrechten – und dem entsprechend eine christlich begrndete Menschenrechtspolitik – nicht grundstzlich von der liberalen Auffassung, die – ausgehend von den Erklrungen von 1776 und 1789 – bis heute die im Westen vorherrschende Interpretation geblieben ist? – Wrde die Kirche, wenn sie die liberale Auffassung von Menschenrechten zum Maßstab ihrer inneren Ordnung und zum Kernpunkt der christlichen Moral- und Soziallehre machte, nicht eher zur Selbstskularisierung der Kirche als zur Christianisierung der Welt beitragen? Es bedarf einiger Vorberlegungen, um diese Fragen zu beantworten. Zunchst muss klar sein, wovon wir sprechen, wenn hier von allgemeinen Menschenrechten die Rede ist (1). Sodann ist zu unterscheiden zwischen der Entstehung, der Bedeutung, dem Geltungsanspruch, der Begrndung und der Verwirklichung von Menschenrechten – Unterscheidungen, die dazu dienen, hufig vorkommende Verwechslungen zu vermeiden (2). Dann erst kommen wir auf die Geschichte des Verhltnisses von Kirche und Menschenrechten (3) und auf die spezifisch katholische Auffassung von Menschenrechten zu sprechen (4). Anschließend wenden wir uns der Frage zu, inwiefern die Forderung nach Menschenrechten in der Kirche berechtigt ist (5). Zuletzt folgt eine resmierende Schlussbetrachtung (6).
1. Die Idee allgemeiner Menschenrechte Die Idee allgemeiner Menschenrechte, also dass Menschen als Menschen gleiche Grundrechte haben, ist heute selbstverstndlich. Aber anzunehmen, Menschenrechte seien zu allen Zeiten selbstverstndlich gewesen, wre ein Anachronismus. Vor dem 17. Jahrhundert htte man diese Idee kaum je-
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mandem verstndlich machen kçnnen; bis heute ist sie in verschiedener Hinsicht unklar und umstritten. Dass Brger eines politischen Gemeinwesens Rechte haben, ist eine alte Idee. Dass sie als Brger gleiche Rechte haben sollen, eine neuere Idee. Dass sie als Menschen Rechte haben, eine noch neuere Idee. Die Idee der Gleichheit gehçrt ursprnglich nicht zur Idee des Rechts; Rechte werden eher als Vorrechte gedeutet, durch die man etwas vor anderen voraus hat; sie sind Vorrechte eines Standes. Dass man als Mensch Rechte haben sollte, wre lange Zeit als Absurditt erschienen, denn was sollte das fr ein Recht sein, das nicht durch eine Rechtsordnung innerhalb einer politischen Gemeinschaft garantiert wird. Die Idee allgemeiner Menschenrechte ist nicht plçtzlich entstanden. Sie hat Vorlufer und hat sich auf dieser Grundlage entwickelt. Dass es eine allgemeine Menschennatur gibt; dass alle Menschen Kinder Gottes und zu gleicher Freiheit geboren sind; dass wegen der Wesenshnlichkeit, die zwischen Mensch und Gott besteht, dem Menschen eine besondere Wrde vor der brigen Natur zukommt; dass es – als Maßstab allen positiven Rechts – ewige Gesetze Gottes gibt, die der Mensch mit Hilfe der Vernunft erkennen kann und die ihm vorschreiben, wie er seiner Natur gemß zu leben hat – das sind alte Gedanken, die auf die griechische und rçmische Stoa zurckgehen und vor allem bei Cicero ihre klassischen Formulierungen gefunden haben. Die neuzeitliche Entwicklung, die auf dieser Grundlage stattgefunden hat, bezeichnet man als den bergang vom traditionellen zum modernen Naturrecht. Im Gegensatz zum traditionellen geht das moderne Naturrecht nicht mehr von theologischen Prmissen aus. Statt gçttliche Gesetze anzunehmen, aus denen sich Pflichten ergeben, spricht man von Eigenschaften des Menschen, die Rechte begrnden. Hinzu kommt eine individualistische Anthropologie: nicht das Gemeinwohl, sondern die Interessen von Natur aus freier und gleicher Individuen gelten als Kriterien einer guten Ordnung. Im Kontext dieser Entwicklung entsteht die moderne Vorstellung von Menschenrechten als subjektiven Rechten von Individuen, die vom Staat zu respektieren und zu garantieren sind (vgl. Tuck 1979; Haakonssen 1996; Syse 2004). Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Idee allgemeiner Menschenrechte dort aufkommt, wo Partikularrechte als Unrecht empfunden werden. Sei es, dass Rechtlose (Sklaven, Fremde) Rechte fordern, oder dass Unterprivilegierte die Vorrechte ihrer Herren bestreiten, oder dass Kolonien unter der Vorherrschaft des Mutterlandes leiden – worauf sollten sie sich berufen, wenn das positive Recht und die zustndigen Richter ihnen keine Gerechtigkeit verschaffen kçnnen? Sie kçnnen sich nur auf vorpositives Recht oder Naturrecht beziehen, auf das jeder Mensch als Mensch glei-
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chermaßen Anspruch hat. „We hold these truths to be self-evident“, formuliert die amerikanische Unabhngigkeitserklrung von 1776, „that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain inalienable rights“. Und hnlich heißt es in der franzçsischen Erklrung der Menschen- und Brgerrechte von 1789: „Les hommes naissent et demeurent libres et gaux en droits.“ Menschen- und Brgerrechte waren im 19. Jahrhundert zentrale Themen der Innenpolitik, nicht der Außen- und Sicherheitspolitik. Als Grundrechte waren sie Gegenstand des Verfassungsrechts, nicht des Vçlkerrechts. Es bedurfte der Erfahrungen mit totalitren Diktaturen und deren Abkehr von den Prinzipien einer universalistischen Moral (d. h. ihrer nach Rassenoder Klassenkriterien vorgenommenen Entrechtung großer Teile der Menschheit), und ebenso der Erfahrungen mit der außenpolitischen Aggressivitt solcher Regime (vor allem des Nazi-Regimes), um das Ideal allgemeiner Menschenrechte zu einem Anliegen der gesamten Menschheit zu machen. Im Rahmen der UNO wurden Menschenrechte zunchst feierlich erklrt (1948), dann zum Gegenstand internationaler Vertrge gemacht (Europische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950; UNO Menschenrechtspakte von 1966). Der Grundsatz, von dem die Allgemeine Erklrung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 ausgeht, lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Wrde und Rechten geboren“ (Art. 1). Aus der natrlichen Freiheit und Wrde aller Menschen ergibt sich „das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Art. 3), aus der natrlichen Gleichheit aller Menschen das Verbot der Diskriminierung – aus Grnden der Rasse, des Geschlechts, der Religion usw. (Art. 2). Die Rechte und Normen, die dann im einzelnen aufgefhrt werden, sind die Antwort auf Gefahren, die dem Leben, der Freiheit und Sicherheit der Person erfahrungsgemß drohen. So das Recht auf kçrperliche Integritt, dem das Folterverbot entspricht (Art. 5); das Recht auf Freiheit, das durch das Verbot der Sklaverei geschtzt wird (Art. 4); das Recht auf persçnliche Sicherheit, das durch eine ganze Reihe von rechtsstaatlichen Verfahrensvorschriften konkretisiert wird (Art. 8–11). Zur Vereinfachung und Systematisierung von Menschenrechtskatalogen hat sich ihre Einteilung in drei Gruppen als hilfreich erwiesen: 1. Liberale Grundfreiheiten wie Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), Meinungsund Informationsfreiheit (Art. 19), Schutz der Privatsphre (Art. 12) und des Eigentums (Art. 17), Recht auf Freizgigkeit und Auswanderungsfreiheit (Art. 13). 2. Brgerliche und politische Rechte wie das Recht auf Staatsangehçrigkeit (Art. 15), auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 20) und insbesondere das (allgemeine und gleiche) Wahlrecht
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(Art. 21). 3. Soziale, çkonomische und kulturelle Rechte, wozu in der AEMR das Recht auf soziale Sicherheit und Betreuung (Art. 22, 25), das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn (Art. 23), ja sogar auf Erholung und bezahlten Urlaub (Art. 24) gerechnet werden. Und um klarzumachen, dass es bei diesem bunten Strauß heterogener Werte und Wnsche nicht um beliebige Forderungen, sondern um Rechte geht, heißt es gegen Ende der Erklrung: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklrung angefhrten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht sind“ (Art. 28). Die 1966 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechtspakte ber brgerliche und politische Rechte bzw. ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte waren ein erster Schritt auf dem Weg zu einer solchen internationalen Rechtsordnung. Bedenkt man, wie sich in den vergangenen 200 Jahren das Bewusstsein fr allgemeine Menschenrechte berall auf der Welt gefestigt hat; wie dieses Bewusstsein dazu beigetragen hat, den Opfern von Unterdrckung Mut und Orientierung, den Tyrannen und ihren Henkersknechten unruhige Nchte zu verschaffen; welche Hebelwirkung die Menschenrechte bei der berwindung der kommunistischen Diktaturen hatten; wie der Schutz der Menschenrechte zur wichtigsten Aufgabe des Vçlkerrechts werden konnte – wenn man auf das alles zurckblickt, kann man von einem Siegeszug der Menschenrechte sprechen. Wenn im Folgenden Fragen an die Menschenrechte gestellt werden, wenn an Probleme ihrer Interpretation, ihrer Begrndung, ihrer Umsetzung erinnert wird, dann nicht, um diese historische Errungenschaft in Frage zu stellen, sondern um sie besser zu verstehen und um erklren zu kçnnen, warum die katholische Kirche der Idee allgemeiner Menschenrechte zunchst skeptisch bis feindlich gegenberstand.
2. Unterscheidungen Ich unterscheide fnf Fragen, deren Beantwortung zu einem vertieften Verstndnis der Idee der Menschenrechte fhren kann: 1. Woher stammt die Idee allgemeiner Menschenrechte? 2. Was bedeuten diese Rechte? 3. Welchen Geltungsanspruch haben Menschenrechte und Menschenrechtsnormen? 4. Wie kçnnen diese Rechte begrndet werden? 5. Wie kçnnen diese Rechte verwirklicht werden? Ad 1: Die erste Frage zielt auf den ideengeschichtlichen und kulturellen Kontext, in dem die Idee allgemeiner Menschenrechte entstehen und sich entwickeln konnte. Wenn wir den Ursprung der Idee allgemeiner Men-
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schenrechte dort ansetzen, wo diese zum ersten Mal feierlich erklrt wurden – also in den siebziger bis neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich –, dann ist der kulturelle Entstehungskontext klar: Es sind die Ideen und das intellektuelle Milieu der europischen Aufklrung, insbesondere der britischen und franzçsischen Aufklrung. Die Verfasser dieser Erklrungen – in Amerika vor allem Thomas Jefferson, in Frankreich der Abb Siey s, aber auch Lafayette, Mounier, P tion, Robespierre – waren keine Atheisten, man wird aber auch kaum einen von ihnen als glubigen Christen bezeichnen kçnnen. Viele von ihnen waren Freimaurer, die meisten Agnostiker oder Deisten, d. h. Vertreter einer Vernunftreligion, die sich auf die Idee eines hçchsten Wesens und auf moralische Maximen beschrnkte. Wenn wir die europische Aufklrung und die Erklrungen von 1776 und 1789 als den Entstehungskontext der Idee allgemeiner Menschenrechte bezeichnen, soll damit nicht bestritten werden, dass hnliche Gedanken zum Teil schon in der europischen Antike oder auch in außereuropischen Kulturen zu finden sind. Worauf es hier ankommt ist, dass (a) die heute zumindest im Westen dominierende liberale Auffassung von Menschenrechten hier ihren Ursprung hat; und (b) die katholische Kirche die Idee allgemeiner Menschenrechte als Teil des Gesamtprojekts der Aufklrung wahrgenommen hat. Gerade deshalb spiegelt sich im Verhltnis der Kirche zu den Menschenrechten ihr Verhltnis zur modernen Welt insgesamt. Ad 2: Die zweite Frage zielt auf die Interpretation der Menschenrechte. Klar ist, dass fast jedes der feierlich erklrten Rechte unterschiedlich interpretiert werden kann. So kann man z. B. das Recht auf Leben entweder als die Freiheit eines jeden deuten, sein eigenes Leben ohne Bedrohung durch andere zu fristen, oder aber als Anspruch, im Notfall von anderen ernhrt zu werden. Das Recht auf Arbeit lsst sich als die Freiheit eines jeden interpretieren, sich um jede Art von Arbeit zu bewerben, oder als Anspruch, einen Arbeitsplatz vom Staat zugewiesen zu bekommen. Unterschiede ergeben sich auch daraus, wie eng oder weit der Kreis der Berechtigten gezogen wird, ob z. B. auch das Recht auf Leben derer geschtzt werden soll, die ganz am Anfang oder am Ende des Lebens stehen (also in den Phasen, in denen die Bedrohung am grçßten und der Schutz am schwierigsten ist). Um die ursprngliche Bedeutung eines Menschenrechts zu verstehen, ist auf den Entstehungskontext zu achten; um die aktuelle Bedeutung zu verstehen, auf die Institutionen, die gegenwrtig die Deutungshoheit besitzen. Um die interkulturelle Bedeutung von Menschenrechten zu verstehen, wie sie in internationalen Erklrungen und Konventionen zum Ausdruck kommt, ist zu bercksichtigen, ob Menschenrechte genau definiert werden
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oder von einer genauen Definition – oft bewusst – abgesehen wird (vgl. Glendon 2001a, 182 f.). Ad 3: Menschenrechte haben einen universellen Geltungsanspruch. Zu behaupten, jeder Mensch habe bestimmte Rechte, kann nichts anderes bedeuten als dass diese Rechte von allen Menschen zu respektieren sind. Das gleiche gilt von den Normen (Geboten, Verboten), die jedem Menschenrecht zugeordnet sind und die entsprechenden Pflichten spezifizieren. Zum Recht auf Leben gehçrt das Verbot zu tçten, zum Recht auf kçrperliche Integritt das Verbot der Folter, zum Recht auf Sicherheit das Gebot rechtstaatlicher Verfahren (z. B. im Strafprozessrecht). Wenn Menschenrechte von allen Menschen zu respektieren sind, dann auch diese Normen. Wer Menschenrechten zustimmt, stimmt diesen Normen zu. Als erstes ist demnach festzuhalten: obwohl alle Menschenrechte eine partikulare Entstehungsgeschichte haben (also irgendwann und irgendwo zum ersten Mal erkannt und formuliert wurden), beanspruchen sie universale Geltung. Beides widerspricht sich keineswegs. Unter universaler Geltung von Menschenrechten kann noch etwas anderes, weitergehendes gemeint sein: dass der Schutz der Menschenrechte eine Aufgabe der Menschheit ist. Nehmen wir als Beispiel noch einmal das Recht auf Leben. Als Freiheitsrecht eines beliebigen Menschen X impliziert es die Pflicht aller anderen Menschen, X nicht zu tçten oder seiner Lebensmittel zu berauben – eine Unterlassungspflicht, die als unbedingte Verpflichtung gelten kann. Als Anspruchsrecht, im Notfall ernhrt zu werden, ist das Recht auf Leben komplizierter. Denn hier stellt sich die Frage, wessen Pflicht es sein soll, X zu ernhren. Die Antwort scheint klar: die Pflicht der Eltern, wenn X ein Kind ist; die Pflicht des Staates, wenn X ein Brger ist. Aber was ist, wenn die Eltern X nicht ernhren kçnnen oder wollen; oder wenn X in einer Diktatur lebt, deren Regierung keinen Schutz, sondern eine Gefahr fr sein Leben darstellt. Heißt „Menschenrecht auf Leben“ in solchen Fllen, dass es eine Pflicht der Menschheit ist, das Leben von X zu schtzen? Wir berhren an dieser Stelle die großen Probleme der internationalen Gerechtigkeit, die wir hier nicht weiter verfolgen kçnnen. Ad 4: Hinter jeder Vorstellung von Menschenrechten – so kann man vermuten – steht ein Menschenbild, eine Vorstellung vom guten oder gelungenen Leben, von einer gerechten sozialen und politischen Ordnung, oft auch von einer Seins- oder Schçpfungsordnung. Fr die Autoren der frhen Menschenrechtserklrungen waren das die individualistischen Prmissen des modernen Natur- und Vernunftrechts: Freie (autonome) und gleiche (gleichberechtigte) Individuen regeln ihr Zusammenleben vertraglich, um ihre persçnlichen Rechte zu schtzen und den gemeinsamen Nutzen
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zu mehren – so die Grundannahme moderner Vertragstheorien von Hobbes bis Kant. Jede Begrndung von Menschenrechten kann auf solche Hintergrundannahmen anthropologischer, ethischer und vielleicht metaphysischer Art zurckgreifen. Hier stellt sich die Frage, ob solche Begrndungen auf den Inhalt und Geltungsanspruch von Menschenrechten durchschlagen. Genauer: ob unterschiedliche Begrndungen von Menschenrechten zu unterschiedlichen Auffassungen von Menschenrechten fhren. Oder anders: ob unterschiedliche Auffassungen von Menschenrechten passende Begrndungen suchen und in der Regel finden kçnnen. Man kçnnte hoffen, dass dem nicht so ist, denn die Menschenrechte sollen ja die gemeinsame normative Grundlage in einer pluralistischen Welt sein, die von Menschen mit verschiedenen Kulturen und berzeugungen bevçlkert wird. Wahrscheinlicher ist, dass es zumindest fr einen Teil der Menschenrechte doch so ist und sich hinter gemeinsamen Erklrungen unterschiedlichste Auffassungen verbergen, die mit entsprechenden Hintergrundannahmen korrelieren. Durch ihre Ehrlichkeit imponiert in dieser Hinsicht die im Jahr 1990 von der Organisation islamischer Staaten in Kairo verabschiedete „Erklrung der Menschenrechte im Islam“. Das grundlegende Menschenrecht der Religionsfreiheit wird dort nur im negativen Sinne erwhnt – als Verbot, sich selbst oder einen anderen zu einer fremden Religion zu bekehren oder sich dem Atheismus zuzuwenden; ansonsten ordnet die Erklrung die Menschenrechte der Scharia unter. Ad 5: Schließlich die Frage, wie die Menschenrechte verwirklicht werden kçnnen. Aus der Tatsache, dass in einem Land der Schutz von Menschenrechten nicht voll verwirklicht ist, lsst sich nicht schließen, dass die entsprechende Norm dort keine Geltung besße oder keine Anerkennung fnde. Aus der Tatsache, dass jede Nacht in New York 10 Morde passieren, kann nicht geschlossen werden, dass in den USA das Recht auf Leben gering geschtzt wird. Umgekehrt gibt aber die permanente und nicht mit Strafe wenigstens bedrohte Menschenrechtsverletzung in einem Land Anlass zum Verdacht, dass das entsprechende Recht wenn nicht in der dortigen Kultur, so doch vom herrschenden Regime gering geschtzt wird. Nehmen wir als Beispiel das Recht auf kçrperliche Integritt und das entsprechende Verbot der Folter. Die Vereinten Nationen haben im Jahr 1984 eine „Antifolterkonvention“ vereinbart. Von den 139 „parties to the convention“ haben bis Ende 2004 79 ratifiziert, darunter Lnder wie China und Saudi-Arabien. Hufig geben sie, zusammen mit der Ratifikation, zu Protokoll, an welche Bestimmungen des Vertrags sie sich nicht gebunden fhlen (China z. B. nicht an Art. 30 I und II, der die Mçglichkeit der Anru-
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fung internationaler Schiedsgerichte vorsieht). Aus Menschenrechtspolitik dieser Art kann man schließen, dass hinter gemeinsamen Erklrungen und Konventionen stark divergierende Auffassungen ber die Bedeutung und Geltung bestimmter Menschenrechte stehen kçnnen. Der katholischen Kirche wird vorgeworfen, dass sie sich heute zwar weltweit fr die Menschenrechte einsetzt, sie aber in ihrem Inneren nicht verwirklicht. Dieser Vorwurf bezieht sich in der Regel auf das Gleichheitsprinzip (mangelnde Chancengleichheit fr Frauen) und auf fehlende Partizipationsrechte (Forderungen nach Demokratisierung der Kirche). Handelt es sich dabei von Seiten der Kirche um einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis? Oder steht dahinter eine eigene Vorstellung vom Inhalt der Menschenrechte? Wir werden diesen Fragen im 4. und 5. Teil dieses Aufsatzes nachgehen.
3. Katholische Kirche und Menschenrechte: eine historische Skizze In der Forschung besteht weitgehender Konsens darber, dass der Gedanke der Freiheit und Gleichheit aller Menschen auf die stoische Philosophie und das frhe Christentum zurckgeht (vgl. Ottmann 2002, Kap. X). Der Gott der Bibel berwltigt die Menschen nicht, er sucht ihre freie Zustimmung als Antwort auf seine Liebe. Er schafft den Menschen nach seinem Bild, in der Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt seine Wrde. Als durch Christus erlçste Kinder des einen Gottes sind alle Menschen Geschwister – das Ideal der Brderlichkeit lsst sich nicht tiefer begrnden. Paulus sagt dem entsprechend: „Durch den Glauben an Jesus Christus seid ihr alle Kinder Gottes (…) Da gilt nicht mehr Jude oder Heide, nicht mehr Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau. Ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Gal. 4, 26). Auch der Gedanke der Menschenwrde geht tief in die rçmisch-christliche Tradition zurck. Im Offertoriumstext der alten Messliturgie betete der Priester: „Gott Du hast den Menschen in seiner Wrde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert“. Dieser Text stammt vermutlich von Papst Leo dem Großen († 461) und gibt der rçmischen dignitas eine christliche Deutung (vgl. Hermans 1984, 218 ff.). Dennoch wre es anachronistisch und absurd, wollten wir Paulus oder Leo den Großen als Vordenker oder Verfechter moderner Menschenrechte bezeichnen. Schon die Tatsache, dass die christlichen Theologen der Antike und des Mittelalters keine grundstzlichen Probleme hatten mit Sklaverei
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oder Leibeigenschaft, mit einem Rechtswesen, das die Folter vorsah, mit einer stndischen Privilegienordnung, die zwischen Vollbrgern und Minderbrgern unterschied, zeigt, wie weit sie von einem modernen Menschenrechtsverstndnis entfernt waren. Umgekehrt drfen wir uns freilich auch nicht vorstellen, dass die Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Wrde aller Menschen keine Spuren im Denken und Handeln der Christen in der Antike und im Mittelalter hinterlassen htten. Wenn auch nicht die Abschaffung der Sklaverei, der Feudalordnung oder des Kolonialismus selbst auf dem Programm stand, so doch immer wieder die menschenwrdige Behandlung von Sklaven, Leibeigenen und spter der Indianer (vgl. Waldstein 1995, 63; Hçffner 1947). Wenn es aber die Tradition der menschenwrdigen Behandlung der Schwachen und Unterdrckten im christlichen Denken gab, warum wurde dann die Idee der Menschenrechte von kirchlicher Seite nicht als eine logische Weiterentwicklung der Ideen der spanischen Sptscholastik und des modernen Naturrechts verstanden? Die Antwort ergibt sich aus der kirchlichen Wahrnehmung der Philosophie der Aufklrung, hinter deren Kritik der Offenbarungsreligion und der politischen Rolle der Kirche eine neue Auffassung des Menschen und der Gesellschaft sichtbar wurde. Die Kirche musste den Eindruck haben, dass die modernen Menschenrechte nicht als eine Variante des – von der Kirche interpretierten – gçttlichen Rechts und Naturrechts zu verstehen waren, sondern als Rechte eines autonomen Menschen und eines souvernen Volkes, das sich vom Paternalismus des absoluten Herrschers ebenso befreien wollte wie vom Maternalismus der Mutter Kirche. Die Kompromisslosigkeit und Schrfe, mit der die Ppste des 19. Jahrhunderts auf die Prinzipien der Franzçsischen Revolution reagierten, kann freilich nur aus den historischen Umstnden erklrt werden. Hier einige Hçhepunkte ppstlicher Polemik: Pius VI., Zeitgenosse und Opfer der Revolution, verurteilt in seinem Schreiben Quod aliquantum (vom 10. Mrz 1791) die Auffassung von der natrlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen, das angebliche Recht auf Religionsfreiheit, den Gedanken der Volkssouvernitt und des Gesellschaftsvertrags. Dass die Menschen vor Gott gleich seien, bedeute keineswegs, dass sie auch untereinander gleiche Rechte haben sollten; eine solche Idee widerspreche sowohl der natrlichen Vernunft wie dem gçttlichen Gesetz, das eine Ordnung im Zusammenleben der Menschen vorschreibe. Diese Ordnung stamme nicht vom Willen eines souvernen Volkes (welches leicht irren kçnne), sondern von Gott, ebenso wie die Autoritt der Regenten nicht vom Volk, sondern von Gott komme.
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Gregor XVI. protestierte 1832 in seiner Enzyklika Mirari vos gegen den Wahnsinn (deliramentum), jedermann msse Gewissensfreiheit zugesichert werden. Pius IX. wiederholte in der Enzyklika Quanta cura 1864 die Ablehnung dieses „deliramentum“ und verurteilte berdies im – als Anhang zu dieser Enzyklika verçffentlichten – Syllabus eine Reihe von Behauptungen, die die meisten Katholiken heute unterschreiben wrden: dass jeder Mensch frei sei, den Glauben zu bekennen, den er fr wahr hlt (15); dass Staat und Kirche voneinander getrennt werden sollten (55); dass der katholische Glaube nicht die einzige Staatsreligion sein solle (77); dass nicht wahr sei, dass Religionsfreiheit die Moral verderbe und zur „Pest des Indifferentismus“ (Relativismus) verleite (79). In der Enzyklika Libertas praestantissimum (1888) betonte Leo XIII., die Gerechtigkeit, ja schlichtweg die Vernunft, verbçten es, dass der Staat allen Religionen gleiche Rechte und Privilegien einrumt. Und noch Pius XII. wiederholte in einer Ansprache vom Dezember 1953 vor katholischen Juristen die alte Lehre mit den Worten: „Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Verkndigung und Aktion“ (also das Prinzip: keine Freiheit fr den Irrtum!); fgte allerdings hinzu, es kçnne „im Interesse eines hçheren und umfassenderen Gutes (gemeint ist der innere Friede eines Landes) gerechtfertigt sein, nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen“. Offenbar war die Religionsfreiheit das Menschenrecht, mit dem die katholische Kirche die grçßten Schwierigkeiten hatte. Bis einschließlich Pius XII. (1939–1958) galt der Kirche der katholische Staat als Inbegriff einer guten politischen Ordnung. Obwohl sie aus ihrer Vorliebe fr die Monarchie lange Zeit kein Hehl machte, kam es der Kirche nicht in erster Linie auf die Regierungsform an (Neutralittsthese seit Leo XIII; Lob der Demokratie seit der Weihnachtsansprache 1944 Pius’ XII.). Wichtig war, dass es sich um einen Staat handelte, dessen Gesetze dem Naturrecht und der christlichen Offenbarung entsprachen und dessen Politik dem Gemeinwohl diente. In diesem Staat galt nicht das Volk als Souvern, auch nicht der Monarch, sondern Christus als der Kçnig, dem sich alle – insbesondere die Politiker – verpflichtet fhlen sollten. Praktisch bedeutete das, dass die katholische Kirche ein Deutungsmonopol der normativen Grundlagen des Staates fr sich beanspruchte. Im katholischen Staat fand sich die kirchliche Morallehre in den Gesetzen wieder: nicht nur Mord und Diebstahl, sondern auch Abtreibung, Euthanasie, Ehebruch, homosexuelle Handlungen, Wucher und Sonntagsarbeit konnten dort verboten werden und strafbar sein. Zu den Voraussetzungen fr das Funktionieren eines katholischen Staates, wie er z. B. in Francos Spanien annhernd verwirklicht war, gehçr-
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te freilich, dass die große Mehrheit der Bevçlkerung katholisch war und die Autoritt der Kirche anerkannte. Andersglubige waren deshalb unerwnscht und wurden allenfalls geduldet, d. h. ihnen wurde die private Religionsausbung gestattet, soweit es der çffentliche Friede erforderte. Wie mit der Vielzahl von Religionen in einem Staat umzugehen sei, musste in Europa mhsam gelernt werden. Die erste Reaktion auf den religiçsen Pluralismus, der die Gesellschaft zu spalten drohte, war fast berall, dass Staat und Kirche eng zusammenrckten und durch Unterdrckung bzw. Vertreibung der Andersglubigen die Homogenitt der Gesellschaft wiederherzustellen suchten. Erst langsam setzte sich die berzeugung durch, dass durch die Trennung von Kirche und Staat sowie Toleranz gegenber religiçsen Minderheiten Gerechtigkeit und Friede gewahrt werden kçnnten. Der katholischen Kirche fiel es besonders schwer, sich diese berzeugung zueigen zu machen. Bis zum Zweiten Vatikanum verfolgte sie eine Politik, die darauf hinauslief, Toleranz zu fordern, wo man sie brauchte, sie aber nicht (oder nur begrenzt) zu gewhren, wo man die Macht hatte, sie zu verweigern. Diese Position folgte logisch aus einer paternalistischen Sorge der Kirche fr das Wohl der Menschen, das sie durch falsche Doktrinen gefhrdet sah. Vor diesem Hintergrund erscheint die im Konzil heftig umstrittene Erklrung ber die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) als eine neue Lehre. Aus Respekt vor der Wrde des Menschen, die verlangt, dem Einzelnen die Freiheit zu lassen, selbst nach der Wahrheit zu suchen, erklrt die Kirche ihre bereinstimmung mit dem liberalen Grundsatz der Religionsfreiheit als Menschenrecht (DH 2). Ebenfalls aus Respekt vor der Wrde der menschlichen Person erklrt sie ihre Prferenz fr die Demokratie, die dem Einzelnen das Recht gibt, aktiv die çffentlichen Angelegenheiten mitzubestimmen (GS 73, 75). Sie begrßt die Trennung von Kirche und Staat, die „auf je ihrem Gebiet voneinander unabhngig und autonom“ seien, freilich zum Wohl der Menschen auch zusammenarbeiten sollten (GS 76). Die Kirche verlangt keine Privilegien vom Staat, ja sie verzichtet auf „legitim erworbene Rechte“, sofern durch diese „die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist“ (GS 76). Am Ende dieser kurzen Skizze der Entwicklung des Verhltnisses von Katholizismus und Menschenrechten sollte nicht der Eindruck entstanden sein, dass die Kirche, aus historischen Grnden verzçgert, zuletzt aber durch die eigenen Erfahrungen der Verfolgung in totalitren Diktaturen motiviert, einfach ins Boot der Moderne eingestiegen ist. Denn dieser Eindruck wre einseitig und oberflchlich. Zum einen ist zu bedenken, dass die Kirche im 19. und frhen 20. Jahrhundert keineswegs alle Menschen-
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rechte kritisiert hat; ihre Sorge galt insbesondere den geistigen Freiheitsrechten (Gewissens-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit), in deren Folge sie eine Auflçsung der sittlichen Grundlagen der Gesellschaft befrchtete (vgl. Isensee 1987). Zum anderen hat die Kirche keinesfalls alle philosophischen und theologischen Annahmen revidiert, die ihrer Kritik bestimmter Menschenrechte zugrunde lagen. Sie geht heute ebenso wenig wie damals von einem skularisierten Naturrechts- oder einem positivistisch-demokratischen Menschenrechtsverstndnis aus. Die Moral- und Soziallehre der Kirche steht in einem theologischen Kontext. Auch fr die nachkonziliare Kirche ist der Mensch nicht autonom, das Volk nicht souvern. Beide sind verpflichtet, den Gesetzen Gottes zu folgen (GS 41, 74). Und dieser christliche Gott hat ein Faible fr die Schwachen. Sein Wille geht nicht in dem auf, was freie, gleiche und rationale Egoisten vertraglich vereinbaren. Die „Option fr die Armen“ muss eine brgerliche Gesellschaft irritieren. Und bedenkt man, was gerade Johannes Paul II. der Welt an Kritik hinsichtlich der Kultur des Todes, an Mahnungen zur Verteidigung des Lebens und der Familie, an Aufrufen zu internationaler Solidaritt und radikalem Pazifismus zugemutet hat, so kommt in diesem hçchsten Reprsentanten eher eine anstçßige als eine dem Zeitgeist angepasste Kirche zum Vorschein. Dabei ging dieser Papst – in seinem Verhltnis zur Moderne – von einem Grundgedanken aus, den Jacques Maritain als „Dialektik des gescheiterten Humanismus“ bezeichnet hat: dass ein Humanismus ohne Gott, bei dem sich der Mensch an die Stelle Gottes setzt, in liberalistischem Anarchismus oder kollektivistischem Despotismus enden muss, auf jeden Fall in einer entmenschlichten Welt. (vgl. etwa CA 13, EV 18-21). Es lohnt deshalb, noch einmal darber nachzudenken, wie eine katholische Vorstellung von Menschenrechten aussehen msste. Wenn ich mich dabei fast ausschließlich auf ppstliche Texte sttze, dann nicht deshalb, weil es an anderen Texten katholischer Denker fehlte. Der Grund ist einfach: die ppstlichen Texte sind leicht zugnglich, weit verbreitet und niemand kann bezweifeln, dass sie eine authentische Interpretation der katholischen Lehre enthalten.
