127 45 43MB
German Pages 495 [501] Year 2020
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 9 2
ARTI BUS
Gerald Mäsch
Chance und Schaden Zur Dienstleisterhaftung bei unaufklärbaren Kausalverläufen
Mohr Siebeck
Gerald Mäsch, geb. 1964; 1984-1990 Studium der Rechtswissenschaften in Passau und Genf; Promotion 1992, Dissertation zum Internationalen Verbraucherschutzrecht ausgezeichnet mit dem Ostbayerischen Kulturpreis; 1994-1996 und 1998-2000 wiss. Assistent am Institut für Rechtsvergleichung der Universität München; 1997/1998 Rechtsanwalt; 2000/2001 Marie Curie Fellow am Institute of European and Comparative Law der Universität Oxford; 2001/2002 Visiting Research Fellow und Feodor-Lynen-Stipendiat am Institute for Global Law des University College London, Februar 2003 Habilitation an der Universität München, 2003/2004 Lehrstuhlvertretungen in München und an der Universität Heidelberg; seit 2004 Direktor des Instituts für Internationales Wirtschaftsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
978-3-16-157948-6 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3-16-148364-2 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen aus der Sabon gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Für Ch.F.
Vorwort Diese Arbeit lag im Wintersemester 2002/2003 der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift vor. Soweit mir möglich, wurde sie für die Drucklegung auf den Stand von Januar 2 0 0 4 gebracht; insbesondere im Hinblick auf die Entwicklungen in ausländischen Rechtsordnungen stößt man als Einzelautor beim Versuch der umfassenden Aktualisierung aber schnell an seine Grenzen. Ich bitte deshalb schon jetzt um Verständnis, sollte ich eine einschlägige neuere Publikation übersehen haben. Dank habe ich vielen zu sagen, zunächst meinen ehemaligen Kollegen am Institut für Rechtsvergleichung in München. Stellvertretend seien Prof. Dr. Stephan Lorenz genannt, der dem Neuankömmling ganz selbstverständlich mit Rat und Tat beiseite stand und ihn in das intrikate Sozialgeflecht des Instituts einführte, und RA Dr. Helge Großerichter, mit dem nicht nur die Zusammenarbeit im Rahmen des von ihm initiierten Repetitoriums zum IPR ein besonderes Vergnügen war, sondern dessen juristischer Scharfsinn und herausragenden Kenntnisse zur perte d'une cbance im französischen Recht manche Einsicht zum Thema dieser Arbeit formte und förderte. Der auslandsrechtliche Teil der Arbeit wurde durch die Unterstützung der Europäischen Union im Rahmen ihres Marie- Cwne-Forschungsprogramms und durch ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung möglich gemacht. Dank gilt neben diesen Institutionen auch meinen Gastgebern und Kollegen am Institute of European and Comparative Law in Oxford und am Institute for Global Law in London, insbesondere Prof. Dr. Basil Markesinis, Prof. Dr. Stephen Weatherill, Prof. Dr. Gerhard Dannemann und Dr. Stefan Enchelmaier. Gedankt sei weiterhin Herrn Prof. Dr. Josef Drexl für die Übernahme und außerordentlich rasche Abfassung des Zweitgutachtens sowie seine besondere Unterstützung bei der Themensuche für den Habilitationsvortrag. Zu danken habe ich ferner meinem Vater, Herrn LRSD a.D. Nando Masch, der es mit bewundernswertem Engagement auf sich nahm, die Arbeit vor Drucklegung auf formale, grammatikalische, orthographische und sonstige Mängel zu durchforsten. Die letzte Durchsicht hat ebenso engagiert Frau stud. iur. Andrea Srol unternommen. Alle nicht beseitigten Fehler liegen allein in meiner Verantwortung. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss.
VIII
Vorwort
Last but not least: Der größte Dank gilt meiner Habilitationsmutter, Frau Prof. Dr. Coester-Waltjen. Sie hat die Arbeit nicht nur durch ihre Persönlichkeit und ihr Vorbild an wissenschaftlicher Präzision und unermüdlichem Einsatz, durch die Herausforderungen und Förderung als Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl und durch die Freiräume, die sie mir in den „heißen Phasen" gewährt hat, inhaltlich maßgeblich geprägt. Mehr noch: Sie ist mit ihrer von Taten begleiteten Uberzeugung, dass ich die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen sollte, dafür verantwortlich, dass mein als Abschied von der Universität geplanter Ausflug in die Anwaltschaft ein Abstecher blieb und ich das Projekt dieser Habilitationsschrift überhaupt in Angriff genommen habe. Die Arbeit ist Ch.F. gewidmet. Nicht, weil sie an ihrer Entstehung maßgeblichen Anteil oder unter ihr zu leiden hatte, sondern weil sich unsere Lebenswege nur dank dieser Schrift gekreuzt haben. Und das ist, was immer die Zukunft bringen mag, ihr schönstes, wichtigstes Ergebnis. Münster, im Mai 2004
G.M.
Inhaltsübersicht Einleitung 1.
Kapitel:
1 Begriffsklärung,
Problemstellung
und
Gang
der Darstellung
11
§1
Der Begriff der Dienstleistung
11
§2
Die Kausalität
12
§3
Kausalitätszweifel bei der Schadenersatzhaftung eines Dienstleisters . . .
13
§4
Gang der Darstellung
29
2.
Kapitel:
Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
...
30
§1
Allgemeine Grundsätze
30
§2
Arzthaftung
32
§3
Anwaltshaftung
§4
Sonstige Dienstleistungen
117
76
§5
Fazit
118
3.
Kapitel:
§1
Lösungsvorschläge in der Literatur
§2
Ein neuer Ansatz für die Haftung von Dienstleistern bei
Lösungsvorschläge
in der Literatur
und eigener
Ansatz
Kapitel:
Die Haftung
anderer
Rechtsordnungen
für verlorene
127 127
unaufklärbaren Kausalverläufen: Der Verlust einer Chance 4.
•
Chancen
in der
143 Praxis 156
§1
Einleitung
§2
Länderberichte
158
§3
Bewertung der Bestandsaufnahme
226
,5.
Kapitel: deutschen
156
Die Haftung
für verlorene
Chancen
im
materiellen
Recht
§1
Gang der Darstellung
§2
Verfassungsrechtlicher Auftrag zum haftungsrechtlichen Schutz von
§3
229 229
Chancen?
229
Die vertragliche Haftung für verlorene Chancen
237
X
Inhaltsübersicht
§4
Die außervertragliche Haftung für verlorene Chancen
294
§5
Der Wert einer Chance
320
§6
Das „indirekte" Schmerzensgeld beim Ersatz einer Heilungschance . . . .
360
§7
Das vertragliche Entgelt als Mindestschaden
367
6.
Kapitel: Die prozessualen Rahmenbedingungen für eine verlorene Chance
der Haftung
§1
Die verlorene Chance: Flucht des Richters in die Bequemlichkeit?
§2
Subsidiarität der verlorenen Chance: Der erfolgreiche Nachweis der
§3
371 371
Kausalbeziehung zum Endschaden
372
Der Nachweis des Verlustes einer Chance
409
Zusammenfassung Schlussbemerkung
der Ergebnisse
423 430
Literaturverzeichnis
433
Sachregister
465
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
XXI
Einleitung
1 1. Kapitel
Begriffsklärung, Problemstellung und Gang der Darstellung § 1 Der Begriff der Dienstleistung
11
§ 2 Die Kausalität
12
§ 3 Kausalitätszweifel bei der Schadenersatzhaftung eines Dienstleisters . . .
13
I. Dienstleisterhaftung: Anfällig für Kausalitätszweifel II. Die von der Darstellung erfassten Fälle der Kausalitätszweifel . . . . 1. Unbehebbare Unsicherheit über den Kausalzusammenhang . . . a) Wissenschaftliche Erkenntnislücken b) Tatsachenlücken c) Kombination von Tatsachen- und Erkenntnislücken d) Der human factor: Indeterminierte Kausalverläufe 2. Unsicherheit, die von keiner der Parteien zu vertreten ist 3. Der Einwand des pflichtgemäßen Alternativverhaltens 4. Hypothetische Kausalität, Reserveursachen 5. Keine bloße Unsicherheit über den Schadensumfang § 4 Gang der Darstellung
13 15 15 17 18 19 19 21 22 26 27 29
2. Kapitel
Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis § 1 Allgemeine Grundsätze
30
§ 2 Arzthaftung
32
I. Der Behandlungsfehler 1. § 2 8 7 ZPO
32 32
XII
Inhaltsverzeichnis
2. Beweislastumkehr beim „groben Behandlungsfehler" a) Der grobe Behandlungsfehler als Grundlage der Beweislastverteilung aa) Das „Gewicht" des groben Fehlers bb) Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozess cc) Der Gefahrenbereich des Arztes dd) Die Ursächlichkeit des Arztes für die Beweisnot ee) Die Billigkeit ff) Die Sanktion des pflichtvergessenen Arztes b) Die Bestimmung des „groben" Behandlungsfehlers c) Zusatzbedingungen und -regeln aa) Der „fundamentale Irrtum" beim Diagnosefehler und die unterlassene Befunderhebung bb) Eignung der Pflichtverletzung zur Schadensverursachung und „gänzlich unwahrscheinlicher" Ursachenzusammenhang cc) Weisungswidriges Verhalten des Patienten dd) Eingeschränkte Beweislastumkehr für Sekundärschäden d) Bloße „Beweiserleichterungen" bei einem groben Behandlungsfehler? 3. Beweislastumkehr bei der „Anfängeroperation" II. Die fehlerhafte Aufklärung des Patienten 1. Die Sicherungsaufklärung 2. Selbstbestimmungsaufklärung a) Inhalt, Umfang b) Kausalitätszweifel aa) Die Kausalität zwischen Aufklärungsmangel und Erteilung der Einwilligung bb) Die Kausalität zwischen Eingriff und Schaden § 3 Anwaltshaftung I. Prozessuale Fehler des Anwalts 1. Die Ausblendung der Kausalitätsfrage: Die Entscheidung aus der Sicht des Regressgerichts 2. Die Pflicht des Regressgerichts zur „richtigen" Entscheidung . . a) Der Ausgang des Vorprozesses als Tatfrage b) Die „richtige" Entscheidung als bloßes methodisches Leitbild c) Die normative Begrenzung des Schadens d) Zweierlei M a ß für Pflichtwidrigkeit und Schadensverursachung? e) Ausnahmen von der Suche nach der objektiv „richtigen" Entscheidung
33 34 35 38 42 43 43 47 50 55 55
58 59 59 62 64 67 67 68 68 70 70 74 76 77 77 78 79 80 83 85 86
Inhaltsverzeichnis aa) Steuerrecht bb) Strafrecht 3. Schwierige Feststellbarkeit einer hypothetischen Gerichtsentscheidung 4. Folgeprobleme des Ansatzes bei der „richtigen" Entscheidung . a) Schadenersatz trotz Erfolglosigkeit bei fehlerfreier Leistung? b) Welche Fakten entscheiden? aa) Beweismittel bb) Beweisverfahren, Beweismaß cc) Beweislast c) Die „richtige Entscheidung" und die Aussicht auf erfolgreiche Vollstreckung II. Fehler des Anwalts in der außergerichtlichen Beratung 1. Beweislastumkehr a) Der „grobe" Fehler b) Das „Anfängermandat" 2. Der Anscheinsbeweis „beratungsgerechten" Verhaltens a) Der „vernünftige" M a n d a n t b) Mehrere „vernünftige" Reaktionsmöglichkeiten des Mandanten c) Billigkeitsentscheidungen 3. § 2 8 7 Z P O
XIII 86 89 90 92 92 96 96 100 102 104 104 105 105 107 108 108 110 111 114
§ 4 Sonstige Dienstleistungen
117
§ 5 Fazit
118
I. Arzthaftung 1. Ungleichbehandlung mit anderen Berufsgruppen 2. Inhaltlich unbefriedigende Regeln II. Anwaltshaftung
119 119 121 123
III. Sonstige Dienstleistungen
124
IV. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip
125
V. Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel VI. Die deutsche Praxis: Kein Vorbild für Europa
126 126
3. Kapitel
Lösungsvorschläge in der Literatur und eigener Ansatz § 1 Lösungsvorschläge in der Literatur I. Generelle Beweismaßherabsetzung
127 127
XIV
Inhaltsverzeichnis
II. Beweismaßherabsetzung für den Kausalitätsnachweis 1. § 2 8 7 Z P O
131 131
2 . Analogie zu beweismaßsenkenden Sondervorschriften für den Kausalitätsnachweis
133
3. Analogie zu § 8 3 0 Abs. I S . 2 B G B
135
III. Beweislastumkehr für die Kausalität bei jeder Pflichtwidrigkeit . . .
139
IV. Übertragung des Arzthaftungskonzepts auf andere Bereiche
141
V. Rückkehr zur Differenzhypothese bei der Anwaltshaftung für prozessuale Fehler
142
VI. Fazit
143
§ 2 Ein neuer Ansatz für die Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren Kausalverläufen: Der Verlust einer Chance
143
I. Haftung für den Verlust einer Chance: Schadensbewertungs- statt Kausalitätsproblem
143
II. Meinungsstand in Deutschland zum Verlust einer Chance als ersatzfähigem Schaden
146
1. Rechtsprechung
146
2 . Literatur
149
3. Gesetzgebung: § 1 2 6 G W B
153
4.
Kapitel
Die Haftung für verlorene Chancen in der Praxis anderer Rechtsordnungen § 1 Einleitung § 2 Länderberichte I. Österreich
156 158 158
1. Arzthaftung
158
2 . Anwaltshaftung
161
II. Frankreich 1. Ausgangspunkt: Le dommage certain
162 162
2. Die „klassische" perte d'une chance: Voraussetzungen, Anwendungsbereich 3. Die perte d'une chance im Arzthaftungsrecht a) Die verlorene Heilungschance b) Die verlorene Chance auf eine informierte Entscheidung . . . 4 . Bewertung der Chance III. Belgien 1. „Klassische Fälle"
163 170 170 175 176 179 179
Inhaltsverzeichnis
2. Arzthaftung
XV
180
IV. Italien
182
V. Spanien
183
VI. Niederlande
184
VII. England 1. Grundsatz 2. Anwaltshaftung a) Prozessuale Fehler b) Außerprozessuale Fehler 3. Arzthaftung 4. Andere Dienstleistungen 5. Weitere Anwendungsfälle der lost chance 6. Zusammenfassung VIII. Irland
186 186 189 189 193 195 201 203 205 205
IX. Schottland
207
X . Exkurs: Außereuropäische Common-Law-Staaten 1. USA a) Arzthaftung b) Anwaltshaftung aa) Prozessuale Fehler bb) Außerprozessuale Fehler c) Sonstige Fallgestaltungen 2. Australien a) Arzthaftung b) Anwaltshaftung c) Sonstige Fallgestaltungen 3. Kanada XI. Schadenersatz bei Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention XII. Unidroit-Principles
209 209 210 212 212 213 214 215 215 216 217 218 219 224
XIII. Der Vorentwurf eines Code Européen des Contrats § 3 Bewertung der Bestandsaufnahme
225 226
5. Kapitel
Die Haftung für verlorene Chancen im materiellen deutschen Recht § 1 Gang der Darstellung
229
§ 2 Verfassungsrechtlicher Auftrag zum haftungsrechtlichen Schutz von Chancen?
229
XVI
Inhaltsverzeichnis
I. Meinungsstand 1. Literatur 2. Rechtsprechung II. Verfassungsrecht und Haftungsrecht 1. Grundrechte und Privatrecht 2. Grundrechte und Haftungsrecht
229 229 230 231 231 233
III. Verfassungsrecht und die Haftung für verlorene Chancen 1. Verfassungsrechtlicher Auftrag zum Schutz des Geschädigten aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG 2. Art. 3 Abs. 1 GG
235 235
IV. Chancenhaftung als Gerechtigkeitsgebot
236
§ 3 Die vertragliche Haftung für verlorene Chancen I. Schaden und Schadenersatz
235
237 237
II. Die verlorene Chance als Schaden 1. Der aus dem Gegenstand vertraglicher Pflichten abgeleitete Schaden 2. Chancenwahrung als Gegenstand vertraglicher Verpflichtungen a) Chancenwahrung als Gegenstand der Hauptleistungspflicht aa) Dienstverträge (1) Obligation de moyens und obligation de résultat (2) Dem Dienstvertrag fremde Erfolgshaftung? bb) Werkverträge b) Nebenpflichten zur Chancenwahrung aa) Nebenpflicht zur Chancenwahrung kraft ausdrücklicher Parteivereinbarung bb) Nebenpflicht zur Chancenwahrung aus ergänzender Vertragsauslegung und kraft gesetzlicher Bestimmungen cc) Pflicht zur Chancenwahrung als Teil einer allgemeinen Fürsorgepflicht 3. „Statistische" vs. „persönliche" Chancen 4. „Past facts" und „hypothetical questions" 5. Die Chance des Vertragspartners auf eine informierte Entscheidung
240
III. Der Ersatz einer verlorenen Chance 1. § 249 BGB: Die Kausalität des Fehlers für den Schaden und ihr Nachweis im Prozess a) Neubestimmung des Schadens statt „Aufweichung" des Kausalitätserfordernisses
266
240 242 242 242 242 246 248 252 252
253 256 257 259 265
267 267
Inhaltsverzeichnis
XVII
b) Haftungsausuferung durch die Verantwortung für nur möglicherweise verursachte Schäden?
272
2 . § 2 5 2 S . 2 B G B : Eine Sperrwirkung der Beweiserleichterung für entgangenen Gewinn?
277
3. § 2 5 3 B G B : Die Chance als Vermögens- oder Immaterialwert . . a) Die Weichenstellung des § 2 5 3 B G B
280 280
b) Der Vermögensschadenbegriff
281
c) Vermögensschaden und Chancen im Allgemeinen
283
aa) Die Nicht- oder Schlechterfüllung vertraglicher Verpflichtungen als Vermögensschaden
283
bb) Wirtschaftlicher Wert nur bei „individualisierten Chancen"?
287
cc) Der vergängliche Charakter einer Chance d) Vermögensschaden und Heilungschancen im Besonderen
289 ..
aa) Der materielle Wert einer Heilungschance
290 290
bb) Schadenersatz für die bloße Verringerung einer Heilungschance?
293
§ 4 Die außervertragliche Haftung für verlorene Chancen
294
I. Einleitung
294
II. Deliktische Haftung
295
1. § 8 2 3 Abs. 1 B G B
295
a) Die Chancenwahrung als Forderungsgegenstand
295
b) Der Schutz von Forderungen über § 8 2 3 Abs. 1 B G B
296
2 . § 8 2 3 Abs. 2 B G B
301
3. § 8 2 6 B G B
303
4 . § 8 3 9 B G B , § 19 B N o t O a) Der beamtete Arzt b) Sonstige Amtsträger
303 303 304
5. § 8 3 9 a B G B
306
6. Ergebnis
308
III. Berufshaftung und Vertrauenshaftung
308
1. Einheitliche Haftungsstandards in Vertrag und Delikt für Berufsträger 2 . Autonome Haftungsgrundlage statt Vertrag oder Delikt 3. Ergänzende Haftungsgrundlage zu Vertrag und Delikt a) Entwicklungen in der Literatur
308 312 312 312
b) Verankerung im Gesetz mit der Schuldrechtsmodernisierung
314
c) Voraussetzungen der Drittvertrauenshaftung für verlorene Chancen im Einzelnen
317
aa) Enttäuschung besonderen Vertrauens
317
bb) Einem Verhandlungsverhältnis ähnlicher geschäftlicher Kontakt
318
XVIII
Inhaltsverzeichnis
4. Ergebnis
320
§ 5 Der Wert einer Chance
320
I. Einleitung
320
II. Der Erwartungswert als Wert der Chance 1. Entscheidungstheorie 2. Das Learned-Hand-Kriterium in der ökonomischen Analyse des Rechts 3. Ergebnis
321 321 324 325
III. Berechnung des Erwartungswerts in komplexeren Fällen 1. Mehrere mögliche Ereignisvarianten: Der Weighted Mean Approach 2. Kumulierte Wahrscheinlichkeiten a) Grundsatz b) „Alternative" Wahrscheinlichkeiten 3. Kumulierte Wahrscheinlichkeiten und mehrere Ereignisvarianten a) Grundsatz b) Der Ereignisbaum aa) Beispiel 1: First Interstate Bank of California v. Cohen Arnold bb) Beispiel 2: Pearson v. Sanders Witherspoon
335 337
IV. Scheingenauigkeit? 1. Qualität des Input 2. Größere Genauigkeit als andere Vorgehensweisen
340 340 341
V. Effiziente Verhaltenssteuerung durch die Haftung für verlorene Chancen 1. Grundlagen 2. Verhaltenssteuerung durch Normen über den Umfang der Haftung 3. Effiziente Abschreckung in Fällen unklarer Kausalverläufe . . . . a) Die Sicht des Common Law aa) Grundsatz bb) Typischerweise ober- oder unterhalb der Schwelle liegende Wahrscheinlichkeiten b) Die deutsche Perspektive aa) Grundsatz bb) Arzthaftung cc) Anwaltshaftung (1) Außerprozessuale Beratung (2) Fehler bei der forenischen Tätigkeit dd) Sonstige Dienstleistungen ee) Fazit
325 325 330 330 331 332 332 334
344 344 345 346 347 347 348 349 349 350 351 351 352 353 354
Inhaltsverzeichnis V I . Falsche Entscheidung in allen Fällen? § 6 D a s „ i n d i r e k t e " Schmerzensgeld beim Ersatz einer Heilungschance . . . .
XIX 356 360
I. Die Aussicht auf Schmerzensgeld als zentrale M o t i v a t i o n für Arzthaftungsklagen
360
II. Kein Schmerzensgeld beim Verlust einer C h a n c e
361
III. Die indirekte Berücksichtigung immaterieller Schäden bei der Berechnung des Erwartungswerts der verlorenen C h a n c e § 7 D a s vertragliche Entgelt als Mindestschaden I. D a s vertragliche Entgelt und der Nichterfüllungsschaden
363 367 367
II. Die vollständige Entwertung der vertraglichen Leistung durch die Vernichtung einer C h a n c e
368
III. Die teilweise Entwertung der vertraglichen Leistung durch die Vernichtung einer C h a n c e
369
6. Kapitel Die prozessualen Rahmenbedingungen der Haftung für eine verlorene Chance § 1 Die verlorene C h a n c e : Flucht des Richters in die Bequemlichkeit?
371
§ 2 Subsidiarität der verlorenen C h a n c e : D e r erfolgreiche N a c h w e i s der Kausalbeziehung zum Endschaden I. Die Anforderungen an den Beweis in § 2 8 6 und § 2 8 7 Z P O
372 372
1. § 2 8 6 Z P O
372
2. § 2 8 7 Z P O
374
a) Die Schätzung der Schadenshöhe
375
b) D e r Beweis der Schadenskausalität
376
c) D a s abgesenkte Beweismaß des § 2 8 7 Z P O für die Anknüpfungstatsachen und Kausalitätsfragen
377
II. Abgrenzung von § 2 8 6 und § 2 8 7 Z P O im Bereich des Kausalitätsnachweises
378
1. Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität . . . .
378
2 . D e r N a c h w e i s des „Betroffenseins"
380
a) Historische Entwicklung
380
b) Aktueller Stand
382
aa) Haftung für die Schädigung eines der in § 8 2 3 Abs. 1 B G B geschützten Rechtsgüter
382
bb) Vertragliche oder deliktische Ansprüche wegen der Verletzung bloßer Vermögensinteressen cc) Konsequenzen für den Dienstleistungsbereich
384 385
XX
Inhaltsverzeichnis
III. Der erfolgreiche Nachweis des Kausalzusammenhangs mit dem Endschaden 1. Der Nachweis der Verursachung eines Gesundheitsschadens durch den Arzt nach § 2 8 6 ZPO a) Verursachung durch einen Behandlungsfehler b) Verursachung durch einen Eingriff ohne ordnungsgemäße Aufklärung 2. Der Nachweis der Verursachung eines Vermögensschadens nach § 2 8 7 ZPO a) Der verlorene Prozess aa) Unsicherheit über die Beantwortung von Rechtsfragen . (1) Ermittlung der Rechtsansicht des Vorgerichts (2) Hilfsweiser Rückgriff auf die eigene Ansicht des Regressgerichts bb) Unsicherheit über die Beantwortung von Tatfragen . . . cc) Unsicherheit über eine Verfahrensbeendigung ohne streitigem Urteil dd) Unsicherheit über Berufung und Revision im Vorprozess (1) Revision (2) Berufung ee) Unsicherheit über den Vollstreckungserfolg ff) Zusammenfassung b) Sonstige Vermögensschäden aa) Außergerichtliche Fehler des Anwalts bb) Andere Dienstleister § 3 Der Nachweis des Verlustes einer Chance I. Grundlagen II. Der Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen dem Fehler und dem Verlust der Chance nach § 2 8 7 ZPO III. Der Nachweis des Wertes der Chance nach § 2 8 7 ZPO 1. Der Wert des Endschadens 2. Die Wahrscheinlichkeit der Schadensverhinderung durch pflichtgemäßes Handeln a) Der Umgang mit Wahrscheinlichkeitsbandbreiten b) Fehlendes statistisches Material c) Schadenersatz nur für den Verlust einer „substantial chance"? 3. Insbesondere: Der Wert der Prozess-Chance in der Beurteilung durch das Regressgericht IV. Mangelnder Anreiz für den Kläger zur Sachverhaltsaufklärung? . .
386 386 386 387 388 388 389 389 393 395 400 403 403 405 406 407 408 408 408 409 409 410 411 412 412 413 415 417 419 421
Inhaltsverzeichnis
XXI
Z u s a m m e n f a s s u n g der Ergebnisse
423
Schlussbemerkung
430
Literaturverzeichnis Sachregister
433 465
Abkürzungsverzeichnis Die das deutsche Recht betreffenden Abkürzungen entsprechen den üblicherweise verwendeten. Es wird insoweit auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. 1993, und hilfsweise (für neuere Abkürzungen) auf das Abkürzungsverzeichnis in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl. 2002, S.XVIIff., verwiesen. Die folgenden Erläuterungen beschränken sich auf juristische Abkürzungen aus anderen Rechtsordnungen.
A.2nd ABGB A.C. ACTSC AJP/PJA Ala. ALJR All E.R. ALR4th Alta L.R. (3d) Am.Jur.2nd A.R. Arch. Circol. Ariz. Ar. RJ App. Bank LR Bing. BMJ BMLR Boston U.L.Rev. BCSC Bull.Civ.
Bus. Law. BV BW C.A. Cal. Cal.App. 2d
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XXIV Cal.App. 4th Cal.L.Rev. Cal.Rptr. Cass. Cass. ass. plen. Cass. civ. l r e , 2 e Cass. comm. Cass. crim. Cass. req. Cass, sez.lav. Cath.U.L.Rev. CC C.C.L.T. CE CEC Cir. CLJ CLR Colo. Colo.App. Conn. CSQ D. D., DP, DS
D.D.C. ED. EJCL E W C A Civ Fasc. FCAFC Fla. Foro it. F.Supp. Gaz.Pal.
Georgia L.Rev. Giust.civ. Harvard L.Rev.
Abkürzungsverzeichnis California Appellate Reports, Fourth Series California Law Review California Reporter Corte di Cassazione, Court de Cassation, Kassationshof Cour de Cassation, Assemblée plénière Cour de Cassation, 1. und 2. Chambre civile Cour de Cassation, Chambre commerciale Cour de Cassation, Chambre criminelle Cour de Cassation, Chambre des Requêtes Corte di Cassazione, sezione lavoro Catholic University Law Review Code civil, Codice civile Canadian Cases on the Law of Torts Conseil d'Etat Code Européen des Contrats (Vorentwurf) Circuit Cambridge Law Journal Commonwealth Law Reports (Australia) Colorado Colorado Court of Appeals Connecticut Cour suprême du Québec District (in US-amerikanischen Entscheidungsfundstellen) Zeitschrift des Hauses Dalloz mit unterschiedlichen Benennungen in verschiedenen Zeitspannen: DP = Dalloz périodique bis 1 9 4 0 ) ; D. = Dalloz Critique/Analytique bzw. ab 1 9 4 5 Receuil Dalloz ( 1 9 4 1 - 1 9 6 4 ) ; DS = Recueil Dalloz-Sirey ( 1 9 6 5 - 1 9 9 6 ) ; D . = Receuil Dalloz (ab 1 9 9 6 ) bzw. Le Dalloz (ab 2 0 0 0 ) . Die einzelnen Abteilungen der Zeitschrift sind für die Zeit bis 1 9 4 4 mit römischen Ziffern bezeichnet, danach mit Chr. (= Chroniques), J . ( = J u risprudence), IR (= Informations rapides) und Somm.comm. (= Sommaires commentées). District of Washington, D . C . Eastern District Electronic Journal of Comparative Law Neutral Citation Number für Entscheidungen des Court of Appeal (Civil Division) (seit Januar 2 0 0 1 ) Fascicule (Abschnitt) Federal Court of Australia (Full Court) Florida II Foro italiano Federal Supplement La Gazette du Palais, zitiert nach Halbjahresband und Abteilung (Doct. = Doctrine; J = Jurisprudence; Somm. = Sommaires de jurisprudence ; Pan. = Panorama de la Cour de Cassation) Georgia Law Review Giustizia civile Harvard Law Review
Abkürzungsverzeichnis Hastings L.J. HCA HL ICC ICLQ 111. Ill.App. I.L.T. Ind. IR IRLR JB1. JC1. JCP
JLE JLS Jur. Rev. Kan. Kann.App. K.B. L. La. LQR Lloyd's Rep.Med. Lloyds Rep. P.N. McGill L.J. M e d LR Mem.St.Univ.L.Rev Mich.L.Rev. MLR Mo. M o . App. Mont. NE.2nd Nev. N.H. NILR NJ N.J. NJB N.J. Super. N.J.Super.A.D
XXV
Hastings Law Journal High Court of Australia House of Lords International Chamber of Commerce International and Comparative Law Quartely Illinois Illinois Court of Appeal Irish Law Times Indiana Irish Reports Industrial Relations Law Reports (österreichische) Juristische Blätter Juris-Classeur Juris Classeur Périodique (= La Semaine Juridique), allgemeine Ausgabe. Die einzelnen Abteilungen sind durch römische Ziffern gekennzeichnet (I. Doctrine; II. Jurisprudence annotée; III. Textes; IV. Tableaux). Zitiert wird die fortlaufende N u m m e r innerhalb des jeweiligen Teils, nicht die Seite. Journal of Law Sc Economics The Journal of Legal Studies (University of Chicago, nicht identisch mit „Legal Studies", UK) Juridical Review (Scotland) Kansas Court of Appeals of Kansas King's Bench (Law Reports) Law Louisiana Law Quarterly Review Lloyd's Law Reports: Medical Lloyd's Law Reports: Professional Negligence McGill Law Journal Medical Law Reports The University of Memphis Law Review (früher: The Memphis State University Law Review) Michigan Law Review M o d e r n Law Review Missouri Missouri Court of Appeals Montana N o r t h Eastern Reporter, Second Series Nevada N e w Hampshire Netherlands International Law Review Nederlandse Jurisprudentie (Entscheidungssammlung) N e w Jersey Nederlands Juristenblad N e w Jersey Superior Court N e w Jersey Superior Court, Appellate Division
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
NLJ New Law Journal N.M. New Mexico N.M.App. Court of Appeals of New Mexico North Carolina L.Rev. North Carolina Law Review NPC New Property Cases (Law Reports) NW. North Western Reporter NW.2d North Western Reporter, Second Series N.Y.S.2d New York Supplement, Second Series (Law Reports) NZLR New Zealand Law Reports OG Obergericht OGH (österreichischer) Oberster Gerichtshof OJLS Oxford Journal of Legal Studies ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung Okla. Oklahoma OntHC High Court of Ontario P.2d Pacific Reporter, Second Series Pa. Pennsylvania Pas. Pasicrisie belge, Receuil général de la jurisprudence des cours et tribunaux et du Conseil d'Etat de Belgique Pepp.L.Rev. Pepperdine Law Review P.N.L.R. Professional Negligence Law Reports Q.B. Queen's Bench Division (Law Reports) R. Reporter RAJB Recueil annuel de jurisprudence beige RCW Revised Code of Washington (State) Ree. Receuil Rep. Foro it. Repertorio del Foro italiano Rev. Review, revue Rev.dr.santé Revue de droit de la santé Rev. Rech. Jur. Revue de recherches juridiques RGAR Revue générale des assurances et des responsabilités RGDC/TBBR Revue générale de droit civil/Tijdschrift voor Belgisch Burgerlijk Recht RIDC Revue internationale de droit comparé Riv.crit.dir.priv. Rivista critica del diritto privato Riv.dir.comm. Rivista di diritto commerciale Riv.trim.dir.proc.civ. Rivista trimestrale di dritto e procedura civile R.R.A. Receuil en responsabilité et assurance RTDA Revue française de droit administratif R T D civ. Revue trimestrielle de droit civil Rutgers L.Rev. Rutgers Law Review RvdW Rechtspraak van de Week S. Receuil Sirey (bis 1964, danach vereinigt mit Receuil Dalloz); die römische Ziffer bezeichnet die Abteilung SA South African Law Reports San Diego L.Rev San Diego Law Review SASR South Australian State Reports SC Sessions Cases (Scotland)
Abkürzungsverzeichnis
s.c. SCR S.D. S.D.Ind. S.D.N.Y. SE.2nd See.
sjz
SKCA SLT So.2nd South Dakota L.Rev. STS Super. Ct. SW. SW.2nd SZ Temple L.Rev. Tex. Texas L.Rev. Tex.Civ.App. TGI Torts 8c Ins. L.J. Trib.civ. U.Balt.L.Rev U.Pa.L.Rev. U.S. V.
Va. Virginia L.Rev. VR Wash. Wash.L.Rev. West Virginia L.R. Wis. WL W.L.R. Yale L.J. zsr/rds
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South Carolina Supreme Court Reports (Canada) South Dakota Southern District Indiana Southern District N e w York South Eastern Reporter, Second Series Section Schweizerische Juristenzeitung Court of Appeal for Saskatchewan Scots Law Times Southern Reporter, Second Series South Dakota Law Review Sentencia del Tribunal Supremo (Spanien) Superior Court South Western Reporter South Western Reporter, Second Series Amtliche Sammlung der Entscheidungen des O G H (zitiert nach Jahr und Nr.) Temple Law Review Texas Texas Law Revies Court of Civil Appeals of Texas Tribunal de Grande Instance Torts 8c Insurance Law Journal Tribunal civil University of Baltimore Law Review University of Pennsylvania Law Review United States of America, United States Supreme Court Reports versus Virginia Virginia Law Review Victorian Reports Washington University of Washington Law Review West Virginia Law Review Wisconsin Westlaw Weekly Law Reports Yale Law Journal Zeitschrift für Schweizerisches Recht/Revue de droit Suisse/Rivista di diritto svizzero/Revista da dretg svizzer
Uncertainty, in the presence of vivid hopes and fears, is painful, but must be endured if we wish to live without the support of comforting fairy tales. - Bertrand Russell 1
Einleitung Drei europäische Gerichte hatten über eine Fallgestaltung zu entscheiden, wie sie im Arzthaftungsrecht so oder so ähnlich nicht selten ist: Es ging um die haftungsrechtlichen Folgen einer schuldhaft unzutreffenden ärztlichen Diagnose, die die richtige bzw. rechtzeitige Behandlung der Erkrankung des Patienten verhinderte. Nach Beweisaufnahme stand fest, dass der Patient auch ohne den Fehler nur eine statistische Chance von etwa 2 5 % gehabt hätte, tatsächlich zu gesunden, anders ausgedrückt: In drei von vier vergleichbaren Fällen hätte auch die richtige und rechtzeitige Therapie nichts mehr an dem negativen Verlauf ändern können. Die drei Gerichte kamen zu drei verschiedenen Lösungen. Das House of Lords wies die Schadenersatzklage ab, weil der dem Patienten obliegende Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen Fehler und Schaden nicht erbracht sei2. Das OLG Stuttgart gewährte umgekehrt vollen Schadenersatz, weil dem Arzt nicht gelungen sei, die fehlende Kausalität des Behandlungsfehlers nachzuweisen 3 . Der Gerechtshof Amsterdam schließlich fand eine vermittelnde Lösung: Der Patient kann entsprechend der prozentualen Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Fehler und der Gesundheitsbeschädigung 25% des Gesamtschadens liquidieren 4 . Ein ähnlich disparates Bild zeigt sich beim Umgang mit Kausalitätszweifeln im Anwaltshaftungsrecht. Der englische Court of Appeal sprach dem Mandanten, der im Anschluss an einen Anwaltsfehler einen Prozess verloren hatte, unter hypothetischer Würdigung der Rechts- und Beweislage im Ausgangsverfahren 20% der Klagesumme zu, weil er vor dem Ausgangsgericht vermutlich auch ohne den Fehler nur in dieser Höhe obsiegt hätte 5 . Französische Gerichte teilen den Ansatz, die Schadenersatzsumme nach der Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens im Ausgangsprozess abzustufen, berücksichtigen dabei aber heute wohl nur „überwiegende" Gewinnchancen 6 . Im Fall des Court of Appeal hätten sie die Re1 2 3 4 5 6
A History of Western Philosophy, 14. Hotson v. East Berkshire Area Health Authority [1987] 1 A.C. 750. OLG Stuttgart VersR 1991, 821. Gerechtshof Amsterdam 4.1. 1996, NJ 1997, 213 - Wever ./. de Kraker c.s. Hanifv. Middleweeks, [2000] Lloyd's Rep. P.N. 920 (C.A.). Vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 108ff. mit zahlreichen Nachweisen.
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Einleitung
gressklage also vollständig abgewiesen. Einen anderen Weg verfolgte der schottische Court of Session in Yeoman's Executrix v. Ferries7. Obwohl der Regressrichter der Meinung war, dass aus seiner Sicht die vom Rechtsanwalt mangelhaft vertretene Ausgangsklage auch ohne den Fehler keinen Erfolg verdient hätte, sprach er Schadenersatz in der geschätzten Höhe eines Vergleiches (1/3 des maximal vom Kläger zu erreichenden Betrages) zu, der im Ausgangsverfahren möglicherweise zustande gekommen wäre 8 . Die Position des BGH ist diametral entgegengesetzt: Nach seiner Auffassung darf die Frage, wie das Ausgangsverfahren ausgegangen wäre, gar nicht gestellt werden. Das Regressgericht muss über die Schadenersatzklage auf der Grundlage der eigenen Rechtsauffassung zur „richtigen" Entscheidung des Vorverfahrens 9 und unter Einbeziehung aller ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel entscheiden 10 . Schon diese kleine Auswahl zeigt: Der Umgang mit unaufklärbaren Kausalverläufen im Rahmen der Haftung von Dienstleistern für „professionelles Fehlverhalten" 11 differiert in den Rechten der EU-Mitgliedstaaten erheblich. Dies ist ein Teil eines weiterreichenden Phänomens: Das Recht der Dienstleistungserbringung insgesamt hat in Europa höchst unterschiedliche Ausprägungen 12 . Wettbewerbsverzerrungen und - vielleicht noch wichtiger - eine erhebliche Rechtsunsicherheit sowohl auf Seiten der Dienstleister als auch auf der der Auftraggeber sind die Folge. Es liegt auf der Hand, dass darin ein Hindernis auf dem Weg zu einem integrierten europäischen Binnenmarkt liegt, wie ihn Art. 14 EGV auch für Dienstleistungen anstrebt 13 . Der Dienstleistungssektor ist für den zwischenstaatlichen Geschäftsverkehr in der Union von ebenso großer Bedeutung wie der Warenhandel, die Sicherung der Dienstleistungsfreiheit ebenso wichtig wie die Warenverkehrsfreiheit. Will man einen einheitlichen Binnenmarkt für Dienstleistungen erreichen, setzt dies - neben den bereits relativ weit fortgeschrittenen Maßnahmen gegen eine Diskriminierung oder Behinderung ausländischer Dienstleistender durch nationale Marktabschottungsstrategien 14 - einen 7
Yeoman's Executrix v. Ferries, 1967 SLT 332. Yeoman's Executrix v. Ferries, 1967 SLT 332, 337 per Lord Avonside. 9 BGH VersR 2001, 638 (640). 10 BGH NJW 1987, 3255. 11 Damm, J Z 1991, 373 in wohl unbeabsichtigter Doppeldeutigkeit. 12 Vgl. etwa Hirte, Berufshaftung, 242ff.; Hondius, FS Stoll, 185 für das Arztrecht. Allgemein und ausführlich zu den derzeitigen Schranken und Hemmnissen für Dienstleisungserbringer der Bericht der EU-Kommission vom 30.7. 2002 über den „Stand des Binnenmarkts für Dienstleistungen" (KOM [2002] 441 endg.; im Internet abrufbar unter: http://www.europa.eu.int/comm/internaLmarket/de/services/services/index.htm), dazu Wägenbaur, ZRP 2002, 422. 13 Vgl. zu diesem Ziel knapp Streinz, Europarecht, Rdnr. 652ff. 14 Eine Auswahl: 1. Finanzdienstleistungen und Versicherungen: Richtlinie (RL) 64/225/ EWG v. 25. Februar 1964, AB1.EG 1964, 56/878ff.; RL 73/183/EWG v. 28. Juni 1973, AB1.EG 1973 Nr. L 194/lff.; RL 73/240/EWG v. 24. Juli 1973, ABl.EG 1973 Nr. L 228/20ff.; RL 76/ 580/EWG v. 29. Juni 1976, AB1.EG 1976 Nr. L 189/13ff.; 2. Handelsvertreter: RL 86/653/ 8
Einleitung
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einheitlichen oder zumindest in relevanten Bereichen harmonisierten zivilen Rechtsrahmen in den Mitgliedstaaten für die Erbringung von Dienstleistungen voraus 15 . Denn der Schutz vor staatlichen Behinderungen des Marktzutritts nützt nichts, wenn potentielle inländische Dienstenachfrager einen ausländischen Anbieter aus eigenem Antrieb nicht in ihre Überlegungen einbeziehen, weil im Fall eines Disputs (vorbehaltlich einer allerdings schwer durchzusetzenden Wahl des heimischen Rechts) im Zweifel dessen heimatliche Regeln zur Anwendung gelangen (Art. 4 Abs. 2 des Römischen EWG-Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (EVÜ) 16 , in Deutschland Art.28 Abs. 2 EGBGB). Wo diese Sorge dem potentiellen Auftraggeber genommen ist (vgl. Art. 5 EVÜ, Art. 29 EGBGB für Verbraucher), ist es umgekehrt häufig der Dienstleister, der das Risiko scheut, sich auf ein ihm fremdes Recht einzulassen. In beiden Fällen spielt eine Rolle, dass es im Dienstleistungsvertragsrecht an einer gemeinsamen historischen Grundlage in Europa fehlt 17 , so dass ein Vertrauen darauf, dass die maßgeblichen ausländischen Rechtsregeln den eigenen schon ähneln werden, hier mehr noch als in anderen Bereichen deplaziert wäre. Die „Mosaiktechnik", die die Gemeinschaftsgesetzgebung bisher angewandt hat, indem verschiedenen speziellen wirtschaftlichen Tätigkeiten oder Vertragsverhandlungssituationen „ihr" Recht per Richtlinie auf den Leib geschneidert werden soll (Verbrauchsgüterkauf, Fernabsatz, Haustürgeschäfte, vorformulierte Vertragsbedingungen, Handelsvertreter, Timesharing) 18 , ist nicht nur wegen der mangelnden Koordination der einzelnen Bemühungen wenig erfolgreich; Diskrepanzen in der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und zu deren historisch gewachsenen Rechtsordnungen tun ein Übriges, dass von optimalen Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt nicht gesprochen werden kann 1 9 . Lehne hat dies als Berichterstatter des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt des Europäischen Parlaments mit maritimen Metaphern illustriert: EWG vom 18. Dezember 1986, AB1.EG 1986 Nr. L 382/17ff. ; 3. Reisebüros: RL 82/470/EWG vom 29. Juni 1982, AB1.EG 1982 Nr. L 213/1 ff.; 4. Krankenpfleger: RL 89/595/EWG vom 10. Oktober 1989, AB1.EG 1989 Nr. L 341/30ff.; 5. Ärzte: RL 93/16/EWG vom 5. April 1993, AB1.EG 1993 Nr. L 165/1 ff.; 6. Anwälte: RL 98/5/EG vom 16. Februar 1998, ABl.EG 1998 Nr. 77/36ff.; 7. Beförderer: RL 96/26/EG vom 29. April 1996, AB1.EG 1996 Nr. L 124/1 ff., RL 98/76/EG vom 1. Oktober 1998, AB1.EG 1998 Nr. L 277/17ff.; 8. Anerkennung von Diplomen und Zertifikaten: RL 89/48/EWG vom 21. Dezember 1988, AB1.EG 1989 Nr. L 19/16ff. und RL 92/51/EWG vom 18. Juni 1992, ABl.EG 1992 Nr. L 209/25ff. 15 Barendrecht/Loos, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuchs, 157f. (http://www.europarl.eu.int/workingpapers/juri/pdf/103_de.pdf). 16 ABl.EG 1980 Nr. L 266/1; in Kraft seit dem 1.4. 1991, ABl.EG 1991 Nr. C 51/1. 17 Barendrecht/Loos, a a O (Fn.15), 157. 18 Nachweise und dreisprachiger Text der Richtlinien etwa in Magnus, Europäisches Schuldrecht Verordnungen und Richtlinien - European Law of Obligations Régulations and Directives - Droit européen des obligations Règlements et Directives (2002). 19 Statt aller Zimmermann, J Z 2001, 171 (178).
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Einleitung
„Die gegenwärtige Topographie, die die Wirtschaftsteilnehmer vorfinden, wenn sie grenzüberschreitend tätig werden wollen, ist gekennzeichnet durch das große Meer des Internationalen Privatrechts, in dem sich einige ... größere oder kleinere Inseln des Europäischen Gemeinschaftsrechts befinden. Sobald die Rechtsanwender diese sicheren H ä f e n verlassen, drohen ihnen entweder die Untiefen der ungelösten Konflikte der einzelnen Privatrechtsordnungen oder der mangelnden Abstimmung von Europarecht mit Internationalem Privatrecht. An manchen Stellen wiederum droht die offene See völlig zu verlanden, denn das nur an einzelnen konkreten Konfliktsituationen ausgerichtete Richtlinienrecht zerstört langfristig die innere Ausgewogenheit der nationalen Zivilrechtssysteme" 2 0 .
Dass Handlungsbedarf für eine umfassende europäische Regelgebung (auch) für Dienstleistungen besteht, ist eine sich deshalb immer stärker durchsetzende Erkenntnis. Z w a r bestünde eine Alternative zur Vereinheitlichung oder Anpassung der mitgliedstaatlichen Rechte in der Kreation eines europäischen Sonderrechts nur für grenzüberschreitende Dienstleistungen, nach Muster der auf transnationale Sachverhalte beschränkten einheitsrechtlichen Regeln des UN-Kaufrechts (CISG) 21 oder der Konvention von Ottawa über das internationale Factoring 2 2 . Dieser Weg erscheint aber weder praktikabel noch im Hinblick auf das Ergebnis erstrebenswert. Unpratikabel ist er, weil der EG selbst auch nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages die Kompetenz zur Schaffung eines solchen Sonderrechts fehlt 2 3 , die Mitgliedstaaten aber kaum die M ü h e n einer völkerrechtlichen Konvention zur Erreichung eines genuin europarechtlichen Ziels auf sich nehmen werden 2 4 . Und kaum jemand sieht es in der Sache als vorteilhaft an, wenn auf diese Weise eine neue Regelungsebene neben das für rein nationale Sachverhalte und solche mit bloßem Drittstaatenbezug weiter geltende nationale Recht tritt 2 5 .
Einheitliche Haftungsregeln sind hierbei nur ein Aspekt, allerdings ein sehr wichtiger 26 . Rechtliche Erwägungen gewinnen für die Beteiligten vor allem dann eine Bedeutung, wenn etwas schief läuft - insbesondere also dann, wenn der Schaden aus einer vermeintlich oder tatsächlich schlecht erbrachten Dienstleistung unter den Beteiligten zu verteilen ist. Auch wenn man beispielshalber nur die beiden bereits erwähnten Dienstleister Ärzte und Anwälte betrachtet, offenbart sich darin eine erhebliche wirtschaftliche Sprengkraft. Die 20 Bericht über die Annäherung des Zivil- und Handelsrechts der Mitgliedstaaten (KOM (2001) 398 - C5-0471/2001 - 2001/2187(COS)), A5-0384/2001), S. 10. Ähnliche Bilder hat zuvor schon Kotz, in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 151, benutzt. 21 Wiener UN-Übereinkomen über Verträge über den internationalen Warenkauf vom 11.4. 1980, BGBl. 1989 II, 588. 22 Unidroit-Übereinkomen von Ottawa über das internationale Factoring v. 28.5.188, BGBl. 1998 II, 172. 23 Sonnenberger, J Z 1998, 982 (985). 24 Vgl. Sonnenberger, RIW 2002, 489 (490). 25 Vgl. Sonnenberger, JZ 1998, 982 (985f.); v. Bar, FS Henrich, 1 (5). 26 Vgl. zur Bedeutung der Haftungsregeln für den Dienstleistungs-Binnenmarkt den Bericht der EU-Kommission vom 30.7. 2002 über den „Stand des Binnenmarkts für Dienstleistungen", (KOM (2002) 441 endg., oben Fn. 12), S.44f. ; Wägenbaur, ZRP 2002, 422 (423).
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Einleitung
Hochrechnung der Zahlen aus einer aktuellen Untersuchung in Großbritannien 27 lässt vermuten, dass etwa 1 0 % aller Patienten in britischen Krankenhäusern Schäden erleiden - nicht alle, aber doch ein sehr großer Anteil daran wird auf ärztliche Fehler zurückzuführen sein. Deutsche Krankenhäuser wendeten im Jahr 2 0 0 0 ca. DM 800 Mio. zur Schadensregulierung auf 2 8 . Hochrechnungen der Versicherungswirtschaft gehen von derzeit bis zu 35.000 Arzthaftpflichtfällen pro Jahr aus 2 9 , woraus sich ergibt, dass jährlich immerhin 7 % der deutschen Ärzte einem Behandlungsfehlervorwurf ausgesetzt sind 30 . Jedenfalls was die Zahl der Streitigkeiten anbelangt, die bis vor Gericht getrieben werden, soll die Lage bei Anwälten noch ernster sein: Gegen sie werden - nach allerdings bereits älteren Zahlen-jährlich doppelt so viele Regressklagen erhoben wie gegen Ärzte 31 . Was die den Anwaltsversicherern gemeldeten Schadensfälle (derzeit etwa 15.000 pro Jahr 3 2 ) betrifft, muss man wohl eher von einem Gleichstand mit der Ärzteschaft ausgehen, wenn man die Schadensmeldungen ins Verhältnis zur Zahl der jeweils praktizierenden Berufsträger setzt 33 . Die Schadenssummen können im Rahmen der Anwaltshaftung schnell in die zweistellige Millionenhöhe gehen; als deutscher Rekordhalter gilt ein Markenrechtsfall mit einem Schadensvolumen von DM 70 Mio 3 4 . Es ist deshalb keine Überraschung, dass (auch) die Unsicherheit über das jeweilige
Haftungsregime
Marktteilnehmer
daran
hindert,
grenzüberschreitend
Dienstleistungen anzubieten oder nachzufragen 3 5 . D e r Weg zu einer europaweit harmonisierten Haftung für die Folgen mangelhafter Dienstleistungen aber ist steinig. Der Vorschlag der Europäischen K o m mission für eine Richtlinie über die Haftung bei Dienstleistungen v o m 9 . 1 1 . 1 9 9 0 3 6 ist 1 9 9 4 nach heftiger Kritik aus den Mitgliedstaaten 3 7 förmlich zurück-
Vincent/Neale/Woloshynowych, 322 BMJ 517 (3.3. 2001). Bergmann, Arzthaftung, 2. 29 Katzenmeier, Arzthaftung, 41 m.w.N., Eblers/Broglie/Heidermann, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 313; etwas vorsichtiger Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 112 Rdnr.2: Jährlich 30.000 Fälle „mit steigender Tendenz". 30 Ehlers/Broglie/Heidermann, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 313; Krumpaszky/Sehte/Selbmann, VersR 1997, 420 (427); Katzenmeier, Arzthaftung, 43. 31 So Vollkommer, Anwaltshaftungsrecht, l.Aufl., S.VII. 3 2 So Kerscher, „Risiko Rechtsanwalt", Süddeutsche Zeitung vom 10.5. 2002. 33 Zugelassene Anwälte 2001: ca. 116.000 (NJW-Dokumentation Heft 36/2002, S. XXXVI); praktizierende Ärzte: über 250.000, so Katzenmeier, Arzthaftung, 43 (Das statistische Bundesamt beziffert für das Jahr 2000 die Zahl der „berufstätigen" Ärzte auf 294.676, vgl. http://www.destatis.de/basis/d/gesu/gesutab2.htm). Anders Ziegler, JR 2002, 265 (267) mit Fn.48, der unter Berufung auf Bohl, Anwaltsreport 9/2001, 14, meint, dass jeder Anwalt im Jahr mit „2-3 Regressforderungen konfrontiert" wird, womit die Haftungsquote deutlich über der der Ärzte liege. Allerdings dürfte es kaum vertretbar sein, die „Konfrontation" mit einer Regressforderung der Haftungsquote gleichzustellen. 34 Kerscher „Risiko Rechtsanwalt", Süddeutsche Zeitung vom 10.5. 2002. 3 5 Vgl. Bericht der EU-Kommission v. 30.7. 2002 über den „Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen" (KOM (2002) 441 endg., oben Fn. 12), 60, 73. 36 AB1.EG 1991 Nr. C 12/8. 37 Aus Deutschland etwa Frietsch, DB 1992, 929 (935f. m.w.N. in Fn. 1); Fahrenhorst, ZRP 1992, 60 (62f.); Heinemann, ZIP 1991, 1193 (1203f.); Skaupy, BB 1991, 2021ff.; weitere Nachweise bei Katzenmeier, Arzthaftung, 76 Fn. 2. 27 28
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Einleitung
gezogen w o r d e n 3 8 . Das Ziel des gemeinsamen Dienstleistungsmarktes als Teil des Programms zur Verwirklichung des Binnenmarktes wurde freilich nicht aufgegeben 3 9 . Es ist durchaus möglich, dass der europäische Gesetzgeber in absehbarer Zukunft einen neuen Anlauf versuchen w i r d 4 0 , zumal inzwischen hinsichtlich der parallelen Problematik der Haftung und Gewährleistung beim Warenk a u f die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Regelungen durch die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf 4 1 erfolgreich auf den Weg gebracht w u r d e 4 2 . Einstweilen jedoch werden die isolierten Versuche zur Regelung spezifischer vertragsrechtlicher Aspekte des Warenhandels und der Dienstleistungserbringung im Binnenmarkt durch ambitiösere Vorhaben in den Hintergrund gedrängt. D e n Ton geben zur Zeit die v o m Europäischen Parlament schon vor einiger Zeit aufgenommene Forderung nach einem Europäischen Zivilgesetzbuch 4 3 und der nur ein wenig bescheidenere R u f der Europäischen K o m m i s s i o n nach der Vorbereitung eines einheitlichen Vertragsgesetzbuches aus dem J a h r 2 0 0 1 4 4 an, der sich auf einen entsprechenden Auftrag des Europäischen Rates von T a m pere 1 9 9 9 zu Vorarbeiten zur „größeren Konvergenz im Bereich des Zivilrechts" stützt 4 5 . Eine Reihe von Vertretern der Rechtswissenschaft hatte solche Schritte Dok. KOM (94) 260 endg. Vgl. insbesondere den Bericht der EU-Kommission v. 30.7. 2002 über den „Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen" (KOM (2002) 441 endg., oben Fn. 12); zuvor schon Leible, Die Rolle der Rechtsprechung des EuGH bei der Entwicklung des europäischen Privatrechts, in: Martiny/Witzleb, Auf dem Weg zu einem Europäischen Zivilgesetzbuch (1999), 53 (55 Fn. 12). 4 0 Vgl. Hirte, Berufshaftung, 221; Hondius, FS Stoil, 185 (für spezifische Dienstleistungen wie ärztliche Versorgung). 4 1 AB1.EG Nr. L 171 v. 7.7. 1999, S.12. 4 2 Zur Richtlinie und deren Umsetzung ins deutsche Recht etwa Staudenmayer, NJW 1999, 2393; Reich, NJW 1999, 2397; kritisch zum Vorentwurf z.B. Medicus, ZIP 1996, 1925. 4 3 Die erste Resolution des Parlaments zu dieser Thematik datiert bereits vom 26.5. 1989 (Text u.a. in RabelsZ 56 (1992), 320, und in ZEuP 1993, 613); sie wurde wiederholt und bekräftigt am 6.5. 1994 (EuZW 1994, 612; ZEuP 1995, 669; AB1.EG 1994 Nr. C 158/400-401) und erneut am 15.11. 2001 (ZEuP 2002, 634; vgl. dazu v. Bar, ZEuP 2002, 629). 4 4 So jedenfalls wird die „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum europäischen Vertragsrecht" vom 11.7.2001, KOM (2001) 398 endg., ABl.EG 2001 Nr. C 255/1, zumeist verstanden, obwohl sie formal und inhaltlich den Charakter eines ergebnisoffenen Konsultationsdokuments zu wahren sucht, vgl. Schulte-Nölke, JZ 2001, 917; zur Mitteilung der Kommission weiterhin etwa Grundmann, NJW 2002, 393; Leible, EWS 2001, 471; Staudenmayer, EuZW 2001, 485; weitere Reaktionen sind über die Internet-Seite http://europa.eu.int/comm/consumers/policy/developments/contract_law/comments/index_en. html abrufbar. Der Mitteilung ist inzwischen ein „Aktionsplan" gefolgt (KOM (2003) 68 endg. v. 12.2. 2003, ZEuP 2003, 656; dazu Staudenmayer, EuZW 2003, 165; Najork/Schmidt-Kessel, GPR 2003/2004, 5), in dem die Kommission u.a. die Ausarbeitung eines „Gemeinsamen Referenzrahmens" fordert, der allgemeine Begriffe wie „Vertrag" und „Schaden" definiert und grundlegende Prinzipien des europäischen Vertragsrechts niederlegt. Zudem wird die Idee lanciert, ein „optionales" Europäisches Vertragsgesetz zu schaffen; kritisch dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1. 38
39
4 5 Europäischer Rat vom 15.16.10.1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzenden, SI (1999) 800, Nr. VII.39.