4. Menschenrechte aus katholischer Sicht Die katholische Kirche hat die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen von Anfang an mit vorsichtigem Optimismus begleitet. Bedenken gab es zwar bereits im Entstehungsstadium der AEMR: Kritisch wurde vermerkt, dass unter den federfhrenden Intellektuellen in der von Eleanor
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Roosevelt geleiteten Menschenrechtskommission kein Katholik war; und dass man, um einen Konsens nicht zu gefhrden, auf alle religiçsen Bezge, insbesondere auf eine invocatio dei, verzichten wollte (vgl. Osservatore Romano vom 15. Oktober 1948). Andererseits gab es prominente Katholiken, die in den Konsultationsprozess einbezogen wurden und eine allgemeine Menschenrechtserklrung mit dem Argument untersttzten, auch bei ganz verschiedenen theoretischen Begrndungen kçnne ein praktischer Konsens ber Menschenrechtsnormen Bestand haben (so vor allem Jacques Maritain; vgl. seine Stellungnahmen in: Um die Erklrung der Menschenrechte 1951, 11–23, 95–102). Die AEMR war auf jeden Fall kein anti-katholisches Dokument und sie enthielt Elemente, die einen Einfluss der katholischen Soziallehre vermuten lassen. Dazu gehçrt als Ausgangspunkt der „Glauben (…) an die Wrde und den Wert der menschlichen Person“ (Prambel), sodann die Hervorhebung der Familien- und Elternrechte (Art. 16 III und 26 III), ferner die Verteidigung der Rechte der Arbeiter auf gerechten Lohn (Art. 23 III) und auf freie Berufsvereinigungen (Art. 23 IV), schließlich der Hinweis auf die Pflichten gegenber der Gemeinschaft (Art. 29 I).2 Angelo Roncalli, der als Nuntius in Paris die Entstehung der Erklrung begleitet und ermutigt hatte, bezeichnete als Papst Johannes XXIII. die AEMR als einen „Akt von hçchster Bedeutung“ (PT 143). Die spteren Ppste sind ihm in diesem Urteil gefolgt. Doch je mehr sich der Gedanke der Menschenrechte als Maßstab der Politik durchsetzte, desto heftiger wurde die Auseinandersetzung um ihre Interpretation und Verwirklichung. Die katholische Kirche steht hier nicht als Beobachterin am Rande, sondern – als eine weltweite Organisation, die moralische Autoritt fr sich in Anspruch nimmt – mitten in der Auseinandersetzung. Dass die katholische Kirche seit dem II. Vatikanum nicht nur die Menschenrechte begrßt, sondern eine eigene Interpretation von Menschenrechten vertreten hat, wird aus einem zentralen Text des Konzils deutlich (GS 41): „Kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkndet also die Kirche die Rechte des Menschen, und sie anerkennt und schtzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte berall fçrdert. Freilich muss diese Bewegung vom Geist des Evangeliums erfllt und gegen jede Art falscher Autonomie geschtzt werden. Wir sind nmlich der Versuchung ausgesetzt, unsere persçnlichen Rechte nur dann fr voll gewahrt zu halten, wenn wir jeder Norm des gçttlichen Gesetzes ledig wren. Auf diesem Wege aber geht die Wrde der menschlichen Person, statt gewahrt zu werden, eher verloren.“
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Was aus dieser Aussage fr eine christliche Auffassung von Menschenrechten folgt, mçchte ich an einigen Texten von Johannes Paul II. erklren: „Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen mçglich (…) Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhltigen Totalitarismus“ (CA 46). Dies ist die alte Lehre der Kirche, die eine unbegrenzte Volkssouvernitt (das Volk kann entscheiden, was es mehrheitlich will) ablehnt. Nur eine rechtsstaatliche Demokratie ist annehmbar, wobei Rechtsstaat hier nicht nur im formalen Sinne rechtsstaatlicher Verfahren, sondern auch im substantiellen Sinne eines Staates verstanden wird, dessen Verfassung und Gesetze bestimmte Werte und Grundrechte verkçrpern, die der Natur und Bestimmung des Menschen entsprechen. Nun sind es gerade die in Verfassungen verankerten Grundrechte, die den modernen Demokratien eine solide rechtsstaatliche Grundlage geben kçnnen. Um welche Grundrechte handelt es sich? Dazu schreibt der Papst: „Unter den vorrangigsten Rechten sind zu erwhnen: das Recht auf Leben, zu dem wesentlich das Recht gehçrt, nach der Zeugung im Mutterschoß heranzuwachsen; das Recht, in einer geeinten Familie und in einem sittlichen Milieu zu leben, das fr die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persçnlichkeit geeignet ist; das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen; das Recht, an der Arbeit zur Erschließung der Gter der Erde teilzunehmen und daraus den Lebensunterhalt fr sich und die Seinen zu gewinnen; das Recht auf freie Grndung einer Familie und auf Empfang und Erziehung der Kinder durch verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Sexualitt. Quelle und Synthese dieser Rechte ist in gewissem Sinne die Religionsfreiheit, verstanden als Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in bereinstimmung mit der transzendenten Wrde der eigenen Person zu leben“ (CA 47). Hier handelt es sich um einen recht ungewçhnlichen Katalog und um eine besondere Akzentuierung von Menschenrechten, bei denen die entsprechenden Pflichten gleich mitgedacht werden. Um Menschenrechte und Menschenrechtsnormen zu verstehen, mssen wir uns die kirchliche Auffassung von der Natur des Menschen vor Augen halten. Auch hier halte ich mich an das, was Johannes Paul II. – vor allem in seiner „Theologie des Leibes“ und in „Familiaris consortio“ – als christliche Anthropologie entwickelt hat. Der Mensch ist von Gott zur Liebe berufen: „den er aus Liebe
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ins Dasein gerufen hat, berief er gleichzeitig zur Liebe“ (FC 11). Liebe – das bedeutet hier natrlich nicht Verliebtheit, sondern Wohlwollen, Hingabe an den Anderen, auch Opferbereitschaft. Wenn Liebe auf Gegenseitigkeit beruht und gemeinschaftsbildend wirkt, ist sie zugleich grçßtes Glck und grçßte Sorge. Ehe und Familie sind der Ort, wo diese Liebe erlebt und gelernt werden kann. Ein Mensch kann sich am besten entfalten, wenn er in Liebe gezeugt, von der Mutter schon vor der Geburt liebevoll angenommen, in einer Familie heranwchst, die zusammenhlt; und wenn er spter eine Person des anderen Geschlechts findet, mit der er eine solche Gemeinschaft der Liebe neu begrnden kann. Im Zentrum der christlichen Anthropologie steht darum die Familie. Sie wird nicht deshalb so sehr geschtzt, weil hier Kinder gezeugt und erzogen werden, die spter als Renten- und Steuerzahler die Kontinuitt des eigenen Staatsvolks garantieren; sondern weil sie der natrliche Ort der Menschwerdung ist. Theoretisch kçnnte man zwar imaginieren, dass sich der Mensch nach Art der Fische entwickelt: Irgendwo wrden Eier deponiert und im Vorbergehen befruchtet, daraus kçnnten klein aber fertig die Lebewesen ausschlpfen und sich in einem Schwarm auf ihren Lebensweg begeben (sozusagen von der in vitro Zeugung und Inkubation gleich in die Kinderkrippe). Aber welche Gestalt ein solches Wesen auch htte, es wre kein naturgemß entwickelter Mensch. Denn der muss in einem Milieu der Liebe gehegt und gepflegt werden. Nur so schçpft er die Kraft, in einer Welt zu bestehen, die nicht von Liebe – sondern z. B. von den Gesetzen des Marktes – geprgt ist (vgl. CA 39). Was denkt die Kirche von den Grundwerten der Freiheit und Gleichheit, die den modernen Menschenrechtserklrungen zugrunde liegen? Die Kirche betont den Wert der Freiheit, heute – im Zeitalter der Demokratie – auch in politischer Hinsicht eindeutiger als frher. Allerdings lehrt sie einen anspruchsvollen Begriff von Freiheit, nach dem Freiheit nicht einfach vorhanden ist oder verliehen werden kann, sondern mit Hilfe der Vernunft und des Willens erworben werden muss. Sie unterscheidet zwischen einem richtigen und einem falschen Autonomiebegriff: „Autonomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen durch die Vernunft bedeuten (…) Wahre sittliche Autonomie des Menschen bedeutet in der Tat nicht Ablehnung, sondern nur Annahme des Sittengesetzes, des Gebotes Gottes“ (FR 40-41). Freiheit verwirklicht sich also nur als Freiheit zum Guten. Damit Menschen nicht zur Freiheit verdammt sind (Sartre), sondern in der Freiheit leben kçnnen, mssen sie die Wahrheit suchen. Genauer: sich auf die Wahrheit ihrer Natur besinnen. Erst wenn sie erkannt haben, dass der Mensch zur Liebe berufen ist, kçnnen sie die eigene Frei-
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heit recht gebrauchen. Freiheit kann daher nicht Selbstbestimmung sein, wenn darunter eine egoistische Selbstverwirklichung verstanden wird, die womçglich auf Kosten derer geht, die mir in Liebe anvertraut wurden. Das Kind als Eigentum, das man sich auch noch zulegt (oder als Schadensfall, wenn unerwnscht, „wegmacht“); die Ehe als zeitlich befristete Partnerschaft des gegenseitigen Nutzens; die Familie als Steuersparmodell oder als Schlafgemeinschaft, die neben der Karriere herluft – all das sind Stichworte, die eine falsch verstandene Freiheit als Selbstbestimmung charakterisieren (vgl. CA 17). Fr eine Religion, zu deren tiefsten berzeugungen gehçrt, dass alle Menschen Gott Vater nennen drfen, ist es nicht schwer, den Wert der Gleichheit zu begrnden. Die Kirche lehrt, dass bei allen Unterschieden, die es immer unter Menschen geben wird, sie in der Wrde ihrer Person gleich sind und gleiche Grundrechte besitzen sollen (vgl. etwa GS 29, PT 44). Ebenso biblisch begrndet ist der Wert der Solidaritt, nmlich aus der Vorliebe des christlichen Gottes fr die Kleinen und Schwachen: Daraus folgt die Pflicht eines von christlichen Werten geleiteten Staates, den Schwchsten in der Gesellschaft (wozu die Ungeborenen und stark Behinderten gehçren) Schutz und Frsorge, den Unterprivilegierten aber Arbeitsfhigen die Chance, fr sich selbst zu sorgen, zukommen zu lassen. Etwas anderes als die von der Kirche befrwortete Idee gleicher Grundrechte fr alle und einer besonderen Frsorgepflicht zugunsten der Schwchsten und Schwachen, ist die heute weit verbreitete Idee eines Gleichberechtigungsegoismus, der ohne Rcksicht auf das spezifische Gemeinwohl fordert, dass bedingungslos jeder das bekommen kçnnen soll, was andere haben. So haben – ein relativ harmloses Beispiel – amerikanische Professoren vor den obersten Gerichten erstritten, dass man sie nicht aus Altersgrnden diskriminieren drfe. Sie lehren seither so lange sie wollen und verhindern dadurch, dass jngere Kollegen, die auf ihre Chance warten, angestellt werden kçnnen. Die Idee der Gleichheit, die solchen Antidiskriminierungsgesetzen zugrunde liegt, findet sich in keinem kirchenoffiziellen Dokument wieder. Im Gegenteil hat schon Paul VI. kritisch vermerkt, eine bertriebene Forderung nach Gleichheit kçnne „einen Individualismus hervorbringen, bei dem jeder seine eigenen Rechte einfordert, ohne irgendeine Verantwortung fr das Gemeinwohl bernehmen zu wollen“ (OA 23). Zum Gegenstand scharfer ppstlicher Kritik wird dieser Gleichberechtigungsegoismus, wo er an die Familie rhrt. So schreibt Johannes Paul II. in seinem zuletzt erschienenen Buch Erinnerung und Identitt (2005),
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nachdem er das Verbrechen massenhafter Abtreibung angeprangert hat, folgendes: „Und auch an anderen schweren Formen der Verletzung des Gesetzes Gottes fehlt es nicht. Ich denke z. B. an den starken Druck des Europischen Parlaments, homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als eine alternative Form der Familie, der auch das Recht der Adoption zusteht. Es ist zulssig und sogar geboten sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heimtckischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bçsen am Werk ist, die versucht, gegen den Menschen und gegen die Familie sogar die Menschenrechte auszunutzen“ (26). Was oben ber die Anthropologie des Papstes gesagt wurde, macht die Schrfe dieser Kritik verstndlich.
5. Menschenrechte in der Kirche? Auf die Frage nach den Menschenrechten in der Kirche „wird man erwidern mssen, dass zumindest die im Jahr 1948 von der UNO proklamierten Menschenrechte in jedem Rechtssystem – sei es nun staatlich oder kirchlich – Anwendung finden sollten. Bei der (…) Reform des kanonischen Rechts fhrt an sich kein Weg daran vorbei“ (Pilters/Walf 1980, 117). Diese Aussage zweier katholischer Theologen klingt einleuchtend, allerdings nur fr den, der die AEMR nicht kennt. Ein Blick in dieses Dokument htte nmlich gengt um zu erkennen, dass der Staat der eigentliche Adressat der Erklrung ist, whrend die Kirche gar nicht die Macht besitzt, die meisten der hier genannten Rechte zu schtzen oder zu verletzen. Das gilt etwa fr Art. 4 (Verbot der Sklaverei), Art. 5 (Verbot der Folter), Art. 9 (Schutz vor Verhaftung und Ausweisung), Art. 13 (Freizgigkeit und Auswanderungsfreiheit), Art 15 (Recht auf Staatsangehçrigkeit) und anderes mehr. Andere Bestimmungen finden deshalb keine Anwendung, weil die Kirche – im Gegensatz zum Staat – eine freiwillige Gemeinschaft von Glubigen ist, die sich zur Pflege einer spezifischen Religion zusammengeschlossen haben und sich den Geboten Gottes verpflichtet fhlen, wie sie von den kirchlichen Autoritten interpretiert werden. Religionsfreiheit (Art. 18) kann man deshalb vom Staat fordern, nicht aber von einer Kirche. Auch das Verbot der Diskriminierung (Art. 2) oder das allgemeine und gleiche Wahlrecht (Art. 21) kçnnen nicht einfach vom Staat auf die Kirche ber-
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tragen werden, sondern nur in dem Maße Anwendung finden, wie sie der Tradition und den Grundwerten der Kirche nicht widersprechen. Dass es in der Kirche keinen gleichberechtigten Zugang zu allen mtern gibt, ist bekannt. Anders als in demokratischen Rechtsstaaten oder gewçhnlichen Vereinen gengt es in der Kirche nicht, Mitglied zu sein und ber die erforderliche Ausbildung zu verfgen, um in ein Amt gewhlt oder ernannt zu werden. Das Priesteramt bleibt Frauen (immer) und verheirateten Mnnern (in der Regel) verschlossen. Das mag fr manche Menschen schmerzlich sein, ein Recht ergibt sich daraus nicht. Denn die Kirche selbst schließt ein solches Recht aus theologischen Grnden aus. Von der Verletzung eines Menschenrechts auf Gleichheit kçnnte allenfalls dann gesprochen werden, wenn es eine Zwangsmitgliedschaft in der Kirche gbe. Das soll freilich nicht heißen, dass sich die Frage nach Menschenrechten innerhalb der Kirche nicht stellt. Die Kirche ist unter anderem auch eine Rechtsordnung, in der Macht ausgebt wird. Im neuen Kompendium der kirchlichen Soziallehre heißt es: „Aus tief empfundener Erfahrung kennt die Kirche die Notwendigkeit, Gerechtigkeit und Menschenrechte in ihren eigenen Reihen zu respektieren“ (Pontifical Council 2004, 159). Die Artikel der AEMR, die auf allgemeine Rechtssicherheit zielen (Art. 8, 10, 11), sollten deshalb auch in der Kirche Anwendung finden. Hier mag in Einzelheiten Reformbedarf bestehen, zumal der neue Kodex von 1983 – nach Auskunft mancher, die ihn anzuwenden haben – zu viel Theologie, zu wenig prozedurale Przision enthlt. Von allgemeiner Rechtsunsicherheit kann jedoch keine Rede sein.
6. Schlussbetrachtung Welches Verhltnis besteht also zwischen katholischer Kirche und Menschenrechten? Ich will versuchen, meine Antwort noch einmal zu resmieren: Dass die christlichen Kirchen, besonders die katholische Kirche, die modernen Menschenrechte lange Zeit mit Skepsis betrachteten, erklrt sich nicht nur aus den Erfahrungen mit der Franzçsischen Revolution, sondern auch aus dem Entstehungskontext der Erklrungen von 1776 und 1789. Zu diesem Kontext gehçrt die Philosophie der Aufklrung, die zum großen Teil entschieden anti-christlich war. Zum Umdenken der Kirche trug eine ganze Reihe verschiedener Faktoren bei, zum einen die Erfahrung der Kirchenverfolgung unter Nationalsozialismus und Kommunismus, zum anderen aber auch positive Erfahrungen, wie die von Jacques Maritain, der in
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Nordamerika eine „christliche Demokratie“ kennenlernte und an der Vorbereitung der AEMR beteiligt war. Dieses Umdenken war aber kein einfaches Umschwenken, sondern eine Besinnung auf die eigene Lehre und Tradition, die im Lichte moderner Erfahrungen neu gedeutet werden konnte. Wir haben es also nicht mit einer einfachen bernahme der Idee allgemeiner Menschenrechte durch die Kirche zu tun, sondern mit ihrer christlichen Deutung und Begrndung. Im Gegensatz zu Staaten und Gruppen, die ihre besondere kulturelle und religiçse Prgung durch eigene Erklrungen verdeutlicht haben,3 ist die katholische Kirche bisher mit keiner eigenen Menschenrechtserklrung hervorgetreten. Dass eine solche Erklrung eigene Akzente setzen wrde, ist durchaus anzunehmen. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Menschenrechtserklrung amerikanischer Katholiken vom Januar 1947, die sowohl in ihrer naturrechtlichen Begrndung als auch in der inhaltlichen Bestimmung von Menschenrechten deutlich von der AEMR von 1948 abweicht.4 Diese Erklrung stammt aus der Zeit vor dem II. Vatikanum; heute wrde die Kirche anders formulieren. Aber wenn wir bedenken, was Johannes Paul II. ber Menschenrechte geschrieben hat, so wre von einer solchen Erklrung zu erwarten, dass sie sich vom liberalen Mainstream ebenso weit entfernte wie die Erklrungen der asiatischen, afrikanischen und islamischen Vçlker.5 Werden wir eine spezifisch katholische Erklrung der Menschenrechte je zu sehen bekommen? Vermutlich nicht und das aus spezifisch katholischen Grnden. Denn einerseits kçnnte die Kirche, wie andere Gruppen auch, eine eigene Interpretation und Begrndung von Menschenrechten beanspruchen und verteidigen. Andererseits tte sie das nicht mit der Absicht, ihre eigene kulturelle Identitt hervorzuheben und von anderen abzugrenzen. Die katholische Kirche ist Weltkirche und sie ist davon berzeugt, dass ihre Auffassung von Menschenwrde und Menschenrechten im Prinzip fr alle vernnftigen Menschen guten Willens einsichtig ist. Den faktischen Pluralismus solcher Auffassungen kennt sie, einen normativen Relativismus lehnt sie ab. Sie wird daher das Gemeinsame betonen und die in internationalen Erklrungen und Konventionen vereinbarten Menschenrechte verteidigen. Aber sie wird auch ihre Stimme erheben, wenn eine konkrete Deutung dieser Rechte, die der Lehre der Kirche widerspricht, den Weg ins positive Recht antreten soll – etwa wenn der Schutz des Lebens den Ungeborenen, den Behinderten oder den Alten entzogen werden soll; oder wenn die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und die Grundrechte der Arbeiter geleugnet werden; oder wenn das Diskriminierungsverbot so gedeutet wird,
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dass der besondere Schutz der Familie oder das Selbstbestimmungsrecht der Kirche gefhrdet ist.
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Verzeichnis der Abkrzungen AEMR CA DH EV FC FR GS OA PT
Allgemeine Erklrung der Menschenrechte Johannes Paul II., Centesimus annus (1991) Zweites Vatikanisches Konzil, Erklrung ber die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae, 1965) Johannes Paul II., Evangelium vitae (1995) Johannes Paul II., Familiaris consortio (1981) Johannes Paul II., Fides et ratio (1998) Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution ber die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) Paul VI., Octogesima adveniens (1971) Johannes XXIII., Pacem in terris (1963)
1 Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht das katholische Christentum. Zu den Grnden, warum auch die Lutheraner der Idee allgemeiner Menschenrechte lange Zeit kritisch gegenberstanden, vgl. Huber/Tçdt 1988, 45–55, 162–175. Zum traditionell positiveren Verhltnis der reformierten Kirchen zur Idee allgemeiner Menschenrechte, vgl. Lochman/Moltmann 1976, 12–19. Zum immer noch kritischen
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Verhltnis der russischen Orthodoxie, zumindest gegenber einer liberalen Auffassung von Menschenrechten, vgl. Thesing/Uertz 2001. 2 Die federfhrenden Vordenker in der Menschenrechtskommission waren der Chinese Peng-chun Chang, der Franzose Ren Cassin und der Libanese Charles Malik. Chang war ein konfuzianischer Humanist, Cassin ein liberaler Jude, Malik ein griechisch-orthodoxer Christ. Malik war ein eifriger Leser von Rerum novarum (1891) und Quadragesimo anno (1931). Durch ihn, aber auch durch lateinamerikanische Delegierte, scheinen Gedanken der katholischen Soziallehre in die AEMR gelangt zu sein. Vgl. Glendon 2001a, 33 ff.; dies. 2001b, 12–14. 3 Am bekanntesten sind die „Bangkok Declaration“ der ASEAN-Staaten von 1993, die „Banjul Charter“ afrikanischer Staaten von 1984 und die „Kairoer Erklrung ber Menschenrechte im Islam“ von 1990. 4 Vgl. die „Declaration of Human Rights“ der National Catholic Welfare Conference vom Januar 1947, in: Putz 1991, 388–392. Gertraud Putz hat das Verdienst, diesen Text wiederentdeckt und zugnglich gemacht zu haben. Sie betont aber im Verhltnis zur AEMR zu stark den Vorlufercharakter und bemerkt nicht die entscheidenden Unterschiede zwischen beiden Texten. Um nur ein Beispiel aus dem Bereich der Rights of the Human Person zu geben (daneben werden Rights pertaining to the family und Rights of States angefhrt): „The right to life and bodily integrity from the moment of conception, regardless of physical or mental condition, except in just punishment for crime“ (389). 5 Folgende Zusammenfassung des Inhalts der oben genannten alternativen Menschenrechtserklrungen trifft auch teilweise das, was eine katholische Erklrung enthalten msste: „they emphasize obligations instead of rights, group rights and the protection of the family instead of claims of the individual, (…) they underscore the importance of social rights (…) and stress the ‚right of development which demands fair international trade relations“ (Kreide 2005, 235).
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Rechtliche Unverfgbarkeit und technische Machbarkeit des Menschen: Zur metaphysischen Begrndung der Menschenwrde Dem Andenken an Ulrich Matz gewidmet
1. Das Problem Biopolitische Fragen sind Verfassungsfragen – im rechtlichen und kulturellen Sinne des Begriffs Verfassung. Nach welchen positivrechtlichen Normen eine Gesellschaft Beginn und Ende des menschlichen Lebens behandelt, gibt Auskunft ber die in der Gesellschaft vorfindlichen Normen im weiteren Sinn. Ob Embryonen zu Forschungs- und therapeutischen Zwecken erst hergestellt, dann getçtet werden drfen, ob sie nach Wertigkeit kategorisiert werden drfen, um eine Entscheidung ber ihr Weiterleben zu treffen, ob bei unheilbar Kranken oder Sterbenden, auch ohne explizite Einwilligung der Tod legalerweise durch eine Einwirkung von außen herbeigefhrt werden kçnnen soll – diese Fragen werden in Deutschland intensiv vor dem Hintergrund des Grundgesetzes und seiner positivrechtlichen Verfassungsnormen diskutiert. Welche Sichtweisen dabei in den Interpretationen vor allem der Menschenwrdegarantie vorgetragen werden, lsst erkennen, welche Kontroversen und Konfliktlinien entlang der Frage bestehen, wie wir uns als Menschen sehen und in welchem Verhltnis wir zueinander stehen. In diesen Interpretationen kommen die unterschiedlichen in einer Gesellschaft vorfindlichen Normen und Leitbilder weltanschaulicher oder religiçser Herkunft zum Ausdruck. Die Ratio des demokratischen Verfassungsstaates ist es hierbei, dass der demokratische Souvern in den Bahnen des verfassungsrechtlichen Rahmens diskutiert, Bahnen, die er bei der Gestaltung des positiven Rechts nicht verlassen soll, es sei denn, er beschreitet den Weg in eine gnzlich neue politische Ordnung, jenseits der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. So hat es der Verfassunggeber in Artikel 79 des Grundgesetzes, der das Prozedere von Verfassungsnderungen re-
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gelt, bestimmt: Die Verfassungsnormen lassen sich unter Aufbringung qualifizierter Mehrheiten in den gesetzgebenden Kçrperschaften von Bundestag und Bundesrat ndern – mit Ausnahme der Menschenwrdegarantie in Artikel 1 und den Staatsstrukturprinzipien in Artikel 20. Damit ist in den verfassungsrechtlichen Normen ein Konsens festgehalten, dass das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwrde „auf ewig“ gelten soll. Aber wie ausgewiesen ist dieser Konsens in inhaltlicher Hinsicht? Ist mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes ein bestimmtes Verstndnis der Menschenwrde festgehalten und rechtlich fixiert worden? Wenn dem so ist, dann ist es theoretisch denkbar, dass dieses Verstndnis mit dem sich wandelnden vorrechtlichen Normenbestand einer Gesellschaft nicht mehr in bereinklang steht. Dann liesse sich davon sprechen, dass die steuernde, auch auf die ethische Urteilsbildung der Gesellschaft ausstrahlende Wirkung und Funktion des Rechts nicht mehr erfllt wird. Im folgenden soll die These begrndet werden, dass zwischen dem vorrechtlichen Verstndnis der Menschenwrde als einem wesentlich metaphysisch verstandenen Begriff und dem rechtlichen Verstndnis der Menschenwrde als einer unbedingten Norm ein wechselseitig untersttzendes Verhltnis besteht. Dabei ist nicht nur an eine religiçs-metaphysische Interpretation der Menschenwrde zu denken, sondern auch an eine in der Tradition Kants stehende, hier als vernunft-metaphysisch bezeichnete Interpretation. Dagegen steht das Verstndnis der Menschenwrde als ein auf empirische bzw. soziale „Tatsachen“ gesttzter Begriff, welche ihr Vorhandensein als eine Eigenschaft begreift, die nicht grundstzlich allen Menschen als Menschen zukommt, sondern erst bei Vorliegen bestimmter Kriterien die Menschenwrde nicht anerkannt, sondern zuerkannt wird. Um eine Variante dieser Auffassung (wenn man von den politisch-rechtlichen Konsequenzen her denkt) handelt es sich bei der Position, bei der zwar grundstzlich die Wrde aller Menschen anerkannt wird, aber die daraus abzuleitende rechtliche Schutzverpflichtung dennoch „graduierbar“ entsprechend des individuell realisierten Potentials sein soll. Wie verhalten sich diese unterschiedlichen Auffassungen zum Prinzip der religiçsen und weltanschaulichen Neutralitt des Verfassungsstaats – das im brigen selbst wesentlich ein Ergebnis der mit dem Christentum aufbrechenden Trennung von Politik und Religion ist, wenn auch lange Zeit die Kirchen mit der Anerkennung der Religionsfreiheit ihre Schwierigkeiten hatten? Kann ein metaphysisches Verstndnis mit dem Neutralittsgebot berhaupt harmonieren und ist nicht vielmehr ein empirischer Begriff der Menschenwrde rechtlich angemessen? Gegen diese nur auf den ersten Blick naheliegende Vermutung wird hier
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fr die These argumentiert, dass ein empirischer Begriff der Wrde die Funktion des Menschenwrdeprinzips als eines Apriori der Rechtsordnung des demokratischen Verfassungsstaates nicht erfassen kann. Vielmehr gilt es zu fragen, ob die rechtliche Absolutheit der Menschenwrde, wie sie sich in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes zeigt und welche ein unbedingtes Achtungsgebot enthlt, berhaupt ohne eine metaphysische Begrndung auskommen kann. Diese metaphysische Begrndung findet ihren geistesgeschichtlichen Ursprung in den biblischen Erzhlungen und der Figur der Gottebenbildlichkeit. Das vorchristlich antike Denken hat dieser Tradition begriffliche Hllen zur Verfgung gestellt, aber wenig inhaltliche Impulse vermittelt. Eine metaphysische Begrndung ist aber nicht nur auf die religiçse berlieferung beschrnkt, sondern findet in den Schriften Kants einen philosophischen Hçhepunkt. In der folgenden – auf Schlaglichter begrenzten – Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Tradition, in welcher der Begriff der Menschenwrde sich entfaltet hat, wird vor allem erçrtert, warum die Vorstellung, dass der Mensch Person ist, die durch Wrde ausgezeichnet ist, in der Bibel grundgelegt ist, auch wenn die Wçrter, die den begrifflichen Inhalt bezeichnen, so noch nicht fallen. Die eingehende politiktheoretisch geleitete Analyse der biblischen Erzhlungen ist fr das Verstndnis des westlichen politischen Denkens wichtig, denn von keinem anderen kanonisierten Text der westlichen Zivilisation ist eine vergleichbare Inspirationskraft ber die Grenzen der Epochen hinweg ausgegangen. Welche Rolle die geistesgeschichtlichen Quellen des Menschenwrdeprinzips fr das Verfassungsrecht spielen kçnnen, wird im Anschluss diskutiert.1
2. Gottebenbildlichkeit, sittliche Freiheit und Menschenwrde In den biblischen Erzhlungen wird die Sonderstellung des Menschen, die seine Wrde begrndet, durch seine Ebenbildlichkeit zu Gott vorgestellt. Dabei gleicht der Mensch Gott, ist aber nicht Gott identisch: „Dann sprach Gott: ‚Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns hnlich“ (Gen 1, 26; vgl. Janowski 1999, 1159 f.). Im Gegenteil wird das menschliche Streben, selbst sein zu wollen wie Gott, in der Genesis als grçßte Versuchung dargestellt. Als Gott hnlich verfgt der Mensch ber jene geistigen Fhigkeiten, die es ihm erlauben, die Naturordnung und seine herausgehobene Stellung darin zu erkennen. Der Horizont, innerhalb dessen die menschliche Natur zu denken ist, verluft entlang jener Ttigkeiten, die den Schçpfer im ersten Bericht der Genesis auszeichnen, wie Leon Kass in
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einer umfangreichen Interpretation herausgestellt hat: „In short: God exercises speech and reason, freedom in doing and making, and the powers of contemplation, judgement, and care“ (Kass 2003, 38), eine Beschreibung, die nicht zufllig in etwa den Katalog von Charakteristika umfasst, welche in der bioethischen Diskussion gemeinhin mit „Personalitt“ bezeichnet wird.2 Aber „fertig“ bzw. „vollstndig“ – so wie die von Gott erschaffene Natur oder die anderen Geschçpfe, die nach dem Schçpfungsakt jeweils als „gut“, im Sinne von vollendet, bewertet werden – ist der Mensch mit diesen an den gçttlichen Eigenschaften anteilhabenden Fhigkeiten nicht. Denn das ihn in der Schçpfungsordnung Auszeichnende ist seine Bestimmung zur Freiheit: Er ist frei, aufgrund eigener berlegungen eine Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung ist nicht wie im griechischen Intellektualismus entweder als eine Funktion der Vernunft oder aber als eine ußerung des Triebes zu verstehen (vgl. Welzel 1990, 49 ff.), sondern geht vielmehr mit dem Vermçgen einher, zwischen Gut und Bçse zu entscheiden und sich fr die eigene Entscheidung zu verantworten: Es handelt sich um die sittliche Freiheit der Person. Das ist das Thema der Paradieserzhlung. Eva und Adam haben das Verbot bertreten, die Frchte vom Baum der Erkenntnis zu kosten. Es ist aber nicht erst der Genuss der Frucht, welche die Erkenntnisfhigkeit selbst verleiht, vielmehr wird Eva durch das Gesprch mit der Schlange bereits in dem Moment ihres Potentials gewahr, als die Schlange sie ber die Intention des Verbotes informiert. Gott hat zuvor Adam – Adam, den Menschen, der im ersten Schçpfungsbericht noch nicht nach Geschlechtern geschieden ist – allein die Folge des Verbots mitgeteilt: „Denn am Tage, da du davon issest, mußt du sterben“ (Gen 2, 17), nicht aber die Begrndung. Diese erfhrt der Mensch von der Schlange. Ganz im Stile einer ersten vorsintflutlichen Ideologiekritik klrt sie Eva ber die wahren Interessen Gottes auf, nmlich dass es ihm nicht darum gehe, das Wohlergehen seiner Geschçpfe zu schtzen, sondern dass er nur seine eigenen Interessen schtze: „‚Oh nein, auf keinen Fall werdet ihr sterben! Vielmehr weiß Gott, daß euch, sobald ihr davon esset, die Augen aufgehen, und ihr wie Gott sein werdet, indem ihr Gutes und Bçses erkennt“ (Gen 3, 4-5). Interessanterweise reicht diese geistige Nahrung bereits aus, das vermeintlich erst durch den Genuss der Frucht zu erwerbende Vermçgen zu realisieren – als Potential ist es dem Menschen, der Gottes Ebenbild ist, von Anfang an eingeschrieben, denn Eva sieht nun, „daß der Baum gut sei zum Essen und eine Lust zum Anschauen und begehrenswert, um weise zu werden“ (Gen 3, 6) und entscheidet selbst, die Frucht zu kosten. Eine Be-
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wusstseinsvernderung erfahren Eva und Adam allerdings durchaus nach dem Genuss der verbotenen Frucht. Sie fallen nach den ersten Bissen bekanntlich nicht tot um, weswegen die angedrohte Strafe der Verbotsbertretung im brigen eine bertragene Bedeutung haben muss, sondern „ihnen gehen die Augen auf“ und sie bemerken ihre eigene Nacktheit: die Unschuld des naiven Menschen ist dahin, der nun schamvoll sich bedeckt und vor Gott im Garten versteckt. Es wchst mit dem Schamempfinden ein weiteres Gefhl, das in dem Dialog mit Gott Gestalt gewinnt: das der eigenen Schulderkenntnis. Von Gott zur Rechenschaft gezogen, leugnet Adam weder die Tat an sich, noch, dass er um die Illegitimitt der Tat weiß. Aber schuld sind auch beim ersten Menschen immer die anderen, in diesem Fall (wie es scheint, wird hier eine anthropologische Grundbedingung erfasst) die Gefhrtin, als die einzig zur Verfgung stehende andere. Adam bernimmt nicht die Verantwortung fr die Tat, er schiebt sie weg. Die Folge des ganzen Vorgangs ist bekannt: statt gçttlich befriedeter Natur im Zustand naiven Glcks nun die Schmerzen des Gebrens fr Eva und mhsame Arbeit fr Adam in einer menschlich zu gestaltenden Natur als Zivilisation (Gen 3, 16-19). Haben Adam und Eva also einerseits das Vermçgen der Freiheit entdeckt, nmlich selbst etwas zu erkennen, zu bewerten und daraufhin eine eigene Entscheidung zu treffen, auch zwischen Gut und Bçse zu entscheiden, andererseits zugleich aber diese moralische Urteilsfhigkeit verfehlt, indem sie sich fr die Verbotsbertretung entschieden haben und dann zwar um ihre Schuld wissen, aber nicht die Verantwortung dafr bernehmen wollen? Ist die menschliche Natur so zum Bçsen geneigt, dass die ursprngliche Ebenbildlichkeit gewissermaßen konsumiert ist und folglich auch die Wrde des Menschen beschdigt ist, so wie es Paulus spter als Erbsnde konzeptualisiert hat? Eine Antwort fllt nicht leicht und sie sollte im Kontext der der Paradieserzhlung nachfolgenden Geschichte versucht werden, die die eines furchtbaren Verbrechens ist. Der nchste Mensch, mit dem Gott in einen Dialog tritt, ist jemand, der ganz offensichtlich durch die Ermordung des eigenen Bruders sich fr das Bçse entschieden hat (Gen 4, 1-16). Kain, der den ahnungslosen Abel auf dem Feld erschlgt, weil Gott dessen Gaben aus unerfindlichen Grnden vorzieht, hat vor der Tat von Gott noch Warnzeichen erhalten, als er ihn auf die „vor der Tr lauernde Snde“ aufmerksam gemacht hat, die einen gewissermaßen anspringt, so mag man sich vorstellen, wenn der Mensch nicht „gut ist“ (vgl. Gen 4, 7). Hier wird sehr deutlich, dass es nicht bloß darum geht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und rationale Entscheidungen zu treffen, sondern diese Entscheidungen mssen auch der
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Bestimmung des Menschen als „gut“ entsprechen. Wenn aber der Mensch diese sittliche Bestimmung durch ein ungeheuerliches Verbrechen verfehlt, wie es Kain anzulasten ist, ist dann der Mensch so versehrt und beschdigt, dass von einer ihn auszeichnenden Sonderstellung, die seine Wrde begrndet, nicht mehr die Rede sein kann? Zunchst ist daraufhinzuweisen, dass im Unterschied zum vorhistorischen „original man“ des paradiesischen Naturzustands, der als Reprsentant der ganzen Menschheit gelten kann, es nun um ein bestimmtes Individuum geht und seine individuelle Schuld. Aus der Perspektive der biblischen Erzhlungen reprsentieren Adam und Eva die immer schon fehlbare conditio humana, wohingegen der Brudermord fr eine individuell zurechenbare Tat steht. Das Entscheidende ist nun, dass Gott in einem ersten Schritt Kain im Wege des prfenden Dialogs und durch die Erçffnung der Strafe, nmlich als Heimatloser umherziehen zu mssen, dazu bringt, seine Tat und auch das Bewusstsein der Schuld zuzugeben (Gen 4, 13). Kain frchtet sich vor seiner Zukunft als Flchtling und dass er schutzlos selbst zum Opfer von Gewalt werden kann. Daraufhin verleiht Gott Kain das sprichwçrtliche gewordene Kainsmal, „damit ihn niemand erschlage“, denn „jeder, der Kain erschlgt, an dem wird es siebenfach gercht“ (Gen 4, 15). Fr die Frage der Unantastbarkeit der Menschenwrde ist diese Stelle von nicht zu berschtzender Bedeutung. Denn das Kainsmal reprsentiert nicht allein und auch nicht in erster Linie den Mçrder, sondern es ist ein Zeichen gçttlichen Schutzes – auch der Mçrder ist in seiner Wrde unbedingt (vgl. Pottmeyer 1996, 41). Gott will nicht das Leben des Mçrders, sondern vielmehr dass dieser seine Schuld als Schuld erkennt und bereut. Was man auch tut, wer man auch ist, die unhintergehbare Auszeichnung der besonderen Wrde als von Gott verliehenes Geschenk kann kein Mensch verlieren: Weder indem bestimmte Menschen anderen Menschen die Wrde meinen absprechen zu kçnnen, noch durch eigene Taten. Denn jeder Mensch bleibt das Geschçpf Gottes und sein Ebenbild, auch wenn der gefallene Mensch die mit der Ebenbildlichkeit aufgegebene Bestimmung zum Gut-sein als einer sittlichen Freiheit verfehlt hat. Aber dieser Mensch wird nicht aufgegeben, sondern bleibt aufgefordert, die Verantwortung fr sein Handeln zu bernehmen, zu bereuen und sich zu ndern. Die Vorstellung, dass man diese Auszeichnung gleichsam an sich selbst vernichten kçnne, damit der Wrde verlustig gehe und solchermaßen getçtet werden kçnne wie ein Tier, wie es Thomas von Aquin schrieb,3 ist im Horizont der biblischen Erzhlungen nicht plausibel. Diese Botschaft wird im Neuen Testament durch die Menschwerdung
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Gottes in Jesus Christus, sein Wirken sowie durch den Opfertod am Kreuz erneuert und verdichtet. In seiner Hinwendung zu den gesellschaftlich Schwachen gibt Jesus ein Beispiel, was die einzelnen einander als Menschen schulden sollen. Die Vorstellung, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, begrndet nicht bloß eine kategoriale Gleichheit unter den Menschen, sondern auch eine geschwisterliche Verantwortungspflicht fr den Nchsten. Mithin liegt in der Ebenbildlichkeit als der gleichen Geschçpflichkeit auch ein Gebot fr das soziale Miteinander begrndet. Die Menschwerdung Gottes bezeugt zudem den unendlichen Wert eines jeden Individuums, fr dessen Erlçsung Jesus Christus am Kreuz den Opfertod erleidet (vgl. Matz 1987). In dem symbolischen Gehalt des angebeteten Kruzifixes liegt das fr das christliche Denken spezifische Paradox. Denn in der, wie Robert Spaemann beschrieben hat, „objektiv wrdelosen“ Zurschaustellung des qualvollen Todes am Kreuz (Spaemann 1987, 299) – eine Hinrichtungsart, vor der rçmische Brger durch ihr Brgerrecht geschtzt waren –, mit dem Ziel der absoluten Erniedrigung des Menschen und Verletzung seiner Wrde, bewahrt der Gekreuzigte trotz der ußeren Umstnde doch seine innere Wrde: Dass die Wrde in diesem Sinne unantastbar ist, hat als eine kontrafaktische Aussage ihren geistesgeschichtlichen Ursprung im Zentrum der christlichen berlieferung. Von dieser Vorstellung zu Kants auch begrifflicher Entfaltung der Idee, dass dem Menschen als Person Wrde zukommt, verluft ein hçchst interessanter und in der Kennzeichnung der Gabelungen auch umstrittener Weg, der hier nicht im einzelnen abgeschritten werden kann. Es reicht aus, an den so vçllig differenten rçmischen Bedeutungsgehalt von dignitas als Rangbezeichnung zu erinnern, wonach derjenige Wrde besitzt, der sich um das Gemeinwesen verdient gemacht hat und dafr Anerkennung erfhrt (vgl. Pçschl 1992, 637 ff.). Wenn heute vom wrdevollen Auftreten einer Person oder der Wrde des Amtes die Rede ist, derer sich die jeweiligen Amtsinhaber entsprechend verhalten mssen, dann schwingt von fern dieses vorchristlich-rçmische Verstndnis der Wrde mit: Wrde als ein durch ein bestimmtes Verhalten erzielter Achtungsanspruch, wobei die Kriterien fr die Achtungserbringung sich entlang der jeweils sich durchsetzenden gesellschaftlichen Wertmaßstbe wandeln kçnnen. Demgegenber ist die zweite rçmische, in der Stoa bei Cicero zu findende Bedeutungsdimension von dignitas, als etwas, was in der menschlichen Natur liege – von ihm nherhin als Vernunft gekennzeichnet – und was die besondere Stellung des Menschen im Kosmos begrnde, zwar strukturell der biblisch begrndeten Auszeichnung des Menschen vergleichbar – und bei Cicero eben schon mit dem Begriff der Wrde versehen. Doch schlgt
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diese Bedeutung, auch bei Cicero selbst, gegenber dem Verstndnis der Wrde als auf einer Leistung und der daraufhin erhaltenen Anerkennung beruhend, nicht durch (vgl. Bielefeldt 1998, 64). Die entscheidenden begrifflichen Weichenstellungen, bei denen die christlichen Gehalte gewissermaßen in den lateinischen Begriff der Wrde und auch dem der Person einwandern und schließlich hochsubtil so miteinander verbunden werden, dass das Wesentliche der Person als Wrde bestimmt wird, ist vor allem eine Leistung der christlichen Theologie, insbesondere der des 13. Jahrhunderts (dazu Kobusch 1997, 15–30). Die mittelalterlichen Denker um Alexander von Hales und Bonaventura haben in ihren metaphysischen Reflexionen ber die Natur Jesu Christi entwickelt, dass es neben der aristotelisch geprgten Vorstellung einer natrlichen und einer rationalen Seinsordnung noch eine weitere geben msse, nmlich die moralische Seinsordnung, der der freie Wille zugeordnet wird. Da Jesus Christus mit seiner menschlichen Natur allen Menschen verbunden ist, kommt die unendliche Wrde seiner Person auch dem Menschen zu (vgl. 30). Diese also in einer bestimmten Metaphysik-Tradition beheimatete Lehre vom moralischen Sein bildet in der Neuzeit die Grundlage fr die Verankerung der Menschenwrde in der sittlichen Freiheit der Person, zunchst bei Pufendorfs naturrechtlichem Systementwurf fr ein Natur- und Vçlkerrecht und dann in Kants wirkmchtigem Verstndnis der Menschenwrde (vgl. 67 ff., 132 ff., dort auch zum folgenden; vgl. auch Welzel 1990, 141 f.). Die Eckpfeiler der Kantischen Argumentation sind folgende. Als Geltungsgrund der Menschenwrde bei Kant ist die Fhigkeit des Menschen zur sittlichen Autonomie festzuhalten (Kant 1977a, 69). Die aus der Vernunftfhigkeit erwachsende Autonomie des Menschen und eine apriori sich erweisende Pflicht, sich selbst moralische Gesetze aufzuerlegen, lsst sich als Skularisat der Idee der Gottebenbildlichkeit mit den damit einhergehenden Fhigkeiten und der gçttlichen Bestimmung „gut“ zu sein, verstehen. Die Wrde des Menschen, als das, „was ber allen Preis erhaben ist, mithin kein quivalent verstattet“ (Kant 1977a, 68), ist der einzige absolute Wert, der keinen Preis hat, weder zhlbar, noch von Bedingungen abhngig ist. Die dem moralischen Gesetz zu erbringende Achtung ist in ethischer Absicht auf die universale Gemeinschaft der Menschen als Personen gerichtet, so heißt es in der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1977a, 61). In der Menschheit sind alle Menschen miteinander als Gleiche verbunden. Wer andere oder sich selbst vollstndig instrumentalisiert, verletzt
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demnach nicht nur die Wrde der betroffenen Person, sondern darber hinaus auch der Menschheit als ganze. ber die angemessene Interpretation der Kantischen Ausfhrungen zu Menschenwrde und Personbegriff besteht allerdings eine tiefgreifende Kontroverse hinsichtlich der Trgerschaft der Menschenwrde.4 Der inhaltliche Streitpunkt geht darum, ob mit Kant die Wrde auf jene als Trger zu beschrnken ist, die auch individuell in berprfbarer Form, d. h. entlang empirischer Kriterien ber diese Fhigkeiten verfgen (vgl. etwa Trapp 2002), oder aber mit Kant von vorneherein alle Menschen Trger von Wrde seien, unabhngig von ihrer individuellen physischen oder psychischen Konstitution. Fr letzteres spricht, dass Kant sich mit seiner auf Transzendentalitt zielenden Argumentation gerade von empirischen Bedingtheiten lçsen wollte (vgl. dazu Baumanns 2004). Es fhrte in der Praxis zu unlçsbaren Abgrenzungsproblemen, das personale Sein des Menschen erst im Falle der Realisierung der mit dem Personsein gegebenen Qualifikation als gegeben zu betrachten: Denn fr das moralische Vermçgen des Menschen, das das Personsein begrndet, lsst sich kein Gradmesser der hinreichenden Realisierung angeben, von dem aus zu sagen wre, dass erst mit seiner Erreichung ein Individuum ber Wrde verfgt. Die Setzung eines solchen Gradmessers ist ein notwendig willkrlicher Akt, der zwar in Hinblick auf den Kreis der Betroffenen inklusiver oder exklusiver ausfallen kann. Aber darauf kme es dann schon nicht mehr an, da so der Sinn des Menschenwrdebegriffs bereits verloren gegangen wre, nmlich ein Unbedingtes der menschlichen Existenz zu formulieren. Kathrin Braun erinnert in diesem Zusammenhang zu Recht an die Grundintention des Kantischen Denkens, nmlich die Begrndung des Rechts durch Macht zu berwinden (vgl. Braun 2004, 83 f.): Wrden zum Kreis der Trger von Menschenwrde nur jene gehçren, die als Kriterium ber den Geltungsgrund der Wrde auch je individuell verfgten, dann lge es in der Macht jener, die das Kriterium genauer definierten, zu bestimmen, wer zu diesem Kreis gehçrt und wer nicht. Was dies fr die Menschenwrde als Rechtsbegriff bedeutete, wird sogleich im nchsten Schritt zu diskutieren sein. Zuvor soll noch ein weiterer Aspekt angefhrt werden, der den metaphysischen Charakter des Kantischen Menschenwrdeverstndnis zu belegen sucht. Warum sollen wir die Wrde des Menschen achten und dem moralischen Gesetz folgen, warum sollen wir wollen sollen und warum ist die Forderung, das moralische Gesetz zu achten, etwas Unbedingtes? Auf diese Frage lassen sich mit Kant zwei Antworten entwickeln. Die eine handelt vom notwendig Unbegreiflichen. Dass die menschliche Vernunft den kategorischen Imperativ als ein unbedingtes praktisches Gesetz seiner „absolu-
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ten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann“ (Kant 1977a, 101), hngt damit zusammen, weil sie nicht auf eine Bedingung, welche Kant als ein zum Grunde gelegtes Interesse versteht, rekurrieren will – dann wre es „kein moralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freiheit“ (101) mehr. Was demnach der praktischen Vernunft bleibt, ist die Unbegreiflichkeit zu begreifen (vgl. Bielefeldt 1998, 123). Eine zweite Antwort kann entlang der Charakterisierung dessen gegeben werden, was es denn ist, was uns zu so seelenerhebender Bewunderung in der menschlichen Seele fhrt: nmlich die moralische Anlage in uns, die uns dazu bringt, das moralische Gesetz zu achten. Was dieses aber wiederum ist, was uns weit ber die Natur, von der wir in Bezug auf so viele Bedrfnisse bestndig abhngig seien, zu erheben vermag, das beantworter Kant mit der „Unbegreiflichkeit dieser eine gçttliche Abkunft verkndigenden Anlage“ (Kant 1977b, 700).5 Die in den biblischen Erzhlungen grundgelegte und in der christlichen Theologie begrifflich erstmalig entfaltete Idee einer in der sittlichen Freiheit der Person grndenden Wrde, die unbedingt zu verstehen ist, mithin auch jedem Menschen als Mensch zukommt und unverlierbar ist, ist in der vernunftmetaphysischen Vermittlung durch Kants Philosophie in das Grundgesetz eingegangen. Wenn es in Artikel 1 heißt: „Die Wrde des Menschen ist unantastbar“, dann ist das Fundament dieser Aussage nicht in einer empirischen Anthropologie zu suchen, sondern in dem Unbedingten einer transzendent („gçttlich“) bestimmten Natur des Menschen oder einer transzendentalen Vernunftnatur (vgl. Spaemann 1987, 296 f.).6 Damit ist nun die nchste Frage angesprochen, die hier behandelt werden soll, nmlich was die Kenntnis der geistesgeschichtlichen Quellen fr die Interpretation des positiven Rechts bedeutet und weiterhin der Artikel 1 fr die Gestaltung der Biopolitik.
3. Positives Verfassungsrecht und meta-positives Fundament der Menschenwrde Welches angemessene Verstndnis der Menschenwrde soll nun dem Rechtsbegriff der Menschenwrde zugrundeliegen, so wie er sich in Artikel 1 des Grundgesetzes darstellt? Handelt es sich hier um eine Positivierung des geistesgeschichtlichen Begriffs im Sinne der im vorangegangenen skizzierten religiçs- und vernunftmetaphysischen Tradition? Eine solche Vermutung wird heute im Kontext der biopolitischen Auseinandersetzung bestritten. Selbst wenn eine solche Lesart sich auf die Rekonstruktion des Willens des historischen Verfassunggebers sttzen kçnnte,
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wie auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (gewissermaßen die autoritative Letztentscheidungsinstanz der „richtigen“ Grundgesetzinterpretation) – was sogleich zu erçrtern sein wird –, so werden heute Stimmen laut, die fr eine systematische Neuinterpretation der Menschenwrde pldieren. Vor allem Matthias Herdegen hat in seiner vielbeachteten Kommentierung des Artikel 1 im tonangebenden GrundgesetzKommentar, dem Maunz-Drig, in zwei grundlegenden Hinsichten fr eine neue Sichtweise pldiert (Herdegen 2005). Herdegen ist zwar durchaus der Auffassung, dass der Begriff der Menschenwrde eine geistesgeschichtliche Tradition besitzt. Aber diesem geschichtlich vermittelten Inhalt soll kein Geltungsanspruch bei der Interpretation des positiven Rechts zukommen. Fr die Inhaltsermittlung des Artikels 1 Grundgesetz soll vielmehr allein die Verankerung im Verfassungstext und die Exegese als Begriff des positiven Rechts maßgeblich sein, in Absehung der vorrechtlichen Bedeutung (Herdegen 2005, RZ 17). Desweiteren ist Herdegen der Auffassung, dass der staatliche Schutz der Menschenwrde auch in abgestufter Form mçglich sein soll, da das Prinzip menschlicher Wrde zwar kategorial gelte, der Wrdeschutzanspruch aber in Abhngigkeit des Entwicklungsstands des menschlichen Lebens jeweils graduierbar sei (Herdegen 2005, RZ 50, 65 ff.). Das Konzept des entwicklungsabhngigen Wrdeschutzes fhrt fr die Biopolitik zu erheblichen Liberalisierungen. In der Tat sieht Herdegen den Beginn des vollen staatlichen Schutzanspruches fr den Embryo erst mit der Nidation als gegeben (Herdegen 2005, RZ 61 f.). Der strenge gegenwrtig geltende gesetzliche Embryonenschutz in der Bundesrepublik wre mit einer solchen Verfassungsinterpretation nicht lnger zwingend. Wenn aus dem Verfassungsrecht selbst kein Maßstab zu gewinnen sein soll, mittels dessen der staatlich gewhrte Schutz rechtlich berprfbar ist, vielmehr dieser Schutz schon rechtlich gesehen nach Art und Maß fr Differenzierungen offen sein soll, die den konkreten Umstnden Rechnung tragen (Herdegen 2005, RZ 50), dann stellt sich die Frage, von welcher Vorgehensweise dann die Interpretation, ob ein Gesetz verfassungsgemß ist oder nicht, geleitet ist. Was schließlich fr die Interpretation bleibt, ist die Prfung des Einzelfalls anhand der Vielzahl der in der juristischen Literatur vertretenen Stimmen. Diese Art Kasuistik steht freilich unter dem berechtigten Verdacht, dass der feste Grund des Verfassungsrechts zugunsten des je sich durchsetzenden Interpretationsverstndnisses verloren geht, welches dann ganz andere Orientierungspunkte aufweisen kann. Zur Zeit richtet sich das Interesse auf den Embryo vor der Nidation, um aus diesem die fr die Forschung so begehrten embryonalen Stammzellen zu gewinnen. Die rechts-
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wissenschaftlichen und im brigen auch die so genannten bioethischen Argumente, die begrnden wollen, warum das ungeborene menschliche Leben erst mit der Nidation zum Kreis der Wrdetrger dazu gehçren soll, sollten im Kontext von Erkenntnis und Interesse gesehen werden. Es bleibt abzuwarten, welche anderen Zeitpunkte in der Entwicklung des ungeborenen Lebens als Beginn des Wrdeschutzanspruchs dann mit Argumenten gesttzt zu werden suchen, wenn heute noch nicht entdeckte Potentiale des weiterentwickelten Embryos in der Forschung thematisiert werden. Sollten solche Auffassungen sich in der Rechtspraxis durchsetzen, dann kann mit Robert Spaemann davon gesprochen werden, dass sich die Rechtsgemeinschaft dann in eine Kooptationsgemeinschaft verwandelte, in der diejenigen, die sich als zum Kreis der Rechtstrger dazugehçrig bestimmt haben, neue Mitglieder kooptieren – nach Kriterien, die notwendig willkrlich bleiben mssen (Spaemann 1996, 253). Dagegen wird hier vertreten, dass sowohl die systematische als auch die historische, d. h. auf den Willen des Verfassunggebers rekurrierende Auslegung des Artikel 1 ein Verstndnis der Menschenwrde nahelegt, das den vor-positiven Charakter des Begriffs als wesentlichen Teil der Inhaltsermittlung dieser positiven Norm begreift (vgl. Bçckenfçrde 2004, 1222 f.), womit weiterhin ein Verstndnis der Menschenwrde als ein Absolutum einhergeht, das der Biopolitik bestimmte verfassungsrechtliche Grenzen zieht. Die Lektre der Protokolle der Beratungen ber den Artikel 1 im Parlamentarischen Rat lsst erkennen, dass es dem Verfassunggeber darum gegangen ist, mit dem Menschenwrdeprinzip dem positiven Recht eine meta-positive Grundlage einzuziehen. Die Menschenwrde, wie die durch sie begrndeten Menschenrechte, sind von den Verfassungseltern als vorstaatlich verstanden worden, als etwas, was durch den politischen Willen auch als positives Recht anerkannt werden kann – und insbesondere nach der Erfahrung des Nationalsozialismus mit seiner vçlligen Rechtsverleugnung auch anerkannt werden muss –, aber was doch in der Positivitt nicht aufgeht. Demnach gewhrt der Staat keine Menschenwrde und Menschenrechte, sondern anerkannt die allen Menschen eigene Wrde und die mit dieser verbundenen Rechte. Wrde und Menschenrechte verdanken ihre Existenz und ihren Geltungsanspruch nicht erst dem staatlichen Zusammenschluss und dem Willen des Verfassunggebers, sondern sie erhalten durch die Positivierung einen weiteren Geltungsanspruch: den als positives Recht. Die gesamte Architektur der Formulierung und Konstruktion der Verfassung ist daraufhin abgestellt, was in den Beratungsprotokollen auch ersichtlich wird. Im Ringen um die beste Formulierung ist zeitweilig dis-
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kutiert worden, ob der Charakter des Vorstaatlichen dadurch ausgedrckt werden solle, dass explizit auf die den menschlichen politischen Willen transzendierende Legitimationsquelle von Menschenwrde und Menschenrechte hinzuweisen sei. So wurde vorgeschlagen, von den Rechten, die der Mensch hat, als von Gott oder von der Natur gegeben, zu sprechen (Parlamentarischer Rat 1993/5, 917). In dem wichtigsten Grndungsdokument der Vereinigten Staaten, in der Unabhngigkeitserklrung, findet diese berlegung ein prominentes historisches Vorbild. Es heißt dort, dass das Volk der Vereinigten Staaten es als „self-evident“ ansieht, dass „all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain inalienable rights“. Ein anderer Vorschlag in der bundesrepublikanischen Grndungssituation sah vor, dass die Achtung und der Schutz der Wrde des Menschen als eine heilige Verpflichtung zu kennzeichnen sei (Parlamentarischer Rat 1993/5, 578). Hinter all diesen Formulierungsvorschlgen ist das Bemhen zu erkennen, Wrde und Rechte des Menschen als dem staatlichen Zugriff entzogen zu verstehen, die nicht von der Staatsgewalt genommen werden kçnnen, da sie eine eigene (nicht staatlich vermittelte) Legitimation besitzen. Wird nun mit der Positivierung des vorrechtlichen Begriffs der Menschenwrde auch seine geistesgeschichtlich bestimmte metaphysische Konnotation: religiçs-metaphysisch im Sinne der Offenbarungsreligion oder vernunft-metaphysisch im Sinne der Kantischen Philosophie in das Grundgesetz integriert? Dass die verfassungsrechtliche Interpretation fr solche Deutungen offen ist, versteht sich angesichts der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Hberle) von selbst; dass in der çffentlichen Auseinandersetzung der wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Foren, der Medien und insbesondere in den Parlamenten Brgerinnen und Brger eine solche Deutung einbringen kçnnen, lsst sich in einer freiheitlichen Demokratie schon mit dem Hinweis auf die Meinungsfreiheit beantworten. Eine gewissermaßen laizistisch gestimmte Demokratietheorie wrde in dem Einbringen religiçser Argumente in den çffentlich-politischen Diskurs freilich eine Verletzung der Spielregeln erkennen, da sie die religiçsen Positionen als Glaubensaussagen fr nicht verallgemeinerbar und insofern fr nicht anschlussfhig hielte. Dagegen hat in den letzten Jahren insbesondere Jrgen Habermas dafr geworben, auch religiçs inspirierte politische Argumente als Bereicherung zu verstehen, insofern die Glubigen sich der Mhe unterzçgen, ihre Argumente in einer „bersetzten“ Weise in das çffentliche Gesprch einzubringen.7 Aber kann eine metaphysische Deutung der Menschenwrde auch durch das Bundesverfassungsgericht in der verfassungsrechtlichen Auslegung des Artikel 1 erfolgen oder wider-
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sprche dies nicht vielmehr dem Rechtsprinzip der religiçs-weltanschaulichen Neutralitt? Schließlich haben die Verfassungseltern, so liesse sich weiter anfhren, die Antrge abgelehnt, ein religiçs-metaphysisch bestimmtes Verstndnis explizit im Verfassungstext aufzunehmen und eine Antwort auf die Frage, worin die einzelnen die Menschenwrde begrndet sehen, in der Gottebenbildlichkeit oder in der Humanitt, gerade nicht vorgegeben, wie der Abgeordnete Ssterhenn wohl zutreffend den Konsens im Redaktionssausschuss zusammenfasste (Parlamentarischer Rat 1993/5, 915). Aber auf der anderen Seite lsst sich der Inhalt dieser Norm nicht ohne den Rckgriff auf die Begrndung der Menschenwrde interpretieren (vgl. Geddert-Steinacher 1990, 25). Bislang hat das Bundesverfassungsgericht nicht explizit dazu Stellung genommen, in welcher Weise es die geistesgeschichtliche Tradition, die mit dem Begriff der Wrde positiviert worden ist, als Teil der Inhaltsermittlung des Artikel 1 begreift. Das heißt aber nicht, dass das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwrde des Artikel 1 in einem beliebigen Sinne durch das Gericht gedeutet worden wre. Das Gebot, die Menschenwrde von jedermann zu achten und den Auftrag an die Staatsgewalt, die Menschenwrde zu schtzen, hat das Bundesverfassungsgericht in der so genannten Objektformel nher spezifiziert, nach der es der menschlichen Wrde widerspricht, den Menschen zum bloßen Objekt, zum bloßen Mittel, zu machen (vgl. BVerfGE 5, 85 [204]; 9, 89 [95]; vgl. zu weiteren Urteilen Geddert-Steinacher 1990, 31 ff.). Der Mensch muss deswegen immer „Zweck an sich selbst bleiben“, da andernfalls seine Subjektqualitt prinzipiell in Frage gestellt werde – unberhçrbar sind die Anklnge an die Kantische Zweckformel des Kategorischen Imperativs und seine Begrndung der Wrde in der sittlichen Vernunft. Damit verwendet das Gericht einen Begrndungstypus, den Tatjana Geddert-Steinacher zu Recht als apriorisch und transzendental kennzeichnet, mit dem eine (rechts-) verbindliche Letztbegrndung der Wrde angegeben wird, die dadurch „ihre dogmatische Funktion als Absolutheit beanspruchende Grundnorm des Rechts erfllen kann“(39). Auch hinsichtlich des Trgerkreises der Menschenwrde knpft die hçchstrichterliche Rechtsprechung an Kants transzendentale Begrndung an (vgl. 60), insofern die empirischen Bedingtheiten der individuellen Existenz fr eine Zuerkennung von Wrde nicht relevant sind und es ausschließlich auf die Zugehçrigkeit zur Gattung ankommt. Im so genannten ersten Abtreibungsurteil heißt es unmissverstndlich: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwrde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Trger sich dieser Wrde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß.