Einleitung
7
bereits früher propagiert und mit rechtsvergleichenden Arbeiten oder der V o r b e reitung einschlägiger E n t w ü r f e b e g o n n e n 4 6 ; zu nennen sind hier insbesondere die Ergebnisse der L a w d o - K o m m i s s i o n zu den gemeinsamen Prinzipien des Vertragsrechts in E u r o p a 4 7 , die von Jaap Spier ins L e b e n gerufene E u r o p e a n G r o u p o n T o r t L a w (ehemals Tilburg
Group)
zur E r f o r s c h u n g der „Principles o f E u r o -
pean T o r t L a w " 4 8 , die umfangreiche rechtsvergleichende Studie zum „ G e m e i n europäischen D e l i k t s r e c h t " unter der Leitung von v. Bar49, European
Civil Code50
die Study Group
on a
und schließlich der 2 0 0 1 veröffentlichte erste B a n d des
Vorentwurfes der A k a d e m i e E u r o p ä i s c h e r Privatrechtswissenschaftler für einen „ C o d e E u r o p é e n des C o n t r a t s " 5 1 . M i t dem neuerlichen A n s t o ß durch die europäischen Institutionen ist die Diskussion praktisch u n ü b e r s e h b a r g e w o r d e n 5 2 . 4 6 Umfassender Überblick über die internationalen Wissenschaftlergruppen, die an der Privatrechtsvereinheitlichung in Europa arbeiten, bei Wurmnest, ZEuP 2003, 714. 47 Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Parts 1 & 2 (2000), Lando/ Clive/Priim/Zimmermann (Hrsg.) Principles of Eoropean Contract Law, Part 3 (2003). 4 8 Näheres zu dieser Initiative bei Spier/Haazen, ZEuP 1999, 469, und im Internet unter http://civil.udg.es/tort/ Bisherige Publikationen dieser Gruppe: Spier (Hrsg.), The Limits of Liability (1995); Spier (Hrsg.), The Limits of Expanding Liability (1998); Koziol (Hrsg.), Unification of Tort Law: Wrongfulness (1998); Spier (Hrsg.), Unification of Tort Law: Causation (2000); Magnus (Hrsg.), Unification of Tort Law: Damages (2001); Koch/Koziol (Hrsg.), Unification of Tort Law: Strict Liability (2002). 49 v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd.I (1996), Bd.II (1999). 5 0 Hierzu näher v. Bar, FS Henrich, 1. 51 Gandolfi (Coordinateur), Academia dei Giusprivatisti Europei, Code Européen des Contrats, Avant-Projet, Livre Premier; deutscher Text veröffentlicht in ZEuP 2002, 139 und 365. Zu diesem Projekt in der deutschen Literatur etwa Sonnenberger, RIW 2001, 409; Sturm, J Z 2001, 1097; Kramer, RabelsZ 66 (2002), 781; Patti, ZEuP 2004, 118. 5 2 Umfangreiche Nachweise zur Literatur bis 1999 im von Hondius bearbeiteten Anhang zu v. Bar, Die Study Group on a European Civil Code, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäisches Zivilgesetzbuch, 135 (140ff.), http://www.europarl.eu.int/workingpapers/juri/pdf/103_de.pdf. Neuere Stellungnahmen insbesondere in der deutschen und französischen Literatur (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Ajani, Gianmaria/Schulze, Reiner (Hrsg.), Gemeinsame Prinzipien des Europäischen Privatrechts - Common Principles of European Private Law; Bandel/Bode/Wicke, MittBayNot 2002, 99 (Tagungsbericht); v.Bar, ZEuP 2001, 799; v.Bar/Eando/Swann, ERPL 2002, 183; Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000); ders., AcP 200 (2000), 445; ders., ERPL 2001, 35; ders. ZEuP 2004, 1; ders., JuS 2004, 89; Berger, ERPL 2001, 21; ders., ZEuP 2001, 4; Bernardeau/Schulte-Nölke/Scbulze (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht; Cornu, D. 2002 Chr. 351; Flessner, J Z 2002, 14; Grundmann/Hirsch, NJW 2001, 2687; Grundmann, JuS 2001, 946; ders., ERPL 2001, 505; ders. NJW 2002, 393; Heiss, FS Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, 123; Hesselink, Vol. 6.4 EJCL (Dezember 2002); Heutger, Vol. 7.3 EJCL (September 2003); van Hoecke/Ost (Hrsg.), The Harmonisation of European Private Law (2000); Hübner, FS Großfeld, 471 -Jansen, ZEuP 2001, 30; Kötz, J Z 2002,257; ders., ZEuP 2 0 0 2 , 4 3 1 (434); Koziol, JB1.2001,29; Lando, RIW 2 0 0 3 , 1 -,Leible, EWS 2 0 0 1 , 4 7 1 ; ders., Wege zu einem Europäischen Privatrecht; Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union; Malaurie, JCP 2 0 0 2 1 1 1 0 ; Martiny u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einem europäischen Zivilgesetzbuch; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts; W.-H. Roth, in: Ernst/Zimmermann (Hrsg.),
8
Einleitung
Der von der EU-Kommission am 1 3 . 0 1 . 2 0 0 4 vorgelegte Vorschlag für eine RahmenRichtlinie „über Dienstleistungen im Binnenmarkt" 5 3 hält sich insoweit in diesem Trend in Richtung einer großen, branchenübergreifenden Lösung, als er keine harmonisierenden oder gar rechtsvereinheitlichenden Maßnahmen speziell für das Vertragsrecht der Dienstleistungserbringung vorsieht, sondern den Akzent auf den Abbau administrativer Hürden für den Dienstleister und die Durchsetzung des Herkunftslandsprinzips einschließlich seiner Ausnahmen setzt. M a n c h e bezweifeln o b der H ö h e der H ü r d e n , dass die Z e i t für eine g e m e i n e u r o päische K o d i f i k a t i o n des Privat- oder a u c h „ n u r " des Vertragsrechts bereits reif i s t 5 4 . Sie befürworten stattdessen eine Vereinheitlichung „ v o n u n t e n " , eine „aut o - h a r m o n i z a t i o n f r o m b e l o w " 5 5 . „ S c h l e i c h e n d e " K o n v e r g e n z - P r o z e s s e 5 6 in der E n t w i c k l u n g der n a t i o n a l e n R e c h t e sollen z u m „Einheitsrecht durch Evolutio n " 5 7 , zu einem ius commune
europaeum
führen. Einige A u t o r e n fühlen sich o b
dieser Lagerbildung an den Kodifikationsstreit zwischen Tbibaut e r i n n e r t 5 8 . S o wie aber Savigny
und
Savigny
weniger die K o d i f i k a t i o n grundsätzlich a b l e h n t e
als vielmehr die Bedingungen für ein gutes
allgemeindeutsches G e s e t z b u c h in sei-
ner Z e i t (noch) v e r m i s s t e 5 9 , so sind a u c h Versuche, für spezifische P r o b l e m e , „ v o n u n t e n " , im rechtsvergleichenden D i a l o g der R e c h t s o r d n u n g e n und im W e ge der „international b r a u c h b a r e n A u s l e g u n g " 6 0 n a t i o n a l e r R e c h t s v o r s c h r i f t e n , eine L ö s u n g zu finden, die über n a t i o n a l e Grenzen hinaus akzeptabel ist, kein Gegensatz zum Ziel der K o d i f i k a t i o n , sondern eine notwendige vorbereitende E t a p p e 6 1 . Bei allen M e i n u n g s u n t e r s c h i e d e n über die Details des einzuschlagen-
Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, 225; Schmid, JZ 2001, 674; Schlechtriem, ZEuP 2002, 213; Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481; Schulte-Nölke, J Z 2001, 917; Schurig, FS Großfeld, 1089; Schwintowski, J Z 2002, 205; Snijders, Vol. 7.4 EJCL (November 2003); Sonnenberger, RIW 2002, 489; Staudenmayer, EWS 2001, 485; ders., EuZW 2002, 481; ders., ERPL 2002, 249; Staudinger, VuR 2001, 353; Van den Bergh, FS Ott, 327. 5 3 KOM (2004) 2 endg. 5 4 Skeptisch bis ablehnend zur europäischen Zivilrechtsvereinheitlichung z.B. Cornu, D. 2002 Chr. 351; Legrand, (1997) 60 MLR 44; Markesinis, ERPL 1997,519; Sandrock, J Z 1996, 1 (8); Schulze, ZEuP 1993, 442 (473). 5 5 Begriff von Kramer, FS Koller, 729 (748), der selber allerdings die diesbezügliche Hoffnung als „trügerisch" bezeichnet. 5 6 Vgl. zu diesem Begriff Berger, Formalisierte oder „schleichende" Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts; in Bezug auf die europäische Rechtsvereinheitlichung ders., ZEuP 2001, 4 (5); 5 7 So der Titel eines Aufsatzes von Luther, RabelsZ 45 (1981), 253. 58 Zimmermann, (1994/95) 1 Columbia Journal of European Law 63, 81; Berger, ZEuP 2 0 0 1 , 4 ; Schwintowski, J Z 2002, 205 (206); Kötz, J Z 2002, 257; ders., ZEuP 2 0 0 2 , 4 3 1 (434). 5 9 Vgl. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 49, 52. 6 0 Konzept und Begriff der „international brauchbaren Auslegung" stammen von Klaus Peter Berger, vgl. ders., FS Sandrock, 49 (52ff.); Berger, Formalisierte oder „schleichende" Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts, 174 ff. 6 1 Vgl. den „Aktionsplan" des Europäischen Parlaments in seiner Resolution vom 15.11. 2001 zur Annäherung des Zivil- und Handelsrechts der Mitgliedstaaten, ZEuP 2002, 634, Nr. 14 a.: ,,[B]is Ende 2 0 0 4 : . . . Förderung der vergleichenden Rechtsforschung und Zusammen-
Einleitung
9
den Weges zeichnet sich auch unter den Anhängern der Kodifikationsidee immer mehr eine Einigkeit zumindest darüber ab, dass der „große W u r f " nur mit gründlichen Vorarbeiten auf nationaler und rechtsvergleichender Ebene gelingen kann - der mangelnde Erfolg schon des „kleinen W u r f s " der Dienstleistungshaftungsrichtlinie, der gerade in der Vernachlässigung dieses Aspektes begründet ist, bietet ein mahnendes Beispiel. Vor weitgreifenden legislatorischen M a ß n a h men auf europäischer Ebene, für die im Übrigen die Kompetenz der Gemeinschaft nicht zweifelsfrei feststeht 6 2 , ist zu ergründen, auf welchen Gemeinsamkeiten der nationalen Rechtsordnungen aufgebaut werden k a n n - oder welche Unterschiede überwunden werden müssen, um einen (im Falle der Dienstleistungshaftung: zweiten) Rückzug zu vermeiden. „ [ M ] a n y issues have to be solved before true harmonisation will s u c c e e d " 6 3 . N u r auf einem gut befestigten Weg kann es gelingen, neue Regelwerke mit der D o g m a t i k nationaler Rechtsordnungen in Einklang bringen, um europaweite Akzeptanz zu gewinnen. Aus dieser Überzeugung leitet sich das Programm dieser Arbeit ab: Zunächst ist der gegenwärtige Ansatz in der deutschen Rechtspraxis zum Umgang mit unklaren Kausalverläufen im R a h m e n der Schadenersatzhaftung von Dienstleistern auf seine Tragfähigkeit zu untersuchen. Wie zu zeigen sein wird, steht es um diese nicht zum Besten: M i t ihrer Kompliziertheit und ihren subtilen, in der Sache fragwürdigen Differenzierungen, die zu beliebig wirkenden Ergebnissen führen, steht die deutsche Lösung in Europa wohl zu Recht völlig isoliert da. Unter Einbeziehung rechtsvergleichender Perspektiven sollen sodann neue Möglichkeiten im deutschen Recht eruiert werden, die, gerade weil ihnen der Blick über die Grenzen vorausgeht, gleichzeitig die Basis für eine Diskussion einheitlicher Regeln in Europa bilden k ö n n e n 6 4 . Kernstück wird dabei die Frage sein, ob, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen das Problem unaufklärbarer Kausalität durch die Figur der Haftung für eine verlorene Chance in die Schadensbewertung verlagert werden kann.
arbeit zwischen allen interessierten Kreisen...; diese Zusammenarbeit sollte darauf abzielen, gemeinsame rechtliche Begriffe und Lösungen ... der fünfzehn mitgliedschaftlichen Rechtsordnungen zu finden, die auf freiwilliger Basis angewendet werden können . . . " . 6 2 Vgl. Sonnenberger, RIW 2 0 0 2 , 4 8 9 (490); Stathopoulos, ZEuP 2 0 0 3 , 243; Basedow, JuS 2 0 0 4 , 89 (92). 63 Hondius, FS Stoll, 185 (194, zum Arzthaftungsrecht). Treffend Scbulte-Nölke, J Z 2 0 0 1 , 917 (920): „Entscheidendes Gewicht muss auf der Vereinbarkeit der europäischen Rechtsetzung mit den einzelnen Privatrechtsordnungen liegen... Soweit die rechtsvergleichenden Arbeiten partikulare Besonderheiten oder insgesamt nur geringe Ähnlichkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, sollte stets eine Lösung gesucht werden, die neben der Wertungs- und Systemrichtigkeit auf der europäischen Ebene auch die Kompatibilität mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Ziel hat." 6 4 Der Richtlinienvorschlag von 1990 begnügt sich in seinem Art. 5 mit dem Hinweis auf die allgemeine Grundregel, dass dem Geschädigten der Nachweis für den Kausalzusammenhang zwischen Dienstleistung und Schaden obliegt. Vgl. dazu Baumgärtel, J Z 1992, 321 (322, 323).
10
Einleitung
Die Wahl der Ausgangsfälle deutet bereits an, dass die Aufklärung des Ursachenzusammenhangs zwischen der fehlerhaften Dienstleistung und dem Schaden des Dienstleistungsempfängers am häufigsten im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht Schwierigkeiten macht, weshalb sich dort bereits heute die ausgefeiltesten Regeln finden. Diese Fallgruppen stehen denn auch im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen, ohne dass die Arbeit sich auf sie beschränkt. Wenn es zutrifft, dass Fortschritt bedeutet, Kombinationen zu finden, in denen sich Bekanntes zu einer überlegenen Lösung zusammenfindet 65 , dann ist es die Hoffnung des Autors, mit dieser Arbeit einen kleinen „progressiven" Beitrag zu leisten.
65
Grundmann,
N J W 2002, 393 (396).
1. Kapitel
Begriffsklärung, Problemstellung und Gang der Darstellung Einleitend werden die für die Arbeit zentralen Begriffe der Dienstleistung (§ 1) und der Kausalität (§2) umrissen. Sodann werden die Fallgestaltungen unaufklärbarer Kausalität umschrieben, deren Behandlung den Gegenstand der Arbeit bildet (§3). Das Kapitel wird abgeschlossen von einem knappen Überblick über den Weg, den die Arbeit dabei einschlägt (§4).
11
Der Begriff der
Dienstleistung
Wenig Anteil am traurigen Schicksal des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie zur Dienstleisterhaftung hatte ihr Art. 2 Abs. 1, der den Begriff der „Dienstleistung" definiert: .„Dienstleistung' im Sinne dieser Richtlinie ist jede im R a h m e n einer gewerblichen Tätigkeit oder eines öffentlichen Dienstes in unabhängiger Weise erbrachte entgeltliche oder unentgeltliche Leistung, die nicht unmittelbar und ausschließlich die Herstellung von Gütern oder die Übertragung dinglicher Rechte oder von Urherberrechten zum Gegenstand hat"1.
Diese „negative" Begriffsbestimmung anhand des Ausschlusses dessen, was nicht zur Dienstleistung gehört, bewegt sich angesichts der bislang noch in keiner Rechtsordnung gelungenen „positiven" Definition der Dienstleistung in bekannten Bahnen 2 . Sie ist auch im deutschen Zivilrecht einsetzbar, wenn man davon absieht, dass dieses ein restriktives Verständnis der „gewerblichen Tätigkeit" hat, welches die freien Berufe außen vor lässt 3 . Diese stellen freilich einen Kernfaktor in der modernen Dienstleistungsgesellschaft dar und sollten deshalb nach den Vorstellungen der Kommission von der Richtlinie erfasst werden, wie man auch der Ergänzung um das Merkmal der „in unabhängiger Weise" erbrachten Leistung entnehmen kann 4 . Die „unabhängige" und „gewerbliche" Leistung bezeichnet jedwede unternehmerische Tätigkeit in Abgrenzung zu rein 1
AB1.EG 1991 Nr. C 12/8. Der deutscher Text ist auch in Littbarski (Hrsg.), Entwurf einer Richtlinie über die Haftung bei Dienstleistungen, 120ff., abgedruckt. 2 Vgl. Maniet, in: Littbarski (Hrsg.), Entwurf einer Richtlinie über die Haftung bei Dienstleistungen, 15: „Définition traditionnelle". 3 Baumbach/Hopt, HGB, § 1 Rdnr.12, 19 m.w.N. 4 Vgl. Hirte, Berufshaftung, 223.
12
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung und Gang der Darstellung
„privaten", das heißt abhängigen Dienstleistungen. Die Richtlinie schließt also nicht freiberufliche Tätigkeiten, sondern von Arbeitnehmern erbrachte Dienste aus 5 . Schließt m a n sich mit dieser Klarstellung der Definition des Richtlinienvorschlags an, tritt für die vorliegende Arbeit die ganze Bandbreite der a m M a r k t angebotenen Dienstleistungen ins Blickfeld. Erfasst sind die rechts- und steuerberatenden Berufe und der Gesundheitsbereich, Architekten und Wirtschaftsprüfer, Transporteure und Privatlehrer, Gutachter und Finanzberater, Dolmetscher und Detektive, M a k l e r und Marketingagenturen. Der Richtlinienentwurf sollte nach seinem Art. 4 den Dienstleistungsempfänger nur vor Personen- und Sachschäden schützen. Uber diesen engen Schadensbegriff wurden trotz der weiten Definition der Dienstleistungen selbst solche Dienstleister ausgeklammert, deren Fehlleistungen in der Regel ausschließlich zu Vermögensschäden führen, wie etwa Finanz-, Anlage- oder Versicherungsberater6 und auch Rechtsanwälte 7 . Die vorliegende Arbeit ist freilich nicht an die begrenzte Zielsetzung der Richtlinie und deshalb auch nicht an diese mittelbare Ausgrenzung großer Teile des Dienstleistungssektors gebunden.
§ 2 Die Kausalität Wird Schadenersatz gefordert, sei es auf vertraglicher, sei es auf deliktischer Basis, muss ein Ursachenzusammenhang zwischen der Handlung oder dem Unterlassen des vermeintlichen Schädigers und dem Schaden bestehen. Dies ist ein universell geltendes Prinzip 8 ; die Meinungen und Lösungen in den verschiedenen Rechtsordnungen gehen erst dann auseinander, wenn es gilt, die weiteren Voraussetzungen zu benennen, die über die „faktische" oder „ r e a l e " Kausalität hinaus erfüllt sein müssen, um den Schaden dem T ä t e r zurechnen zu k ö n n e n 9 . Vgl. Hirte, Berufshaftung, 223 m.w.N. Vgl. Kommissionsbegründung zum Richtlinienentwurf, Art. 2 Rdnr. 1, Art. 4 Rdnr. 1 f., KOM [90] 482 endg. - SYN 308 v. 20.12. 1990, abgedruckt in Littbarski (Hrsg.), Entwurf einer Richtlinie über die Haftung bei Dienstleistungen, 125 ff. 7 Maniet, in: Littbarski (Hrsg.), Entwurf einer Richtlinie über die Haftung bei Dienstleistungen, 16. 8 So auch Brüggemeier, Prinzipien des Haftungsrechts, 50f.; begrenzt auf Europa v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd.II, Rdnr.411. Man kann die Verwunderung verstehen, mit der Rogers auf die in einem Fragebogen der European Group on Tort Law enthaltene Frage „Is there a requirement of,causation' in your law?" reagiert hat: „I do not see how a system of tort law can operate without some linkage between the plaintiff's loss and some act etc. of the defendant from whom damages are claimed" (Rogers, in: Spier (Hrsg.), Unification of Tort Law: Causation, 39). 9 Zur Adäquanztheorie und Zurechnungskriterien wie Rechtswidrigkeitszusammenhang und Schutzzweck im deutschen Recht etwa Schiemann, Schadensersatz, § 3 VI-IX; zu Versuchen im common law, eine zur factual causation hinzutretende Kategorie der proximate cause oder der legal causation zu entwickeln, vgl. Honoré, Causation and Remoteness of Damage, International Encyclopedia of Comparative Law, Bd. 11, chap. 7, 4; Markesinis/Deakin, Tort 5
6
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines
Dienstleisters
13
Ebenso universell anerkannt ist die gebräuchliche „Faustregel" 10 zur Feststellung der Kausalität, mag sie auch unterschiedliche Etikette wie conditio sine qua non11 oder but-for fest12 tragen. Eine Handlung gilt als ursächlich, wenn sie unter im Übrigen gleichen Bedingungen nicht hinweg gedacht werden könnte, ohne dass der geltend gemachte Schaden in seiner konkreten Form entfiele; wird dem Anspruchsgegner ein pflichtwidriges Unterlassen vorgeworfen, wird umgekehrt die geforderte Handlung hinzu gedacht 13 . Nur in Randbereichen, die die Praxis selten, die Theorie umso häufiger bewegt haben, versagt diese Fragestellung schon im Ansatz und müssen andere Wege gesucht werden 14 . In den hier interessierenden Fallgestaltungen ist es allerdings nicht die Fragestellung, die Schwierigkeiten macht, sondern die Antwort mit einem klaren „Ja" oder „Nein". Deshalb kann es hier bei der Conditio-Formel bleiben. Es sind gerade in jüngerer Zeit mehrere Werke erschienen, die sich in grundlegender Weise mit der Kausalität und ihrem Nachweis im Prozess beschäftigen 1 5 . Die vorliegende Arbeit möchte nicht zu ihnen in Konkurrenz treten, sondern setzt dort ein, w o sie enden: Welche Lösungsmöglichkeiten bestehen, w e n n trotz großer Anstrengungen und unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnisse in der Natur- u n d Rechtswissenschaft eine Klärung der Kausalitätsfrage nicht gelingt?
§ 3 Kausalitätszweifel eines
bei der Schadenersatzbaftung Dienstleisters
I. Dienstleisterhaftung: Anfällig für Kausalitätszweifel Haben Dienstleister in Ausübung der ihnen vom Klienten übertragenen Tätigkeit einen Fehler gemacht, so ist nicht selten schwer zu ergründen, welche konkreten Folgen daraus entstanden sind. Exemplarisch sind die bereits in der Einleitung genannten Anwälte und Ärzte: Ob der Anwalt für seinen Mandanten den Prozess gewinnt oder eine außerprozessuale Angelegenheit zu einem guten Ende Law, 185, 201 ff.; McGregor, On Damages, Rdnr. 136ff.; Wright, (1985) 73 Cal.L.Rev. 1735, 1741ff. Ein Überblick zu den europäischen Ansätzen findet sich in v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. II, Rdnr. 448 ff. 10 Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 III (S.79); Musielak, Z Z P 111 (1998), 385 (389). 11 Statt aller Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 III (S.79). 12 Statt aller Markesinis/Deakin, Tort Law, 185; Vos, (2001) 60 CLJ 337. 13 Statt aller Larenz, Schuldrecht I, § 2 7 III c) (S.457). 14 Das gilt insbesondere dann, wenn ein Zustand durch zwei oder mehr Vorgänge herbeigeführt wird, die jeder für sich allein als Ursache genügt hätten. Zur alternativen und kumulativen Kausalität vgl. Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 XII; Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 89f. 15 Insbesondere Mummenhoff, Erfahrungssätze im Bereich der Kausalität; Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß.
14
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
führt, hängt nicht nur davon ab, dass er nichts falsch macht. Im Prozess ist der Parteivertreter darauf angewiesen, dass bei einem streitigen Sachverhalt eine eventuelle Beweisaufnahme seine Version stützt und das Gericht (möglicherweise am Ende eines langen Instanzenzuges) für ihn günstige rechtliche Überlegungen anstellt - wie unsicher beides ist, braucht nicht betont zu werden. Außerprozessual ist die schwer messbare Stärke der Position im Verhältnis zum Verhandlungspartner und dessen ebenso schwer messbare Kooperationsbereitschaft ein wichtiger Faktor. Wer vermag im Nachhinein mit Sicherheit zu sagen, ob die andere Seite tatsächlich einer für sie ungünstigeren Vertragsklausel zugestimmt hätte, hätte nur der Anwalt daran gedacht, sie zum Schutz der Interessen seines Mandanten ins Spiel zu bringen? Der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen der Pflichtwidrigkeit und dem Schaden ist deshalb „die Hürde schlechthin" 16 im Anwaltshaftungsprozess, an der der Regressanspruch des Mandanten nicht selten zu scheitern droht 17 . Beim Arzt liegt es ähnlich, ja vielleicht noch gravierender. Die Komplexität des individuellen menschlichen Organismus' und die Unwägbarkeit seiner Reaktionen auf äußere Einwirkungen 18 , verbunden mit immer noch in vielen Bereichen unzureichendem Wissen über die Wirkungsweise bestimmter Substanzen sowie über medizinisch-biologische Kausalzusammenhänge, bringt es mit sich, dass die Beurteilung, ob ein verschlechterter Gesundheitszustand die Folge einer fahrlässig unterlassenen, falschen oder verspäteten Behandlung ist oder auch bei pflichtgemäßem Handeln eingetreten wäre, ex post oft zumindest sehr schwer fällt. Schärfer formuliert das Bundesverfassungsgericht: ,,[W]egen der tatsächlichen Gegebenheiten einer Heilbehandlung" treten solche Beweisschwierigkeiten „üblicherweise" auf, ja sind geradezu eine „typische Situation" 19 . Dies mag übertrieben sein. Richtig ist aber wohl, dass innerhalb des Bereichs der Dienstleisterhaftung die Aufklärung des Ursachenzusammenhangs in der Arzt- und Anwaltshaftung am häufigsten Schwierigkeiten macht, weshalb es nicht überrascht, dass sich hier zahlenmäßig das reichhaltigste Rechtsprechungsmaterial und die stärkste Diskussion im Schrifttum findet. Deshalb räumt auch die vorliegende Arbeit diesen beiden Bereichen den größten Raum ein. Aber auch bei anderen Dienstleistungen können leicht Zweifel daran entstehen, ob der vom Klienten geltend gemachte Schaden tatsächlich auf die schlechte Leistung des Dienstleisters zurückzuführen ist. Man denke nur an den verspätet abgeschlossenen Transport eines bei den Buchmachern favorisierten Pferdes zu einem Wettrennen: Welcher Preis ist dem Gestüt dadurch entgangen?
Chab/Bräuer, BRAK-Mitt. 2 0 0 1 , 162. Fischer, in: Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung, Rdnr. 1043. 1 8 Vgl. Gross, FS Geiß, 4 2 9 . 1 9 BVerfG N J W 1979, 1925 (Abweichende Meinung der Richter Zeidler, Hirsch, und Steinberger). 16 17
Niebier
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines Dienstleisters
15
II. D i e v o n d e r D a r s t e l l u n g e r f a s s t e n F ä l l e d e r K a u s a l i t ä t s z w e i f e l Die obige Schilderung von „typischen" Situationen, in denen im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht Probleme bei der Feststellung der Kausalität bestehen, steckt den R a h m e n für die vorliegende Arbeit ab. Sie will, wie oben bereits angedeutet, nicht die Grundlagen der Kausalität und ihrer Ermittlung im Prozess behandeln. Hierzu gibt es reichhaltige Literatur 2 0 . Es geht vielmehr „ n u r " um die Behandlung der Fälle, in denen - verkürzt gesagt - im Prozess die Kausalitätsfeststellung nicht gelingen kann (unten 1.), ohne dass dies einer der Parteien zum Vorwurf zu machen ist (unten 2 . ) . In diesem Z u s a m m e n h a n g ist zu klären, o b der v o m Dienstleister häufig erhobene und fast ebenso häufig schwierig zu belegende oder entkräftende Einwand, durch pflichtgemäßes Verhalten hätte der Schaden nicht vermieden werden können, die Kausalität oder ein anderes Tatbestandsmerkmal der Schadenersatzhaftung betrifft (unten 3.); die gleiche Frage stellt sich auch für die Berufung auf die „hypothetische" Kausalität oder „Reserveurs a c h e n " (unten 4.). Zweifel über die Verursachung eines Schadens durch den Dienstleister sind schließlich abzugrenzen von einer bloßen Unsicherheit über den Umfang eines ohne Zweifel dem Dienstleister zuzurechnenden Schadens (unten 5.).
1. Unbehebbare
Unsicherheit über den
Kausalzusammenhang
Die Feststellung des Ursachenzusammenhangs kann
nicht gelingen, wenn die
Unsicherheit über den Kausalverlauf auch durch eine noch so umfassende und gründliche Aufklärung des jeweiligen konkreten Sachverhalts im Prozess nicht zu beseitigen ist. Das gilt nicht in den Verfahren, in denen zwar die beweisbelastete Partei nicht in der Lage ist, den Beweis zu führen, ihrem Gegner
aber Infor-
mationen zur Verfügung stehen, welche eine Aufklärung ermöglichen k ö n n t e n . Diesem
Problem ist durch materiellrechtliche Auskunftsansprüche 2 1 oder mit-
tels prozessualer Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten der Gegenseite zu begegnen. Ein für Kausalitätszweifel relevantes Beispiel für einen materiellrechtlichen Auskunftsanspruch zur Vorbereitung von Haftungsansprüchen findet sich etwa im neuen Arzneimittelrecht. Zwar muss der möglicherweise durch ein Arzneimittel Geschädigte nach § 84 Abs. 2 AMG n.F. 2 2 lediglich nachweisen, dass das ihm verabreichte Arzneimittel nach den Gege2 0 Über die in Fn. 15 bereits Genannten hinaus monographisch etwa Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung; Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit. 21 Vgl. Winkler von Mohrenfels, Abgeleitete Informationsleistungspflichten im deutschen Zivilrecht (1986); Peters, FS Schwab, 399 (405); S.Lorenz, JuS 1995, 569; Bürge, FS Lüke, 7 (zum Kupolofenfall). Zur Diskussion um den „komplementären" Gegen-Auskunftsanspruch des Auskunftsverpflichteten gegen den Auskunftsberechtigten v.Hartz/Schuster, VersR 2003, 1366. 2 2 Eingeführt durch das Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz, BGBl. 2002 I, 2674;
16
1. Kapitel: Begriffsklärung, Problemstellung und Gang der Darstellung
benheiten des Einzelfalls geeignet ist, den geltend gemachten Schaden zu verursachen. Gelingt ihm das, so wird vermutet, dass der Schaden tatsächlich durch dieses Arzneimittel verursacht ist. Doch auch der Nachweis der Eignung zur Schadensverursachung kann schwierig sein. Die Kausalitätsvermutung wird deshalb durch den Auskunftsanspruch des § 84 a Abs. 1 A M G 2 3 ergänzt. Soweit der Geschädigte nicht über die notwendigen Erkenntnisse verfügt, um die Eignung des Medikaments zur Verursachung seines Schadens beurteilen und im Streitfall darlegen zu können, wird er mittels des Auskunftsanspruchs in die Lage versetzt, an die insoweit notwendigen Informationen zu gelangen 24 . Der Geschädigte kann vom pharmazeutischen Unternehmer Auskunft verlangen über Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen des Medikaments einschließlich bloßer diesbezüglicher Verdachtsfälle sowie über „sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Bedeutung sein können". Auf einer anderen Ebene liegen prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten. Sie sind seit der Zivilprozessreform 2002 punktuell in der ZPO geregelt (vgl. §§142 Abs. 1, 144 Abs. 1 S.2, 371 Abs. 2, 428 ZPO) 2 5 . Eine stärker werdende Strömung in der Literatur befürwortet darüber hinaus eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht 2 6 , nach der unter bestimmten Voraussetzungen die nicht beweispflichtige Partei gehalten ist, alle ihr möglichen und zumutbaren Aufklärungsbeiträge zu leisten, auch und gerade dann, wenn von diesen Bemühungen die Gegenseite profitiert. Der BGH 2 7 und die herrschende Meinung in der Literatur 28 sehen dies noch skeptisch („Nemo tenetur edere contra se"); die Hoffnung der „Neuerer" ist, dass sich - nach dem bekannten Diktum von Schlosser die „lange deutsche Reise in die prozessuale Moderne" 2 9 verzögern, aber nicht aufhalten lässt 30 .
Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind diese Auskunfts- und Aufklärungspflichten der besser positionierten Partei nicht. Hier geht es vielmehr um die Konstellationen, in denen der Dienstleister mit seiner Pflichtverletzung einen Geschehensablauf in Gang gesetzt hat, über dessen Entwicklung ohne den Fehler im
dazu etwa Wagner, NJW 2002, 2049; speziell zur Neuregelung des Arzneimittelhaftungsrechts Wagner, VersR 2001, 1334. 23 Eingeführt durch das Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz, BGBl. 2002 I, 2674. 24 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 14/7752, S.20. 25 Zur Pflicht zur Vorlage von Urkunden nach § 142 Abs. 1 ZPO näher Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129. 26 Grundlegend Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses; s. auch ders., ZZP 98 (1985), 237; ders., ZZP 104 (1991), 208; ders., FS Stoll, 691 (699). Vgl. ferner Schlosser, JZ 1991, 599; Peters, FS Schwab, 399; S.Lorenz, ZZP 111 (1998), 35; Wagner, ZEuP2001,441 (463i(.);Katzenmeier,]Z2002,533; Coester-Waltjen,]\JKA 1996, 608 (609). Aus der Kommentar-Literatur: MünchKommZPO/Peters, §138 Rdnr.22; Musielak/Stadler, §138 Rdnr. 11. 27 Vgl. BGH NJW 2000, 1108 (1109); BGH NJW 1999, 2887f.; BGH NJW 1990, 3151; BGHZ 116, 47 (56); BGH NJW 1958, 1491. 28 Etwa Stein/]onas/Leipold, § 138 Rdnr. 22f.; Arens ZZP 96 (1983), 1 (10ff.); Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 137ff.; MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr. 125; Zöller/Vollkommer, Einl. Rdnr. 55; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, §117 VI 2; weitere Nachweise bei Katzenmeier, JZ 2002, 533 (534 Fn.23). 29 Schlosser, JZ 1991, 599. 30 Katzenmeier, JZ 2002, 533 (540).
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines
Dienstleisters
17
Nachhinein selbst dann keine sichere Aussage mehr getroffen werden kann 31 , wenn alle Beteiligten die ihnen zugänglichen Informationsquellen ausschöpfen. Hogg spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „inherent uncertainty about the way things would have been in the absence of the defender's negligence" 3 2 . Man mag das als „unüberbrückbare Informationslücken" bezeichnen 33 , die ihrerseits unterschiedliche Ursachen haben können. a) Wissenschaftliche
Erkenntnislücken
Der Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Schädigers und dem Schaden entzieht sich der sinnlichen Wahrnehmung, ist eine „Beziehung zwischen Ereignissen ohne äußere Gestalt" 3 4 . Schon wegen dieser fehlenden „äußeren Gestalt" sperrt er sich gegen eine allzu leichte Beweisführung - Augenschein oder Zeugen können ihn jedenfalls nicht unmittelbar dem Gericht näher bringen. Möglich ist lediglich ein indirekter Zugang: Der Zusammenhang zwischen einer möglichen Ursache und dem Erfolg lässt sich nur durch den Nachweis notwendigerweise lückenhafter Einzeltatsachen (Indizien) erschließen, von denen in einem zweiten Schritt auf das Bestehen einer Kausalkette aus sich jeweils bedingenden Einzelgliedern geschlossen wird 35 . Dieser lückenüberbrückende Schluss gelingt nur, wenn und soweit er von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf der Basis vergleichbarer Fallgestaltungen, also von Erfahrungssätzen oder „Naturgesetzen", gestützt wird 36 . Umgekehrt heißt das: Fehlt es an einem anwendbaren wissenschaftlichen Erfahrungssatz, scheitert der Nachweis der individuellen Verursachung. Beispiel: Es gibt keinen sicheren Erfahrungssatz zum ursächlichen Zusammenhang zwischen einer auf einem Unfall beruhenden Schädelverletzung und einem nachfolgenden Selbstmord 3 7 .
Der Nachweis scheitert aber nicht nur, wenn ein „einschlägiger" Erfahrungssatz nicht zu finden ist, sondern auch dann, wenn Wissenslücken im Erkenntnisstand der Fachwissenschaft einen sicheren Rückschluss auf das Geschehen im konkreten Einzelfall verhindern, weil bestimme Gesetzmäßigkeiten nur statistisch oder Vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 239. Hogg, SLT 1997, 71 (72). 3 3 Vgl. zur Überbrückung von Informationslücken Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, 117ff. 34 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 149, basierend auf Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre, 9. 3 5 Vgl. Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 180. 3 6 Aus dem strafrechtlichen Schrifttum Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (293): „Eine Kausalerklärung eines Ereignisses besteht darin, daß andere Einzelereignisse und Zustände (Ursachen) sowie allgemeine Gesetze (Kausalgesetze) angegeben werden, aus denen dieses Ereignis logisch folgt." 3 7 Vgl. den Sachverhalt BGH NJW 1958, 1579. 31 32
18
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
mit vagen Wahrscheinlichkeitsangaben formuliert werden können 38 . Das statistische Wissen über das erhöhte Lungenkrebsrisiko von Rauchern stützt nicht zweifelsfrei die Feststellung im konkreten Einzelfall, dass das Krebsleiden eines bestimmten Patienten gerade auf seine Rauchgewohnheiten zurückzuführen sind: Der Wirkmechanismus, der von Nikotin- und Teeraufnahme zur Zellenwucherung führen, ist (noch) ebenso unbekannt wie derjenige, der die Krankheit unabhängig vom Tabakkonsum auslöst 39 . Wie bereits angedeutet, ist insbesondere in der Medizin eine zweifelsfreie Verknüpfung von konkreten körperlichen oder gesundheitlichen Schadensereignissen mit ihren vermuteten oder durch wissenschaftliche Untersuchungen vergleichbarer Fälle nahe gelegten Ursachen zuweilen unmöglich 40 . Beispiel 41 : Ob die im konkreten Fall vom Arzt zu verantwortende Verzögerung der Schnittentbindung, die die schon seit ca. 2 0 Minuten andauernde fetale Sauerstoff-Unterversorgung um sechs Minuten verlängerte, die Ursache schwerer Hirnschäden des Neugeborenen war, konnte nicht sicher geklärt werden, weil die Wissenschaft keinen exakten Zusammenhang zwischen der Dauer der Unterversorgung und dem Auftreten von Hirnschäden herstellen kann: Zwar führt die Störung „in der Regel" bereits nach zehn Minuten zu bleibenden Schäden an den Hirnstrukturen; andererseits ist es aber im Einzelfall auch möglich, dass das Kind einen sehr viel längeren Stopp der fetalen Sauerstoffversorgung schadlos übersteht - die exakten Kenntnisse über den Verlauf sauerstoffmangelbedingter Veränderungen in den Nervenzellen sind zu gering 4 2 .
b)
Tatsachenlücken
Selbst wenn ein hinreichend sicherer Erfahrungssatz, der die Kausalitätsfeststellung im konkreten Fall zu stützen geeignet wäre, besteht, können Tatsachenlücken seine Anwendung behindern. Wenn, wie oben angedeutet, jeder Erfahrungssatz an nachgewiesene Indizien im konkret zu prüfenden Sachverhalt anknüpft, so kann der Erfahrungssatz nicht angewandt und die Kausalität nicht festgestellt werden, wenn die für ihn notwendigen Prämissen ihrerseits nicht oder nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt sind. Sind die Lücken zu groß oder weisen die Indizien nicht in eine eindeutige Richtung, sondern lassen die Anwendung verschiedener Erfahrungssätze zu, wird es für den Beweisbelasteten schwer. So konnte im Lues-II-Fall des B G H 4 3 nicht mit letzter Sicherheit ermittelt werden, ob der Kläger durch die Übertragung des Blutes seiner an Lues (Syphilis) erkrankten Ehefrau infiziert wurde oder zu diesem Zeitpunkt selber bereits lueskrank war, weil die Symptome, die 38 39 40 41 42 43
Mummenhoff, Erfahrungssätze im Bereich der Kausalität, 124. Beispiel von Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 134. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Bereich der Kausalität, 124. Vgl. den Sachverhalt von OLG Stuttgart VersR 2000, 1108. Stand der Wissenschaft wiedergegeben in OLG Stuttgart VersR 2000, 1108 (1110). BGH VersR 1957, 252.
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines Dienstleisters
19
er zeigte, sowohl mit einer Transfusions-Syphilis als auch mit einer lange zuvor auf anderem Wege erworbenen Lues vereinbar waren.
c) Kombination
von Tatsachen- und
Erkenntnislücken
Die beiden oben beschriebenen Formen von Informationsdefiziten treten gelegentlich auch gemeinsam auf: Der Einsatz eines Erfahrungssatzes, mit dem sich die Kausalkette im konkreten Einzelfall ohnehin nicht sicher feststellen, sondern nur über (statistische) Wahrscheinlichkeitsangaben eingrenzen lässt, scheitert daran, dass eine fallgebundene Wissenslücke bezüglich bestimmter Tatsachenelemente des Sachverhalts vorliegt, an die der Erfahrungssatz anknüpft 4 4 . Beispiel 45 : Ein Krebspatient starb, nachdem die behandelnden Ärzte das Leiden pflichtwidrig zu spät entdeckt und die notwendigen Behandlungsmaßnahmen sich dadurch verzögert hatten. Die Behandlungsseite haftet, wenn ihr Fehler die Ursache des Todes war, das heißt rechtzeitiges Einschreiten diesen verhindert hätte. N u n konnte man im Prozess zwar auf die statistischen Erfahrungswerte zurückgreifen, dass bei richtiger Behandlung eines Krebsleidens der fraglichen Art im Krankheitsstadium I „sehr h o h e " und im Stadium IIB „praktisch keine" Heilungschancen bestehen, während bei einem Behandlungsbeginn im Stadium IIA die Überlebenschancen bei immerhin 6 0 % liegen 4 6 . Den Einsatz einer dieser Erfahrungssätze zur Kausalitätsfeststellung verhinderte aber die Tatsache, dass im Rückblick nicht mehr festgestellt werden konnte, in welchem Stadium sich die Erkrankung des Patienten zu dem Zeitpunkt befand, in dem die Ärzte hätten tätig werden müssen.
d) Der human factor: Indeterminierte
Kausalverläufe
Die oben unter a)-c) behandelten Konstellationen zeichnen sich dadurch aus, dass es sich um naturgesetzlich determinierte Geschehensabläufe handelt: Ein strikter Erfahrungssatz bzw. ein „Kausalgesetz" sagt aus, dass auf bestimmte Ereignisse und Zustände einer bestimmten Art ein anderes Ereignis bestimmter Art stets folgt 47 . Das Problem besteht lediglich darin, dass (a) auch dem sachverständig beratenen Rechtsanwender das Kausalgesetz nicht oder nicht mit hinreichender Präzision bekannt ist oder dass (b) ihm die Kenntnis der Umstände (Prämissen) fehlt, die ihn zur Anwendung eines potentiell einschlägigen Erfahrungssatzes befähigen würden, oder dass (c) schließlich beide Komponenten zusammenfallen. Zusätzlich gibt es aber einen weiten Bereich von für die Rechtsanwendung bedeutsamen Verläufen, die nicht in diesem Sinne kausal determiniert sind. Es handelt sich um alle die Geschehensabläufe, in denen für die Beurteilung der Auswirkungen des Täterverhaltens willensgetragenes menschliches Handeln des Ge44 45 46 47
Vgl. Mummenhoff, Erfahrungssätze im Bereich der Kausalität, 130. Nach OG Zürich SJZ 1989, 119. Vgl. OG Zürich SJZ 1989, 119 (122). Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (293).
20
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
schädigten oder eines Dritten die zentrale Rolle spielt 48 . Das ist im Rahmen der hier interessierenden Dienstleisterhaftung insbesondere dann der Fall, wenn die Aufgabe des Dienstleisters darin lag, dem Geschädigten einen Rat für eine eigene Handlung zu geben oder dessen Position in Verhandlungen und Verfahren zu vertreten, an deren Ende Maßnahmen oder Entscheidungen (auch) eines Dritten stehen sollen. Die Unsicherheit, die der human factor auslöst, wird deshalb vor allem in den Anwaltshaftungsfällen deutlich. Welche Maßnahmen hätte der Mandant, seine Verhandlungspartner oder das Gericht getroffen, hätte der Anwalt seinen Fehler vermieden? Die vom Dienstleister vorzubereitenden Willensentschlüsse unterliegen keinen Naturgesetzen - der Mensch ist frei, sich in der vom Dienstleister (mit-)geschaffenen Situation so oder so zu entscheiden. Für den human factor gibt es keine Kausalerklärung durch gesetzmäßige Bedingungen 49 . Es ist „reine Spekulation" 50 , ob der fragliche Willensentschluss auch ohne den Einfluss des Dienstleisters gefasst worden wäre. Folglich ist es unmöglich, das Täterverhalten in der ex-posf-Betrachtung mit Gewissheit als Bedingung der Entscheidung des Geschädigten oder des Dritten zu ermitteln. Puppe weist zutreffend darauf hin, dass dieses Problem in der Praxis selten deutlich wird. In Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel wird man auch bei nicht determinierten Verläufen vielfach allein deshalb ohne weiteres zur „Kausalität" kommen, weil kein anderer Grund als der fachmännische Rat ersichtlich ist, der den Geschädigten oder den Dritten zu seinem Verhalten veranlasst haben könnte 5 1 . Damit aber ist nicht festgestellt, dass der Täterbeitrag tatsächlich notwendiger Bestandteil des Erfolges ist.
Man muss sich hilfsweise mit Wahrscheinlichkeitserwägungen begnügen: Denn wenn auch der Adressat des Rates frei ist, kann man aufgrund der Erfahrungen in vergleichbaren Fällen über sein Verhalten Probabilitätsaussagen machen 52 . Doch je komplexer der Sachverhalt und zahlreicher die zu berücksichtigenden Komponenten, desto schwieriger ist es, auch nur den wahrscheinlichen Anteil des Dienstleisters an einer bestimmten Entscheidung oder Handlung zu entschlüsseln. Vgl. etwa BGH BB 1999, 287: Der Steuerberater sollte seinen Mandanten darüber beraten, wie er nach Beendigung einer gewerblichen Tätigkeit die Aufdeckung und Besteuerung stiller Reserven als Aufgabegewinn möglichst vermeiden konnte. Er nannte zwei Wege, von denen der erste aus tatsächlichen Gründen ausschied und der zweite mit erheblichen rechtlichen Risiken behaftet war, weshalb ihn der Mandant nicht beschritt. Letzteres galt aber auch für einen dritten Weg, den zu erläutern der Steuerberater versäumt hatte. Wegen dieser Unwägbarkeiten war weder mit Sicherheit noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass der Mandant bei richtiger Beratung anders gehandelt hätte. 48 49 50 51 52
Vgl. Puppe, ZStW 95 (1983), Puppe, ZStW 95 (1983), 287 Puppe, ZStW 95 (1983), 287 Puppe, ZStW 95 (1983), 287 Puppe, ZStW 95 (1983), 287
287 (294). (297). (299). (297). (297).
$3 Kausalitätszweifel
2. Unsicherheit,
bei der Schadenersatzbaftung
eines
Dienstleisters
21
die von keiner der Parteien zu vertreten ist
Nicht Gegenstand dieser Arbeit sind Konstellationen, in denen eine Aufklärung des Ursachenzusammenhangs möglich gewesen wäre, wäre dies nicht durch eine Pflichtwidrigkeit einer der Parteien vereitelt worden. Dies meint zum einen die Fälle, in denen den Dienstleister materiellrechtlich eine Pflicht trifft, die Umstände seiner Dienstleistung zu dokumentieren. Verletzt er diese Pflicht und wird es aus diesem Grunde unmöglich, die Kausalkette nachzuvollziehen, so lässt sich das Problem dadurch lösen, dass als Sanktion für die Pflichtverletzung die Beweislast umgekehrt wird und die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts in diesem Punkt dem Dienstleister zur Last fällt. So handhabt es die Rechtsprechung beispielsweise bei Dokumentationsmängeln der Behandlungsseite im Rahmen von Heilbehandlungen53. Zum anderen gibt es Fälle, in denen eine Partei ein existierendes, ihr möglicherweise aber ungünstiges Beweismittel vorsätzlich oder fahrlässig vernichtet oder unter Verschluss hält und dadurch dem Gegner die Möglichkeit nimmt, den Beweis zu führen, dass er durch eine Pflichtverletzung einen Schaden erlitten hat. Sofern eine Pflicht besteht, das Beweismittel dem Gegner zugänglich zu machen, tritt die gleiche Rechtsfolge ein wie im Falle der Dokumentationspflichtverletzung: Die auf die vorenthaltenen Beweise zurückzuführende Unmöglichkeit der Tatsachenaufklärung geht zu Lasten der pflichtvergessenen Partei 54 . Denn diese darf aus dem Verstoß gegen eine ihr obliegenden Rechtspflicht keinen Vorteil ziehen 55 . Die Vorlagepflicht ihrerseits kann sich aus Normen wie § 444 ZPO, der seinem Wortlaut nach allerdings nur eine absichtliche Beseitigung von Urkunden ahndet, und dem von der Rechtsprechung daraus abgeleiteten allgemeinen Verbot der Beweisvereitelung56, aber auch aus vertraglichen Beziehungen der Parteien ergeben. So etwa in BGH W M 2 0 0 1 , 2 4 5 0 : Der beklagte Steuerberater hatte die ihm von seinem Mandanten, einem Großhändler, übertragene Aufgabe, die Bilanz für das Jahr 1994 zu erstellen, nicht erfüllt. Der Mandant stützte seine Schadenersatzklage auf den Umstand, dass ihm im Jahre 1996 lukrative Geschäfte entgangen seien, weil seine Hausbank die notwendige Zwischenfinanzierung abgelehnt habe, nachdem er die Bilanz 1994 nicht habe vorlegen können. Den Beweis, dass der Kredit bei Vorlage der Bilanz bewilligt worden wäre, konnte der Kläger nicht erbringen. Die Unsicherheit über den Kausalnexus fiel aber dem Steuerberater zur Last, weil seine vertragswidrige Weigerung, dem Kläger die Benutzung von Geschäftsunterlagen zu ermöglichen, die dieser ihm zur Bilanzerstellung überlassen hatte, zur Unmöglichkeit der Sachverhaltsaufklärung beigetragen hatte.
Vgl. die Nachweise bei Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr.465f. MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr.78ff.; Kegel, FS Kronstein, 341; Poll, ZVglRWiss 94 (1995), 235 (248); BGH WM 2001, 2450; Katzenmeier, Arzthaftung, 481 f. 5 5 BGH ZIP 1985, 312 (314); BGH NJW 1994, 1594 (1595), BGH WM 2001, 348. 5 6 Vgl. BGH ZIP 1985, 312 (314); BGH NJW 1994, 1594 (1595), BGH WM 2001, 348. 53 54
22
1. Kapitel: Begriffsklärung,
3. Der Einwand
Problemstellung
des pflichtgemäßen
und Gang der
Darstellung
Alternativverhaltens
Der „klassische", oben bereits mehrfach angesprochene Einwand des pflichtvergessenen Dienstleisters gegen seine Einstandspflicht für den Schaden des Klienten ist der, dass auch eine fehlerfreie Pflichterfüllung am Schadenseintritt nichts geändert hätte. Beispiele: Die Berufung gegen ein dem Mandanten ungünstiges Zahlungsurteil wird wegen Fristversäumung zurückgewiesen. Der Anwalt wendet ein, dass das erstinstanzliche Urteil auch bestätigt worden wäre, wenn er die Berufung fristgerecht eingereicht und bestmöglich begründet hätte. Der Anwalt hat außerprozessual einen falschen Rechtsrat erteilt, der Mandant aufgrund einer daraufhin getroffenen Maßnahme einen Schaden erlitten. Der Anwalt behauptet aber, der Mandant hätte sich auch bei richtigem Rat nicht von der verlustbringenden Maßnahme abbringen lassen. Der mit einem Behandlungsfehler konfrontierte Arzt erklärt, dass der Patient auch bei fehlerfreier Behandlung nicht hätte gerettet werden können.
Damit scheint man sich im Bereich der Diskussion des sogenannten „pflichtgemäßen Alternativverhaltens" 57 zu befinden. So umstritten die Grenzlinien und das Verhältnis dieser Fallgruppe zu der unten zu besprechenden hypothetischen Kausalität sind 58 , so einig ist man sich doch, dass es sich um ein Schadenszurechnungs-, nicht ein Kausalitätsproblem handelt 59 . In der Konsequenz soll der Beweis der jeweiligen Voraussetzungen nicht dem Opfer, sondern dem Schädiger obliegen, der auf diese Weise Einwände gegen seine Einstandspflicht erhebt 60 . Wenn man dann noch einen sicheren Nachweis fordert und nicht die bloße Möglichkeit des Eingreifens einer anderen Ursache bzw. des gleichen Schadens auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten ausreichen lassen will 61 , wird deutlich, dass sich in diesem Rahmen die Probleme ganz anders stellen als beim „normalen" Kausalitätsnachweis: Nicht der Geschädigte scheitert, wenn sich Gewissheit des Gerichts in diesen Punkten nicht erzielen lässt, sondern der Dienstleister bei der Abwehr des Anspruchs. Doch ist Vorsicht geboten. Die Einordnung des pflichtgemäßen Alternativverhaltens als vom Täter zu beweisenden Einwand gegen die Zurechnung des von ihm verursachten Schadens entstammt der deliktischen Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB. Anknüpfungspunkt der Haftung nach dieser Norm ist (irgendein)
5 7 Vgl. dazu etwa Lange/Schiemann, Schadensersatz, §4 XII; Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor § 2 4 9 Rdnr. 105ff.; MünchKomm/Oetker, § 2 4 9 Rdnr.210ff.; Koziol, FS Deutsch, 179. 58 Oetker hält das rechtmäßige Alternativverhalten für einen Anwendungsfall der hypothetischen Kausalität, (MünchKomm/Oetker, § 249 Rdnr. 210), dagegen etwa Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdnr. 186; Jauernig/Teichmann, vor § § 2 4 9 - 253 Rdnr. 47. 59 Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 4 XII 1 m.w.N.; Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor §249 Rdnr.96; Loser-Krogh, zsr/rds 2003 II, 127 (163) zum schweizerischen Recht. 60 Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 4 XII 6; Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor § 249 Rdnr. 107 m.w.N. 6 1 BGH NJW-RR 1995, 937; Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor § 249 Rdnr. 107.
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines
Dienstleisters
23
Verhalten, das zu einer Beeinträchtigung der dort genannten absoluten Rechte und Rechtsgüter führt. Das Kausalband im Hinblick auf die haftungsbegründende Kausalität muss (allein) zwischen dem Täterverhalten und der Rechtsgutsverletzung vorliegen. Die Pflichtwidrigkeit des Tuns ist ein davon zu unterscheidendes, zusätzliches Haftungsmerkmal. Das schließt schon im Ansatz aus, die „Kausalität der Pflichtwidrigkeit" 62 zum Gegenstand der eigentlichen Ursächlichkeitsprüfung zu machen. Der Hinweis, dass pflichtgemäßes Verhalten am Schaden des Opfers nichts geändert hätte, kann nicht die Kausalität, sondern „nur" den Rechtswidrigkeitszusammenhang in Frage stellen: Wenn und soweit die verletzte Norm nur und gerade die Rechtsgutsverletzung verhindern will, ist eine Haftung des Täters aus Wertungsgesichtspunkten nicht gerechtfertigt, wenn die Verletzung nicht eigentlich im verbotenen Verhalten wurzelt 63 . Berühmtes Beispiel ist der vom BGH unter strafrechtlichen Gesichtspunkten entschiedene Radfahrer-Fall 64 . Ein Radfahrer gerät unter den Anhänger eines ihn mit zu geringem Abstand überholenden LKW. Weil der Radfahrer betrunken war und schwankte, wäre er vermutlich vom LKW auch dann erfasst worden, wenn dessen Fahrer einen vorschriftsgemäßen Abstand ( § 5 Abs. 4 S.2 StVO) eingehalten hätte 6 5 .
Die Kausalität der Handlung des LKW-Fahrers für die Verletzungen des Radfahrers steht nicht in Zweifel - er hat den Radfahrer überfahren. Sein tatsächliches Verhalten ist die reale Ursache des Schadens. Die Haftung scheitert möglicherweise an einem anderen Umstand, nämlich daran, dass gerade diejenige Komponente seines Tuns, derentwegen es normwidrig ist, ohne Konsequenz für den Schadenseintritt ist 66 . Weber formuliert treffend: „Die Verursachung des realen Erfolges bleibt im Ergebnis ohne Bedeutung, weil eine zusätzlich herangezogene Rechtsfolge Voraussetzung nicht erfüllt ist, nämlich der (hypothetische) Wegfall des Erfolgs bei einem bestimmten anderen (hypothetischen) Verhalten des Tä-
Vgl. den Titel der Arbeit von Hanau. Jauernig/Teichmann, vor § § 2 4 9 - 253 Rdnr.48. Diese Wertungsgesichtspunkte werden nicht einheitlich bezeichnet. Während der BGH vom Schutzzweck der Norm spricht (etwa BGHZ 96, 157 (173)), stützt sich z.B. Larenz auf die „fehlende Relevanz" der Normwidrigkeit (Latenz, Schuldrecht I, § 3 0 I (S.528). 6 4 BGHSt 11,1. 6 5 Zu diesem Fall aus zivilrechtlicher Sicht etwa Larenz, Schuldrecht I, § 301 (S. 528); Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 103f. 66 Larenz, Schuldrecht I, §30 I (S.528). Ohne Begründung a.A. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 48 f., der meint, dass die Berufung auf die Unvermeidlichkeit des Erfolgs auch bei pflichtgemäßem Tun im Radfahrerfall richtigerweise als (zulässiges) Bestreiten der Kausalität anzusehen sei, für die im Übrigen auch insoweit der Geschädigte die Beweislast trage. Ebenso wohl Fikentscher, Schuldrecht, Rdnr. 479 (wenn der Erfolg auch bei „richtigem" Überholen eingetreten wäre, ist das „fehlerhafte" Überholen keine äquivalente Ursache für den Tod des Radfahrers). 62 63
24
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
ters" 67 . Strukturell ändert sich an dem Problem nichts, wenn dem vermeintlichen Schädiger ein Unterlassen vorgeworfen wird. Das erhellt der ebenfalls viel diskutierte „ H o f t o i l e t t e n f a l l " 6 8 . Ein Gast w a r im unbeleuchteten Hof einer Gastwirtschaft, den m a n auf dem Weg zu den Toiletten überqueren musste, über einen hochstehenden Pflasterstein gestolpert und an den Folgen des Schädelbruchs verstorben, den er sich bei seinem Fall zugezogen hatte. Unklar war, o b der Unfall sich w ä h r e n d oder a u ß e r h a l b der Öffnungszeiten der Gastwirtschaft ereignet hatte. Der Ursachenbeitrag des Verhaltens des Wirtes zum Tod des Gastes (Unterlassen der H o f b e leuchtung) ist unzweifelhaft. Fraglich w a r „ n u r " , ob sich gerade die pflichtwidrige Komponente des Unterlassens ausgewirkt hat, denn eine Beleuchtungspflicht bestand n u r w ä h rend der Öffnungszeiten 6 9 .
Im Rahmen der Dienstleisterhaftung ist die Lage allerdings eine andere. Hier wird primär vertraglich gehaftet. Bei der vertraglichen Haftung ist zur Haftungsbegründung immer, aber auch nur die Verletzung einer vertraglichen Pflicht erforderlich 70 . (Erst) Innerhalb der Haftungsausfüllung wird dann geprüft, ob aus dieser Pflichtverletzung ein Schaden erwachsen ist 71 . Damit ist (in Form der haftungsausfüllenden Kausalität) ein Kausalband gerade zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden notwendig. Entsprechendes gilt im Deliktsrecht, soweit nicht f ü r eine Rechtsguts-, s o n d e r n eine Pflichtverletzung gehaftet wird, etwa im R a h m e n der A m t s h a f t u n g 7 2 oder der H a f t u n g f ü r eine Schutzgesetzverletzung.
Daraus aber folgt: Ist zweifelhaft, ob der Schaden nicht auch entstanden wäre, wenn man die Pflichtwidrigkeit hinweg denkt, dann ist die Kausalität betroffen 73 . Der Anwalt oder Arzt, der behauptet, auch bei korrekter Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen sei der Schaden des Mandanten oder Patienten nicht zu vermeiden gewesen, bestreitet im Rahmen der vertraglichen Haftung die Kausalität. Hier geht es, nimmt man die obigen Worte von Weber zum Ausgangs67 Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 93 (Hervorhebung hinzugefügt). Ähnlich Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdnr. 186: „Wenn sich der Schädiger auf rechtmäßiges Alternativverhalten beruft, bringt er vor, daß sich der Schaden gleichermaßen bei rechtswidrigem und rechtmäßigem Verhalten ereignet hätte, die Rechtswidrigkeit des Verhaltens also nicht erheblich gewesen war" (Hervorhebung im Original). 68 BGH VersR 1954, 401; besprochen etwa von Kollhosser, Der Anscheinsbeweis in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 75; Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 101, 121f.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 237, 246, 249; Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 104 f. 69 Der BGH sah in diesem Fall den Anscheinsbeweis hinsichtlich eines Unfallzeitpunktes während der Öffnungszeiten als geführt an und verurteilte den Gastwirt unter Berücksichtigung des Mitverschuldens des Gastes zur Zahlung von einem Viertel der Klagesumme. 70 Vgl. Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 II. 71 Vgl. BGH NJW 1993, 3073 (3076). 72 Für die Notarhaftung vgl. BGH W M 1988, 1454. 73 So ausdrücklich BGH NJW 2003, 295 zur Pflichtverletzung im Rahmen eines Versicherungsvertrages.
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines
Dienstleisters
25
punkt, nicht um eine zusätzliche Rechtsfolgenvoraussetzung, sondern um die Verursachung des realen Erfolgs gerade durch die den alleinigen Anknüpfungspunkt bildende Pflichtverletzung. Daran zweifelt auch die Rechtsprechung nicht. Im Rahmen der vertraglichen Haftung des Anwalts für Fehlleistungen bei der außergerichtlichen Vertretung seines Mandanten behandelt sie, wenn auch ohne Problemerörterung, seit jeher den Einwand des Anwalts, eine Vermeidung des Fehlers hätte am Schaden des Mandanten nichts geändert, als Problem der Feststellung des Ursachenzusammenhangs 74 . Entsprechendes gilt für die Notarhaftung 75 . Bei der sehr viel häufiger den Gegenstand gerichtlicher Erörterungen bildenden Anwaltshaftung für forensische Fehler fehlt es an entsprechenden Äußerungen nur deshalb, weil hier die Kausalfrage insgesamt zugunsten des Ansatzes bei der „wahren Rechtslage" in den Hintergrund gedrängt wird 76 . Bei den Ärzten wird hingegen der Einwand, eine pflichtgemäße Behandlung des Patienten hätte an dessen Leiden nichts geändert, ebenfalls als Kausalitätsproblem gedeutet, das grundsätzlich der anspruchstellende Patient auszuräumen hat 7 7 . Gerade deswegen sehen sich die Gerichte genötigt, zugunsten des Patienten jedenfalls in Fällen eines „groben" Behandlungsfehlers zum Instrument der Beweislastumkehr zu greifen 78 . Interessanterweise gilt dies auch und gerade im Zusammenhang mit der deliktischen Haftung des Arztes nach § 823 Abs. 1 BGB, die zumindest bis zur Reform des § 2 5 3 BGB durch das zweite Schadensersatzrechtsmodernisierungsgesetz 79 wesentlich häufiger im Mittelpunkt eines gerichtlichen Streits stand als seine vertragliche Haftung. Nach dem oben Gesagten müssten die Gerichte hier den Einwand des pflichtgemäßen Alternativverhaltens eigentlich als Zurechnungsausschließungsgrund sehen, dessen Voraussetzungen auch ohne Beweislastumkehr ohnehin der Arzt zu beweisen hat. Aber in Annäherung an die vertraglichen Verhältnisse wird von der gerichtlichen Praxis die deliktsrechtliche Arzthaftung jedenfalls faktisch, ohne dass dies durch grundlegende dogmatische Erörterungen untermauert würde, an den Behandlungsfehler, nicht an irgendein Verhalten des Arztes angeknüpft. Auf dieser Basis ist auch hier der Einwand, der Kunstfehler habe sich nicht ausgewirkt, ein Einwand gegen die Kausalität, nicht gegen die Zurechnung. Als ein solcher wurde etwa das Argument eines Arztes eingestuft, die auf einem Diagnosefehler beruhende Mamma-Ablation hätte der Patientin ohnehin nicht erspart bleiben können 8 0 .
Vgl. hier nur BGH J Z 1988, 656; BGH BB 1999, 287; BGH NJW 2002, 593. Vgl. BGH WM 1988, 1454: „Es geht... um die Frage, ob ... die Amtspflichtverletzungen des Beklagten ... hinweggedacht werden können, ohne daß der Schaden, hier der Zinsaufwand ... entfällt". 7 6 Näher unten S.77ff. 7 7 Vgl. hier nur BGH VersR 1981, 462; OLG Koblenz MedR 2002, 408; OLG Koblenz VersR 1981, 754; OLG München VersR 1988, 746, OLG Stuttgart VersR 1994,1306; Steffen/ Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr.309. Für Österreich vgl. etwa OGH JB1.1986, 576. 7 8 Näher unten S. 34 ff. 7 9 BGBl. 2002 I, 2674. 8 0 OLG Koblenz VersR 1981, 754. 74 75
26
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
Es bleibt festzuhalten, dass das „rechtmäßige Alternativverhalten" innerhalb der hier verfolgten Fragestellung nach dem Umgang mit unklaren Kausalveiläuien im Rahmen der Dienstleisterhaftung liegt. 4. Hypothetische
Kausalität,
Reserveursachen
Anders steht es mit einem dem „pflichtgemäßen Alternativverhalten" verwandten Argument. Der Dienstleister kann zu seiner Entlastung geltend machen, seine Pflichtverletzung habe deshalb zu keinem von ihm auszugleichenden Schaden geführt, weil dieser den Klienten bei Hinwegdenken des Fehlers auch anderweitig getroffen hätte. Im Unterschied zum Einwand des pflichtgemäßen Alternativverhaltens geht es bei der hypothetischen Kausalität 81 aber nicht darum, dass der reale Schaden auch dann in seiner konkreten Gestalt eingetroffen wäre, wenn der Dienstleister sich pflichtgemäß verhalten hätte, sondern dass die Entwicklung unabhängig von einem möglichen rechtmäßigen Verhalten des Dienstleisters zu einem anderen, wirtschaftlich aber gleichwertigen oder zumindest ähnlichen negativen Zustand geführt hätte 82 . Der Einwand lautet also nicht: „Hätte ich alles richtig gemacht, wäre es zum Schaden dennoch genauso gekommen", sondern: „Der reale Schaden ist zwar auf meinen Fehler zurückzuführen, aber ein von mir unabhängiges Ereignis hätte zu einem entsprechenden Ergebnis geführt". Deshalb wird diese Fallgruppe zuweilen auch mit „überholender Kausalität" 8 3 bezeichnet: Der Schädiger hat durch seinen Eingriff in den Ablauf der Dinge eine bereits angelegte „latente" 8 4 Kausalkette ihrer tatsächlichen Wirksamkeit beraubt, indem er eine andere Entwicklung in Gang setzte, die früher als die erstere und/oder in abweichender Weise zu einem Schaden führt. Beispiel: Eine irrtümliche Knochenbestrahlung hatte die Knochen des Patienten geschwächt, worauf sich eine Prothese löste. Der beklagte Arzt wendet ein, dass sich die Prothese wahrscheinlich kurze Zeit später auch aus natürlichen G r ü n d e n gelöst h ä t t e 8 5 .
Hier ist ebenso wie im obigen Radfahrer-Fall klar: Der Beklagte hat den Schaden des Patienten verursacht: Die Prothese hat sich gelöst, weil die Knochenbestrahlung durchgeführt wurde. Auch der Blickwechsel auf die Kausalität gerade der Pflichtverletzung, welcher den Einwand des „pflichtgemäßen Alternativverhaltens" für die vertragliche Haftung (und die an den Behandlungsfehler anknüp81 Umfassende Nachweise zum Diskussionsstand bei Staudinger/Schiemann, §249 Rdnr. 92ff. 82 Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 4 I, verweisen insoweit auf das Beispiel BGHZ 29, 207: Das ohne rechtsgültigen Abschluss des Enteigungsverfahrens abgerissene Gebäude wäre später durch Luftangriffe zerstört worden. 83 Grundlegend v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht (1962). 84 fauernig/Teichmann, vor § § 2 4 9 - 2 5 3 Rdnr.47. 85 Vgl. den Sachverhalt bei Cass. civ. l r e , 8.1. 1985, DS 1986 J 390 m. Anm. Penneau 391.
§ 3 Kausalitätszweifel
bei der Schadenersatzhaftung
eines
Dienstleisters
27
fende deliktische Haftung des Arztes) zu einem Argument mutieren ließ, das den Kausalnexus in Frage stellt, ändert hier nichts: Liegt die Pflichtverletzung in der medizinisch nicht indizierten Bestrahlung, ist sie die Ursache des realen Schadens des Patienten in Form der gelösten Prothese. Eine „Reserveursache" 86 (im obigen Beispiel: der natürliche Schwund der Haftfähigkeit des Knochen) hätte eine ähnliche Schädigung bewirkt oder bewirken können; wegen des auf den Schädiger zurückzuführenden realen Verlaufs ist sie aber in ihrer Wirkung hypothetisch geblieben 87 . Damit besteht hier kein Grund, die Einordnung des Einwands der hypothetischen Kausalität durch die ganz herrschende Meinung als Schadenszurechnungs-88 oder -bewertungsproblem89 in Zweifel zu ziehen, wobei die Grenzlinie zwischen diesen beiden Kategorien außerordentlich schwierig zu ziehen und im Grundsätzlichen wie im Detail stark umstritten ist. Gleiches gilt für die Behandlung des Einwands im Einzelnen, wobei sich allerdings ein Konsens in wichtigen Einzelfragen abzuzeichnen beginnt 90 . So wird heute zumeist zwischen Vermögensschaden und sogenanntem Objektschaden unterschieden und soll die hypothetische Kausalität nur bei ersterem zu berücksichtigen sein 91 . Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die unsichere Kausalitätskette zwischen der fehlerhaften Leistung des Dienstleisters und dem Schaden seines Klienten, davon nicht berührt wird. 5. Keine bloße Unsicherheit über den
Schadensumfang
Die gleiche Klarstellung ist auch im Hinblick auf die Fallgestaltungen geboten, in denen feststeht, dass der Dienstleister einen ihm zurechenbaren Schaden verursacht hat, dessen Gesamtumfang aber schwer zu bestimmen ist. Häufiger Grund für eine solche „partielle" Unsicherheit ist, dass im Zusammenhang mit der Verletzung absolut geschützter Rechtspositionen zum unmittelbaren Schaden an diesem Rechtsgut selbst mittelbare Vermögensschäden (lucrum cessans) hinzutreten 92 - die Sicherheit über Ursache und Umfang des unmittelbaren Sach- oder Personen-Schadens muss nicht mit einer Sicherheit über den mittelbaren Schaden korrelieren. Man denke etwa an Körperschäden: Steht unzweifelhaft fest, dass und in welcher Höhe der Schädiger Arzt- und Krankenhauskosten für die Wiederherstellung der Gesundheit tragen muss, kann dennoch unklar sein, wel-
Zum Begriff Staudinger/Schiemann, § 2 4 9 Rdnr.92ff. Vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 37 m.w.N. 8 8 Vgl. MünchKomm/Oetker, §249 Rdnr.201 m.w.N. 89 Jauernig/Teichmann, vor § § 2 4 9 - 2 5 3 Rdnr.42. 9 0 Vgl. Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor §249 Rdnr.96ff. 91 Staudinger/Schiemann, §249 Rdnr. 92ff.; Palandt/Heinrichs, Vorbem. vor § 2 4 9 Rdnr. 102; Soergel/Mertens, vor § 2 4 9 Rdnr. 152ff.; vgl. auch BGH NJW 1994, 1000. 9 2 Zur Unterscheidung unmittelbarer und mittelbarer Schäden vgl. MünchKomm/Oetker, § 2 4 9 Rdnr. 93 ff. 86
87
28
1. Kapitel: Begriffsklärung,
Problemstellung
und Gang der
Darstellung
che auszugleichenden Folgerungen sich aus der Verletzung etwa für das berufliche Fortkommen des Betroffenen ergeben haben. Beispiel 93 : Ein Arzt hat einen am Ende seiner aktiven Karriere stehenden Vertragsfußballspieler falsch behandelt, so dass diesem eine dauernde Behinderung verbleibt. Fraglich ist, ob und inwieweit der Spieler ohne diese Behinderung seinen Plan hätte verwirklichen können, sich durch eine nebenberufliche Trainertätigkeit bei Amateurfußballvereinen ein Zubrot zu verdienen.
Ähnliche Schwierigkeiten können auftauchen, wenn es um die Haftung für reine Vermögensschäden geht: Auch hier hilft die sichere Erkenntnis, dass der Täter schadenersatzpflichtig ist, oft nicht weiter bei der Bestimmung des Umfangs seiner Einstandspflicht, weil sich ebenso wie bei der obigen Kombination von direktem und indirektem Schaden der im Wege der Differenzhypothese nach § 249 S. 1 BGB zu ermittelnde Schadenersatzanspruch nicht nur auf die Herstellung oder Kompensation eines vergangenen, sondern eines gegenwärtigen und gegebenenfalls auch in einer hypothetischen Zukunft liegenden Zustands richtet, der sich aus der Fortschreibung des vor dem Schadensereignis bestehenden ergibt und von dem anzunehmen ist, dass er ohne das schädigende Ereignis eingetreten wäre 94 . Beispiel: Ein Anlageberater empfiehlt pflichtwidrig eine unvorteilhafte Finanzanlage. Da und soweit feststeht, dass sein Kunde sich ohne den Rat nicht zu dieser Anlage entschlossen hätte, ist an der Schadenersatzpflicht des Beraters nicht zu rütteln. Bei der Beantwortung der Frage, welchen Umfang der Schaden des Kunden annimmt, helfen § § 2 5 2 S . 2 BGB, 2 8 7 Abs. 1 ZPO.
Den Gegenstand der vorliegenden Arbeit berühren diese Schwierigkeiten freilich nicht. Dies nicht nur deshalb, weil es sich nicht um Kausalitäts-, sondern um Schadensberechnungsprobleme handelt - wie die Abhandlung zeigen will, ist die Grenze durchaus flexibel, ja sogar durchlässig. Wichtiger ist, dass der Gesetzgeber sich dieser speziellen Thematik angenommen hat: Die Vorschrift des § 252 S. 2 BGB ist explizit auf die Schwierigkeiten des Geschädigten zugeschnitten, im Hinblick auf Vermögensschäden in Form entgangenen Gewinns, das heißt insbesondere auch Erwerbs- und Fortkommensschäden i.S.d. § 842 BGB 95 , den hypothetischen Fortlauf der Dinge ohne das Schadensereignis darzulegen und dafür Beweis anzutreten. Der wesentliche Inhalt der Vorschrift ist eine Beweiserleichterung für den entgangenen Gewinn, die sich darauf gründet, dass die Schadensberechnung in dieser speziellen Form anders als bei einer an einem Sachobjekt sichtbaren Einbuße auf eine rein gedankliche Konstruktion angewiesen ist 96 . Flankiert wird § 252 S. 2 BGB von § 287 Abs. 1 ZPO, der - soweit jedenfalls sein 93 94 95 96
BGH NJW 1998, 1633. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 12. Palandt/Heinrichs, §252 Rdnr.l. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 62 m.w.N.
§4 Gang der
Darstellung
29
unumstrittener engerer Anwendungsbereich betroffen ist - parallele Erleichterungen bei der Bewertung sowohl entgangenen Gewinns als auch des davon nur schwer abzugrenzenden positiven Schadens (damnum emergens) schafft 9 7 . In diesem Bereich besteht also weder Spielraum noch Notwendigkeit für einen im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu entwickelnden Neuansatz.
§ 4 Gang der Darstellung Den Anfang bildet - mit einem Schwerpunkt auf der Rechtslage in der Arzt- und Anwaltshaftung - die Darstellung und kritische Uberprüfung der gegenwärtigen Ansätze in der deutschen Gerichtspraxis zur Behandlung von nach obiger Umschreibung unaufklärbaren Kausalverläufen im Rahmen der Dienstleisterhaftung (Kap. 2). Es folgt eine Bestandsaufnahme und Würdigung abweichender Lösungsvorschläge in der deutschen Literatur sowie die Vorstellung des hier befürworteten neuen Wegs über die verlorene Chance als Schadensposition (Kap.3). In einem rechtsvergleichenden Überblick wird sein Anwendungsbereich in ausländischen Rechten sowie in Projekten zur Rechtsvereinheitlichung beschrieben (Kap. 4). Es schließt sich die detaillierte Untersuchung an, in welcher Form und innerhalb welcher Grenzen „die verlorene Chance" in das deutsche Recht integriert werden kann (Kap. 5). Sie beginnt mit der Erörterung, ob sich aus der Verfassung insoweit Vorgaben ermitteln lassen und setzt sich mit den Ansatzpunkten und Hürden im einfachen Recht fort. Eine für die Funktionsfähigkeit des Konzepts zentrale Frage ist weiterhin die Art und Weise der Berechnung des Wertes einer verlorenen Chance; Augenmerk wird dabei auch auf die insbesondere für das Arzthaftungsrecht bedeutende Frage gelegt, welche Folgerungen sich aus dem Perspektivenwechsel für den Anspruch des Patienten auf den Ersatz immaterieller Schäden ergeben. Abgeschlossen wird die Untersuchung von der Darstellung der zivilprozessualen, insbesondere beweisrechtlichen Rahmenbedingungen für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen für verlorene Chancen (Kap. 6).
97 Zum Zusammenspiel von § 2 5 2 S.2 BGB und § 2 8 7 ZPO vgl. §252 Rdnr. 30.
MünchKomm/Oetker,
2. Kapitel
Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis § 1 Allgemeine
Grundsätze
Fordert der Mandant oder Patient vor Gericht Ersatz des ihm aus einem Fehler seines Anwalts oder Arztes vermeintlich entstandenen Schadens, so bedarf es grundsätzlich (auch) für die Schadenskausalität des ärztlichen oder anwaltlichen Handelns der vollen Gewissheit des Richters (§286 ZPO). Der Richter muss nach dem ihm unterbreiteten Sachverhalt „überzeugt" sein, dass der Schaden auf die fehlerhafte Dienstleistung zurückzuführen ist. Bei allem Streit, der über die Deutung dieses Kriteriums für das notwendige Beweismaß bis auf den heutigen Tag herrscht1, steht für die Praxis fest, dass zum einen das subjektive „Fürwahrhalten" des Richters seine Basis in objektiv nachprüfbaren Denk-, Naturoder Erfahrungssätzen finden muss2, und zum anderen „absolute" Gewissheit nicht erforderlich ist, weil dies die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit überstiege. Der Richter darf sich vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Sicherheit begnügen, der - in der klassisch gewordenen Formulierung des BGH im Anastasia-Urteil - „vernünftigen" Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen3. Auch diese reduzierten Anforderungen sind freilich im Bereich der Kausalitätsfeststellung eine hohe Hürde. Ein in vielen Fällen hilfreiches Mittel zu ihrer Überwindung ist der Anscheinsbeweis4, der seinen Platz deshalb gerade im Bereich der Kausalität gefunden hat, ja gelegentlich hierauf beschränkt wird5. Er erlaubt unter Rückgriff auf allgemeine Lebenserfahrungen, die aus der Beobachtung vergleichbarer Fälle gewonnen wurden, die Überbrückung von Tatsachenund wissenschaftlichen Erkenntnislücken, die die zwingende Feststellung der Kausalität im konkreten Fall unmöglich machen 6 . Allerdings trägt diese Brücke nur, wenn der konkret zu beurteilende Sachverhalt in seinen bekannten bzw. be1 Vgl. etwa Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 22ff. einerseits; Musielak, ZZP 111 (1998), 385 (390f.) andererseits; weiterhin Gottwald, FS Henrich (2000), 165. 2 Vgl. BGH N J W 1987, 1557 (1558); BGH N J W 1993, 935 (937). 3 B G H Z 53, 2 4 5 (256); aus neuerer Zeit etwa BGH N J W 2 0 0 3 , 1116; BGH N Z V 2 0 0 4 , 2 7 (28); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 115 II 1. 4 Allgemein dazu Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 83ff.; Engels, Der Anscheinsbeweis der Kausalität, passim; MünchKommZPO/Prütting, § 2 8 6 Rdnr. 4 8 ff. 5 R G Z 130, 3 5 7 (359); R G J W 1936, 3 2 3 4 f . ; Prölls, J W 1936, 3 2 3 5 . 6 Näher Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, 120ff.
§ 1 Allgemeine
Grundsätze
31
wiesenen Elementen gerade dem typischen Geschehensablauf entspricht, aus dem der Erfahrungssatz gewonnen wurde. Sowohl im Bereich individueller Willensentschlüsse, wie sie der M a n d a n t in der außergerichtlichen Beratung oder das Gericht im Prozess treffen, als auch bei individuellen Krankheitsverläufen findet man diese als Basis notwendigen typischen Abläufe jedoch nur in Ausnahmefällen 7 , im „Kernbereich des ärztlichen H a n d e l n s " bedingt durch die Unterschiedlichkeit von Behandlungsbedingungen und -verlauf und der bereits erwähnten Kompliziertheit des menschlichen Organismus' 8 . Die Lues-I 9 - und Lues-II 10 -Fälle, in denen der BGH zwei Patienten, bei denen nach einer Transfusion von Blut eines (mutmaßlichen) Luetikers eine Syphilis-Erkrankung (bzw. bloße Anzeichen dafür) festgestellt worden war, mit dem Anscheinsbeweis half, zeigen gerade diese Schwierigkeiten. Es fehlt in diesen Fällen schon deshalb an einem für die Ansteckung durch die Transfusion sprechenden „typischen" Geschehensverlauf, weil die Ansteckung des Empfängers durch die Übertragung von Blut eines Lueskranken eher selten ist; „typischerweise" erwerben also (auch) Empfänger von Bluttransfusionen die Krankheit gerade nicht auf diesem, sondern auf anderem Wege (Geschlechtsverkehr). In beiden Fällen fehlten zudem die besonderen Symptome, die eine Transfusionssyphilis im Regelfall, wenn auch nicht immer, aufweist. Den BGH focht das nicht an: Wenn „für eine Ursache feste Anhaltspunkte bestehen, die diese Ursache - wenn auch nur entfernt [!] - als möglich erscheinen lassen, während für die anderen in Frage kommenden Ursachen solche Anhaltspunkte tatsächlicher Art völlig fehlen, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für die erste Ursache" 1 1 . Bei genauer Betrachtung hat er hier nicht per Anscheinsbeweis Gewissheit über den Kausalverlauf gewonnen, sondern ein Urteil auf der Basis der (bloßen) überwiegenden Wahrscheinlichkeit gefällt: Unter den gegebenen Umständen erschien es ihm lediglich wahrscheinlicher als das Gegenteil, dass die Bluttransfusionen die Ursache der Lues-Erkrankung der Empfänger waren 12 . Ist eine hinreichende Gewissheit nicht zu erlangen, muss die Unsicherheit über den Kausalverlauf mit prozessualen Mitteln überwunden werden. Hier stehen im Wesentlichen zwei Hilfsmittel zur Verfügung, um trotz bestehender Zweifel für prozessuale Z w e c k e zu einer eindeutigen positiven oder negativen Feststel7 Vgl. BGHZ 31, 351 (357); BGHZ 100, 214 (216); BGH NJW 1968, 2139; BGH NJW 1983, 1548 (1551); Zöller/Greger, vor §284 Rdnr.31 (Willensentschlüsse); speziell zur Arzthaftung: Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr.495; Katzenmeier, Arzthaftung, 436f.; Laufs in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, §108 Rdnr. 3; Taupitz, ZZP 100 (1987), 287 (296); Gehrlein, Leitfaden zur Arzthaftpflicht, Rndr. B 118; G. Müller, NJW 1997, 3049 (3051 f.); dies., DRiZ 2000, 259 (265); Rehborn, MDR 1999, 1169 (1175). Differenzierend Lepa, FS Deutsch, 635. 8 Müller, DRiZ 2000, 259 (265). 9 BGHZ 11,227. 10 BGH VersR 1957, 252. Zu diesen Fällen etwa Kegel, FS Kronstein, 321 (328ff.); Wassermeyer, NJW 1954, 1119; Mummenhoff, Erfahrungssätze im Beweis der Kausalität, 124f. 11 BGHZ 11,227 (230). Ähnlich BGH VersR 1957,252: Da als Ansteckungsmöglichkeit nur die Blutübertragung „greifbar hervorgetreten und daher in Betracht zu ziehen ... und eine andere konkrete Ansteckungsmöglichkeit nicht ersichtlich ist, kann nach dem ersten Anschein nur [dieses] Blut als Ansteckungsstoff in Betracht kommen". 12 So zu Recht Kegel, FS Kronstein, 321 (330, 331f.).
32
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
lung der Kausalität zu gelangen. Erstens ermöglicht § 2 8 7 Z P O dem Richter nach herrschender Betrachtungsweise jedenfalls die haftungsausfüllende Kausalität auch dann zu bejahen, wenn er nicht voll, sondern nur in einem geringeren Umfang von ihr überzeugt ist 1 3 . Er darf sich hier mit einer „deutlich überwiegendein], auf gesicherter Grundlage beruhende[n] W a h r s c h e i n l i c h k e i t " 1 4 begnügen. Führt auch das nicht weiter, ergeht zweitens eine non-liquet-Entscheidung
zu
Lasten derjenigen Prozesspartei, die die Beweislast für die Kausalität trifft. Z w a r ist dies im Grundsatz der hilfesuchende M a n d a n t oder Patient. M a ß g e b l i c h e n Einfluss auf Sieg oder Niederlage gewinnt aber die Frage, inwieweit das Gericht bereit ist, von diesem Grundsatz abzuweichen und zugunsten des Opfers des „professionellen Fehlverhaltens" 1 5 eine Umkehr der Beweislast zu postulieren. Ausdrückliche gesetzliche N o r m e n gibt es in diesem Bereich nicht, so dass den Gerichten eine erhebliche Freiheit bei der Ausbildung der entsprechenden Regelungen zukommt. Ein genauerer Blick zeigt, dass trotz des im Ansatz identischen Problems bei Anwälten und Ärzten die heute von der Rechtsprechung eingeschlagenen Wege nicht nur verschlungen, sondern in erstaunlichem M a ß e unterschiedlich sind.
§2
Arzthaftung
Kausalitätszweifel können im Arzthaftungsrecht die Folgen zweier unterschiedlicher Formen ärztlicher Fehlleistungen betreffen: Z u m einen die Folgen von Behandlungsfehlern (unten I.), zum anderen die Folgen unterlassener oder fehlerhafter Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten (unten II).
I. D e r B e h a n d l u n g s f e h l e r
1. §287 ZPO Im R a h m e n der Arzthaftung spielt § 2 8 7 Z P O für die Kausalitätsfrage keine große Rolle: N a c h der auch von der herrschenden M e i n u n g in der Literatur 1 6 und v o m B V e r f G 1 7 getragenen Ansicht des B G H ist die N o r m auf die
haftungsbe-
Zöller/Greger, §287 Rdnr.3 m.w.N. G. Müller, DRiZ 2000, 259 (265) m.w.N.; zu großzügig BGH BJW 1995, 1023 (1024), wonach „eine je nach Lage des Falles höhere oder deutlich höhere, jedenfalls überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen kann". Näher zu den Anforderungen des §287 ZPO im Bereich des Kausalitätsnachweises unten S. 377. 15 Damm, JZ 1991, 373. 16 Vgl. hier nur MünchKommZPO/Prütting, §287 Rdnr.10; Musielak/Foerste, §287 Rdnr.4, je m.w.N. 17 BVerfG NJW 1979, 413 (414). 13
14
§2
gründende
33
Arzthaftung
Kausalität nicht anwendbar 1 8 . Damit ist den Gerichten für die
delik-
tische Haftung des Arztes nach § 8 2 3 Abs. 1 BGB, bei der die Entstehung eines (primären) Schadens an einem absoluten Recht nach herrschender Meinung zum Haftungsgrund zählt 1 9 , der Weg zu einem erleichterten Kausalitätsnachweis weitgehend versperrt 20 . Auf den ersten Blick müsste für die vertragliche
Haftung
anderes gelten, weil hier nach ständiger Rechtsprechung die Entstehung eines Schadens aus der Verletzung vertraglicher Pflichten (erst) bei der
Haftungsaus-
füllung zu prüfen ist 2 1 . Dies würde aber zu einer merkwürdigen Diskrepanz führen, je nachdem, ob man die Haftung für eine in Folge einer ärztlichen Behandlung aufgetretenen Komplikation auf der Grundlage des Behandlungsvertrages oder der §§ 8 2 3 ff. B G B prüft. Der B G H löst dieses Problem, indem er im Rahmen der vertraglichen Arzthaftung mit dem pauschalen Hinweis auf die ansonsten „untragbaren Ergebnisse" 2 2 auch die (haftungsausfüllende) Kausalbeziehung zum Schaden den strengen Anforderungen des § 2 8 6 Z P O unterwirft 2 3 . Untergerichte belassen es gelegentlich bei einem Lippenbekenntnis zu diesem Ansatz und sprechen unter § 2 8 6 Z P O vollen Schadenersatz in Fällen zu, in denen eigentlich nur § 2 8 7 Z P O helfen könnte. Selten allerdings findet man diesen „Ungehorsam" so offen wie in einer Entscheidung des O L G Koblenz aus dem Jahre 1 9 9 9 , in der das Gericht aus der Darlegung eines Sachverständigen, dass der Gesundheitsschaden des Patienten bei pflichtgemäßer therapeutischer Aufklärung durch den Arzt „mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 8 0 % vermieden worden" wäre, kurzerhand folgert, dass die Kausalität „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ( § 2 8 6 Z P O ) " feststehe 24 .
2. Beweislastumkehr
beim „groben
Behandlungsfehler"
Dem Patienten, der die haftungsbegründende Kausalität der ärztlichen Pflichtverletzung für den von ihm erlittenen Schaden nicht in einem für § 2 8 6 Z P O genügenden M a ß e nachzuweisen vermag, wird von der Rechtsprechung aber dadurch geholfen, dass die Beweislast umgekehrt wird, wenn dem Arzt ein Behandlungsfehler vorzuwerfen ist 25 : In diesem Fall soll der Arzt die
grober fehlende
BGH N J W 1983, 998. Vgl. MünchKommZPO/Prütting, § 2 8 7 Rdnr. 10 m.w.N.; B G H Z 4 , 1 9 2 (196). Näher zur Abgrenzung von § 2 8 6 und § 2 8 7 ZPO im Bereich der Kausalität unten S . 3 7 8 f f . 2 0 Anders noch BGH VersR 1965, 583 (584), wo das Gericht den Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen dem ärztlichen Fehler und der Bildung eines Gehirnabszesses nach § 2 8 7 ZPO beurteilt hat. Von dieser Entscheidung ist der BGH später ausdrücklich abgerückt (BGH VersR 1986, 1121 (1122) = N J W 1987, 705 (706)). 18
19
BGH N J W 1993, 3 0 7 3 . BGH N J W 1987, 705 (706). 2 3 BGH VersR 1987, 705 (706). 2 4 O L G Koblenz N J W 2 0 0 0 , 3 4 3 5 (3437). 25 Beginnend mit BGH VersR 1962, 960; BGH N J W 1965, 3 4 5 (346); neuere Rechtsprechungsnachweise bei Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 5 1 5 ff. Ausführliche Darstel21
22
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
34
Kausalität nachweisen, was ihm - jedenfalls in den veröffentlichten Entscheidungen - nie gelingt 2 6 . Die Einstufung eines Fehlers als „ g r o b " entscheidet somit über die (volle oder gänzlich ausgeschlossene) Haftung bei unsicherer Kausalität. a) Der grobe Behandlungsfebler
als Grundlage
der
Beweislastverteilung
Exemplarisch sind zwei aus einer Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle herausgegriffene Entscheidungen des O L G H a m m 2 7 und des O L G B r a n d e n b u r g 2 8 . Im Falle des O L G H a m m k a m es nach einer operativen Hüftgelenkimplantation zu einer Wundinfektion, weshalb die Endoprothese wieder entfernt wurde; nach diesem zweiten Eingriff „verblieb ein Rest des bei der Voroperation eingebrachten K n o chenzements sowie ein abgebrochenes Teilstück einer bei dieser Operation verwandten Metallzange im O p e r a t i o n s g e b i e t . " 2 9 Die Zweitoperation und eine anschließende antibiotische Behandlung führten - auf dieser Grundlage wenig überraschend - nicht zur Ausheilung der Infektion; dennoch wurde eine weitere operative Wundrevision zur Entfernung des Instrumententeils erst gut 9 Vi M o n a t e später durchgeführt, „ [ a b s c h l i e ß e n d heilte die Wunde z u " 3 0 und konnte wiederum ein J a h r später das künstliche Hüftgelenk reimplantiert werden. D e r Sachverständige führte im Prozess aus, dass bei regelgerechter Behandlung der Infektion (das heißt einer früheren zweiten Revisionsoperation) „gute bis sehr gute [...] Heilungschancen" bestanden hätten, die in Prozentzahlen auf etwa 9 0 % beziffert w u r d e n 3 1 . D e n n o c h wies das Gericht die Schadenersatzklage der Patientin vollständig a b , weil den behandelnden Ärzten kein fundamentaler Irrtum und deshalb kein schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst vorzuwerfen sei. Umgekehrt das Ergebnis des O L G Brandenburg: Hier war „das K r a n k e n h a u s " für die Verzögerung von M a ß n a h m e n gegen die Hüftfehlbildung eines Neugeborenen verantwortlich, nach Aussage des Sachverständigen selbst bei sofortiger Behandlung nur eine „bis zu 1 0 % i g e [...] Erfolgswahrscheinlichkeit"
bestanden h ä t t e 3 2 . D e n n o c h verurteilte das
lung der historischen Entwicklung der Rechtsprechung bei D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, 56ff. 2 6 Ausnahme OLG Hamm VersR 1982, 556 (557). 2 7 OLG Hamm, VersR 2 0 0 0 , 325. 2 8 OLG Brandenburg NJW 2003, 1383. 2 9 OLG Hamm, aaO. 3 0 OLG Hamm, aaO. 31 OLG Hamm, aaO. Wörtlich heißt es: „nicht deutlich über 9 0 % " . 3 2 OLG Brandenburg NJW 2 0 0 3 , 1383 (1386). Vgl. auch OLG Stuttgart VersR 1991, 821: Der beklagte Arzt hatte es versäumt, ein Geschwulst am Hals des Patienten, das er auf eine Neuralgie zurückführte, auch daraufhin zu untersuchen, ob es sich um ein Karzinom handelt. Der Patient starb später an Krebs, wobei seine Überlebenschance selbst bei rechtzeitiger Untersuchung und Diagnose allenfalls 25 bis 3 5 % (wahrscheinlich aber noch wesentlich weniger) betragen hätte. Dennoch verurteilte das OLG Stuttgart den behandelnden Arzt zu vollem Scha-
§2
35
Arzthaftung
O L G Brandenburg den Krankenhausträger zu vollem Schadenersatz, weil die Säumnis des Krankenhaus einen groben Behandlungsfehler darstelle
aa) Das „Gewicht" des groben
Fehlers
Kein Schadenersatz bei pflichtwidriger Vereitelung einer bei mindestens 9 0 % liegenden Heilungschance, voller Schadenersatz bei Vereitelung einer 10%igen Erfolgschance - warum gerade der „grobe" Behandlungsfehler das entscheidende Kriterium bilden soll, ist auch nach einer langen Reihe von Urteilen 33 noch unklar. Der B G H verweist stereotyp darauf, dass „durch das Gewicht des groben Fehlers die Aufklärung des Behandlungsgeschehens und insbesondere des Ursachenzusammenhangs zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden in besonderer Weise erschwert worden ist und der hierfür an sich beweisbelastete Patient sich deshalb unbillig in Beweisnot b e f i n d e t " 3 4 .
Damit greift er schon deshalb zu kurz, weil der Hinweis auf die Beweisnot des Patienten noch keine Begründung dafür liefert, warum
sie in dieser Konstellation
- und nur hier - auf Kosten des Arztes mittels einer Beweislastumkehr zu lindern ist 3 5 . Treffend hat Diederichsen
schon vor langer Zeit festgestellt:
„Die Beweisnot vermag - für sich genommen - den nicht erbrachten Beweis in keiner Weise zu e r s e t z e n " 3 6 .
Z w a r bezog Diederichsen
diese Aussage auf den Versuch, der beweispflichtigen
Partei allein unter Hinweis auf deren Schwierigkeiten bei der Beweisführung mit dem Anscheinsbeweis entgegenzukommen. Aber sie trifft umso mehr, wenn die Beweisnot nicht nur für eine Erleichterung der Beweislast, sondern deren vollständigen Überwälzung auf die Gegenseite herhalten soll. Im Rahmen der Haftung des Arztes für Aufklärungsmängel 3 7 sieht der B G H das interessanterweise ebenso. Dort ließ er der Erkenntnis, dass seine eigene Rechtsprechung den Arzt
denersatz, weil die versäumte Abklärung des Karzinomverdachts einen groben Behandlungsfehler darstelle. 3 3 Der Beginn der Rechtsprechung datiert auf die Mitte der sechziger Jahre, vgl. D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, 57f.; Katzenmeier, Arzthaftung, 4 4 0 , je mit zahlreichen Nachweisen. S. auch Deutsch, VersR 1988, 1. 3 4 B G H Z 85, 212 (216) = N J W 1983, 333; BGH N J W 1988, 2 9 4 9 ; BGH N J W 1994, 801; BGH N J W 1995, 778; B G H Z 132, 47 = N J W 1996, 1589. In der Sache nichts anderes besagen Formulierungen wie die vom Ausgleich für die Verschiebung oder Verbreiterung des „Spektrums der für den Mißerfolg in Betracht kommenden Ursachen" (BGHZ 85, 212), oder von „den in das Behandlungsgeschehen hineingetragenen Aufklärungserschwernissen" (BGH N J W 1988,2949). 3 5 So zu Recht schon Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, 92. 36 Diederichsen, VersR 1966, 211 (217). Zustimmend zur Rechtfertigung der Beweislastumkehr mit dem Gedanken der Beweisnot hingegen Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 XIII 2 b) (S. 168). 3 7 Näher dazu unten S. 67ff.
36
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
zuweilen „in eine fast ausweglose Beweislage" 38 bringe, keine Taten zum Schutz der Behandlungsseite folgen, sondern belehrte diese ungerührt: Das sei um der Selbstbestimmung des Patienten willen hinzunehmen39. Damit tritt das zweite Argument innerhalb der oben zitierten Aussage des BGH, nämlich die angebliche Korrelation zwischen dem „Gewicht" des ärztlichen Fehlers und der Schwierigkeit der Feststellung des Kausalzusammenhangs, in den Vordergrund. Leider hält auch dieses einer kritischen Überprüfung nicht stand. Plastisch macht dies schon die Umkehrung des Satzes: Wer würde zu behaupten wagen, dass bei einem Fehler, der „nur" als leicht oder mittelschwer zu bewerten ist, die Aufklärung des Ursachenzusammenhangs gerade deswegen leichter fällt und folglich dem Patienten überlassen bleiben darf? Tatsächlich hat die Ungewissheit über den Kausalverlauf mit der Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob, leicht oder mittelschwer nicht das Geringste zu tun. Ob in den obigen Beispielsfällen eine rechtzeitige Wundrevision die Heilung beschleunigt oder die Krebsuntersuchung den Tod des Patienten verhindert hätte, ist unsicher, weil die tatsächlichen biologischen Abläufe ebenso wie die hypothetischen bei unterstelltem pflichtgemäßen Handeln nicht im Einzelnen rekonstruierbar sind und man sich deshalb allenfalls über statistische Werte aus vergleichbaren Fällen der Wahrheit annähern kann. Das aber ist ein faktisches Problem, das auf einer anderen Ebene liegt als die Wertungsirage, ob im konkreten Fall „einfach" oder besonders schwerwiegend gegen medizinische Regeln verstoßen wurde. Diese Frage steht in keiner Beziehung zur Unsicherheit über den Kausalverlauf40. Deutlich wird dies auch an einem oben 4 1 bereits erwähnten neueren Urteil des O L G Stuttgart 4 2 . Die zur Beendigung einer mit einem Nabelschnur-Vorfall zusammenhängenden fetalen Sauerstoffunterversorgung notwendige Schnittentbindung hatte sich um sechs Minuten verzögert, weil die zuständige Belegärztin erst in Erfahrung bringen musste, wo sich der Schlüssel zum Operationssaal befand. Es blieb im Prozess unklar, ob die schweren Hirnschäden des Neugeborenen ihre Ursache in dieser Verzögerung hatten oder auf bereits zuvor eingetretenen Veränderungen in den Nervenzellen beruhten. Diese Ungewissheit wird nicht größer, wenn man sich mit dem Gericht entschließt, die Notwendigkeit der Schlüsselsuche als groben Organisations- = Behandlungsfehler 43 einzustufen. Eine sichere BGH NJW 1980, 1333 (1334). BGH NJW 1980, 1333 (1334). 4 0 Unzutreffend deshalb umgekehrt auch Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 253 Fn. 86, und Fleischer, J Z 1999, 766 (773), die ihre Kritik an der Rechtsprechung darauf stützen, dass die Beweisschwierigkeiten des Geschädigten sich in der Regel verringern, je gröber der Fehler des Arztes ist. Richtig hingegen Brüggemeier, Deliktsrecht, Rdnr. 684; Staudinger/Hager, $ 823 Rdnr. 159; RGRK/Nüßgens, § 823 Anh. II Rdnr. 306; U. Graf, Die Beweislast bei Behandlungsfehlern im Arzthaftungsprozeß, 123. 4 1 S. 18. 4 2 OLG Stuttgart VersR 2000, 1108. 4 3 Vgl. zu dieser Gleichsetzung BGH NJW 1994,1594; BGH NJW 1996,1016; U. Graf, Die Beweislast bei Behandlungsfehlern im Arzthaftungsprozeß, 107ff. 38
39
§2
Arzthaftung
37
Aussage über die Kausalität scheitert allein daran, dass eine exakte Korrelation zwischen Dauer der Sauerstoffunterversorgung und dem Auftreten von Hirnschäden wissenschaftlich nicht festgestellt werden kann. Diese in den Fakten begründete Hürde für die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wird durch das „Gewicht des groben Fehlers" nicht beeinflusst. Gleiches gilt etwa, wenn der Arzt nach einer Operation trotz bestimmter Anzeichen die Möglichkeit einer inneren Blutung zunächst übersieht und deshalb die notwendige Nachoperation zu spät durchgeführt 44 . Die Frage, ob der Patient durch ein rechtzeitiges Eingreifen hätte gerettet werden können, lässt sich nicht leichter oder schwerer beantworten, je nachdem ob man sich für eine Kategorisierung als verzeihlichen oder groben Fehler entscheidet 45 .
War der Arzt sträflich säumig oder hat er nur einen einfachen Fehler gemacht: Die Frage, ob bei Veranlassung der richtigen Maßnahmen der Krankheitsverlauf ein anderer gewesen wäre, ist in beiden Fällen gleich diffizil (oder leicht). Zwar kann man dem BGH darin zustimmen, dass „der grobe Verstoß gegen ärztliche Pflichten ... den Misserfolg der Behandlung besonders nahe legt." 4 6 Doch beschreibt der „Misserfolg der Behandlung" nur eine faktische Voraussetzung für einen Arzthaftungsstreit, der gar nicht geführt würde, wäre der Patient gesundet. Ob er aber gesundet wäre, hätte der Arzt ihn kunstgerecht behandelt, wird weder durch einen groben noch einen leichten Fehler „nahe gelegt". Die Frage nach dem hypothetischen Ausgang einer fehlerfreien Behandlung muss naturgemäß unter Hinwegdenken des ärztlichen Fehlers gestellt werden. Ihre Antwort kann deshalb durch dessen Bewertung als grob oder leicht nicht beeinflusst werden. Die Fixierung auf den groben Fehler birgt kurioserweise im Gegenteil in manchen Fällen die Gefahr, eine uneingeschränkte Haftung des Arztes für einen ungünstigen Krankheitsverlauf je eher zu bejahen, desto unwahrscheinlicher ein Kausalzusammenhang ist. Denn je schwerer die Vorbelastung des Patienten (beispielsweise weit vorangeschrittenes Krebsleiden) ist, desto eher wird man geneigt sein, in ihrer Verkennung durch den Arzt einen groben Fehler zu sehen, für den er infolge der Beweislastumkehr einzustehen hat, obwohl gerade in dieser Konstellation die Wahrscheinlichkeit rapide sinkt, dass der Arzt mit der richtigen Diagnose und Therapie den negativen Verlauf noch hätte abwenden können 47 . Vgl. den Sachverhalt in BGH VersR 1968, 850. Weiteres Beispiel: Ob die Hausärztin einen in einer dauerhaften Schwerbehinderung endenden Selbstmordversuch ihrer depressiven Patientin durch den von ihr verweigerten Hausbesuch hätte verhindern können, kann man bei einer Einstufung ihrer Untätigkeit als einfache oder grobe Pflichtverletzung nicht leichter oder schwerer beantworten (vgl. den Sachverhalt in BGH NJW 2001, 2794). 4 6 BGHZ 126, 217 (223). 4 7 Vgl. Stark, Diskussionsbeitrag in Guillod (Hrsg.), Colloque Développements récents du droit de la responsabilité civile, 146 (148). Lehrreich in dieser Hinsicht etwa der Sachverhalt BGH NJW 2000, 2737: Bei einem mit schweren Komplikationen behafteten Geburtsvorgang, der schließlich zur Geburt eines toten und eines schwer dauergeschädigten Kindes geführt hatte, lag den beteiligten Ärzten und der Hebamme zur Last, die Geburt etwa eine Stunde zu spät eingeleitet zu haben. Dies wurde im Wege einer „Gesamtbetrachtung" aller Umstände ohne nähere Erläuterung als grober Fehler gewertet, mit der Folge, dass die Ärzte und der Krankenhausträ44 45
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
38
bb) Die Waffengleichheit
im
Arzthaftungsprozess
Das nach alledem wenig überzeugende Argument der „Schadensgeneigtheit" des groben Behandlungsfehlers wird gelegentlich unterstützt durch den Hinweis auf die Waffengleichheit der Parteien im Arzthaftungsprozess 4 8 , die es durch eine angemessene Verteilung des Beweisrisikos für den Kausalzusammenhang zu bewahren bzw. herzustellen gilt. Dies vermag zwar bei genauer Betrachtung nicht den „ g r o b e n " Behandlungsfehler als entscheidende Bezugsgröße zu rechtfertigen, k ö n n t e aber immerhin plausibel machen, dass den Beweisnöten des Patienten mit einem irgendwie gearteten K o m p r o m i s s zu begegnen ist, ohne ihn in allen Situationen gegenüber dem Arzt zu bevorzugen - und gibt der Lösung über die Verankerung des Waffengleichheitsprinzips in Art. 3 G G bzw. dem allgemeinen R e c h t auf ein faires Verfahren 4 9 zugleich verfassungsrechtliche W e i h e n 5 0 . Gestört sei die Waffengleichheit, so die Argumentation, dadurch, dass der Arzt im Haftungsprozess regelmäßig einen deutlichen Wissensvorsprung gegenüber dem Patienten habe, der als „medizinischer L a i e " 5 1 den Ablauf der Heilbehandlung im allgemeinen und die Entwicklung seines körperlichen Zustands im besonderen mangels des erforderlichen Fachwissens und der notwendigen U m standkenntnisse nicht hinreichend zu deuten vermag. Das gelte insbesondere dann, wenn zur Wahrung oder Wiederherstellung der Gesundheit Eingriffe in die körperliche Integrität unter Ausschaltung des Bewusstseins vorgenommen wurden 5 2 . Hier könne man dem Patienten nicht anders zur Verwirklichung seines Rechts verhelfen, als dass m a n jedenfalls in Fällen groben ärztlichen Versagens die Bürde der Beweislast für den Kausalzusammenhang nimmt. Auch diese Argumentation steht auf tönernen Füßen. Bezeichnend ist schon, dass ein persönliches Informations- oder Wissensgefälle 5 3 zwischen den Parteien ger auf vollen Schadenersatz hafteten, obwohl nach den vom BGH zugrunde gelegten Feststellungen des Berufungsgerichts der Kausalverlauf nicht nur unklar war, sondern im Gegenteil sogar feststand, dass jedenfalls ein (allerdings nicht genau abgrenzbarer) Teil der Schäden auch bei fehlerfreier Arbeit nicht hätte vermieden werden können. 48 Gehrlein, Leitfaden zur Arzthaftpflicht, Rndr. B 117; U. Graf, Die Beweislast bei Behandlungsfehlern im Arzthaftungsprozeß, 138f.; Krämer, FS Geiß, 4 3 7 (447f.); Rehborn, M D R 2 0 0 0 , 1318 (1320); Ziegler, J R 2 0 0 2 , 265 f. 4 9 Grundlegend: Tettinger, Fairness und Waffengleichheit (1984); vgl. ferner Vollkommer, FS Schwab, 503; Baumgärtel, FS Matscher, 29; Müller, NJW 1976, 1063 (zum Strafprozess). 5 0 Zu Recht kritisch zur Verankerung der „Waffengleichheit" in der Verfassung Lepa, FS Steffen, 261 (263): „Der Ruf nach ,Waffengleichheit' ist... nichts weiter als die Ermahnung zur Beachtung der den Zivilprozeß beherrschenden allgemeinen Grundsätze. Damit erweist sich die Heranziehung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, die die Vorstellung erweckt, als führe sie zu weiterreichenden verfassungsrechtlich gebotenen Folgerungen, als verzichtbar." Zusammenfassend zu ,,verfassungsrechtliche[n] Fragen im Arzthaftungsrecht" Krämer, FS Geiß, 437. Gross, FS Geiß, 4 2 9 (432). BGHZ 126, 2 1 7 (223). 5 3 Dazu etwa BGH NJW 1984, 1823; in der Literatur Krämer, FS Geiß, 4 2 9 (446); Katzenmeier, Arzthaftung, 377 m.w.N. 51
52
§2 Arzthaftung
39
eines Rechtsstreits außerhalb des Arzthaftungsrechts noch niemanden dazu veranlasst hat, mit dem Hinweis auf die Waffengleichheit Beweislastregeln aus den Angeln zu heben. Disparitäten zwischen den Parteien in Sach- und Fachkunde oder in der Prozesserfahrung, im sachlichen oder rechtlichen Informationsstand oder in der intellektuellen Leistungsfähigkeit sind nicht auf Arzthaftungsprozesse beschränkt. Dennoch ist bislang kein Fall bekannt geworden, in dem etwa in einem Baumängelprozess die Beweislastregeln allein deshalb verändert wurden, weil der Bauherr als „baufachlicher Laie" anders als der Bauunternehmer über keinerlei bauhandwerkliche Fachkenntnisse verfügt und auch den Baufortschritt im Einzelnen nicht verfolgen konnte. Und zu Recht: Das verfahrensrechtliche Prinzip der Waffengleichheit besagt lediglich, dass „die Parteien [...] ohne Rücksicht auf ihre Stellung als Angreifer oder Gegner oder ein etwa außerprozessual bestehendes Uber- und Unterordnungsverhältnis im gerichtlichen Verfahren die gleiche Rechtsstellung" haben 54 , oder, knapper, dass beiden Prozessparteien theoretisch wie praktisch gleiche Verteidigungs- und Angriffsmittel zu gewähren sind 55 , die das Gericht in einer objektiven und fairen Verhandlung und unter neutraler Rechtsanwendung verwerten muss 56 . Dass die Erreichung dieses Ziels im Arzthaftungsprozess aus der Natur des Verfahrensgegenstandes heraus stärker als in anderen Bereichen gefährdet ist, behaupten auch diejenigen nicht, die dem Prinzip der Waffengleichheit eine stärkere Rolle wünschen. In der Tat ist eine verfahrensrechtliche Ungleichbehandlung von Patient und Arzt nicht leicht zu erkennen: Der Patient kann unabhängig von seiner persönlichen Vertrautheit mit medizinischen Dingen im Allgemeinen oder dem Ablauf seiner Behandlung im Besonderen vor Gericht mit den entsprechenden Klage- und Beweisanträgen unter Einbeziehung etwa von Sachverständigengutachten ebenso auf einen ihm günstigen Verfahrensausgang hinwirken, wie es umgekehrt auch der Behandlungsseite möglich ist. Die Waffen, die er hat, sind dieselben, die auch seinem Gegner zur Verfügung stehen. Allerdings können diese Waffen stumpf sein, wenn die Anforderungen an ihren Einsatz so hoch geschraubt werden, dass der Kläger unabhängig von der Qualität der Verteidigung zum Scheitern verurteilt ist. Dies betrifft insbesondere Darlegungs- und Substantiierungspflichten des Klägers. Mangelnder Einblick in das Behandlungsgeschehen und das Fehlen medizinischen Fachwissens wird regelmäßig dazu führen, dass der Kläger zu einer in medizinisch-wissenschaftlicher Hinsicht präzisen Erfassung und Darstellung des Konfliktstoffes sowie einem lückenlosen Klagevortrag zum Behandlungsfehler und zum Ursachenzusammenhang kaum in der Lage ist. Droht hier die Abweisung der Klage bereits wegen mangelnder Schlüssigkeit der Klageschrift, wäre der Kläger vorprozessual zu zeitraubenden, schwierigen und teilweise kostspieligen M a ß n a h m e n zur Vermeidung dieses Defizits gezwungen (vorprozessuales Sachverständigengutachten, eigene Beiziehung der KrankenStein/Jonas/Schumann, Einl., Rdnr. 5 0 6 . BVerfGE 55, 72 (94); BVerfGE 6 9 , 1 2 6 (139f.); MüncbKommZPO/Lüke, m.w.N.; Baumgärtel, FS Matscher, 2 9 (31). 5 6 BVerfGE 52, 131 = N J W 1 9 7 9 , 1925 (1927). 54
55
Einl. Rdnr. 144
40
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
unterlagen, Anrufung einer Gutachter- oder Schiedsstelle etc.). Unabhängig davon, wie sinnvoll solche Maßnahmen in der Sache sind: Werden sie zu einer zwingend notwendigen „Klagevoraussetzung", ist die verfahrensrechtliche Stellung von Kläger und Beklagtem aus der Balance, sind die Hürden für den Kläger größer als für den Beklagten. Deshalb ist man sich im Grundsatz darüber einig, dass aus dem Postulat der Waffengleichheit im Prozess heraus an die Darlegungs- und Substantiierungspflichten des klagenden Patienten im Arzthaftungsprozess „nur maßvolle Anforderungen" zu stellen sind 57 , auch wenn eine Präzisierung dieses Ansatzes Schwierigkeiten bereitet 58 . M i t der Beweislast hat die Waffengleichheit im Prozess aber nichts zu tun. Richtig ist, dass den klagenden Patienten das Beweisrisiko im Schadenersatzprozess härter trifft als seinen Gegner: Ein non liquet im Hinblick auf den Kausalzusammenhang wirkt sich ohne abfedernde M a ß n a h m e n stets zu seinen Lasten aus. Dabei geht es aber nicht um Verfabrensgaiantien,
sondern um die Entscheidung
in der Sache. Die Verteilung des Risikos der Nichtbeweisbarkeit eines bestimmten Umstandes orientiert sich nicht an der formalen Gleichheit im Prozess, sondern an materiellen
Kriterien: Der vermeintliche Inhaber eines Anspruchs muss
dessen Voraussetzungen und deshalb regelmäßig mehr beweisen als sein Gegn e r 5 9 , der „ n u r " für den Beweis der rechtshindernden und rechtsvernichtenden Einwendungen Sorge tragen m u s s 6 0 . Gelingt der Beweis nicht, fingiert die Beweislastnorm für den Regelfall das Nichtbestehen des fraglichen Umstands zu Lasten des nach diesen Kriterien subjektiv Beweisbelasteten 6 1 , dementsprechend fällt die Entscheidung über den eingeklagten Anspruch aus. Die Beweislast ist eine Figur des materiellen R e c h t s 6 2 , weshalb sie kollisionsrechtlich etwa für das Vertragsrecht nach Art 3 2 Abs. 3 S. 1 E G B G B = Art. 1 4 E V Ü dem Vertragsstatut unterstellt wird. Wer dem anspruchstellenden Patienten einen Schadenersatzanspruch zu leichteren Bedingungen (nämlich ohne Nachweis des ansonsten eine Anspruchsvoraussetzung bildenden Kausalzusammenhangs) verschaffen will, 5 7 BGH NJW 1981, 630 (631); BGH VersR 1981 (752); BGH NJW 1987, 500; OLG Oldenburg, VersR 1998, 1156; OLG Brandenburg OLG-Rep. NL 2002, 244 (245); Laufs, Arztrecht, Rdnr. 586; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 371; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 382; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 580f. m.w.N.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. E 2; Greiner, in: Ratajczak (Schriftltg.), Waffen-Gleichheit, 55. 5 8 Näher dazu Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. E 2ff.; Schmid, NJW 1994, 767; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 239. „Richtig" wird der Begriff der Waffengleichheit auch in der Entscheidung BGH NJW 1988, 2302, verwendet. Dort nimmt das Gericht auf ihn Bezug um zu begründen, warum dem medizinisch nicht sachkundigen Patienten Gelegenheit zu geben ist, zu einem mündlich erstatteten Sachverständigengutachten nochmals Stellung nehmen zu können, nachdem er sich selbst anderweitig sachverständig hat beraten lassen. 59 Stürner, NJW 1979, 2334 (2337). 6 0 Statt aller Coester-Waltjen, JURA 1996, 608. 61 Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 168. 6 2 Jedenfalls soweit es - wie hier - um Unklarheiten bezüglich der tatsächlichen Voraussetzungen materiellrechtlicher Normen geht, Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 30; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 117 III 1; Stürner, FS Stoll, 691 (692) Vgl. auch Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, Rdnr. 371 f.
$2
Arzthaftung
41
als sie üblicherweise gefordert werden, muss dies folglich auf der Ebene des materiellen Rechts unter Abwägung der geschützten Interessen von Arzt und Patient begründen 63 . Anders ausgedrückt: Der Grundsatz der Waffengleichheit verbietet als Verfahrensgarantie ungleiche Anforderungen an Beweisführung und Beweismaß, hat aber mit der objektiven Beweislast, also dem Beweisrisiko, keine Berührungspunkte. In den Worten Schurigs: ,,[M]it,Waffengleichheit' k a n n nur die Chancengleichheit gemeint sein, die jeweiligen Argumente vor Gericht zum Tragen zu bringen, doch aber niemals die Frage, wie über die Interessen der Parteien überhaupt zu entscheiden i s t " 6 4 .
1979 hat dies das BVerfG (das heißt die vier Richter, deren Auffassung bei Stimmengleichheit die eine Verfassungsbeschwerde zurückweisende Entscheidung des Gerichts trugen) ebenfalls deutlich ausgesprochen: „, Waffengleichheit' als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitsgedankens ist im Zivilprozeß zu verstehen als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter, der - auch im Hinblick auf die grundrechtlich gesicherte Verfahrensgarantie des Art. 103 I G G - den Prozessparteien im R a h m e n der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einz u r ä u m e n hat, alles f ü r die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen u n d alle zur A b w e h r des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen (...). Ihr entspricht die Pflicht des Richters, diese Gleichstellung der Parteien durch eine objektive, faire Verhandlung unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung u n d Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, d u r c h unparteiische R e c h t s a n w e n d u n g u n d durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozeßbeteiligten zu w a h r e n (...). D a r ü b e r hinaus lassen sich aus der so verstandenen prozessualen ,Waffengleichheit' f ü r das zivilprozessrechtliche Erkenntnisverfahren mit seiner von der jeweiligen Beweislage und den geltenden Beweisregeln abhängigen Verteilung des Risikos a m Verfahrensausgang keine verfassungsrechtlichen Folgerungen herleiten (,..)" 6 5 . 63
Vgl. Stürner, NJW 1979, 2334 (2337), in der Sache ebenso Baumgärtel, FS Matscher, 29
(36) 64 Schurig, Gedächtnisschrift Lüderitz, 699 (705, Hervorhebung im Original), zur Rechtfertigung der 1999 erfolgten Neuregelung des Internationalen Deliktsrechts (Art. 40 EGBGB) mit der „Waffengleichheit". Anders, aber ohne erkennbare Begründung Schlemmer-Schulte, Beweislast und Grundgesetz, 92, die das „Gebot der prozessualen (!) Waffengleichheit" erst dann „mit Leben erfüllt" sieht, wenn ihm materielle Wertungen entnommen werden. Ähnlicher begründungsloser Kurzschluss bei Reinhardt, NJW 1994,93 (94): „Die originär rechtsstaatliche Komponente des fairen Verfahrens selbst soll die Partei davor schützen, im Prozeß überfahren, zurückgesetzt, allein gelassen oder mit unbilligen Lasten belegt zu werden. Das bedeutet, das Rechtsstaatsprinzip zielt insoweit im Gerichtsverfahren auf die Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit und wird damit zum inhaltlichen Prüfstein zulässiger Umkehr der Beweislast". 65 BVerfG NJW 1979, 1925 (1927f.; Richter Rinck, Wand, Rottmann und Träger). Anders, aber (bewusst?) ungenau die Richter Zeidler, Hirsch, Niebier und Steinberger: Die Verpflichtung des Gerichts, von Mal zu Mal zu prüfen, ob dem Patienten die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf, „ergibt sich unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines gehörigen, fairen Gerichtsverfahrens, insbesondere aus dem Gebot der ,Waffengleichheit im Prozeß'"(1926).