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Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fhigkeiten gengen, um die Menschenwrde zu begrnden“ (BVerfGE 39, 1 [41]). Die Architektur des Grundgesetzes legt andere Wrdebegrndungen und die Mçglichkeit einer Eingrenzung des Trgerkreises auf der Basis wie gezeigt notwendig willkrlich bleibender Kriterien nicht nahe. Denn warum sollte ein Prinzip, das mit wechselnden Interpretationen hinsichtlich derjenigen, die berhaupt einen Schutzanspruch behaupten kçnnen sollen, je nach dem Einzelfall nher zu bestimmen sei, „auf ewig“ gelten? Die Verbindung von Artikel 1 mit Artikel 79 Absatz 3 kann doch nur bedeuten, dass die zwar historisch situierte aber doch nicht anders als Wahrheit zu bezeichnende Erkenntnis, nach der die Wrde des Menschen unantastbar ist, nun auch fr alle Zeiten gltig sein soll. So wie die Menschenwrde und Menschenrechte von ihrem Geltungsanspruch in rumlicher Hinsicht nicht teilbar sind, so auch nicht in zeitlicher Hinsicht. Eine Befristung durch den zeitlichen Vorbehalt einer mçglichen Verfassungsnderung wre in Bezug auf die in der sittlichen Vernunftnatur des Menschen begrndete Menschenwrde aporetisch. Dies sieht allerdings anders aus, wenn die Menschenwrde, wie im Rahmen der Kommunikationstheorie der Fall, als in wechselseitig anerkannten Achtungsansprchen begrndet wird, verortet in den kommunikativen Beziehungen. Die Wrde entspringt dann gewissermaßen der sozialen Interaktion und kann als Resultante der im weitergehenden empirischen Sinne positiv erbrachten Achtung gelten. Bliebe diese Achtung aber aus, lge auch keine Wrde vor. Eine solche Begrndung der Wrde ist weder mit der kontrafaktischen Aussage, nach der die Wrde des Menschen unantastbar ist, noch mit dem grundstzlichen an jedermann gerichteten Achtungsanspruch und der staatlichen Schutzverpflichung in Einklang zu bringen, wie es der Wortlaut in Artikel 1 Grundgesetz festhlt. Ohne die geistesgeschichtliche Tradition einer Metaphysik der Freiheit, bei der der Gehalt der biblischen Rede der Gottebenbildlichkeit und der Menschwerdung Gottes sowie der Erlçsung des Menschen in Jesus Christus begrifflich aufgearbeitet wird, sodann bei Kant von einer religiçs-metaphysischen zu einer vernunft-metaphysischen Begrndung transformiert wird, indem die allgemeine Vernunftnatur des Menschen als sittlicher Person und seine Bestimmung zur Achtung des moralischen Gesetzes den Kern der Wrdebegrndung ausmacht, wre das Verstndnis einer unantastbaren und damit fr andere unverfgbaren, den Menschen als Menschen auszeichnenden Wrde, nicht denkbar gewesen. Die Interpretation des Artikel 1 kommt daher ohne eine explizite – und selbstverstndlich: zu glaubende – Bezugnahme auf das Ereignis einer geschichtlich situierten Gottes-
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offenbarung aus. Aber die rechtliche Interpretation kommt nicht aus ohne die Anerkennung eines die empirischen Bedingtheiten bersteigenden Unbedingten der menschlichen Existenz. Nur dann kann der Artikel 1 die ihm zukommende Funktion eines Apriori der Rechtsordnung bernehmen: als eines archimedischen Punktes, der den Vereinbarungen der unmittelbar Beteiligten notwendig vorausliegt und auf den sie keinen Zugriff haben, da andernfalls ihr Status als Freie und Gleiche unter dem Vorbehalt einer mçglichen nderung stnde. Dann wre die Menschenwrde nicht lnger ein Prinzip, mit dem fr die Angehçrigen der Rechtsgemeinschaft ein „Reich“ markiert wird, das fr ihre Interessen unverfgbar ist. Ob das vorrechtliche Verstndnis der Menschenwrde sich weiter pluralisiert und die wesentlich von der Gottebenbildlichkeit inspirierte Idee einer allen Menschen qua Menschsein zukommenden Wrde verblasst, wird fr das gesellschaftliche Zusammenleben eine der entscheidenden Zukunftsfragen sein. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes verlangt danach, diesem nicht relativierbaren Punkt auch in der Rechtswirklichkeit die ihm gebhrende Anerkennung zu verschaffen. Es stellt sich aber die Frage, ob eine zur Mehrheitsmeinung avancierende Interpretation der Menschenwrdegarantie, die von dem unbedingten Gehalt dieser Norm sich verabschiedet hat, einen derartigen Wandel bezeichnet, bei dem die Intention des Verfassunggebers nicht fr alle „Ewigkeit“ bewahrt wird. Die rechtlichen Normen geraten dann solange noch auf Kollisionskurs mit dem genderten Verstndnis, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit sich diesem Wandel entgegenstemmt. Auf Dauer gesehen ist dies allerdings in einer Demokratie schwer vorstellbar.
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den demokratischen Verfassungsstaat. Habilitationsschrift, Freie Universitt Berlin, 2005. Trapp, Rainer: Verbrauchende Embryonenforschung – ein Verstoß gegen die „Menschenwrde“? In: Renate Breuninger (Hg.), Leben – Tod – Menschenwrde. Positionen zur gegenwrtigen Bioethik. Ulm 2002, 85–128. Welzel, Hans: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Gçttingen 41990.
1 In diesem Aufsatz greife ich auch auf die Ergebnisse meiner Habilitationsschrift (Stein 2005) zurck, die 2007 publiziert werden wird. Methodisch interpretiere ich die Bibel vornehmlich immanent, nicht nach den Prinzipien der historisch-kritischen Exegese, sondern frage nach dem Gehalt der Erzhlungen in Bezug auf die politiktheoretisch relevanten Gesichtspunkte von Menschenbild und Weltverhltnis. 2 Als eine „Personalitt“, die allein dem Menschen zukommen kann. Davon zu unterscheiden sind jene in der Tradition des Utilitarismus stehenden bioethischen Positionen, die eine Sonderstellung des Menschen verneinen, diese als „Speziesismus“ kritisieren und stattdessen die kriteriale Frage in den Mittelpunkt rcken, ob Schmerz- bzw. Leidensfhigkeit und (Lebens-) Interessen vorliegen. Das hat radikale Konsequenzen: So werden zum Beispiel „empfindungslose menschliche Embryonen“ fr die medizinische Forschung empfohlen, anstelle dort auf „empfindsame Tiere“ zurckzugreifen, denen „im Unterschied zum Embryo ein direkter moralischer Status zukommt“; Ladwig 2003, 57. 3 Summa Theologica II-II, qu. 64, art 2 ad 3. Fr Thomas besitzt nicht der Mensch an sich als sittlich-freies Wesen eine dignitas humana, sondern nur der tugendhafte Mensch, der nicht sndigt; vgl. dazu Welzel 1990, 142. 4 Kant wird sowohl von jenen herangezogen, die eine Liberalisierung der Biopolitik befrworten (vgl. etwa Trapp 2002), als auch von jenen, die eine restriktive Biopolitik richtig finden (vgl. etwa Baumanns 2004; Braun 2004). 5 Schon vom Zusammenhang der Abhandlung, nmlich der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, her, lsst sich dies schwerlich auflçsen als bloßes fehlerfreies Ideal der theoretischen oder Postulat der praktischen Vernunft; vielmehr legt der Zusammenhang nahe, „gçttlich“ im offenbarungsreligiçsen Sinne zu verstehen. 6 Siehe auch Geddert-Steinacher 1990, 44: „Das theologische Credo der Unhintergehbarkeit und des absoluten Charakters der Menschenwrde erhlt durch die apriorische Vernunftmetaphysik auch in einer skularisierten Welt Verbindlichkeit.“ 7 Habermas unterscheidet allerdings zwischen einer çffentlichen Sphre im weiteren Sinne und einer staatlich-politischen Sphre; fr letztere ist er bezglich religiçs motivierter Argument zurckhaltender; Habermas 2005, 119–154.
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Kann sich das skulare Recht in Lebensfragen auf meta-positive Grundlagen beziehen? In der deutschen biopolitischen Diskussion weiß man eigentlich nur, dass es um Beginn und Ende individuellen menschlichen Lebens geht, also zum Beispiel nicht um die Entwicklung der biologischen Art Homo sapiens. Die Entwicklung der Art berlsst man schweigend dem normalen Kreislauf von Geburt, Zeugung und Tod. Gemeint sind Eingriffe in diesen Kreislauf. Die Tçtung menschlicher Embryonen, Abtreibung und Sterbehilfe sollen gegen die Wrde des Menschen verstoßen, aber mit unterschiedlichen Konsequenzen. Die Abtçtung von Embryonen ist grundstzlich verboten. Die Abtreibung zwar auch, sie ist aber praktisch gestattet und wird vom Staat untersttzt, mit dem Ergebnis: 250 000 Abtreibungen jhrlich (vgl. Merkel 2001, 55). Die Tçtung Sterbenskranker ist gleichfalls verboten, das Verbot ist aber politisch umstritten. Der viel diskutierte Fall der 41-jhrigen Amerikanerin Terri Schiavo, die fnfzehn Jahre im Wachkoma lag und deren knstliche Ernhrung im Mrz 2005 eingestellt worden ist, reprsentiert das Dilemma von religiçser und praktischer Vernunft bei der Interpretation des Todes. Aber letztlich entscheidet das positive Recht ber Leben und Tod. Das wird auch allgemein anerkannt. Im Falle Schiavo erhofften oder befrchteten alle Beteiligten die Entscheidungen der Gerichte.1 Merkwrdigerweise ist auch das Klonen, also die knstliche Herstellung von Menschen – eine uralte Utopie – nicht erlaubt, obwohl es das Gegenteil von Tçten ist (vgl. Roellecke 2003). Zur Illustration der Unklarheit nur ein Zitat. Rita Sßmuth, die damals immerhin Bundestagsprsidentin war, hat 1991 vorgeschlagen, den Satz des Grundgesetzes „Jeder hat das Recht auf Leben“ um den weiteren Satz zu ergnzen: „Das ungeborene, das behinderte und das sterbende Leben sind durch das Angebot geeigneter Hilfen vor Benachteiligungen besonders zu schtzen“.2 Wenn Behinderte und Sterbende heute wie Ungeborene behandelt werden, kçnnen viele in der Tat mit baldiger Erlçsung rechnen. Woraus sich die Verwirrung ergibt, ist klar. Wir wissen nicht zuverlssig, wann menschliches Leben beginnt und wann es endet.
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1. Grenzen des Lebens als religiçse Frage Das war bis zur Reformation anders. Im Mittelalter beantwortete man die Frage, ob es ein Weiterleben nach dem Tode gibt, mit der Unterscheidung zwischen Leib und Seele. Das Leben des Leibes endete mit dem Tod. Aber die Seele konnte je nach Verdienst im Himmel oder in der Hçlle weiterleben. Der Mensch musste daher eine Seele haben. Beginn und Ende des menschlichen Lebens konnte man nher bestimmen, indem man die Anwesenheit der Seele im Kçrper variierte. Solange ein menschlicher Kçrper nicht beseelt war, galt er nicht als Mensch. Seine Tçtung war keine Snde und kein Unrecht. Das war wichtig fr die Rechtswidrigkeit der Abtreibung. Wenn der Nasciturus erst zwçlf Wochen nach der Empfngnis eine Seele erhielt, konnte er bis dahin bedenkenlos abgetrieben werden. Und es gab eine Institution, die ber das Wann der Beseelung entscheiden konnte: die rçmisch-katholische Kirche. Das war, auch skular gesehen, eine vernnftige Lçsung. Beginn und Ende des Lebens sind nicht nur eine naturwissenschaftliche, sondern auch, wenn nicht vor allem eine religiçse Frage. Die meisten der uns bekannten Gesellschaften glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Versucht man, hinter die Wahrheit dieses Glaubens zu kommen, stçßt man schnell auf eine grundstzliche Schwierigkeit. Geburt und Tod sind Grenzen des Lebens. Grenzen kann man nur bestimmen, wenn man weiß, was davor und dahinter, was diesseits und jenseits liegt. Bei den Grenzen des Lebens weiß man aber nicht, was hinter ihnen gleichsam auf der anderen Seite liegt, und man kann es nicht wissen. Selbst der bedeutendste Denker des Todes, Martin Heidegger, spricht nur vom Nichtsein, wenn er die andere Seite meint (vgl. Roellecke 2004, 9–14). Andererseits kann man schlecht bestreiten, dass es die Diesseits/Jenseits-Unterscheidung als eine Frage gibt, die den Sinn des Lebens berhrt und die deshalb beantwortet werden muss (vgl. Luhmann 2000, 51). Fr die Beantwortung haben die Gesellschaften ein eigenes System ausdifferenziert: die Religion. Religion soll und muss Kommunikation auch dann noch ermçglichen, wenn sie eigentlich nicht mehr mçglich ist. Das heißt, sie soll uns sagen, was jenseits unseres Denkens liegt. Damit Religion diese Funktion erfllen kann, ist ihre Leitunterscheidung die zwischen Immanenz und Transzendenz (Luhmann 2000, 77, 141) oder Diesseits und Jenseits. Diese Unterscheidung setzt bei Geburt und Tod an. Insofern sind Geburt und Tod auch religiçse Fragen. Fr die weitere Entwicklung ist wesentlich, dass die Reformation die Normsetzungsbefugnis der katholischen Kirche bestritten hat. Die ZweiReiche-Lehre und die drei evangelischen Wahrheiten: alle Christen sind
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gleichen Standes, allein der Glaube lsst Gnade erhoffen und allein die Schrift enthlt Wahrheit, diese Prinzipien haben die Autoritt des katholischen Lehramtes erschttert und skular aufgehoben. Zwar endeten die konfessionellen Auseinandersetzungen mit einem Patt. Aber weltlich-politisch setzte sich die protestantische Destruktion durch, weil sie weniger Zustimmung und Zusammenarbeit verlangte. Gewissen und Evangelium wurden die Maßstbe fr christliches Handeln. Politik war nur noch insofern christlich, als sie die Kirche als die Gemeinschaft aller wahren Christen schtzen und im brigen fr Ordnung im Wirtshaus Welt sorgen musste. Religiçse Wahrheiten konnte die Politik nicht aussprechen. Da die Grenzen des Lebens genuin religiçse Fragen sind, konnte es auch keine verbindlichen generellen Entscheidungen ber Leib und Seele, Anfang und Ende des Lebens mehr geben. Fr Aussagen ber Leib und Leben gab es nur noch einen Maßstab: die Realitt, die Natur, an der man sich den Kopf stoßen, die man nachzhlen und an der man Voraussagen berprfen konnte.
2. Verdrngung der religiçsen Perspektive Natrlich wurde die Deutung der Erscheinungen nicht von heute auf morgen von Religion auf Natur oder Realitt umgestellt. Die meisten Lcken konnte man mit gelebter Tradition und Gewohnheit schließen. Der Philosophie, also der in den Universitten organisierten Wissenschaft, blieb es berlassen, die neuen Legitimationsprobleme mçglichst widerspruchsfrei in grçßeren Zusammenhngen zu lçsen. Ursprnglich religiçse Grundeinsichten wie Gotteskindschaft und Caritas blieben erhalten, wurden aber nicht mehr religiçs gedacht, sondern umformuliert zum Beispiel in Menschenwrde und Solidaritt. Fr die Gleichheit der Probleme bei nderung des Bezugssystems hat der italienische Priester-Philosoph Antonio Rosmini (1797–1855) ein besonders eindrucksvolles Beispiel genannt. Die Frage nach den Grnden fr die Ungleichheit unter den Menschen, meint er, sei die skularisierte Form des Theodizee-Problems (Liermann 2004, 49). Auch die Leib/Seele-Unterscheidung hat ihre skulare Entsprechung. Natrlich nicht in der Psychologie. Die versucht, den Menschen als Ganzheit nach naturwissenschaftlichen Methoden zu behandeln. Aber in der Philosophie. Kant unterscheidet zwischen dem Menschen als Sinnenwesen „zu einer der Tierarten gehçrig“ und als Vernunftwesen. Als Naturwesen (homo phaenomenon) kann der Mensch vernnftig handeln, aber „hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung“. Verbindlichkeit entsteht erst, wenn der Mensch als Persçnlichkeit, „als mit in-
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nerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon)“ handelt (Kant 1963, 550). Aus der inneren Freiheit deduziert Kant ein umfangreiches ethisches System. Dabei verzichtet er nahezu vollstndig darauf, sich auf Erfahrung zu berufen. Seine Ethik ist reine Konstruktion und deshalb durch keine Erfahrung zu widerlegen. Alle Empirie verschwindet in der Unterscheidung zwischen Naturwesen und Vernunftwesen und soll es auch. Wie die Unterscheidung zwischen Leib und Seele die widerspruchsfreie Konstruktion eines Jenseits gestattet, so die Unterscheidung zwischen Naturwesen und Vernunftwesen die widerspruchsfreie Konstruktion eines ethischen Systems, in dem die Gegenseitigkeit von der gegenseitigen Anerkennung bis zur strafrechtlichen Vergeltung fr Gerechtigkeit sorgt. Nur muss die reine Ethik dann wieder mit der unreinen Wirklichkeit in bereinstimmung gebracht werden. Das heißt, das Naturwesen Mensch muss alle anderen Naturwesen Mensch tatschlich als gleich erkennen. Und das ist schwierig, besonders wenn es sich um Embryonen handelt. Denn der Mensch entwickelt sich. Er ist nie derselbe. Wenn Unrecht auszurumen ist, finden wir es auch ganz gut, dass sich Menschen ndern kçnnen. Bei Kant kommt dieser Gesichtspunkt systematisch nicht vor. Deshalb ist seine Ethik berall anwendbar. Hegel hat das Problem bereits gesehen. Kants ethisches Konzept werde der Entwicklung, Geschichtlichkeit und Endlichkeit und den Vereinfachungen der Welt durch Organisation und Verfahren nicht gerecht (Hegel 1970, 461–466). Wenn das so ist, ist die Kantische Ethik kein Beitrag zur Lçsung biopolitischer Probleme.
3. Legitimatorisches Defizit bei der Entscheidung ber Leben und Tod Wir kçnnen unseren Ausflug in die Philosophie hier schon beenden. Philosophie kann die Frage nach den Grenzen des Lebens nicht beantworten. Sie beansprucht nicht einmal zu wissen, was hinter den Grenzen liegt. Auch die Beobachtung der Natur reicht offenkundig nicht aus, die Grenzen zu bestimmen. Naturwissenschaftliche Ergebnisse hngen von der Frage ab, mit der sie gewonnen werden. Wenn man beispielsweise individuelles menschliches Leben evolutionsbiologisch unter dem Aspekt des Reproduktionsinteresses betrachtet, tritt das einzelne Leben hinter der Erhaltung der Art zurck. berdies werden die Naturwissenschaften mit den sozialen Folgen von Geburt, Leben und Tod nicht fertig, zum Beispiel nicht mit dem Fall, dass eine Person verschollen ist. Das heißt, im Zusammenhang
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mit Geburt, Leben und Tod gibt es viele Fragen, die einfach entschieden werden mssen. Die Rolle des Entscheiders ist bekanntlich dem Staat zugefallen. Nicht mehr die Kirchen, der Staat fhrt jetzt die Personenstandsbcher und stellt çffentlich fest, wann Geburt und Tod eingetreten sind. Er hat bestimmt, dass die Rechtsfhigkeit des Menschen mit der Geburt (§ 1 BGB) und die Volljhrigkeit mit dem 18. Lebensjahr beginnt (§ 2 BGB). berdies hat der Staat ein Gewaltmonopol, das aus seiner Aufgabe folgt, den Frieden zu wahren, und das in letzter Konsequenz ein Tçtungsrecht enthlt. Unter diesen Umstnden muss der Staat auch in biopolitischen Konflikten entscheiden. Er tut es auch, wie das Embryonenschutzgesetz und die Bestimmung zeigen, dass „Handlungen, deren Wirkungen vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis in die Gebrmutter eintritt“, nicht als Schwangerschaftsabbruch gelten (§ 218 Abs. 1 Satz 2 StGB). Man kann diese Befugnisse des Staates Feststellungsbefugnisse nennen. Aber der Staat kann seine Regelungen ndern und die Feststellungen auf andere Tatbestnde, etwa auf ein neues Todesmerkmal, beziehen. Dann erscheint er als Herr ber Leben und Tod. Deshalb ist es genauer und offener, die biopolitischen Befugnisse des Staates auf seine Tçtungsbefugnis zurckzufhren. Damit ergibt sich freilich ein Widerspruch. Geburt und Tod sind nicht nur natrliche Erscheinungen, sondern auch religiçse Fragen. Die Entscheidung ber Geburt und Tod bedrfte daher der religiçsen Legitimation. Der Staat, der die Zustndigkeit in allen Personenstandsfragen an sich gezogen hat, ist aber nicht religiçs legitimiert. Religion und Politik sind entkoppelt, und zwar nicht aus politischen, sondern aus religiçsen Grnden. Fr das Christentum ist seine politische Instrumentalisierung Snde. Deshalb kann die Politik die Entkoppelung nicht rckgngig machen. Biopolitische Entscheidungen der Politik scheinen daher nicht mehr gerechtfertigt werden zu kçnnen. Man hat deshalb gefragt, ob sich angesichts dieser Schwierigkeit staatliches Recht nicht doch auf religiçse oder quasireligiçse Grnde berufen kann. Ernst-Wolfgang Bçckenfçrde hat nach dem Kriege die Entkoppelung von Religion und Politik zum Anlass fr die Frage genommen, „ob nicht auch der skularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskrften leben muss, die der religiçse Glaube seiner Brger vermittelt“ (Bçckenfçrde 1976, 61). Auf den ersten Blick ist diese Frage mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Die Entkoppelung von Religion und Politik hat alle Beteiligten auch entlastet, Staat und Kirchen von gegenseitiger Bevormundung, die Brger von Gewissens- und Meinungsdruck. Die alten Probleme entstnden von neuem, wenn der Staat auf religiçse Bindungskrfte zurckgreifen drfte. Außer-
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dem weiß man nicht, was den Staat „im Innersten zusammenhlt“. Man kennt das Prinzip der Vergemeinschaftung nicht. Wenn die Bildung von Großgruppen der Art Homo sapiens auch oder vor allem soziologische oder biologische Grnde hat (Roellecke 2004, 38 f.), wre noch zu untersuchen, ob die Entkoppelung von Religion und Politik die Politik berhaupt delegitimiert oder nicht funktionaler und wirksamer gemacht hat. Auf den zweiten Blick wird man freilich sagen mssen, dass der moderne Staat tatschlich von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Aber das gilt nicht nur fr den Staat, sondern fr alle Systeme. In vçllig anderem Zusammenhang hat Niklas Luhmann geschrieben: „die Realmçglichkeit der Kommunikation hat, wie ein Beobachter feststellen kann, zahlreiche faktische Voraussetzungen, die das System selbst weder produzieren noch garantieren kann“ (Luhmann 1997, 99). Luhmann geht es in der Tat um etwas hnliches wie Bçckenfçrde. Er will wissen, wie sich autopoietische, selbstgengsame Systeme, zum Beispiel Religion, Recht, Politik und Wirtschaft, zueinander verhalten, und er antwortet mit einer komplizierten theoretischen Figur: strukturelle Koppelung (776–788). Die Wirtschaft etwa bençtigt Recht, damit sie nach Haben und Nichthaben unterscheiden kann. Trotzdem kann das Recht die Haben/Nichthaben-Unterscheidungen nur irritieren, aber nicht wirklich beeinflussen. Alles Recht der Welt bricht sich an dem Satz: wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Aber gerade deshalb sind Recht und Wirtschaft durch Eigentum und Vertrag aneinander gekettet. Andere Systeme haben andere Sensoren ausgebildet. Recht und Politik sind durch die Verfassung, Politik und Wirtschaft durch Steuern und Abgaben, Politik und Wissenschaft durch Sachverstndige und ausgebildete Akademiker und Wissenschaft und Erziehung durch die Universittsausbildung aneinander gebunden. Das heißt, das Verhltnis von Religion und Recht ist primr eine Frage der strukturellen Koppelung, deren Probleme sich am Einzelnen besonders deutlich zeigen, weil der Einzelne Nutznießer und Opfer aller Systeme ist. Fr die Religion gilt, dass sie kaum strukturelle Koppelungen ausgebildet hat. Natrlich ist sie wie alle anderen Systeme auf die Leistungen aller anderen Systeme angewiesen. Sie braucht Personen, Sachen, Organisation und Medien, um sich an die Gesellschaft anzuschließen, kann sie aber nicht selbst herstellen. Wie der Staat lebt sie von Voraussetzungen, die sie nicht selbst gewhrleisten kann. Aber sie kann die anderen Systeme, vor allem die Politik, nicht einmal so irritieren wie beispielsweise das Recht die Wirtschaft durch die Ausgestaltung von Vertrag und Eigentum. Religion hat eine mit ihrer Funktion gegebene Schwche. Sie kann schlecht auslesen, selektieren. Einmal kann sie niemanden von ihrer Heilsbotschaft ausschlie-
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ßen. Deshalb musste Papst Gregor VII. 1077 vor Canossa Kaiser Heinrich IV. vom Bann lçsen, obwohl die politische Gegnerschaft fortbestand. Zum anderen muss Religion Ungewissheit kommunikabel machen. Daher kann sie in einer Gesellschaft nicht viel Druck ausben, in der der Zufall als Rechtsprinzip gilt und die Organisation der Politik offen darauf angelegt ist, Ungewissheiten durch Entscheidungen in relative Gewissheiten zu berfhren. Das bedeutet, obwohl keine Gesellschaft ohne Religion auskommt, ist die Politik derzeit kaum auf die Religion angewiesen.
4. Menschenwrde Umso weniger, als die Rechtsdogmatik inzwischen in der Lage ist, eine wichtige Voraussetzung der modernen Gesellschaft zu reflektieren: die Vorstellung, jeder kçnne jederzeit mit jedem kommunizieren, weil alle Menschen gleich und frei seien. Deshalb mssten sich alle gegenseitig als Personen anerkennen. Das ist der Kern der Menschenwrde. In diesem Sinne gehçrt die Menschenwrde zur modernen, funktionsorientierten Gesellschaft. Denn nur wenn diese Vorstellung gilt, kçnnen sich Selektionsentscheidungen grundstzlich an der Funktionserfllung orientieren und kçnnen Probleme funktionsgerecht gelçst werden. Die Vorstellung allseitiger Kommunikationsfhigkeit und -bereitschaft und die gegenseitige Anerkennung als Personen dienen also der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Gesellschaft. Sie kçnnen daher nicht der Verfgungsgewalt jedes einzelnen unterliegen. ffentliche Selbsterniedrigungen zum Beispiel zersetzen das Vertrauen in die Kommunikationsfhigkeit und -bereitschaft aller Mitbrger. Auf Zustimmung oder Einverstndnis der betroffenen Individuen kommt es nicht an. Die Gesellschaft kann nicht darauf verzichten, dass sich ihre Mitglieder selbst als frei und wrdig darstellen. Die Verwaltungsgerichte haben daher „Peep-Shows“ und „Zwergen-Weitwrfe“ mit Recht fr unvereinbar mit der Menschenwrde erklrt (vgl. Klass 2004, 148–161). Frher hat man solche Verstçße im Polizeirecht unter „çffentliche Ordnung“ diskutiert. Rechtsdogmatisch war das wahrscheinlich der angemessenere Ort, weil die Einschtzung der ffentlichkeit tatschlich wichtig ist. Die Bezugnahme auf die Menschenwrde verdeutlicht aber, dass die Person ein Geschçpf der Gesellschaft ist, wenn auch mit der Aufgabe, eine gesellschaftliche Grundstruktur dadurch zu verwirklichen, dass sie sich gegen die Gesellschaft spreizt. Aus der Einsicht in die gesellschaftstrukturelle Bedeutung der Menschen-
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wrde folgt jedoch, dass die Menschenwrde nicht mit jedem Einzelstck der Art Homo sapiens identifiziert werden darf. Sie ist nicht Fleisch und Knochen, sondern Kommunikation. Deshalb kann sie allerdings auch nichts ber Anfang und Ende des wirklichen, nicht definierten Lebens sagen. Andererseits reicht sie weit ber die biologische Existenz des Einzelnen hinaus. Sie umgreift auch die soziale Bedeutung und erlaubt es, die Geschichte einer Person zu bercksichtigen, zum Beispiel zwischen Kind und Greis zu unterscheiden. Das sollte ausreichen, den Lebensschutz vernnftig abzustufen und im Einzelfall angemessene Lçsungen zu erreichen. Der letzte Maßstab ergibt sich aus der Aufgabe der Menschenwrde, die allseitige Kommunikationsfhigkeit und -bereitschaft darzustellen und zu gewhrleisten.
Literatur Bçckenfçrde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Skularisation. In: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a. M. 1976, 42–64. Hegel, G. W. F.: ber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhltnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: ders., Werke in zwanzig Bnden, Band 2, Jenaer Schriften 1801–1807. Frankfurt a. M. 1970, 434–529. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, Teil II: Tugendlehre. In: Kant Werke in sechs Bnden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Band IV, Darmstadt 1963, 501–634. Klass, Nadine: Rechtliche Grenzen des Realittsfernsehens. Tbingen 2004. Liermann, Christiane: Rosminis politische Philosophie der zivilen Gesellschaft. Paderborn 2004. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. – : Die Religion der Gesellschaft, hg. v. Andr Kieserling. Frankfurt a. M. 2000. Merkel, Reinhard: Rechte fr Embryonen. In: Christian Geyer (Hg.), Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt a. M. 2001, 51–81. Roellecke, Gerd: Der Schçpfungswrfel wird prpariert – Helfen Recht und Ethik? In: Manfred Lmmer/Babara Rnsch-Trill (Hg.), Der „knstliche“ Mensch – eine sportwissenschaftliche Perspektive? Sankt Augustin 2003, 169–176. – : Staat und Tod. Paderborn 2004.
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1 Vgl. Jordan Mejias in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.3.2005, 41; Katja Gelinsky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.3.2005, 3; Patrick Bahners, Christian Geyer und Heinrich Wefing in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.3.2005, 41. 2 Der „dritte Weg“ der Abtreibung, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.3.1991, 4.