42
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
Auch wenn diese Worte speziell auf die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr im Arzthaftungsprozess gemünzt waren, haben sie bei den Zivilgerichten nicht zu einem Umdenken geführt. Vorwerfen kann man das ihnen k a u m , geht doch auch die Wissenschaft mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Arzthaftungsprozess nicht sorgfältiger um. So setzt sich etwa eine Dissertation aus dem J a h r 2 0 0 0 unter dem Titel „Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß" das Ziel, einen Beitrag zur Lösung des „Spannungsfeld[es] bei der Beweislast im Arzthaftungsprozeß" zu leisten 6 6 - ohne über die den Sinngehalt verfälschende Wiedergabe nur des ersten Satzes des obigen Zitates des BVerfG hinaus auch nur eine Zeile auf die Erläuterung des Zusammenhangs zwischen der Waffengleichheit im Prozess und der Beweislast zu verschwenden. cc) Der Gefahrenbereich
des
Arztes
Tatsächlich dürften hinter dem prozessual eingekleideten Argument der Waffengleichheit auch eher materielle Wertungen stecken. Das „überlegene W i s s e n " des handelnden Arztes um den Ablauf der Heilbehandlung soll ihn in eine größere N ä h e zur Unaufklärbarkeit des Kausalverlaufs bringen 6 7 . K a n n m a n diesen damit dem Gefahrenbereich des Arztes zurechnen 6 8 , so ist es nur noch ein kleiner Schritt, ihm die diesbezügliche Beweislast aufzubürden, entsprechend der insbesondere im Bereich des Verschuldens früher außerhalb von § 2 8 2 B G B unter Berufung auf den Sphärengedanken geübten Gepflogenheiten 6 9 . D o c h k a n n dieses Argument zum einen wiederum nicht die Wasserscheide des „ g r o b e n " Behandlungsfehlers erklären, denn die Grenzen des dem Arzt zugewiesenen Gefahrenbereich hängen nicht von der Schwere des an ihn gerichteten Vorwurfs a b 7 0 . Z u m anderen, und wichtiger n o c h , ist der Prämisse nicht zuzustimmen: Dass der Arzt die Heilbehandlung
beherrscht, führt nicht dazu, dass ihn auch das R i s i k o der
Unaufklärbarkeit des Kausalverlaufs
treffen muss. Im Gegenteil, gerade wegen
des ungeklärten Kausalverlaufs ist ungewiss, ob die letztlich eingetretene Gesundheitsverschlechterung auf der Behandlung des Arztes gründet oder unabhängig von dieser ihre Ursache in der gewiss der Risikosphäre des Patienten zuzuordnenden Vorerkrankung findet 7 1 . Solange offen ist, o b die Ursache der Verletzung nicht auch außerhalb des ärztlichen Pflichtverstoßes liegen k a n n , k a n n der Sphärengedanke nicht tragen. Kerschbaum, Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß, 3. Etwa BGH NJW 1967, 1508f. 6 8 Vgl. U. Graf, Die Beweislast bei Behandlungsfehlern im Arzthaftungsprozeß, 130. 6 9 Vgl. MünchKomm/Emmerich, vor §275 Rdnr. 312 m.w.N. 70 Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, 70 m.w.N. So auch RGRK/Nü/?gens, § 823 Anh. II Rdnr. 306, der die Begrenzung der Beweislastumkehr auf Fälle des groben Behandlungsfehlers hilfsweise damit rechtfertigen will, dass die Gerichte nur in „nicht mehr tragbaren Fällen" von der gesetzlichen Beweislastregel abweichen dürfen. 71 Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, 69 m.w.N. 66
67
§2
dd) Die Ursächlichkeit
Arzthaftung
des Arztes für die
43
Beweisnot
Dem Sphärengedanken nahe liegt schließlich das Argument, der Arzt müsse sich deshalb mit der Beweislastumkehr abfinden, weil er selber durch seine Pflichtwidrigkeit die beweislose Situation erst geschaffen habe 7 2 . Überspitzt formuliert: Weil der Arzt mit seinem Kunstfehler immerhin die Ursache dafür gesetzt hat, dass man sich jetzt fragen kann und muss, ob der Gesundheitsschaden des Patienten auf diesen zurückzuführen ist, kann ihm zugemutet werden, das Risiko der Nichterweislichkeit zu übernehmen. Die Kausalität des Arztes für das Aufwerfen der Frage nach dem Kausalzusammenhang ersetzt dessen Nachweis durch den Patienten. Aber auch das ist schon wiederholt zurecht gerückt worden: Der feststehende Pflichtverstoß als solcher bewirkt keine Verantwortlichkeit des Arztes für das Beweisrisiko hinsichtlich seiner nur möglichen Folgen. Anders wäre dies nur dann, wenn die ärztlichen Sorgfaltspflichten, die er verletzt hat, zumindest auch dem Zwecke dienen, den Patienten vor einer Beweisnot hinsichtlich der Kausalität zu bewahren, also zu Beweiszwecken festgeschrieben worden sind 73 . Es liegt auf der Hand, dass dem nicht so ist: Arztliche Behandlungsstandards sollen entsprechend zu den Standards anderer Berufsgruppen 74 die bestmögliche Behandlung des Patienten gewährleisten, nicht aber die Beweissituation des Patienten verbessern, wenn ihnen nicht entsprochen wurde 75 . ee) Die
Billigkeit
Es bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass es keinen sachlich überzeugenden Grund für die Beweislastumkehr anhand des Kriteriums des groben Behandlungsfehlers gibt. In der höflicheren Formulierung von Laufs: „Die richterlichen Argumente haben noch nicht allgemein zu überzeugen vermocht" 7 6 . Dazu passt, dass auch die vom BGH (ersatzweise?) beschworene Kontinuität seiner Rechtsprechung zu reichsgerichtlichen Entscheidungen 77 tatsächlich nicht gegeben ist 7 8 . Das Reichsgericht hat bis zuletzt daran festgehalten, dass es grundsätzlich nicht zu Lasten des Arztes gehen könne, wenn die Ursachen der misslungenen Heilung des Patienten nicht auf7 2 Vgl.BGH LM 25 zu §286 (C) ZPO; BGH NJW 1968, 1185; zustimmend Blomeyer, AcP 158 (1959/60), 97 (105). 73 Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, 67 m.w.N. 7 4 Vgl. zur Anwaltshaftung BGH J Z 1988, 656 (659): Die Pflicht des Anwalts zur eindeutigen Formulierung eines Vertragsentwurfs soll den Mandanten vor Streitigkeiten mit dem Vertragspartner schützen, nicht aber vor Beweisschwierigkeiten in einem Haftungsprozess gegen den Anwalt. 75 D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, 79; Kerschbaum, Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß, 56f.; Matthies, NJW 1983, 335; abweichend Stoll, FS v. Hippel, 517 (550ff.) 76 Laufs, in: Laufs/Vhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110 Rdnr. 1. 7 7 So ausdrücklich BGH LM ZPO § 286 (C) Nr. 25 und § 287 Nr. 15. 7 8 So schon zu Recht Kleinewefers/Wilts, VersR 1967, 617 (619f.).
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
klärbar seien 7 9 . Zwar setzte es hinzu, eine „gerechte Interessenabwägung" könne im Einzelfall unter Umständen erfordern, dass der Arzt sich hinsichtlich der NichtUrsächlichkeit seines Fehlers entlasten müsse 8 0 , wobei ein solcher Fall insbesondere eintreten könne (nicht müsse!), wenn „der Arzt den Kranken bewusst oder leichtfertig" gefährdet hat 8 1 . Damit aber wurde einem tastenden, flexiblen Ansatz das Wort geredet, nicht eine hard and fast rule formuliert, wie sie der BGH mit der Brechstange des „groben Behandlungsfehlers" entwickelt hat. D e n n o c h ist grundsätzliche Kritik a n der B G H - R e c h t s p r e c h u n g zur Beweislastumkehr bei einem g r o b e n Behandlungsfehler erstaunlich selten zu vernehm e n 8 2 und in den letzten J a h r e n fast ganz v e r s t u m m t , zumal im medizinrechtlich spezialisierten S c h r i f t t u m 8 3 . Z u sehr scheint die M ö g l i c h k e i t , die B e w e i s n o t des Patienten im Einzelfall zu Lasten des pflichtwidrig handelnden Arzt lindern zu k ö n n e n , einem w e n n a u c h diffusen Bild der Billigkeit plarisch die H a l t u n g von Heinemann,
zu e n t s p r e c h e n 8 4 . E x e m -
der einerseits zutreffend erkennt, dass die
A n k n ü p f u n g der Beweislastumkehr an den g r o b e n V e r s t o ß „ w i l l k ü r l i c h " und „ s c h w e r n a c h v o l l z i e h b a r " i s t 8 5 , andererseits aber meint, dass diese R e c h t s p r e c h u n g im Interesse eines gerechten Ausgleichs der Interessen der „ h i n [ z u ] n e h m e n " s e i 8 6 . Ähnlich jüngst Katzenmeier:
Parteien
T r o t z des „Begründungsde-
f i z i t s " 8 7 der R e c h t s p r e c h u n g , das a u c h ergänzende eigene Überlegungen oder solche anderer A u t o r e n nicht „ d o g m a t i s c h restlos ü b e r z e u g e n d "
ausgleichen
RGZ 171, 168 (171); RG HRR 1937, 1301. RGZ 171, 168 (171). 8 1 RGZ 171, 168 (171). 8 2 Ablehnend aber Kerschbaum, Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß, 72f., im Gefolge von Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 145 ff. (Beweislastumkehr neben dem Anscheinsbeweis überflüssig) Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, 66ff.; Fleischer, J Z 1999, 766 (773: Beweismaßreduktion vorzuziehen); Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 23 8 f. 8 3 Grundsätzlich zustimmend (mit gelegentlich abweichender dogmatischer Begründung oder Bedenken im Detail) oder unkritisch referierend etwa Geigel/Rixecker, Der Haftpflichtprozeß, Kap. 37 Rdnr. 81; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr.406ff.; U. Graf, Die Beweislast bei Behandlungsfehlern im Arzthaftungsprozeß, 141 f.; Gross, FS Geiß, 429 (430f.); Jorzig, MDR 2001, 481; D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß (1982), 184; Schmid, NJW 1994, 767 (772); Lange/Schiemann, Schadensersatz, §3 XIII 2 b); Staudinger/Hager, §823 Rdnr. 159; Stoll, FS Steffen, 465 (474f.). Zahlreiche weitere Nachweise von Zustimmung in der Literatur von Larenz (Schuldrecht I, § 29IV) über Jauernig (Zivilprozeßrecht, § 50 VII3, S) und Rosenberg/Schwab/Gottwald (Zivilprozeßrecht, § 117 II 6 b) bis Baumgärtel (Handbuch der Beweislast im Privatrecht I, §823 Anh. C II Rdnr. 33) bei Katzenmeier, Arzthaftung, 459 Fn.345. 79
80
84 Vgl. Deutsch/Matthies, Arzthaftungsrecht, 61 f.: „Die Grundlagen [der Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler] verlieren sich im Billigkeitsrecht"; Gross, FS Geiß, 429 (430): „Ihre innere Rechtfertigung findet diese Beweislastverlagerung in einer - vorwiegend Billigkeitsgesichtspunkte berücksichtigenden - Interessenabwägung". 85 Heinemann, NJW 1990, 2345 (2352). 86 Heinemann, NJW 1990, 2345 (2352). 87 Katzenmeier, Arzthaftung, 462.
§2
Arzthaftung
45
können 88 , handele es sich um „die relativ beste Lösung zur Harmonisierung der im Prozeß widerstreitenden Interessen und zur Herbeiführung materieller Gerechtigkeit" 89 . Der BGH selbst bedient sich ebenfalls gerne der „Billigkeit" 90 und ähnlicher konturenloser Schlagworte wie „gerechte Interessenabwägung", „Zumutbarkeit", „Angemessenheit" oder der bereits erwähnten „unbilligen Beweisnot", um die besonderen Beweislastregeln im Arzthaftungsprozess zu rechtfertigen 91 . Nun ist der Wunsch, einen konkreten Konflikt einer „billigen" oder „gerechten" Lösung zuzuführen, sicherlich lobenswert. Als Ersatz für die Begründung eines in sich geschlossenen und schlüssigen Konzepts taugt er aber nur bedingt: Die Billigkeit ist das Ziel, nicht der Weg der Rechtsfindung, will man sich nicht dem Vorwurf der „Kadijustiz" aussetzen 92 . Zwar ist im Grundsätzlichen nichts dagegen einzuwenden, wenn Gerichte im schwierigen Einzelfall, in dem sie das Schicksal des konkreten Patienten bewegt, eine hic et nunc billige, also gerechte Entscheidung auch dann anstreben, wenn dafür die Unterstützung kategorisch brauchbarer Merkmale fehlt und sie von der allgemeinen, abstrakten Lösung, die das Gesetz für Konfliktslagen der entscheidungserheblichen Art bereithält, absehen müssen 93 . In diesem Sinne mögen manche der Einzelfälle, die am Beginn der Rechtsprechungsentwicklung stehen, „richtig" entschieden sein. Wo aber die Billigkeit allein tragendes Stück der Begründung ist, handelt es sich bestenfalls um Naivität, schlimmstenfalls wird der Knoten der widerstreitenden Interessen mit primitiver und nicht unbedingt treffgenauer Brachialgewalt durch-
88 Katzenmeier, Arzthaftung, 466. Ebenso Poll, Die Haftung der Freien Berufe, 158: „[D]ie Fallgruppe der groben Pflichtverletzung [bietet] weniger eine dogmatisch und tatsächlich nachvollziehbare Abgrenzung als einen möglichen Kompromiß zwischen den Interessen des Berufsangehörigen und des Geschädigten." 89 Katzenmeier, Arzthaftung, 459. 9 0 G. Müller, Mitglied im zuständigen VI. Zivilsenat des BGH, bezeichnet die Billigkeit ausdrücklich als den die Beweislastumkehr „tragenden Gesichtspunkt" (DRiZ 2 0 0 0 , 2 5 9 (266)), noch deutlicher das frühere Mitglied Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, 53 f.: „Eine rationalere Begründung als die, daß es u.U. unbillig ist, dem grob falsch behandelten Patienten den meist unmöglichen Kausalitätsnachweis aufzubürden, gibt es dafür m.E. nicht". 9 1 Etwa BGH NJW 1981, 2 5 1 3 (2514); BGH LM § 2 8 6 (C) ZPO Nr. 25; BGH LM § 2 8 7 ZPO Nr. 15; BGH VersR 1962 969 (961); BGH VersR 1968; 4 9 8 (499); BGH VersR 1971, 2 2 7 (229). 9 2 Vgl. Esser, Wege der Rechtsgewinnung, 152. Wenig Trost spendet, dass sich eine vergleichbare Hinwendung zu einer konturenlosen Billigkeitsrechtsprechung bei schwierigen Kausalitätsfragen unter dem Deckmantel der Einzelfallgerechtigkeit auch in anderen Rechtsordnungen findet, vg. z.B. die Kritik von Price an der Leichtigkeit (ease) „with which [English] judges will tinker with the Standard of proof to achieve justice in individual cases." [Price, (1989) 38 ICLQ 735 (750)). 9 3 „Es wäre geradezu unnatürlich, wenn das Streben nach konkreter Gerechtigkeit, das im materiellen Recht zu einer Fülle von Tatbestandsverfeinerungen, aber auch von echten Neuschöpfungen durch die Rechtsprechung geführt hat, vor dem Gebiet des Beweisrechts haltmachen würde" (Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, 21 f.).
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
46
schlagen 9 4 . Und wenn m a n , wie es die Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht tut, eine in einem Einzelfall billig erscheinende Lösung zu einem allgemein geltenden Grundsatz aufwertet, so führt dessen Anwendung oft gerade wegen der fehlenden Rückversicherung im positiven Recht in anderen Einzelfällen zu unbilligen Ergebnissen: Hard cases make bad law ist eine dem anglo-amerikanischen Juristen geläufige Erkenntnis. Aus den besonderen Umständen eines Einzelschicksals geschöpfte Billigkeitserwägungen sind für sich genommen zu schwach, um eine allgemein gültige richterliche Sonderregel zur Beweislast methodisch und inhaltlich hinreichend zu legitimieren 9 5 . Eine programmatische Rechtsfortbildung bedarf eines festen dogmatischen und systematischen Standes 9 6 . Fehlt es, wie hier, an diesem, können paradoxerweise unbillige Urteile die Folge einer in abstrakte Formeln gegossenen Billigkeitsrechtsprechung sein: „Trop d'équité tue l'équité"97. Dies kann k a u m trefflicher illustriert werden als durch einige Gerichtsentscheidungen auf der Grundlage des B G H - K o n z e p t s . Ist es wirklich ein gerechter Interessenausgleich, wenn der Arzt vollen Schadenersatz leisten muss, o b w o h l das Gericht ausdrücklich feststellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen seinem Fehler und dem Leiden des Patient „ m i n i m a l " bzw. „sehr, sehr gering" ist 9 8 ? Oder wenn umgekehrt der Patient im bereits zitierten Fall des O L G H a m m 9 9 trotz der zu über 9 0 % - i g sicheren Verursachung der Leiden durch den Arzt gänzlich leer ausgeht? Und wenn n o c h dazu diese Allesoder-Nichts-Entscheidung allein davon abhängt, dass sich das Gericht für oder gegen die Einstufung des ärztlichen Kunstfehlers als grob entscheidet? Begleitend zu dieser Entwicklung werden unter Berufung auf eine ähnliche Leerformel wie die Billigkeit, nämlich auf die „strukturelle Unterlegenheit des Patienten", auch andere Grundfeste des Prozessrechts ins Visier genommen: Im Arzthaftungsprozess soll der Beibringungsgrundsatz überholt und - selbstverständlich zugunsten des Patienten - durch eine „verstärkte" Pflicht des Gerichts zur Amtsermittlung zu ersetzen sein 1 0 0 ; eine EntscheiVgl. Esser, Wege der Rechtsgewinnung, 152 f. Ähnlich MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr. 121; Katzenmeier, Arzthaftung, 462 m.w.N. 96 Esser, Wege der Rechtsgewinnung, 158. 97 Hier zitiert nach Antonmattei/Raynard/Seube, Travaux dirigés de droit des obligations, 121. 98 OLG Hamm VersR 1999, 622 (624); ähnlich BGHZ 85, 212 (216): Volle Haftung, obwohl Arztfehler die Überlebenschancen des Patienten „nur etwas" verschlechtert hat. Vgl. auch OLG Hamm VersR 2003,1259 (1260): Volle Haftung, obwohl der Sachverständige die Überlebenschance des Patienten auch bei fehlerloser Behandlung auf ganze 13% beziffert hatte; ferner OLG Brandenburg NJW 2003,1383 (1386): Volle Haftung bei Vereitelung einer nur 10%igen Heilungschance. 99 Oben Text zu Fn.27. 100 OLG Brandenburg NJW-RR 2001, 1608; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. E 6; Rehborn, MDR 2000, 1319 (1320); Pelz, DRiZ 1998, 473 (480), letzterer unter allerdings woh! irriger Berufung auf Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 585: An der von Pelz zitierten Stelle wird lediglich ausgeführt, die „Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts" erfordere 94
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Arzthaftung
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dung, die, selbst wenn sie richtig wäre, wohl eher dem Gesetzgeber als den Gerichten obliegt. Der Erstere hat zwar in der Tat den Beibringungsgrundsatz - nicht nur für Arzthaftungsprozesse - insoweit gelockert, als er das Gericht bei der Erhebung von Beweisen, wenn sich streitige Tatsachenbehauptungen der Parteien gegenüberstehen, weitgehend von entsprechenden Anträgen der Parteien freistellt (vgl. § § 2 7 3 Abs.2, 142, 144 ZPO); nur der Zeugenbeweis ist ausnahmslos von einem Parteiantrag abhängig 1 0 1 . Weder liegt darin aber eine „Pflicht" des Gerichts zur Erhebung von Beweisen von Amts wegen (das Gericht darf nur bei bestrittenen Behauptungen auf eigene Initiative und im eigenen Ermessen tätig werden) 1 0 2 , noch sind diese Vorschriften von einer Sorge des Gesetzgebers um die Waffengleichheit motiviert. f f ) Die Sanktion
des pflichtvergessenen
Arztes
Letztlich versteckt sich hinter der Floskel von der Billigkeit wohl unausgesprochen der W u n s c h nach einer Sanktion des besonders „schlampigen" Arztes: W e r seine ärztlichen Pflichten elementar vernachlässigt, darf sich nicht beschweren, wenn er trotz einer ungewissen Kausalität auf vollen Schadenersatz h a f t e t 1 0 3 . Der B G H weist diesen Verdacht weit von sich: Es gehe - trotz einiger in dieser Hinsicht zumindest missverständlicher Äußerungen in früheren Urteilen 1 0 4 nicht u m die subjektive Vorwerfbarkeit, also besonders schweres den, sondern um objektiv
-
Arztverschul-
nicht mehr verständliches ärztliches H a n d e l n 1 0 5 , w a s
es, dass das Gericht nötigenfalls auf die Präzisierung der an den medizinischen Gutachter zu stellenden Beweisfrage hinzuwirken habe. Auch die Entscheidung BGH NJW 1984, 1408, auf die Rehborn seinerseits die Behauptung stützt, wegen des Grundsatzes der Waffengleichheit müsse „der Tatrichter im Arzthaftungsprozess einzelne Elemente von Amts wegen ermitteln" (MDR 2 0 0 0 , 1 3 1 9 (1320)), gibt dafür nichts her. Der BGH stellt in der genannten Entscheidung nur fest, dass das Gericht nicht allein aufgrund vermeintlicher eigener Sachkunde von der von allen im Verfahren befragten ärztlichen Sachverständigen vertretenen Meinung abweichen darf. Dennoch hält sich die Vorstellung von einer Sonderrolle des Amtsermittlungsgrundsatzes im Arzthaftungsrecht hartnäckig: Stegers, VersR 2000, 419 (420) etwa will mit dem Slogan „Inquisition statt Ausforschungsverbot" nicht eine rechtspolitische Forderung, sondern die Realität im Bereich der Arzthaftung beschreiben; Puhl/Dierks, FS Geiß, 477 (479) meinen etwas zurückhaltender, die Rechtsprechung reize die „Behandlungsmaxime (sie) bis an den Rand des Amtsermittlungsgrundsatzes" aus; zahlreiche weitere Nachweise bei Katzenmeier, Arzthaftung, 383 Fn.51. Vorsichtig ablehnend die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR): „Der höchstrichterlich initiierte Amtsermittlungsgrundsatz sollte nicht aus dem Gedanken der Waffengleichheit überstrapaziert werden" (Empfehlungen der DGMR zur Entwicklung des Arzthaftungsrechts, in: Laufs/Dierks/Wienke/Graf-Baumann/Hirsch, Die Entwicklung der Arzthaftung, 353; so auch Spickhoff, NJW 2002, 1758, 1765 („zweifelhaft"). Vgl. weiter Jorzig, Der Amtsermittlungsgrundsatz im Arzthaftungsprozeß (2002). Musielak/Musielak, Einl. Rdnr.43. MusielaklMusielak, Einl. Rdnr.43. 1 0 3 So in der Tat ausdrücklich Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 392. 1 0 4 Z.B. BGH NJW 1956, 1835; NJW 1983, 2080. 1 0 5 Deutlich BGH NJW 1992, 754 (755): „Bei der Beurteilung der Frage, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, der zugunsten des Patienten zu Beweiserleichterungen für den Kausalitätsbeweis führen kann, geht es nicht... um den Grad subjektiver Vorwerfbarkeit gegenüber dem Arzt. Auf die subjektive Seite des Fehlers ist dabei nicht zu sehen. Die Beweiserleichterungen, welche die höchstrichterliche Rechtsprechung bei groben Behandlungsfehlern gewährt, 101 102
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
mit einer „Bestrafung" des konkret handelnden Arztes nichts zu tun habe. Das allein überzeugt freilich nicht so recht, ist doch im Zivilrecht die Messlatte für die subjektive Vorwerfbarkeit gerade die objektiv erforderliche Sorgfalt, so dass subjektive und objektive Kritikwürdigkeit ärztlichen Verhaltens in der Regel kaum zu unterscheiden sind 1 0 6 . Manche Stimmen setzen deshalb im Arzthaftungsrecht Behandlungsfehler und Fahrlässigkeit schlichtweg gleich 107 , was allerdings wohl auch nicht allen denkbaren Fallgestaltungen gerecht wird 1 0 8 . Dennoch ist dem BGH in seiner Ablehnung des Sanktionsgedankens beizupflichten. (Nicht nur) dem deutschen Zivilrecht ist es in der Sache fremd, eine Haftung ohne nachgewiesene Ursächlichkeit der pflichtwidrigen Handlung für den mit dem Ersatzanspruch geltend gemachten Schaden allein auf verschuldete Pflichtverstöße, eine vorwerfbare Gesinnung oder „das Unrecht als solches" zu stützen 1 0 9 . Schadenersatz darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Bestrafung oder der Buße für verbotenes Verhalten angeordnet werden 1 1 0 . Dem in § 249 BGB ausgedrückten Gedanken des Schadenausgleichs in voller Höhe, aber eben auch nicht darüber hinaus (Totalreparation) 1 1 1 widerspricht es, im Wege des Schadenersatzes Zahlungspflichten aufzuerlegen, die nicht einen vom Verpflichteten verursachten Nachteil ausgleichen sollen 112 . Ein durch eine europäische Richtlinie 113 und diese auslegende EuGH-Rechtsprechung 1 1 4 erzwungener
sind keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden"; ebenso OLG Köln VersR 1994, 988. 106 Vgl. zuletzt BGH NJW 2001, 1786; G. Müller, DRiZ 2000, 259 (261); Katzenmeier, Arzthaftung, 160ff.; Hirte, Berufshaftung, 381f. 107 Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr.68ff., 99ff., 107ff.; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rdnr. 638ff. i.V.m. 106ff. (104); Hart, Jura 2000, 14 (18f.). Hirte, Berufshaftung, 381, fordert auf der Grundlage der Erkenntnis, dass bereits heute Pflichtwidrigkeit und Verschulden faktisch als Einheit behandelt werden, das Verschuldensprinzip mit seiner subjektiven Komponente für die Dienstleisterhaftung „offen aufzugeben". 108 Vgl. den Sachverhalt in OLG Düsseldorf VersR 2001, 460 (461): Einer Ärztin im Praktikum war unter den besonderen Umständen des Einzelfalls auch unter dem Gesichtspunkt des Übernahmeverschulden nicht vorwerfbar, dass sie eine plötzliche Geburtskomplikation nicht nach Facharztstandard bewältigen konnte. 109 Larenz, Schuldrecht I, § 2 7 I (S.423); vgl. auch Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Nr. 128f.; Koziol, JB1.2001,29 (35). Treffend dazu Weinrib, (1975) 38 MLR 518 aus der Sicht des common law: „The law of negligence, in embodying the principle of individual responsibility for the consequences of one's acts, imposes no responsibility for acts, however abominable, that do not result in consequences injurious to the complainant. Insistence by the courts on the cause in fact requirement prevents the litigation from being transformed into a general comparative survey of the moral qualities and defects of the litigants." 110 MünchKom/Oetker, § 2 4 9 Rdnr. 8 m.w.N.; R G R K ¡ S t e f f e n , vor § 823 Rdnr. 6. 111 Vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 13; Esser/Schmidt Schuldrecht 1/2, § 31 II (S. 174), Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Nr. 158. 112 Vgl. Thüsing, ZRP 2001, 126 (127); Fleischer, J Z 1999, 766 (773). 113 76/207/EWG v. 9.2. 1976, AB1.EG 1976 Nr. L 39/40. 114 EuGH Slg. 1984, 1891 - Colson/Kamann; EuGH Slg. 1984, 1921 - Harz; EuGH Slg. 1993, 4367 - Marshall II; EuGH Slg. 1997, 2195 - Draempaehl.
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Arzthaftung
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F r e m d k ö r p e r 1 1 5 wie § 6 1 1 a Abs. 3 B G B , der dem wegen seines Geschlechts diskriminierten Bewerber um eine Arbeitsstelle auch dann einen Geldersatzanspruch zuspricht, wenn feststeht, dass die Ungleichbehandlung für die Ablehnung nicht ursächlich w a r 1 1 6 , unterstreicht gerade durch seine Fremdheit diesen Befund. Z u r Abwehr von Versuchen, US-amerikanische punitive
damages
in
Deutschland zu vollstrecken, hat der B G H ausdrücklich ausgesprochen, dass das Ziel der Sanktion des Täters einen zivilen Schadenersatzanspruch ohne Schadensverursachung nicht trägt, weil die deutsche Zivilrechtsordnung als Rechtsfolge einer unerlaubten Handlung nur den Schadensausgleich, nicht aber eine Bestrafung des Täters zur Bereicherung des Geschädigten vorsieht 1 1 7 . Nichts anderes gilt für Beweislastmanipulationen mit gleicher W i r k u n g : Eine „ S t r a f b e w e i s l a s t " 1 1 8 des bei einer Pflichtwidrigkeit Ertappten für die fehlende Schadenskausalität seiner Handlung ist mit dem System des deutschen Rechts nicht v e r e i n b a r 1 1 9 , unabhängig davon, o b man wie bei ärztlichen Verstößen einen qualifizierten Pflichtverstoß fordert oder - allgemein oder in besonderen Fallgruppen - eine einfache Pflichtverletzung ausreichen lassen will. Zu Recht mag man allerdings von einer „Strafbeweislast" in den Fallgestaltungen sprechen, in denen der nicht beweisbelasteten Partei das Verschwinden oder Nichtvorhandensein eines für ihren Gegner notwendigen Beweisstücks vorgeworfen und in der Folge der 1 1 5 Vgl. Gamillscheg, Anm. zu EuGH, EzA § 611 a BGB Nr. 15: „... so fremd im deutschen Schadensrecht wie die Menhire in der Bretagne, die Obelix dorthin gestellt hat". 1 1 6 Vgl. zur starken Kritik an dieser Norm wegen ihres Strafschadencharakters etwa Annuß, NZA 1999, 738 (740ff.); Staudinger/Richardi/Annuß, §611 a Rdnr.19 („systemsprengende Wirkung"); Soergel/Raab, §611 a BGB Rdnr.53; KR/Pfeiffer, §611 Rdnr.101; Thüsing, ZRP 2001, 126 (128). 1 1 7 „Die Bestrafung und - im Rahmen des Schuldangemessenen - Abschreckung sind mögliche Ziele der Kriminalstrafe (§§46f. StGB), die als Geldstrafe an den Staat fließt, nicht des Zivilrechts", BGHZ 118, 312 (338) = NJW 1992, 3096; zu diesem Urteil etwa Bungert, ZIP 1992, 1701; Deutsch, JZ 1993, 266; Schuck, ZZP 106 (1993), 104; Rosengarten, NJW 1996, 1935 (1937f.). Allgemein zu punitive damages im System des deutschen Rechts z.B. P. Müller, Punitive damages und deutsches Schadenersatzrecht; Brockmeier, Punitive damages, multiple damages und deutscher ordre public. Zu Ziel des Ausgleichs statt Bestrafung auch Sonnenberger, ZVglRWiss 100 (2001), 107 (114) m.w.N. in Fn.39; ferner Koziol, JB1.2001, 29 (34f.): Der Sanktionsgedanke allein kann keine Haftung rechtfertigen, wohl aber eine Differenzierung bei dem Grunde nach feststehender Haftung nach Schwere der Schuld und anderen Kriterien tragen. Grundsätzlich zu „Strafe und Prävention" im Bürgerlichen Recht Schäfer, AcP 202 (2002), 397, der zu Recht zunehmend „pönale Elemente" im deutschen Zivilrecht konstatiert (434). Schadenersatz ohne Kausalband wird freilich auch durch diese Erkennntis nicht gerechtfertigt. 118 Kegel, FS Kronstein 321 (341). 1 1 9 So etwa Lange/Schiemann, Schadensrecht, §3 XIII 2 („systemfremdes pönales Moment"); diesem zustimmend Fleischer, J Z 1999, 766 (773); ähnlich Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 134 („Strafcharakter"). Mit dem Hinweis auf den Charakter als „quasi-punitive Sanktion" allgemein ablehnend zur Beweislastumkehr für die Kausalität auch Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 234. Grundsätzlich positiv hingegen zum „punishment" durch Beweislastumkehr unter Berücksichtigung des „degree of fault" im deutschen Recht hingegen Jansen, (1999) 19 OJLS 271 (277f.), freilich ohne nähere Begründung, wie sich dies mit dem geltenden deutschen Recht vereinbaren lässt.
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutseben Praxis
deshalb nicht führbare Beweis zu seinen Lasten als geglückt angesehen wird 1 2 0 . Hier handelt es sich im Gegensatz zum groben Behandlungsfehler um die Sanktion einer gerade auf die Beweisführung gerichteten Pflicht.
b) Die Bestimmung des „groben"
Behandlungsfehlers
Es fehlt nicht nur an einem hinreichenden dogmatischen Fundament zur Verteilung der Beweislast anhand des „groben Behandlungsfehlers". Zweifel nährt das Konzept auch hinsichtlich seiner praktischen H a n d h a b b a r k e i t . D e r B G H hält einen Behandlungsfehler dann für grob, wenn der Arzt „eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf" 1 2 1 . O b in diesem Sinne ein grober Behandlungsfehler vorliegt, ist nach einhelliger Ansicht eine juristische Wertung, die allein Sache des Richters ist, wenn er sich auch auf tatsächliche Anhaltspunkte stützen muss, welche sich in aller Regel aus der medizinischen Beurteilung des Behandlungsgeschehens durch einen ärztlichen Sachverständigen ergeben 1 2 2 . Häufig allerdings liefern die Sachverständigen mehr als nur die Grundlage für die richterliche Entscheidung. Gerade erfahrene ärztliche Gutachter, die wissen, auf welche juristischen Schlagworte es ankommt, nutzen diese gerne in ihren Ausführungen („Der Sachverständige hat ... erklärt, die ... Behandlung sei generell derart von dem damals geltenden Standard abgewichen, wie es aus objektiver ärztlicher Sicht... schlechterdings nicht habe vorkommen dürfen." 1 2 3 ). Ein Wink mit dem Zaunpfahl sind etwa auch redundante oder inhaltsleere Formeln wie die, dass der Arzt einen „Grundfehler" begangen habe, „mit dem gegen ärztliche Grundlagen verstoßen worden sei" und der beim Gutachter „ein Kopfschütteln hervorrufen" würde 124 . Viele Gerichte folgen den Wertungen der Gutachter nur allzu gerne, auch wenn sie pro forma die sich dem Gutachten anschließende „eigene Prüfung aus rechtlicher Sicht" betonen 125 .
120 Vgl. Kegel, FS Kronstein, 321 (341); Poll, ZVglRWiss 94 (1995), 235 (248). Zu diesen Fällen oben S. 21. 121 BGH NJW 1995, 778; BGH NJW 1996, 2428. 122 BGHZ 72,132 (135); BGH NJW 1993, 2375; BGH NJW 1994, 801; BGH NJW 1996, 1589; BGH NJW 1996,2428; BGH NJW 1998,1780; BGH NJW 1999,862; BGH NJW 2000, 2737; BGH NJW2001,2792 (2793); BGH NJW 2001,2794; BGH NJW 2002,2944 (2945); G. Müller, NJW 1997,3049 (3053)-,dies., DRiZ 2000,259 (267), je mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen; Stegers, VersR 200, 419 (421). Über etwaige Widersprüche in den Aussagen des Sachverständigen darf sich das Gericht nicht mit einer eigenen Interpretation des Geschehens hinwegsetzen, sondern hat sie durch gezielte Befragung aufzuklären, BGH NJW 2001, 2791. 123 OLG Karlsruhe VersR 2000, 229 (230); ähnlich OLG Düsseldorf, VersR 2001, 460 (461): ,,[D]er Gutachter [hat] keinen Zweifel daran gelassen, dass einem geburtshilflichen Facharzt ein derart konzeptloses und unüberlegtes Verhalten schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen ..."; ebenso OLG Stuttgart VersR 2003, 376 (377). 124 Wiedergegeben bei OLG Hamm VersR 2001, 594. 125 So etwa OLG Karlsruhe VersR 2000,229,230; LG München INJW-RR 2003,1179. All-
§2
Arzthaftung
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Dennoch hat der Tatrichter aus rechtlicher Sicht bei der Entscheidung, ob ein bestimmter Fehler „schlechterdings" nicht passieren darf, alle Freiheiten, weshalb nicht verwundert, dass die Erkenntnisse der Gerichte häufig vom gewünschten Ergebnis und persönlicher Sympathie oder Antipathie gegenüber Arzt und Patient diktiert zu sein scheinen. Das bereits zitierte Urteil des OLG Stuttgart 126 liefert auch hier Anschauungsmaterial. Zu der Feststellung, dass der Arzt grob fehlerhaft gehandelt hatte, kam das Gericht - obwohl der medizinische Sachverständige den Fehler ausdrücklich nicht als grob eingestuft hatte - allein mit der Begründung, der Arzt habe einen „aus alarmierenden Anzeichen folgende[n] Verdacht nicht durch weitere Befunderhebung abgeklärt" 1 2 7 . Das spricht genau genommen nur dafür, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat; ob er aber gegen „elementare Erkenntnisse der Medizin" 1 2 8 verstoßen hat, als er bei der naheliegenden Diagnose der Neuralgie stehen blieb und keine weitere Ursache in Betracht zog, hätte einer darüber hinausgehenden Begründung bedurft. Die Würfel waren hier aber wohl schon deshalb gegen den Arzt gefallen, weil zum einen ein Mensch gestorben war, der - vielleicht! - noch hätte leben können, und zum anderen ausweislich der Entscheidungsgründe der Arzt das Gericht mit der von diesem als „unärztlich" 1 2 9 empfundenen Einlassung verärgert hatte, er habe dem Patienten gegenüber geäußert, er solle wiederkommen, falls keine Besserung eintrete. Der „grobe" Behandlungsfehler als alleiniges Kriterium für Sieg oder Niederlage im Arzthaftungsprozess lädt geradezu dazu ein, solche neben der Sache liegende Erwägungen, ja das bloße Rechtsgefühl entscheiden zu lassen und dies mit Scheinbegründungen oder gar nicht zu unterfüttern. Beispiele wie die des OLG Stuttgart gibt es deshalb viele: Das OLG Köln wertete den Umstand, dass der mündliche Hinweis auf notwendige Kontrolluntersuchungen bei einer Frühgeburt nicht schriftlich unterstützt wurde, allein deshalb als grob fehlerhaft, weil es „jedem auf der Station tätigen Facharzt zweifelsfrei klar sein [muss], daß der von den Konsiliarärzten vorgeschlagene Kontrollrhythmus keineswegs beliebig war und deshalb unbedingt eingehalten werden mußte" und darüber hinaus die „Dokumentation der Weiterreichung von Therapievorschlägen bei den vorliegenden schwierigen häuslichen Startbedingungen in besonderem Maße" abzusichern war 1 3 0 . Beides zusammen vermag allenfalls zu begründen, dass der bloß mündliche und damit nicht hinreichend eindringliche Hinweis einen Fehler darstellt - warum dieser dem Arzt „schlechterdings nicht unterlaufen" durfte, erfährt der Leser des Urteils nicht. Auf eine Rückversicherung beim medizinischen gemein und grundsätzlich zum Verhältnis zwischen Richter und Sachverständigen im Zivilprozess Danner, Justizielle Risikoverteilung durch Richter und Sachverständige im Zivilprozeß. 1 2 6 VersR 1991, 821. 1 2 7 OLG Stuttgart VersR 1991, 821. 128 Müller, NJW 1997, 3049 (3052). 1 2 9 OLG Stuttgart VersR 1991, 821. 1 3 0 OLG Köln MedR 1996, 567.
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
Sachverständigen verzichtet das O L G ; dieser hatte eine Stellungnahme nur zu der Frage der Notwendigkeit der Kontrolluntersuchungen abgegeben, nicht zu der Schriftform des Hinweises. D e r B G H selbst hat die Tatsache, dass der Arzt v o m nach einer Blinddarmoperation auffallend abgesunkenen Blutdruck nicht auf eine innere Blutung schloss, ohne jede weitere Erläuterung als grob fehlerhaft angesehen, o b w o h l der Gutachter hinzugefügt hatte, dass eine Blutung der aufgetretenen Art „ e x t r e m selt e n " s e i 1 3 1 . Eine Rüge an das Berufungsgericht, ohne hinreichende Grundlage einen groben Behandlungsfehler angenommen zu haben, garnierte der B G H in einem anderen Fall mit dem dezenten Hinweis, dass dieses M a n k o aus der Welt geschaffen werden könnte, indem das Gericht in „ E r ö r t e r u n g " mit dem Sachverständigen eine „ K l ä r u n g " seiner Wertung herbeiführe, eine bestimmte M a ß n a h me sei „zwingend" notwendig gewesen 1 3 2 . Das L G Saarbrücken meinte, einen Arztfehler deshalb als grob bezeichnen zu k ö n n e n , weil er „einem durchschnittlich [!] erfahrenen Gynäkologen nicht hätte unterlaufen" d ü r f e n 1 3 3 . Das O L G Brandenburg stützte einen groben Behandlungsfehler allein darauf, dass der Sachverständige in kräftigen Worten meinte, der Arzt habe durch das Unterlassen einer „außer F r a g e " stehenden M a ß n a h m e einen „ a b s o l u t e n " medizinischen Standard verfehlt 1 3 4 , o b w o h l der B G H immer wieder betont, dass die Feststellung eines „eindeutigen" Verstoßes gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln für sich genommen für den schweren Fehler nicht ausreicht 1 3 5 . Deshalb überzeugt auch das O L G Stuttgart nicht, wenn es die Entscheidung einer Stationsschwester, von überraschenden Atembeschwerden eines ohne Auffälligkeiten entbundenen Neugeborenen zunächst eine H e b a m m e und erst durch diese die Stationsärztin und im weiteren Verlauf einen Facharzt zu verständigen, als schweren Fehler einstufte, weil der Sachverständige seine „Verwunderung" über die beiden Zwischeninstanzen zum Ausdruck gebracht, zugleich aber die von Schwester und H e b a m m e im Einzelnen getroffenen M a ß n a h m e n ausdrücklich gebilligt h a t t e 1 3 6 . Sehr leicht machte es sich auch das O L G Düsseldorf, dass einem Geburtshelfer allein deshalb einen groben Fehler vorwarf, weil er eine M a ß nahme unterlassen hatte, deren Notwendigkeit in der konkreten
Situation
„durch zahlreiche Veröffentlichungen in den maßgebenden Zeitschriften allgemein b e k a n n t " w a r 1 3 7 . Eine weitere Demonstration der Dehnbarkeit des K o n zepts liefert das O L G Karlsruhe, das für die Einstufung eines ärztlichen Fehlers bei der postoperativen Behandlung einer Sprunggelenksfraktur als grob nicht
131 132 133 134 135 136 137
BGH NJW 1968, 2291 m. kritischer Anm. Hanau aaO. BGH NJW 2001, 2792 (2793). LG Saarbrücken, wiedergegeben bei OLG Saarbrücken MedR 1999, 222. OLG Brandenburg MedR 2000, 85. Zuletzt BGH NJW 2002, 2944 (2945) m.w.N.; BGH NJW 2001, 2794. OLG Stuttgart VersR 2001, 1560 (1562f.). OLG Düsseldorf VersR 2003, 114.
§2
Arzthaftung
53
mehr als die Worte des Sachverständigen benötigte, er halte die fraglichen M a ß nahmen für „nicht angängig" und „undurchdacht und f a l s c h " 1 3 8 ; das O L G Naumburg bewegte sich auf ähnlich dünnem Eis, als es einen Arzt trotz unklarer Kausallage zu Schadenersatz verurteilte, weil die Gutachter sein Handeln als „nicht adäquat" bzw. „nicht mehr vertretbar" eingestuft hatten 1 3 9 . Die Spitze erklomm das O L G Stuttgart in einer Entscheidung von 1 9 8 9 , als es auf jeden argumentativen Ansatz verzichtete und schlicht die Definition des groben Behandlungsfehlers zu seiner Begründung heranzog: Die im Prozess aufgezeigten Mängel in der Behandlung des Klägers stellten einen groben Behandlungsfehler allein deshalb dar, „weil solche Fehler einem psychiatrischen
Fachkrankenhaus
schlechterdings nicht unterlaufen dürfen" 1 4 0 . Umgekehrt hat das O L G H a m m es im oben 1 4 1 wiedergegebenen Fall ohne jede Begründung nicht einmal als einfachen Fehler werten wollen, dass bei einer Nachoperation ein abgebrochenes Instrumententeil in der Wunde verblieb. Stattdessen wurde nur die weitere Behandlung im Anschluss an diese Fehlleistung auf Verstöße gegen die ärztliche Kunst untersucht - und auch hier mangels eines „elementaren" Irrtums ein grober Behandlungsfehler verneint 1 4 2 . Zu einfach machte es sich etwa auch das O L G Zweibrücken, das einen Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Implantation inkompatibler Prothesenelemente deshalb nicht als grob einstufen wollte, weil der Sachverständige meinte, die präoperative Überprüfung der Prothesenteile sei „allgemein nicht ü b l i c h " 1 4 3 auch eine allgemein eingerissene Nachlässigkeit kann eine schwere ärztliche Sünde sein 1 4 4 . Nicht allzu große Uberzeugungskraft hat schließlich auch das Argument, mit dem das O L G Stuttgart begründet hat, warum in der Wahl eines falschen Medikaments keinen groben Behandlungsfehler lag: „Da es zu dem Medikament T. keine Untersuchungen gibt, steht nicht einmal fest, dass die Gabe von T. gänzlich nutzlos gewesen i s t " 1 4 5 - wer ein offenbar unerprobtes Medikament anstelle des eigentlich indizierten verabreicht, hat gerade wegen der mangelnden empirischen Daten Glück. 1 3 8 O L G Karlsruhe, berichtet in BGH N J W 2 0 0 2 , 2 9 4 4 (2945). Der BGH hob die Entscheidung des O L G Karlsruhe auf. 1 3 9 O L G Naumburg NJW-RR 2 0 0 2 , 3 1 2 (314). 1 4 0 O L G Stuttgart VersR 1 9 9 0 , 858 (859). 1 4 1 Text zu Fn. 27. 1 4 2 O L G Hamm, VersR 2 0 0 0 , 325. 1 4 3 O L G Zweibrücken, MedR 1999, 80 (83). 1 4 4 Vgl. dazu bereits B G H Z 8, 138: Wer die in seinem Tätigkeitsbereich erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat, kann sich nicht darauf berufen, dass er immerhin die übliche Sorgfalt angewendet habe. Dazu auch Puhl/Dierks, FS Geiß, 4 7 7 (482), mit der hübschen, Gustav Mahler zugesprochenen Zuspitzung: „Was i h r . . . Tradition nennt, das ist nichts anderes als eure Bequemlichkeit und Schlamperei" (aaO, Fn.23). Vorbildlich gründliche Begründung für die Einstufung einer ärztlichen Fehlleistung als einfachen Behandlungsfehler hingegen O L G Köln VersR 2 0 0 2 , 1285. 1 4 5 O L G Stuttgart N J O Z 2 0 0 3 , 3 0 7 2 (3076).
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis Die zuletzt genannten Entscheidungen des O L G H a m m , des O L G Z w e i b r ü -
cken und des O L G Stuttgart weisen im Übrigen auf eine Entwicklung hin, die sich so nur unter dem dehnbaren Deckmantel des groben Behandlungsfehlers vollziehen konnte: J e belastender die Gesundheitsschäden sind, mit denen der Patient zu kämpfen hat, desto größer ist die Neigung der Gerichte, mit Hilfe der Beweislastumkehr Schadenersatz auch bei ungeklärten Kausalzusammenhängen zuzusprechen 1 4 6 . Deutlich wird dies insbesondere bei Streitigkeiten um die Verantwortung von Geburtsschäden, bei denen die Gerichte recht schnell dem Arzt einen groben Fehler attestieren 1 4 7 , und sei es, lassen sich einzelne gravierende Fehlleistungen nicht feststellen, über eine „ G e s a m t s c h a u " aller U m s t ä n d e 1 4 8 . Es ist deshalb umgekehrt kein Zufall, dass das O L G H a m m , das O L G Z w e i b r ü c k e n und das O L G Stuttgart eine restriktive Haltung gerade bei Fällen an den Tag legten, in denen das Leiden des Patienten entweder recht harmlos war oder später relativ rasch beseitigt wurde, der ärztliche Fehler also allenfalls eine Verzögerung im Heilungsprozess bewirkt haben konnte. Ähnliche Fälle lassen sich leicht find e n 1 4 9 . M a n mag in menschlicher Hinsicht Verständnis dafür aufbringen, dass sich Richter angesichts eines ausgelöschten oder dauerhaft erschwerten, oft n o c h dazu jungen Lebens eher gedrängt fühlen, auf Kosten des Arztes (bzw. seiner Haftpflichtversicherung 1 5 0 ) zu helfen. Einen Ersatz für eine der N a c h p r ü f u n g standhaltende rechtliche Argumentation bietet die Sympathie mit dem Geschädigten freilich nicht, wenn gerade ungewiss ist, o b der Arzt für diese Entwicklung wirklich verantwortlich ist. Der BGH hat in vier rasch aufeinander folgenden Entscheidungen des Jahres 2001 gezielt versucht, den allzu freien Umgang mancher Oberlandesgerichte mit der Beweislastumkehr durch den wiederholten Hinweis zu bremsen, dass die Bewertung des Fehlers als grob ohne entsprechende faktische Grundlage in den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen unzulässig ist 1 5 1 . Ob der BGH damit die Geister, die er rief, wieder los wird, ist zu bezweifeln: In Arzthaftungsverfahren erfahrene Berufungsrichter werden, wenn sie es
So auch Katzenmeier, Arzthaftung, 462; Deutsch, FS Lange, 433 (442). Vgl. etwa OLG Stuttgart VersR 2000, 1108; OLG Stuttgart, VersR 2001, 1560; OLG Köln MedR 1996, 564 (Erblindung frühgeborener Zwillinge). Weiterhin LG München I, 9 O 9604/98, berichtet in der Süddeutschen Zeitung vom 18.7. 2001: Zwei mit Fehlgeburten endende Schwangerschaften, eine daraufhin notwendig werdende Sterilisation und später einsetzende Depressionen einer jungen, kinderlosen Frau wurden trotz ungeklärter Kausalität einem Gynäkologen zur Last gelegt, der Jahre zuvor eine Gebärmutterausschabung vermeintlich grob fehlerhaft durchgeführt hatte. 148 BGH NJW 2000, 2737; OLG Celle VersR 2002, 1558; OLG Stuttgart VersR 1990, 858 (859); gegen eine Addition mehrerer einfacher Behandlungsfehler zu einem groben aber OLG Braunschweig MedR 2000, 454. 1 4 9 Etwa OLG Oldenburg VersR 1999, 63. 150 Zum Versicherungsschutz des Schädigers als heimlichem Motor der Haftungsverschärfung durch die Gerichte etwa Katzenmeier, Arzthaftung, 170f. m.w.N. 151 BGH NJW 2001, 2791; BGH NJW 2001, 2792; BGH NJW 2001, 2794; BGH NJW 2001, 2795. Fortgeführt wird diese Rechtsprechung in BGH NJW 2002, 2944. 146
147
§2
55
Arzthaftung
darauf anlegen, dem Gutachter die Formulierungen entlocken können, die sie für ihre Zwecke benötigen.
c) Zusatzbedingungen
und -regeln
Den groben Behandlungsfehler als alleiniges Kriterium für Prozessgewinn oder -verlust bei unklarer Kausalität heranzuziehen, verschafft offenbar auch der Rechtsprechung ein ungutes Gefühl. Sie versucht es mit einem ganzen Arsenal von Zusatzbedingungen und -regeln zu bekämpfen. aa) Der „fundamentale Befunderhebung
Irrtum" beim Diagnosefehler
und die
unterlassene
Die erste Regel, die hier zu nennen ist, sollte die Lage für den Arzt eigentlich ein wenig entschärfen. Wird ihm ein Diagnosefehler vorgeworfen, so soll es nur dann zu einem groben Fehler reichen, wenn ihm ein „fundamentaler Irrtum" unterlaufen ist 152 . Der Grund ist die „hohe Unsicherheit" 153 , mit der ganz generell Diagnosen verbunden sein sollen 154 , wobei allerdings sowohl unklar bleibt, inwieweit sich Diagnoseschwierigkeiten qualitativ von der Unsicherheit über die richtigen therapeutischen Schritte 155 unterscheiden, für die keine gleichartige Einschränkung gilt 156 , als auch eine Definition des „fundamentalen" Irrtums bislang in noch keiner Entscheidung versucht wurde 157 . Sicher ist nur, dass die Messlatte, die der Richter zur Ermittlung des groben Fehlers anlegt, bei diagnostischen Fehldeutungen um ein - unbestimmtes - Stück zu verlängern ist 1 5 8 , bzw., in den Worten des BGH, „die Schwelle, von der ab ein Diagnoseirrtum als
1 5 2 Grundlegend BGH VersR 1981, 1033; weitere Nachweise bei Steffen/Dressler, Arzthaftung, Rdnr. 524. 1 5 3 OLG Zweibrücken MedR 1999, 181 (183). 1 5 4 Erschreckend die - einige Jahre zurückliegenden - Zahlen, von denen Brüggemeier, Deliktsrecht, Nr. 645, berichtet: Bei einer Analyse von über eintausend Sektionen in Freiburg habe sich herausgestellt, dass bei knapp 2 0 % (!) der Verstorbenen die Grunderkrankung nicht richtig diagnostiziert worden war. Heute aber positiver Carstensen, FS Deutsch, 505 (510): Aufgrund moderner Technologien hat sich die Quote der Diagnosefehler verringert und wird dies weiter tun. 1 5 5 Hier ist die Lage nicht besser als bei der Diagnose: Nach einer Schätzung des Allgemeinen Patientenverbands in Marburg sollen in Deutschland jedes Jahr etwa 25.000 Menschen an einer falschen Behandlung sterben, vgl. Baier, in: Süddeutsche ZeitungM. 11.5. 2 0 0 0 , S.2. 1 5 6 Kritisch zu dieser Differenzierung auch Stoll, FS Steffen, 465 (474f.). 1 5 7 Vgl. Bischoff, FS Geiß, 345 (351). 1 5 8 Vgl. etwa Jorzig, M D R 2001, 481 (482: „erhebliche Hürden"). Das Bild stammt von Bischoff, FS Geiß, 345 (351), der selber diese Folgerung allerdings als irrig bekämpft. Wenn er aber betont, dass bei Diagnoseirrtümern ein grober Fehler nicht vorschnell bejaht werden darf, sondern wegen des in diesem Feld aus vielen Gründen besonders leicht möglichen Fehlgriffs des Arztes eine „besondere Schwere" vorliegen muss (aaO, S. 352), läuft dies in der Sache auf dasselbe hinaus.
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist,... hoch angesetzt werden" muss 159 . Kurioserweise aber konterkariert die Rechtsprechung die arztfreundlichen Effekte der Schwellenanhebung sofort wieder durch einen in die entgegengesetzte Richtung wirkenden Trick: Führt - wie meistens - die falsche Diagnose dazu, dass eine weitere Aufklärung des wahren Leidens und damit eine weitere Befunderhebung unterbleibt 160 , so wird zum einen unterstellt, dass diese, wäre sie vorgenommen worden, den in der Retrospektive richtigen Befund erbracht hätte 161 . Die Unsicherheit darüber, ob man mit der sich anschließenden kunstgerechten Behandlung den unglücklichen Verlauf tatsächlich hätte verhindern können, wird nun dann dem Arzt aufgebürdet, wenn in diesem Stadium die Verkennung des - tatsächlich nicht erhobenen! - Befundes ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre162, was wiederum dann angenommen wird, wenn der (nur unterstellte) Befund hinreichend wahrscheinlich 163 so deutlich und gravierend ausgefallen wäre, dass sich seine Verkennung als fundamental fehlerhaft darstellen müsste 164 . Anders formuliert: Der Arzt, der tatsächlich keinen groben, sondern nur einen einfachen Fehler gemacht hat (weil er keinem „fundamentalen" Diagnoseirrtum unterlegen ist), haftet dennoch bei unklarer Kausallage, wenn sich vielleicht ein schwerer Fehler angeschlossen hätte, hätte er den ersten - einfachen - Fehler vermieden und den richtigen Befund erhoben. Ein ohne jegliche Anhaltspunkte im realen Behandlungsgeschehen unterstellter fiktiver schwerer Behandlungsfehler wird also dem tatsächlich lediglich „einfach" fehlenden Arzt in dieser Fallgruppe zum Verhängnis 165 . Ein Beispiel 1 6 6 mag dies veranschaulichen: Der behandelnde Arzt hatte bei einer mit einer unfallbedingten mehrfachen Beinfraktur eingelieferten und daraufhin operativ behandelten Patientin eine nässende Wunde festgestellt und diese als harmlos eingestuft, ohne die BGH VersR 1981, 1033. Den Zusammenhang zwischen Diagnosefehler und Nichterhebung von Befunden betont etwa Bischoff, FS Geiß, 345 (348); vgl. auch Schultze-Zeu, VersR 2000, 565; Geiß/Greiner, Arzthaftungsrecht, Rdnr. B 65. 161 Vgl. Gross, FS Geiß, 429 (433); Schultze-Zeu, VersR 2000, 565 (566). 1 6 2 Vgl. BGHZ 132, 47 (52ff.) = BGH NJW 1996,1589; BGH NJW 1999, 860; BGH NJW 1999, 3408; OLG Stuttgart VersR 2000, 362 (364); OLG Köln NJW-RR 2003, 458. 1 6 3 Vgl. OLG Dresden MedR 2003, 628: Nicht hinreichend ist, wenn das mutmaßliche Ergebnis des Befundes völlig offen und die Wahrscheinlichkeit nicht höher als mit 5 0 % anzusetzen ist. 1 6 4 BGH NJW 1999, 3408; BGH NJW 1999, 862; BGH NJW 1999, 860; BGH NJW 1998, 1780; BGHZ 132, 47 (52ff.) = BGH NJW 1996, 1589. 1 6 5 Ausführlich Hausch, VersR 2 0 0 3 , 1 4 8 9 ; Nixdorf, VersR 1996,160. Gross, FS Geiß, 429 (435) weist unter Bezug auf Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. B 297 zu Recht darauf hin, dass der Arzt nicht für einen fiktiven groben Fehler, sondern aufgrund der fehlerhaft unterlassenen Befunderhebung haftet. Aber das macht die Sache nicht besser, denn dass der Arzt trotz unklarer Kausalität für seinen nicht groben Fehler bei der Befunderhebung haftet, beruht auf der Fiktion eines sich anschließenden groben Fehlers. 1 6 6 BGH NJW 1999, 3408. 159 160
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Arzthaftung
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Möglichkeit einer Osteitis (Knochenentzündung) in Erwägung zu ziehen. Diese wurde dann erst sehr viel später diagnostiziert und führte zu schweren Komplikationen im Heilungsprozess. Ungeklärt blieb, zu welchem Zeitpunkt sich die Entzündung entwickelt hatte und ob dies aufgrund eines Umstandes geschehen war, der dem Krankenhaus zum Vorwurf geriet. Der B G H sprach sich dennoch für eine Haftung des Krankenhausträgers aus: Die Fehldiagnose bezüglich der nässenden Wunde habe dazu geführt, dass die in dieser Situation gebotene Befunderhebung zur Abklärung des Osteitis-Verdachts in Form eines Wundabstrichs fehlerhaft 1 6 7 unterblieb. O b dieser Fehler als grob anzusehen sei, sei unerheblich, da und soweit die noch zu ergänzenden tatsächlichen Feststellungen darauf hinweisen, dass die Osteitis im fraglichen Zeitpunkt bereits vorgelegen habe und deshalb beim Wundabstrich wahrscheinlich ein als reaktionspflichtig beurteilter Erreger erkannt worden wäre, dessen Missachtung „einen groben Fehler dargestellt h ä t t e " 1 6 8 .
Schultze-Zeu spricht die Folgen dieses Kunstgriffs der Gerichte in ihrer zusammenfassenden Darstellung der Rechtsprechung arg- und kritiklos aus: „Diese neue Rechtsprechung führt dazu, dass grundsätzlich bei jeder unterlassenen Befunderhebung - über den Weg der Vermutung des Vorliegens eines reaktionspflichtigen Krankenbefundes - ein grober Behandlungsfehler angenommen wird mit der Folge einer Beweislastumkehr zugunsten des geschädigten Patienten im Bereich der haftungsbegründenden K a u s a l i t ä t " 1 6 9 .
Es bedürfte schon eines großen Vertrauens in die Rechtsprechung, um diese rabulistische Argumentation als einen Schritt auf dem Weg zur „billigen" Lösung von Arzthaftungskonflikten zu betrachten 170 . Näher liegt die Erkenntnis, dass auch im Leben einer juristischen Theorie ein Geburtsfehler schwere Spätfolgen 1 6 7 Der BGH wies zur Klärung der Frage zurück, ob darin tatsächlich ein Fehler zu sehen war, legte durch eine ausführliche Analyse der Aussage des in der zweiten Instanz angehörten medizinischen Sachverständigen dem Berufungsgericht aber eine bejahende Antwort sehr nahe. 1 6 8 BGH NJW 1 9 9 9 , 3 4 0 8 (3411). Vgl. weiterhin OLG Stuttgart VersR 2 0 0 0 , 3 6 2 : Der Frauenarzt hatte bei einer schwangeren Hebamme, die einen Flüssigkeitsabgang festgestellt hatte und einen Fruchtwasserabgang vermutete, nach lediglich vaginaler Untersuchung keine reaktionspflichtigen Unregelmäßigkeiten festgestellt und demgemäß keine weiteren Untersuchungen veranlasst. Der tatsächlich vorliegende Blasensprung blieb ihm dabei verborgen. Ob bei richtiger Reaktion, weiteren Untersuchungen und einer möglichen sofortigen Krankenhauseinweisung eine bei der Geburt festgestellte Infektion des Kindes und die damit zusammenhängenden Hirnschäden vermieden worden wären, ließ sich nicht mehr aufklären. Die Beweislast dafür schob das Gericht dem beklagten Krankenhaus zu. Zwar könne offen bleiben, ob bereits die Fehldiagnose und die darauf beruhende Unterlassung weiterer Untersuchungen einen groben Fehler darstellen, „denn jedenfalls das Fehlreagieren auf den wahrscheinlichen (hypothetischen) Befund, nämlich den Fruchtwassernachweis ..., würde sich als grober Behandlungsfehler darstellen" (364). Ferner OLG Köln NJW-RR 2 0 0 3 , 1031 (1032): Beweislastumkehr im Hinblick auf den Ursachenzusammenhang zwischen einer unterlassenen CCT-Diagnostik und der späteren nicht vollständigen Entfernung eines mittlerweile gewachsenen Gehirntumors unabhängig davon, ob in der unterlassenen Befunderhebung ein grober Behandlungsfehler liegt, weil „ein CCT hätte veranlasst werden müssen. Dann sei sehr wahrscheinlich der Tumor entdeckt worden und hätte durch eine Operation entfernt werden müssen. Eine Nichtbehandlung des erkannten Tumors wäre medizinisch unverständlich und daher grob fehlerhaft gewesen". 165 170
Schultze-Zeu, VersR 2000, 565 (567, Hervorhebung hinzugefügt). Kritisch auch Hausch, VersR 2 0 0 3 , 1489 (1496f.).
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
nach sich ziehen kann. Wenn schon für das Prinzip der Beweislastumkehr anhand des „realen" groben Fehlers nur die Billigkeit streitet, gibt es kein Halten gegen die unkontrollierte Ausdehnung dieses Ansatzes auf fiktive grobe Fehler es fehlt an Sachargumenten, denen das Rechtsgefühl des Richters im konkreten Fall Stand zu halten hätte.
bb) Eignung der Pflichtverletzung zur Schadensverursachung „gänzlich unwahrscheinlicher" Ursachenzusammenhang
und
Im Übrigen soll die Beweislastumkehr nur eingreifen, wenn die Pflichtverletzung grundsätzlich zur Herbeiführung des konkreten Schadens „geeignet" i s t 1 7 1 , was sich danach bemessen soll, o b sich im Schaden gerade das R i s i k o verwirklicht hat, vor dem die verletzte Pflicht schützen s o l l 1 7 2 . Ist jedoch trotz dieser Eignung ein realer Ursachenzusammenhang zwischen der fehlerhaften ärztlichen Behandlung und dem Schaden im konkreten Fall „ ä u ß e r s t " oder „gänzlich" unwahrscheinlich, steht dies nach Ansicht der Rechtsprechung wiederum einer Beweislastumkehr entgegen 1 7 3 . D e r erste Gedanke reiht sich ein in die allgemeine Diskussion um den „Schutzweck der N o r m " 1 7 4 , hat also mit der Kausalität und der auf diese bezogenen Beweislast wenig und mit der Zurechnung des Schadens um so mehr zu tun. Und die zweite Schranke gegen eine Beweislastumkehr ist schlichtweg überflüssig: H a t der Richter die Uberzeugung gewonnen, ein Kausalzusammenhang sei „gänzlich unwahrscheinlich", dann hat er den „für das praktische Leben brauchbaren G r a d an Sicherheit" erreicht, der ihm ermöglicht, mit der für § 2 8 6 Z P O erforderlichen Sicherheit festzustellen, dass der Arzt für den Schaden des Patienten verantwortlich ist. Für ein non liquet,
nicht
das erst die
Frage nach der Beweislast und deren U m k e h r entstehen lässt, ist in dieser Lage kein R a u m mehr. Beide Kriterien zeigen, dass sich die Rechtsprechung mit dem selbst geschaffenen Gedankengebäude zum Arzthaftungsrecht so weit von den allgemein geltenden Regeln entfernt hat, dass sie offenbar nicht einmal mehr w a h r n i m m t , dass auch diese im Arzthaftungsprozess ihren Lösungsbeitrag leisten können.
171 BGH NJW 1978, 1683; BGH VersR 1983, 729; BGHZ 85, 212 (217); G. Müller, NJW 1997, 3049 (3052) m.w.N. 172 Vgl. etwa BGH VersR 1981, 954: Der Tod eines Patienten aufgrund einer Infektion konnte nicht dem Arzt angelastet werden, der den Patienten nach einer Herzkatheteruntersuchung vorzeitig entlassen hat, weil das Verbot der vorzeitigen Entlassung vor Herz-Kreislauf-Komplikationen, nicht aber vor Infektionen schützen soll; dazu auch Deutsch, FS Geiß, 367 (370). 173 BGH NJW 1997, 796; BGH NJW 1995, 1611 (1612); OLG Hamm VersR 2001, 593 (594), OLG Oldenburg NJOZ 2002, 320; OLG Celle MDR 2002, 881. Im Falle bloßer Mitursächlichkeit des Arztes gilt nichts anderes, OLG Celle NJW-RR 2002, 1603. 1 7 4 Dazu etwa Staudinger/Schiemann, $249 Rdnr. 27ff.; Lange/Schiemann, Schadensersatz, §3 IX.
§2 cc)
Weisungswidriges
Verhalten
des
59
Arzthaftung Patienten
Die Beweislastumkehr soll weiterhin entfallen, wenn nicht allein der Arzt etwas falsch m a c h t , sondern zusätzlich der Patient selbst ärztliche Weisungen zum Verhalten nach dem Eingriff missachtet und dies zum Schaden beigetragen haben k a n n 1 7 5 , weil sich dann Arzt- und Patientenfehler „gleichsam n e u t r a l i s i e r e n " 1 7 6 - ein klassischer Zirkelschluss, denn welche Anteile Arzt und Patient am Schaden haben und o b diese sich die Waage halten, ist gerade die Frage, die es zu beantworten gilt. Im Übrigen: Stünde fest, dass der Patient selbst zur fehlenden Heilung seines Leiden beigetragen hat, wäre sein Anteil allenfalls schadenersatzmindernd über § 2 5 4 B G B zu würdigen, ohne dass zugleich der Kausalbeitrag des Arztes wundersamerweise „ v e r s c h w i n d e t " 1 7 7 . Es kann nichts anderes gelten, wenn lediglich die Möglichkeit besteht, dass der Patient mitverantwortlich i s t 1 7 8 . Steht nicht ein Fehlverhalten des Patienten, sondern eine andere Schadensursache neben der fehlerhaften Behandlung im R a u m , lässt es sich die Rechtsprechung im Übrigen nicht nehmen zu betonen, dass die bloße Mitursächlichkeit des ärztlichen Fehlers, und sei es nur als „Auslöser", der Alleinursächlichkeit haftungsrechtlich in vollem Umfang gleich und deshalb wie diese der Beweislastumkehr offen s t e h t 1 7 9 . dd)
Eingeschränkte
Beweislastumkehr
für
Sekundärschäden
Schließlich wird die Kausalität des Arztfehlers für „Sekundärschäden" grundsätzlich von der Beweislastumkehr a u s g e n o m m e n 1 8 0 . Hier soll der Patient beweisbelastet bleiben. Eine Rolle spielt, dass die Ursachenbeziehung zu einem Sekundärschaden der huhungsausfüllenden
Kausalität zugeordnet wird, für deren
Nachweis § 2 8 7 Z P O Erleichterungen bereithält 1 8 1 ; allerdings sind auch die unter Anwendung dieser N o r m erforderlichen reduzierten Anforderungen an die Überzeugung des Richters über den Kausalverlauf nicht leicht zu erreichen 1 8 2 . Das Hauptargument für eine unterschiedliche Behandlung von Primär- und Sekundärschäden ist denn auch, dass dann, wenn „die weiteren Folgen der haftungsbegründenden ,Primärverletzung' zu beurteilen [sind], ... sich im allgemeinen keine zusätzlichen Beweisschwierigkeiten [ergeben], die im Hin1 7 5 OLG Braunschweig VersR 1998, 459. KG VersR 1991, 928; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. B 261. 176 KG VersR 1991, 928. 1 7 7 Vgl. etwa OLG Stuttgart NJW-RR 2002, 1544. 178 Kritisch insoweit auch Staudinger/Hager, § 823 Rdnr. I 56. 1 7 9 Z.B. BGH NJW 1997, 796; BGH NJW 2000, 3423; G. Müller, DRiZ 2000, 259 (266) m.w.N. 180 Etwa BGH NJW 1988, 2948; BGH NJW 1994, 801. 181 Vgl. BGH NJW-RR 2003, 2311 (2313); BGH NJW 1978,1683 (1684); Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 514; RGRK/Nüßgens, § 823 Anh. II Rdnr. 302. 182 Vgl. z.B. OLG Oldenburg, VersR 1999, 63.
60
2. Kapitel:
Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
blick auf die besondere Schwere des Versehens billigerweise dem Verantwortlichen angelastet werden m ü s s t e n " '
Richtig daran ist, dass die Unsicherheit über die Kausalität für Folgeschäden von der Schwere des Vorwurfs an den Arzt nicht beeinflusst wird. Die Unklarheit, ob eine fehlerhaft gesetzte Injektion über den Einstich der Kanüle hinaus einen Schaden beim Patienten verursacht hat 184 , wird nicht größer, wenn die Injektion als grob fehlerhaft bewertet wird. Weil aber, wie oben zu zeigen versucht wurde, eine Beziehung zwischen der Bewertung des Arztfehlers und der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs ganz generell, also auch für den Erstschaden fehlt, kann dieser Hinweis eine beweisrechtliche Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärschaden nicht tragen. Dies gilt umso mehr, als es keine brauchbaren Kriterien für die Abgrenzung beider Kategorien gibt 185 . Das obige Beispiel zeigt dies schon zu Genüge: Eine Injektion durchstößt notgedrungen die Haut des Patienten und verletzt diesen damit - sind alle weiteren Folgen, also insbesondere die zweifelhaften Wirkungen der injizierten Substanz, „nur" sekundäre Entwicklungen186? Liegt der Erstschaden einer Operation bereits im Eingriff selbst und den „mit ihm verbunden Beeinträchtigungen" 187 , so dass alle weiteren Folgen und Beschwerden bei ihrem Misslingen in die Kategorie Sekundärschäden fallen? Insbesondere dann, wenn der Vorwurf an den Arzt darin liegt, dass er bestimmte Maßnahmen unterlassen hat, erweist sich die Suche nach der Grenze zwischen primären und sekundären Schäden als ein Stochern im Nebel. In einem Urteil vom 14.10. 1997 sah der 5. Senat des OLG Oldenburg die sturzbedingte, vom Arzt aufgrund einer unzutreffenden Diagnose nicht sofort behobene Fehlstellung eines Gelenks als Primärschaden an (obwohl der Arzt auf die Fehlstellung selbst nun sicherlich keinen Einfluss genommen hatte!) und ordnete alle auf sie zurückzuführenden Folgebeschwerden (insbes. Fehlwachstum, zeitweise Bewegungsbeeinträchtigungen) als Sekundärschäden ein, für die der Patient den Beweis schuldig geblieben sei, dass sie bei rechtzeitigem Einschreiten hätten vermieden werden können 188 . Genau zwei Wochen später hatte derselbe Senat einen Fall zu entscheiden, in dem eine Hodentorsion nicht rechtzeitig diagnostiziert wurde, weil der vom Patienten zunächst aufgesuchte Arzt fehlerhaft die
BGH N J W 1978, 1 6 8 3 (Hervorhebung im Original). Beispiel nach BGH N J W 1978, 1683 (1684). 1 8 5 Das ansonsten außerordentlich gründliche und detailreiche Praxiskompendium zum Arzthaftungsrecht von Steffen/Dressler belässt es an dieser Stelle bei dem wohlgemeinten Rat, der Primärschaden dürfe „nicht zu eng definiert werden", Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 513a. Geiß/Greiner setzen die beiden Kategorien mit der haftungsbegründenden und -ausfüllenden Kausalität gleich, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. B 2 6 2 . 1 8 6 So O L G Stutgart, MedR 2 0 0 0 , 35 (36); zweifelnd, aber letztlich ohne Stellungnahme BGH N J W 1978, 1683 (1684); RGRK/Nw/?ge»s, § 823 Anh. II Rdnr. 3 0 3 . 1 8 7 So BGH N J W 1987, 1481 (allerdings im Rahmen der Aufklärungsrüge). 1 8 8 O L G Oldenburg, VersR 1999, 63. 183
184
$2
Arzthaftung
61
Freilegung des Hodens unterlassen hatte 1 8 9 . Hier behandelte das Gericht die Frage, ob die in der Folgezeit eingetretene und nicht mehr therapierbare Zeugungsunfähigkeit bei richtiger Maßnahme des Arztes hätte verhindert werden können, als Aspekt der der Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers unterliegenden haftungsbegründenden Kausalitätsbeziehung zu einem Primärschaden 1 9 0 , ohne ein Wort über die Diskrepanz zum vorangegangenen Urteil zu verlieren - wahrscheinlich war ihm diese nicht einmal zu Bewusstsein gelangt 1 9 1 . Nicht besser machte es das O L G Hamm, das den Tod einer Patientin aufgrund eines vom Arzt zu spät diagnostizierten Krebsleidens allein deshalb als Primärschaden einstufte, „weil die Heilungschance für die Patientin nicht gewahrt worden i s t " 1 9 2 - die Heilungschance ist ganz offensichtlich immer vertan, wenn der Patient nach dem ärztlichen Eingriff nicht gesundet ist, so dass dieses Kriterium nicht zur Abgrenzung von nahen und entfernteren Schäden taugt. Auch der B G H stiftete Verwirrung in einem Fall, in dem dem Arzt vorgeworfen wurde, eine gynäkologische Maßnahme unterlassen zu haben, die, wäre sie vorgenommen worden, einen weiteren Eingriff erspart hätte, der tatsächlich letztlich zur Entfernung des Uterus der Patientin geführt hatte. In einem Nebensatz merkte hier der B G H an, dass dieser von ihm selbst so genannte „zusätzliche weitere" Eingriff der Primärschaden und (erst) dessen Folge der Sekundärschaden sei, bei dem die Kausalitätsfrage nicht per Beweislastumkehr, sondern über § 2 8 7 Z P O zu lösen •193
sei
. O b dieser Unsicherheit hinsichtlich der Grundlagen der unterschiedlichen Be-
handlung von Primär- und Sekundärschäden und der Grenzziehung zwischen ihnen rudern denn auch der B G H und andere Gerichte im Zweifelsfall wieder zurück: Die Beweislastumkehr soll dann doch auch Sekundärschäden ergreifen, wenn sie die „typische Folge" der Erstschädigung sind 1 9 4 oder das „besondere Beweisrisiko", das das grobe Versehen geschaffen hat, auch sie betrifft 1 9 5 - unklar bleibt, wie diese Worthülsen mit Leben zu füllen sind. Sie bilden ein Einfallstor für Beliebigkeit: Immer dann, wenn die Gerichte meinen, dem Patienten auch O L G Oldenburg, VersR 1999, 1284. Vgl. zu einem ähnlichen Fall O L G Brandenburg N J O Z 2 0 0 2 , 3 2 4 . 1 9 1 Noch großzügiger O L G Stuttgart VersR 2 0 0 0 , 3 6 2 : Ursachenbeziehung zwischen nicht rechtzeitiger Krankenhauseinweisung einer Schwangeren und Hirnschaden des behindert geborenen Kindes betrifft den Primärschaden. Er wurde über die Beweislastumkehr dem Arzt zur Last gelegt. Vgl. auch O L G Hamm VersR 2 0 0 1 , 593 (594): Der Ursachenzusammenhang zwischen der mangelnden Kontrolle der Lage eines Nabelvenenkatheters im Rahmen einer postnatalen Behandlung und einer 15 Jahre später (!) auftretenden Pfortaderthrombose wurde der Beweislastumkehr unterworfen, obwohl eine Beziehung zwischen beidem voraussetzt, dass die Katheterspitze innere Verletzungen ausgelöst hatte, was nicht bekannt war. 1 9 2 O L G Hamm VersR 2 0 0 3 , 1 2 5 9 (1260). 1 9 3 BGH NJW-RR 2 0 0 3 , 2 3 1 1 (2313). 1 9 4 BGH VersR 1 9 6 9 , 1 1 4 8 ; BGH N J W 1988, 2 9 4 8 ; insoweit zustimmend Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr.408. 1 9 5 BGH N J W 1978, 1683 (1684). 189 190
62
2. Kapitel:
Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
bei Folgeschäden helfen zu müssen, kann gefahrlos einer dieser beiden Topoi herangezogen werden. d) Bloße „Beweiserleichterungen"
bei einem groben
Behandlungsfehler?
Mit einer Beweislastumkehr im eigentlichen Sinne sind diese Bedingungen nur schwer zu vereinbaren. Vielleicht deshalb betont die Rechtsprechung - in der Formulierung des BGH - immer wieder, der grobe Behandlungsfehler könne zu „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr" 196 führen. Doch auch das verdeckt mehr als dass es erhellt: Im Ergebnis hat die Rechtsprechung immer dann, wenn die obigen Kautelen erfüllt waren, die Beweislast des Patienten nicht gemindert, sondern ihm ganz von den Schultern genommen und eine Entscheidung gegen den Arzt gefällt. Wie bloße Beweiserleichterungen im System der Rechtsprechung aussehen könnten, ist - trotz überwiegend positiver Aufnahme der Formel des BGH in der Literatur 197 - demgegenüber bis heute nicht geklärt 1 9 8 . Es steht lediglich fest, dass das Naheliegendste nicht gemeint ist, nämlich eine Reduzierung des Beweismaßes nach Muster des § 2 8 7 ZPO 1 9 9 . Bezeichnenderweise verzichtet selbst das ansonsten sehr ausführlich und zuverlässig den Stand der Rechtsprechung dokumentierende Praxiskompendium von Steffen/ Dressler auf jeden Versuch einer Definition der „Beweiserleichterung". Das verwundert allerdings nicht weiter, weil auch der Schöpfer der Formel, der frühere Bundesrichter Dunz, nicht mehr zur Erhellung beitragen konnte oder wollte, als dass es sich um ein Instrument handle, „das dazu dient, unbillige Störungen der Waffengleichheit in einer nach Lage des Falles billig erscheinenden Weise auszugleichen" 2 0 0 . Dokumentiert schon dieser uns nicht zum ersten Mal begegnende inhaltsleere Rückgriff auf die Billigkeit die Hilflosigkeit der Rechtsprechung bei der Suche nach einem Fundament für ihre beweisrechtlichen Manipulationen im Arzthaftungsprozess, so führt Dunz noch einen Schritt weiter: Der BGH habe 1 9 6 BGHZ 72, 132 (136); BGHZ 85, 212 (215); BGH NHW 1981, 2513; BGH NJW 1988, 2303 (2304); BGH NJW 1989, 2332; vgl. auch G. Müller, NJW 1997, 3049 (3052). 1 9 7 Vgl. etwa Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 361; ders. J Z 1 9 9 0 , 1 0 5 3 (1061); Rosenberg/ Schwab/Gott-wald, Zivilprozeßrecht, § 117 II 6; Pelz, DRiZ 1998, 473 (480). Kritisch hingegen Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, 22. 1 9 8 So auch Katzenmeier, Arzthaftung, 468. Schärfer Musielak, ZZP 99 (1986), 2 1 7 (224): „Leerformel". Nach Baumgärtel, FS 600-Jahr Feier Universität Köln, 165 (174) ist die „unklare Formulierung" der Rechtsprechung so zu verstehen, dass zwar im Ergebnis die Beweislast umgekehrt wird, der an sich Beweisbelastete aber immerhin insoweit einen Beitrag leisten muss, als er die seinen Anspruch begründenden Tatbestandsmerkmale schlüssig darzulegen hat. Das muss der klagende Patient (nicht nur) im Arzthaftungsprozess aber ohnehin, so dass darin kein Unterschied zu einer „reinen" Beweislastumkehr zu sehen sein dürfte. 1 9 9 Anders Walter, J Z 1978, 806 (808), der die Rechtsprechung gerade wegen des Begriffs der „Beweiserleichterung" als eine Senkung des Beweismaßes in den Fällen versteht, in denen der Anscheinsbeweis versagt, dass volle Beweismaß dem Patienten aber „nicht zugemutet werden" kann. 200 Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, 59.
§2
Arztbaftung
63
deshalb „mehr und mehr auf den Begriff der nackten Beweislastumkehr verzichtet", weil dieser „angesichts der unsicheren Abgrenzung des ,groben' Fehlers willkürlich werden kann" 2 0 1 . Es hilft wenig, die Konturenlosigkeit des Tatbestandes einer von der Rechtsprechung entwickelten Figur dadurch kompensieren zu wollen, dass man auch die Rechtsfolge verdunkelt. Dennoch weist die Floskel von der „Beweiserleichterung" - ungewollt - in die richtige Richtung. Zwar ist das Ergebnis der Rechtsprechung, wenn die Voraussetzungen eines groben Behandlungsfehlers vorliegen, immer eine Beweislastumkehr. Der Arzt muss sich hinsichtlich seines Kausalbeitrags zum Schaden entlasten. Aber: Nimmt man die Voraussetzungen („Geeignetheit" des Fehlers zur Erzeugung des konkreten Schadens, Erschwerung der Aufklärung gerade durch die Schwere des Fehlers, Verwirklichung des „besonderen" Risikos etc.) zusammen und vergegenwärtigt man sich, dass der Großteil dieser Voraussetzungen vom demjenigen zu beweisen ist, der sich hinsichtlich der Kausalität auf die Beweislastumkehr berufen will 202 , also vom Patienten, so wird deutlich, dass in der Sache dem Opfer eines grob fehlenden Arztes nicht alles zur Kausalität abgenommen wird. Tatsächlich will die Rechtsprechung mit all diesen Kriterien ihren Beweislastentscheidungen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür zugrunde legen, dass der Fehler des Arztes eine Ursache des schlechten Ausgangs war 2 0 3 . Dies ändert aber - unausgesprochen - die Grundlage der Haftung. Sie beruht dann in Wahrheit nicht auf einer im Wege der rao«-//gwef-Entscheidung zu Lasten des beweisbelasteten Arztes als gewiss unterstellten kausalen Verknüpfung, sondern auf einer vom Patienten zu beweisenden mehr oder weniger wahrscheinlichen Kausalität 204 .
Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, 54. Vgl. Gross, FS Geiss, 4 2 9 (431 f.). 2 0 3 Ganz deutlich etwa OLG Karlsruhe VersR 2000, 2 2 9 (230), das, nachdem es bereits alle Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes bejaht hat, ausführlich aus einer Studie zitierte, die eine recht hohe statistische Wahrscheinlichkeit für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem ärztlichen Fehler und dem Schaden des Patienten belegte. Ebenso LG München NJW-RR 2 0 0 3 , 1179 (1181), das zunächst den groben Behandlungsfehler prüft und bejaht und sodann ausführlich darlegt, dass bei kunstgerechter Behandlung der Schaden des Patienten mit 80%iger Wahrscheinlichkeit vollständig vermieden worden wäre, um erst im Anschluss daran auf die Beweislastumkehr einzugehen. 2 0 4 Diese Einschätzung teilen etwa Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 135 („Wahrscheinlichkeitsurteil") und Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 112 („Haftung für nur wahrscheinliche Verursachung"); ähnlich bereits Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, 84 („mögliche Kausalität als Haftungsgrund"). Im Ergebnis ebenfalls ähnlich Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 148ff., wenn er die Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler als Anwendungsfall des Anscheinsbeweises ansieht und letzteren mit einer Beweismaßreduktion hin zur bloßen überwiegenden Wahrscheinlichkeit gleichstellt; ihm folgend Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, 60f. Vgl. weiterhin Bender, FS Baur, 2 4 7 (266ff.), nach dem die Rechtsprechung des BGH eine Beweismaßherabsetzung darstellt. 201
202
64
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis Aber das würde kein Gericht so jemals aussprechen: Es gehört zum Grund-
konsens in der Rechtsprechung, dass außerhalb der in sachlicher Hinsicht nicht verallgemeinerungsfähig gehaltenen Ausnahmeregel des § 8 3 0 Abs. 1 S . 2 B G B die bloße mehr oder weniger große Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zum Schaden nicht zu einer Haftung führt 2 0 5 . Die insbesondere von
Roxin206
formulierte Risikoerhöhungslehre, die in der strafrechtlichen Praxis bislang nicht Fuß fassen konnte, hat auch bei den Zivilgerichten keine Anhänger gefunden - jedenfalls keine, die sich offen auf sie berufen.
3. Beweislastumkebr
bei der
„Anfängeroperation"
Komplettiert wird das Arsenal von arzthaftungsrechtlichen Sonderregeln zur Bewältigung unaufklärbarer Kausalverläufe von einer kühnen Rechtsprechung unter dem Stichwort „ A n f ä n g e r o p e r a t i o n " . Erbringt die von einem Anfänger selbständig und ohne hinreichende Aufsicht durchgeführte Operation nicht die erhoffte Heilung, so wird vermutet, dass die Operation „aus M a n g e l an Erfahrung und Ü b u n g " fehlerhaft war und sich in der Schädigung des Patienten ausgewirkt h a t 2 0 7 . Das erleichtert die Bürde des Regress suchenden Patienten in zweifacher Weise. Z u m einen wird dadurch festgelegt, dass der die Grundlage der Haftung bildende Organisations- bzw. Behandlungsfehler bereits in der Übertragung der Aufgabe an den Anfänger zur selbständigen Erledigung 2 0 8 (und in der Übernahme durch diesen 2 0 9 ) liegt, völlig unabhängig davon, o b es Anhaltspunkte dafür gibt, dass er sich der Aufgabe tatsächlich fehlerhaft entledigt hat; n o c h weniger ist ein grobes Versäumnis bei der Operation erforderlich 2 1 0 . In einem zweiten Schritt baut m a n damit auch für die Kausalität eine Brücke: Es wird unterstellt, dass postoperativ auftretende Beschwerden des Patienten ihre Ursache in dem (schon wegen der Beteiligung eines „Anfängers" als fehlerhaft geltenden) Eingriff finden 2 1 1 . Z u r Abwehr einer Schadenersatzklage hat die Behandlungsseite die Vermutung zu entkräften, dass sich die fehlende Qualifikation in der Schädi205 Näher zum Ansatz bei § 830 Abs. 1 S. 2 BGB und abweichenden Literaturansichten unten S. 135. 206 Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (430ff.); vgl. dazu aus neuerer Zeit Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rdnr. 198ff.; Brammsen, MDR 1989, 123; Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 307 (322ff.) ; Otto, JURA 2001, 275; Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 13 Rdnr.4. 207 Grundlegend BGHZ 88, 248 = NJW 1984, 655. S. weiterhin etwa BGH NJW 1985, 2193; BGH NJW 1992,1560; OLG Köln VersR 1992,452; OLG Oldenburg NJOZ 2002, 3 1 5 . 208 BGHZ 88, 248 (257) = NJW 1984, 655 (656); Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 101 Rdnr. 15; Gehrlein, Leitfaden zur Arzthaftpflicht, Rdnr. B 41.. 109 Der Anfänger selbst haftet dem Patienten deliktisch unter dem Gesichtspunkt des Ubernahmeverschulden, da und soweit ihm zumutbar ist, dass er wegen seiner mangelnden Qualifikation die selbständige Ausführung der Operation ablehnt, vgl. ausführlich BGH NJW 1984, 655 (657). 2 1 0 OLG Oldenburg NJOZ 2002, 315. 211 BGH NJW 1984, 655 (657); BGH NJW 1992, 1560.
§2
Arzthaftung
65
gung des Patienten ausgewirkt hat, also den vollen Gegenbeweis der fehlenden Kausalität der Operation führen; es handelt sich nicht nur um einen aus der Beteiligung eines Anfängers am Geschehen gewonnenen Anscheinsbeweis, sondern um eine echte Beweislastumkehr 212 . Dieser Gegenbeweis gelingt nie - wer will mit Sicherheit sagen, dass die Operation den genau gleichen Verlauf genommen hätte, hätte sie ein erfahrener Arzt vorgenommen? Wie oben der grobe Behandlungsfehler entscheidet hier die Beteiligung eines Anfängers faktisch allein über Sieg und Niederlage im Regressprozess. Wie lange ein Arzt ein „Anfänger" im Sinne dieser Rechtsprechung ist, ist angesichts der Tagweite dieser Klassifizierung bemerkenswert unklar. Mit Sicherheit verliert er diese Eigenschaft erst nach Abschluss seiner Facharztausbildung; im mehrjährigen Zeitraum davor muss das Gericht anhand aller Umstände des Einzelfalls abwägen, ob der Arzt die für den konkreten Eingriff erforderliche Erfahrung und Routine besaß 2 1 3 . Der BGH hat es ausdrücklich abgelehnt, „generelle Verhaltensregeln [...], etwas zu Art und Anzahl der vorangegangenen Assistenzen", aufzustellen 214 .
Eine plausible Begründung für die Rechtsprechung zur Anfängeroperation lässt sich noch schwerer finden als für die Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers. Dort ist es immerhin noch die Aufgabe des Patienten, den Fehler des Arztes sowie die Grundlagen für seine Einstufung als „schwer" nachzuweisen; zudem sorgen zusätzliche Anwendungskriterien, wie oben gezeigt, dafür, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Kausalzusammenhang zwischen der Behandlung und den auszugleichenden Schäden besteht. Beides wird hier nicht gefordert. Dem Krankenhausträger, der den Anfänger einsetzt (und dem Anfänger selbst), wird stattdessen eine dem Arzthaftungsrecht ansonsten aus guten Gründen fremde Garantiehaftung für die Gesundheit des Patienten auferlegt: Verspürt dieser postoperativ Beschwerden, kann er sich, ohne Gedanken an den Nachweis einer fehlerhaften Behandlung oder gar eines Ursachenzusammenhangs verschwenden zu müssen, allein wegen der Beteiligung eines Anfängers an Krankenhaus und Arzt halten. Deutlich macht dies der Sachverhalt einer Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahre 1993 2 1 5 . Nach einer Operation im Bereich des Unterkiefers klagte der Patient über Beeinträchtigungen seines Geschmacksempfindens. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs mit der Operation konnte nicht geführt, Anhaltspunkte für konkrete Versäumnisse des die Operation unbeaufsichtigt durchführenden Assistenzarztes konnten nicht gefunden werden. Dennoch hätte die Schadenersatzklage Erfolg haben müssen, hätte der Se212
So ausdrücklich BGH NJW 1984, 655 (657). Vgl. etwa OLG Düsseldorf, NJW 1994, 1598. Zu Unrecht lesen Weißauer/Opderbecke (MedR 1993, 2ff.) aus der Entscheidung BGH NJW 1992, 1560, heraus, dass der BGH jede Operation eines sich noch in der Facharztausbildung befindlichen Arztes ohne Aufsicht durch einen fertigen Facharzt als behandlungsfehlerhaft ansieht, richtig dagegen OLG Düsseldorf aaO. 214 BGH NJW 1984, 655 (656). 215 NJW 1994, 1598. 213
66
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
nat den sich erst im zweiten Jahr seiner Facharztausbildung befindlichen Arzt als „Anfänger" eingestuft. Im Hinblick auf dessen anderweitige chirurgische Erfahrung und den Charakter der Operation als „Routineeingriff" sah das Gericht im Ergebnis davon allerdings ab.
Die klammheimliche Einführung einer ärztlichen Garantie für das Heil des Patienten durch die Hintertür der „Anfängeroperation" kann nach allen Maßstäben nur als spektakulär bezeichnet werden, gehört es doch eigentlich zum Grundkonsens aller im Arzthaftungsrecht Tätigen, dass sich der Behandlungsvertrag - von wenigen Sonderkonstellationen abgesehen - gerade durch seine fehlende Verpflichtung zum Heilungserfolg auszeichnet. Der Arzt als Dienstverpflichteter hat „nur" sein Möglichstes zu tun, um zur Heilung zu gelangen; bleibt der Erfolg aus, ohne dass das auf eine Pflichtverletzung seinerseits zurückzuführen ist, ist dies ihm weder auf vertraglicher noch auf deliktischer Ebene anzulasten. Dennoch hat die Erfindung der Erfolgshaftung nach einer „Anfängeroperation" den Gerichten wenig Begründungsaufwand abverlangt - und ihnen erstaunlicherweise, soweit ersichtlich, keinen Widerstand in der Literatur eingebracht 216 . Der BGH sieht ausweislich seiner Leitentscheidung in der selbständigen Übertragung einer Operation auf den dafür nicht qualifizierten Anfänger eine (zusätzliche) Gefährdung des Patienten 217 . Dies mag zutreffen, reicht aber für sich genommen nicht aus, solange die Arzthaftung nicht in eine Gefährdungshaftung umgewandelt ist. Auch der Einsatz eines übermüdeten Chefarztes gefährdet den Patienten, dennoch wird eine Haftung erst ausgelöst, wenn ihm beim Eingriff tatsächlich ein Versäumnis unterläuft - bekämpft er seine Müdigkeit erfolgreich und operiert er fehlerlos, muss der Patient das Schicksal seiner nicht vollständigen Gesundung ohne Entschädigung tragen. Warum dem Anfänger hingegen anders als dem Chefarzt verwehrt sein soll, sich darauf zu berufen, dass ihm kein Fehler nachgewiesen werden kann, bleibt unerfindlich. Quod licet jovi non licet bovi? Man kann nur vermuten, dass die Rechtsprechung sich (auch hier) von dem Wunsch nach einer Sanktion der Behandlungsseite leiten lässt, die sich zuweilen mit Koryphäen des Fachs schmückt (und deren Leistungen abrechnet), die tägliche Arbeit aber von anderen machen lässt 218 . So wie das Rechtsgefühl der Gerichte sich dagegen wehrt, dass der grob fehlende Arzt davon kommen soll, „nur" weil der Ursachenzusammenhang nicht nachgewiesen ist, soll offenbar der Krankenhausträger büßen, wenn er das ihm vom Patienten entgegenge2 1 6 Geradezu euphorisch Giesen, J Z 1984, 331 („[e]in grundlegendes, hilfreiches, umsichtiges und weiterführendes Urteil"); nüchterner, aber ebenfalls positiv Deutsch, NJW 1984, 650 („weitgehende Zustimmung"). Kerschbaum, Die Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß, zeigt sich kritisch zur Begründung der BGH-Rechtsprechung, begrüßt deren Ergebnis aber gleichwohl aus „sozialethischen" Gründen (102). 2 1 7 BGH NJW 1984, 655. 2 1 8 Vgl. zum Streit zwischen Ärzten und privaten Krankenversicherern um vom Chefarzt nicht selbst erbrachte, aber als solche liquidierte Leistungen Stüwe, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.8. 2001, S. 15.
§2
Arztbaftung
67
brachte Vertrauen durch den Einsatz nicht hinreichend qualifizierten Personals enttäuscht. Doch auch hier gilt: Einen Strafschadenersatz kennt das deutsche Zivilrecht nicht - selbst wenn durch ihn wirtschaftlich „nur" die Haftpflichtversicherung des Schädigers getroffen wird. Manipulationen im zivilen Schadenersatzrecht sind der falsche Weg, will man Krankenhäuser zu einer sorgfältigen Ausbildung und Überwachung des ärztlichen Nachwuchses 219 anhalten. II. Die fehlerhafte A u f k l ä r u n g des Patienten Es sind zwei Formen der Aufklärung im Arzthaftungsrecht 220 zu unterscheiden. 1. Die
Sicherungsaufklärung
Zum einen obliegt dem Arzt die sogenannte therapeutische oder Sicherungsaufklärung 221 . Darunter versteht man Ratschläge und Empfehlungen an den Patienten, wie er sich zur Förderung des Heilungsprozesses und zur Sicherstellung des Erfolges der ärztlichen Behandlung im Anschluss an diese zu verhalten hat 222 . Hinzu kommen Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen einer Behandlung, wie etwa vorübergehende medikamenten- oder narkosebedingte Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit 223 . Die therapeutische Aufklärung ist notwendiger Bestandteil der kunstgerechten ärztlichen Behandlung, weil ohne sie deren Ziel, nämlich die dauerhafte (Wieder-)Herstellung des gesundheitlichen Wohls des Patienten, gefährdet ist. Macht der Arzt einen Fehler, indem er falsche, unklare oder unvollständige Warn- und Schutzhinweise gibt, begeht er einen Behandlungsfehler 224 . Die Rechtsprechung unterwirft deshalb die fehlerhafte Sicherungsaufklärung im Hinblick auf Kausalitätszweifel den oben erörterten und kritisierten Regeln: Kann man sie als grob fehlerhaft einstufen, muss der Arzt sich dahingehend entlasten, dass der vom Patienten beklagte Schaden
219 Vgl. aus d e m juristischen Schrifttum etwa H. Franzki, M e d R 1 9 8 4 , 1 8 6 u n d Gounalakis, N J W 1991, 2 9 4 5 , zur richtigen stufenweisen Ausbildung der Assistenzärzte (bloßes Beobachten, Tätigkeit als erster, d a n n als zweiter Assistent etc.) mit d e m Endziel der selbständigen O p e ration. 220 U m f a s s e n d Wussow, VersR 2 0 0 2 , 1337, der mit der „wirtschaftlichen" A u f k l ä r u n g s pflicht eine dritte F o r m hinzufügt, zugleich aber zu Recht hinzufügt, dass diese von den hier allein interessierenden medizinischen Aufklärungspflichten strikt zu unterscheiden sei (1340). 221 Allgemein dazu Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, H a n d b u c h des Arztrechts, § 62; ders., Arztrecht, Rdnr. 163ff.; Ankermann, FS Steffen, 1 (2ff.). 222 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 3 2 7 m . w . N . 223 Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, H a n d b u c h des Arztrechts, § 6 2 Rdnr. 14ff. 224 Allg. M e i n u n g , vgl. n u r Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. B 98; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 325; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, H a n d b u c h des Arztrechts, § 6 2 Rdnr. 2.
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
auch bei zutreffender therapeutischer Aufklärung eingetreten w ä r e 2 2 5 . Gelingt ihm das nicht, haftet er in voller H ö h e auf Schadenersatz. Ein Beispiel: Die Eltern eines erheblich zu früh geborenen Kindes waren bei dessen Entlassung aus der Klinik nicht hinreichend deutlich darauf hingewiesen worden, dass wegen der Möglichkeit einer Netzhautablösung unverzüglich eine augenärztliche Kontrolle zur Verhinderung einer Erblindung des Kindes stattfinden muss. Die Kontrolle unterblieb, das Kind erblindete. Die Chance, die Erblindung zu verhindern, hätte bei rechtzeitiger Kontrolle allenfalls 5 0 % betragen. Das OLG Köln 2 2 6 bejahte dennoch eine volle Haftung des Krankenhausträgers, weil diesem ein grober Fehler unterlaufen sei. Die therapeutische Aufklärung wirft deshalb keine besonderen Fragen im Hinblick auf die Kausalität auf, die im vorliegenden R a h m e n einer eigenständigen Erörterung bedürften.
2.
Selbstbestimmungsaufklärung
a) Inhalt,
Umfang
Anders liegt es mit der zweiten Spielart der dem Patienten geschuldeten Aufklärung, der sogenannte Selbstbestimmungsaufklärung 2 2 7 . Darunter wird die vor einem ärztlichen Eingriff zu erfolgende Aufklärung des Patienten über die Diagnose sowie den Verlauf der aufgrund des Befundes geplanten ärztlichen Behandlung einschließlich der mit ihr verbundenen Risiken und von Behandlungsalternativen verstanden, manche sprechen o b dieser Facetten von den Fallgruppen der Diagnose-, Verlaufs- und R i s i k o a u f k l ä r u n g 2 2 8 . Die Aufklärung muss sich in diesem R a h m e n auf alle Umstände erstrecken, die für einen „verständigen" Patienten in der gleichen Situation bei seiner Entscheidung für oder gegen den Eingriff eine Rolle spielen können. Dabei richtet sich das M a ß der Genauigkeit, mit der aufgeklärt werden muss, nach der Dringlichkeit des Eingriffes: J e dringender der geplante Eingriff ist, desto geringer ist der Umfang der Aufklärungspflicht, je geringer der Dringlichkeitsgrad, desto größere Anforderungen sind an die Aufklärungspflicht zu stellen (Beispiel: lebenserhaltende Operation einerseits, kosmetische Operation andererseits) 2 2 9 . Die Selbstbestimmungsaufklärung soll, wie ihr N a m e sagt, den Patienten in den Stand versetzen, selbst über die Durchführung des ärztlichen Heileingriffs zu entscheiden. Letzterer ist rechtswidrig, auch wenn er kunstgerecht und mit Er2 2 5 Vgl. etwa OLG Köln VersR 2002, 1285 (Beweislastumkehr bei schwerwiegendem Verstoß gegen die therapeutische Aufklärungspflicht, in casu verneint). 2 2 6 OLG Köln MedR 1996, 567; s. dazu bereits oben S.51. 2 2 7 Vgl. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, §63. 228 Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 63 Rdnr. 12; Katzenmeier, Arzthaftung, 325 m.w.N.; Wussow, VersR 2002, 1337 (1338f.). 2 2 9 Vgl. BGH NJW 1980,1905: BGH NJW 1980,2751; BGH NJW 1991,2349; BGH NJW 1997, 1637; BGH NJW 1998, 1784. OLG Düsseldorf NJW-RR 2003, 89 (90).
§2
Arzthaftung
69
folg durchgeführt wurde, falls er nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten (oder seines gesetzlichen Vertreters) gedeckt ist. Dieser Einwilligungsvorbehalt wird als Ausfluss des im Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G ) verankerten Selbstbestimmungsrechts angesehen 2 3 0 . Die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung setzt ihrerseits allerdings voraus, dass der Patient weiß, worin er einwilligt („informed c o n s e n t " ) 2 3 1 , woraus sich die Forderung nach einer umfassenden Aufklärung ableitet. Insbesondere der Risikoaufklärung k o m m t dabei eine große Bedeutung zu. D e r Patient muss einerseits die Risiken, die sich auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung des Eingriffs nicht vermeiden lassen, umfassend kennen, um diese in ein Verhältnis zu den aus ihm folgenden Heilungschancen sowie den Vor- und Nachteilen alternativer Behandlungsweise setzen zu k ö n n e n 2 3 2 . Andererseits muss sich die Aufklärung gerade unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung der Patientenentscheidung nur auf solche Risiken erstrecken, deren Kenntnis bei dem konkreten Patienten nicht bereits vorauszusetzen ist und die für seine Zustimmung zur vorgeschlagenen Behandlung ernsthaft ins Gewicht fallen k ö n n e n 2 3 3 . Eine umfangreiche Rechtsprechung bemüht sich mit durchwachsenem Erfolg, diese im Wesentlichen unbestrittenen Vorgaben mit Details zu füllen, um dem Arzt bei der Erfüllung der Aufklärungsaufgabe mehr Sicherheit zu geben 2 3 4 . Gerade weil der Erfolg mit der „Aufklärungsrüge" nur voraussetzt, dass der Patient bei richtiger Aufklärung nicht in die Behandlung eingewilligt hätte 2 3 5 , die einen materiellen oder immateriellen Schaden bei ihm verursacht hat, ohne dass ihm der Nachweis eines Behandlungsfehlers gelingen muss, hat sie in der forensischen Praxis eine große Bedeutung erlangt. Der geschädigte Patient, der seinem Arzt „eigentlich" wegen eines Fehlers gram ist, hat ein zweites Los in der Lostrommel, wenn es ihm nicht gelingt, das Gericht von der fehlerhaften Behandlung zu überzeugen 236 . Dieses zweite Los ist umso wertvoller, je unklarer die Anforderungen an eine korrekte Aufklärung sind, denn vage Konturen erhöhen die Chance, dass ein Gericht in der ex-posi-Betrachtung ein Haar in der Suppe findet. Die Rechtsprechung versucht auf Zurechnungsebene (Rechtswidrigkeitszusammenhang) entgegenzusteuern: Eine wegen eines pflichtwidrig nicht genannten Risikos mangelhafte Auf-
Katzenmeier, Arzthaftung, 324, mit zahlreichen Nachweisen. Katzenmeier, Arzthaftung, 324. 232 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 326 m.w.N. 233 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 49. 234 Ausführliche Übersicht zur Rechtsprechung bei Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 5Off. 235 Zu diesem Kausalitätsproblem sogleich unten S. 70. 236 Typisch ist deshalb eine Prozessstrategie, wie sie sich im folgenden Auszug aus dem Tatbestand eines BGH-Urteils ausdrückt: „[Die Klägerin] behauptet, der Bekl. habe bei der Operation schuldhaft den Trigeminusnerv durchtrennt oder jedenfalls direkt beschädigt. Er hafte mindestens deswegen, weil er sie nicht über das Risiko einer Schädigung dieses Nervs mit der Folge einer Verschlimmerung ihrer Schmerzzustände aufgeklärt habe. Zutreffend darüber informiert hätte sie in den Eingriff nicht eingewilligt" (BGH NJW 1986, 1541). 230 231
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
klärung soll - außerhalb von Fehlern bei der sogenannten „Grundaufklärung" 237 - dann die Wirksamkeit der Einwilligung nicht berühren und somit folgenlos bleiben, wenn sich in dem Schaden des Patienten ein ausdrücklich angesprochenes Risiko 2 3 8 oder zumindest ein solches verwirklicht hat, das mit dem verschwiegenen „nicht vergleichbar" ist 2 3 9 , denn in diesen Fällen habe sich der Fehler des Arztes ja nicht ausgewirkt. So sehr das Bemühen um eine Folgenbegrenzung verständlich ist, so wenig lässt sich für diesen Ansatz eine überzeugende Begründung finden: Die Einwilligung bezieht sich auf den ärztlichen Eingriff als ganzen und ist unteilbar, solange dieser es ist. Folglich führt auch eine nur teilweise fehlerhafte Aufklärung des Arztes zur vollständigen Unwirksamkeit der ganzen Einwilligung und in der Folge dazu, dass die Heilbehandlung insgesamt rechtswidrig ist. Der Arzt müsste damit eigentlich für alle Schäden gerade stehen, die ihre Ursache in der tatbestandlich eine Körper- oder Gesundheitsverletzung darstellenden Behandlung finden 2 4 0 , sofern ihn nicht der sogleich zu behandelnde Einwand rettet, die Einwilligung wäre auch bei umfassender Aufklärung erteilt worden. Auf eine Beziehung zwischen dem Schaden und dem im Aufklärungsgespräch unterschlagenen Risiko kommt es jedenfalls nicht an, solange sich die Rechtsprechung nicht von der Körperverletzungsdoktrin löst 2 4 1 .
b)
Kausalitätszweifel
aa) Die Kausalität zwischen Aufklärungsmangel der Einwilligung
und Erteilung
Ein näher liegendes Werkzeug zur Begrenzung der Haftung des unvollständig aufklärenden Arztes als die Suche nach Ubereinstimmungen und Differenzen zwischen dem verschwiegenen und dem realisierten Risiko ist die sorgfältige Prüfung des Kausalzusammenhangs zwischen Aufklärungsumfang und Einwilligungserteilung. Im Ansatz sind sich Rechtsprechung 2 4 2 und herrschende Lehr e 2 4 3 einig: Schadenersatz unter dem Gesichtspunkt eines Aufklärungsmangels wird nicht geschuldet, wenn sich dieser auf die Einwilligung nicht ausgewirkt hat, in anderen Worten: wenn der Patient die Einwilligung auch nach vollständi-
237
(196).
Vgl. dazu BGHZ 106, 391 (399), BGH VersR 1991, 777 (778f.) ; BGH VersR 1996,195
BGHZ 144, 1 (7f.) = NJW 2000, 1784; BGH VersR 2001, 592. BGHZ 106, 391 (399). 2 4 0 Dies erkennt im Grundsatz auch der BGH an, vgl. BGHZ 106, 391 (398); BGH NJW 1991, 2346. 2 4 1 Kritisch zur Rechtsprechung unter diesem Gesichtspunkt Hart, FS Heinrichs, Z91 (Z98 f.). Kritisch aus anderer Sicht (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) Beyers, Gutachten 52. DJT, A 112; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 264. Die Rechtsprechung verteidigend Steffen, FS Medicus, 637. 2 4 2 Vgl. BGH NJW 1980,1333; BGHZ 90, 103 (111); BGH NJW 1994, 799 (801); zahlreiche weitere Nachweise bei Staudinger/Hager, § 823 Rdnr. 1120. Zur parallelen Problematik bei der verspäteten aufklärung OLG Stuttgart NJW-RR 2002, 1601. 243 Gehrlein, Leitfaden zur Arzthaftpflicht, Rdnr. C 72; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, §63 Rdnr. 3; Staudinger/Hager, §823 Rdnr. I 121; zahlreiche weitere Nachweise bei Katzenmeier, Arzthaftung, 348. 238
239
§2
Arzthaftung
71
ger und umfassender Aufklärung erteilt hätte 244 . Allzu fern wird das in vielen Fällen nicht liegen. Der BGH fordert etwa eine Aufklärung auch über sehr seltene Risiken, sofern sie nur dem Eingriff „spezifisch" anhaften und bei ihrer Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belasten 245 . Wie häufig trifft der Arzt auf einen Patienten, der sich einem ihm als notwendig geschilderten Eingriff nicht unterzogen hätte, hätte man ihn beispielsweise im Zusammenhang mit einer wegen „massiver Beschwerden" notwendigen Myelographie daraufhingewiesen, dass eine Risikorate von „0,7 bis zu 1,7%" für eine Blasenlähmung besteht 246 , oder der eine öffentlich empfohlene „Routineimpfung" verweigert hätte, hätte man ihn nur zuvor gründlich genug über das Risiko schwerer Folgeschäden mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:5 Millionen informiert 247 ? In vielen Fällen wird es so sein, dass der Patient auch mit der zusätzlichen Information dem Rat seines Arztes gefolgt wäre, dem er sich als Experten anvertraut hat, weil er kaum einen guten Grund dafür finden wird, sein eigenes Urteilsvermögen in so schwierigen Fragen wie der Abwägung der Chancen und Risiken verschiedener Behandlungsalternativen als überlegen anzusehen. Die Erfahrung lehrt daher, dass ein Kranker normalerweise einen ihm als sinnvoll geschilderten Eingriff, der mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit und vergleichsweise geringen Risiken zu einer Heilung oder Linderung seiner Leiden zu führen verspricht, oder sogar zur Abwendung schwerer Gefahren zwingend erforderlich zu sein scheint, auch bei umfassender Risikoaufklärung zuzustimmen pflegt 248 . Dennoch wehrt sich die Rechtsprechung dagegen, Schadenersatzbegehren auf der Basis von Aufklärungsmängeln unter Berufung auf die hypothetische Einwilligung eines „verständigen" Patienten auch bei umfassender Aufklärung einen
244 Nachweise zu einer abweichenden Mindermeinung in der Literatur bei Katzenmeier, Arzthaftung, 367 mit Fn. 309f. Diese vermag freilich nicht zu überzeugen, weil es keinen Grund gibt, den Grundsatz, dass man nur für den Schaden gerade zu stehen hat, den man durch eine Pflichtverletzung verursacht hat, für Aufklärungspflichtverletzungen aufzugeben. „Versari in re illicita" ist auch für den Arzt kein hinreichender Haftungsgrund. 245 BGHZ 144, 1 = NJW 2000, 1784 (1785); aus der OLG-Rechtsprechung hier nur OLG Düsseldorf N J O Z 2002, 2784 (2786). 246 OLG Brandenburg NJW-RR 2000, 398 (399). 247 Vgl. den Sachverhalt in BGH NJW 2 0 0 0 , 1 7 8 4 (wo das Gericht gegen die Vorinstanz allerdings die in concreto erfolgte Aufklärung per Merkblatt für ausreichend hielt, da und soweit dem Patienten Gelegenheit gegeben wurde, weitere Fragen zu der bevorstehenden Impfung zu stellen, wenn er dies gewollt hätte (1787); kritisch insoweit Deutsch, J Z 2000, 902; Spickhoff, NJW 2001, 1757(1761)). 248 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 348 m.w.N. Ohne jede Begründung anders OLG Düsseldorf NJW-RR 2003, 89 (90). Der Arzt hatte vor einer Augen-Laserbehandlung zur Korrektur einer Weitsichtigkeit nicht darauf hingewiesen, dass sie „in Einzelfällen" (etwa 1%) zu einer fast vollständigen Regression (= Erfolglosigkeit) führen könne. Das Gericht gewährte vollen Schadenersatz, ,,[d]a davon auszugehen ist, dass die Kl. bei ordnungsgemäßer Aufklärung seintes der Bekl. davon abgesehen hätte, sich der Behandlung zu unterziehen ...".
72
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Riegel vorzuschieben249; sie betont stattdessen, dass immer die Kausalität im konkreten Fall zu prüfen und auch der Patient zu schützen sei, der mit seinen Besonder- und Eigenheiten bei korrekter Aufklärung aus ganz persönlichen Motiven den geplanten Eingriff verweigert hätte 250 . Der Nachweis der hypothetischen Einwilligung müsse strengen Voraussetzungen unterliegen, „damit nicht das Recht des Patienten zur Aufklärung auf diesem Wege unterlaufen wird" 251 . Dies bringt den Arzt seinerseits in eine fast ausweglose Lage. Ihm obliegt der Beweis sämtlicher Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass sein nach Auffassung der Rechtsprechung und herrschenden Lehre tatbestandlich eine Körper- oder Gesundheitsverletzung darstellender Eingriff gegen die daraus folgende Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit ausnahmsweise rechtmäßig, das heißt durch eine Einwilligung des Patienten gedeckt ist 252 . Dazu gehört der Nachweis einer vollständigen und zutreffenden Aufklärung253 und hilfsweise, wenn ihm dieser nicht gelingt, der Beweis, dass der Mangel sich nicht ausgewirkt hat, der Patient also auch bei richtiger Aufklärung hypothetisch zugestimmt hätte 254 . Wenn hier nach dem oben Gesagten nur die persönliche Willenslage des konkreten Patienten entscheidet, nicht der Standpunkt des „vernünftigen Patienten", ist dieser Nachweis für den Arzt in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht zu führen: Dem Patienten ist es im Prozess immer möglich, in Abrede zu stellen, dass er seine Zustimmung zum Eingriff bei korrekter Aufklärung über drohende Risiken gegeben hätte. Das öffnet dem Missbrauch der Aufklärungspflicht für Haftungszwecke Tür und Tor, und so begab sich die Rechtsprechung ebenso wie im Rahmen der Kausalitätsprüfung bei einem Behandlungsfehler auf die Suche nach einer Kompromissformel. Gefunden hat sie sie in dem „echten Entscheidungskonflikt", mit dem durch die Hintertür der „vernünftige Patient" doch wieder eine Rolle bekommt: Erscheint eine Ablehnung der vom Arzt vorgeschlagenen Behandlung aus medizinischer Sicht als objektiv unvernünftig, hätte insbesondere eine Nicht- oder abweichende Behandlung eine höhere Komplikationsdichte an Risiken als diejenigen mit sich gebracht, deren Verschweigen die Aufklärung fehlerhaft macht, so muss der Patient darlegen, dass er sich trotzdem in einem „echten Entscheidungskonflikt" befunden hätte 255 . Dies tut er dadurch, dass er Gründe nennt, die ihn möglicherweise davon abgehalten hätten, dem Eingriff zu2 4 9 BGH NJW 1998, 2734; BGH NJW 1991, 2344 (2345); BGH VersR 1973, 244 (245). Zum „verständigen Mandanten" im Rahmen der Anwaltshaftung unten S. 108. 2 5 0 BGHZ 90, 103 (111); BGH NJW 1993, 2378 (2379). 2 5 1 BGH NJW 1998, 2734, BGH NJW 1994, 2414 m.w.N. 2 5 2 Vgl. BGH NJW 1992, 2351; BGH NJW 1992, 2354; Katzenmeier, Arzthaftung, 495; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 131 m.w.N. zur Rechtsprechung. Abweichend etwa Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, 190 f. 253 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 131. 254 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 137. 2 5 5 Etwa BGH NJW 1998, 2734 m.w.N.; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 310 (311); OLG Düsseldorf NJOZ 2002, 2784 (2787).
§2
Arzthaftung
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zustimmen, ohne dass er darlegen muss, wie er sich tatsächlich entschieden hätt e 2 5 6 . Es reicht, wenn die Offenbarung des tatsächlich v o m Arzt nicht angesprochenen Risikos den Patienten „ernsthaft vor die Frage [eines abweichenden Vorgehens] gestellt" h ä t t e 2 5 7 . Das Gericht prüft die Gründe dafür nur auf Plausibilit ä t 2 5 8 . Erscheinen sie nicht als vollständig abwegig, ist der Einwand der hypothetischen Einwilligung abzulehnen und dem Schadenersatzbegehren stattzugeben. So reichte für das O L G Koblenz etwa die bloße „Gleichwertigkeit" der durchgeführten Vaginalentbindung mit der v o m Arzt nicht ausdrücklich ins Spiel gebrachten Möglichkeit einer Schnittentbindung aus, um ihn in voller H ö h e für nicht durch Fehler bei der Geburtshilfe begünstigte Schäden des Neugeborenen haftbar zu m a c h e n 2 5 9 . In einem Fall des B G H erhielt die Patientin vollen Schadenersatz für eine ihren Z u s t a n d verschlechternde Operation, bei der dem Arzt kein Behandlungsfehler unterlaufen war, weil sie darauf verweisen konnte, dass sich eine Freundin wegen einer ähnlichen Erkrankung zuvor für eine mit Erfolg durchgeführte andere Variante des Eingriffs entschieden hatte, über die sie selbst nicht aufgeklärt worden w a r 2 6 0 . Im Ergebnis bedeutet diese Rechtsprechung: Die Behandlungsseite, die ihre Aufklärungspflichten vernachlässigt, haftet in voller H ö h e für Schäden, die allenfalls möglicherweise auf diese Pflichtverletzung zurückzuführen sind, weil der Patient bei richtiger Aufklärung vielleicht ein plausibles Argument gefunden hätte, auf den Eingriff in der v o m Arzt vorgeschlagenen F o r m zu verzichten - vielleicht aber auch bei der v o m Letzteren vorgesehenen M a r s c h r o u t e geblieben wäre. D e r Nachweis eines Kausalzusammenhangs wird durch den N a c h w e i s eines möglich erscheinenden Ursachenzusammenhangs ersetzt, der nicht einmal besonders wahrscheinlich sein muss: Es könnte sein, dass die falsche Aufklärung die Einwilligung des Patienten bedingt hat - oder auch nicht. D a m i t wird der gordische K n o t e n der Kausalitätszweifel bei Aufklärungspflichtverletzungen genauso grob durchschlagen wie bei Behandlungsfehlern. Außer dem (scheinbaren) M a n g e l an überzeugenden Alternativen spricht für den Ansatz beim „ernsthaften Entscheidungskonflikt" wohl wiederum nur die Billigkeit: W a r es beim Behandlungsfehler die „unbillige" Beweisnot des Patienten, die gelindert werden musste, soll hier der Beweisnot des Arztes und dem M i s s b r a u c h des Aufklärungsrechts 2 6 1 entgegengewirkt werden. Die den Gerichten auferlegte Plausibilitätsprüfung der Gründe, die bei richtiger Aufklärung gegen eine Einwilligung gesprochen hätten, ist dabei für beliebige Ergebnisse je nach GeBGH NJW 1991, 1543 (1544); BGH NJW 1994, 2414. OLG Koblenz NJW-RR 2002, 310 (311). 2 5 8 BGH NJW 1998, 2734; BGH NJW 1994, 2414; BGHZ 89, 95 (103); OLG Koblenz NJW-RR 2002, 310 (311). 2 5 9 OLG Koblenz NJW-RR 2002, 310 (311). 2 6 0 BGH NJW 1998, 2734. 261 Katzenmeier, Arzthaftung, 498. 256
257
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
schmack und privater Präferenz der Richter genauso offen wie der „ g r o b e " Behandlungsfehler, wie selbst B G H - R i c h t e r in literarischen Äußerungen bereitwillig anerkennen: „Die im Einzelfall erforderliche Plausibilitätsprüfung des Richters bedeutet [...] einen nicht geringen Preis an Kalkulierbarkeit der Aussichten der Rechtsverfolgung und an Rechtssicherheitsgewähr im Rechtsgang. In Rechtswirklichkeit und Ergebnis wird die Aufklärungsfehlerhaftung in dieser Prüfungsebene aus der Breite des Aufklärungsumfangs vor das Nadelöhr des ernsthaften Entscheidungskonflikts geführt und der Richter vor eine durchaus ungesicherte ,Plausibilitätskontrolle', in die Gefahr, daß die Rechtsprechung wippt und schwippt, im Ergebnis beim Entscheidungskonflikt nimmt, was sie im Aufklärungsumfang g i b t " 2 6 2 . O b nun die Rechtsprechung „wippt und s c h w i p p t " oder mit den Beweisregeln zur Aufklärungspflichtverletzung „ P i n g - P o n g " spielt, wie Hirte wie Geiß/Greiner
ebenso farbig
a n p r a n g e r t 2 6 3 : Diese Kritik träfe auch die bei der Prüfung der
Kausalität des Behandlungsfehlers praktizierten Beweisregeln. Und schließlich fehlt es wie bei der Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers nicht an kuriosen Ideen zur Begrenzung des aus dem fragwürdigen Ansatz erwachsenden Schadens: Katzenmeier etwa hält im Anschluss an Mertens264 den Einwand der hypothetischen Einwilligung bei pflichtgemäßer Aufklärung für unbeachtlich für den Ersatz des aus dem Eingriff folgenden immateriellen Schadens, während der materielle Schaden nicht zu ersetzen sein soll, wenn feststeht, dass der Patient bei richtiger Aufklärung eingewilligt hätte 2 6 5 . Unklar bleibt, warum sich materielle und immaterielle Schäden bei der Haftung aufgrund eines Aufklärungsmangels (und nur dort) im Hinblick auf Kausalität und Zurechnung unterscheiden sollen. bbj
Die Kausalität
zwischen
Eingriff
und
Schaden
Selbstverständlich ist im R a h m e n einer Schadenersatzklage wegen der Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht nicht nur der Kausalzusammenhang zwischen dieser Pflicht und der Z u s t i m m u n g des Patienten zur Behandlung zu ermitteln. Ebenso wie bei der Klage wegen eines Behandlungsfehlers muss weiterhin der die Basis des Schadenersatzbegehrens bildende Gesundheitsschaden auf dem Eingriff beruhen, über den der Arzt mangelhaft aufgeklärt hat. Die Beweislast hierfür obliegt dem Patienten 2 6 6 . Die Rechtsprechung gönnt ihm keine Erleichterung im Falle einer „ g r o b e n " Aufklärungspflichtverletzung 2 6 7 und hält insoweit Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr. C 144. Hirte, Berufshaftung, 479, unter Berufung auf Deutsch, FS Lange, 433 (442). 264 MünchKomm/Mertens, §823 Rdnr.457. 265 Katzenmeier, Arzthaftung, 367f. 2 6 6 BGH NJW 1986,1541 (1542). Vgl. auch OLG Karlsruhe GesR 2 0 0 3 , 2 3 9 für den besonderen Fall, dass ein einheitlicher Eingriff nur teilweise von einer Einwilligung des Patienten abgedeckt war; hier muss konsequenterweise der Patient beweisen, dass der Schaden gerade auf dem nicht rechtmäßigen Teil beruht. 2 6 7 BGH NJW 1986, 1541 (1542); BGH NJW 1987, 2291; BGH NJW 1992, 754; OLG 262 263
§2
Arzthaftung
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nicht einmal eine Begründung für notwendig 268 . Stattdessen suggeriert sie wider besseres Wissen eine Gleichbehandlung von Behandlungs- und Aufklärungsfehler im Hinblick auf die Schadenskausalität: „Die G r ü n d e , die eine Beweisbelastung des Arztes f ü r die zutreffende und vollständige Risikoaufklärung des Patienten gerechtfertigt erscheinen lassen, gelten nicht für die Feststellung, ob der ohne rechtswirksame Einwilligung vorgenommene ärztliche Eingriff bei dem Patienten auch zu einem Schaden geführt hat. Das zu beweisen ist ebenso wie im Falle des Behandlungsfehlers Sache des Patienten. Es besteht kein Sachgrund, bei Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht den Arzt insoweit beweismäßig schlechter zu stellen" 2 6 9 .