Ulrich K. Preuß
Der Universalittsanspruch der konstitutionellen Demokratie und das Vçlkerrecht: Humanitre Interventionen und christlicher Missionarismus I. Wenn wir vom Universalittsanspruch der konstitutionellen Demokratie sprechen, so kann das zweierlei bedeuten: Nach einer ersten Version ist damit die Behauptung gemeint, dass dieser Herrschaftstypus auf Werten, Prinzipien und Regeln beruht, die zu jeder Zeit und an jedem Ort des Globus normative Geltung beanspruchen kçnnen, d. h. von jedem vernunftbegabten Menschen unabhngig von Herkunft und kultureller Prgung als richtig anerkannt werden. Damit ist aber nicht notwendigerweise auch der Anspruch verbunden, dass alle Gesellschaften auf dem Globus ihre politische Organisation nach dem Muster der konstitutionellen Demokratie einzurichten haben. Denn es ist ja durchaus denkbar, dass eine Gesellschaft an bestimmten Werten und Lebensformen, die in ihren besonderen Erfahrungen, ihrer Geschichte und Kultur verwurzelt und daher nicht universalisierbar sind, festhalten will, weil ihr gesellschaftliches Ideal nicht eine nach universellen Vernunftprinzipien geordnete Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft kann mit anderen Worten an einem Partikularismus zweiter Ordnung festhalten – zweiter Ordnung deswegen, weil ihr die alternative Option einer nach universalistischen Prinzipien geordneten Lebensform bekannt ist, von ihr aber verworfen wird. Ein solcher, reflexiv gebndigter Universalittsanspruch wre mit einer pluralen Welt heterogener Staaten vereinbar, da er die Delegitimierung nicht-demokratischer Staaten vermeidet. Die zweite Bedeutungsvariante des Universalittsanspruchs der konstitutionellen Demokratie erhebt dagegen den Anspruch, dass sie heute weltweit die einzig legitime Herrschaftsform sei. Whrend mit der ersten Lesart des Universalittsanspruchs die Duldung, vielleicht sogar Anerkennung nicht-universalistischer Herrschaftsformen verbunden ist, ist in der zweiten der innere Auftrag enthalten, die konstitutionelle Demokratie auch berall
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durchzusetzen, weil sie als die weltweit einzig legitime politische Form angesehen wird. Wenn sie noch nicht berall etabliert ist, dann liegt das nach dieser Deutung allein an praktischen, mit der Kalkulation von Kosten und Nutzen verbundenen Hindernissen. So enthlt diese Variante einen inneren Expansionsdrang, der freilich keine Eigenheit der konstitutionellen Demokratie ist. Er ist vielmehr das Charakteristikum aller Ideen, die mit dem Anspruch universeller Gltigkeit auftreten. In der Moderne sind die als Erbschaft der franzçsischen Revolution zu verstehenden Feldzge Napoleons und die mit internationalistisch-kommunistischen Wahrheitsansprchen begrndeten globalen Expansionen der Sowjetunion ebenso dazu zu zhlen wie die gegenwrtig in manchen Kreisen in den USA verbreitete Auffassung, dass nur eine Welt von Demokratien internationale Sicherheit gewhren kçnne. Nun gibt es tatschlich empirische Belege dafr, dass demokratische Staaten keine Kriege gegeneinander gefhrt haben und dass sie dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht tun werden (vgl. Brown et al. 1996; Doyle 1997; Rawls 1999). Das legt den Schluss nahe, dass der Krieg – in der Prambel der Charta der Vereinten Nationen als „Geißel der Menschheit“ gechtet – von dem Zeitpunkt an abgeschafft wre, in dem alle Staaten der Welt nach demokratischen Maßstben organisiert wren. Diese Vision kçnnte die Phantasie friedensbewegter Staatenlenker auf das Projekt einer weltweiten Ausbreitung der Demokratie lenken. In den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer in Berlin, insbesondere nach der im Dezember 1991 erfolgten Auflçsung des Sowjetimperiums, schien diese Vision sogar bereits Wirklichkeit geworden zu sein, und zwar ganz ohne kriegerische Gewalt. Zwar waren nach 1989 bzw. 1991 nicht sofort alle Staaten des Globus mit einem Schlag zu Demokratien geworden, doch da es zur demokratischen Herrschafts- und Lebensform global keine Alternative mehr gab, schien es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Welt nur noch aus demokratisch regierten Staaten bestehen wrde. Aus dieser Erwartung speiste sich vermutlich die an Hegel erinnernde berhmte Diagnose des amerikanischen Historikers und Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, dass die Menschheit an das „Ende der Geschichte“ gelangt sei, da sich ihr Telos mit dem Sieg der Demokratie und der Niederlage aller ihrer Alternativen erfllt habe (Fukuyama 1992). Wie viele andere geschichtsphilosophisch abgeleitete Vorhersagen hat sich bekanntlich auch diese nicht erfllt. Immerhin aber trifft es zu, dass die Zahl der Staatenkriege nach 1991 signifikant zurckgegangen ist. Doch ist dieser Sachverhalt kein Indiz fr einen Fortschritt hin zu einem universellen Friedenszustand. Er verweist lediglich auf eine Bedeutungsmin-
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derung des Krieges als eine Form organisierter Gewaltttigkeit zwischen Staaten; politische Gewalt ist nicht verschwunden, sondern unterliegt einem Formwandel. Dieser hngt damit zusammen, dass die Kategorie der Staatlichkeit sich in einem nach 1991 beschleunigten grundlegenden Wandlungsprozess befindet und im Begriff ist, ihre zentrale Stellung im Reich des Politischen zu verlieren. Andere Formen politischer Gewalt – Brgerkriege, ethnische Suberungen, Genozid, Terrorismus – haben sich etabliert, deren antizivilisatorische und zerstçrerische Kraft mit der der Staatenkriege durchaus vergleichbar ist, ja diese in Einzelfllen sogar bertrifft. So sind denn die gegenwrtigen Weltverhltnisse durch den Widerspruch geprgt, dass es einerseits zur demokratischen Regierungsform und den ihr zugrunde liegenden universalistischen Prinzipien keine vernnftig begrndbare Alternative gibt, sie also das politische Ordnungsmodell ist, das mit guten Grnden einen universellen Geltungsanspruch erhebt; zugleich aber haben sich Formen politischer Gewaltttigkeit etabliert, die wie ein Schemen jene universellen Prinzipien begleiten, als ob sie die dunklen Seiten einer auf universeller Vernunft beruhenden Ordnung der menschlichen Gesellschaften reprsentieren. Dieser nicht abzuschttelnde Schatten ist es offenbar, der die militante Seite des Universalittsanspruchs der konstitutionellen Demokratie zum Schwingen bringt und jedenfalls bei der demokratischen Leitnation das Bedrfnis nach Ausbreitung der Demokratie in der Welt auslçst. Die Verwirklichung eines solchen Projekts wrde zweifellos die Ressourcen selbst einer przedenzlos berlegenen und universellen Hegemonialmacht wie der USA derart drastisch berfordern, dass niemand diese Idee ernsthaft verficht. Aber das Ressourcenargument setzt nicht das Prinzip außer Kraft, dass die demokratische Leitnation berall eingreifen drfte, ja vielleicht sogar msste, wo immer statt der Demokratie die Schurkerei illegitimer Herrscher die Macht innehat. Als plausibler Kandidat, an dem der demokratische Universalittsanspruch gegebenenfalls auch mit militrischen Mitteln exemplarisch durchgesetzt werden kann, hat sich in jngster Zeit der Typus des Paria-Staates herausgebildet (Simpson 2004). Sollte sich dieser Typus als eine dauerhafte vçlkerrechtliche Kategorie etablieren, so kçnnte die gegnerfrei gewordene demokratische Leitnation, die es nur noch mit den Lemuren einer Schattenwelt, nicht mehr mit gleichberechtigten Gegenspielern zu tun hat, eines nicht so fernen Tages fr sich das Recht reklamieren, den demokratischen Universalittsanspruch berall dort gewaltsam durchzusetzen, wo es ihr opportun erscheint. Mit dem in Artikel 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen kodifi-
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zierten Grundsatz der souvernen Gleichheit aller Staaten wre dies zweifellos nicht vereinbar. Doch lsst sich dieser Grundsatz heute noch verteidigen? Er wurde im Jahre 1945 in der UN-Charta verankert, weil er nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges als das angemessene internationale Ordnungsprinzip erschien, Frieden und internationale Sicherheit zu gewhrleisten. Die Staaten sollten sich in ihrer territorialen Integritt und politischen Unabhngigkeit als Gleiche anerkennen und sich – unter Wahrung des „naturgegebenen“ Rechts auf Selbstverteidigung – jeglicher Anwendung von Gewalt in ihren Beziehungen enthalten. Dieser Grundsatz setzte eine Welt funktionierender Staatlichkeit voraus, und dies war empirisch auch durchaus gerechtfertigt. Denn im Jahre 1945 bestand die praktisch alle damaligen Staaten umfassende UNO aus 51 Staaten, von denen jeder das vçlkerrechtlich relevante Merkmal von Staatlichkeit erfllte, nmlich die Fhigkeit zu effektiver Gebietsherrschaft; sie erlaubte es, die Staaten fr alle Vorgnge auf ihrem Territorium, die Auswirkungen auf andere Staaten hatten, verantwortlich zu machen. Der in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende Prozess der Dekolonisierung hat die Zahl der selbstndigen Staaten auf mittlerweile 191 anschwellen lassen und damit bereits rein quantitativ gegenber der Grndungsphase der UN grundlegend neue Voraussetzungen fr eine internationale Ordnung geschaffen. Vor allem aber hat sich die Staatenwelt dank der Dekolonisierung auch qualitativ tiefgreifend verwandelt. Viele der dekolonisierten Gebilde hatten keine vorkoloniale staatlich-politische Geschichte. Zwar verwandelten die frheren Kolonialherren sie hufig in Staatsfassaden; doch selten, wenn berhaupt jemals, gelang es ihnen, sie zu staatlich organisierten Nationen zu formen (Bull 1985, 124 f.). So gibt es eine nicht geringe Zahl von Gebilden, die auch heute noch nicht die Bedingung effektiver Gebietskontrolle erfllen und als schwache, zerfallende oder bereits zerfallene Staaten nicht in der Lage sind, den Rechts- und Pflichtenstatus als vollwertige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft auszufllen. Daneben gibt es Staaten mit kriminellen Staatsleitungen, die gar nicht die Absicht haben, internationale Verpflichtungen zu erfllen. Es sind insbesondere diese neuen Staatsfragmente und Staatsruinen, die zur Quelle fr schwerwiegende Gefhrdungen der globalen Sicherheit geworden sind. Wenn sich also die Bedingungen fr die internationale Sicherheit gegenber der Grndungsra der Vereinten Nationen so radikal verndert haben, so stellt sich die Frage, ob das Charta-Prinzip der souvernen Gleichheit aller Staaten noch eine tragfhige Grundlage fr die internationale Ordnung darstellt. Findet der oben beschriebene universalistische Impuls zur demo-
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kratischen Intervention nicht eine Besttigung in dem Tatbestand, dass nur eine aus verpflichtungsfhigen Staaten bestehende internationale Gemeinschaft in der Lage ist, die globalen Fragen der Sicherheit und der Wahrung des Menschheitserbes zu lçsen? Ergibt sich daraus nicht die Schlussfolgerung, dass die internationale Gemeinschaft – im Zweifel unter der Fhrung der demokratischen Leitnation – moralisch und rechtlich befugt ist, das Prinzip der Demokratie gegen einzelne widerstrebende und gefhrliche Staaten zur Geltung zu bringen und diese auszuschließen oder ihnen jedenfalls einen minderen Rechtsstatus zuzuweisen?
II. Wollte man diese Frage bejahen, so wrde dies nicht nur eine Durchbrechung des Prinzips der gleichen Souvernitt aller Staaten bedeuten, sondern auch die mit der Grndung der UNO mhsam errungene Universalitt der internationalen Staatengemeinschaft wieder in Frage stellen. Wir stnden dann vor dem Paradox, dass im Namen des universellen Geltungsanspruchs des demokratischen Prinzips die Universalitt der internationalen Gemeinschaft aufgegeben wrde. 1. Einen Vorlufer dieses inneren Widerspruchs finden wir im mittelalterlichen Universalismus des orbis christianus; in seinem Schoße entwickelt sich erstmals die innere Spannung zwischen der Partikularitt einzelner politischer Gemeinschaften und der Idee einer den gesamten Erdkreis umspannenden Gemeinschaft aller Menschen. „Mittelpunkt allen Denkens war (…) die Erlçsungstat des Weltheilandes Jesus Christus. Welt aber hieß Imperium Romanum“, so dass, wie Hçffner schreibt, die Versuchung bestand, den religiçsen Universalismus mit politischer Weltherrschaft zu identifizieren (Hçffner 1972, 10). Zwar ist es im rçmischen Christentum zur Verschmelzung von universaler Heilsidee und weltlicher Universalherrschaft schon wegen des Dualismus von kirchlicher und weltlicher Macht, der im Investiturstreit am Ende des 11. und dem Beginn des 12. Jahrhunderts seine endgltige Beglaubigung fand (Berman 1995, 144 ff.), nicht gekommen. Dennoch war das Mittelalter trotz jenes Dualismus von der Vorstellung der Einheit und der Erlçsungsgewissheit der Christenheit beherrscht. Die Einheit des corpus christianum transformierte sich dann seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr zu einer „fçderativen Ordnung der Christenheit“ (Grewe 1988a, 168 ff., 169; vgl. auch Watson 1985), um dann schließlich seit den Westflischen Friedensvertrgen im Pluriversum souverner christlicher Staaten
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seine moderne Gestalt zu erhalten. Der Pluralisierung der politischen Welt und die Idee des christlichen Universalismus schlossen einander keineswegs aus. Nun verstanden sich die einzelnen Staaten – in ganz besonderem Maße die spanische Monarchie – als die Trger und Vollstrecker dieser Idee (Hçffner 1972, 143 ff.). Das zeigte sich besonders folgenreich in den berseeischen Kolonisierungen Spaniens und Portugals. Denn hier stellte sich die Frage, ob die berseeischen Vçlker Teil der universalen Menschengemeinschaft waren oder ihre Feinde. Die Kolonisierungen waren zwar primr durch die Gier nach Geld, Macht, Ruhm und Abenteuer motiviert, doch spielte auch die Idee der christlichen Missionierung der Heidenvçlker keine geringe Rolle (vgl. Hçffner 1972, 143 ff.; Watson 1985, 14 f.). Religiçse und politische Motive flossen hier zusammen, Missionierung und Versklavung lagen dicht bei einander, denn die Heiden waren nicht nur die Unglubigen, die die Botschaft Christi verschmhten, sondern deswegen auch zugleich die Barbaren. Verschiedene ppstliche Bullen aus dem 15. Jahrhundert rechtfertigen ausdrcklich die Eroberung und Unterwerfung, zum Teil sogar die Versklavung heidnischer Vçlker, weil diese allein wegen ihres Unglaubens als Feinde der Christen betrachtet werden. In der reichhaltigen theologischen Literatur des Mittelalters und der frhen Neuzeit wird dagegen zwischen feindseligen Heidenvçlkern (so vor allem die Trken) und solchen, die friedlich unter ihren eigenen Herrschern leben, genau unterschieden (vgl. Fisch 1984, 205 ff., 209 ff.). Insbesondere Autoren der spanischen Sptscholastik, unter ihnen herausragend der spanische Dominikanermçnch Francisco de Vitoria (1483–1546), akzeptierten nicht die Annahme, dass die Indianer der spanischen Kolonien wegen ihres Unglaubens vernunft- und daher auch rechtlos seien (vgl. Fisch 1984, 212 ff.; 2001, 240 f.; Grewe 1988a, 172 ff.; Keal 2003). Dennoch aber „waren (…) fr die Menschen jener Jahrhunderte ‚Heide und ‚Krieg sehr nahe beieinander stehende Begriffe“, nicht zuletzt deswegen, weil der christliche Universalismus „den ganzen Erdenkreis als sein Herrschaftsgebiet betrachtete“ (Hçffner 1972, 55–57, 62). So rechtfertigte zwar nach Vitoria die Weigerung der Unglubigen, den wahren – christlichen – Glauben anzunehmen, keinen Krieg gegen sie; doch wenn sie ihre Missionierung behinderten, dann hatten die Christen das Recht, sich gegen dieses Unrecht zu wehren und Krieg gegen sie zu fhren (Fisch 1984, 215, 217). Der christliche Universalismus der Erlçsung der Menschheit schlug in Entwertung und Ausschluss aus der Rechtsgleichheit aller Angehçrigen des Menschengeschlechts um. (Im Innern der Christenheit waren es brigens die Ketzer und die Juden, die als
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Feinde des universalen christlichen Heils- und Wahrheitsanspruchs Opfer teilweise grausamer Verfolgung wurden). 2. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde das Vçlkerrecht durch die Spannung zwischen der Einheit der Menschheit und dem christlichen Charakter der europischen Staaten bestimmt. Vçlkerrecht war primr das Recht dieser christlich-europischen Staaten und wurde seit dem 18. Jahrhundert auch explizit als Ius Publicum Europaeum bezeichnet. Daraus ist nicht zu schließen, dass die europischen Staaten keine rechtlichen Beziehungen zu nicht-christlichen und nicht-europischen Staaten (wie dem Ottomanischen Reich oder China) hatten. Jedenfalls seit dem 15. Jahrhundert wurde mit jenen Staaten intensiver Handel getrieben, und es gab eine große Zahl von Vertrgen und einen regen Austausch von Gesandtschaften. Dabei bestanden freilich zwischen Asien, Amerika und Afrika betrchtliche Unterschiede (vgl. Fisch 1984, 37 ff.). Whrend unter den europischen Staaten eine christlich-abendlndische, vorpolitische Gemeinsamkeit galt, wurden in Bezug auf nicht-christliche Staaten lediglich einige universale, vorpositive, d. h. naturrechtliche Rechtsprinzipien anerkannt, deren wichtigster lautet: „pacta sunt servanda“ (Bull 1985, 119). Leibniz’ noch im Jahre 1670 erhobene Forderung, im Interesse des Reiches einen Kreuzzug gegen die Trken zu fhren, war zu jener Zeit bereits ein Anachronismus (Grewe 1988a, 170). Christlicher Universalismus und Missionarismus hatten ihre weltordnende Kraft im Gefolge der Fragmentierung der europischen Staatenwelt verloren. Seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert gelangten Ideen von der naturrechtlichen Freiheit, Gleichheit und Souvernitt aller Staaten zur Herrschaft (vgl. Nussbaum 1960, 164 ff.; Fisch 1984, 265 ff.). Doch auch der Universalismus des Naturrechts erzeugte im Namen der Menschengleichheit eine neue Art von Ungleichheit. Dieser Zusammenhang lsst sich anschaulich an den vçlkerrechtlichen Ideen der franzçsischen Revolution erkennen, jener ersten Revolution, die ihre politischen Forderungen im Namen von nichts Geringerem als der Menschheit selbst erhob. So heißt es in einem fr die Nationalversammlung vorbereiteten Entwurf, dass sie „das gesamte Menschengeschlecht als eine einzige identische Gesellschaft betrachtet, deren Ziel der Friede und das Glck aller und jedes einzelnen ihrer Mitglieder ist“, dass „in der großen allgemeinen Gesellschaft die Vçlker und Staaten als Individuen dieselben natrlichen Rechte innehaben und den gleichen Regeln der Gerechtigkeit unterworfen sind wie die Individuen der partiellen und sekundren Gesellschaften“ (Grewe 1988a, 485 ff.; 1988b, 646 ff.). Doch gerade weil die Vçlker von Natur frei und unabhngig sind, bedeutet ihre Beherrschung durch illegitime
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Herrscher nichts anderes als ihre Unterdrckung, gegen die der Krieg gerechtfertigt ist. Und so war es nur konsequent, dass die franzçsischen Revolutionre unterdrckten Vçlkern ihre menschheitlich-brderliche Hilfe zu ihrer Befreiung anbieten, notfalls auch ungefragt (vgl. das Dokument bei Grewe 1988b, 656). Auf diesem Hintergrund erklrt sich die Gestalt Napoleons als eines imperialen Befreiers im Namen universalistischer Werte. 3. Die Skularisierung des christlichen Universalismus in Gestalt der vom Naturrecht unterstellten allen Menschen zugnglichen Vernunft htte den das Christentum kennzeichnenden Widerspruch zwischen dem Universalismus der Ideen und der Exklusivitt der Zugehçrigkeit zur internationalen Gemeinschaft eigentlich beseitigen mssen. Denn das Christentum ist zwar nach seinen eigenen Glaubensvoraussetzungen die erlçsende Botschaft fr die gesamte Menschheit, aber nicht alle Menschen nehmen sie an – es gab und gibt Heiden, Hretiker und Anhnger nicht-christlicher Religionen, und so hat es niemals in der Geschichte eine bereinstimmung zwischen Menschheit und Christenheit gegeben. Ganz anders verhlt es sich mit der Vernunft: Sie ist mit dem Menschsein selbst gegeben und wird unwiderleglich fr jeden Menschen vermutet; sie ist wahrhaft universell, auf ihren Besitz lsst sich keine Gemeinschaft grnden, die auf Exklusivitt gerichtet ist. So htte man erwarten kçnnen, dass sich im Zuge der Abschwchung der christlichen Religion als Grundlage der modernen Staaten eine wahrhaft universelle, d. h. inklusive internationale Staatengemeinschaft etablierte, die keinen Staat ausschließen kann, ohne seinen Angehçrigen die Zugehçrigkeit zur Menschheit abzusprechen. Tatschlich entwickelten sich das internationale System und das Vçlkerrecht nicht gradlinig in diese Richtung. Zwar setzt sich bereits seit dem 16. Jahrhundert die Auffassung durch, dass die Souvernitt eines Gemeinwesens seine Fhigkeit begrndet, am internationalen Rechtsverkehr teilzunehmen. Souvernitt bedeutete die Unabhngigkeit eines Gemeinwesens von einer hçheren Gewalt; nach der Formulierung des vçlkerrechtlichen Klassikers aus dem 18. Jahrhundert, Emeric de Vattel (1714–1767), gengte es fr die Berechtigung einer Nation, an der Vçlkerrechtsgemeinschaft mitzuwirken, dass sie „durch eigene Autoritt und eigene Gesetze sich selbst regiert“ (Vattel 1959, I, 1, § 4; 32). Dieses Merkmal wurde von den Vçlkern des amerikanischen Kontinents, auf die die europischen Entdecker stießen, zweifellos erfllt. Jedoch stellten Vitoria und andere vçlkerrechtliche Autoren des 16. Jahrhunderts die Frage, ob die Indianer auch ber die Vernunft, d. h. ber die zivilisatorischen Fhigkeiten verfgten, sich selbst zu regieren – eine Frage, die Vitoria und andere zeitgençssische
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Juristen und Theologen zwar bejahten, die in der kolonialen Praxis sowohl der katholischen Kirche als auch der europischen Kolonialmchte jedoch ohne weiteres verneint wurde (vgl. Fisch 1984, 209 ff.). Die Frage selbst aber wurde folgenreich. Denn hier wurde das formale Souvernittskriterium der Unabhngigkeit mit dem inhaltlichen Merkmal der zivilisatorischen Entwicklungsstufe verknpft. Im 19. Jahrhundert wurde diese Materialisierung des Souvernittsbegriffs zur Grundlage einer neuen Praxis der Exklusivitt im Namen universeller Werte. Eigentlich hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Exklusivitt der europisch-christlichen Staatengemeinschaft aufgelçst, da immer mehr außereuropische Staaten als Teilnehmer an dem nach wie vor von den europischen Mchten geprgten Vçlkerrecht zugelassen wurden. Mit der Unabhngigkeitserklrung vom 4. Juli 1776 hatten die britischen Kolonien in Nordamerika sich zu einer selbstndigen Nation erklrt, und bald darauf wurden die Vereinigten Staaten von Amerika als erstes nicht-europisches – freilich ebenfalls christlich geprgtes – Mitglied in die internationale Gemeinschaft aufgenommen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts folgten die lateinamerikanischen Lnder, die sich von der spanischen Kolonialmacht befreit hatten, und mit Haiti (1825) und Liberia (1848) sogar zwei Republiken ehemaliger Sklaven. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kamen mit Japan, China, Persien und Siam bedeutende nicht-christliche Lnder hinzu, die ihre Selbstndigkeit gegenber den europischen Kolonialmchten bewahrt hatten (Bull/Watson 1985; Grewe 1988a, 584 ff.; Ziegler 1994, 214 ff., 218 ff.). Hervorhebung verdient hier die explizite Aufnahme des Osmanischen Reiches „zur Teilnahme an den Vorteilen der europischen Staatengemeinschaft und des europischen Vçlkerrechtes“ durch die fhrenden europisch-christlichen Staaten im Pariser Friedensvertrag vom 30. Mrz 1856. Damit wurde deutlich gemacht, dass nunmehr weder der christliche noch der europische Charakter eines Staates das ausschlaggebende Kriterium fr die Aufnahme in die vom europischen Vçlkerrecht geprgte Staatengemeinschaft war. Doch etablierte sich nun als neues Zugehçrigkeitsmerkmal das Kriterium der Zivilisiertheit eines Staates (Grewe 1988a, 520 ff.; Fisch 2001). Die Vçlkerrechtsgemeinschaft wurde zur Gemeinschaft der zivilisierten Nationen. Aus der sptmittelalterlichen und frhneuzeitlichen Grenzziehung zwischen christlichen und heidnischen Vçlkern wurde die zwischen zivilisierten und barbarischen. Dieses neue Kriterium ging auf naturrechtliche Argumente zurck, die das vçlkerrechtliche Denken bereits seit dem 17. Jahrhundert bestimmt hatten. Der bereits erwhnte Schweizer Vçlkerrechtler Emeric de Vattel wurde mit seinem 1758 verçffentlichten Werk Droit des gens, ou principes
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de la loi naturelle appliqus la conduite et aux affaires des nations et des souverains zum intellektuellen Protagonisten der Idee, dass sich die Geschichte der Menschheit als Prozess ihres Fortschreitens zu hçheren Stufen der Zivilisation vollziehe und dass dabei Europa die fortgeschrittenste Stufe erreicht habe. Die Kolonisierungen der berseeischen Gebiete und Vçlker durch die europischen Mchte waren Ausdruck dieser zivilisatorischen berlegenheit, daher waren sie geschichtlich gerechtfertigt. So erklrte Vattel in unverkennbarer Anlehnung an die Gesellschaftsvertragslehre von John Locke (1632–1704) die Erde zum Eigentum der gesamten Menschheit. Angesichts der beengten Lebensweise der Europer sei es aber nicht hinzunehmen, dass ein nomadisierendes Volk „ein so ausgedehntes Land beanspruchen wollte, um dort nur von der Jagd, vom Fischfang und von wilden Frchten zu leben“, denn dann „wrde unser Erdball nicht fr den zehnten Teil der Menschen ausreichen, die ihn heute bewohnen. Man entfernt sich daher nicht von den Anschauungen der Natur, wenn man die Wilden in engere Grenzen verweist“ (Vattel 1959, I, 18, 209; 141 f.; vgl. Fisch 2001). Die Lebensweise der europischen Vçlker wurde zum Maßstab einer naturrechtsgemßen Nutzung der Erde und ihrer Reichtmer erklrt. Dies bildete die philosophische Grundlage fr deren globale zivilisatorische Mission. Diese historische Mission begrndete durchaus kein Recht auf Unterdrckung und Ausbeutung – wie sie dann in Gestalt des europischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts zur vorherrschenden Form der Ausbreitung der europischen Zivilisation wurden –, aber doch das Recht auf die Einrichtung einer Art Entwicklungsvormundschaft gegenber den noch nicht entwickelten außereuropischen Vçlkern. Sie konnten mit ihrer Aufnahme in die Vçlkerrechtsgemeinschaft rechnen, sobald sie, wie z. B. der franzçsische Vçlkerrechtler Alphonse Rivier (1835–1898) schrieb, „die erforderliche Hçhe einer der unserigen analogen Gesittung erreicht haben werden“ (Rivier 1889, 4). In der Praxis bedeutete dies, dass sie diesen Status solange nicht erhalten konnten – und damit nicht im vollen Sinne souvern waren – wie sie nicht fhig oder willens waren, in ihren Gebieten bestimmte zivilisatorische Mindesterfordernisse zu erfllen, zu denen vor allem bestimmte Rechtsgarantien gehçrten – die Garantien der Religionsfreiheit, der Rechtsgleichheit, eines fairen gerichtlichen Verfahrens etc. (Fisch 2001, 252; vgl. Grewe 1988a, 520 ff.). Die Tatsache der Unabhngigkeit eines Landes war lediglich eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung seiner Souvernitt. So konnten sich denn ohne Verstoß gegen die Prinzipien der Souvernitt und der vçlkerrechtlichen Gleichheit im Namen eines menschheitlichen Universalismus verschiedene Formen asymmetrischer internationaler
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Beziehungen entwickeln, angefangen von der Kolonialisierung großer Teile Afrikas bis hin zu den so genannten ungleichen Vertrgen europischer Mchte mit China (Bull 1985, 117 ff.). 4. Auf dieser Grundlage entwickelte sich auch das Konzept der humanitren Intervention. Es besagt, dass es gerechtfertigt sei, auf die inneren Verhltnisse eines anderen Staates gegebenenfalls auch mit militrischer Gewalt einzuwirken, wenn er seine Bevçlkerung unter grober Verletzung der Gebote der Humanitt misshandelt – in diesem Falle hielt Emeric de Vattel eine Intervention „bei einem Streit zwischen einem Souvern und seinem Volk“ fr erlaubt (Vattel 1959, II, 4, 56; 210). Tatschlich kommt es im 19. Jahrhundert verschiedentlich zu Humanittsinterventionen europischer Staaten gegenber aus ihrer Sicht nicht-zivilisierten Staaten, die allerdings in der Regel auf diplomatischer Ebene stattfanden (vgl. Dahm 1958, 420 f.; Grewe 1988a, 573 ff.). Eine dringende vçlkerrechtliche Notwendigkeit fr die Etablierung des Rechtsinstituts der humanitren Intervention bestand freilich nicht, denn unbestritten gab es das freie Kriegsfhrungsrecht der Staaten, das keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte. Erst im Jahre 1919 wurde es in der Vçlkerbundsatzung bestimmten Einschrnkungen unterworfen und wenige Jahre spter im Briand-Kellog-Pakt von 1928 fr die beteiligten Vertragsstaaten beseitigt. Dennoch hatte z. B. der amerikanische Prsident Theodore Roosevelt Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Botschaften militrische Interventionen in Lateinamerika damit gerechtfertigt, dass es im Falle des Zerreißens der Bande der Zivilisation durch Unrecht und Unfhigkeit des Eingreifens einer zivilisierten Nation bedrfe, die in Ausbung einer internationalen Polizeigewalt das Interesse der Menschheit wahre (Dahm 1958, 421 Fn. 6 und 7). Als allgemein anerkanntes vçlkerrechtliches Institut hat sich allerdings die humanitre Intervention – jedenfalls als Rechtstitel fr das Handeln einzelner Staaten – bis auf den heutigen Tag nicht durchzusetzen vermocht. Offenkundig ist die Gefahr einer Vermischung mit machtpolitischen Interessen zu groß. Vor allem haben sich unter dem Regime der UNO-Satzung und ihres Interventionsverbots die Rahmenbedingungen fr die vçlkerrechtliche Beurteilung der humanitren Intervention grundlegend gendert (vgl. die Beitrge bei Lutz 2000). Nach dem in Artikel 2 verankerten Prinzip der souvernen Gleichheit aller Mitgliedsstaaten ist die Unterscheidung zwischen zivilisierten und barbarischen Nationen hinfllig. Dennoch gibt es auch heute Staaten, die entweder nicht fhig oder deren Herrscher nicht willens sind, den heute geltenden Maßstben von Zivilisiertheit zu gengen, d. h. in ihrem Innern einen minimalen Rechtszustand zu gewhrleisten, die politische Macht rechtlich zu institutionalisieren, eine
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offene und transparente Willensbildung zuzulassen, eine unabhngige Justiz einzurichten, ihren Bevçlkerungen elementare Menschenrechte effektiv zu garantieren und internationale Rechtsnormen einzuhalten. Diese innerstaatlichen Mngel kçnnen sich leicht zu Quellen internationaler Konflikte und Krisen entwickeln, die nur durch eine Intervention der Staatengemeinschaft bewltigt werden kçnnen. Tatschlich erließ der UN-Sicherheitsrat am 3. Dezember 1992 erstmals in der Geschichte der UN in Bezug auf das als Staat zusammengebrochene Somalia eine Resolution, die den Einsatz von Gewalt zur Herstellung einer innerstaatlichen Ordnung autorisierte. Doch ging es hier nicht um den Export eines bestimmten Zivilisationsmodells, sondern um die Abwendung einer humanitren Katastrophe. Knapp zwei Jahre spter ging der Sicherheitsrat in Bezug auf Haiti noch einen Schritt weiter. Durch die Resolution 940 vom 31. Juli 1994 autorisierte er erstmals in seiner Geschichte den Einsatz von militrischer Gewalt zur Wiedereinsetzung einer durch einen Putsch entmachteten demokratischen Regierung. Die Flle Somalia und Haiti sind keine Beispiele fr einen demokratischen Missionarismus. Aber sie zeigen, dass die inneren Zustnde eines Landes der internationalen Gemeinschaft heute weit weniger gleichgltig sind als im 19. Jahrhundert; die wechselseitigen Abhngigkeiten der Staaten ebenso wie die mittlerweile universelle Anerkennung der Menschenrechte haben vielmehr die eingangs bereits erwhnte Erfahrung wieder in das allgemeine Bewusstsein gehoben, dass demokratische Staaten keine Kriege gegen einander fhren – man kçnnte dies als die „These des demokratischen Friedens“ bezeichnen. Kçnnte diese Erkenntnis der wohltuenden Wirkung der Demokratie auf die zwischenstaatlichen Beziehungen vielleicht einen rechtfertigenden Grund fr die zwangsweise Demokratisierung jedenfalls jener undemokratischen Lnder sein, deren politische Fhrungen eine Gefahr fr die internationale Sicherheit darstellen?