Dem letzten Satz mag man zustimmen, doch beantwortet das nicht die Frage, warum der Arzt bei Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht dadurch besser gestellt wird, dass dem Patienten eine Hilfe in Form der Beweislastumkehr verwehrt wird. Dabei wäre es ein Leichtes, nach einer Beweislastumkehr wegen eines groben Aufklärungsfehlers auf der Grundlage der im Falle des groben Behandlungsfehlers vorgebrachten Argumente zu rufen. Spricht nicht die Waffengleichheit dafür, dem geschädigten sach- und fachunkundigen Patienten auch und gerade dann unter die Arme zu greifen, wenn er vom kraft seines Wissens überlegenen Arzt nicht falsch behandelt, aber in besonders schwerwiegender Weise über die Risiken des Eingriffs im Unklaren gelassen wurde 270 ? Bringt das überlegene, aber mit dem Patienten nur unzureichend geteilte Wissen des handelnden Arztes um den Ablauf der Heilbehandlung und ihrer potentiellen negativen Folgen ihn nicht auch beim Aufklärungsmangel in eine größere Nähe zur Unaufklärbarkeit des Kausalverlaufs, so dass man diesen dem Gefahrenbereich des Arztes zurechnen muss 271 ? Es besteht aus hiesiger Sicht sicherlich kein Anlass, den verfehlten Argumenten für eine Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers ein neues Spielfeld beim Aufklärungsmangel zu wünschen. Aber der gegenteiliger Schluss drängt sich auf: Wenn Beweiserleichterungen beim „groben" Aufklärungsfehler so fern liegen, dass sie Rechtsprechung und Literatur nicht einmal der Diskussion für würdig erachten, sollte das die Akteure des Medizinrechts zu der Einsicht bringen, dass auch die Figur der Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers Überdenkenswert ist.
Hamburg VersR 2000, 190 (191); vgl. auch Spickhoff, NJW 2000, 848 (849); Katzenmeier, Arzthaftung, 496. 268 Typisch insoweit die apodiktische Kürze des OLG Hamburg VersR 2 0 0 0 , 1 9 0 (191): „Beweiserleichterungen kommen dem Kläger ... nicht zugute, weil es ... Beweiserleichterungen im Fall eines ,groben Aufklärungsmangels' nicht gibt". 269 BGH NJW 1986, 1541 (1542). 270 Z u diesem Argument im Falle des Behandlungsfehlers oben S.38. 271 Zu diesem Argument im Falle des Behandlungsfehlers oben S.42.
76
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Anwaltsbaftung Das System der Anwaltshaftung ist in der deutschen Praxis nicht weniger ausgefeilt als das der arztrechtlichen „Schwester". Die Instrumente zur Bewältigung von Problemen beim Nachweis der Kausalität eines Anwaltsfehlers für den vom Mandanten erlittenen Schaden unterscheiden sich aber nicht unerheblich von denen, die im Rahmen der Arzthaftung eingesetzt werden. Manchem Arztrechtler ist das ein Dorn im Auge. Giesen etwa vermisst die „Sensibilität", die nach seiner Auffassung die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Fortbildung des Arzthaftungsrechts auszeichnet 272 . Ziegler konstatiert eine mittlerweile „zufriedenstellende Situation" für geschädigte Patienten 273 , während wegen der als Lobbyisten geschickteren „Vertreter des Rechts in den schwarzen Roben" 2 7 4 das „Klima zugunsten der Anwälte weit besser ist als das Klima zuungunsten der Arzte" 2 7 5 . Aber auch derjenige, der umgekehrt darauf hofft, hier auf überzeugendere Lösungen als im Arzthaftungsrecht zu treffen, wird nicht unbedingt fündig. Wenn im Folgenden von der „Anwaltshaftung" die Rede ist, sollen damit nicht nur die Rechtsanwälte, sondern auch alle anderen Dienstleister erfasst werden, die Rechtsberatung erbringen. Das gilt insbesondere für Steuerberater und Notare.
Gekennzeichnet ist die Anwaltshaftung durch eine grundsätzliche Zweiteilung: Unterlaufen dem Anwalt Fehler bei der Prozessvertretung (unten I.), gelten im Hinblick auf die Schadenskausalität andere Regeln als für Pflichtverletzungen bei der außergerichtlichen Beratung (unten II). Die „Prozessvertretung" steht pars pro toto für jede Tätigkeit des Anwalts im Dienste seines Mandanten, die auf die Herbeiführung oder Beeinflussung einer rechtlich normierten Entscheidung einer staatlichen Stelle abzielt. Die im folgenden Abschnitt darzustellenden Regeln der Rechtsprechung für den Umgang mit Kausalitätszweifeln betreffen daher nicht nur die Vertretung in Gerichts-, sondern auch in Verwaltungs-, insbesondere Steuerverfahren 2 7 i \ Sie beziehen zudem auch Fehler des Anwalts ein, die dieser bei der Vorbereitung eines solchen Verfahrens macht, so etwa dann, wenn er bis zum Ende der Verjährungsfrist untätig bleibt und ein Verfahren wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung gar nicht erst begonnen wird. Die „außergerichtliche Beratung" betrifft demgegenüber Fälle, in denen der Anwalt durch seinen Rat eine eigene Entscheidung des Mandanten und/oder einer dritten Person über die Gestaltung rechtlicher Beziehungen (etwa in Vertragsverhandlungen) vorbereiten oder beeinflussen soll. „Außergerichtlich" in diesem Sinne ist auch die Empfehlung an den Mandanten, einen Vergleichsvorschlag der Gegenseite anzunehmen oder abzulehnen 2 7 7 . Schwierig ist die Grenzziehung, wenn die „eigene" Entscheidung des 272 273 274 275 276 277
Giesen, J Z 1988, 660. Ziegler, J R 2002, 265 (266). Ziegler, J R 2002, 265 (266). Ziegler, J R 2002, 265 (267). Vgl. Braun, ZZP 96 (1983), 89 (90f.); Palandt/Heinrichs, Vgl. etwa OLG Düsseldorf VersR 2003, 1377.
vor § 2 4 9 Rdnr.85.
§3
Anwaltshaftung
77
Mandanten im Hinblick auf ein späteres Gerichts- oder Verwaltungs-, insbesondere Steuerverfahren zu treffen ist. Wenn nach den Umständen des Einzelfalls nur der eine vom Anwalt vorgeschlagene Weg zu der vom Mandanten erstrebten staatlichen Entscheidung zu führen schien, neigen die Gerichte dazu, dessen Zustimmung als selbstverständlichen Zwischenschritt zu vernachlässigen, und wenden die Regeln über die fehlerhafte Prozessvertretung a n 2 7 8 . Zu einer präzisen Abgrenzung des Anwendungsbereichs ihrer verschiedenen Regeln hat die Rechtsprechung freilich noch nicht gefunden.
I. Prozessuale Fehler des Anwalts 1. Die Ausblendung der Kausalitätsfrage: des Regressgerichts
Die Entscheidung aus der Sicht
Hat der Mandant sein Ziel in dem vom Anwalt fehlerhaft geführten Verfahren279 nicht erreicht und einen finanziellen Schaden erlitten, so müsste nach den oben dargelegten allgemeinen Grundsätzen im Rahmen des Regressanspruchs geprüft werden, ob die Pflichtverletzung für den Schaden ursächlich geworden ist. Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel erfordert das eine Stellungnahme zu der Frage, ob das Verfahren, wäre es ordnungsgemäß durchgeführt worden, den tatsächlich verwehrten Erfolg gebracht hätte 280 . Einen solchen „hypothetischen Inzidentprozess"281 zu führen, ist sicher schwierig - die Praxis erspart ihn sich dadurch, dass sie nicht nach der Perspektive des Vorgerichts fragt, sondern die eigene Ansicht des Regressgerichts entscheiden lässt: Der Mandant gewinnt im Haftungsprozess nur dann, wenn das Regressgericht die Sach- und Rechtslage im Vorverfahren dergestalt beurteilt, dass es selber dem Begehren entsprochen haben würde; darauf, wie das Vorgericht 2 7 8 Vgl. etwa BGH NJW 1993, 2799: Der Mandant wollte seine Einkommenssteuerschuld mittels Abschreibungen für Substanzverringerungen (AfS, § 7 Abs. 6 EStG) verringern, sein Steuerberater riet pflichtwidrig zur Gründung einer OHG. Das Gericht löste Zweifel über die Schadenskausalität anhand (einer Ausnahme zu) seiner Rechtsprechung zu prozessualen Anwaltsfehlern. Umgekehrt BGH NJW-RR 2003, 1212 (1213): Die Kausalität des fehlerhaften Rates, die Werklohnforderung einer GmbH zur gerichtlichen Geltendmachung an die Ehefrau des Geschäftsführers abzutreten, um den letzteren als Zeugen benennen zu können, wurde über den Anscheinsbeweis des „beratungsrichtigen Verhaltens", bejaht, mit dem die Rechtsprechung regelmäßig Fälle der Haftung für außergerichtliche Anwaltsfehler löst. 2 7 9 Beispiele für Fehler, die einem Anwalt im Rahmen von Gerichtsverfahren unterlaufen können, bei K. Müller, MDR 1969, 797 (Teill), 896 (Teil2), 965 (Teil3); knapp Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 18; vgl. auch Doms, MDR 2001, 73; aus der neueren Rechtsprechung: BGH NJW 2002, 290 (Bei „Flucht in die Säumnis" Pflicht zum Einspruch gegen das Versäumnisurteil auch ohne ausdrückliche Anweisung des Mandanten), BGH NJW 2002, 1048 (unzureichende Beratung bei Formulierung eines Prozessvergleichs, der eine Abänderungsklage ermöglichen sollte). 2 8 0 Dazu, dass der hypothetische Ausgang des Vorprozesses ohne den Anwaltsfehler eine Frage der Kausalität und nicht der Schadenszurechnung oder des Schadensumfangs ist, oben S.22. 2 8 1 Vgl. grundlegend Baur, Festschrift Larenz (1973), 1063.
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
ohne den Anwaltsfehler entschieden hätte, k o m m t es nicht a n 2 8 2 . Die schadenersatzrechtliche Kausalfrage wird schlichtweg nicht gestellt 2 8 3 . Ein von J. Braun2S4 der reichsgerichtlichen Rechtsprechung 2 8 5 entnommener Fall illustriert die Folgen dieser Vorgehensweise: Der Anwalt des A klagt für diesen gegen B aus einer behaupteten Forderung von D M 2 0 . 0 0 0 aus Kostengründen nur die Hälfte ein. A obsiegt in erster Instanz. In der mündlichen Verhandlung vor dem von B angerufenen Berufungsgericht wird deutlich, dass dieses die Auffassung der ersten Instanz teilt. Nach Rechtskraft des bestätigenden Berufungsurteils verlangt A von B nicht nur den titulierten Betrag, sondern auch die restlichen D M 10.000. B beruft sich hinsichtlich dieses Teilbetrages mit Erfolg auf Verjährung. A strengt gegen seinen Anwalt eine Schadenersatzklage mit der Begründung an, er habe es versäumt, durch Klageerweiterung in der Berufungsinstanz den Verjährungseinwand auszuschließen. Das Regressgericht ist der Auffassung, dass das Berufungsgericht bereits die ersten D M 10.000 zu Unrecht zugesprochen hat - und muss, folgt man dem Ansatz der Rechtsprechung, auf dieser Basis die Schadenersatzklage abweisen, ohne sich darum zu kümmern, dass A bei kunstgerechtem Vorgehen des Anwalts mit höchster Wahrscheinlichkeit insgesamt D M 2 0 . 0 0 0 erlangt hätte.
2 . Die Pßicht
des Regressgerichts
zur „richtigen"
Entscheidung
Die Rechtsprechung begründet ihren Weg allerdings nicht in erster Linie mit dem Bemühen, schwierigen Kausalitätserwägungen aus dem Wege zu gehen, sondern mit Wertungsgesichtspunkten:
Es gehe nicht an, dem M a n d a n t e n im Wege des
Schadenersatzes einen Vorteil zuzusprechen, der ihm bei richtiger
Entscheidung
des Ausgangsstreits nicht z u k o m m t 2 8 6 , oder umgekehrt: Der M a n d a n t kann nur das ersetzt verlangen, w a s ihm v o n Rechts wegen zusteht, „ w o r a u f er rechtmäßig Anspruch h a t " 2 8 7 . Die wahre,
„objektive" Rechtslage soll entscheiden, nicht
ein eventueller Irrtum eines anderen Gerichts.
2 8 2 Z.B. BGH NJW 2003 2022 (2025); NJW 2002, 1048 (1049); BGH VersR 2001, 638 (640); BGH NJW 2000,1944; B G H Z 1 3 3 , 1 1 0 (111) = NJW 1996,2501; B G H Z 1 2 4 , 8 6 (96) = NJW 1994,453 (455); OLG Düsseldorf VersR 2003, 645; zahlreiche weitere Nachweise bei Fischer, in: Zugehör (Hrsg.), Handbuch der Anwaltshaftung, Rdnr. 1101 mit Fn. 1899, und Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 21 mit Fn.101. Fast einhellig zustimmend die Literatur, etwa Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 X 7; Palandt/Heinrichs, vor § 249 Rdnr. 85; Borgmann/Haug, Anwaltshaftung, § 29 Rdnr. 79ff.; Jessen, NJW 1959, 371 (372). Wie der BGH hatte zuvor bereits das Reichsgericht geurteilt: RG JW 1907, 124; diesem zustimmend etwa Josef, Seuff.Bl. 75 (1910), 20. Wohl nur irrtümlich anders Ziegler, JR 2002, 265 (267), der unter fälschlicher Bezugnahme auf Heinemann den „hypothetischen Inzidentprozess" zur gegenwärtigen Praxis erklärt.
Braun, ZZP 96 (1983), 89 (104). Braun, ZZP 96 (1983), 89f. 2 8 5 RG Recht 1933 Nr. 728; vgl. auch RGZ 152, 330. 2 8 6 Etwa BGHZ 72, 328 (332); BGH NJW 1985,2482 (2483); BGH NJW 1994,453; BGH NJW 1996, 2501; BGH NJW 2001, 673 (674); BGH NJW 2002, 290 (291); Fischer, NJW 1999, 2993 (2997) m.w.N. 2 8 7 BGHZ 133, 110 (115). 283 284
Anwaltshaftung
79
Dieser Ansatz der Rechtsprechung beruht auf einer Vermengung von Tat- und Rechtsfragen (unten a), und, wichtiger noch, auf einem falschen Verständnis vom Stellenwert der „richtigen Entscheidung" (b). Auch Erwägungen zur „normativen" Begrenzung des ersatzfähigen Schadens vermögen den Ansatz nicht zu tragen (c), wie insbesondere die Diskrepanz zum Maßstab bei der Pflichtwidrigkeit des Anwalts (d) und auch die von den Gerichten zugelassenen Ausnahmen zur Entscheidung auf der Basis der „wahren" Rechtslage verdeutlichen (e). a) Der Ausgang des Vorprozesses als Tatfrage Das Gericht darf einem Klagebegehren nur entsprechen, wenn und soweit alle notwendigen tatsächlichen Voraussetzungen unbestritten oder bewiesen sind bzw. als bewiesen gelten, und umgekehrt die tatsächlichen Voraussetzungen für rechtshindernde oder -vernichtende Einwendungen nicht bewiesen sind. Im Falle der Regressklage gegen einen pflichtvergessenen Anwalt setzt eine Verurteilung zum Schadenersatz nach § 249 S. 1 BGB in tatsächlicher Hinsicht voraus, dass die wirkliche Vermögenslage des Klägers sich unvorteilhaft von der hypothetischen Lage abhebt, die bestehen würde, „wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre". Von Rechts wegen ist also zur Ermittlung der Kausalbeziehung zwischen dem Fehlverhalten des Anwalts und dem Schaden erforderlich, die Folgen des realen mit denen eines hypothetischen Ursachenverlaufs zu vergleichen. „Was ist passiert?" und „Was wäre passiert, wenn ... ?" sind Tatfragen, die der Aufklärung, nicht der rechtlichen Bewertung bedürfen. Nicht die Rechtslage (und deshalb auch nicht die „wahre" aus der Sicht des Regressgerichts) entscheidet, ob der Kläger einen Verlust erlitten hat, sondern die faktische Differenz zwischen seiner aktuellen und seiner hypothetischen Vermögenslage bei Hinwegdenken der die Schadenersatzpflicht auslösenden Handlung. Wer dies anders sehen will, bricht mit § 249 BGB und vergleicht, in den treffenden Worten Brauns, „eine Vermögenslage mit einer Rechtslage: das, was der Kläger faktisch hat, mit dem, was ihm ,der Idee nach' - aber auch nur der Idee nach - zusteht" 288 . Umgekehrt ist es richtig: Auch und gerade derjenige, der zu ergründen sucht, worauf der Kläger nach Recht und Gesetz im Allgemeinen - und § 249 BGB im Besonderen - „rechtmäßig Anspruch hat" 2 8 9 , darf die hypothetische Entscheidung des Vorgerichts nicht außer Acht lassen, denn nur mit deren Einbeziehung in die Betrachtung lässt sich die Vermögensdifferenz und damit der „rechtmäßige" Anspruchsinhalt beurteilen.
288 289
Braun, ZZP 96 (1983), 89 (100f.), Hervorhebungen im Original. BGHZ 133, 110 (115).
80
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
b) Die „richtige" Entscheidung
als bloßes methodisches
Leitbild
Die Rechtsprechung sieht das anders, weil das Regressgericht Rechtsfragen (wie jedes Gericht) nach der „wahren" Rechtslage zu entscheiden habe, wie sie sich ihm selbst präsentiert. Damit soll es sich nicht vertragen, eine abweichende und deshalb „falsche" Ansicht des Vorgerichts im Rahmen der Prüfung des Regressanspruchs zu berücksichtigen. Soll das Regressgericht etwa verpflichtet sein, gegen seine eigenen Ansichten zu judizieren? In der Tat gilt nach wohl herrschender Auffassung, dass es für ein Rechtsproblem „die eine einzige richtige" Antwort zu suchen gibt, mag diese auch noch so schwierig zu finden und zwischen den Gerichten höchst umstritten sein 2 9 0 . Im Einzelnen ist im Rahmen der juristischen Methodenlehre auch heute noch zweifelhaft, welcher Spielraum den Gerichten bei der Suche nach dieser „richtigen" Antwort zukommt und auf welche Weise sie ihn nutzen dürfen, wenn sie Lücken im Gesetz entdeckt zu haben meinen. Zwar ist sicher, dass es nicht allein Aufgabe des Gesetzgebers ist, (s)ein Rechtssystem im Interesse von dessen Lebensfähigkeit permanent zu berichtigen, erneuern und verfeinern, sondern auch und vor allem Sache des Rechtsanwenders 291 . Umstritten ist freilich, mit welchen Gewichten an diesem Prozess der Differenzierung durch Richterrecht das systematisch-dogmatische Denken einerseits und freieres Problem- oder „topisches" Denken 2 9 2 beteiligt sind 2 9 3 - wenn wohl auch geklärt ist, dass beide in einem „offenen" System nebeneinander einen Platz haben 2 9 4 . Einiges spricht für die Position von beispielsweise Canaris und Flume, dass die Topik in der Jurisprudenz mit Vorsicht zu genießen ist. Die Rechtsprechung hat trotz der oben angedeuteten Freiheiten vornehmlich die Aufgabe, vom Gesetzgeber statuierte, also der objektiven Rechtsordnung immanente Wertungen nachzuvollziehen statt eigene Wertentscheidungen zu verwirklichen 295 . In der treffenden Differenzierung Flumes: Die Gerichte finden das Recht, sind aber nicht befugt, es zu erfinden 296 . Damit ist jede rechtliche Entscheidung grundsätzlich aus dem geltenden Recht zu legitimieren, was offenes Problemdenken mit den an dogmatische Kategorien nicht gebundenen Anlehnung an das „Vernünftige" oder den „common sense" nicht zu leisten vermag 2 9 7 . Die Topik ist der systematisch-teleologischen Argumentation folglich nur dort überlegen, wo echte Wertungslücken bestehen, der Rückgriff auf systemimmanente Prinzipien oder in letzter Instanz dem „Geist der Rechtsordnung" 2 9 8 also versagt 2 9 9 . Eine vorpositive „Vernünftigkeitskontrolle", wie sie manchen allgemein bei jeder 2 9 0 Ausführlich Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 30ff. (insbes. 36ff.), auch in Auseinandersetzung mit abweichenden (ontologischen) Auffassungen zum Stellenwert der „one right answer". 291 LarenzJCanaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 187ff. 2 9 2 Grundlegend Viehweg, Topik und Jurisprudenz. 2 9 3 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriffe, 135ff., einerseits und Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 154ff., andererseits. 2 9 4 Vgl. Zippelius, NJW 1967, 2229 (2233f.). 2 9 5 S. Flume, Richter und Recht, in: Gesammelte Schriften I, 15, 20. 296 Flume, Richter und Recht, in: Gesammelte Schriften 1,20; vgl. auch Picker, J Z 1984,153 (155). 2 9 7 Eingehend Canaris, Systemdenken und Systembegriffe, 141 ff. 298 Flume, in: Gesammelte Schriften I, 15, unter Hinweis auf Mugdan I, 363. 299 Canaris, Systemdenken und Systembegriffe, 149.
53
Anwaltshaftung
81
Rechtsanwendung vorschwebt 3 0 0 , kann nur ultima ratio sein, wenn das, was nach positiven gesetzlichen Prinzipien „vernünftig" sein soll, nicht feststellbar ist. Man darf freilich nicht die Augen davor verschließen, dass die Praxis sich oft einige Freiheiten herausnimmt, wie ein als Richter tätiger Autor unter Anknüpfung an die obige Formulierung Flumes unbefangen einräumt: „Zwar sollen [die Richter] nur das Recht erkennen, das heißt, den Willen eines anderen, nämlich des Gesetzgebers, ermitteln. Aber das ist Theorie. ... [In einem Rechtsstreit] gibt es stets Dinge, die den Richter mittelbar oder unmittelbar berühren. Da ihm die Entscheidung deshalb nicht gleichgültig ist, macht er sie selbst. ... Die Entscheidungen ... sind ... so verschieden, wie die Richter, die sie machen" 3 0 1 .
Einer eingehenden Stellungnahme zu diesem Streit bedarf es indessen nicht. Denn unabhängig davon, auf welchem Wege der Richter zu seiner Einschätzung der „wahren" Rechtslage gelangt und welche Freiheiten er dabei genießt bzw. welchen Zwängen er dabei unterworfen ist: Die Suche nach der einen, der wahren materiellen Rechtslage entsprechenden Entscheidung hat lediglich erkenntnisleitende Funktion 302 . Sie ist ein methodisches Leitbild, das sich an denjenigen richtet, der eine Rechtsfrage selbst zu entscheiden hat 303 , und keine Entschuldigung dafür, die Rechtsauffassung eines anderen Gerichts zu missachten, wenn es auf diese inzident (und als Tatfrage!) ankommt. Der gegenteiligen Auffassung der Rechtsprechung scheint unausgesprochen die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass abweichende Ansichten verschiedener Gerichte über die „richtige Antwort" bedauerliche Betriebsunfälle sind, die es im Rahmen der Anwaltshaftung mit Hilfe eines Vorrangs der zur „objektiven Rechtslage" aufgewerteten Meinung des Regressgerichts zu vertuschen gilt. Damit wird verkannt, dass divergierende Rechtsprechung nicht nur faktisch nicht zu vermeiden, sondern wegen der weitestgehend fehlenden Bindung an Präzedenzentscheidungen unserem Rechtssystem immanent ist. Die Gerichte sind nach Art.20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht" gebunden; welche Schlüsse sie aber unter Nutzung der oben angedeuteten Freiheit bei der Fortentwicklung des Rechts für den Einzelfall aus dem Gesetz ziehen, ist ihnen außerhalb des Instanzenzugs - und außerhalb von Sondervorschriften wie dem aufgehobenen § 5 4 1 ZPO a.F. (Rechtsentscheid) und abgesehen von bestimmten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen (§31 Abs.2 BVerfGG) - nicht durch andere Gerichte zwingend vorgegeben 304 . Wenn ein Richter am Amtsgericht Düren eine Gesetzesvorschrift anders als der zuständige Senat des BGH auslegt und im Einzelfall zu einem anderen Ergebnis kommt, als 300 Yg[ £sser^ Vorverständnis und Methodenwahl, 23 f., 26 ff., ihm weitgehend zustimmend Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 176ff., der allerdings einschränkt, dass richterliche Rechtsfortbildung wenigstens „systemverträglich" sein muss (177). 301 Barschkies, DRiZ 1986, 421 f. 302 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 39 m.w.N. 303 Zutreffend Braun, ZZP 96 (1983), 89 (99). 304 Vgl. BVerfGE 84, 212 (227) zur fehlenden Bindung selbst an höchstrichterliche Urteile; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 252f.; Lange, NJW 2002, 3657 (3658) zu Entscheidungen des BFH.
82
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
das oberste deutsche Zivilgericht k o m m e n würde, so hat er keine peinliche Panne zu verantworten, sondern den Spielraum ausgeschöpft, den ihm das deutsche Rechtssystem bewusst l ä s s t 3 0 5 . Entsprechendes gilt für Verwaltungsbehörden: Auch sie halten sich innerhalb ihrer Befugnisse, wenn sie sich gegen die Rechtsansicht von Gerichten stellen - das Steuerrecht hält hier mit den „Nichtanwendungserlassen" der Finanzverwaltung im Hinblick auf missliebige B F H - R e c h t sprechung anschauliche Beispiele p a r a t 3 0 6 . Darin spiegelt sich das grundsätzliche Dilemma des BGH-Ansatzes: „Das o b j e k t i v e " oder „das materielle" R e c h t im Sinne einer aus sich selbst heraus verbindlichen Verhaltensanforderung gibt es nicht, sondern nur Aussagen der Gerichte (und anderer Akteure) über die Geltung (oder Nichtgeltung) und den Inhalt von R e c h t s n o r m e n 3 0 7 . Es lässt sich folglich regelmäßig nicht entscheiden, o b die Aussagen des Ausgangsgerichts bzw. der Ausgangsbehörde oder vielleicht doch die des Regressgerichts „ o b j e k t i v " unrichtig ist und deshalb ein Fehlurteil bildet 3 0 8 . D a n n aber fehlt es auch an einer Rechtfertigung dafür, die Ansicht des Regressgerichts über das, was den Parteien im Vorprozess „von Rechts wegen z u s t a n d " , als die allein richtige gegen die Auffassung des Vorgerichts durchzusetzen. Plastisch machen das die Unterhaltstabellen und Leitlinien, die die Familiensenate der verschiedenen Oberlandesgerichte mit großer Sorgfalt zur Präzisierung der nur vagen gesetzlichen Vorgaben in diesem Bereich aufgestellt h a b e n 3 0 9 . Sie unterscheiden sich nicht in vielen, doch aber in einigen P u n k t e n 3 1 0 - sollte wirklich, wenn es auf einen solchen Punkt a n k o m m t , das in dem einen O L G - B e z i r k beheimatete Regressgericht dem einem anderen O L G folgenden Ausgangsgericht bescheinigen k ö n n e n , ja müssen, es spreche „objektiv falsches" R e c h t , das bei der Ermittlung der Schadensfolgen eines Anwaltsfehlers außer Betracht zu bleiben habe? Es ist entlarvend, wenn sich Autoren, die einerseits den B G H stützen wollen, andererseits durchaus erkennen, dass es dem Ausgangsgericht frei steht, eine an3 0 5 Zu den Gründen, die gegen eine strenge Präjudizienbindung sprechen, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 254 f. 3 0 6 Vgl. dazu etwa Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148; Klein, DStZ 1984, 55; Lange, NJW 2002, 3657; Scholtz, FS Franz Klein, 1041, die mit Unterschiede im einzelnen der Finanzverwaltung einen vorsichtigen Umgang mit diesem Instrument empfehlen. Umfassend zu diesem Thema Krüger, Die Bindung der Verwaltung an die höchstrichterliche Rechtsprechung (1987). 307 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 17, 18. Vgl. ferner Esser, FS v. Hippel, 95 (113): „Der Richter ist frei und nur dem Gesetz unterworfen - das Gesetz ist aber das, was er selbst darunter pflichtgemäß versteht." Kritisch dazu Bydlinski, Canaris-Symposion, 27 (36f.). 3 0 8 Deshalb bereitet auch der Umgang mit der Strafnorm der Rechtsbeugung (§339 StGB) so viele Schwierigkeiten, vgl. BGHSt 41, 427; Schroth, Strafrecht Besonderer Teil, 267; Volk, NStZ 1997, 413. 3 0 9 Zusammenstellung bei Palandt/Diederichsen, Einf. vor § 1601 Rdnr. 15. 3 1 0 Vgl. z.B. die Modifikationen des 7. Senats des OLG Nürnberg zur Düsseldorfer Tabelle, FamRZ 2001, 970.
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dere Meinung als das Regressgericht zu vertreten, nicht mehr anders zu helfen wissen als mit der Brechstange: „Im übrigen kommt es auf diese Frage f ü r die Ermittlung des ,normativen' Schadens eben nicht an... [D]er Anspruchsteller [soll] nicht mehr erhalten, als er nach objektiver Lage hätte erhalten d ü r f e n " 3 1 1 .
c) Die normative Begrenzung des Schadens Mit dem im obigen Zitat von Chab/Bräuer aufscheinenden „normativen" Schaden ist ein zweiter Begründungsstrang für den Ansatz der Rechtsprechung angesprochen. Der Anwalt mag mit seinem Fehler faktisch einen Schaden verursacht haben, wenn bei richtiger Vorgehensweise die Entscheidung des Vorgerichts mit aus Sicht des Regressgerichts irriger Begründung für seinen Mandanten günstiger ausgefallen wäre: Zu ersetzen soll er dennoch nicht sein, weil die Rechtsprechung keine Vorteile zusprechen darf, die der Geschädigte gegen ihren Willen erlangt hätte 312 . Gekleidet wird dies von Vollkommer in die eingängige Formel, dass der in einem entgangenen Fehlurteil bestehende Vermögensnachteil keinen Vermögensschaden im Rechtssinne darstellen dürfe 313 . Mätzig eilt dem BGH auf ähnlicher Weise zu Hilfe: „ O f f e n b a r t sich, d a ß das Ergebnis der [Schadens-]Hypothese nicht mit dem geltenden m a teriellen Schadensbegriff vereinbar ist, bleibt immer noch das materielle Recht ausschlaggebend u n d nicht der Ausgang des Vorprozesses" 3 1 4 .
Nach dem oben Gesagten geht beides schon im Ansatz fehl. Aber selbst wenn man zugunsten dieser Autoren unterstellt, dass von der Position des Regressgerichts abweichende Ansichten des Vorgerichts mit Recht als nicht „dem materiellen Recht" entsprechende „Fehlurteile" gebrandmarkt werden können, hilft der Hinweis auf den normativen Schaden nicht recht weiter. Zwar ist anerkannt, dass normative Gesichtspunkte den Ausgleich eines faktisch entstandenen Schadens begrenzen können. Das soll vor allem dann gelten, wenn der dem Geschädigten real entgangene Vorteil selbst oder die Art und Weise, in der er erreicht
311
Chab/Bräuer, BRAK-Mitt. 2001, 163 (164), Hervorhebung hinzugefügt. Vgl. zu diesem Ansatzpunkt Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 6 X 7. Vollkommer/Heinemann, Anwaltshaftung, Rdnr. 556; zustimmend etwa Staudinger/ Martinek, § 6 7 5 Rdnr. C 33. 314 Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 24. Im Ergebnis ebenso Kähler, JuS 2002, 746 (748), der mit dem normativen Schadensbegriff begründen will, dass bei Falschberatung maßgeblich ist, „wie eine Verwaltungsbehörde bzw. ein Gericht richtigerweise den hypothetischen Ausgangsfall entschieden hätte" (Hervorhebung im Original), was allerdings mit seiner eigenen Erkenntnis kontrastiert, dass einem Instanzgericht, dass eine Rechtsfrage anders als das für ihn zuständige oberste Bundesgericht entscheidet, nicht vorgeworfen werden kann, es habe die Rechtslage verkannt (349). Gibt es nun objektiv feststellbare „richtige" und „falsche" Rechtsauffassungen oder gibt es sie nicht? 312 313
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung
in der deutschen
Praxis
werden sollte, rechtlich zu missbilligen ist 315 . Beispiele für die erstere Variante sind etwa vom Schädiger vereitelte Gewinne aus einer rechtswidrigen Tätigkeit 316 oder aus Verträgen, die ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB verletzten 317 , für die letztere der Prozessbetrug 318 . Das ist nur konsequent: Ein Verhalten, dem die Rechtsordnung direkten Erfolg verwehrt, darf auch über den Umweg der faktischen Betrachtung im Schadenersatzrecht keine finanziellen Vorteile zeitigen 319 . Aber die Tatsache allein, dass das Vorgericht das Gesetz anders interpretiert und eine andere, „falsche" Rechtsansicht vertritt als das Regressgericht, ist nun sicher nicht zu „missbilligen" 320 . Eine einfache Testfrage für den an den Anfang dieses Abschnitts gestellten Beispielsfall des Reichsgerichts macht dies deutlich: Hätte man dem Kläger Hürden in den Weg gelegt, hätte er bei sorgfältigem Handeln des Anwalts einen rechtskräftigen Titel auch für die zunächst nicht eingeklagte zweite Hälfte seines Anspruchs erlangt und aus diesem zu vollstrecken versucht? Die Antwort kann hier, soweit Hinweise auf betrügerisches Handeln fehlen, nur eine verneinende sein. Solange nicht der Bereich des § 826 BGB berührt ist 321 , kann und darf selbstverständlich auch aus einem „falschen" unanfechtbaren Urteil vollstreckt werden 322 . Der auf diesem Wege dem Vollstreckungsgläubiger zukommende Vermögensvorteil wird nicht gegen den Willen der Rechtsordnung, sondern mit ihrer ausdrücklichen Unterstützung erzielt. Das hindert in der Folge aber auch daran, die indirekte Befriedigung des Klägers, dem durch einen Anwaltsfehler ein materiellrechtlich „falscher" Vollstreckungstitel verwehrt worden ist, über die Regressklage aus wolkigen „normativen Erwägungen" zu vereiteln 323 . Dennoch findet man bei Anhängern der BGH-Lösung Aussagen wie diese: „Ein Schaden im natürlichen Sinn bedeutet jede Einbuße an rechtlich geschützten Gütern oder a m Vermögen. Ein Urteil, das ein nicht existierendes Recht abspricht oder den M a n 315
Statt aller Palandt/Heinrichs, § 2 5 2 Rdnr. 3 m.w.N. BGH NJW 1964, 1183, KG O L G Z 1972, 408. 317 BGHZ 75, 368; LG Oldenburg, NJW-RR 1988, 1496. 318 Müller-Stoy, Schadensersatz für verlorene Chancen, 229. 319 Vgl. Braun, Z Z P 96 (1983), 89 (101). 320 Im Ergebnis ebenso Müller-Stoy, Schadensersatz für verlorene Chancen, 229 f. 321 Knapp dazu Palandt/Thomas, § 826 Rdnr. 46. 322 Vgl. etwa BGH NJW 1996, 48 (49): Aus einem Versäumnisurteil gegen die für vertragliche Forderungen gegen eine GmbH mithaftenden Geschäftsführer darf vollstreckt werden, selbst wenn die Klage gegen die GmbH selbst rechtskräftig mit der Begründung abgewiesen wurde, dass tatsächlich ein Vertrag mit dieser nicht zustande gekommen sei. 323 Abwegig Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 24, der ohne jeden Versuch der Begründung behauptet, dass „die Haftung des Anwalts für tatsächlich nicht bestehende Ansprüche des Mandanten von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden kann". Warum sollte der Anwalt anders zu behandeln sein als der Prozessgegner des Mandanten, der selbstverständlich haftet, wenn er vom Gericht zur Befriedigung von Ansprüchen verurteilt wurde, die aus heutiger Sicht „tatsächlich nicht bestehen"? 316
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Anwaltshaftung
85
danten zu einer tatsächlich geschuldeten Leistung verurteilt, hat in Bezug auf die betroffene bzw. vermeintliche Rechtsposition keine schädigenden Auswirkungen" 3 2 4 .
Nicht nur der Beklagte, der aufgrund eines nach einem Anwaltsfehler verlorenen Prozesses zur Abwendung der Zwangsvollsteckung die Klageforderung begleicht, dürfte da anderer Meinung sein. Das Loch in seiner Kasse ist real, selbst wenn ihm das Regressgericht versichert, dass aus seiner vom Ausgangsgericht abweichenden Sicht die Leistung „tatsächlich geschuldet" wurde, der Anwaltsfehler also irrelevant war. Auch der wegen eines Anwaltsfehlers scheiternde Kläger wird nicht nur wegen der Kosten des Verfahrens, in die er verurteilt wird, einen realen Schaden in seinem Vermögen ausmachen, sondern auch wegen seines bei pflichtgemäßer Anwaltsleistung tatsächlich durchsetzbaren Klageanspruchs. Es dürfte ihm nur wenig Trost spenden, wenn ihn das Regressgericht im Nachhinein belehrt, dass sein eingeklagtes Recht tatsächlich gar „nicht existiert". Der Gesetzgeber hat dieser Lösung im Übrigen für die der Anwaltshaftung verwandten Gutachterhaftung mit dem durch das Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz 325 eingeführten § 839 a Abs. 1 BGB einen Riegel vorgeschoben. Nach dieser Vorschrift soll der ein Gerichtsgutachten vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig erstattende Sachverständige zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, welche „auf diesem Gutachten beruht". Entscheidend ist hier offenbar allein die reale Kausalität: Hätte das Gericht im Ausgangsverfahren auf der Grundlage eines richtigen Gutachtens eine für den Verfahrensbeteiligten günstigere Entscheidung getroffen? Ist das zu bejahen, ist für den Schadenersatzanspruch ohne Belang, ob das Gericht, das über den Regressanspruch gegen den Sachverständigen urteilt, die Sicht des Ausgangsgerichts teilt. Das Verdikt, der Partei sei durch das falsche Gutachten nur ein „Fehlurteil" entgangen, befreit den Gutachter also nicht von seiner Haftung. Man darf gespannt sein, ob die Gerichte eine Begründung für die unterschiedliche Behandlung von Sachverständigen und Anwälten zu ersinnen vermögen.
d) Zweierlei Maß für Pflichtwidrigkeit
und
Schadensverursachung?
Hier liegt allerdings nicht die einzige Ungereimtheit. Auch die Diskrepanz zum Vorgehen bei der Prüfung, ob dem Anwalt überhaupt pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen ist, sticht ins Auge. Der Anwalt handelt pflichtwidrig, wenn er nicht alles tut, um den von seinem Mandanten erstrebten Erfolg auf dem sichersten und gefahrlosesten Weg zu erreichen 326 . Dabei muss er selbstverständlich die Rechtsprechung und Eigenheiten des Gerichts (oder sogar des zuständigen Spruchkörpers), vor dem er klagt, berücksichtigen 327 , denn nur diese können ex ante den einzuschlagenden Weg bestimmen. Das gilt auch und gerade dann, Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 25. BGBl.2002 I, 2674; dazu etwa Wagner, NJW 2002, 2049 (2061 f.). 3 2 6 BGH NJW 1996, 2648 (2649); BGH NJW 1995, 449; BGH NJW 1994, 1211; BGH NJW 1993, 2045 (2046), st. Rspr. 3 2 7 Vgl. BGH NJW 1974, 1865 (1866); ausführlich Ganter, NJW 1996, 1310f.; Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung, Rdnr. 598 ff. 324
325
86
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
wenn das Vorgericht einer aus Sicht des Regressgerichts unhaltbaren Rechtsauffassung anhängt 328 . Der Rechtsanwalt haftet deshalb nicht, wenn er sich aus der Sicht des Vorgerichts richtig verhalten hat, mag auch das Regressgericht eine andere Auffassung haben. Werden damit zwei Tatbestandsmerkmale des Schadenersatzanspruchs (Pflichtwidrigkeit/Kausalität) von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet, so führt das im Ergebnis zu einer bemerkenswerten Benachteiligung des geschädigten Mandanten: Er kann im Regressprozess nur obsiegen, wenn er sowohl Vor- als auch Regressgericht auf seiner Seite hat 329 : Hat sich der Rechtsanwalt in der Ausübung seiner Tätigkeit an die Rechtsprechung des Vorgerichts gehalten, fehlt es an der Pflichtwidrigkeit, auch wenn die Rechtsauffassung des Regressgerichts abweicht; hätte zwar das Vorgericht, nicht aber das Regressgericht bei fehlerlosem Verhalten des Anwalts dem Begehren des Mandanten entsprochen, fehlt es an der Verursachung eines Schadens. e) Ausnahmen von der Suche nach der objektiv „richtigen"
Entscheidung
aa) Steuerrecht Bezeichnenderweise verlässt denn auch die Rechtsprechung zunächst im Steuerrecht ihren eigenen Ansatzpunkt. In diesem Bereich, in dem (nicht nur) den Zivilgerichten schwer fällt zu bestimmen, was „rechtens" ist, soll nach drei neueren BGH-Urteilen Schadenersatz auch dann gefordert werden können, wenn der vom Berater pflichtwidrig vereitelte Steuervorteil nach den zur Zeit der Regressentscheidung maßgeblichen neuen Einsichten der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis über die Auslegung der Steuergesetze nicht mehr zu erlangen gewesen wäre. Die beiden ersten E n t s c h e i d u n g e n 3 3 0 betrafen dieselbe Sache: Der beklagte Steuerberater hatte im J a h r e 1979 seinem M a n d a n t e n , der gegen Entgelt einer ein nahes Autobahnteilstück errichtenden Arbeitsgemeinschaft von Bauunternehmen den A b b a u von Bodenmaterial auf seinem G r u n d s t ü c k gestatten wollte, zur G r ü n d u n g einer O H G geraten. Die erh o f f t e n Abschreibungen f ü r Substanzverringerungen (AfS, § 7 Abs. 6 EStG) w u r d e n v o m Finanzamt verweigert, weil die O H G nicht die insoweit notwendigen gewerblichen Eink ü n f t e , sondern solche aus Vermietung u n d Verpachtung habe. W ä r e die F o r m einer
328 Vgl. OLG Brandenburg NZA-RR 2003, 102 (104): Am Vorwurf der Pflichtverletzung wegen der verspäteten Erhebung einer Kündigungsschutzklage „würde auch eine rechtlich nicht haltbare Auffassung der Arbeitsgerichte [zur Frage des Zugangszeitpunkts der Kündigung] nichts ändern", weil der dies bei der Wahl des sichersten Weges einkalkulieren muss. 329 Vgl. Braun, J Z 1997, 259 (260); a.A. Ganter, NJW 1996, 1310 (1315), der allerdings nicht nur auf eine Begründung für seinen Standpunkt verzichtet, sondern darüber hinaus sogar Beispiele anführt, die für die hier vertretene Position sprechen. Ebenso begründungsschwach Kähler, JuS 2002, 746 (750), der eine einheitliche Beurteilung von Pflichtverletzung und Schadensentstehung für „nicht plausibel" hält, ohne auf die hier beklagte Benachteiligung des Mandanten einzugehen. 330 BGH NJW 1993,2799; BGH NJW 2001, 146 mit Anm. Mäsch 1547 = ZIP 2000, 2168.
53
Anwaltshaftung
87
GmbH &c Co. KG gewählt worden, hätten AfS hingegen mit Erfolg geltend gemacht werden können, weil nach der zum damaligen Zeitpunkt noch aktuellen, vom Schrifttum aber bereits heftig kritisierten „Gepräge"-Rechtsprechung des BFH eine Personengesellschaft unabhängig von ihrem Tätigkeitsfeld immer ein gewerbliches Unternehmen ist (und deshalb immer Gewerbeeinkünfte erzielt), wenn eine Kapitalgesellschaft maßgebend beteiligt ist 3 3 1 . Der BFH hatte schon 1977 in einem obiter dictum Zweifel geäußert, ob tatsächlich eine Personengesellschaft in Form der GmbH & Co. KG pauschal als Gewerbebetrieb angesehen werden könne 3 3 2 , und die „Gepräge"-Rechtsprechung dann 1984 mit einer Entscheidung des Großen Senats endgültig aufgegeben 3 3 3 . Nach dieser neueren Auffassung hätte das Finanzamt also dem Mandanten des Steuerberaters für die hier betroffenen Jahre 1 9 7 9 - 1 9 8 3 AfS auch bei der Wahl einer anderen Rechtsform nicht gewähren dürfen. Dementsprechend urteilte das Berufungsgericht im Regressverfahren: Weil die Gesellschaft „richtigerweise" auch dann nicht als Gewerbebetrieb anzuerkennen war, wenn sie in der Form einer GmbH & Co. KG geführt worden wäre, habe der Rat des Steuerberaters keinen Schaden verursacht. Der BGH hob diese Entscheidung auf und wies mit der Begründung zurück, es sei unbeachtlich, dass sich aus heutiger Sicht die ursprüngliche „Gepräge"-Rechtsprechung als rechtsirrig erwiesen habe, weil aus der auf ihr beruhenden „ständigen Verwaltungsübung ... ein rechtlich geschütztes Vertrauen des Steuerpflichtigen" erwachsen sei 3 3 4 . Der BFH meinte es aber nicht gut mit dem enttäuschten Mandanten und änderte ein Jahr nach dem BGH-Revisionsurteil erneut seine Rechtsprechung: Nunmehr sollten AfS nach § 7 Abs. 6 EStG generell - also ohne Ansehung der rechtlichen Gestaltungsform des Betriebs - nicht zulässig sein, wenn wie im vorliegenden Fall die abzubauenden Bodenschätze auf einem Grundstück in Privatvermögen entdeckt und erst nachträglich ins Betriebsvermögen eingelegt werden 3 3 5 . Das Berufungsgericht im Regressverfahren wies daraufhin die Schadenersatzklage des Mandanten erneut zurück, und wieder hob der BGH auf: Der Regressrichter hat bei der Prüfung, ob dem Kläger ein Schaden entstanden ist, nicht nur die „ständige Verwaltungsübung" zur Zeit der hypothetischen Entscheidung im Ausgangsverfahren zu Grunde zu legen, sondern auch die „einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrer damaligen Ausprägung" 3 3 6 . Eine Synthese beider Ansätze findet sich im dritten Urteil 3 3 7 : Bei der Prüfung des Schadenersatzanspruchs gegen einen Steuerberater, der seinen Mandanten nicht davor bewahrt hatte, dass dessen Immobilienverkäufe als steuerpflichtiger gewerblicher Grundstückshandel eingestuft wurden, kommt es allein auf die tatsächliche Handhabung der „Drei-Objekt-Grenze" (Verkauf von drei Objekten innerhalb von fünf Jahren) durch „Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung" 338 im fraglichen Besteuerungszeitraum an. Ob man mit späteren BFH-Urteilen die „wahre" Rechtslage auch dahin deuten könne, Vgl. BFHE 84, 471; BFHE 106, 331; BFHE 118, 559 (561). BFH, BStBl. II 1978, 15. 3 3 3 BFHE 141, 405. 3 3 4 BGH NJW 1993, 2799 (2802). 3 3 5 BFHE 175, 90. 3 3 6 BGH NJW 2001, 146 (148). Dieser Schwenk war durch literarische Äußerungen zweier Mitglieder des IX. Senats vorbereitet worden: Ganter, NJW 1996,1310 (1313); Fischer, in: Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung (1999), Rn. 1103. Kritisch zu dem Urteil (aus unterschiedlichen Gründen) Borgmann, BRAK-Mitt. 2001, 17 (18); Chab/Bräuer, BRAK-Mitt. 2001, 163 (164); Adam, VersR 2001, 809 (814). 3 3 7 BGH WM 2001, 741. 3 3 8 BGH WM 2001, 741 (742). 331
332
88
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
dass die Zahl der Objekte und der zeitliche Abstand nur eine „indizielle" Bedeutung haben, sei im Regressprozess irrelevant. Diese R e c h t s p r e c h u n g ist zu b e g r ü ß e n 3 3 9 . W e r würde dem B G H bei der folgenden B e m e r k u n g widersprechen wollen: ,,[E]s kann nicht angehen, demjenigen, der aus vom Berater zu vertretenden Gründen eine steuerliche Vergünstigung nicht erhalten hat, die ihm auf der Grundlage der damals geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung gebührt hätte, einen finanziellen Ausgleich mit der Begründung zu versagen, sein steuerliches Begehren erscheine aus heutiger Sicht nicht gerechtfertigt. Der Kl. wäre damit gegenüber allen anderen Steuerpflichtigen, die sich zum damaligen Zeitpunkt in der gleichen Lage wie er befanden, jedoch vertragsgerecht beraten wurden, unbillig benachteiligt" 3 4 0 . Allerdings bleibt der B G H a u f halber Strecke stehen, selbst w e n n m a n davon ausgeht, dass er die Orientierung an der zur Z e i t des Anwaltsfehlers maßgeblichen Verwaltungspraxis und höchstrichterlichen R e c h t s p r e c h u n g nicht auf die Fälle b e s c h r ä n k e n will, in denen das Ausgangsverfahren der K o n t r o l l e einer anderen G e r i c h t s b a r k e i t als der Ziviljustiz u n t e r l i e g t 3 4 1 . D e n n der A n w a l t hat a u c h dann einen Fehler g e m a c h t und einen Schaden verursacht, w e n n er seinem M a n danten einen Vorteil nicht verschafft hat, den dieser allein v o r dem angegangenen G e r i c h t oder der zuständigen B e h ö r d e erlangen k o n n t e , u n a b h ä n g i g d a v o n , o b deren Ansichten im E i n k l a n g mit einer als solchen identifizierbaren bundesweit einheitlichen Verwaltungs- oder G e r i c h t s p r a x i s stehen oder nicht. Eine sachliche R e c h t f e r t i g u n g für die „ n o r m a t i v e " Begrenzung des Ersatzes eines faktisch verursachten Schadens gibt es hier e b e n s o wenig wie bei der V e r k e n n u n g höchstrichterlicher V o r g a b e n oder einer ständigen V e r w a l t u n g s ü b u n g 3 4 2 . N ä h m e der B G H seine eigenen neueren Einsichten ernst, müsste er deshalb die Suche n a c h der „ w a h r e n " R e c h t s l a g e im Regressprozess insgesamt
zugunsten der
3 3 9 Ebenso Palandt/Heinrichs, vor § 2 4 9 Rdnr. 85. Ablehnend hingegen Kahler, JuS 2002, 746 (749); Gräfe, EWiR § 2 4 9 BGB 3/2000, 1139 (1140). 3 4 0 BGH NJW 2001, 146 (147). Ablehnend insoweit Kühler, JuS 2002, 746 (749), weil eine falsche gefestigte Rechtsprechung wie eine rechtswidrige Verwaltungspraxis keinen Anspruch darauf begründe, „dass auch in einem weiteren Verfahren das Recht gebrochen wird". Das aber setzt zum einen zu Unrecht voraus, dass die „alte" Auffassung objektiv als falsch („Rechtsbruch"!) und die neuen Erkenntnisse als „richtig" eingestuft werden können, und rechtfertigt zum anderen die Ungleichbehandlung mit anderen Steuerpflichtigen zum damaligen Zeitpunkt in der gleichen Lage nicht. 3 4 1 In BGH NJW 2 0 0 1 , 1 4 6 (148) wird das „reichere Fachwissen" der Finanzgerichtsbarkeit in steuerrechtlichen Fragen (nur?) als ein für sich nicht ausschlaggebendes Zusatzargument dafür angeführt, dass „der im Schadensersatzprozess zuständige Richter bei der Beantwortung von Fragen aus einem ihm fernliegenden Rechtsgebiet sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausrichtet, die sich in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt gebildet hat". Allerdings hat es seine Nachwirkung in BGH NJW 2 0 0 3 , 2 0 2 2 , wo die Forderung nach der Orientierung an der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf ein verwaltungsgerichtliches Vorverfahren ausgedehnt wurde. 3 4 2 In der Sache ebenso Grunsky, LM §249 (A) BGB Nr. 119 B1.6.
Anwaltshaftung
89
„ n o r m a l e n " Differenzhypothese (was hätte der M a n d a n t bei fehlerfreier Beratung damals erreicht?) aufgeben. Diese Konsequenz scheint er aber (noch?) nicht ziehen zu w o l l e n 3 4 3 . Interessanterweise begründet der BGH seine Entscheidung auch mit einer Erwägung zum oben angesprochenen Gleichlauf zwischen Pflichtverletzung und Ursächlichkeit: Wenn nach einhelliger Auffassung für die Frage, ob dem Anwalt oder Steuerberater überhaupt ein Pflichtenverstoß vorzuwerfen ist, maßgeblich sei, ob er sich im Zeitpunkt seiner Beratungstätigkeit an der damals aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgerichtet hat, müsse diese auch Bedeutung für die Beurteilung haben, ob dem Mandanten aus der Pflichtverletzung ein Schaden entstanden ist 3 4 4 . Die Pflicht des Anwalts zur Ausrichtung seiner Ratschläge an der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist aber lediglich ein Ausschnitt aus seiner oben dargelegten allgemeinen Verpflichtung, alles zu tun, um den von seinem Mandanten erstrebten Erfolg auf dem sichersten und gefahrlosesten Weg zu erreichen 3 4 5 , er ist ebenso verpflichtet, gegebenenfalls abweichende Ansichten des konkret angegangenen Gerichts oder der konkreten Behörde zu berücksichtigen. Will der BGH also eine „Gleichbehandlung" von Pflichtenverstoß und Ursächlichkeit, darf er die eigene Ansicht des Regressgerichts über die „wahre" Rechtslage nicht nur in Fällen einer abweichenden früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung zurückdrängen. Derzeit deutet freilich nichts darauf hin, dass der BGH den von ihm eingeschlagenen Weg in diesem Sinne weiterzuschreiten gedenkt. bb)
Strafrecht
Wenn es um anwaltliche Fehlleistungen in einem Strafverfahren
geht, halten sich
die über die Regressklage des M a n d a n t e n urteilenden Zivilgerichte wie bei steuerrechtlichen Fragen von der Pflicht zur Suche nach der aus der eigenen Sicht „richtigen" Entscheidung des Vorprozesses befreit. Hier fahnden sie lieber nach Umständen, die dafür sprechen, dass der M a n d a n t bei ordnungsgemäßer Verteidigung v o m Vorgericht nicht verurteilt w o r d e n wäre, und legen dem Kläger eine entsprechende Darlegungs- und Beweislast a u f 3 4 6 .
3 4 3 Vgl. etwa BGH NJW 2002, 1048 (1049), wo das Gericht daran festhält, dass für das Regressverfahren grundsätzlich entscheidend ist, wie das Ausgangsverfahren richtigerweise zu entscheiden gewesen wäre. 3 4 4 BGH ZIP 2000, 2168 (2171). 3 4 5 BGH NJW 1993, 2045 (2046), st. Rspr. 3 4 6 LG Berlin, StV 1991, 310 mit Anm. Barton 322. Obwohl das Gericht dort verbal dem Ansatz folgt, dass es darauf ankommt, wie das Gericht des Regressprozesses selbst den Sachverhalt beurteilt (311), soll der Kläger näher darlegen müssen, inwieweit ihm durch seine strafrechtliche Verurteilung „tatsächlich ein Schaden entstanden ist" (312), sprich, warum der Strafprozess bei fehlerfreier Verteidigungsleistung anders ausgegangen wäre. Vgl. auch BGH NJW 1964, 2402: Hier bejaht das Gericht einen Schadenersatzanspruch gegen den Strafverteidiger, weil die Strafkammer bei pflichtgemäßer Verteidigung das Verfahren eingestellt hätte (2404), nicht also, weil bei „richtiger Betrachtung" durch die Brille des Regressgerichts das Verfahren hätte eingestellt werden müssen. Zur Haftung des Strafverteidigers für außerprozessuale Fehler (mangelhafte Beratung über Erfolgssaussichten eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl) OLG Düsseldorf, StV 1 9 8 6 , 2 1 1 .
90
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
M a n sieht: Die Gerichte legen ihren angeblich aus normativen Gesichtspunkten gebotenen Ansatz bei der „ w a h r e n " Rechtslage immer, aber a u c h nur dann ad acta,
wenn seine konsequente Durchführung sie auf ungewohntes Terrain
führen würde. Uberzeugender wird er dadurch nicht.
3. Schwierige
Feststellbarkeit
einer
hypothetischen
Gerichtsentscheidung
Der Verzicht auf die Suche nach der hypothetischen Entscheidung des Ausgangsgerichts wird gelegentlich unterstützt mit einem Hinweis auf die sich dabei praktisch ergebenden Schwierigkeiten. Der B G H formuliert es so: „Dabei spielt die Erwägung eine maßgebliche Rolle, daß der Einfluß, den Überlegungen verschiedenster Art auf die Entscheidung der hypothetisch mit der Sache befaßten Stelle nehmen können, zu unberechenbar ist, als daß sich in dem späteren Schadensersatzprozeß mit der nötigen Sicherheit feststellen ließe, wie das Gericht... in einem früheren Verfahren wirklich entschieden h ä t t e " 3 4 7 . Es ist bereits von anderen zutreffend hervorgehoben worden, dass praktische H ü r d e n es nicht rechtfertigen, die Auffassung des Vorgerichts a u c h dann zu ignorieren, wenn es gelingt, diese zweifelsfrei festzustellen 3 4 8 . Allein die hier zitierten Fälle des Reichsgerichts 3 4 9 und des B G H 3 5 0 zeigen, dass das möglich ist. Bemerkenswert auch ein Fall des O L G Saarbrücken 3 5 1 . Der Mandant des Anwalts war als Beklagter im Vorprozess in erster Instanz unterlegen und zur Zahlung von etwas über D M 137.000 verurteilt worden. Seine Berufung wurde vom O L G Saarbrücken wegen Fristversäumung, die dem Anwalt zur Last lag, als unzulässig verworfen. Die Fristversäumung war allerdings erst so spät entdeckt worden, dass der Berichterstatter bereits einen Urteilsentwurf angefertigt hatte, nach dem das erstinstanzliche Urteil um knapp D M 3 7 . 0 0 0 zu hoch ausgefallen war. Einen anderen Senat des O L G Saarbrücken, der die Entscheidung der ersten Instanz aus tatsächlichen Gründen für richtig und deshalb die Schadenersatzklage für unbegründet hielt, focht dies als Berufungsgericht im Regressverfahren freilich nicht an: Wie ihre Gerichtskollegen „möglicherweise" entschieden hätten, sei selbst dann unerheblich, wenn man dies anhand von in einem Urteilsentwurf niedergelegten Überlegungen feststellen kann 3 5 2 . Inwieweit tatsächlich die Treue zur BGH-Rechtsprechung den 3 4 7 BGHZ 7 9 , 2 2 3 (226). An anderer Stelle hat der BGH diesem Gesichtspunkt ausdrücklich jede Relevanz abgesprochen: „Selbst wenn die damalige Auffassung des seinerzeit für die Entscheidung zuständigen ArbG klar und zweifelsfrei zutage liegt, so kann ihr, falls sie sich aus gegenwärtiger Sicht des für den Ersatzprozeß zuständigen Richters als unrichtig darstellt, für die Ermittlung des zu ersetzenden Schadens keine Bedeutung zukommen" (BGH NJW 1985, 2482 (2483). 348 Braun, ZZP 96 (1983), 89 (98); insoweit zustimmend Vollkommer/Heinemann, Anwaltshaftung, Rdnr. 555. 3 4 9 RG Recht 1933 Nr.728 (oben Text zu Fn.285). 3 5 0 BGH NJW 2000, 1944 (unten Text zu Fn.362). 3 5 1 VersR 1973, 929 mit zustimmender Anm. Späth. 3 5 2 OLG Saarbrücken VersR 1973, 929 (930). Späth versteigt sich in seiner zustimmenden Anmerkung zu der Aussage, dass der Urteilsentwurf des Berichterstatters „nicht einmal ein be-
§3
Anwaltshaftung
91
Senat zu diesem Urteil brachte, wird ein Geheimnis bleiben. Es k ö n n t e n auch gerichtsinterne Rivalitäten oder die Tatsache eine Rolle gespielt h a b e n , dass hier nicht der M a n d a n t des Rechtsanwalts die Regressklage erhoben hatte, sondern der Gegner des Vorprozesses aus gepfändetem Recht. Der B G H verweigert dem Anwalt in einem solchen Fall den Einw a n d der unerlaubten Rechtsausübung, o b w o h l sich der Kläger zur Begründung der gepfändeten Regressforderung darauf stützen muss, den Vorprozess insoweit zu Unrecht gew o n n e n zu h a b e n 3 5 3 . Dies k o n n t e das Regressgericht überspielen, indem es schon den Bestand der Regressforderung verneinte. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist weiterhin eine Entscheidung des B G H 3 5 4 zum Konkursrecht zu e r w ä h n e n : Der Kläger hatte 1 9 7 7 im K o n k u r s seines ehemaligen Arbeitgebers Abfindungsansprüche aus einem Sozialplan zur Konkurstabelle angemeldet, die der Konkursverwalter bestritt. Ein Arbeitskollege in derselben Situation e r h o b eine Klage auf Feststellung, dass die A b f i n d u n g eine bevorrechtigte Forderung i.S.d. damaligen § 6 1 Abs. 1 Nr. 1 K O darstellen. Der Konkursverwalter vereinbarte mit dem Kläger, dass dieser den Ausgang des Verfahrens, von dem ihm der Konkursverwalter zu berichten versprach, vor eigenen M a ß n a h m e n a b w a r t e n solle. Auf der Grundlage der b e r ü h m t e n BAG-Entscheidung v o m 1 3 . 1 2 . 1978, in der Sozialplanansprüche als Forderungen mit einem R a n g vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 K O eingestuft w o r d e n w a r e n 3 5 5 , gaben sowohl A r b G als auch L A r b G der Klage des Kollegen statt. Der Konkursverwalter unterrichtete den Kläger nicht v o m Verfahrensausgang. Dieser e r f u h r so erst im Schlusstermin des Konkursverfahrens im J a h r 1982, dass er an der Schlussverteilung nicht teilnahm. Im Regressverfahren gegen den Konkursverwalter meinte der B G H , dass „klar und zweifelsfrei zutage l i e g t " 3 5 6 , wie das A r b G entschieden hätte, das der o r d n u n g s g e m ä ß über den Ausgang des Prozesses seines Arbeitskollegen informierte Kläger nach § 146 K O angerufen hätte. D e n n o c h w u r d e die Regressklage unter Hinweis auf den erst im Jahr 1983 ergangenen Beschluss des BVerfG abgewiesen, nach dem die richterrechtliche „ E r f i n d u n g " eines Forderungsranges vor § 6 1 Abs. 1 Nr. 1 K O gegen Art. 20 Abs. 3 G G verstößt 3 5 7 .
Das Argument der schwierigen Beweislage taugt also nicht dafür, die hypothetische Vorentscheidung generell beiseite zu schieben. Die Rechtsprechung führt das Argument der schwierigen Beweislage im Übrigen selbst ad absurdum, wenn sie bei vom Rechtsanwalt pflichtwidrig verhinderten bzw. negativ beeinflussten Ermessensentscheidungen der Verwaltung von einer normativen Schadensberechnung nach Maßgabe der Vorstellungen des Regressgerichts nichts wissen will - hier ist zu offensichtlich, dass es die eine „wahre" Rechtslage, die es zu Grunde zu legen gilt, nicht gibt - , sondern die ansonsten verpönte Frage stellt, wie die zuständige Behörde tatsächlich entschieden hätte1*58. Es ist den Gerichten achtliches Indiz dafür [ist], daß ein Urteil entsprechenden Inhalts verkündet worden wäre" (930). 353 BGH NJW 2000, 730; ablehnend Mäsch, JURA 2000, 518. 354 BGH NJW 1985, 2482. 355 BAGE 31, 76 = N J W 1979, 774. 356 BGH NJW 1985, 2482 (2483). 357 BVerfGE 65, 182 = NJW 1984, 2486. 358 Vgl. bereits RG JW 1936, 813 (814); aus der BGH-Rspr. B G H Z 79, 223 (226); BGH NJW-RR 1991, 660 (661); BGH NJW-RR 1992,1110 (1112); BGH NJW 1 9 9 3 , 2 7 9 9 (2801); BGH NJW 1996, 842.
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2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung
in der deutschen
Praxis
nach entsprechender Beweisaufnahme 359 zumeist auch gelungen, hier eine Antwort zu finden 360 , was zweifelhaft erscheinen lässt, dass die das Vorgericht oder die Vorbehörde bei gebundenen Entscheidungen leitenden rechtlichen Erwägungen sich generell einer nachträglichen Feststellung mit der für § 287 Z P O hinreichende Sicherheit entziehen 361 . Im Übrigen sind praktische Schwierigkeiten beim Nachweis eines bestimmten Tatbestandsmerkmals (hier: Kausalität) für sich genommen ohnehin kein Grund und noch weniger eine Rechtfertigung, dieses Merkmal klammheimlich zu streichen und durch ein anderes (hier: die „wahre" Rechtslage) zu ersetzen. 4. Folgeprobleme des Ansatzes bei der „richtigen"
Entscheidung
Es fehlt nach alledem an einer überzeugenden Rechtfertigung für den Ansatz bei der „objektiven" Rechtslage im Rahmen der Regressklage. Er ist dem geltenden Schadensrecht ohne Not und ohne Basis in dessen Buchstabe oder Geist aufgepfropft. Nicht verwunderlich ist, dass sich auch Folgeprobleme einstellen, deren Lösung Kopfzerbrechen bereitet. a) Schadenersatz
trotz Erfolglosigkeit
bei fehlerfreier
Leistung?
Der normative Ansatz der Rechtsprechung führt, konsequent beschritten, dazu, dass nicht nur der Ersatz eines faktisch entstandenen Schadens beschränkt wird (weil das Regressgericht anders als das Vorgericht den Mandanten auch ohne Anwaltsfehler hätte verlieren lassen), sondern Schadenersatz umgekehrt auch in dem Fall zugesprochen werden muss, in dem der Mandant aus der Sicht der Vorgerichts den Prozess auch ohne anwaltlichen Fehler ohnehin verloren, aus der Sicht des Regressgerichts aber gewonnen hätte. Kann ein Schaden qua normativer Betrachtung dessen, was „rechtens" ist, entstehen, der Mandant also dank der Pflichtvergessenheit seines Prozessvertreters mehr bekommen, als er bei tadelloser Leistung erhalten hätte? So hat in der Tat der BGH in einem neueren Urteil entschieden 362 . Der beklagte Rechtsanwalt hatte es im R a h m e n eines Ehescheidungsverfahrens pflichtwidrig versäumt, seinen M a n d a n t e n davon abzuhalten, bei einem Gespräch mit dem Anwalt der Gegenseite im Anschluss an einen Termin beim Familiengericht ein angesichts des damaligen Verfahrens- und Kenntnisstands f ü r ihn ungünstiges, jedenfalls aber verfrühtes Vergleichsangebot zu machen. Das Angebot w u r d e a n g e n o m m e n und von der Gegenseite 359 Das Reichsgericht hat etwa die zuständigen Behördenmitarbeiter darüber vernommen, wie ihre Entscheidung vermutlich ausgefallen wäre, RG JW 1936, 813. 360 Vgl. RG SeuffA 65 (1910), 475 (477) zur Feststellbarkeit der Erwägungen, die als Grundlage von Ermessensentscheidungen dienen. 361 Zur Rolle des § 287 ZPO im Rahmen der Anwaltshaftung für prozessuale Fehler näher unten S.388. 362 BGH NJW 2000, 1944.
Anwaltshaftung
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und später vom Gericht dahingehend verstanden, dass der Ehemann gegen die Auskehrung eines Erlösrestes von D M 20.000 aus dem Verkauf eines beiden Ehegatten gehörenden Mehrfamilienhauses u.a. auf den Ausgleich von finanziellen Aufwendungen für dieses Wohnhaus verzichtet, die er nach seiner Behauptung als Gesamtschuldner eines für den Bau des Hauses aufgenommenen Kredits über das M a ß seiner internen Beteiligung erbracht hatte. Eine auf § 426 Abs. 1 S. 1 BGB gestützte Zahlungsklage gegen die Ehefrau vor dem Landgericht 3 6 3 mit anschließender Berufung zum Oberlandesgericht blieb ohne Erfolg, in erster Linie deshalb, weil auch ohne den umstrittenen Vergleich die Voraussetzungen eines Gesamtschuldnerausgleichs „bereits dem Grunde nach nicht" bestanden 3 6 4 . Der BGH war im Regressprozess gegen den Rechtsanwalt anderer Meinung, hielt deshalb den pflichtwidrig nicht verhinderten Vergleich für schadensursächlich und wies nur zur Aufklärung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Ehegatten und der nach seiner Auffassung davon abhängenden Höhe des Ausgleichsanspruchs zurück. W ä r e hier d e r R e c h t s a n w a l t seiner i h m zu R e c h t v o m B G H a u f e r l e g t e n Pflicht n a c h g e k o m m e n , seinen M a n d a n t e n v o n d e m u n ü b e r l e g t e n V e r g l e i c h s a n g e b o t a b z u h a l t e n , u n d h ä t t e sein M a n d a n t d a r a u f h i n seinen i h m a n g e b l i c h z u s t e h e n d e n A u s g l e i c h s a n s p r u c h eingeklagt, h ä t t e dieser v o r d e m a n g e g a n g e n e n G e r i c h t k e i n e n E r f o l g - u n d a u c h keine R ü c k g r i f f s m ö g l i c h k e i t gegen d e n A n w a l t g e h a b t . So a b e r beschert i h m d e r Fehler einen u n v e r h o f f t e n G e w i n n : Er steht besser, als er m i t e i n e m s o r g f ä l t i g e r e n A n w a l t g e s t a n d e n h ä t t e . D e r B G H g e h t auf diesen U m s t a n d m i t keiner Silbe ein, s o n d e r n m e i n t lediglich, der „zusätzliche Fehler eines D r i t t e n " (gemeint ist die „ f a l s c h e " Ansicht des O L G ü b e r d e n G e s a m t s c h u l d nerausgleich) k ö n n e d e n Schädiger n i c h t e n t l a s t e n 3 6 5 . D o c h d a s k a s c h i e r t n u r die richtige Fragestellung: W i e k a n n der A n w a l t ein „ S c h ä d i g e r " sein, w e n n seine P f l i c h t w i d r i g k e i t , d e n k t m a n im R a h m e n der D i f f e r e n z h y p o t h e s e d e n h y p o t h e t i schen K a u s a l v e r l a u f bei p f l i c h t g e m ä ß e m V e r h a l t e n zu E n d e , t a t s ä c h l i c h keine negativen Folgen h a t t e , weil d a s , w o r a u f der M a n d a n t u n ü b e r l e g t verzichtete, a u s der Sicht des i n s o w e i t z u s t ä n d i g e n G e r i c h t s t a t s ä c h l i c h o h n e h i n nichts w e r t war366? Dieselbe Kritik gilt für die folgende Entscheidung: Die Parteien eines Scheidungsverfahrens wollten einen Vergleich über Unterhaltszahlungen schließen, der nach dem infolge der Scheidung eintretenden Wechsel der Steuerklasse des Ehemanns eine Neuberechnung auf der Grundlage der dann bestehenden Verhältnisse unabhängig davon ermöglichen 363 Der Streit um den Ausgleich für die Bezahlung gemeinsamer Schulden durch einen Ehegatten ist keine familienrechtliche Streitigkeit i.S.d. §§621 ZPO, 23b GVG, vgl. BGH FamRZ 1987, 1239; BGH FamRZ 1988, 1031; a.A. noch OLG München, FamRZ 1987, 1161. 364 So die in der Entscheidung des BGH wiedergegebene Begründung des Berufungsgerichts, vgl. BGH NJW 2000, 1944 (1946). 365 BGH NJW 2000, 1944 (1946). 366 Kritisch zum BGH insoweit auch Adam, VersR 2001, 809 (810). Vgl. ferner BGH JZ 1982,198: Der die unwirksame Beurkundung eines Grundstücksgeschäfts verantwortende Notar haftet für den Schaden des Käufers aus der rechtskräftig abgewiesenen Inanspruchnahme des Verkäufers, obwohl das mit dieser Klage befasste Gericht die Heilung des Formfehlers nach §313 S.2 BGB a.F. (= §311 b Abs.l S.2 BGB n.F.) übersehen hatte. Zu dieser Entscheidung Schack, JZ 1986, 305 (306).
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
sollte, ob sich das Nettoeinkommen des Ehemanns bis dahin „wesentlich" geändert hat. Der vom beklagten Rechtsanwalt (mit) verantwortete Vergleichstext gab diese Absicht nur ungenügend wieder. Dass auch eine bessere Formulierung nicht zu einem Erfolg der Abänderungsklage geführt hätte, weil das mit ihr befasste Familiengericht (gegen die Rechtsprechung des BGH) § 323 Abs. 1 ZPO für anwendbar hielt und deshalb von einer gesetzlichen Hürde einer „wesentlichen" Veränderung ausging, focht den der Regressklage gegen den Anwalt stattgebenden BGH nicht an: Entscheidend sei, wie die Abänderungsklage bei besserer Formulierung des Vergleichs richtigerweise zu entscheiden gewesen wäre 3 6 7 . Das BVerfG zeigte sich davon nicht überzeugt. Es meinte in einem ungewöhnlich scharfen obiter dictum, das Regressgericht sei verfassungsrechtlich nicht legitimiert, den Rechtsanwälten auf dem Umweg über den Haftungsprozess die Verantwortung für die „richtige" Rechtsanwendung durch das Ausgangsgericht zu überbürden 3 6 8 . Das ist aber seinerseits keine schlagende Argumentation, weil sie ebenso wie die Sichtweise des BGH auf der oben abgelehnten Differenzierung zwischen „falschen" und „richtigen" 3 6 9 Urteilen des Vorgerichts aufbaut. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob die Schelte des BVerfG eine Wirkung auf die Rechtsprechung des zuständigen IX. Senats des BGH haben wird 3 7 0 . In einer der ersten nachfolgenden Entscheidungen des BGH ist eine solche Wirkung noch nicht zu erkennen: Dort hatte ein Anwalt vor einem deutschen Familiengericht eine Ehescheidungklage für einen griechischen Mandanten betrieben, obwohl dieser eine nur in Griechenland, nicht aber in Deutschland wirksame Ehe geschlossen hatte. Der IX. Senat ließ als Regressgericht den Anwalt für die aus der Scheidung folgenden Unterhaltsverpflichtungen des Mandanten haften, weil der Senat selber der Meinung war, dass diese „hinkende" Ehe auch durch 30jähriges gutgläubiges Zusammenleben als Ehegatten nicht für Zwecke des nachehelichen Unterhalts „geheilt" wird, fehlerfreies Handeln des Anwalts (= Nichtigkeitsfeststellungsklage) den Mandanten also vor Unterhaltszahlungen bewahrt hätte. Dass das Familiengericht selber, einer Tendenz in der familienrechtlichen Literatur folgend, möglicherweise eher geneigt gewesen wäre, die Rechtsprechung des BVerfG zur Wirkung „hinkender" Ehen im Sozialrecht (Witwenrente) 3 7 1 auf das nacheheliche Unterhaltsrecht auszudehnen (was dem Anwaltsfehler die Schadensursächlichkeit genommen hätte), ließ der BGH ensprechend seines „klassischen" Ansatzes bei der „wahren Rechtslage" unberücksichtigt.
BGH NJW 2002, 1048 (1049). BVerfG NJW 2002, 2937 = J Z 2002, 419 m. Anm. Mäsch 420 = BRAK-Mitt. 2002, 224 m. Anm. Grams 226 und Kirchberg 202. Im Ergebnis hat der BGH die Regressklage aber wohl richtig entschieden, weil dem Anwalt weitere Pflichtverstöße zur Last lagen, die den Schaden seines Mandanten beförderten (weshalb das BVerfG, aaO, die Verfassungsbeschwerde des Rechtsanwalts trotz seiner Kritik nicht zur Entscheidung annahm). 3 6 9 Zur Kritik der BVerfG-Entscheidung Mäsch, J Z 2002, 420. 370 Zugehör, ein ehemaliges Mitglied dieses Senats, möchte in Zukunft die Schadenszurechnung an den Anwalt und damit dessen Haftung bei mitwirkenden Gerichtsfehlern (nur) dann verneinen, „wenn das Gericht ... in völlig ungewöhnlicher, unsachgemäßer und daher grober, schlechthin unvertretbarer Weise eine Schadensursache gesetzt hat, die die vorangegangene anwaltliche Pflichtverletzung ... in den Hintergrund gedrängt hat" (Zugehör, NJW 2003, 3225 (3232). Dass bei Mitursächlichkeit ein vergleichweise bescheidener Beitrag des einen nicht erst bei § 25h BGB oder § 426 BGB Berücksichtigung findet, sondern schon die Zurechnung verhindert, ist allerdings eine dogmatisch unhaltbare Neuschöpfung. 3 7 1 BVerfGE 62, 323. 367 368
§3
Anwaltshaftung
95
Manche Autoren, die grundsätzlich der Ansicht des BGH zustimmen, es entscheide allein die Auffassung des Regressgerichts, wollen die Konsequenz, dass ein Schaden durch die „wertende Betrachtung" nicht nur begrenzt, sondern auch aus dem Hut gezaubert werden kann, meiden - und zeigen gerade mit ihrer Argumentation die Schwächen des Ausgangspunkts auf. So soll nach Vollkommer die „normative Erweiterung" des Schadens deshalb ausscheiden, weil dies im Ergebnis eine unzulässige Abwälzung der dem allgemeinen Lebensrisiko des Mandanten zuzurechnenden Möglichkeit bedeuten würde, einen Rechtsstreit auch einmal zu Unrecht zu verlieren372. Die Chance des Mandanten, im Verfahren vor dem Ausgangsgericht aus Sicht des Regressgerichts zu Unrecht zu obsiegen, hält er andererseits - mit dem BGH - nicht für schützenswert, wenn der Mandant „nach dem materiellen Recht" (wie es sich dem Regressgericht darstellt) keinen Anspruch hatte 373 . Im Klartext: Das Risiko, einen Prozess aus der Sicht des Regressgerichts fälschlicherweise zu verlieren, trägt der Mandant allein; die Chance, das Ausgangsverfahren ungeachtet einer abweichenden Sicht des Regressgerichts zu gewinnen, wird ihm über die „normative Betrachtung" genommen 374 . Dass diese Benachteiligung nicht richtig sein kann, zeigt schon die einfache Uberlegung, dass Chance und Risiko zwei Seiten einer Medaille sind: Das Risiko eines ungünstigen Ausgangs besteht nur dort, wo es umgekehrt auch die Chance auf einen Gewinn gibt, denn sonst ist nicht von Risiko, sondern von Gewissheit zu sprechen. Chance und Risiko können als interdependente Faktoren nur gleich behandelt werden. Wer meint, die Chance, bei fehlerfreiem Anwaltshandeln ein Verfahren zu gewinnen, sei „nicht schützenswert", wenn das Regressgericht anderer Meinung ist als das Ausgangsgericht, muss deshalb konsequenterweise mit dem BGH auch das Risiko, auf ein Vorgericht zu stoßen, das eine ungünstigere Position als das Regressgericht vertritt, dem Mandanten über den Umweg des Schadenersatzprozesses von den Schultern nehmen. Wenn Vollkommer letzteres nicht will, ist ihm darin durchaus zuzustimmen. Nur heißt das nichts anderes, als dass auch in der ersteren Konstellation die „normale" Differenzhypothese vorzugswürdig ist vor der „wertenden Betrachtung".
372 Vollkommer/Heinemann, Anwaltshaftung, Rdnr. 559; ebenso Heinemann, NJW 1990, 2 3 4 5 (2349); Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß 26. 373 Vollkommer/Heinemann, Anwaltshaftung, Rdnr. 556. 3 7 4 Im Ergebnis ebenso Adam, VersR 2001, 809 (811): Während das Regressgericht dem Mandanten auf der Grundlage einer von der eigenen Auffassung differierenden Position des Ausgangsgerichts keinen Schadenersatz zusprechen dürfe, weil „ein Gericht niemals gegen seine eigene Ansicht entscheiden darf", soll für die Abweisung der Regressklage, weil wegen der abweichenden Auffassung des Ausgangsgerichts kein Schaden eingetreten sei, anderes gelten: Hier sei die aus Sicht des Regressgerichts falsche Entscheidung der Richter des Vorprozesses als Tatbestandswirkung hinzunehmen (Fn. 17). Warum im ersten Fall „normativ" korrigiert werden darf, im zweiten aber nicht, bleibt ohne Begründung. Ähnlich Rötelmann, NJW 1958, 1590 (1591): Hypothetische Entscheidung des Vorgerichts wegen § 242 BGB dann nicht maßgebend, wenn sie zu Unrecht zugunsten des Klägers ausgefallen wäre.
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2. Kapitel: Gegenwärtige
b) Welche Fakten
Handhabung
in der deutschen
Praxis
entscheiden?
Bislang wurde der Ansatz der Rechtsprechung allein unter dem Aspekt möglicher rechtlicher Diskrepanzen zwischen den Ansichten des Vorgerichts und denen des Regressgerichts untersucht. Nun ist die Rechtsfindung nur ein Teil der gerichtlichen Aufgaben, in der Praxis oft sogar der weniger wichtigere. Ihr voran geht die Feststellung der für die Anwendung der Rechtsnormen notwendigen Tatsachen. Soweit sich die Parteien des Regressverfahrens über die für das vorangegangene, vom Anwalt fehlerhaft geführte Verfahren maßgeblichen Fakten nicht einig sind, stellt sich somit die Frage nach den zur Verfügung stehenden Beweismitteln und Beweisverfahren sowie nach Beweismaß und Beweislast. aa)
Beweismittel
Die Frage nach den vom Regressgericht heranzuziehenden Beweismitteln kann unter zweierlei Gesichtspunkten Bedeutung erlangen. Zum einen können in der Zeit zwischen Vor- und Regressverfahren Beweismittel aufgetaucht sein, die dem Vorgericht faktisch nicht zur Verfügung standen oder nicht Inhalt eines Beweisangebots waren, und zum anderen im Regressprozess Beweismittel eine Rolle spielen, deren Verwertung dem Vorgericht aus Rechtsgründen verwehrt war. Letzteres betrifft insbesondere Zeugenaussagen. Die Partei kann nicht Zeuge sein. Das Regressverfahren ist aber gegen den Anwalt des Mandanten im Vorverfahren, also gegen eine andere Partei als dieses selbst gerichtet. Damit ist es verfahrensrechtlich möglich, im Regressprozess die Gegenpartei des Ausgangsverfahrens zur Aufklärung des Sachverhalts als Zeugen zu befragen. Ob dies auch der richtige Weg ist, um den Schaden zu ermitteln, den der pflichtvergessene Anwalt angerichtet hat, ist freilich eine andere Frage. Die Rechtsprechung bejaht sie für beide Aspekte: Das mit dem Schadenersatzanspruch befasste Gericht darf sich bei der Feststellung des durch die Pflichtverletzung entstandenen Schadens sämtlicher ihm präsentierter und bei ihm zulässigen Beweismittel bedienen 375 , unabhängig davon, ob sie auch das Gericht des Ausgangsverfahrens heranziehen konnte. Das Regressgericht muss also nicht danach forschen, zu welcher Beurteilung der Tatsachenlage das Erstgericht gekommen wäre .
3 7 5 Z.B. BGHZ 72, 328 für die Vernehmung der Gegenpartei des Vorprozesses als Zeugen; anders etwa noch OLG Celle, NJW 1958, 1590 (1591). Kritisch zur Auffassung des BGH Schräder, MDR 1979, 372 (373). 3 7 6 Anders in einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung OLG Oldenburg, VersR 1999, 622, das eine Regressklage abwies, weil es der Auffassung war, dass die Mandantin im Ausgangsverfahren ihre vom Ausgangsgericht für erheblich gehaltenen Behauptungen „nicht hätte beweisen können und dass die Klage deshalb abgewiesen worden wäre". Anders im Ansatz auch BGH VersR 2001, 638 (640), wo der IX. Senat beiläufig ausführt, dass „von dem Sachverhalt [auszugehen ist], der dem Gericht des Vorprozesses unterbreitet und von diesem aufgeklärt worden
53
Anwaltskaftung
97
Darin liegt eine konsequente Fortentwicklung der Auffassung, dass es nicht auf die hypothetischen rechtlichen Erwägungen des Gerichts im Ausgangsverfahren, sondern nur auf die „wahre Rechtslage" a n k o m m t , wie sie sich dem Regressgericht darstellt - interessiert die Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts nicht, k o m m t es auch auf seine möglicherweise beschränkten Aufklärungsmöglichkeiten der Faktenlage nicht an. Z u r „objektiven R e c h t s l a g e " gesellt sich so die „objektive Tatsachenlage". D e r B G H greift noch höher: Es soll im Interesse eines „gerechten Ergebnisses" liegen, wenn m a n den „unzuverlässigen Beurteilungsmaßstab" der Aufklärungsmöglichkeiten des Vorgerichts beiseite lässt 3 7 7 . Zwei Beispiele, das erste für die Heranziehung einer dem Ausgangsgericht aus rechtlichen Gründen verwehrten Zeugenaussage, das zweite für einen im Regressverfahren neu auftauchenden Beweis, lassen daran zweifeln: BGH VersR 1984, 160: Der beklagte Rechtsanwalt hatte die Angehörigen eines Mannes, der am Rosenmontag des Jahres 1973 als Fußgänger mit einer Blutalkoholkonzentration von l,81%o von einem Pkw angefahren und tödlich verletzt worden war, als Nebenkläger im Strafverfahren gegen den Fahrer vertreten. Der Fahrer wurde freigesprochen, weil ihm mangels unbeteiligter Unfallzeugen ein verkehrswidriges und schuldhaftes Verhalten nicht nachgewiesen werden konnte. Eine über drei Jahre nach dem Unfall von den Angehörigen unter Berufung auf das StVG eingeleitete zivilrechtliche Schadenersatzklage wurde wegen Verjährung abgewiesen. Die Klage gegen den Rechtsanwalt begründeten die Kläger damit, dass dieser auch mit der Geltendmachung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche aus dem Unfall beauftragt gewesen sei, diesen aber keine Aufmerksamkeit geschenkt habe; bei rechtzeitiger „Anmeldung" dieser Ansprüche wäre der Fahrer zur Ersatzleistung verurteilt worden. Das Berufungsgericht folgte dieser Argumentation, weil der Fahrer wegen des letztlich ungeklärten Unfallhergangs nicht den ihm im Zivilverfahren obliegenden Beweis hätte erbringen können, dass es sich um ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG a.F. gehandelt habe. Der BGH schlug sich hingegen auf die Seite der ersten Instanz, die den Fahrer als Zeugen angehört und anders entschieden hatte, weil sich aus dessen Aussage ergebe, dass das alkoholisierte Unfallopfer so plötzlich vom Gehwegrand in die Fahrbahn getreten sei, dass der Unfall trotz größter Aufmerksamkeit nicht habe vermieden werden können. Im Regressverfahren, so der BGH, müsse „der Richter - losgelöst von Aufklärungsbeschränkungen, die in einem Prozeß des Kl. gegen den ursprünglichen Anspruchsgegner bestanden hätten - im Interesse einer richtigen Sachentscheidung alle Beweismittel berücksichtigen können, die in diesem Prozeß zur Verfügung stehen" 3 7 8 ; dies sei „sachlich geboten" zur Erzielung „ausgewogener Ergebnisse" 3 7 9 . BGH NJW 2000, 730 (vereinfacht): Der beklagte Rechtsanwalt hatte in einem auf das KSchG gestützten Kündigungsschutzverfahren die Arbeitgeberin vertreten und wegen unsorgfältiger Sachverhaltsaufklärung nicht erkannt, dass der Klage wegen der fünf Arbeitnehmer nicht überschreitenden Belegschaft mit dem Kleinbetriebseinwand des § 23 Abs. 1 KSchG hätte begegnet werden können. Die Arbeitgeberin verlor daraufhin dieses Verfahwäre." Folgerungen daraus hat der BGH freilich weder in dieser noch in Folgeentscheidungen gezogen. 3 7 7 BGHZ 72, 328 (331). 3 7 8 BGH VersR 1984, 160 (161). 3 7 9 BGH VersR 1984, 160 (162).
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
ren und den folgenden Lohnzahlungsprozess. Erst im Regressverfahren, das der wegen seiner Lohnforderung unbefriedigt gebliebene Arbeitnehmer aus gepfändetem Recht des Arbeitgebers/Mandaten führte 3 8 0 , warf der Rechtsanwalt die Frage auf, ob der Kleinbetriebseinwand nicht schon deswegen auszuscheiden habe (und sein Fehler deswegen folgenlos geblieben war), weil das Unternehmen mit einem anderen Unternehmen nach den von der Rechtsprechung insoweit ausgearbeiteten Kriterien (gemeinsamen Arbeitsorganisation unter einheitlicher Leitungsmacht 3 8 1 ) einen gemeinsamen Betrieb bildete mit der Folge, dass ihre Beschäftigten bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl zusammenzurechnen wären und die Hürde des § 23 KSchG hätte übersprungen werden können. Im Kündigungsschutzverfahren hätte der Arbeitnehmer die Voraussetzungen eines gemeinsamen Betriebs vortragen und beweisen müssen 3 8 2 , dies aber tatsächlich nicht tun können, weil ihm zum damaligen Zeitpunkt die Existenz des möglicherweise hinzuzurechnenden weiteren Betriebes gar nicht bekannt war. Der BGH wies dennoch zur weiteren Aufklärung der einheitlichen Organisation beider Betriebe zurück, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass alles auf eine solche hindeute 3 8 3 . M a n sieht: W o h l häufiger noch als differierende Rechtsauffassungen von Ausgangs- und Regressgericht kann die Tatsachengrundlage den Unterschied m a chen, wie in den beiden Beispielen zumeist zu Lasten des M a n d a n t e n . Die Angehörigen des getöteten Fußgängers gehen leer aus, obwohl sie bei rechtzeitiger Klageerhebung durch den säumigen A n w a l t Erfolg gehabt hätten, weil der F a h rer den Entlastungsbeweis des „unabwendbaren Ereignisses" nicht hätte führen können; der den Kündigungsschutzprozess nachlässig führende Anwalt k o m m t davon, obwohl bei sorgfältiger Arbeit sein M a n d a n t den Sieg d a v o n getragen und sich die Lohnfortzahlung erspart hätte, weil dem Gegner der N a c h w e i s eines „gemeinsamen Betriebes" nicht gelungen wäre. Sind diese Lösungen im Interesse eines „gerechten Ergebnisses", wie der B G H es nennt, wenn es eigentlich d a r u m geht, den Schaden auszugleichen, den der Anwalt mit seinem Fehler angerichtet hat? Die Frage so gestellt, kann die A n t w o r t nur negativ ausfallen 3 8 4 . Der australische Richter Bray
C] hat sie in die einfa-
chen, aber eindringlichen W o r t e gefasst: „ [Counsel] for the plaintiff contended vigorously that I was ... at liberty to assess the plaintiff's chances of success in the lost action on the basis of the evidence before me. I do not think that this is so because what I have to decide is what the plaintiff has lost by the defendant's negligence and what he has lost is what a court would have awarded him in an action by him against his employer and there was no other evidence than that before m e . " 3 8 5 3 8 0 Zur Problematik dieses Vorgehens unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium vgl. Masch, JURA 2000, 580. 3 8 1 Näher ErfKIAscheid, §23 KSchG Rdnr.5 m.w.N. 3 8 2 BAG DB 1984, 1684 (1685); BAG DB 1991, 500 (501). 3 8 3 BGH NJW 2000, 730 (733). 3 8 4 Im Ergebnis ebenso Braun, ZZP 96 (1983), 89 (103); Staudinger/Schiemann, §249 Rdnr.74. 385 Tutunkoff v. Thiele (1975) 11 SASR 148, 150, wörtlich wiedergegeben in Johnson v. Perez (1988) 63 Australian Law Journal Reports (High Court of Australia) 51, 56.
§3 Und Lord vor
386
Avonside
Anwaltshaftung
99
k a m eine abweichende Ansicht schlicht „grossly u n j u s t "
. D e m ist ungeachtet der vom B G H zum Tröste hervorgehobenen Tatsa-
che zuzustimmen, dass sich dem M a n d a n t e n auf dem Boden seiner Rechtsprechung auch die Chance eröffne, durch neu aufgefundene oder zugänglich gewordene Beweismittel den ihm durch die Pflichtwidrigkeit des Anwalts verloren gegangenen Anspruch nunmehr besser als in einem früheren Prozess gegen den ursprünglichen Anspruchsgegner nachzuweisen 3 8 7 . D a s fast gänzliche Fehlen veröffentlichter Fälle, in denen dies eine Rolle gespielt h a t 3 8 8 , zeigt, dass die Chance so g r o ß nicht ist, aber selbst wenn sie es wäre: Die Möglichkeit zur Kompensation eines nicht entstandenen Schadens rechtfertigt nicht den Verzicht auf einen Ausgleich tatsächlich eingetretener Vermögensverluste in allen anderen Fällen. Hier wird noch einmal deutlich: Die „wahre R e c h t s l a g e " ist für den Regressprozess eine verhängnisvolle Denkfigur. Das R e c h t existiert nicht losgelöst von den Möglichkeiten, die für seine Erkenntnis bestehen. Erst die in einem bestimmten Verfahren unter bestimmten Bedingungen von einem bestimmten Gericht getroffene Aussage über das R e c h t macht es zu einer Realität. Und diese Bedingungen sind nicht willkürlich gesetzt, sondern Teil eines Gesamtkonzeptes. Verfahrensregeln dürfen und sollen das sachliche Ergebnis beeinflussen. So ist es offensichtlich nicht grundlos, dass dem Fahrer eines P k w der nach sachlichem R e c h t erforderliche Entlastungsbeweis gemäß § 7 Abs. 2 S t V G a.F. verfahrensrechtlich nicht allein mit Hilfe seiner eigenen Aussage gelingen kann. In Regelungen dieser Art steckt eine materiellrechtliche Haftungsverschärfung 3 8 9 . Wer diese für das Ausgangsgericht geltenden Bedingungen ignoriert, sprich: den eigenen Erkenntnismöglichkeiten des Regressgerichts den Vorrang einräumt, sucht nicht nach der „wahren R e c h t s l a g e " . Tatsächlich beantwortet er mit anderen Mitteln eine andere Frage, als sie Gegenstand des Vorprozesses w a r 3 9 0 ; er verändert
die
Rechtslage. Wenn der Rechtsanwalt im obigen Beispiel nicht dafür haftet, dass seinen Klienten Schadenersatz verwehrt wurde, o b w o h l der Fahrer den Entlastungsbeweis nicht hätte erbringen können, so gelingt dies nur durch eine Modifikation der sachlichen Haftungsvoraussetzungen. W ä h r e n d im Prozess gegen den
386 Yeoman's Executrix v. Ferries (Court of Session (Outer House)) 1967 SLT 332. 3 8 7 BGH VersR 1984, 160 (162); zu Recht anders dagegen BGH VersR 1985, 146 (147): Es könne niemand durch den Verlust eines Prozesses geschädigt sein, den er nach den ihm (damals) zur Verfügung stehenden Beweismitteln gar nicht hätte gewinnen können. 388 Yg| a [ , e r OLG Schleswig, SchlHA 2 0 0 2 , 209: In einem „doppelstöckigen" Anwaltshaftungsprozess (Beklagter war der Rechtsanwalt, der das Regressverfahren gegen den ursprüglichen Prozessvertreter des Mandanten nach dessen Auffassung schlecht geführt hatte) gereichte es zum Vorteil des Mandanten, dass der ursprüngliche Beklagte, der als Zeuge gehört wurde, nunmehr frank und frei einräumte, dass die gegen ihn erhobenen Ansprüche berechtigt waren. 3 8 9 Vgl. Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, Rdnr.371f. (für Beweislastverteilungsregeln), Rdnr. 599ff. (Regelungen bzgl. der Partei als Beweismittel). 3 9 0 So treffend Braun, ZZP 96 (1983), 89 (105).
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
F a h r e r der m a ß g e b l i c h e R e c h t s s a t z lautet: „ D e r F a h r e r haftet, w e n n ihm ungeachtet seiner eigenen Aussage nicht durch Z e u g e n a u s s a g e n oder andere zulässige Beweismittel der Beweis gelingt, dass der Unfall u n a b w e n d b a r w a r " , rettet den R e c h t s a n w a l t im Regressverfahren der Satz: „ D e r R e c h t s a n w a l t haftet nicht für seinen Fehler im Ausgangsverfahren gegen den Fahrer, w e n n dieser selbst glaubh a f t aussagt, dass der Unfall u n a b w e n d b a r w a r . " Hierfür eine R e c h t f e r t i g u n g zu finden, dürfte a u c h dem B G H schwer fallen. bb)
Beweisverfahren,
Beweismaß
Z u Schwierigkeiten führt die Position des B G H , dass der Regressrichter eine eigene Entscheidung über den Streitgegenstand des Vorprozesses und nicht nur ein Urteil über dessen m u t m a ß l i c h e Ende zu treffen h a t , weiterhin d a n n , w e n n für diese Entscheidung „ e i g e n t l i c h " Verfahrensregeln vorgesehen sind, welche für das Regressgericht nicht gelten. B G H Z 1 3 3 , 1 1 0 : Der Rechtsanwalt hatte es versäumt, rechtzeitig Berufung einzulegen gegen ein amtsgerichtliches Urteil, in dem festgestellt worden war, dass sein Mandant Vater eines Zwillingspaares sei, und dieser verurteilt wurde, den Kindern bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres den Regelunterhalt zu zahlen. Das Urteil beruhte auf einem serologischen Gutachten, welches für die Kinder einzeln Vaterschaftswahrscheinlichkeiten von 9 9 , 9 0 % und 9 9 , 9 5 % ermittelte; unter Berücksichtigung der Zwillingseigenschaft der Kinder betrage die Wahrscheinlichkeit sogar 9 9 , 9 9 9 3 % . Nach BGH ist die Regressklage gegen den Rechtsanwalt abzuweisen, wenn das Regressgericht selbst zu der Auffassung gelangt, dass der Mandant zu Recht verurteilt wurde, also der Vater der Kinder ist. Muss es sich nun zur Klärung dieser Frage an den für das Kindschaftsverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz ( § § 6 4 0 , 616 Abs. 1 ZPO) halten, der nach der Auffassung des für das Familienrecht zuständigen XII. Zivilsenats des BGH das Berufungsgericht verpflichtet, auf Antrag des Klägers mindestens ein zusätzliches Sachverständigengutachten einzuholen, selbst wenn die bereits erhobenen Gutachten zu einem Wahrscheinlichkeitsergebnis über 9 9 , 9 9 % für die Vaterschaft des beklagten Mannes gekommen sind 3 9 1 ? BGH VersR 1976, 4 6 8 : Die beklagte Rechtsanwältin hatte es versäumt, Wiedergutmachungsansprüche nach dem BEG rechtzeitig geltend zu machen, die ihre Mandantin als Erbin bzw. Erbeserbin nach ihrem Bruder beanspruchte. Das Berufungsgericht im Regressverfahren hatte die Schadenersatzansprüche mit der Begründung zurückgewiesen, die Mandantin habe nicht nachweisen können, tatsächlich die Erbin ihres Bruders zu sein. Im Entschädigungsverfahren selbst hätte nach Auffassung des BGH wegen der Beweiserleichterung des § 181 Abs. 1 BEG die Vorlage eines Beschlusses des Kreisgerichts Warschau ausgereicht, in dem sie als Erbin bezeichnet wurde. Darf sich auch das Regressgericht damit begnügen und auf dieser Grundlage die säumige Rechtsanwältin zu Schadenersatz verurteilen?
391 Vgl. zu diesen Vorgaben BGH NJW 1994, 1348 (1349); BGH FamRZ 1988, 1037 (1038); BGH NJW 1990, 2312 (2313); BGH NJW 1991, 2961 (2962f.); BGH NJW 1974, 606 (607); kritisch etwa Hummel/Mutschler, NJW 1991, 2929 (2931).
§3
Anwaltshaftung
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Die Sympathien des B G H waren klar verteilt und führten zu zwei gegensätzlichen Urteilen: D e m querulatorischen Kindsvater wurde ins S t a m m b u c h geschrieben, dass er nur das ersetzt verlangen kann, was ihm von Rechts wegen zusteht, weshalb es allein darauf a n k o m m e , welches Urteil nach Auffassung des über den Schadenersatzanspruch erkennenden Gerichts richtigerweise hätte ergehen müssen. Deshalb folge der Haftungsprozess den für den Streitgegenstand der Regressklage geltenden Regeln. Der Regressrichter müsse also nicht von Amts wegen ermitteln, sondern dürfe auf Beweise verzichten, die ihm - gemessen an den im Schadenersatzprozess für die haftungsausfüllende Kausalität geltenden M a ß s t ä b e n des § 2 8 7 Z P O - entbehrlich erscheinen 3 9 2 . Und ein zweites Gutachten erschien den Richtern des V I . Senats in dieser Entscheidung bei einer durch das erste Gutachten nachgewiesenen Vaterschaftswahrscheinlichkeit von über 99,99%
in der Tat als überflüssig. In einem andern Fall, in dem es ebenfalls
um eine fehlerhafte Beratung im Kindschaftsprozess ging, die Rolle des Bösen aber nicht so eindeutig zugewiesen war, hatte der B G H allerdings knapp zehn J a h r e zuvor n o c h ein Urteil gefällt, das trotz unklaren Wortlauts alle, er selber eingeschlossen, als Aufforderung zur amtswegigen Ermittlung der Vaterschaft auch im Regressprozess gegen den Anwalt verstanden h a t t e n 3 9 3 . D e r B G H distanzierte sich nun von seiner früheren Ansicht und postulierte, dass der Ansatz beim Beweisrecht des Regressverfahren „unabhängig davon [gelte], o b dies für den Kläger günstig oder nachteilig i s t " 3 9 4 - und verschwieg schamvoll, dass er dies für Wiedergutmachungsansprüche nach dem B E G , dem zweiten oben wiedergegebenen Fall, noch anders gesehen hat. In diesem, in der Folge niemals revidierten Urteil half der B G H der M a n d a n t i n und h o b die klageabweisende Entscheidung der Vorinstanz mit der Begründung auf, das O L G habe verkannt, „dass die Klägerin nur unter den erleichterten Beweiserfordernissen des B E G die Wiedergutmachungsbehörde von dem Erbrecht hätte überzeugen m ü s s e n " 3 9 5 . Bei NS-Geschädigten soll also doch, wenn dies dem Kläger hilft, der hypothetische Entscheidungsweg des Vorgerichts und nicht die „richtige Entscheidung" nach M a ß g a b e der Verfahrensregeln des Regressgerichts eine Rolle spielen. W a r u m andere Regresskläger ohne diese „Vergünstigung" a u s k o m m e n müssen, bleibt unerfindlich. Dass der Amtsermittlungsgrundsatz
im Kind-
schaftsprozess keinen Schutzcharakter zu Gunsten einer der Parteien hat, sondern auf einem besonderen öffentlichen Interesse an der Feststellung des „wahren Sachverhalts" im Bereich des Ehe- und Kindschaftsrechts b e r u h t 3 9 6 , überzeugt als Differenzierungskriterium schon deshalb nicht, weil der B G H sich doch eigentlich gerade der Suche nach der „wahren Rechtslage" im Regressverfahren 392 393 394 395 396
BGHZ 133, 110 (115). BGH NJW-RR 1987, 898 (898). BGHZ 133, 110 (115). BGH VersR 1976,468. BGHZ 133, 110 (116).
102
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
verschreibt, wobei ihn die amtswegige Ermittlung des Sachverhalts trefflich unterstützen könnte 3 9 7 . cc) Beweislast Das deutsche Recht geht vom Grundsatz aus, dass der Kläger die Tatsachen beweisen muss, aus denen sich das Entstehen seines Anspruchs ergibt, während der Beklagte die Beweislast für die rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Tatsachen trägt 3 9 8 . Im Rahmen eines Schadenersatzanspruchs gehört die Kausalbeziehung zwischen der Handlung des Schädigers und dem Schaden zu den anspruchsbegründenden Tatsachen 399 , unabhängig davon, ob man den Anspruch auf eine deliktische oder vertragliche Grundlage stützt. Doch im Anwaltshaftungsprozess gibt es nach BGH eine Ausnahme: Der Mandant, der seinem Anwalt eine Pflichtverletzung und einen dadurch verlorenen Prozess vorwirft, soll auch im Rechtsstreit gegen den Anwalt in den Genuss etwaiger für ihn günstigerer Beweislastregeln des Vorprozesses kommen 4 0 0 . Vgl. etwa den bereits oben 4 0 1 zur Frage der Verwertbarkeit neuer Beweismittel wiedergegebenen Fall BGH, N J W 2 0 0 0 , 730: Der Arbeitnehmer, der eine Kündigung unter Hinweis auf die mangelnde soziale Rechtfertigung nach § 1 Abs. 1 KSchG angreifen will, trägt im Kündigungsschutzverfahren die Beweislast für die tatsächlichen Umstände, welche die Anwendbarkeit des KSchG stützen, weil es sich insoweit um eine anspruchsbegründende Tatsache handelt 4 0 2 . Damit gehen Unklarheiten über die Arbeitnehmerzahl des Betriebes, in dem er beschäftigt ist, zu seinen Lasten, nicht zu denen des verklagten Arbeitgebers. Diese für den Arbeitgeber günstige Beweislastverteilung setzt sich im Regressprozess fort: Will der Anwalt des Arbeitgebers einer Verurteilung zum Schadenersatz entgehen, muss er, nicht sein Mandant, beweisen, dass das KSchG aufgrund einer die 5-ArbeitnehmerGrenze überschreitenden Beschäftigtenzahl der A-GmbH ohnehin anwendbar war, sich seine Nachlässigkeit also nicht ausgewirkt h a t 4 0 3 .
Der BGH begründet dies damit, der Mandant dürfe nicht allein deshalb schlechter stehen, weil im Rahmen des Regressprozesses der hypothetische Sieg im Vorprozess eine notwendige Voraussetzung für die Bejahung eines Schadens darstellt 404 . Anders ausgedrückt: Nur durch Übernahme der Beweislastregeln des Vorprozesses könne der Mandant im Wege des Schadenersatzes tatsächlich so gestellt werden, wie er ohne das zum Schadenersatz verpflichtende Verhalten des
3 9 7 Für die Anwendung des Untersuchungsgrundsatzes im Regressverfahren, wenn er im Ausgangsverfahren maßgeblich war, Staudinger/Schiemann, § 249 Rdnr. 74. 3 9 8 Statt aller Zeiss, Zivilprozessrecht, Rdnr. 462; Musielak, Grundkurs ZPO, Rdnr. 414. 399 Palandt/Thomas, vor § 2 4 9 Rdnr. 162 m.w.N. 4 0 0 Zuletzt BGH VesR 2001, 638 (640). 4 0 1 S. 98. 4 0 2 Vgl. BAG AP § 611 BGB Hausmeister Nr. 1. 4 0 3 BGH NJW 2000, 730 (733). 4 0 4 BGHZ 133, 110 (115).
§3
Anwaltshaftung
103
A n w a l t s im Vorprozess gestanden h a b e n w ü r d e 4 0 5 . Ein durchaus verräterisches A r g u m e n t , denn v o m Z i e l , den dem M a n d a n t e n tatsächlich entstandenen Schaden auszugleichen, h a t sich der B G H durch sein P o c h e n auf eine Regressentscheidung n a c h der „ w a h r e n R e c h t s l a g e " und a n h a n d der dem Regressgericht faktisch und rechtlich zur Verfügung stehenden Beweismittel eigentlich längst verabschiedet: W i e der M a n d a n t nach der Einschätzung der „ o b j e k t i v e n " R e c h t s und Tatsachenlage durch das Regressgericht stehen
müsste,
soll doch das M a ß
der D i n g e sein. W e n n der B G H für die Frage der Beweislast eine andere Perspektive fordert, so ist das im Ergebnis zu begrüßen. N u r müsste er eine solche Ausn a h m e nicht kreieren, würde er dem Regressgericht gestatten, im R a h m e n der „ g e w ö h n l i c h e n " Differenzhypothese stets d a n a c h zu fragen, wie das Verfahren v o r dem Ausgangsgericht o h n e den Anwaltsfehler ausgegangen w ä r e . In diesem Fall k ö n n t e und müsste es o h n e weiteres die diesen Ausgang m i t b e s t i m m e n d e n Beweislastregeln des Ausgangsgerichts in seine Überlegungen a u f n e h m e n 4 0 6 . Der BGH kommt hingegen aufgrund seines abweichenden Ansatzes auch beim entsprechenden Problem im Rahmen der Prüfung des Mitverschuldens wegen Verletzung der Schadensminderungspflicht des § 2 5 4 Abs. 2 S. 1 2. Alt. BGB in Schwierigkeiten. Hat das Regressgericht darüber zu entscheiden, ob dem Mandanten anspruchsmindernd entgegengehalten werden kann, dass ein von ihm nach der Trennung vom mangelhaft arbeitenden ersten Anwalt eingeschalteter neuer Rechtsberater es unterlassen hat, einen Rechtsbehelf einzulegen, so muss es sich über dessen hypothetischen Erfolgsaussichten Rechenschaft ablegen. Gibt es im Rahmen dieses Verfahrens Beweislastregeln, die tatsächliche Zweifel zugunsten des Mandanten ausgeräumt und dem Rechtsmittel zu einem Erfolg verholfen hätten, schmälern sie den Schadenersatzanspruch gegen den ersten Anwalt. So möchte auch der BGH entscheiden, stößt dabei aber auf das Problem, dass er im Zusammenhang mit der Anspruchsbegründung im Regressprozess das als Ausnahme konzipierte Prinzip des Gleichlaufs zwischen der Beweislast des Ausgangs- und des Regressverfahrens damit begründet hatte, dass der Mandant im letzteren nicht schlechter gestellt werden dürfe als im ersteren. Der BGH weiß sich nun nicht anders zu helfen als mit der unbegründeten Behauptung, „ [d]as Gleiche gilt aber auch umgekehrt" 4 0 7 . Damit hat er sicher recht, 4 0 5 Vgl. BGHZ 30, 226 (232) - Das Ziel ist der Nachweis, „daß der Vorprozeß bei durchgeführter Berufung für den Kläger gewonnen worden wäre". 4 0 6 Insoweit richtig etwa noch OLG Celle NJW 1958,1590 (1591): Im Schadenersatzprozess gegen den beurkundenden Notar wegen des von diesem versäumten Antrags auf gerichtliche Entscheidung gegen die Ablehnung der Genehmigung des Verkaufs einer Wiesenfläche durch die untere Landwirtschaftsbehörde hat das Regressgericht bei der „nach § 287 [ZPO] ergehend e ^ ] Entscheidung" zu berücksichtigen, dass das Landwirtschaftsgericht „von Amts wegen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen und geeigneten Beweis zu erheben hat (... § 9 LwVG, $13 FGG)." 4 0 7 BGH NJW 2001, 2169 (2170). In dieser BGH-Entscheidung ging es um die Frage, ob dem wegen einer Pflichtverletzung des beklagten Steuerberaters überhöht besteuerten Mandanten anspruchsmindernd anzulasten war, dass der nach Ablösung des Beklagten beauftragte neue Steuerberater es versäumt hatte, einen Änderungsantrag nach § 174 Abs. 1 AO zu stellen. Ob Letzterer dies überhaupt noch fristgerecht hätte machen können, hing vom streitigen Zeitpunkt ab, in dem die fraglichen Steuerbescheide dem Mandanten (über den beklagten Steuerberater) bekannt gegeben worden waren. Im hypothetischen Steuerrechtsstreit über den Abänderungs-
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
wirft aber zugleich die Frage auf, warum es ihm im Zusammenhang mit Rechtsfragen nicht interessiert, ob der Mandant durch die Suche des Regressgerichts nach dem, was ihm „von Rechts wegen zukommt", besser oder schlechter gestellt wird als bei Beantwortung der Kausalitätsfrage.
c) Die „richtige Entscheidung" Vollstreckung
und die Aussicht auf
erfolgreiche
Der Anwalt, der pflichtwidrig einen günstigen Vollstreckungstitel vereitelt, verursacht keinen Schaden, wenn und soweit dieser Titel wegen der Vermögenslosigkeit des Vollstreckungsschuldners oder aus sonstigen Gründen ohnehin nicht zur Befriedigung seines Mandanten geführt hätte 408 . Das sieht auch die Rechtsprechung nicht anders 409 . Da sie aber ansonsten nicht auf den hypothetischen Verlauf des Vorprozesses ohne den Anwaltsfehler, sondern unter Missachtung der „historischen" Kausalfrage auf die „richtige" Entscheidung aus der Sicht des Regressgerichts abstellen will, erzeugt sie einen merkwürdigen Mix: Zu prüfen ist danach, ob ein hypothetisches Urteil, dessen Inhalt sich allein aus der heutigen Perspektive des Regressgerichts unter Rückgriff auf alle diesem zur Verfügung stehenden Beweismittel, ungeachtet der Sicht des und der Beweislage für das Vorgericht ergeben soll, in der historischen Situation des Vorprozesses vollstreckbar gewesen wäre. Hier wird zusammengefügt, was nicht zusammen gehört - ist für die Vollstreckbarkeit die Suche nach der historischen „Wahrheit" der richtige Ansatz, gilt dies auch für den Inhalt des Urteils, das es zu vollstrecken gegolten hätte. II. Fehler des Anwalts in der außergerichtlichen Beratung Zweifel über die Folgen eines anwaltlichen Fehlers in der außergerichtlichen Beratung seines Mandanten kann man nicht einfach mit dem Hinweis auf die „objektive" Rechts- und Faktenlage übergehen. Der Mandant oder eine dritte Person sind nicht „von Rechts wegen" zu einer bestimmten Reaktion auf den hypothetischen richtigen Rat des Anwalts verpflichtet. Es müssen deshalb andere Lösungen gesucht werden. Nach den Erfahrungen im Arzthaftungsrecht läge es auf ersten Blick nahe, wenn die Gerichte ihr Heil bei „groben" Pflichtverletzungen des Anwalts oder bei einem „Anfängermandat" in einer Beweislastumkehr suchantrag hätte die Finanzbehörde den Zeitpunkt der Bekanntgabe beweisen müssen. Dies wirkt sich im Regressverfahren zugunsten des beklagten Steuerberaters aus: „Wenn im vorliegenden Fall seinerzeit die schadensmindernde Maßnahme Erfolg gehabt hätte, weil das Finanzamt den Zugang des Bescheids nicht hätte beweisen können, darf der Kl. im jetzigen Regressprozess nicht davon profitieren, dass der verklagte Steuerberater nicht beweisen kann, dass ihm der Bescheid nicht zugegangen war" (2170). 4 0 8 Vgl. Heinemann, NJW 1990, 2345 (2349). 4 0 9 Etwa BGH NJW 1986, 246 (247); BGH NJW 1993, 734; OLG Köln VersR 2001, 333 m.w.N.
§3
Anwaltshaftung
105
ten. D a dieser Weg tatsächlich nicht beschritten wird (unten 1.), gewinnt die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Anscheinsbeweises (2.) und nach den Auswirkungen des abgesenkten Beweismaßes des § 2 8 7 Z P O (3.) besonderes Gewicht.
1.
Beweislastumkehr
a) Der „grobe"
Fehler
N i c h t nur Ärzte, auch Anwälte können Fehler begehen, die ihnen „schlechterdings nicht unterlaufen" dürften. Vermutlich wären sich die Gerichte bei ihrer Einschätzung hier sogar wesentlich sicherer als bei den Medizinern, sind sie doch in juristischen Dingen nicht darauf angewiesen, dass sie ein Sachverständiger über den anzulegenden M a ß s t a b berät. D e n n o c h wird für das Anwaltshaftungsrecht eine Beweislastumkehr nach M u s t e r des groben Behandlungsfehlers von den Gerichten einhellig v e r w o r f e n 4 1 0 . Der IX. Senat des B G H begründet dies im Anschluss an die Wiedergabe der Rechtsprechung des VI. Senats so: „Im Anwaltshaftungsprozeß befindet sich der Mandant nicht in einer [mit dem Arzthaftungsprozess] vergleichbaren Lage. Es ist schon nicht erkennbar, daß das Schadensrisiko des Auftraggebers sich bei groben Pflichtverletzungen des Anwalts im Vergleich zu sonstigen Fehlern deutlich erhöht. Der Anwaltsvertrag wird häufig so sehr von den Einzelheiten des konkreten Lebenssachverhalts geprägt, daß derselbe Fehler je nach den Umständen als eine leichte, mittlere oder grobe Verletzung vertraglicher Pflichten erscheinen kann. Die Bewertung des Fehlers im Einzelfall besagt aber in der Regel nichts darüber, in welchem Maße er geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Dazu sind die in Betracht kommenden Sachverhalte zu vielfältig und die jeweils einschlägigen Rechtsnormen nach Bedeutung, Gehalt und Wirkung zu unterschiedlich ausgestaltet. Die jeweilige Situation des Mandanten ist vielmehr maßgeblich von den Besonderheiten des konkreten Rechtsfalls geprägt. Dem entspricht eine typisierende Betrachtungsweise, wie sie mit einer strikten Beweislastregel zum Ausdruck käme, nicht. Der Mandant ist dem Anwalt zudem nicht in solch existentieller Weise ausgeliefert wie in vielen Fällen der Patient, der sich in die Behandlung eines Arztes begibt. Infolgedessen ist für den Mandanten die Aufklärung des Sachverhalts nicht typischerweise mit den Schwierigkeiten verbunden, denen sich ein geschädigter Patient in aller Regel ausgesetzt sieht. Im Gegenteil bestimmen Ereignisse oder Überlegungen aus der Lebenssphäre des Mandanten nicht selten den entscheidungserheblichen Lebenssachverhalt wesentlich. Auch bei grober Pflichtverletzung des Anwalts wäre es aber ... nicht sachgerecht, die Beweislast in einem Bereich umzukehren, der oftmals von Ereignissen oder Entscheidungen geprägt wird, die dem Berater nicht näher bekannt sind und auf die er keinen Einfluß hat, weil sie ganz in der Sphäre seines Vertragspartners liegen. Daher findet auch bei groben 4 1 0 BGH NJW 1988, 200; BGHZ 126, 221; OLG Karlsruhe, VersR 1978, 852; Fischer (Mitglied des für das Anwaltshaftungsrecht zuständigen BGH-Senats), NJW 1999, 2993 (2996). Wohl eher ein Ausrutscher ist ein Kostenbeschluss des OLG Köln (NJW 1984, 222), nach dem die vom Anwalt pflichtwidrig verzögerte Einleitung der Vollstreckung unter dem Gesichtspunkt der „Beweisvereitelung" (!) zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich des von diesem Fehler verursachten Schadens führen soll.
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Vertragsverletzungen rechtlicher Berater hinsichtlich der Frage, wie sich der Auftraggeber im Falle vertragsgemäßer Leistung verhalten hätte, keine Beweislastumkehr s t a t t " 4 1 1 .