III. Es gibt in der Tat eine Diskussion zu der Frage, ob der traditionelle vçlkerrechtliche Agnostizismus gegenber den inneren Verhltnissen eines Staates noch zeitgemß ist. Dabei bildet die erwhnte These des „demokratischen Friedens“ nur eine und wohl nicht einmal die tragende Sule der Argumentation jener, die die Blindheit des Vçlkerrechts gegenber der demokratischen Qualitt eines Staates fr einen Anachronismus halten (Reisman 2000). Das tragende Argument ist vielmehr die Annahme eines sich he-
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rausbildenden internationalen Rechts auf demokratische Teilhabe und auf eine demokratische Regierung (grundlegend Franck 1992). Der Respekt der Souvernitt eines Staates, Grundlage der Ordnungsfunktion des Vçlkerrechts, bedeute Respekt fr die Souvernitt des Volkes, das auch nach international-rechtlichen Maßstben ein Recht auf Selbstregierung habe. Nicht mehr das Merkmal der effektiven Territorialherrschaft sei das Kriterium fr die Anerkennung der nationalen Souvernitt eines Staates, sondern die effektive Fhigkeit eines Volkes, seine Herrscher und deren Politiken frei zu whlen. Souvernitt stehe nicht einer Regierung oder einem metaphysischen Abstraktum namens Staat zu, sondern dem Volk; ihre praktische Bewhrung finde sie in freien Wahlen. Nur wenige Vçlkerrechtler ziehen daraus den Schluss, dass gegebenenfalls selbst eine unilaterale bewaffnete Intervention zur Wiederherstellung eines durch undemokratische Mittel beseitigten demokratischen Regimes vçlkerrechtlich zulssig sei, weil undemokratische Regierungen kein Recht auf Achtung ihrer usurpierten Herrschaftsstellung htten (so, wiewohl auch mit Einschrnkungen, Reisman 2000). Andere Autoren sind zurckhaltender, da sie – abgesehen von der immer lauernden Gefahr des Missbrauchs – das Problem sehen, dass eine weitgehend prozedural verstandene Konzeption der im Westen herrschenden liberalen Demokratie zum Maßstab fr Demokratie schlechthin erklrt wird und zum Rechtstitel avanciert, sich in die inneren Angelegenheiten fremder politischer Gemeinwesen einzumischen (vgl. Roth 1999). Die Frage kann hier nicht erçrtert werden. Zu welchem Ergebnis man dabei auch gelangen mag, es scheint klar, dass sich das Zeitalter der strikten Trennung der inneren Verhltnisse eines Landes von seinem international-rechtlichen Status zu Ende neigt. Damit verliert auch das Postulat der souvernen Gleichheit als Ordnungsprinzip des internationalen Rechts seine Bedeutung. Denn es wird sich kaum vermeiden lassen, dass die rechtliche Anerkennung und der rechtliche Status eines Landes letztlich von der Einschtzung seiner demokratischen Qualitt durch die Staatengemeinschaft, insbesondere durch deren fhrende Nationen, bestimmt werden. In letzter Konsequenz wird die internationale Gemeinschaft das Gebot der Demokratie zur zwingenden Voraussetzung der Zugehçrigkeit zur internationalen Gemeinschaft erheben. Sollte es dazu kommen, so wrde auch der Universalittsanspruch der Demokratie nicht nur seine Ausnahmen, sondern der Tendenz nach auch einen eigenen Missionarismus hervorbringen. Die vom US-amerikanischen Prsidenten im Mrz 2006 verkndete nationale Sicherheitsstrategie (http://www.whitehouse.gov/nsc/nss/2006/) enthlt dazu bereits einige deutliche Hinweise. Es muss sich noch erweisen, ob es sich dabei um den Kçnigsweg zu einer de-
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mokratischen Weltgesellschaft oder um einen folgenschweren Irrtum aus universalistischer Verblendung handelt.
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Manfred Brocker
Demokratischer oder christlicher Missionarismus in der US-amerikanischen Außenpolitik? Im Folgenden soll ein weltpolitischer Akteur nher betrachtet werden, der einen Universalittsanspruch der konstitutionellen Demokratie zu vertreten und ihre globale Durchsetzung aktiv und gezielt zu betreiben scheint, nmlich die Vereinigten Staaten von Amerika.1 Diesen Eindruck jedenfalls erweckt die gegenwrtige amerikanische Außenpolitik bei nicht wenigen europischen Beobachtern, die darin eine neue Art von „christlichem Missionarismus“ sehen, der – unter der Prsidentschaft George W. Bushs – die Charakterzge eines „fundamentalistisch inspirierten Kreuzzugs“ angenommen habe. Als sich die USA Anfang 2003 anschickten, in den Irak einzumarschieren, um dort einen Regimewechsel herbeizufhren, kritisierte etwa der Kirchenprsident der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, die Verschmelzung von Terrorismusbekmpfung und einem letztlich religiçs motivierten Hegemoniestreben in der amerikanischen Politik. „Schon lange“, erklrte Steinacker, „gibt es in Amerika als Folge des endzeitlichen Sendungsauftrages den religiçsen Zug, die vorhandene Welt in ‚gute und ‚bçse Bezirke, bzw. Staaten oder Systeme einzuteilen. Alle Konfessionen und auch Religionen bergreifend, bewahrt Amerika dieses Selbstverstndnis. Es begreift das mit seinem Experiment anbrechende 1000-jhrige Reich der Johannesapokalypse als geschichtstheologischen Auftrag, in einer weltpolitischen Mission das Bçse zu bekmpfen sowie Freiheit und Fortschritt in der Welt zu befçrdern. Dieses Selbstbewusstsein verdichtet sich seit dem Ende des Kalten Krieges zu einem erneuten Hegemoniestreben“ (Steinacker 2003). Andernorts war von „Messiaswahn“ (Bahr 2004) und „Sendungsbewusstsein“ (Kinzig 2003; Gelinsky 2003) die Rede, vom Glauben an eine „gçttliche Mission“ (Jens 2003) oder einer „Politik im Namen des Herrn“ (Mller-Fahrenholz 2003). Solche und hnlich lautende Meinungsußerungen sind seit 2003 nicht nur in Deutschland verstrkt zu hçren. Sie unterstellen, dass sich in der amerikanischen Außenpolitik ein „Sendungsauftrag“
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manifestiere, Demokratie und Freiheit weltweit durchzusetzen – mit oder ohne Hilfe von Verbndeten, mit oder ohne der Untersttzung von internationalen Organisationen, im Rahmen der Regeln des Vçlkerrechts oder auch gegen es. Ich mçchte im Folgenden vier Fragen zu diesem Themenkomplex erçrtern: 1. Ist ein solcher „demokratischer Missionarismus“ tatschlich eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik? 2. Wenn ja, ist er spezifisch „christlich“ motiviert? 3. ußert er sich regelmßig interventionistisch? Und 4. welche Rolle spielt er in der gegenwrtigen Irak-Politik George W. Bushs, der wiederholt betonte, „dem irakischen Volk Freiheit und Demokratie“ bringen zu wollen?
1. Erwhlungsvorstellungen und Sendungsbewusstsein in den USA Von den ersten Siedlern des frhen 17. Jahrhunderts, den Puritanern, stammt jene biblisch geprgte Rhetorik, die bis heute fr die Charakterisierung des „Mythos Amerika“ Verwendung findet. Vor allem in Zeiten der Krise greifen Amerikaner gerne auf sie zurck: Amerika wird als Land der ‚Hoffnung und ‚Verheißung beschworen, als „God’s own country“, fr das sich auch in Zukunft alles zum Guten wenden werde (vgl. Bercovitch 1983). Solche Erwhlungsvorstellungen lassen sich bis in die Anfnge der Kolonialisierung zurckverfolgen – etwa in der Prsenz des „covenant“-Gedanken, demzufolge Gott einen Bund mit den Siedlern, seinem „auserwhlten Volk“ in der Neuen Welt, geschlossen habe. Anders als bei Mchten, die derartige Ideologien erst in der Sptphase ihrer Entwicklung zur Rechtfertigung imperialer Politik entwickelten, waren sie, wie Knud Krakau festgestellt hat, in Amerika bereits „Teil des Geburtserlebnisses“ (Krakau 2001, 89). „We were a messianic Nation from our birth“, bemerkten etwa Reinhold Niebuhr und Alan Heimert in einer Studie ber die „frhen Visionen“ des Landes und seine sptere Macht (Niebuhr/Heimert 1963, 123). Die Kolonisten betrachteten die bersiedlung nach Amerika nicht als Emigration oder Flucht, sondern als „Pilgerfahrt“ und prophetisches Ereignis: Fromme Christen, von Gott zu einer historischen Mission (special mission) berufen, zogen aus, die „Stadt auf dem Hgel“, von der im 17. Jahrhundert John Winthrop in Anspielung auf das Matthus-Evangelium sprach, an den Gestaden der „Neuen Welt“ zu errichten (vgl. Blanke 1988, 186 ff.; Ostendorf 2005).
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Diese Rhetorik erfllte eine doppelte Funktion: Sie sollte den Landraub an den Indianern als bloße Besitznahme versprochenen Landes erscheinen lassen und zugleich bei den Einwanderern die historischen – genealogischen wie nationalen – Bindungen lockern, um eine neue, spezifisch „amerikanische“ Identitt herauszubilden. Die Siedler waren keine emigrierten Europer, sondern das Neue Volk Israel, Amerika keine europische Kolonie, sondern das gelobte Land Kanaan. Keiner Aristokratie untertan, unterwarfen sie sich als Freie und Gleiche allein der Autoritt Gottes, dessen Gnade sie sich sicher fhlten, weil er ihr Tun sichtbar segnete. Ihr Unternehmen verstanden sie als „errand into the wilderness“ (Samuel Danforth), als die Erfllung eines Auftrages, das „Neue Jerusalem“ in einem noch „wilden“, unbegrenzten Territorium aufzubauen. Dass dieses Unterfangen von Anfang an moralisch und spirituell, nicht aber geographisch gedeutet wurde, erleichterte seine grenzberschreitende Auslegung: zuerst Amerika – die spter so genannten „Vereinigten Staaten“ –, dann die ganze Welt. Aus dem „errand into the wilderness“ wurde im 19. Jahrhundert das „manifest destiny“, die „Schicksalsbestimmung“ Amerikas durch die Vorsehung, „to manifest to mankind the excellence of divine principles; to establish on earth the noblest temple ever dedicated to the worship of the Most High – the Sacred and the True. Its floor shall be a hemisphere (…) For this blessed mission to the nations of the world (…) has America been chosen; and her high example shall smite unto death the tyranny of kings, hierarchs, and oligarchs“, so der Journalist John O’Sullivan 1839 (zit. nach Krakau 2001, 105). Amerika verstand sich nun zunehmend als eine „Nation der Zukunft“, der eine bergeschichtliche „Wahrheit“ anvertraut war: die Ideen von „Freedom“ und „Self-Government“, an deren Umsetzung und Verwirklichung im Selbstverstndnis des Landes das Heil der Menschheit hing. Aus der Order, die Reformation zu vollenden, wurde der Auftrag, die Menschheit zur Freiheit zu fhren. Diese skularisierte „heilsgeschichtliche“ Vorstellung von der „Erlçsernation“, der „redeemer nation“ (so Tuveson 1968), legitimierte zunchst die Expansion nach Westen, im spten 19. und frhen 20. Jahrhundert den amerikanischen Imperialismus. Prsident McKinley erklrte 1898 nach dem Sieg der USA ber Spanien, er habe auf seinen Knien mit Gott gerungen, bis dieser ihm den Auftrag erteilte, die Philippinen zu annektieren (nach Blanke 1988, 201). Ein methodistischer Geistlicher vor Ort hçrte in den amerikanischen Kanonen vor Manila gar „the voice of Almighty God declaring that [the Philippines] shall be free“ (zit. nach Krakau 1993, 463). Aus der berzeugung, ein Vorbild fr alle Nationen zu sein, ließ sich
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das Recht, ja die Pflicht ableiten, die Welt entsprechend umzuprgen, sie zu zivilisieren und zu „erneuern“. Die Kriegserklrung der USA an das Deutsche Kaiserreich im April 1917 rechtfertigte Prsident Woodrow Wilson als „an act of high principle and idealism“ und „a crusade [!] to make the world safe for democracy“ (Wilson 1948). Das amerikanische Verstndnis von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sollte mçglichst allen Vçlkern zuteil werden. Die erfolgreiche Realisierung dieser Werte und Ordnungsprinzipien in einem dauerhaft stabilen Modell eines republikanischen Gemeinwesens begrndete den Anspruch auf deren universale Geltung. Aus dem ursprnglich religiçs-protestantisch geprgten Missionsgedanken erwuchs das demokratische Sendungsbewusstsein der „Neuen Nation“ (vgl. Smith 1994; Junker 2003). Der demokratische Missionarismus ist somit – um auf die erste Frage zurckzukommen – tatschlich ein historisch verankerter Teil des amerikanischen Selbstverstndnisses und basso continuo vieler Debatten ber die Ziele der amerikanischen Politik und Außenpolitik.
2. Zivilreligion Aus dem Gesagten darf freilich nicht geschlossen werden, in Amerika habe frh eine homogene oder gar monolithische Kultur existiert, die die Einwanderer zu einer Nation zusammenschweißte: Die amerikanische Gesellschaft war im Gegenteil von Beginn an in regionaler, ethnischer, sozialer und religiçser Hinsicht stark fragmentiert, und das Ausmaß der Fragmentierung nahm im Laufe der Jahrhunderte weiter zu. Zusammenhielt diese disparate Gesellschaft zunchst das schmale Band des wirtschaftlichen Austauschs, der freie Warenverkehr, der in der Neuen Welt ohne Beschrnkung durch staatliche Monopole oder Zçlle, Znfte oder Gilden erfolgen konnte und so zu einem rasanten Anstieg des Volkseinkommens fhrte. Was die Gesellschaft aber darber hinaus und vor allem verband, war ein sinnstiftender Komplex von Ideen, Glaubenshaltungen, Einstellungsmustern und Verhaltensweisen, die der franzçsische Amerika-Reisende Alexis de Tocqueville in seinem Buch ber die Demokratie in Amerika Anfang des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll geschildert hat (Tocqueville 1984). Bei allen – auch religiçsen – Unterschieden teilten die Brger erkennbar eine gemeinschaftliche „Glaubenslehre“, die Mitte des 20. Jahrhunderts von einem anderen prominenten europischen Amerikareisenden, dem schwedischen Sozialwissenschaftler Gunnar Myrdal, als „American Creed“ (1944, 3) bezeichnet worden ist.
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Gemeint ist damit jenes Ensemble an Glaubensstzen2, Symbolen3 und Ritualen4, das die Brger an ihr Gemeinwesen bindet und dessen Institutionen und Reprsentanten in letzter Instanz als religiçs legitimiert erscheinen lsst. Es bildet das Fundament, das normativ festzulegen erlaubt, was der politischen Dispositionsfreiheit grundstzlich entzogen sein soll (vgl. Lbbe 1981, 56) und stellt zugleich Geschichte und Schicksal der eigenen Nation in einen çffentlich vermittelten Sinnbezug („In God We Trust“). Diese „Glaubenslehre“, die der Religionssoziologe Robert Bellah „Zivilreligion“ genannt hat (Bellah 1967), befhigt die Brger, ihre politische Gemeinschaft auf eine bestimmte Weise zu sehen („A Nation under God“), und artikuliert die „Vision“, die die Nation als integriertes Ganzes zusammenhlt (vgl. Pierard 1996). Sie ist ein „Ordnungsglaube“, der zu den unterschiedlichen „Heilsglauben“ der einzelnen Denominationen hinzutritt, mit diesen aber nicht identisch ist (vgl. Marty 1986). Insofern stellt die amerikanische Zivilreligion keinen verwsserten Puritanismus oder Protestantismus dar, sondern reprsentiert einen eigenstndigen Wertekonsens, der als „gemeinsamer Nenner“ den Zusammenhalt und die Stabilitt der hçchst disparaten, stark fragmentierten und nicht zuletzt religiçs ußerst pluralistischen Gesellschaft verbrgt. Die zweite Frage kann somit wie folgt beantwortet werden: Die „special mission“ der USA, Freiheit und Demokratie schtzen und erhalten zu mssen, lsst sich von seinen historischen Ursprngen her zwar auf christliche Impulse zurckfhren, ist fr die Gegenwart aber angemessener als „zivilreligiçs“ zu charakterisieren. Der amerikanischen Zivilreligion kommt dabei als zentrale Funktion die Identittsstiftung nach innen zu.
3. Weltweite Verantwortung fr Freiheit und Demokratie In den großen „zivilreligiçsen Predigten“ amerikanischer Prsidenten wie George Washington oder Abraham Lincoln wird die Verantwortung des Landes fr „Freiheit“ und „self government“ immer wieder unterstrichen. Denken wir beispielsweise nur an die Gettysburg Address von 1863, wo es heißt: „We here highly resolve that these dead shall not have died in vain, that this nation under God, shall have a new birth of freedom – and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth“ (Lincoln 1953–1955, Bd. 7, 23). Im 20. Jahrhundert „predigten“ Prsidenten wie Reagan und Bush sen. auf vergleichbare Weise von der besonderen Aufgabe und Mission der USA. „America is special among the nations of the Earth“, so Reagan in
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seiner ersten Inaugural Address, „too great a nation to limit ourselves to small dreams (…) We are a nation under God, and I believe God intended for us to be free“ (zit. nach Lejon 1988, 67; vgl. Fischer/Vorlnder 1993). Auch der 43. Prsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, schçpft aus dem Zitatenfundus der amerikanischen Zivilreligion, wenn er in seinen Reden oftmals die folgende Wendung gebraucht: „Liberty is God’s gift to every human being in the world (…) We’re called to extend the promise of this country into the lives of every citizen who lives here. We’re called to defend our nation and to lead the world to peace, and we will meet both challenges with courage and with confidence“ (Bush 2003). Dass die zivilreligiçs grundierten Bestimmungen von Aufgaben und Zielen der amerikanischen Politik vor allem dem Zweck dienen, das Land zusammenzufhren und (hinter der konkreten Agenda des Prsidenten) zu einen, dokumentieren Passagen wie diese: „this nation under God, shall have a new birth of freedom“ (Lincoln); „We are a nation under God, and I believe God intended for us to be free“ (Reagan); „We’re called to extend the promise of this country into the lives of every citizen who lives here“ (Bush jun.). Die „special mission“ der USA wird demnach als Auftrag verstanden, das Leben im Land selbst zu verbessern, neue Freirume zu schaffen und die demokratisch-republikanische Ordnung zu perfektionieren. Zweifellos aber artikuliert sich diese „Mission“ auch als Aufforderung, Freiheit und Demokratie weltweit durchzusetzen – „to extend the frontiers of the principles of self-government throughout the world“, wie Reinhold Niebuhr und Alan Heimert Anfang der 1960er Jahre formulierten (1963, 123), wobei die USA jene Fhrungsrolle bernehmen mssten, so Harry Truman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, „die ihr der allmchtige Gott [selbst] zugedacht hat“ (zit. nach Blanke 1988, 203). Der „demokratische Missionarismus“ stellt insofern eine Konstante der amerikanischen Innen- und Außenpolitik dar. Allerdings darf man bei dieser Feststellung nicht stehen bleiben, sondern muss weiter differenzieren. Denn historisch hat sich das beschriebene „Sendungsbewusstsein“ in dreierlei Form manifestiert (vgl. Krakau 2001, 96 ff.): – Erstens im „aktiven Modus“ – als „crusader state“ (vgl. McDougall 1997): ußerst selten kann der zivilreligiçs bestimmte Sendungsgedanke die amerikanische Außenpolitik direkt inspirieren – etwa beim liberalen Internationalismus oder „Idealismus“ eines Woodrow Wilson oder eines Jimmy Carter. Letzterer erklrte einmal: „our policy [is] designed to serve mankind“. Whrend seiner Prsidentschaft wurde – zumindest fr kurze Zeit – eine dezidiert an der Durchsetzung der Menschenrechte ausgerichtete Poli-
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tik „von einer instrumentellen auf eine selbststndige außenpolitische Zielebene“ gehoben (Krakau 2001, 93). Wilson und Carter sind Beispiele fr die aktiv-interventionistische Projektion der eigenen Werte und Ordnungsvorstellungen auf die Welt. Der (phasenweise) globale Interventionismus, der sowohl kriegerische (Wilson 1917) als auch zivile Mittel (Carter) ergreift, bewegt sich dabei regelmßig auf einer vçlkerrechtlichen Ebene, ja tritt fr eine Ausweitung der internationalen rule of law, w der Zustndigkeit internationaler Organisationen etc. ein. Nicht zufllig war Wilson Initiator des Vçlkerbunds. – Zweitens ußert sich das demokratische Sendungsbewusstsein der USA im „passiven Modus“ der „exemplar nation“, die Vorbild fr die Welt ist. Das Sendungsbewusstsein wendet sich hier nach innen: als Verpflichtung, den hohen Ansprchen im eigenen Land gerecht zu werden. berzeugt von der Verantwortung der Vereinigten Staaten fr die Menschheit insgesamt, entscheidet sich nach diesem Verstndnis deren Demokratieund Freiheitschancen stellvertretend in Amerika selbst. „Handelt Amerika recht und seiner Verantwortung gemß, wird auch die Welt ihrer teilhaftig werden – ein skulares Echo der puritanischen Prgung des 17. Jahrhunderts“ (Krakau 2001, 98). Die Verantwortung in Amerika fr die Welt ist ein durchgngiger Zug der amerikanischen Politik, der außenpolitisch nicht selten zum Isolationismus fhrte wie lange Zeit im 19. Jahrhundert: Das Land ist selbst an universell gltige Prinzipien gebunden, die es aber nicht aktiv-politisch weltweit durchsetzen will. Das leuchtende Vorbild Amerikas soll und kann aus eigener Kraft Wirkung entfalten, solange jedenfalls als die Vervollkommnung der eigenen „rechten Ordnung“ vorangetrieben wird. Betrachtet man den „aktiven“ und den „passiven Modus“ zusammen, so erkennt man unschwer einen Grund, warum die amerikanische Außenpolitik oftmals zwischen Interventionismus und Isolationismus schwankt, instabil und selbst fr Verbndete mitunter nur schwer auszurechnen ist. – Drittens aber, und das ist im historischen Rckblick wohl der hufigste Fall, diente die Rhetorik von „special mission“, „Verantwortung fr Freiheit und Demokratie in der Welt“ etc. der bloßen Legitimation zur Verfolgung anderer Ziele und Interessen, ob nun sicherheits- und geopolitischer, strategischer oder çkonomischer Art. Die Außenpolitik Reagans ist hierfr charakteristisch, der zu einem „crusade for freedom“ aufrief, dabei aber primr amerikanische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen im Blick hatte. Eine solche Verwendung der Rhetorik hat jedoch ihren Preis. Sie fhrt schnell zu manichischen Vereinfachungen (vgl. Krakau 2001, 113 f.). Das Gute, sprich die USA, steht gegen das Bçse, den jeweiligen „Feind“, nach
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dem Motto: „Wer nicht fr uns ist, ist gegen uns.“ Mit dem „Bçsen“ aber kann man keine Kompromisse eingehen, Abkommen oder Vertrge schließen. Derartige „Interpretationen der Weltlage“ verhindern somit pragmatische Lçsungen, legen eher militrische Konfliktlçsungen nahe und beeintrchtigen die außenpolitische Mançvrierfhigkeit erheblich. Detlef Junker hat das Phnomen pointiert als die „manichische Falle“ der USA bezeichnet (Junker 2005). Der Rckgriff auf selbst interpretierte universalistische Werte rechtfertigt in den Augen der Entscheidungstrger vorschnell Verstçße gegen das Vçlkerrecht oder fhrt zur Nicht-Anerkennung der Zustndigkeit internationaler Organisationen oder Institutionen wie des Internationalen Gerichtshofs – so etwa anlsslich des Konfliktes mit Nicaragua in den 1980er Jahren, obwohl die USA ihn nach 1945, in einer „idealistischen“ Phase, selbst mit hatten aufbauen helfen (vgl. Krakau 2001, 114). Mit Blick auf die eingangs gestellte dritte Frage kann festgehalten werden: Das „demokratische Sendungsbewusstsein“ der USA ußert sich nicht durchgngig interventionistisch, im Gegenteil: Nur selten beeinflusst es die amerikanische Außenpolitik direkt, dient vielmehr oftmals der rhetorischen Verbrmung handfester sicherheitspolitischer oder çkonomischer Interessen.
4. „Demokratischer Missionarismus“ und die Irak-Politik George W. Bushs Wie ist vor diesem Hintergrund nun die Außenpolitik George W. Bushs zu bewerten?5 Anders als es die eingangs zitierten Kritiker behaupten, ist sie keineswegs „fundamentalistisch“ oder christlich-missionarisch motiviert. Bushs Irakpolitik verfhrt nicht nach dem Motto: Wenn wir erst die Menschen zum Christentum bekehrt haben, dann kommen Demokratie und Frieden schon von ganz alleine. Diese berzeugung lsst sich zwar bei manchen amerikanischen Evangelikalen finden (vgl. Brocker 2004), nicht jedoch in den Reihen der Bush-Administration. Dass Bush die unmittelbar nach dem Ende der offiziellen Kriegshandlungen im Irak einsetzenden christlichen Missionierungsanstrengungen etwa der Southern Baptist Convention6 hinnahm, die zweifellos den Aufbau im Land stçrten, bedeutete keineswegs, dass er sie insgeheim billigte oder gar „Fundamentalisten“ seine Außenpolitik diktierten. Vielmehr geboten es die Trennung von Kirche und Staat in den USA, die solche Eingriffe ohnehin untersagt, und nicht zuletzt seine damalige Wahlkampfstrategie (vgl. Brocker/Wilcox 2005), alles zu unterlassen, was evangelikale Whler htte abschrecken kçnnen.
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Sieht Bush die USA aber nicht doch auf einem „Kreuzzug“ – wenn nicht fr das Christentum, dann zumindest fr Freiheit und Demokratie? Welche Rolle spielt also der traditionelle „demokratische Missionarismus“ der USA in der gegenwrtigen Irak- und Nahostpolitik? Neo-Konservative Berater des U. S.-Prsidenten wie Paul Wolfowitz, Richard Perle, Douglas Feith oder William Kristol bedienen sich gerne Begriffen wie „mission“, „exceptionalism“ und „crusade for freedom and democracy“. Aus neo-konservativer Feder stammte denn auch der Plan, den Irak zu demokratisieren, um von dort aus die Demokratisierung des ganzen Nahen und Mittleren Ostens zu betreiben. Diese Politikkonzeption erinnert an Woodrow Wilsons „Idealismus“ (vgl. Podhoretz 1999; Halper/ Clark 2004, 18 f.) und lsst sich insofern der Tradition des „demokratischen Missionarismus“ im „aktiven Modus“ zurechnen – hier allerdings mit einer stark unilateralen, anti-internationalistischen Neigung. Daneben existiert aber eine Reihe von einflussreichen Regierungsmitgliedern, die dem Neo-Konservatismus eher skeptisch gegenberstehen. Diese „Standard-Konservativen“, zu denen Richard Cheney, Donald Rumsfeld und Condoleezza Rice gehçren, bemhten fr das Eingreifen im Irak eher realpolitische – sicherheitspolitische und geostrategische – Argumente. Immer wieder betonten sie, dass der Irak eine Bedrohung nicht nur fr die Stabilitt in der Region, sondern auch fr die Sicherheit der USA darstelle. Der Irak habe UN-Resolutionen nicht erfllt, er habe die gegen ihn verhngten Sanktionen umgangen und ber Scheinfirmen Material fr sein Waffenprogramm beschafft (Rice 2003). Er sei seiner Verpflichtung, abzursten bzw. die Daten ber seine biologischen und chemischen Waffenarsenale offen zu legen und die Lagersttten zu nennen, nicht nachgekommen; er habe stattdessen weitere biologische und chemische Waffen in mobilen Labors produziert und darber hinaus versucht, Nuklearwaffen zu entwickeln. Da der Irak mçglicherweise ber Verbindungen zum Al-QuaidaTerrornetzwerk verfge, bestnde die Gefahr, dass diese Waffen in den Besitz von Terroristen gelangten usw. Mochte sich nach dem Abschluss der Kampfhandlungen auch herausstellen, dass die angefhrten Grnde berwiegend auf unberechtigten Annahmen beruhten, so schienen sie Anfang 2003 George W. Bush jedenfalls ausreichend zu sein, um einen Militrschlag gegen das Land am Tigris zu fhren und dort – wie zuvor in Afghanistan – einen Regimewechsel zu erzwingen. Hinter der Entscheidung Bushs weitere, „eigentliche“ Faktoren wie religiçse, „christlich-fundamentalistische“ Motive sehen zu wollen, ist bloße Spekulation. Bei der Frage nach der Legitimation des Irakkrieges spielten
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allenfalls zivil-religiçse Aspekte eine Rolle: Die beharrlich vorgetragene Begrndung, man wolle dem unterdrckten irakischen Volk helfen, ein tyrannisches Regime zu beseitigen und ihm Freiheit und Demokratie bringen, zielte jedoch primr darauf ab, im eigenen Land Untersttzung fr den Krieg zu mobilisieren, statt dass sie die tatschlichen Motive der handelnden Akteure benannte. Denn seit Vietnam ist klar, dass die Vereinigten Staaten ohne çffentliche Zustimmung keine Kriege mehr fhren kçnnen. Aus der zivilreligiçsen Rhetorik darf insofern nicht abgeleitet werden, dass Bush die Auffassungen seiner neokonservativen Berater und ihre Vorstellung von einem aktiv-interventionistischen „Demokratie-Export“ in die Region (Iran, Libanon, Palstina) teilt. Erkennbar blieb Bushs Untersttzung fr die Opposition in den genannten Lndern bislang rein rhetorisch und wird es wohl zumindest solange bleiben, als nicht sicherheitspolitische, geostrategische oder çkonomische, d. h. vitale, Interessen Anderes nahe legen. Weil nationale Interessen und die Furcht vor neuen Terroranschlgen die amerikanische (Macht-) Politik unter George W. Bush bestimmen und insofern der Einfluss der Standard-Konservativen berwiegt, bleiben auch jene islamischen Verbndeten weitgehend von Kritik verschont, die alles andere als freiheitliche Demokratien sind und keinerlei Schritte in diese Richtung unternehmen. Das gilt fr das totalitre Regime in Saudi-Arabien, dessen Kooperation fr die USA von erheblicher strategischer Bedeutung ist, ebenso wie fr die Militrdiktatur in Pakistan, die Amerika im Krieg in Afghanistan untersttzte. Die Antwort auf die vierte Frage lautet also: Der traditionelle „demokratische Missionarismus“ der USA ist fr die Irak-Politik zweifellos von Bedeutung. Allerdings dient er vor allem der Legitimationsbeschaffung im eigenen Land. Mit seiner Hilfe soll in der amerikanischen Gesellschaft Untersttzung fr eine – umstrittene – Politik mobilisiert werden, die andere – nmlich sicherheitspolitische und geostrategische – Ziele verfolgt.
5. Fazit In der Formulierung der Außenpolitik der USA spielten spezifisch christliche Gesichtspunkte historisch kaum je eine Rolle. Das Regierungshandeln wird bis heute in der Regel durch sicherheitspolitische, strategische und çkonomische, nicht jedoch durch religiçse Motivlagen geprgt. Anderes lsst sich auch aus den Stellungnahmen und Reden des gegenwrtigen Prsidenten nicht herauslesen. Bushs religiçse Metaphorik bleibt im Rahmen der amerikanischen Zivilreligion, die in Zeiten des Krieges schon immer
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die Funktion hatte, daheim Zustimmung und Untersttzung zu erwirken – nicht durch nchterne Argumente und rationales Abwgen des Fr und Wider, sondern durch Emotion und den Appell an „hçhere Werte“, die die Opfer lohnen. Der „demokratische Missionarismus“ Bushs dient der rhetorischen berhçhung realpolitischer, insbesondere sicherheitspolitischer Ziele und soll die Kritik an seiner Irak-Politik, die einen hohen Blutzoll fordert, entkrften. Eine Selbstverpflichtung der amerikanischen Regierung, von nun an weltweit aktiv fr die Durchsetzung demokratischer Regime einzutreten, lsst sich daraus nicht ablesen – auch wenn manche Stze Bushs so klingen: „So it is the policy of the United States to seek and support the growth of democratic movements and institutions in every nation and culture, with the ultimate goal of ending tyranny in our world“ (Bush 2005). Statt eines konkreten Fahrplans fr die amerikanische Außenpolitik der nchsten Jahre sind sie eher Ausdruck einer – die USA zu nichts verpflichtenden – Hoffnung, dass sich Frieden und Freiheit am Ende weltweit durchsetzen mçgen – durchsetzen werden, wenn die Welt nur dem Beispiel Amerikas, der „exemplar nation“, folgt. Doch selbst dann, so fhrt Bush fort, wird es noch der Anstrengung vieler Generationen bedrfen („the concentrated work of generations“), bis die „Freiheitsverheißungen Gottes“ fr alle Menschen Wirklichkeit geworden sind. Europische Besorgnisse, Bush kçnne die Auffassung vertreten, das „Reich Gottes sei mit seiner Prsidentschaft angebrochen“ (Geyer 2003) und er habe aus der Johannesapokalypse den konkreten Auftrag fr sich abgeleitet, in einer „weltpolitischen Mission das Bçse zu bekmpfen sowie Freiheit und Demokratie weltweit durchzusetzen“ (Steinacker 2003), sind insofern unbegrndet. Sie beruhen eher auf Missverstndnissen der komplexen Beziehungen von Politik und Religion und ihrer schillernden Formen in den USA denn auf tatschlich „(christlich-) missionarisch“ motivierten Entscheidungen des gegenwrtigen Prsidenten.
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1 Der vorliegende Artikel greift auf zwei frhere Aufstze von mir zurck: Zivilreligion – missionarisches Sendungsbewusstsein – christlicher Fundamentalismus? Religiçse Motivlagen in der (Außen-)Politik George W. Bushs, in: Zeitschrift fr Politik 50/2, 2003, 119–143, sowie: Europische Missverstndnisse ber die çffentliche Prsenz von Religion in den USA. In: Gerhard Besier/Hermann Lbbe (Hg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Brgerfreiheit. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 145–166. 2 Etwa die Vorstellung von der „Vorsehung“, die das Schicksal des Landes bestimme, den gottgegebenen naturrechtlichen Prinzipien (das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum), die seiner politischen Ordnung zugrunde lgen etc. 3 Wie die amerikanische Flagge, der ein quasi-sakraler Charakter zugesprochen wird. 4 So etwa die quasi-liturgisch inszenierte Amtseinfhrung des Prsidenten. 5 Zur Außenpolitik Bushs vgl. Bierling 2003, 236 ff.; Daalder/Lindsay 2003; Woodward 2004; Halper/Clark 2004; Moens 2004; Melanson 2005; Junker 2005. 6 Vgl. Four American Baptist Missionaries Die in Drive-by Shooting in Iraq; Fifth Missionary Critically Wounded. In: Christian Times Today, 4.4.2004 (http://www.christiantimestoday.com/April_04/news_shooting.html).
Postskulare Gesellschaft und konstitutionelle Demokratie: Was ist die Grundlage der europischen Wertegemeinschaft? Eine Diskussion zwischen Dr. Katajun Amirpur, Ralf Fcks, Prof. Dr. Josef Isensee und Prof. Dr. Hans Maier, moderiert von PD Dr. Otto Kallscheuer, im Rahmen des Symposiums „Christentum und demokratischer Verfassungsstaat“, am 23. Januar 2005 auf Schloß Eichholz, Wesseling Otto Kallscheuer: Im Verlauf dieser Tagung hat sich bisher als eine allgemeine Diagnose folgendes herausgestellt: Die deutsche Gesellschaft und der europische Kontinent unterscheiden sich vom Rest der Welt dadurch, dass die Skularisierung, wie auch immer man sie definiert – als Entkirchlichung, als Verlust der christlichen Leitwerte oder gar als Freigabe des Politischen von Seiten der religiçsen Macht – gerade in den ehemaligen Kernlndern der Christenheit am meisten vorangeschritten ist. Paradoxerweise entdeckt nun Europa genau in dem Moment das Problem seiner christlichen Wurzeln wieder, wo diese Skularitt zu einem soziologisch auf die Mehrheitsgesellschaft durchschlagenden Faktum wird. Also vermehren sich auch die gesellschaftlichen Konflikte darum, was die rechte Form der Trennung von Gewissen und Autoritt, von religiçsen Identitten und liberaler Rechtsordnung bedeuten kann. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Kontroverse um den christdemokratischen Minister der italienischen Regierung Rocco Buttiglione, der sich ausgerechnet in dem Moment zu seiner katholischen Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualitt als „Todsnde“ bekannte, als er sich auf das Amt eines Wchters liberaler Rechts- und Familienpolitik in der EU bewarb. Die Grnde dafr, dass nun die Rckerinnerung an christliche Traditionen und Wurzeln in Europa eher zum Spaltungsproblem wird, kçnnten außerdem noch damit zusammenhngen, dass die postchristlichen Europer sich angesichts der selbstbewussten Prsenz anderer Religionen, die in dieser Massivitt innerhalb Europas neu ist, in ungewohnter Weise verunsichert fhlen. Der mit Kopfbedeckungen und Moscheen „in Sicht“ kommende Islam (Ludwig Ammann) bedeutet fr viele europische Eingeborene offenbar mehr – und anderes – als bloß eine weitere Gestalt des Bekenntnisses zum Schçpfer des Himmels und der Erde. Die Frage, die ich unserer abschließenden Gesprchsrunde vorlegen will, lautet also: Kommen wir mit der europischen Integration besser dadurch
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voran, dass wir die christlichen Wurzeln, die in welcher Art auch immer, unausweichlich fr die Konstitution der europischen Identitt und Geschichte eine Rolle gespielt haben, noch deutlicher vom politischen Leben abtrennen als bisher, um zu einer von jeder Religiositt freien Begrndung der europischen Grundwerte zu kommen, also zu einer Art „Zivilreligion ohne Religion“? Oder nhern wir uns einer demokratiefhigen Identitt „Europas“ eher dadurch, dass wir diese christglubigen Wurzeln aufgreifen und sie dann mçglicherweise in einem inklusiven Sinne erweitern: indem wir ber das Christentum hinaus zur jdisch-christlichen Gottesvorstellung, zum „abrahamitischen“ Glaubensimpuls, zur monotheistischen Gemeinsamkeit von Christentum, Judentum und Islam als Bestandteil der europischen Werteordnung, als Ferment einer „europischen Zivilreligion“ voranschreiten? Zu dieser Frage gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen. Frau Amirpur, Sie kçnnten vielleicht – als Muslimin, und als Deutsch-Iranerin – mit einem doppelten Blick von innen und von außen auf diese Debatte um die christliche Identitt Europas einsteigen. Katajun Amirpur: Ich werde es versuchen. Ich kçnnte mir vorstellen, dass die beiden Alternativen, die Sie genannt haben, entweder eine Zivilreligion ohne Religion oder eben die Ausweitung des Monotheismus, dann aber nicht nur auf den jdischen Teil, sondern auch auf den islamischen, dass das die beiden Alternativen oder Wege sind, wie man es in Europa schaffen kçnnte, die islamische Welt nicht vçllig zu verprellen. Denn die Diskussion, die im Moment in Europa gefhrt wird, also das Beharren auf der Tatsache, dass es sich hier um eine jdisch-christliche Tradition handeln wrde, jdischchristliche Werte, auf die wir zurckgreifen mssen, um Europa zu konstituieren, diese Diskussion wird sehr negativ wahrgenommen innerhalb der islamischen Welt und zwar aus verschiedenen Grnden. Einmal haben wir die Debatte um den Beitritt der Trkei. Es wird nicht umsonst in smtlichen Medien der Trkei, aber auch insgesamt in der islamischen Welt, immer davon gesprochen, dass die Trkei nicht gewollt sei, weil Europa sich als ein „Christenclub“ verstehe. Dabei, so wird gesagt, gehçre doch auch die Trkei zu Europa, das im brigen nicht nur von christlich-jdischen Werten geprgt sei. Denn was wssten die Europer schon von ihren eigenen grçßten Denkern, was wssten sie beispielsweise von Aristoteles, wenn nicht durch die Vermittlung der Araber? Die Araber haben diese Werke bersetzt, haben sie kommentiert, und dann mehr oder weniger zurck-
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gegeben. Was wssten also die Europer vom „zoon politikon“ ohne unsere arabischen bersetzer? Das ist ein Strang in der Diskussion. Der andere ist: unsere Denker haben sehr viel zur europischen Geistesentwicklung beigetragen, Avicenna, Averroes, Alfarabi. Alle diese Leute haben seinerzeit Debatten ber Toleranz, ber Intellektualitt, ber Rationalitt angestrengt und fortgefhrt. Und in der Zeit des 11./12. Jahrhunderts waren diese Debatten ein jdisch-muslimisches Projekt, der christliche Anteil war, glaube ich, so verschwindend gering, dass er fast schon gar nicht mehr da war. Dies sind die Argumentationsstrnge, die in der islamischen Welt zu finden sind und deshalb ist es sehr schwierig, wie hier im Moment diskutiert wird. Die Signalwirkung ist einfach verheerend. Wenn man nur auf die Diskussion um den Beitritt der Trkei blickt: Wahrscheinlich gibt es sehr viele wirtschaftliche Grnde, warum es gefhrlich oder schwierig sein kçnnte, die Trkei zu integrieren. Aber, und das wird hufig formuliert unter Intellektuellen in der muslimischen Welt, wenn man die Trkei aufnehmen wrde und diese Diskussion damit mehr oder weniger beendete: Das wre dann wirklich das positive Signal gegenber der islamischen Welt. Eine demokratische Trkei – und die Trkei msste sich mehr oder weniger notgedrungen demokratisieren, wenn sie denn in der EU ankommen mçchte, – das wre auch ein Vorbild fr die islamische Welt. Denn die Trkei kçnnte es schaffen, eine demokratische islamische Ordnung zu etablieren und vorzufhren und das wre dann der wahre Domino-Effekt, der ausgelçst wrde und nicht das, was die Amerikaner gerade im Irak betreiben, das ist eher das Gegenteil. Was ich jetzt ausgefhrt habe, ist mehr eine Schilderung, wie diese ganze Debatte wahrgenommen wird in der islamischen Welt. Es gibt dann noch die Wahrnehmung von sehr vielen Muslimen hier in Deutschland, wenn von einer Leitkultur gesprochen wird. Es sind zum Teil schon die Begriffe, bei denen sich den Leuten die Nackenhaare struben. Es geht gar nicht so sehr darum, dass sie gegen einen demokratischen Verfassungsstaat sind oder dass sie meinten, mit ihren muslimischen Wurzeln kçnnten sie gar nicht in einem skularen Rechtsstaat leben, weil ihre Religion sie davon abhlt. Es gibt inzwischen genug Untersuchungen darber, eine wunderbare von Heiner Bielefeldt, der gesagt hat, Muslime sind im skularen Rechtsstaat bereits angekommen. Die Frage muss gar nicht mehr so formuliert werden, ob es eigentlich bestimmte Gebote innerhalb dieser Religion gibt, die nicht vereinbar sind mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Natrlich gibt es diese Gebote im Islam. Was im Koran steht ber Frauen und was dort steht ber Handabhacken und was auch immer, ist nicht vereinbar mit einer freiheitlich-demokratischen
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Grundordnung. Aber was wir im Westen oder in Deutschland immer denken, ist, dass „der Moslem an sich“ sich tatschlich nur als Moslem fhlen wrde, wenn er alle diese Regeln im Detail jeden Tag und andauernd beachtet. Das ist aber schlichtweg nicht der Fall. Das trifft auf die Menschen in der islamischen Welt nicht zu und das trifft fr die Menschen hier nicht zu. Oder haben wir beispielsweise noch nie einen Trken gesehen, der Raki trinkt? Nach Tee das Nationalgetrnk schlechthin! Trken haben auch nicht unbedingt ein Problem damit, jedenfalls die meisten von ihnen, wenn sie nicht islamisch geschlachtetes Fleisch essen. Also, so sehr wie wir immer meinen, bestimmen diese islamischen Gesetze den Alltag der Menschen hier nicht und sie bestimmen auch das Rechtssystem in den islamischen Lndern nicht. Dies sind eher Ausnahmen: Das ist im Iran der Fall, das ist in Saudi-Arabien der Fall, aber in ganz vielen Lndern ist es nicht so und zwar in denen, wo die meisten Muslime der Welt leben, beispielsweise Indonesien und Malaysia. Und es war auch historisch nie so. Es wird immer argumentiert, dass der Islam an sich eine Einheit von Staat und Religion wolle, weil das schon immer so gewesen sei. Das ist aber faktisch nicht so. Die Muslime haben historisch betrachtet die meiste Zeit unter skularer Herrschaft gelebt und sie hatten in den seltensten Fllen ein Problem damit. Es war nicht so, dass die Muslime dachten, sie lebten in einem falschen System und mssten eigentlich zu dem von Gott gewollten zurckkehren, indem sie die Einheit nun herbeifhren. Das ist ein Gedanke, der ausgesprochen neu ist. Er wurde im Prinzip erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts das erste mal ausgesprochen und erst Mitte des 20. Jahrhunderts ausformuliert und kam dann das erste Mal mehr oder weniger in Saudi-Arabien oder Iran zum Tragen und ist dort praktiziert worden. Aber der Gedanke ist ein absolut neues Phnomen. Und deswegen, denke ich, gibt es eigentlich genug Mçglichkeiten, zurckzugreifen auf die islamische Geschichte oder auf das islamische Gedankengut, um auch einen muslimischen Weg in die skulare Moderne finden zu kçnnen. Otto Kallscheuer: Herr Prof. Maier, vielleicht kann ich bei Ihnen dieselbe Frage noch mit dem Hinweis auf die Diskussion um die Prambel einer europischen Verfassung verbinden. Es wre vielleicht interessant, wenn Sie in Ihrer Antwort auch Ihr Votum ber die Frage der europischen Verfassung ausfhren kçnnten: Vermittelte eine Bezugnahme auf die christlichen Traditionen einer europischen Verfassung eine grçßere Identitt, eine fr die Zukunft brauchbarere Identitt, als wir sie derzeit haben?
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Hans Maier: Zunchst will ich darauf hinweisen, dass es Europa als Einheit, als europische Welt, nicht gibt – und ich erlaube mir auch die Zweifelsfrage an meine Nachbarin, ob es eine einheitliche muslimische Welt gibt. Sie sprachen eben vom Echo der augenblicklichen Diskussion in der muslimischen Welt. Sie erwhnten auch den Begriff „Leitkultur“. Ich weise darauf hin, dass dieser Begriff Leitkultur ja polemisch ins Feld gefhrt worden ist von einem Muslim, nmlich von Bassam Tibi. Also: es gibt hier auch sehr verschiedene Stimmen innerhalb der von Ihnen als Einheit vorgestellten muslimischen Welt. Genauso ist Europa differenziert. Die Skularisierung sieht anders aus im Norden und Westen als im Sden und Osten. Es ist also nicht so einfach mit den Blçcken, die sich da gegenberstehen. Es stehen sich Menschen gegenber aus zugegebenermaßen zwei großen religiçs fundierten Kulturen, aber in der Moderne hat sich das alles auch stark differenziert, so dass es wiederum partielle berschneidungen gibt. Das mssen wir im Laufe unseres Gesprchs noch etwas nher auflçsen und przisieren. Zweitens: Wohin soll die europische Integration gehen, was sind die Grundlagen, was sind die Ziele? Das ist ein ziemlich neues Problem. Die Integration hat ja auf fast pragmatisch zuflligen Wegen stattgefunden, wenn ich an die Montanunion denke, an Euratom, an die Anfnge der europischen Wirtschaftsgemeinschaft, an die Rçmischen Vertrge. Immer wieder wird daran erinnert, gerade im Zusammenhang mit dem Fall Buttiglione, dass Europa in den 1950er Jahren wirklich eine Initiative christlicher und konservativer Staatsmnner war, die in der damaligen europischen Zersplitterung gemeinsame Vorstellungen entwickelten. Aber selbst diese christlichen Staatsmnner haben ja nicht daran gedacht, Europa eine christliche oder berhaupt historische Grundierung zu geben. Es waren pragmatische Vertrge, die sich nebeneinander aufbauten und dann bereinander schichteten, bis man dann zwischen Amsterdam und Nizza auf die Frage kam: Ja, wo soll denn das Ganze hinaus? Da trat die europische Integration plçtzlich als Verfassungsproblem in den Blick. Und jetzt kommt die Frage, die unsere Diskussion bestimmt, nmlich worauf beruht denn berhaupt diese europische Integration? Was veranlasst uns eigentlich, nach einem gemeinsamen Haus fr die europischen Vçlker und Staaten zu suchen, und worauf grndet sich dieses Bemhen? Fr mich grndet sich dieses Bemhen auf zweierlei: auf Glaube und Vernunft. Ich glaube, dass keines der beiden Worte entbehrlich ist, denn die europischen Vçlker – Europa als Ganzes, aber ebenso die muslimische Welt – sind geprgt durch einen Glauben. Der Glaube trgt die europi-
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sche Vernunft, wie umgekehrt die europische Vernunft den Glauben begleitet, auch manchmal kritisch zurechtrckt. Also die christlich-jdisch-islamische berlieferung auf der einen Seite, die Traditionen der europischen Rationalitt seit dem Mittelalter auf der anderen Seite: Die Scholastik ist schon genannt worden, das aristotelische Erbe, Renaissance und Aufklrung, bis zur Gegenwart. Das sind die beiden Wertgrundlagen. Und jetzt ist die Frage, Frau Amirpur, ob wir mehr auf eine laizistisch gedmpfte, gewissermaßen heruntergestimmte muslimische wie christlichjdische Kultur setzen, oder ob wir umgekehrt khn sagen, dieser Glaube soll in seiner vollen, nicht verkrzten Gestalt in das werdende Europa eingehen. Dann mssten wir uns natrlich ber das Miteinander dieser verschiedenen Glaubensweisen auseinandersetzen und verstndigen. Auch hier wrde ich sagen, dass ich fr die zweite Alternative optiere, Europa sollte seine Tradition unverkrzt whlen und leben kçnnen, aber dazu muss man sich natrlich die Modalitten des Zusammenlebens genau berlegen. Ich habe ein wenig herauszuhçren geglaubt bei Ihren Darlegungen, dass Sie mehr auf die laizistische Dmpfung setzen. Ihr Beispiel war das Schchten, Sie sagten: das bedeute ja heute gar nicht mehr soviel, das kçnne man vernachlssigen. Ich glaube aber schon, dass religiçse Riten und Verhaltensweisen in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. Niemand soll doch glauben, dass der europische Schtze mit seinem Laizismus im Marschgepck einzig den richtigen Tritt hat und die ganze brige Welt, die zur Religion zurckkehrt, den falschen. Wir werden uns in Zukunft mit der Wiederkehr des Glaubens, der Wiederkehr der Religion auseinandersetzen mssen, davon bin ich berzeugt. Otto Kallscheuer: Ralf Fcks hat in der hier bereits in Gang befindlichen Debatte im letzten Jahr in zwei Beitrgen Stellung genommen, die ich kurz in Erinnerung rufe. Zum einen hat er in der Debatte um die çffentliche Sichtbarkeit der bislang relativ fremden Religion, wenngleich sie natrlich in die Grundlagen der Geschichte Europas gehçrt, des Islam, einen deutlich liberalen, man kçnnte sogar sagen amerikanischen Standpunkt vertreten, nmlich „keine Angst vor der multikulturellen Sichtbarkeit von Kopftchern in allen Amtsstuben“. Gleichzeitig hat er, bezogen auf die außenpolitische Debatte – und auch hier sehen wir, dass Selbstbild und Fremdbild, innere und die ußere Grenzziehung zusammenhngen – darauf hingewiesen, dass die Integration der Trkei in die europische Union das gesamte europische Projekt womçglich auseinandersprengen kçnnte: jedenfalls so wie dieses bisher gefasst worden ist, auch von unserem hochverehrten Außen-
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minister Joschka Fischer. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus bezogen auf die hiesige Debatte? Ralf Fcks: Vielen Dank. Daran kann ich gut anknpfen. Fr mich ist die Trkeidebatte, die von Frau Amirpur schon als Prfstein fr europische Toleranz und Offenheit angefhrt wurde, keine Religionsdebatte. Vielmehr geht es um die Finalitt der Europischen Union und die Frage, was sie zusammenhlt. Wenn sie eine politische Union sein und werden will, wenn sie mehr sein will als ein Staatenbund, mehr als eine erweiterte Freihandelszone, dann braucht es dafr, wie Dahrendorf sagt, einen „sense of belonging“, ein Gefhl der Zusammengehçrigkeit, ein europisches Brgerbewusstsein. Worauf kann sich das grnden? Wohl kaum auf eine religiçse Gemeinsamkeit, sei sie nun christlich, christlich-jdisch oder christlich-jdisch-muslimisch definiert. Dafr ist Europa schon heute zu heterogen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Muslime in Europa und einen mçglichen Beitritt der Trkei, sondern auch in Hinblick auf den eigenen inneren kulturellen und religiçsen Pluralismus, Pluralismus auch im Sinne von Nichtglauben. Das Christentum ist in Europa eben nicht mehr, wie im Mittelalter, eine verbindliche Leitkultur, sondern es ist eine Art kultureller Hintergrund geworden, allenfalls eine Option der persçnlichen Lebensgestaltung und nicht etwas, worauf sich eine politische Gemeinschaft grnden ließe. Daraus folgt aber keineswegs Geschichtsvergessenheit und Beliebigkeit gegenber der religiçsen Tradition und Geschichte Europas. Man muss wissen, woher man kommt und auf welchen Fundamenten die europische politische Kultur aufbaut. Es wre ein Kurzschluss, dass Offenheit gegenber anderen religiçsen Kulturen einhergehen muss mit einer Selbstverleugnung der christlichen Geschichte und Tradition, die allerdings eben auch nur eine der kulturellen Traditionen ist, die das europische Gemeinwesen konstituieren, wie die griechisch-rçmische Tradition, die Aufklrung, der Humanismus und die Geschichte der demokratischen Revolutionen in Europa bis zum Jahr 1989. Die wichtigste Erfahrung, die Europa als Wertegemeinschaft begrndet, ist schon in den europischen Verfassungsvertrgen definiert: Menschenwrde und Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Das ist die Konsequenz aus den Erfahrungen des Totalitarismus und der verheerenden Kriege, die Europa verwstet haben. Dies war der eigentliche Impuls fr die europische Einigung: die Schaffung eines transnationalen Raums des Friedens, der Demokratie und der Freiheit. Daraus begrndet sich auch die ber Europa hinaus weisende Mission der Europischen Uni-
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on, nicht in einem imperialen Sinne, aber doch als eines selbstbewussten Modells der supranationalen Integration und Kooperation. Wenn man weiter fragt, was in Zukunft die europische Gemeinsamkeit sttzen kçnnte, dann wre das vor allem die Herausbildung einer europischen ffentlichkeit, eines europischen Kooperationsraums der Zivilgesellschaften, eines europischen Bildungssystems, einer Europisierung der Universitten bis hin zu europischen Stdtenetzwerken. Es geht also um die Selbsterschaffung Europas in einer europischen Praxis. Das scheint mir das wichtigste Handlungsgesetz zu sein. Daraus resultiert die Frage: Wie weit kann man Europa geographisch dehnen, und wie weit kann man die kulturellen Differenzen spannen, um noch dieses Momentum der Integration aufrechtzuerhalten? An welchem Punkt droht die Dynamik der europischen Einigung in eine berdehnung zu kippen? Der Beitritt der Trkei bringt uns jedenfalls in eine kritische Zone – nicht nur wegen der ablehnenden Haltung eines großen Teils der europischen ffentlichkeit, sondern weil der Beitritt der Trkei wiederum eine weitere Erweiterungsdynamik begrndet. Es gibt keinerlei politische Legitimation zu sagen: „Noch die Trkei und dann Schluss!“ Wenn die Trkei Mitglied werden kann, dann gibt es jedes Recht fr die Ukraine, fr Georgien, von den Balkan-Staaten ganz zu schweigen, auch Zugang zur EU zu bekommen. Aber eine Union mit dreißig und mehr Mitgliedern wre nicht mehr die politische Union, von der noch im Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte die Rede war. Es geht also im Kontext der Debatte um die Zukunft Europas weniger um Religionsfragen als um die Frage, wie eine gesamteuropische Union ihre Legitimation, Kohrenz und Handlungsfhigkeit bewahren kann. Dazu gehçrt sicher die Garantie der Religionsfreiheit – aber nicht das positive Bekenntnis zu einer bestimmten Religion. Otto Kallscheuer: Herr Prof. Isensee, wollen Sie gleich daran anschließen? Josef Isensee: Braucht Europa berhaupt ein Fundament an Werten? Die Antwort hngt davon ab, wie man die Europische Union definiert. Wenn und soweit sie ein bloßer Zweckverband ist, grndet sie auf gemeinsamen Interessen ihrer Mitgliedstaaten und bedarf keiner weiteren Fundierung. Sie stellt einen gemeinsamen Markt her: den Wirtschaftsraum, innerhalb dessen Freizgigkeit, Rechtsgleichheit und Sicherheit fr alle Marktbrger gewhrleistet sind. Der Organisation nach bildet sie eine Art Anstalt. Diese legitimiert sich dadurch, dass sie gut funktioniert. Solange das der Fall ist, sie sich als
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ntzlich erweist und das Preis-Nutzen-Verhltnis stimmt, werden die Beteiligten sie akzeptieren. Ihre çkonomische Ntzlichkeit als Zweckverband macht die Europische Union denn auch attraktiv fr die Trkei. Die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen lassen sich ebenso effizient organisieren wie die gemeinsamen militrischen in der NATO. Der Widerspruch der Kulturen bleibt ausgeklammert. Die Religion bereitet keine Probleme. Doch wenn die Trkei aufgenommen werden sollte, verharrte die Union auf Dauer im Stadium des Zweckverbandes mit begrenzten Zustndigkeiten, ohne Chance, einmal so etwas wie eine kontinentale, transnationale Nation hervorzurufen. Freilich verlangt auch der Zweckverband gemeinsame rechtliche Standards der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Dominant sind jedoch die çkonomischen Standards. Nach denen aber liegen Japan, Sdkorea und Singapur der Europischen Union nher als die Trkei. Falls die Europische Union sich aber zu einer echten politischen Gemeinschaft entwickeln – krftige Anstze regen sich – und dem Modell eines transnationalen, demokratischen Staatswesens, eines Nationalstaats hçherer, kontinentaler Ordnung, annhern sollte, bedrfte sie strkerer Bande der Gemeinsamkeit. In dem Maße, in dem das Mehrheitsprinzip herrscht, werden Grnde nçtig, weshalb die Minderheit den Mehrheitsentscheid anerkennen soll. In den europarechtlichen Dokumenten – zumal im Entwurf des Verfassungsvertrages – werden Werte beschworen: etwa Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit. Doch diese gelten der Tendenz nach universal. Sie taugen fr eine kosmopolitische Einheit wie die Vereinten Nationen. ber das Spezifische der kontinentalen Einheit Europas sagen sie aber nichts. Derzeit ist der Begrndungsbedarf der Union noch gering. Die Mitgliedstaaten sind weiterhin die „Herren der Vertrge“. Sie sind es, die Richtung und Tempo der Integration bestimmen. Wie es aber um die Wertberzeugungen europischer Organe in der Realitt bestellt ist, mag der Fall Buttiglione verdeutlichen. Er scheiterte in der Kandidatur fr die Kommission, nachdem er sich im parlamentarischen Anhçrungsverfahren differenziert zum Thema Homosexualitt geußert, darin – der klassischen Unterscheidung des Rechtsstaats gemß – zwischen Moralitt und Legalitt unterschieden und deutlich gemacht hatte, dass er seine persçnliche Auffassung von Moral nicht zur Maxime amtlichen Handelns machen werde, vielmehr fr das Amt die Legalitt zhle. Die Mehrheit ließ sich auf diese Distinktion nicht ein, eine Distinktion, die doch Grundlage rechtsstaatlicher Freiheit ist; vielmehr folgte sie dem ganzheitlichen Programm der linken Leitkultur und der Intransigenz der political correctness. Ein weiteres Beispiel aus jngerer Zeit: Seitens der Europischen Union erhob sich massiver Protest gegen eine Strafrechtsreform der
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Trkei, weil diese den Ehebruch unter Strafe stellen wollte. Vor nicht allzu langer Zeit war der Ehebruch auch in Deutschland noch mit Strafe bedroht. Die Errungenschaft europischer Moral, so muss es hier scheinen, und so wirkt es auch nach außen, zumal auf die muslimische Welt, ist das Menschenrecht zum Ehebruch und der Grundwert Promiskuitt. Liegt der Wertekonsens Europas in der Permissivitt, in der Aufhebung des Unterschieds von Recht und Moral, in der Allergie gegen hergebrachte christliche Moralgebote? Zu den ehernen Maximen der heutigen Europapolitik gehçrt der Antifaschismus, der, je weiter der reale Faschismus historisch entrckt ist, desto eifriger verfochten wird. Begriff und Ideologie entstammen dem Nachlass des untergegangenen kommunistischen Staatenblocks Osteuropas und seiner westeuropischen Kolonnen. Er ist in den praktischen Wertekanon der europischen Institutionen eingezogen und hat den Antitotalitarismus der europischen Grnderjahrzehnte verdrngt, in denen die europischen Institutionen aufgebaut wurden als Rume westlicher Freiheit in Abwehr des totalitren Sozialismus des Ostens, wie in Absage an die rechtstotalitre Vergangenheit. In der Causa sterreich zeigte die nunmehrige antifaschistische Ideologie, dass sie stark genug ist, auch europa- und vçlkerrechtliche Normen zu brechen, wenn es gilt, den politischen Erzfeind zu schlagen. Eine politische Gemeinschaft ist angewiesen auf die Solidaritt ihrer Angehçrigen: dass alle fr einen und einer fr alle einstehen. Eine Anstalt dagegen braucht keine Solidaritt. Sie hat keine Mitglieder, sondern lediglich Benutzer. Diesen erbringt sie Leistungen, fr die sie den angemessenen Preis nach den Regeln der quivalenz und der Gegenseitigkeit einfordert. Eine Anstalt, und sei sie so lebenswichtig wie die kommunalen Versorgungseinrichtungen fr Strom, Wasser, Mllentsorgung und Nahverkehr, funktioniert, aber sie integriert nicht. Die Stadtwerke stiften kein Wir-Gefhl, wie es die traditionelle, gut verwaltete Gemeinde im Lokalpatriotismus erzeugt. Innere Konsistenz eines Verbandes ist aber erforderlich, wenn dieser von seinen Mitgliedern Einsatz und Opfer verlangen will, die nicht Zug um Zug gegen eine Gegenleistung erfolgen und die sich nicht nach quivalenz rechnen. Muster einer politischen Solidargemeinschaft ist der geglckte Nationalstaat. Noch ist es nicht gelungen, auf europischer Ebene ein analoges Ethos der Solidaritt herzustellen, das Geber und Nehmer in den Umverteilungsprozessen verbindet. Noch dominieren die Egoismen der Mitgliedstaaten, von denen einige wie Großbritannien sich ganz ungeniert von den Solidarlasten dispensieren, sich zu parasitrer Nutznießung bekennen („Nicht mitzuzahlen, mitzureden bin ich da“) und der von Margaret Thatcher formulierten ehernen Maxime der Europapolitik folgen: „I
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want my money back“. Ganz allgemein klingt das Thema Solidaritt an in der Prambel des Vertrages ber die Europische Union: „in dem Wunsch, die Solidaritt zwischen ihren Vçlkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu strken“. Soweit es supranationale Solidaritt gibt, bezieht sich diese auf die Mitgliedstaaten, nicht – allenfalls vermittelt und intransparent – auf die Brger. Der Einfhrung der Unionsbrgerschaft zum Trotz beschrnkt sich die europische Integration bisher auf die Staaten. Die einheitliche Farbe des Reisepasses reicht aber nicht aus, um europisches Brgerbewusstsein zu schaffen. Damit ein solches wachsen kann, bedarf es der Klarheit darber, welche Vçlker berhaupt zu Europa gehçren und was das Europische der Europischen Union ausmacht. Die Union scheut davor zurck, sich zu definieren. Der Entwurf des Verfassungsvertrages schweigt zu diesem Thema, von dem doch die Identitt der Gemeinschaft abhngt. Die Aufnahme von Verhandlungen mit der Trkei zeigt, dass die Union nicht nach kultureller Homogenitt und auch nicht nach geographischer Lage fragt (der Zipfel trkischen Territoriums diesseits des Bosporus ist kein Argument fr das Ganze). Vielmehr geht es nur um die Kompatibilitt des politischen Systems, der Rechts- und der Wirtschaftsordnung, um Bedingungen also, ber die man morgen oder bermorgen auch mit dem Irak oder mit Russland verhandeln kçnnte. Fr Russland sprchen brigens sogar bessere geographische Grnde als fr die Trkei. Was also ist Europa? Der Kontinent Europa ist keine Vorgabe der Geographie, sondern eine Einheit, die auf dem Selbstbewusstsein der Europer grndet, die den Erdkreis eingeteilt und ihren Kategorien unterworfen haben. Die See- und Landgrenzen Europas sind keine natrlichen Grenzen, sondern Grenzen eines Kulturraumes. Die Außengrenzen werden im wesentlichen durch epochale Ereignisse am Ende des 15. Jahrhunderts bestimmt: den Fall Konstantinopels, in der Folge die Verlagerung des Zentrums der Orthodoxie vom zweiten Rom auf das dritte, Moskau, und den Jahrhunderte whrenden Abwehrkampf der Europer gegen die Trken; die Eroberung Granadas und die Vertreibung der Mauren aus Sdspanien; die Entdeckung Amerikas und die Umleitung der europischen Energien, weg von Afrika hin zu diesem neuen Kontinent, auf dem sich europische Tochterkulturen entwickeln. Die Außengrenzen werden wesentlich bestimmt durch den Gegensatz zwischen Christentum und Islam. Mit ihm hat sich das Mittelmeer, zuvor Zentrum eines Kulturraums, zu dessen Grenze verwandelt. Religiçsen Ursprungs ist auch die Binnengrenze Europas, die den lateinischen Westen vom orthodoxen Osten scheidet: der Kulturgraben zwischen dem Baltikum und Russland, Polen und der Ukraine,
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Kroatien und Serbien. Das lateinische Europa ist der Boden, auf dem die politischen Ideen gewachsen sind, die den modernen Verfassungsstaat ausmachen: Amtsprinzip, Gewaltenteilung, Freiheits- und Gleichheitsrechte, Demokratie. Otto Kallscheuer: Der Nachfolger von Prof. Maier auf dem Guardini-Lehrstuhl fr christliche Weltanschauung der Mnchener Universitt, der franzçsische Spezialist fr islamische Philosophie des Mittelalters R mi Brague, hat Europa schon 1992 in einem sehr lesenswerten Buch „Europe, la voie romaine“ folgendermaßen charakterisiert: Europa, jedenfalls das christliche Europa – Brague ist ja selber bekennender Katholik – hat keinen Ursprung, sondern Europa ist ursprnglich ein Modus der sekundren Aneignung. Diese Nichtursprnglichkeit – oder „s condari t “ – macht er sowohl am Verhltnis der rçmischen Zivilisation zur griechischen Zivilisation fest, als auch am Verhltnis der christlichen frohen Botschaft zur jdischen Heilsgeschichte. Ich benutze diesen Hinweis als berleitung zur Frage, in welcher Weise die in der historischen Konstitution Europas fraglos prsente Identitt einer heute als fremd erscheinenden Religion – nmlich die des Islam – innerhalb Europas angeeignet werden sollte. Es gibt hier offenbar keine festen, fraglos bewhrten Modelle, auf die man zurckgreifen kann, jedenfalls kaum europische. Augustinus, dem wir den freiheitlichen Grundgedanken der Differenz von Gottesreich und menschlicher Ordnung methodisch verdanken, war ja Afrikaner, aber zivilisatorisch ein Rçmer – und als solcher bezog er sich auf die neuplatonische Tradition der Gottes- und Wahrheitssuche und das Christentum! Kann es fr die Zukunft Europas einen spezifisch europischen Modus der Aneignung der Vielfalt der Religionen geben – inklusive insbesondere der in Europa am meisten wachsenden Religion, des Islam? Und gibt es dabei mçglicherweise, diese Zusatzfrage stelle ich an Frau Amirpur, auch ganz besondere, eigene Integrationsleistungen in diese Vielfalt, die von Seiten der Muslime selber geleistet werden mssen? Ist es gerecht, von Muslimen in Deutschland oder in Europa ein deutliches, explizites, çffentliches Auftreten gegen den salafistischen Terrorismus zu verlangen, der unter dem Label „Al-Khaida“ in der Welt operiert – wie das beispielsweise in Frankreich die Muslime getan haben, als sie anlsslich der Entfhrung von zwei franzçsischen Journalisten durch sunnitische Terroristen im Irak Massendemonstrationen veranstaltet haben? Gibt es einen spezifischen europischen Modus, mit dem wir mit der modernen religiçsen Vielfalt umgehen, der sich vielleicht auch unterscheidet von der amerikanischen Variante?
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Katajun Amirpur: Es geht hier wahrscheinlich nicht nur um die Frage der Entfhrung der franzçsischen Journalisten in Frankreich und wie sich die franzçsischen Muslime davon distanziert haben, sondern insgesamt um die Diskussion, die ja seit dem 11. September prsent ist in Deutschland, nmlich die Frage: Wieso distanzieren sich Muslime weltweit und in Deutschland nicht expliziter vom Terror? Das wurde nach dem Geiseldrama von Beslan und nach dem 11. Mrz in Madrid immer wieder von Bischof Huber, Otto Schily und weiteren eingefordert: einen Aufstand der Anstndigen oder solche Lichterketten, die die Deutschen damals auch fr die Trken machten. Das forderte man von den Muslimen. Ich glaube, dazu gibt es einige erklrende Dinge zu sagen. Zum einen gibt es seit diesem 11. September von smtlichen muslimischen Organisationen in Deutschland Distanzierungsnachweise. Sie sind verçffentlicht im Internet. Der Zentralrat der Muslime hat es gemacht, der Islamrat, Milli Gors und auch andere Organisationen – wobei man auch vielleicht in Klammern folgendes hinzufgen kçnnte: Die Vertreter dieser Organisationen tun immer so, als seien sie wahnsinnig reprsentativ fr den Islam in Deutschland, das sind sie aber nicht. Wenn man Nadim Elyaas, den [inzwischen ehemaligen] Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland so hufig im Fernsehen sieht, denkt man, er wrde jetzt eine beraus große Menge der Muslime vertreten. Das ist aber faktisch nicht der Fall. Denn die meisten Muslime sind berhaupt nicht organisiert, weil das nicht zu den Prinzipien des Islam gehçrt. Es gibt keine hierarchischen Strukturen, es gibt keine großartigen Organisationsformen. Es kommt im Islam an auf das Verhltnis zwischen den Menschen und Gott. Es gibt auch keine Priester, die eine Weihefunktion erfllen. Insofern ist das alles vollkommen anders organisiert und strukturiert, und damit komme ich zurck zu der Frage, warum sie sich nicht distanzieren. Die meisten Muslime verstehen diese Frage, die an sie herangetragen wird, berhaupt nicht, was, denke ich, verschiedene Grnde hat. Zum einen handelt es sich bei den meisten Muslimen, die in Deutschland leben, es sind ja ungefhr dreieinhalb Millionen, um Menschen, die aus sehr einfachen Verhltnissen kommen, aus Anatolien, und die wahrscheinlich auch trkisch nicht lesen und schreiben kçnnen, geschweige denn deutsch lesen und schreiben kçnnen. Und die Diskussion ber diese Forderungen, die dann irgendjemand im deutschen Feuilleton oder in der deutschen Politik stellt, schlicht und ergreifend berhaupt nicht mitbekommen. Sie wissen gar nicht, was hier debattiert wird, weil sie zum großen Teil einen Bildungshintergrund haben, der ihnen die Teilnahme oder sei es auch schon
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die Reflexion politischer Debatten in Deutschland nicht ermçglicht. Dann haben wir natrlich eine deutsch-trkische Jugend, die durchaus deutsch lesen und schreiben kann, sich aber auch nicht fr Politik interessiert, wie im brigen deutsche Jugendliche auch nicht gerade in berschwnglichem Maße. Der dritte, aber vielleicht viel entscheidendere Punkt ist, dass sich die Leute fragen: Was haben wir denn damit zu tun? Da gibt es irgendwelche durchgeknallten Muslime, die Flugzeuge ins World Trade Center jagen und andere im Namen ihrer Religion umbringen, aber a) hat das mit meiner Religion nichts zu tun, meine Religion verbietet so etwas, und b) wieso bin ich verantwortlich fr die Verbrechen, die irgendjemand anders begeht? Hat sich irgendjemand bei mir fr die Verbrechen entschuldigt, die in Bosnien-Herzegowina an Muslimen begangen worden sind? Kam da mein deutscher Nachbar und hat mir gesagt, ‚das tut mir aber leid, dass solche Verbrechen begangen werden, und ich distanziere mich jetzt einmal çffentlich davon? Genauso reagieren Muslime darauf. Wir haben aber hier, glaube ich, immer noch das Gefhl, dass Muslime in erster Linie eine islamische Identitt haben. Das ist aber schlicht und ergreifend nicht so. Ein iranischer Moslem in Deutschland ist zuerst Iraner und dann Moslem, und ein trkischer Moslem in Deutschland ist auch zuerst Trke und dann Moslem. Es ist nicht so, dass diese Identitt, wie ich eben schon ausgefhrt habe, so allumfassend in alle Lebensbereiche greift, wie wir das immer annehmen. Man denkt nicht immer nur ber sich nach als Moslem, wenn man denn Moslem ist. Das ist gar nicht soviel anders wie bei Christen. Das ist, glaube ich, auch einer der Grnde gewesen, warum man nicht auf die Idee kam, eine Lichterkette zu machen oder einen Aufstand der Anstndigen. Es gab diesen Aufstand der Anstndigen aber trotzdem, wobei ich ihn nicht als solchen bezeichnen wrde – ich meine die Demonstration von 25 000 Trken im November 2004 in Kçln; das lag schlicht und ergreifend daran, dass die einzige wirklich gut strukturierte Organisation eine Organisation namens „Ditip“ ist. Sie ist dem trkischen Religionsministerium unterstellt, und sie versammelt hier sehr viele Trken, die aber einen rein laizistischen Islam vertreten nach außen hin. Dort sind sehr viele Trken organisiert. Es war dann aber nicht der Aufstand der Gerechten, der zu dieser Demonstration gefhrt hat, sondern ein kluger Beamter im trkischen Außenministerium, der an die Botschaft in Deutschland diese Weisung gegeben hat, aller Wahrscheinlichkeit nach. Und der Vorsitzende von Ditip ist Botschaftsrat. Und die von Ditip sind auch die einzigen, die so etwas berhaupt organisieren kçnnen. Wenn dagegen der Zentralrat den Leuten sagt: ‚Steigt in die Busse und fahrt irgendwohin, erreicht das die Leute berhaupt nicht. Sie bekommen einen solchen Aufruf des Zentralrats
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schlicht und ergreifend nicht mit. Weil die Demonstration in Kçln von Ditip organisiert war, sah man dort denn auch die trkische Fahne und die europische. Das war ein ganz klares Bekenntnis der Trken zu Europa. Deswegen haben sie das gemacht, aber nicht, weil sie eingesehen htten, das betrifft uns, diese Fragen, wir mssen uns distanzieren, oder hnliches. Ich mçchte noch etwas ansprechen. Es gibt in der islamischen Welt eine sehr heftig gefhrte Debatte ber den Reformislam. Wie kann man in der modernen Welt leben mit einem reformierten Islam? Wie kann man das heilige Buch interpretieren, damit es nicht mehr zu den Menschenrechten in Widerspruch steht, zur Demokratie, zu dem freiheitlichen Grundrechtsstaat? Diese Diskussion sollte man sich viel viel genauer ansehen. Dann hat man eigentlich auch den Modus schon gefunden, wie man mit dem Islam umgehen kann, denn das ist genau die Art von Islam, die berhaupt kein Problem hat, sich hier zu integrieren, und das ist eigentlich der Islam, der auf dem Vormarsch ist. Obwohl es anders aussieht, denn diese Leute, die Bomben werfen, prgen sich nun mal etwas strker in unser Bewusstsein als die Reformtheoretiker. Hans Maier: Ich will jetzt auf Ihre Fragen eingehen, was Europa ausmacht. Sie haben auf R mi Brague hingewiesen und auf seine Theorie des lernenden Europas. Man kçnnte diesen Kontinent, der ja schon rein geografisch kein eigener Kontinent ist, geradezu dadurch definieren, dass er sich immer extern orientiert hat an Jerusalem, an Athen, an Rom. In mancher Hinsicht, das arbeitet Brague gut heraus, ist ja auch die Europische Union etwas, was in der Tradition des alten Rçmischen Reiches steht. Man kann es mindestens historisch so sehen. Ich kenne auch Gesprchspartner aus islamischen Lndern, die es so sehen. Das Interessante ist ja, dass diese Europische Union ein unglaubliches Erfolgsmodell geworden ist, nachdem man ihr zunchst wenig Chancen gegeben hat, sich gegen die traditionelle Welt der Nationalstaaten durchzusetzen. Aber sie ist in solchem Maße erfolgreich, dass jetzt alles hinein will, und zwar ganz unabhngig davon, ob diese Lnder eine europische oder eine andere kulturelle Tradition haben. Das ist das Problem. Interessant ist, und damit komme ich auf die von Herrn Isensee gestellte Frage zurck, was denn nun Europa auszeichnen kçnnte. Auch Herr Fcks hat gefragt, welche anderen Akzente gegenber Amerika oder anderen Großorganisationen Europa setzen kçnnte. Es ist doch interessant, dass man dieser Europischen Union beitritt. Sonst haben sich Großorganisationen immer gebildet durch Eroberungen. Auch Amerika ist erobert worden.
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Das Osmanische Reich ist ein Produkt von Eroberungen. Aber das Alte Reich, das Rçmische Reich deutscher Nation, dem ist man beigetreten, und zwar unabhngig davon, welche Sprache man hatte. Zum Reich Karls V. gehçrten Leute mit polnischer Sprache, mit franzçsischer, mit italienischer Sprache. So etwas kommt offensichtlich wieder, ein Reich, das nicht aus Eroberungen besteht, sondern durch Beitritte sich anreichert. Ein solches Reich hat natrlich immer Schwierigkeiten, seine innere Konsistenz zu wahren. Das war schon beim Alten Reich so. Innerhalb der sich immer mehr organisierenden Nationalstaaten war es nach dem Westflischen Frieden „strukturell friedlich“, d. h. nicht angriffsfhig. Der Gçttinger Historiker Heeren hat es sehr schçn charakterisiert mit zwei Adjektiven, „allen wichtig, aber niemandem furchtbar“. Auch das knftige Europa sollte so etwas werden, was niemandem Furcht einjagt, aber allen wichtig ist. Josef Isensee: Das Europische an Europa ist die geschichtliche Herkunft. Sie ist keine Leistung, daher kein Grund zu Stolz, Hochmut, berhebung gegenber anderen. Aber auch kein Grund zur Scham. Seiner kulturellen Herkunft kann niemand entrinnen, ebenso wenig wie seiner familiren. Wer sich noch so radikal von seinen Eltern absetzt, wird noch in der Negation von ihnen abhngig bleiben. Niemand emanzipiert sich vollkommen. Herkunft bereitet immer auch Zukunft. Das Europa der Agnostiker bleibt ein christlich vorgeprgtes Europa. Es macht einen Unterschied, ob diese Vorprgung durch das lateinische oder durch das orthodoxe Christentum erfolgt ist. Die europischen wie die außereuropischen Kulturen mçgen sich noch so weit von ihren religiçsen Ursprngen entfernt haben; sie kçnnen sie nicht verleugnen. Dennoch waltet heute in den europischen Gremien Christophobie, forcierte Distanz gerade zum Christentum, unter dem Vorwand, die Errungenschaften der Skularitt und der religiçsen Neutralitt nicht zu gefhrden. Die Europische Union tut sich leichter, sich auf Sokrates oder Cicero als geistige Ahnen zu berufen, denn auf Benedikt oder Augustinus, die doch ihrerseits Vter des Abendlandes sind. Europische Institutionen, die sich genieren, sich zu den geistigen Wurzeln des Kontinents, dessen Namen sie beanspruchen, zu bekennen, haben nicht die Chance, die Seele zu finden, die sie beschwçren, nach der sie fahnden und ohne die sie sich nicht ber den Status von Ntzlichkeitskonstrukten erheben kçnnen. Worin kçnnte die Seele einer Europisch-Kleinasiatischen Union bestehen? Ein Verein gewinnt sein Profil weniger ber die Regeln seiner Satzung als durch die Personen seiner Mitglieder. Nicht anders der Staatenverein
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der Europischen Union. Mit jedem neuen Mitglied wandelt sich sein Charakter. Vollends rhrt die Entscheidung, ob die Trkei aufgenommen wird oder nicht, an die Identitt. Als Europisch-Kleinasiatische Union wre er nicht mehr derselbe, der er zuvor war. Wenn die Europische Union Identitt wahren und Integrationskraft gewinnen will, muss sie auch territoriale Grenzen ziehen und auch danach bestimmen, welche Staaten als Mitglieder in Betracht kommen, welche nicht. Diese Abgrenzung hat nicht die Schrfe, wie sie die territoriale und personale Abgrenzung der Staaten voneinander nach klassischem Vçlkerrecht gezeitigt hat. Denn noch ist die Union kein Staat. Noch ist offen, ob die politische Evolution auf einen Mega-Staat zusteuert oder auf eine nichtstaatliche Form transnationaler Einheit. Fr letztere kçnnte das Rçmische Reich des Mittelalters ein Analogon bilden, eine politische Einheit mit einem Herrschaftszentrum und fließenden bergngen in die umlagernden Bereiche, die in mehr oder weniger enger Beziehung zum Zentrum standen, in geordneter Verschiedenheit. Anstze dazu zeigen sich in der Europischen Union: Integration unterschiedlicher Dichte und Geschwindigkeit; Statusdifferenzierung nach Mitgliedschaft, Assoziation, privilegierte wie nichtprivilegierte Partnerschaft; Mitte mit offenen Grenzen, doch keine Grenzenlosigkeit. Das Sacrum Imperium des Mittelalters hatte freilich eine Seele in der Idee der politischen Einheit der Christenheit. Wird der rechtlich-brokratische Mechanismus in Brssel jemals eine Seele finden? Ralf Fcks: Nun ja, vielleicht keine Seele, aber doch einen zentralen Legitimationsgrund, eine europische Idee: die Idee der Sicherung der Freiheit und des Friedens in Europa durch seine Vereinigung. Das war schon der Impuls hinter der Montanunion und erst recht hinter den rçmischen Vertrgen. Europa war schon zu Zeiten des heiligen rçmischen Reiches deutscher Nation eine Einheit in Vielfalt, ein kulturell und ethnisch heterogener Raum. Diese Balance muss auch die Europische Union halten. Wir brauchen eine gemeinsame politische Kultur als Fundament der Union, die im wesentlichen durch die Deklaration der Menschenrechte und die Prinzipien der Demokratie beschrieben ist. Aber eine religiçse Gemeinschaft wird Europa nicht mehr werden, und jeder Versuch in diese Richtung wrde einen neuen Kulturkampf provozieren. Der Witz ist doch gerade, dass nur die religiçse Neutralitt des Staates – und das gilt auch fr die europischen Institutionen – die Religionsfreiheit aller garantiert. Eine religiçs definierte Union wre nicht mehr die Union aller Brger. Es ist richtig, dass europische Solidaritt einen Sinn fr Zusammengehçrigkeit braucht, der auf der ge-
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meinsamen Geschichte und dem kulturellen Erbe Europas aufbaut. Aber dieses kulturelle Fundament umfasst mehr als die jdisch-christliche Tradition. Es umfasst die Aufklrung und den Humanismus, die freiheitliche Tradition der demokratischen Revolutionen, den Kanon an europischer Musik, bildender Kunst, Literatur, der ein gemeinsames Band zwischen den Nationen bildet. Dieser Kanon ist nicht abgeschlossen – er entwickelt sich weiter, nimmt neue Elemente in sich auf, die nicht zuletzt durch Migration und interkulturellen Austausch produziert werden. Wer nur auf die Vergangenheit starrt und Kultur als eine fixe, religiçs begrndete Identitt begreift, landet leicht beim Kampf der Kulturen. Das ist eine reale Mçglichkeit, aber alles andere als unvermeidlich. Deshalb noch einmal: Bewusstsein der christlichen Wurzeln Europas ja – aber keine exklusive Definition der Europischen Union als Gemeinschaft des christlichen Europa. Was wir stattdessen brauchen, ist religiçse Toleranz im Rahmen der skularen Demokratie. Otto Kallscheuer: Gewiss verlangt auch eine offene Union nach Grenzziehungen. Aber diese lassen sich heute fr ein freiheitliches Europa weder nach dem Modell der totalen Souvernitt im Territorium begreifen – sei es die des absoluten „roi soleil“ oder die Souvernitt seines demokratischen Nachfolgers, der „volont g n rale“, die dann alsbald nach einer Staats- oder Brgerreligion der „laicit “ ruft – noch nach einem Modell der Addition konfessioneller Identitten begreifen. Dies lag etwa den Europa-Ideen des großen deutschen Wissenschaftlers und çkumenischen Utopikers Leibniz zugrunde. Als dieser sich im siebzehnten und frhen achtzehnten Jahrhundert an allen europischen Hçfen um eine politische und konfessionell „all-umfassende“ (gr. kat-holische) Wiedervereinigung der durch die Konfessionskriege gespaltenen und geschwchten europischen Christenheit bemhte, versuchte er einen doppelten Weg: Erstens den einer vernnftigen „confessio philosophica“, also den einer Katholizismus und Protestantismus umfassenden, bergreifenden Rationalisierung des Christenglaubens; und zweitens den einer gemeinsamen Frontstellung der christlichen Staaten wider den Islam – als Leibniz in seinem berhmten Consilium Aegyptiacum dem franzçsischen Sonnenkçnig die Eroberung gyptens vorschlug. Dieser Weg, den bekanntlich ein Jahrhundert spter Napoleon Bonaparte auf etwas andere Weise verwirklichte, ist heute nicht nur militrisch gesehen wenig ratsam. Auch die Christen im heutigen, skularen Europa wissen, dass eine „identitre“ kulturelle Stilisierung „des“ Islam zu einem einheitlichen, ußeren, fremden Block auch die innereuropischen Feind-
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erklrungen anheizen wrde. Gleichzeitig lernen etwa in Frankreich auch die skularistischen „Laizisten“, dass die vçllige Verbannung religiçser Motive aus dem çffentlichen Raume der res publica trotz oder wegen der wachsenden religiçsen Vielfalt Europas nicht mehr als Garant der Religionsfreiheit funktioniert, sondern im halblegalen Hinter- und Untergrund Anlass zur Formierung islamistischer Gegenidentitten werden kann. Den rechten Weg, die Freiheit zur Glaubensvielfalt und die Einheitlichkeit eines demokratischen rule of law fr das knftig religiçs spannungsreichere Europa zu vereinen, haben offenbar bisher weder die Laizisten noch diejenigen Christen gefunden, die eine christliche Orientierung der liberalen Grundwerte im europischen Grundgesetz verankern wollen. Diese Diskussionsrunde aber zeigte, dass es sich lohnt, darum zu streiten. Denn der Streit nach Spielregeln ist immer die bessere Alternative: Er ermçglicht auch die Zivilisierung des Religionskonflikts.
Die Autoren Katajun Amirpur, geb. 1971, Dr. phil., Habilitandin im Rahmen des Emmy-Noether-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft; daneben freie Autorin und Publizistin, vor allem fr den Deutschlandfunk, den WDR und die Sddeutsche Zeitung. Forschungsschwerpunkte: Islamische Zivilgesellschaft, Reformtheologie, Islamischer Feminismus, Iranische Staatstheorie. Verçffentlichungen u. a.: Gott ist mit den Furchtlosen, Freiburg i. Br. 2003; Schauplatz Iran (zus. mit Reinhard Witzke), Freiburg i. Br. 2004; Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion (Hg. zus. mit Ludwig Ammann), Freiburg i. Br. 2006. Karl Graf Ballestrem, geb. 1939, Dr. phil., Professor i. R. fr Politikwissenschaft an der Katholischen Universitt Eichsttt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des politischen Denkens, politische Ethik, Politik und Religion. Verçffentlichungen u. a.: Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts (Hg. zus. mit Henning Ottmann), Mnchen 1990; Adam Smith, Mnchen 2001; Internationale Gerechtigkeit (Hg.), Opladen 2001; Kirche und Erziehung in Europa (Hg. zus. mit Sergio Belardinelli und Thomas Cornides), Wiesbaden 2005. Manfred Brocker, r geb. 1959, Dr. phil. Dr. rer. pol., Professor fr Politische Theorie und Philosophie an der Katholischen Universitt Eichsttt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Philosophie, Politik und Religion, das politische System der USA. Verçffentlichungen u. a.: Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie, Darmstadt 1992; Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im Politischen System der USA, Frankfurt/M. 2004; Geschichte des politischen Denkens – Ausgewhlte Werkanalysen (Hg.), Frankfurt/M. 2006. Rainer Forst, geb. 1964, Dr. phil., Professor fr Politische Theorie und Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universitt in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und praktische Philosophie, insbesondere Theorien der Gerechtigkeit, Demokratie, Toleranz.
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Die Autoren
Verçffentlichungen u. a.: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1994 (22004); Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003; Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2007. Ralf Fcks, geb. 1951, Sozialwissenschaftler, Senator a. D., Vorstand der Heinrich-Bçll-Stiftung. Themenschwerpunkte: Reform des Wohlfahrtsstaats, nachhaltige Entwicklung, multikulturelle Demokratie, Brgergesellschaft, Europa und Transatlantische Beziehungen. Verçffentlichungen u. a.: Sind die Grnen noch zu retten?, Reinbek 1992; zahlreiche Beitrge fr Bcher, Zeitschriften und Zeitungen. William J. Hoye, geb. 1940, Dr. theol., Professor fr Systematische Theologie an der Universitt Mnster. Forschungsschwerpunkte: Theologische Anthropologie, mittelalterliche Philosophie und Theologie. Verçffentlichungen u. a.: Demokratie und Christentum. Die christliche Verantwortung fr demokratische Prinzipien, Mnster 1999; Jedermanns Verletzungen der sozialen Gerechtigkeit, in: Forum Katholische Theologie 22, 2006, 27–36; Die Vernunft als Basis der Begegnung des Christentums mit anderen Religionen, in: Hans-Georg Babke/Andreas Fritzsche (Hg.), Gerechtigkeit – ein globaler Wert, kumenische Sozialethik Bd. 6, Mnchen 2003, 126–151. Josef Isensee, geb. 1937, Dr. jur. Dr. h. c., Prof. em. fr ffentliches Recht an der Universitt Bonn. Forschungsschwerpunkte: Staatsrecht, Europarecht, Rechtstheorie, Staatskirchenrecht, Sozialrecht, Verwaltungsrecht. Verçffentlichungen u. a.: Subsidiarittsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 22001; Wer definiert die Freiheitsrechte?, Heidelberg 1980; Das Grundrecht auf Sicherheit, Berlin 1983; Das Volk als Grund der Verfassung, Paderborn 1995; Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalitt des Rechts, Paderborn 2003; Handbuch des Staatsrechts (Hg. zus. mit Paul Kirchhof), 10 Bde., Heidelberg 1995–2005.
Die Autoren
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Otto Kallscheuer, r geb. 1950, PD Dr. phil., freier Publizist. Essayistische und journalistische Ttigkeit als Kritiker, Kommentator und Rezensent, u. a. fr die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Forschungsschwerpunkte: Religionspolitologie, die neue Rolle der Religionen in der Weltpolitik. Verçffentlichungen u. a.: Die Grnen – letzte Wahl, Hamburg 1986; Glaubensfragen, Frankfurt/M. 1991; Gottes Wort und Volkes Stimme, Frankfurt/M. 1994; Das Europa der Religionen (Hg.), Frankfurt/M. 1996; Die Wissenschaft vom Lieben Gott – eine Theologie fr Recht- und Andersglubige, Atheisten und Agnostiker, Eichborn 2006. Theo Kobusch, geb. 1948, Dr. phil., seit 2003 Professor fr Philosophie an der Universitt Bonn. 1972 Promotion in Gießen, Habilitation im Fach Philosophie in Tbingen. 1983–1988 Professor fr Philosophie an der Ruhr-Universitt Bochum, 1990–2003 Inhaber des Lehrstuhls fr Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Ruhr-Universitt Bochum. Verçffentlichungen u. a.: Studien zur Philosophie des Hierokles von Alexandrien. Untersuchungen zum christlichen Neuplatonismus, Mnchen 1976; Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, Leiden 1987; Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997. Hans Maier, r geb. 1931, Dr. phil. Dr. h. c. mult., Professor em. fr Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie in Mnchen; Kultusminister a. D. Zahlreiche Verçffentlichungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, zu religiçsen und kulturellen Zeitfragen; zuletzt: Die christliche Zeitrechnung, Freiburg i. Br. 52000; Welt ohne Christentum – was wre anders?, Freiburg i. Br. 32002; Totalitarismus und Politische Religionen. Deutungsgeschichte und Theorie, Paderborn 2003; Das Doppelgesicht des Religiçsen. Religion – Gewalt – Politik, Freiburg i. Br. 2004; Ccilia. Essays zur Musik, Frankfurt/M. 2005. Henning Ottmann, geb. 1944, Dr. phil., Professor fr Politische Philosophie und Theorie an der Universitt Mnchen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des politischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart. Verçffentlichungen u. a.: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Berlin/New York 1977; Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 21999; Geschichte des politischen Denkens von den Anfngen bei den
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Die Autoren
Griechen bis auf unsere Zeit, Stuttgart/Weimar 2001 ff. (bisher erschienen vier Bnde). Ulrich K. Preuß, geb. 1939, Dr. jur., Professor of Law and Politics an der Hertie School of Governance, Berlin. Forschungsschwerpunkte: Verfassungsrecht, Verfassungs- und Staatstheorie, Politische Theorie, insbesondere Politische Rechtstheorie, Konstitutionalisierung nicht-staatlicher politischer Rume. Verçffentlichungen u. a.: Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Zum Wandel bewaffneter Gewalt, Berlin 2002; Europa als politische Gemeinschaft, in: Gunnar F. Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 489–539. Gerd Roellecke, geb. 1927, Dr. jur., Professor emeritus fr ffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universitt Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Staatsrecht, Rechtsphilosophie, Verfassungsgeschichte, anthropologische und soziologische Voraussetzungen des modernen Staates. Verçffentlichungen u. a.: Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, Heidelberg 1961; W. G. Hamilton, Die Logik der Debatte (Hg. und bers.), Heidelberg 1978; ffentliche Moral (Hg.), Heidelberg 1991; Kommentierung der Artikel 19–21, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens (Hg.), Grundgesetz, Heidelberg 2002; Staat und Tod, Paderborn 2004. Klaus Roth, geb. 1953, Dr. phil., Vertretungsprofessor fr Politische Theorie und Ideengeschichte am Otto-Suhr-Institut fr Politikwissenschaft, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften, der Freien Universitt Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, moderne Gesellschaftstheorie. Verçffentlichungen u. a.: Freiheit und Institutionen in der politischen Philosophie Hegels, Rheinfelden/Freiburg/Berlin 1989; Genealogie des Staates. Prmissen des neuzeitlichen Politikdenkens, Berlin 2003. Tine Stein, geb. 1965, Dr. phil., Vertretungsprofessorin fr Politische Theorie an der Universitt Bremen. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie der konstitutionellen Demokratie, Politik und Religion, Politik und Natur. Verçffentlichungen u. a.: Demokratie und Verfassung an den Grenzen des Wachstums, Opladen/Wiesbaden 1998; Interessenvertretung der Natur
Die Autoren
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in den USA, Baden-Baden 2002; „Zum Bilde Gottes schuf er ihn“. Die politiktheoretische Bedeutung der biblischen Erzhlungen und der christlichen Tradition fr den demokratischen Verfassungsstaat, Habilitationsschrift, Freie Universitt Berlin 2005. Rudolf Uertz, geb. 1947, Dr. phil., außerordentlicher Professor fr Politische Theorie und Ideengeschichte an der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universitt in Warschau, Privatdozent fr Politikwissenchaft an der Katholischen Universitt Eichsttt-Ingolstadt, Referent in der Konrad-AdenauerStiftung. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte; Sozialethik und Staatslehre des Christentums. Verçffentlichungen u. a.: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken von der Franzçsischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965), Paderborn 2005. Wolfgang Vçgele, geb. 1962, Dr. theol., Privatdozent fr Systematische Theologie an der Humboldt-Universitt zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Rechtsethik, politische Theologie, Religionssoziologie, Ekklesiologie. Verçffentlichungen u. a.: Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, ffentliche Theologie Bd. 5, Gtersloh 1994; Menschenwrde zwischen Recht und Theologie. Begrndungen von Menschenrechten in der Perspektive çffentlicher Theologie, ffentliche Theologie Bd. 14, Gtersloh 2000; Soziale Milieus und Kirche (Hg. zus. mit Helmut Bremer/Michael Vester), Religion in der Gesellschaft 11, Wrzburg 2002.