Hinter diesen Worten des IX. Senats verbirgt sich eine schallende Ohrfeige für die das Arzthaftungsrecht bearbeitenden Kollegen des VI. Senats. Jedes einzelne der vorgebrachten Argumente ist kein Grund gegen die Übernahme der arzthaftungsrechtlichen Beweislastumkehr bei einem groben Pflichtverstoß ins Anwaltsrecht, sondern ein Schlag gegen dieses Konzept überhaupt 412 . Grobe Fehler sind schwer zu definieren und noch schwerer von anderen abzugrenzen; ein grober Fehler erhöht nicht das Schadensrisiko, weil die Bewertung eines Fehlers als grob, leicht oder mittelschwer nichts darüber aussagt, in welchem Maße er geeignet ist, den Schaden zu verursachen; der unklare Kausalverlauf ist nicht der Sphäre des Anwalts 413 respektive Arztes zuzuordnen - all dies sind Argumente, die dem Leser dieser Arbeit bereits als grundsätzliche Einwände gegen die Beweislastumkehr im Arzthaftungsrecht bekannt sind. Im Anwaltshaftungsrecht treten die Kritikpunkte allenfalls deutlicher hervor, wie die kräftigen Worte von Borgmann/Haug belegen, wenn auch in ihnen zu Unrecht der „grobe Fehler" mit „grobem Verschulden" gleichgesetzt wird: ,,[B]ei der Art von Anwaltsfehlern wäre es offensichtlich absurd, die Beweislast nach dem Grade des Verschuldens zu ändern: Ob der Anwalt leicht oder grob fahrlässig die Berufungsfrist versäumt oder den Anspruch verjähren lässt oder den falschen Beklagten verklagt, hat auf die Kausalfrage, ob die Berufung Erfolg gehabt hätte, der Anspruch berechtigt gewesen wäre oder die Verfahrenskosten zum Schaden gehören, überhaupt keinen Einfluss." 4 1 4
Nur der Hinweis des BGH darauf, dass der Mandant dem Anwalt nicht ebenso „existentiell" ausgeliefert sei wie der Patient dem Arzt, legt eine Differenzierung zwischen Arzt- und Anwaltsrecht nahe 415 - und ist doch wenig tragfähig, selbst wenn man einen Moment beiseite lässt, dass die Rechtsprechung in der Vergangenheit nicht nur Schwimmmeister 416 , sondern auch Badefrauen 417 und Würstchenverkäufer418 den Ärzten beigestellt und schon von daher Zweifel gesät hat, BGHZ 126, 217 (223). So auch Ziegler, J R 2002, 265 (268f.); Teske, J Z 1995, 472 (474). 4 1 3 Ebenso bereits zuvor OLG Koblenz VersR 1978, 852 und BGHZ 123, 311 (316): „Der rechtliche Berater wäre zudem unbillig benachteiligt, wenn er die zu seinen Lasten gehende Vermutung nur durch den vollen Gegenbeweis entkräften könnte, weil er dann häufig Tatsachen beweisen oder widerlegen müßte, die ganz oder vorwiegend im Einfluß- und Kenntnisbereich seines Auftraggebers liegen. Damit wäre er in aller Regel überfordert, so daß eine zugunsten des Mandanten geltende Vermutung im Ergebnis praktisch unwiderlegbar wäre." 414 Borgmann/Haug, Anwaltshaftung, §45 Rdnr.24. 4 1 5 Ähnlich auch BGH NJW 1973, 1688 für die Beweislastverteilung im Rahmen eines Werbeagenturvertrages. 416 BGH NJW 1962, 959. 417 OLG Frankfurt VersR 1984, 166. 418 OLG Köln 1970, 229. 411 412
$3 Anwaltshaftung
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dass sie das schicksalhafte Ausgeliefertsein als Unterscheidungskriterium wirklich ernst meint. Denn jedenfalls ist weder die Unterstellung gerechtfertigt, dass jedes gesundheitliche Problem, dessentwegen der Patient einen Arzt aufsucht, seine Existenz bedroht, noch trifft die Umkehrung zu, dass Rechtsstreitigkeiten niemals von existentieller Bedeutung für den Mandanten sind. Der prozentuale Anteil von Sachverhalten, die für den Betroffenen in ihrer persönlichen Lebensführung überragende Bedeutung haben, mag bei Gesundheitsfragen größer als bei einem juristischen Streit sein. Das allein rechtfertigt aber nicht, alle arztrechtlichen Fälle (und nur diese) mit der plakativen Parole vom Schutz des „Lebens und der Gesundheit" 4 1 9 einer Sonderbehandlung zu unterziehen 4 2 0 , zumal beweisrechtliche Sonderregeln im Haftungsprozess ohnehin nicht mehr „Leben und Gesundheit" retten, sondern nur noch für einen finanziellen Ausgleich für bereits eingetretene Schäden sorgen können. Warum es diesen im Arzthaftungsrecht leichter als bei anderen Dienstleistungen geben soll, harrt noch der Begründung. b) Das
„Anfängermandat"
Nicht übernommen werden in der anwaltshaftungsrechtlichen Praxis auch die Grundsätze zur Beweislastumkehr bei der Anfängeroperation, obwohl auf den ersten Blick gerade dies eines gewissen Reizes nicht entbehrt: Die Gefahr, dass man als hilfesuchender Mandant an einen für die spezielle Frage nicht hinreichend qualifizierten und dennoch nicht überwachten Anfänger gerät, dürfte auf der Grundlage des heutigen Juristenausbildungssystems, das mit der Uberwindung des 2. Staatsexamens - und sei sie noch so mühevoll gewesen - jedem Volljuristen attestiert, in allen juristischen Fragen bewandert zu sein und diese nach Zulassung zur Anwaltschaft selbständig bearbeiten zu können, ungleich höher liegen als bei dem eine fachärztliche Zusatzausbildung benötigenden medizinischen Nachwuchs. Dennoch liegt genau darin das Hindernis: Weil das System keine graduelle Heranführung des Juristen an eine selbständige Fallbearbeitung vorsieht, sondern die Fähigkeit hierzu mit erfolgreichem Abschluss des Referendariats voraussetzt, kann die mangelnde Überwachung eines examinierten und zugelassenen Junganwalts als solche weder diesem selbst noch der ihn etwaig beschäftigenden Anwaltskanzlei zum Vorwurf gereichen. Das „Anfängermandat" ist also schon aus diesem Grunde anders als die „Anfängeroperation" kein haftungsverschärfender Topos.
4 1 9 So die suggestive Formulierung des OLG Karlsruhe, VersR 1978, 852; ähnlich BGH NJW 1 9 8 8 , 2 0 0 (203). 4 2 0 Ebenso Poll, Die Haftung der Freien Berufe, 158: Es kann mangels eines relevanten Entscheidungskriteriums beweisrechtlich keinen Unterschied machen, ob durch eine grobe Pflichtverletzung Leben, Körper und Gesundheit oder das Vermögen bedroht werden.
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2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Wenn man, wie hier mehrfach betont, der Beweislastumkehr bei einem groben Behandlungsfehler und bei der Anfängeroperation im Rahmen des Arztrechts kritisch gegenübersteht, ist man geneigt, die restriktivere Haltung der Rechtsprechung für die Anwaltshaftung zu begrüßen. Überzeugendere Lösungen für Kausalitätsprobleme finden die Gerichte allerdings auch in diesem Rahmen nicht. 2. Der Anscheinsbeweis a) Der „vernünftige"
„beratungsgerechten"
Verhaltens421
Mandant
Wird dem Anwalt vorgeworfen, seinem Mandanten eine falsche Rechtsauskunft und, auf dieser aufbauend, einen falschen Rat erteilt zu haben, kann der Letztere nur dann erfolgreich Schadenersatz beanspruchen, wenn er dem richtigen Rat, der Schlimmeres hätte verhindern können, gefolgt wäre. Nun gibt es viele Möglichkeiten, wie der Mandant auf eine Handlungsempfehlung seines Anwalts reagieren kann; oft sind dabei nicht nur Faktoren in die Abwägung einzubeziehen, die dem juristisch geschulten Beobachter relevant erscheinen. Der BGH spricht es deutlich aus: „Das Feld der in Betracht kommenden Rechtsfragen ist praktisch unübersehbar; deren Bedeutung wird oft maßgeblich von Umständen aus der Sphäre des Ratsuchenden geprägt, die geeignet sind, die von ihm zu treffenden Entschließungen wesentlich mitzubestimmen « 422 .
Einleitend zu diesem Kapitel wurde deshalb auch bemerkt, dass die Figur des Anscheinsbeweises in Ermangelung „typischer" Geschehensabläufe bei individuellen Willensentschlüssen keine große Rolle spielen könne. Diese Aussage muss nun partiell korrigiert werden, denn der BGH wischt grundsätzliche Zweifel an der Eignung des Anscheinsbeweises in Anwaltshaftungsfragen rasch beiseite: Sie kann nach seiner Auffassung auf der Basis tatsächlicher Feststellungen eingesetzt werden, „die im Falle sachgerechter Aufklärung durch den rechtlichen Berater aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegt hätten" 4 2 3 .
Der Charakter des Anscheinsbeweises wird dadurch klammheimlich verändert. Soll er eigentlich den Schluss auf die Kausalität im konkret zu beurteilenden Fall ermöglichen - was hier dem Nachweis der individuellen Verhaltensweise des klagenden Mandanten entsprechen würde kommt es nach der vom BGH gepräg4 2 1 Ausführliche Darstellung des Anscheinsbeweises in der anwaltshaftungsrechtlichen Praxis bei Mätzig, Anwaltshaftungsprozeß, 96 ff. 4 2 2 BGHZ 123, 311 (316). 4 2 3 BGHZ 123, 311 (314f., Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. weiterhin etwa BGH FamRZ 1998, 362 (363); BGHZ 89, 103.
Anwaltshaftung
109
ten Formel nur noch darauf an, wie sich ein „vernünftiger" M a n d a n t verhalten hätte. Der eigentlich notwendige, aber eben nicht leicht zu begründende zweite Schritt, dass gerade auch der Anspruchsteller der Einsicht eines vernünftigen M a n d a n t e n gefolgt wäre, fällt unter den Tisch. D e r sichere Nachweis der Kausalität im konkreten Fall wird ersetzt durch den Nachweis einer möglichen, vielleicht immerhin wahrscheinlichen Kausalität (gehörte der M a n d a n t zur Kategorie der „Vernünftigen", wäre er dem R a t gefolgt). Interessant ist, dass die Rechtsprechung im Rahmen der Arzthaftung für Aufklärungspflichtverletzungen diese Verkürzung ausdrücklich ablehnt. Hier gibt, wie dargestellt, nicht der „vernünftige Patient" den Ausschlag, sondern wird der Nachweis gefordert, dass gerade der betroffene Patient in seiner konkreten Lage auch bei umfassender Aufklärung über die Risiken des Eingriffs eingewilligt hätte; nur im Rahmen der Bewertung des „echten Entscheidungskonflikts" dieses konkreten Patienten kommt eine objektive Vernünftigkeitskontrolle ins Spiel. Die Begründung, die der B G H für sein Vorgehen im R a h m e n der Anwaltshaftung gibt, greift zu kurz: So richtig es ist, dass der M a n d a n t den Rechtsberater gewöhnlich in der Absicht aufsucht, die für sich selbst günstigste Lösung in einer rechtlichen Angelegenheit zu f i n d e n 4 2 4 , so wenig steht damit fest, dass diese Entscheidung auch diejenige ist, die bei vernünftiger
Betrachtungsweise sinnvoll er-
scheint. Dafür mag, wenn dem Anwalt nicht der Beweis entgegenstehender Umstände gelingt, eine gewisse Wahrscheinlichkeit sprechen - die Gewissheit, die § 2 8 6 Z P O meint und der Anscheinsbeweis nach Ansicht der Gerichte bringen soll, wird damit nicht erreicht. Es gibt keinen allgemein gültigen Erfahrungssatz, aus dem sich sicher ableiten ließe, dass ein bestimmter M e n s c h sich in einem k o n kreten juristischen Streitfall „ n o r m a l " oder „vernünftig" verhalten h ä t t e 4 2 5 . Die Chancen und Risiken, die eine vom Anwalt vorgeschlagene Vorgehensweise birgt, werden von jedem anders empfunden und gewichtet und Handlungsentschlüsse nach individuellen, letztlich nicht nachprüfbaren Wertungen getroffen. Mätzig, der dies im Grundsatz ebenso sieht 4 2 6 , möchte den Gerichten dennoch zu Hilfe eilen. Er meint, dass ihnen in dieser Situation „überhaupt keine andere Wahl" bliebe, als das hypothetische Verhalten des pflichtgemäß beratenden Mandanten vom Standpunkt des abzulei„vernünftig urteilenden Mandanten" als bestmöglichen tertium comparationis ten 4 2 7 . Das allerdings überzeugt nicht: Wenn die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einsatz des Anscheinsbeweises nicht gegeben sind, kann die Lösung kaum darin liegen, einfach die Tatbestandsmerkmale zu verkürzen. Die richtige Erkenntnis wäre, dass in diesen Fällen der Anscheinsbeweis schlichtweg nicht weiterhilft. Es bleibt das Fazit: Der Anscheinsbeweis wird mit dem Hebel des „vernünftigen M a n d a n t e n " zu einem Mittel der versteckten (und § 2 8 6 Z P O widersprechen424 425 426 427
BGHZ 123, 311 (316). Stodolkowitz, VersR 1994, 11 (14). Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 113. Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 113.
110
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
den) Beweismaßsenkung. Es soll ausreichen, dass der M a n d a n t vielleicht oder sogar „wahrscheinlich" eine bestimmte R e a k t i o n auf den richtigen anwaltlichen R a t gezeigt hätte. Weil diese Beweismaßsenkung nicht offen angesprochen wird, wird auch keine Begründung geliefert, w a r u m nur der Auftraggeber eines Anwalts - und dieser auch nur in einer bestimmten Konstellation - von ihr profitieren d a r f 4 2 8 . b) Mehrere
„vernünftige"
Reaktionsmöglichkeiten
des
Mandanten
Beruhigend ist allerdings, dass viel Schaden mit dieser großzügigen Anwendung des Anscheinsbeweises nicht angerichtet wird. Die Figur des „beratungsgemäßen Verhaltens" setzt voraus, dass bei vertragsgerechter Information durch den Anwalt nur ein ganz konkreter R a t sinnvoll erscheinen konnte, den der „vernünftige" M a n d a n t dann in die Tat umgesetzt h ä t t e 4 2 9 . Der Anscheinsbeweis eignet sich deshalb auch v o m Standpunkt des B G H aus dann nicht, wenn im Falle richtiger Aufklärung mehrere, v o m Ansatz her gleichwertige, aber mit unterschiedlichen Folgen verbundene Möglichkeiten vernünftigen Verhaltens bestanden h ä t t e n 4 3 0 . So liegt es, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht k o m men und sämtliche gewisse Risiken in sich bergen, die zu gewichten und gegen die entsprechenden Vorteilen abzuwägen s i n d 4 3 1 . BGH BB 1 9 9 9 , 2 8 7 : Der Steuerberater sollte seinen Mandanten darüber beraten, wie nach Beendigung einer gewerblichen Tätigkeit die Aufdeckung und Besteuerung stiller Reserven als Aufgabegewinn hätte vermieden werden können. Die von ihm genannten beiden Möglichkeiten schieden aus tatsächlichen Gründen aus oder waren mit erheblichen rechtlichen Risiken behaftet. Letzteres galt aber auch für einen dritten Weg, den zu erläutern er versäumt hatte. Wegen dieser Unwägbarkeiten wäre das Einschlagen dieses Weges nicht die einzige „vernünftige" Entscheidung gewesen und blieb die Pflichtverletzung für den 4 2 8 Vgl. dazu Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 388, der konsequenterweise den Anscheinsbeweis der Kausalität generell als einen Fall der „Herabsetzung der Wahrscheinlichkeitsanforderungen" ansieht. Die Gerichte haben sich freilich zu diesem Ansatz noch nicht bekannt. 4 2 9 Vgl. BGH NJW 2002, 593 (594); BGH NJW-RR 2001, 1351 = WM 2001, 741; BGHZ 123, 311 (314) = NJW 1993, 3259; Fischer, in: Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung, Rdnr. 1057. 4 3 0 Vgl. BGH NJW-RR 2003, 1569; BGH NJW 2002, 593 (594); BGH NJW 1981, 630 (632); BGH NJW 1988, 200 (203); BGH NJW 1989, 2320 (2321). 4 3 1 BGH NJW-RR 2003, 1498 (1499); BGH NJW 1992, 3237 (3241) je zur Notarhaftung; BGHZ 123, 311 (319); OLG Karlsruhe MDR 2001, 1140 (1141); OLG Düsseldorf NJOZ 2003, 501 (Steuerberater). Unhaltbar OLG Düsseldorf NJW-RR 2003, 1071 (1073), das einen Anscheinsbeweis dafür annahm, dass sich der Mandant des Steuerberaters bei sachgemäßer Beratung zu einem Kirchenaustritt entschlossen hätte, da dies die einzig Lösung war, durch die er sich der ihm nach einer Gewinnausschüttung drohenden Kirchensteuerlast hätte entziehen können- „außerwirtschaftliche" Gesichtspunkte, die bei der Entscheidung über einen Kirchenaustritt seien, so das Gericht, beim Anscheinsbeweis beratungsrechten Verhaltens nicht zu berücksichtigen sein.
§3
Anwaltshaftung
111
Steuerberater mangels einer per Anscheinsbeweis nachgewiesenen Kausalbeziehung zwischen ihr und der Steuerbelastung des Mandanten folgenlos. Folglich hilft der Anscheinsbeweis insbesondere d a n n nicht, w e n n der R e c h t s a n w a l t seinen M a n d a n t e n im Z u s a m m e n h a n g mit einem Vertrags- oder Vergleichsschluss beraten sollte. H i e r muss der A n w a l t d e m M a n d a n t e n keine bestimmte Entscheidung n a h e legen, sondern ihn „ n u r " in die Lage versetzen, eigenverantw o r t l i c h darüber zu entscheiden, wie er seine Interessen in rechtlicher und wirtschaftlicher H i n s i c h t bestmöglich zur Geltung b r i n g t 4 3 2 . Abgesehen von E x t r e m fällen wird es dabei nicht nur eine R e a k t i o n des M a n d a n t e n g e b e n , die „berat u n g s g e r e c h t " w ä r e - jeder Vergleich, jede vertragliche Bindung hat ein Für und Wider. D a m i t scheidet der Anscheinsbeweis gerade in den k o m p l e x e r e n , für A n w a l t s fehler anfälligen K o n s t e l l a t i o n e n häufig aus. So hat denn a u c h der B G H seine o b e n dargestellte Linie zur A n w e n d u n g des Anscheinsbeweises a n h a n d eines Falles entwickelt, in dem er ihn letztlich nicht
als erfolgreich geführt a n s a h .
Der beklagte Steuerberater, der die Klägerin über die einkommenssteuerlichen Folgen einer Auseinandersetzungsvereinbarung im Zusammenhang mit ihrem Ausscheiden aus zwei Gesellschaften aufklären sollte, gab rechtsirrig die zu erwartende Belastung mit D M 8.800 an; das Finanzamt ging im bestandskräftigen Einkommenssteuerbescheid um über D M 1 1 5 . 0 0 0 darüber hinaus. Die Klägerin konnte diese Summe nur dann als Schadenersatz liquidieren, wenn die Belastung bei richtiger Beratung vermieden worden wäre. Zwar behauptete die Klägerin, dass sie auf das Angebot der Auseinandersetzung nicht eingegangen und als stille Gesellschafterin in beiden Gesellschaften verblieben wäre, hätte sie der Beklagte zutreffend informiert. Der BGH konnte hingegen nicht feststellen, dass es für einen „vernünftig urteilenden Mandanten" nur diese Lösung gegeben hätte. Auch unter Berücksichtigung der tatsächlichen steuerlichen Belastung hatte die Klägerin durch die Auseinandersetzungsvereinbarung geldwerte Zuwendungen in Höhe von immerhin etwa D M 3 2 5 . 0 0 0 erhalten. Sie hatte zudem selbst vorgetragen, es sei ihr Wunsch gewesen, die im Übrigen durch einen persönlichen Zwist zwischen den Anteilseignern belastete Gesellschaft zu verlassen, weil sie eine Familie habe gründen wollen. Man konnte es unter diesen Umständen auch als „vernünftig" ansehen, in Kenntnis der steuerlichen Folgen am Ausscheiden festzuhalten 433 . Damit schied der Anscheinsbeweis für einen Ursachenzusammenhang zwischen der falschen Information des Steuerberaters und dem Schaden der Mandantin aus. c)
Billigkeitsentscheidungen
Gelegentlich allerdings entfernen sich die Gerichte von dieser Linie, o h n e dass erk e n n b a r wird, w a s sie außer dem Bestreben n a c h einer „billigen" L ö s u n g zugunsten der s c h w ä c h e r e n Partei dazu bewegt. W i e im Arzthaftungsrecht treten dogmatische E r w ä g u n g e n zurück, w e n n einer offensichtlich hilfsbedürftigen 4 3 2 BGH NJW 1993, 1325 (1326); Sieg, in: Zugebör, Rdnr.771 m.w.N. 4 3 3 BGHZ 123, 311 (319).
Handbuch der Anwaltshaftung,
112
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Person auf K o s t e n der Haftpflichtversicherung des A n w a l t s zu helfen ist; wie der „ g r o b e " Behandlungsfehler im Arzthaftungsrecht wird das S c h l a g w o r t v o m „ber a t u n g s g e r e c h t e n " Verhalten zuweilen als D e c k m a n t e l genutzt, um eine L ö s u n g zu kaschieren, die keine Basis im Gesetz hat, sondern im W u n s c h der R i c h t e r zu helfen. Ein Beispiel liefert ein BGH-Urteil aus jüngster Zeit 4 3 4 . Die nicht erwerbstätige, von ihrem Ehemann getrennt lebende und Sozialhilfe beziehende Klägerin war bei einem auf das alleinige Verschulden des Unfallgegners zurückzuführenden Verkehrsunfall schwer verletzt worden und sitzt seither mit einem Behinderungsgrad von 1 0 0 % im Rollstuhl. Ihr Sohn, der zum Unfallzeitpunkt knapp zwei Jahre alt war und nicht vom Ehemann abstammt, ist seit Geburt ebenfalls schwerbehindert und wurde bereits vor dem Unfall in einer Pflegestelle betreut. Nach dem Unfall nahmen die Klägerin und ihr Ehemann die eheliche Gemeinschaft wieder auf. Der beklagte Anwalt vertrat die Klägerin bei den Verhandlungen mit der gegnerischen Haftpflichtversicherung über Schmerzensgeld und Ersatz materieller Schäden. Er erreichte zunächst einen Vorschuss auf das Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt D M 5 0 . 0 0 0 und bemühte sich dann um eine abschließende Regulierung. Die Versicherung bot schließlich eine restliche Schmerzensgeldzahlung von weiteren D M 4 6 . 0 0 0 gegen eine umfassende Abfindungserklärung an, von deren Wirkung nur etwaige weitere immaterielle Ansprüche für den Fall ausgenommen waren, dass der Klägerin unfallbedingt das linke Bein abgenommen werden müsste. Auf Anraten des Beklagten unterzeichnete die Klägerin diese Erklärung. Der Anwalt hatte es dabei versäumt, seine Mandantin darüber aufzuklären, dass sie damit auch auf den Ersatz ihres Erwerbsschadens (nach § 843 Abs. 1 BGB) verzichtete; als solcher kam der Wegfall ihrer Arbeitskraft als Hausfrau und Mutter in Betracht, durch deren Einsatz sie gem. § 1360 S.2 BGB ihre Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind und - nach Beendigung des Getrenntlebens - dem Ehegatten hätte erfüllen können 4 3 5 . D i e Klägerin hat hier sicherlich ein schweres Schicksal getroffen. D a s allein reicht a b e r nicht, um mit dem B G H a n z u n e h m e n , dass ein nicht erschütterter Anscheinsbeweis „beratungsgerechten V e r h a l t e n s " für eine A b l e h n u n g des angebotenen Abfindungsvertrages bei p f l i c h t g e m ä ß e r Beratung s p r e c h e 4 3 6 . D i e M a n d a n t i n hatte bei richtiger A u f k l ä r u n g nicht nur als gegen
die Unterschrift
sprechend zu berücksichtigen, dass ihr etwaige Z a h l u n g e n zum E r s a t z ihres Erwerbsschadens in F o r m von H a u s h a l t s f ü h r u n g s - und K i n d e s b e t r e u u n g s k o s t e n endgültig entgingen. Für die A n n a h m e des A n g e b o t s sprach auf der anderen Seite, dass sie zu diesem Z e i t p u n k t bereits zu einem h o h e n Preis eine behindertengerechte Kücheneinrichtung bestellt hatte, zu deren Bezahlung sie aus v o r h a n d e nen Finanzmitteln nicht in der Lage war. D e r B G H spekuliert zwar darüber, o b die Klägerin n o c h eine Z e i t l a n g o h n e diese K ü c h e a u s g e k o m m e n w ä r e o d e r sich die Versicherung a u f eine weitere Abschlagszahlung zumindest in H ö h e der für
BGH NJW 2002, 292. Vgl. BGHZ 38, 55 (58); BGHZ 77, 157 (160ff.); Palandt/Thomas, Rdnr.42 und §845 Rdnr.2. 4 3 6 BGH NJW 2002, 292 (294f.). 434 435
Vorbem. § 2 4 9
§3
Anwaltshaftung
113
die Küche erforderlichen Summe auch ohne Unterzeichnung der Abfindungsklausel eingelassen h ä t t e 4 3 7 . Diese Erwägungen führen aber gegen den Eindruck, den der B G H erwecken will, nicht zu einem eindeutigen E r g e b n i s 4 3 8 , sondern beschreiben allenfalls das Dilemma, in dem die Klägerin wie jede Person steckte, die ein Vergleichsangebot prüft: Wie verhält sich der Verhandlungspartner, wenn man sein Angebot ablehnt? Wird er einen günstigeren Vorschlag machen oder die gerichtliche Auseinandersetzung suchen? W i e groß ist dann die C h a n c e , durch Fortsetzung des Kampfes mehr zu erreichen? Ist ein hinter dem O p t i m u m zurück bleibender, aber schneller Vergleich in der konkreten persönlichen Situation vorzuziehen? Diese Abwägung wird noch schwieriger, wenn Zweifel über die Beweisbarkeit tatsächlicher Umstände hinzu k o m m e n , von denen die eigene Position abhängt. So konnte und musste der B G H im vorliegenden Beispielsfall zwar für die Z w e c k e des Revisionsverfahrens unterstellen, dass ohne den Unfall mit einer für § 2 5 2 S. 2 B G B hinreichenden Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen gewesen wäre, dass die Klägerin „irgendwann" einen eigenen Haushalt geführt und ihr Kind versorgt hätte, durch die Verletzungen also nicht nur ihre Arbeitsbzw. Erwerbsfäbigkeit genommen, sondern ein konkreter Ausfall an
Arbeitsleis-
tung und damit ein Erwerbsschaden verursacht w u r d e 4 3 9 . Tatsächlich aber w a r dies zweifelhaft, denn im Unfallzeitpunkt unterhielt die Klägerin jedenfalls keinen eigenen Haushalt und wurde ihr Kind in einer Pflegestelle betreut. Beides w a r nach Behauptung des Beklagten auf eine Alkoholabhängigkeit der Klägerin zurückzuführen, der ihr auch in Zukunft solche Tätigkeiten unmöglich gemacht hätten. O b der Klägerin im Streit mit der Versicherung der Beweis des Gegenteils gelungen wäre oder sie dies zumindest hätte hoffen k ö n n e n , stand und steht ebenso wenig fest wie die vorgelagerte Frage, o b sie es überhaupt auf sich hätte nehmen wollen, über diese Frage gegebenenfalls in öffentlicher Gerichtssitzung zu streiten und eine Beweisaufnahme durchführen zu lassen. Ist einer solchen unerfreulichen Aussicht nicht ein schneller Friedensschluss vorzuziehen? Diese Frage ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Und genau darauf k o m m t es an: Aus Sicht der über das Vergleichsangebot brütenden Klägerin hätte auch bei richtiger Beratung durch den Beklagten nicht festgestanden, dass die Ausschlagung des Vergleichsangebots mit Abfindungserklärung die bessere Variante gewesen wäre. M a n muss es damit nicht gleich im Gegensatz zum B G H für
wahrscheinlich
halten, dass die Klägerin den Vergleich auch bei richtiger Aufklärung geschlossen hätte. Jedenfalls aber besteht die ernsthafte Möglichkeit - und das reicht, um den auf das Gegenteil gerichteten Anscheinsbeweis ins Leere laufen zu lassen.
437 438 439
BGH NJW 2002, 292 (294). Kritisch zum BGH insoweit auch Cbab, BRAK-Mitt. 2002, 22 (23). BGH NJW 2002, 292 (293).
114 3. §287
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung
in der deutschen Praxis
ZPO
D e r A n s c h e i n s b e w e i s ist d a m i t t r o t z des z w e i f e l h a f t e n A n s a t z e s d e r G e r i c h t e beim „vernünftigen" M a n d a n t e n im R a h m e n der Anwaltshaftung für außergerichtliche Beratungsfehler jedenfalls im Regelfall kein besseres Heilmittel f ü r K a u s a l i t ä t s z w e i f e l als bei d e r A r z t h a f t u n g . Es liegt a b e r d i e V e r m u t u n g n a h e , d a s s die B e w e i s e r l e i c h t e r u n g d e s § 2 8 7 Z P O h i e r eine w e s e n t l i c h g r ö ß e r e R o l l e spielt als d o r t . D i e A n w a l t s h a f t u n g ist p r i m ä r eine v e r t r a g l i c h e H a f t u n g , die Kausalitätsbeziehung zwischen d e m Fehler des Anwalts u n d d e m Schaden des M a n d a n t e n f o l g l i c h e i n e F r a g e d e r H a f t u n g s a u s f ü l l u n g , die d a s G e r i c h t n a c h ins o w e i t einhelliger R e c h t s p r e c h u n g u n t e r d e n e r l e i c h t e r t e n B e d i n g u n g e n
des
§ 2 8 7 Z P O b e a n t w o r t e n d a r f 4 4 0 . D e n n o c h f i n d e n sich n u r w e n i g e U r t e i l e z u r A n w a l t s h a f t u n g , in d e n e n diese N o r m ü b e r K a u s a l i t ä t s p r o b l e m e h i n w e g g e h o l f e n h a t 4 4 1 . U n d d o r t , w o die Kausalität v o n d e n Gerichten ü b e r § 2 8 7 Z P O festgestellt w u r d e , b l e i b e n w i e o b e n in m a n c h e n F ä l l e n des e r f o l g r e i c h e n A n s c h e i n s b e w e i s e s e r n s t h a f t e Z w e i f e l , o b n i c h t b l o ß e Billigkeit d e r M a ß s t a b w a r - es m u s s t e „irgendwie" dem M a n d a n t e n beigestanden werden. Das gilt etwa für ein neueres Urteil des B G H 4 4 2 , in dem dieser die Sache zwar zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückwies, dieses zugleich aber unmissverständlich darauf hinwies, dass aus seiner Sicht der klägerische Vortrag für die Bejahung des Kausalzusammenhangs allemal ausreicht. In der Sache ging es um die Pflichtverletzung eines Rechtsanwalts, der in den neuen Bundesländern beratend beim Kauf eines zum Gewerbepark zu entwickelnden Grundstücks durch die öffentliche H a n d und dem anschließenden Verkauf einzelner Parzellen an verschiedene Gewerbetreibende eingeschaltet war. Die öffentliche H a n d hatte mit dem Verkäufer vereinbart, den erst nach Eigentumsübertragung fälligen Kaufpreis ab dem bereits vorher erfolgenden Nutzungsübergang zu verzinsen. Der Rechtsanwalt versäumte es, die Abwälzung dieser Kosten, die trotz eines Vergleichs mit dem Erst-Eigentümer immerhin k n a p p 10% des jeweiligen Weiterveräußerungspreises erreichten, auf die Gewerbetreibenden durch eine eindeutig formulierte Klausel in den mit ihnen geschlossenen Verträgen sicherzustellen; diese weigerten sich in der Folgezeit denn auch, entsprechenden Zahlungsaufforderungen nachzukommen. Das Berufungsgericht wies die Schadenersatzklage der öffentlichen H a n d gegen den Rechtsanwalt mit der Begründung ab, sie habe nicht schlüssig dargelegt, dass die Erwerber die Verträge auch mit der zusätzlichen Belastung durch die Nutzungsentschädigung abgeschlossen hätten; ihr späteres Verhalten spreche eher dagegen. Der BGH sah dies anders: Weil die Möglichkeit 440
Näher zum Anwendungsbereich des §287 ZPO unten S. 374ff. Z.B. BGH NJW 1986, 246: Die Schadenersatzklage gegen einen Notar beruhte auf dessen Versäumnis, die Parteien darauf hinzuweisen, dass die von ihnen gewünschte Vereinbarung insgesamt und nicht nur hinsichtlich des Angebots der notariellen Form bedurfte. Das Regressgericht durfte unter Anwendung des § 287 ZPO davon ausgehen, dass die Parteien bei richtiger Beratung die Gesamtbeurkundung hätten vornehmen lassen. Die weitere Hürde vor einem Gewinn im Regressprozess (die mögliche Zahlungsunfähigkeit des Verpflichteten) konnte mit § 287 ZPO freilich nicht übersprungen werden. Gegenbeispiel etwa OLG Düsseldorf VersR 2003, 326. 442 BGH NJW 2000, 509. 441
53
Anwaltshaftung
115
zur vorzeitigen Nutzung des Grundstücks von der öffentlichen Hand an die Gewerbetreibenden weitergegeben worden sei, sei es „nur recht und billig", dass diese auch die Verpflichtung zur Vergütung dieses Vorteils übernehmen. Im Übrigen gehe aus dem Prozessstoff nicht hervor, dass sie die zusätzlichen Kosten nicht hätten aufbringen oder finanzieren können 4 4 3 . Beides mag richtig sein, hilft aber für den Kausalitätsnachweis nicht weiter. Dass dem Gericht die Kostenabwälzung als „recht und billig" erscheint, sagt nichts darüber aus, ob die öffentliche Hand auch die Verhandlungsstärke gehabt hätte, eine mindestens 10%ige Kaufpreiserhöhung durchzusetzen - die Tatsache, dass in den neuen Bundesländern Anfang der neunziger Jahre nur die wenigsten mit der Eröffnung eines Gewerbeparks verbundenen Blütenträume gereift sind, spricht sogar eher dagegen. Und fehlende Anhaltspunkte gegen eine Finanzierbarkeit der Zusatzkosten durch die Erwerber ersetzen nicht den Vortrag von Anknüpfungstatsachen für deren finanzielle Leistungsfähigkeit, denn nur wenn diese positiv feststeht, kann darüber nachgedacht werden, ob sie auch tatsächlich eingesetzt worden wäre. Häufiger aber sehen die Gerichte auch das Beweismaß des § 2 8 7 Z P O als nicht erreicht an, wenn sie sich zuvor nicht dazu durchringen konnten, den Beweis des Ursachenzusammenhangs per nicht widerlegtem Anscheinsbeweis zu akzeptieren. Das ist in sich nur konsequent: Ist der Anscheinsbeweis mit dem Vehikel des „vernünftigen M a n d a t e n " ohne Rückschluss auf die hypothetische Entscheidung des konkreten M a n d a n t e n nach fehlerfreier anwaltlicher Beratung bei richtiger Betrachtung selbst eine verkappte Beweismaßsenkung, kann § 2 8 7 Z P O den Gerichten keine größere Hilfe sein, als sie der Anscheinsbeweis in dieser m o difizierten F o r m bietet. Deshalb wird in den Fällen, in denen die Gerichte den Anscheinsbeweis des „beratungsgerechten" Verhaltens gewogen und für zu leicht befunden haben, in der Regel gar nicht mehr der Weg über § 2 8 7 Z P O erörtert. Anderes gilt dort, w o Zweifel an der möglichen R e a k t i o n Dritter auf die hypothetische beratungsgerechte Entscheidung des M a n d a n t e n nach zutreffender Beratung die Unsicherheit über den Kausalzusammenhang begründen. In dieser Hinsicht hilft der Anscheinsbeweis von vornherein nicht und k a n n die Feststellung der Ursächlichkeit des anwaltlichen Fehlers nur über § 2 8 7 Z P O erfolgen. Vgl. BGH NJW 2 0 0 2 , 593: Den am K.-Theater der Stadt F als Opernsänger beschäftigten Kläger informierte der Intendant am 1.7. 1997 unter Hinweis auf tarifvertraglich geregelte Mitteilungspflichten vor der Beendigung eines befristeten Arbeitsvertrages mit einem Bühnenkünstler, dass sein Arbeitsvertrag über die Spielzeit 1997/98 „nicht verlängert" werden könne, weil die Sparte Musiktheater geschlossen werde. Gleichzeitig wurde ihm angeboten, entweder eine großzügige Abfindungsvereinbarung zu schließen oder eine auf 1 Vi Jahre befristete Anstellung am B.-Theater anzunehmen, letzteres unter dem Vorbehalt, dass diese Stelle zu 1 0 0 % aus von dritter Seite zur Verfügung gestellten Mittel finanziert werden könne, zugleich aber mit der Möglichkeit, danach an das K.-Theater zurückzukehren, „wenn nichts anderes vereinbart wurde". Der vom Kläger zu Rate gezogene beklagte Rechtsanwalt erklärte, dass der Kläger, falls er von der Möglichkeit der Weiterbe443
BGH NJW 2000, 509 (510).
116
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
schäftigung am B.-Theater nicht Gebrauch machen wolle, „schnellstens" der Abfindungslösung näher treten solle, weil es nach der Rechtslage einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht bedürfe. Tatsächlich aber stand der Kläger in einem auf unbefristete Zeit geschlossenen Dienstvertrag, in dem ausdrücklich festgehalten war, dass Kündigungsschutz besteht. Ob der Kläger es bei richtiger Beratung auf einen Kündigungsrechtsstreit hätte ankommen lassen, unterlag nach Ansicht des BGH der erleichterten Beweisführung per Anscheinsbeweis, sofern nach den noch näher aufzuklärenden Umständen des Falls der einzige richtige Rat des Anwalts gewesen wäre, den angebotenen Abfindungsvertrag nicht zu schließen. ,,[N]ach dem Maßstab des § 287 Z P O " 4 4 4 sollte aber zu klären sein, ob in diesem Fall tatsächlich eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zu erwarten war und wirksam gewesen wäre. Freilich haben die Gerichte bei ihren Bemühungen selten Erfolg: W e n n der Fehler des Anwalts darin bestand, eine dem M a n d a n t e n vorteilhafte Position in Vertrags- oder Vergleichsverhandlungen mit Dritten einzubringen, ist die Ungewissheit, o b sich die Gegenseite auf diese Position eingelassen hätte, k a u m zu überwinden. Z u unsicher ist in der Retrospektive, wie der Gegner die Stärke seiner Position im Verhältnis zum Verhandlungspartner eingeschätzt hat und wie stark seine Kooperationsbereitschaft und sein Willen zu einer auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigenden Einigung ausgeprägt war. Exemplarisch hierfür ein BGH-Urteil von 1 9 8 7 4 4 5 : Der Anwalt hatte einen Arbeitnehmer bei Verhandlungen mit dessen Arbeitgeber über einen Auflösungsvertrag unterstützt. Der Mandant beauftragte ihn mit der Formulierung einer Vertragsklausel, die eine von ihm (dem Mandanten) selbst mit der Gegenseite erreichte Vereinbarung widerspiegelt, wonach er ungeachtet seines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis das Ruhegeld in voller Höhe erhalten solle. Der Aufhebungsvertrag wurde mit der vom Anwalt gefundenen Formulierung unterzeichnet. Später kam es über die Höhe der Rentenansprüche des Mandanten zum Streit zwischen Arbeitgeber und (ehemaligem) Arbeitnehmer. Das befasste Arbeitsgericht entschied zu Lasten des Arbeitnehmers, weil der schriftliche Vertragstext das von ihm behauptete Verhandlungsergebnis nicht mit hinreichender Deutlichkeit wiedergebe. Im Regressprozess gegen den Anwalt scheiterte der Mandant ebenfalls, weil er den ihm obliegenden Nachweis nicht geführt hatte, dass der Arbeitgeber sich bei einer eindeutigeren Formulierung auf die Vertragsklausel eingelassen hätte. Ist hier etwa die Tatsache, dass der Verhandlungspartner schon in anderen Punkten erhebliche Zugeständnisse gemacht hat, ein Indiz dafür, dass er auch im wegen des Anwaltsfehlers ungeklärten Punkt dessen M a n d a n t e n entgegengekommen wäre - oder muss man umgekehrt den Schluss ziehen, dass die Grenze der Belastbarkeit der anderen Seite bereits erreicht ist? Die Sache wird nicht dadurch erleichtert, dass der Kläger für seine Beweisführung im Regressprozess auf das nicht unbedingt zu erwartende Wohlwollen des Gegners im Vorprozess angewiesen ist. Wie glaubwürdig wäre hier der Arbeitgeber, der sich im arbeitsgerichtlichen Verfahren unter Hinweis auf die unklare (aber auslegungsfähige) Formulie444 445
BGH NJW 2002, 593 (594). BGH JZ 1988, 656.
§ 4 Sonstige
Dienstleistungen
117
rung mit Erfolg gegen die Zahlung des vollen Ruhegehalts gewehrt hat, wenn er nun erklärt, er hätte sich bei einer präziseren Fassung der Klausel selbstverständlich auf die finanzielle Mehrbelastung eingelassen? Dass dem M a n d a n t e n durch die unklare Formulierung des Anwalts zumindest die Möglichkeit
genommen wurde, weitere Verhandlungen über die Ruhegeld-
vereinbarung mit mehr oder weniger großen Erfolgsaussichten zu führen, lässt der B G H allerdings gänzlich unberücksichtigt 4 4 6 . Dabei könnte hier, wie noch darzulegen sein wird, der Ansatz zu einer befriedigenderen Lösung liegen, die es vermeidet, die Folgen der Ungewissheit gemäß des Alles-oder-Nichts-Prinzips jeweils zur Gänze einer der Seiten des Streites aufzuerlegen.
§4
Sonstige
Dienstleistungen
Andere als ärztliche und anwaltliche Dienstleistungen erfreuen sich mit Blick auf ungeklärte Kausalzusammenhänge
nicht der gleichen Aufmerksamkeit
der
Rechtsprechung. M a g sein, dass sie weniger fehleranfällig sind oder die Feststellung der Kausalverläufe seltener Probleme aufwirft: Ein eigenes System für den Umgang mit unaufklärbaren Ursachenzusammenhängen hat die Rechtsprechung außerhalb der genannten Bereiche nicht entwickelt. Stattdessen hat sie nicht nur Krankenhauspersonal wie H e b a m m e n 4 4 7 , sondern auch Schwimmmeister 4 4 8 und Badefrauen in einem K u r h o t e l 4 4 9 in das arzthaftungsrechtliche Schema einbezogen und eine Beweislastumkehr bei einem groben Verstoß gegen deren jeweilige Berufspflichten mit dem Argument bejaht, dass hier ebenso wie bei der Heilbehandlung des Humanmediziners „Leben und Gesundheit" zu schützen seien 4 5 0 . Dies wurde - außerhalb des Dienstleistungssektors - dann auch dem bereits erwähnten Würstchenbudenbesitzer zum Verhängnis, der während einer Kirmes dadurch seine allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt hatte, dass er die Sicherheit seiner Elektroinstallationen nicht in hinreichenden Abständen kontrolliert hatte, ohne dass zu klären war, o b darin tatsächlich die Ursache für den Schaden eines Kirmesbesuchers l a g 4 5 1 . Werden hier sehr unter-
4 4 6 Das kritisiert bereits Giesen, J Z 1988, 660, ohne sich aber im Ergebnis weit vom BGH zu entfernen, weil auch er dies nur als Anknüpfungspunkt für die weitere Frage nutzen will, ob im Falle weiterer Verhandlungen eine im Sinne des Mandanten unzweideutige Vereinbarung zustande gekommen wäre. Letztlich präzisiert er wohl nur die Fragestellung des BGH. 4 4 7 BGH NJW 1971, 243. 4 4 8 BGH NJW 1962, 959. 4 4 9 OLG Frankfurt VersR 1984, 168 (169): 4 5 0 BGH NJW 1962, 959 (960): „Grundsätze der Billigkeit und des gerechten Interessenausgleichs" erfordern es, die Beweislastumkehr „jedenfalls auf den Fall grober Verletzung einer Berufspflicht anzuwenden, die gerade auf die Bewahrung anderer vor Gefahren für Körper und Gesundheit gerichtet ist". 4 5 1 OLG Köln VersR 1970, 229.
118
2. Kapitel: Gegenwärtige Handhabung in der deutschen Praxis
schiedliche Sachverhalte in zweifelhafter Weise über einen K a m m geschert, so differenziert die Rechtsprechung in anderen Fällen sehr subtil: Z w a r soll die arzthaftungsrechtliche Beweislastumkehr grundsätzlich auch bei Veterinärmedizinern g e l t e n 4 5 2 , wobei großzügig darüber hinweg gesehen wird, dass es bei der fehlerhaften Behandlung eines Tieres im rechtlichen Sinne nicht um Schäden an „Leben und G e s u n d h e i t " , sondern um das Eigentum des Tierhalters g e h t 4 5 3 . Außerhalb einer Hei'/behandlung eines kranken Tieres werden aber wiederum andere M a ß s t ä b e angelegt: Ein Veterinärmediziner, der ein Galopprennpferd ständig „tierärztlich betreute", musste sich nach der eine Sperre des Pferdes für mehrere Rennen nach sich ziehenden „versehentlichen" Injektion eines verbotenen Anabolikums nicht dahin gehend entlasten, dass das Pferd in diesen Rennen nichts gewonnen hätte. D a s Gericht hielt eine Beweislastumkehr nicht einmal für diskussionswürdig 4 5 4 und wies die Schadenersatzklage des Pferdeeigentümers a b , weil dieser hinsichtlich seines Schadens auch unter Berücksichtigung von § 2 5 2 B G B beweisfällig geblieben war: „Die bloße C h a n c e eines Sieges oder einer guten Platzierung, die nach der damaligen Verfassung des Pferdes bestanden haben mag, genügt n i c h t " 4 5 5 . D a m i t teilt der Eigentümer das Schicksal aller anderen Dienstleistungsempfänger, die es nicht mit Ärzten oder diesen gleichgestellten Personen zu tun haben. Für sie bleibt es bei der „ n o r m a l e n " Beweislastverteilung, die die Durchsetzung von Ansprüchen bei unaufklärbaren Kausalverläufen weitgehend vereitelt.
§5
Fazit
Die Bestandsaufnahme der deutschen Rechtsprechung zeichnet ein ernüchterndes Bild. Weder die Neigung, ein Sonderrecht für bestimmte Berufsgruppen zu schaffen, noch die innerhalb dieser Spezialbereiche jeweils aufgestellten Regeln vermögen zu befriedigen.
OLG München NW-RR 1989, 988. Das OLG München zieht sich darauf zurück, dass in beiden Fällen lebende Organismen berührt sind, NW-RR 1989, 988 (989). Dieses Kriterium allein müsste allerdings der Beweislastumkehr ein sehr weites Feld öffnen. Sorgfältiger demgegenüber OLG Celle NJW-RR 1989, Aufklärungspflicht 5 3 9 (540): Die Grundsätze über Art und Umfang der humanmedizinischen gelten nicht für die Tiermedizin, weil hier das wirtschaftliche Interesse des Auftraggebers an der Erhaltung des Tieres im Vordergrund stehe und nicht das „Selbstbestimmungsrecht des Patienten". 4 5 4 Was auch dann nicht gerechtfertigt ist, wenn man die Sperre als Sekundärschaden begreift, denn auch hier greift nach der Rechtsprechung die Beweislastumkehr jedenfalls bei „typischen" Sekundärschäden ein (oben S.61), zu denen man die Sperre nach Doping wohl zählen muss. 4 5 5 OLG Düsseldorf VersR 1987, 691f. 452 453
§5 Fazit I.
119
Arzthaftung
1. Ungleichbehandlung Die Diagnose Hanaus,
mit anderen
Berufsgruppen
die Rechtsprechung habe „Gesetz und System beiseite ge-
lassen" und für die Ärzteschaft Sonderregeln in „ ständische[r] V e r e i n z e l u n g " 4 5 6 aufgestellt, hat auch nach 3 0 J a h r e n nicht an Aktualität verloren. Am Beginn dieser Entwicklung steht ein M y t h o s , der bis heute ehrfurchtsvoll mitgeschleppt wird: Es ist der M y t h o s von der Besonderheit der Arzt-Patient-Beziehung 4 5 7 , die sie aus allen anderen Dienstleistungsverhältnissen herausheben soll - und deshalb den Einsatz der rechtschöpfenden Phantasie der Gerichte nicht nur ermöglicht, sondern geradezu fordert. Eberhard
Schmidt
hat diesen vermeintlich spe-
ziellen Charakter in folgenden Worten beschrieben: „Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist weit mehr als eine juristische Vertragsbeziehung, ist verankert in den sittlichen Beziehungen der Menschen untereinander und entfaltet sich nur da in einer gerade auch für die gesundheitliche Betreuung des Patienten förderlichen Weise, wo eben diese sittlichen Momente von Mensch zu Mensch es tragen und seinen Gehalt bestimmen" 4 5 8 . Küchenhoff
sekundiert mit der Aussage, „dass das Arztrecht ein von der Liebe
her gestaltetes Recht sei" und der Arzt demzufolge eine „Liebespflicht" h a b e 4 5 9 . Diese Liebe, gepaart mit Fürsorge, Vertrauen und Verständnis als konstitutive Elemente sollen nach Meinung anderer dafür verantwortlich sein, dass sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient nur schwer in rechtliche Kategorien fassen lasse 4 6 0 . Es handle sich um eine „elementare [...] menschliche [...] Beziehung . . . von k a u m zu übertreffender Intimität und K o m p l e x i t ä t " 4 6 1 . Wieder andere formulieren juristischer, aber in ebenso kräftigen Farben: D a s „medizinische [...] Behandlungsverhältnis ist ein hochgradig grundrechtssensibles Verhältnis des Patienten zu einem Träger konzessionierter H e i l s g e w a l t " 4 6 2 . D a s Bundesverfassungsgericht begnügt sich mit der vergleichsweise nüchternen Feststellung, dass ,,[w]eit mehr als sonst in den sozialen Beziehungen des M e n s c h e n ... im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit dem Rechtlichen z u s a m m e n [ f l i e ß t ] " 4 6 3 . Die
Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 133. Vgl. jüngst ausführlich Katzenmeier, Arzthaftung, 5 ff., mit zahlreichen Nachweisen in einem eigenen Abschnitt unter dem programmatischen Titel „Der besondere Charakter der ArztPatient-Beziehung" . 458 E. Schmidt, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Den ersten Halbsatz übernimmt BVerfGE 52, 131 (169f.). 459 Küchenhoff, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. I, 6. Aufl. (1957), Sp. 601 (Arztrecht). 460 Wiethölter, Arzt und Patient als Rechtsgenossen, 71 (104). 461 Katzenmeier, Arzthaftung, 5, unter Berufung auf Wiegand, Arzt und Recht, 81. 462 Bogs, ZfS 1983, 99 (100), hier zitiert nach Krämer, FS Geiß, 437. 4 6 3 BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1930). 456
457
120
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Vorstellung, dass die schlichte Anwendung einfachen Rechts den speziellen Anforderungen der Arzthaftung nicht gewachsen sei, wird komplettiert durch ein zweites Stereotyp, das der besonders ausgeprägten „strukturellen Ungleichgewichtslage" 464 zwischen Patient und Arzt. Auch dieses wird schon seit langem gepflegt, wenngleich es neue Aktualität durch die von manchen gesuchten Parallelen zur zwischenzeitlich entfalteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des BGH zur Kreditsicherung durch Mithaftung oder Bürgschaft mittelloser naher Angehöriger erhalten hat 465 . Doch genau in diesem Vergleich zeigt sich die mangelnde Brauchbarkeit dieses Konzepts im Arzthaftungsrecht: Ungleich verteilte Verhandlungsmacht beim Abschluss eines Vertrages im Hinblick auf seine inhaltlich Gestaltung hat nichts mit den besonderen Fragen zu tun, denen sich der Patient gegenüber sieht, der seinen Arzt wegen eines Behandlungsfehlers haftbar machen will. Die Beweisschwierigkeiten des Patienten, denen die Rechtsprechung mit ihrem Sonderrecht begegnen will, sind kein Ausdruck „struktureller Unterlegenheit" oder einer sonstigen vermeintlichen Besonderheit des Arzt-Patientenverhältnisses. Die unbestreitbare Schwierigkeit, Kausalverläufe im menschlichen Körper zu rekonstruieren, kann sich bei jedem Körperschaden bemerkbar machen 466 . Und ganz allgemein: Jeder, der sich als Laie für eine Dienst- oder sonstige Leistung an einen Spezialisten wendet, hat das Problem, im Streitfall Einzelheiten der ungünstigen Entwicklung kaum aus dem eigenen Sachverstand heraus beurteilen zu können. Dennoch fordert keiner etwa ein besonderes Bau- oder Kfz-Handwerker-Berufshaftungsrecht, weil sich insgesamt das allgemeine Verfahrens- und materiellrechtliche Instrumentarium zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, zum Antritt von Beweisen und zur Abstufung des Beweismaßes im Haftungsrecht bewährt hat. Und auch die Beschwörung der ethischen Bezüge des Behandlungsverhältnisses, der „Liebespflichten" des Arztes oder, wie es die ordentlichen Gerichte vorziehen, der „Billigkeit", ändert nichts daran, dass sich die Lage des Patienten in beweisrechtlicher Hinsicht nicht von der jeder anderen Person abhebt, die sich hilfesuchend an einen als Experten auftretenden Dienstleister oder Werkunternehmer wendet und dabei Schaden erleidet. So nimmt es denn nicht wunder, dass auch Anwälte für sich in Anspruch nehmen, ihren Mandanten nicht aus pekuniären Interessen, sondern aus Liebe zu dienen 467 , ohne dass man ihnen deshalb sogleich eine Beweislastumkehr für die Schadenskausalität zumutet.
464 Krämer, FS Geiß, 4 3 7 (445); ähnlich Katzenmeier, Arzthaftung, 9: Asymmetrische Beziehung, Gefällesituation. 4 6 5 Deutlich etwa bei Krämer, FS Geiß, 437 (439f.). 466 Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 133. 4 6 7 Vgl. Woog, Pratique professionelle de l'avocat, 6: „Etre avocat, c'est avant tout se consacrer à autrui et l'aimer . . . " , hier zitiert nach Martin, Déontologie de l'avocat, Nr. 369.
Fazit
121
Es ist paradox, dass nach Behauptung vieler einerseits die Krise des Vertrauens in die freien Berufe 468 und hier insbesondere in die Ärzteschaft 469 zu einem Nimbusverlust und damit zu einer erhöhten Bereitschaft geführt hat, Ärzte für ihre Tätigkeit haftbar zu machen 470 , andererseits aber zur Haftungsbegründung bzw. -ausfüllung selbst auf (Sonder-)Regeln zurückgegriffen wird, die ihren Grund gerade in einem paternalistischen Idealbild des liebenden und das Vertrauen des Patienten genießenden Arztes haben 471 . Ist aus dem vom Podest geholten „Halbgott in Weiß" ein normaler Berufsträger geworden 472 , gibt es keinen Grund mehr für ein Sonderhaftungsrecht für Ärzte. 2. Inhaltlich unbefriedigende
Regeln
Auf brüchigem Fundament lässt sich schlecht bauen. Wer allein in Namen der Billigkeit praeter legem ein unkontrolliert wucherndes Arsenal an Sonderregeln schafft, kann sich in diesem Dschungel leicht verirren. Es ist deshalb kein Wunder, dass das Arzthaftungs-Sonderrecht auch in der Sache nicht überzeugt. Darauf ist bereits bei der Darstellung des von der Rechtsprechung entwickelten Systems eingegangen worden, an dieser Stelle genügen deshalb einige Stichworte: - Der Ansatz beim groben Behandlungsfehler für die Beweislastumkehr ist systemwidrig und mit Worthülsen wie der „Schadensgeneigtheit", dem die Aufklärung erschwerenden „Gewicht" des Fehlers oder der Verschiebung des „Spektrums der für den Misserfolg in Betracht kommenden Ursachen" nicht zu begründen. - Mit der Notwendigkeit der Unterscheidung in schwere und sonstige Kunstfehler werden den Gerichten gedankliche Operationen abverlangt, deren Ergebnisse an ein Lotteriespiel gemahnen. - Die Abgrenzung der von der Beweislastumkehr erfassten Primärschäden von den nicht berührten Sekundärfolgen ist ebenso willkürlich wie es die Ausnahmen zu dieser Regel sind. - Für die Anhebung der Messlatte bei Diagnosefehlern (nur „fundamentale" Irrtümer kehren die Beweislast um) gibt es ebenso wenig eine systemimmanent überzeugende Begründung wie umgekehrt für die Verschiebung der Beweislast bei einer nur „einfach" fehlerhaften Befunderhebung, wenn fiktiv ein grober Fehler bei der Befundauswertung möglich gewesen wäre. Hopt, AcP 183 (1983), 608 (640ff.). Vgl. Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 55 ff. 4 7 0 Ausführlicher Mansel, FS Henrich, 425 (435f.); Katzenmeier, Arzthaftung, 28f., je m.w.N. 4 7 1 Ähnlich Mansel, FS Henrich (2000), 425 (438f.), bezogen auf alle freien Berufe: Inkonsequent. 472 Ehlers/Broglie/Ehlers, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 3; Katzenmeier, Arzthaftung, 29. 468
469
122
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
- Zusätzliche Filter (Fehler muss einerseits grundsätzlich geeignet sein, die fragliche Folge zu verursachen, Ursachenzusammenhang darf andererseits nicht „völlig unwahrscheinlich sein"; der Patient selbst darf keine ärztlichen Weisungen missachtet haben etc.) schaffen weitere Unklarheit. - Der Topos der „Anfängeroperation" trägt ein ansonsten zu Recht abgelehntes Element der Erfolgshaftung ins Arztrecht hinein. - Insgesamt führen die Regeln zu einer vollen Haftung des Arztes für einen nur möglicherweise von ihm verursachten Schaden, ohne dass es für diese „Wahrscheinlichkeitshaftung" ein Vorbild im deutschen Recht gebe oder ihre Eingrenzung auf die Arzthaftung erklärlich wäre. - Im Rahmen der Haftung für eine unvollständige Selbstbestimmungsaufklärung bedeutet der Ersatz der Feststellung eines Kausalzusammenhangs zur Erteilung der Einwilligung durch die bloße Plausibilitätsprüfung des Richters anhand des „ernsthaften Entscheidungskonflikts" einen zu hohen Preis an Kalkulierbarkeit der Aussichten der Rechtsverfolgung und an Rechtssicherheitsgewähr im Rechtsgang. Der Ausgang von Arzthaftungsprozessen entzieht sich durch dieses komplizierte und mit unbestimmten Rechtsbegriffen durchzogene Normgeflecht jeder seriösen Vorhersage 473 . Die Worte des australischen Richters Kirby, obwohl allgemein auf die Versuche im Civil Law und im Common Law gemünzt, dem Problem unaufklärbarer Kausalverlaufe bei gescheiterten Heilbehandlungen Herr zu werden, lesen sich wie ein Kommentar zur deutschen Lösung: "The outcome is a branch of the law which is 'highly discretionary and unpredictable'. Needless to say, this causes dissatisfaction to litigants, anguish for their advisers, uncertainty for judges, agitation amongst commentators and friction between healthcare professionals and their legal counterparts" 4 7 4 .
Auf welche Abwege die Beweislastumkehr anhand des schweren Behandlungsfehlers die Gerichte führen kann, zeigt ein neuerer untergerichtlicher Fall 475 . Eine Patientin ließ durch einen Hautarzt einen Allergietest durchführen, bei der ihr gegen ihren Willen irrtümlich auch eine Fleischlösung unter die Haut gespritzt wurde. Die Patientin, seit etwa zehn Jahren Vegetarierin, verlangte Schmerzensgeld, weil sie sich infolge der Injektion der Angst ausgesetzt sah, mit BSE-Erregern infiziert zu sein, die zum Ausbruch der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung führen könnten; eine Angst, die nach Aussage
4 7 3 Vgl. Fuchs, in: Köhler/v. Maydell (Hrsg.), Arzthaftung - „Patientenversicherung" - Versicherungsschutz im Gesundheitssektor, 13 (15f.): ,,[D]ie über die Jahrzehnte immer feiner gesponnenen juristischen Bemühungen ... [sind] inzwischen so komplex geworden ..., daß diese höchstrichterliche Rechtsprechung selbst von erfahrenen und auf das Arzthaftungsrecht spezialisierten Berufsrichtern der Obergerichte verfehlt werden kann." 474 Chappel v. Hart [1998] HCA 55, Tz. 87; das von Kirby eingeflochtene Zitat stammt von Honoré, Causation and Remoteness of Damage, in: International Encyclopaedia of Comparative Law XI, (1983) Ch. 7 s. 105. 4 7 5 AG Düren NJW 2001, 901.
§5
Fazit
123
des vom Gericht angehörten Sachverständigen aufgrund der extremen Unwahrscheinlichkeit der Infektion und eines Krankheitsausbruchs jeder rationalen Grundlage entbehrt, ohne dass offenbar allerdings ein sicherer Nachweis der ausgebliebenen Infektion hätte geführt werden konnte.
Das Gericht meinte sich nicht anders helfen zu können, als hinsichtlich der Kausalitätsfrage eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes mit der Begründung abzulehnen, dass jegliche Anhaltspunkte für eine „grobe" Sorgfaltswidrigkeit fehlen. Dies kann man bei der Missachtung des nach dem mitgeteilten Sachverhalt klar und deutlich geäußerten Patientenwillens durchaus bezweifeln. Aber das ist unerheblich, denn schon im Ansatz liegt das Gericht zweifach neben der Sache: Zum einen war der Umstand, dass die Angstzustände der Patientin auf den Allergietest zurückzuführen sind, unbestritten, so dass es auf die Beweislast für den Kausalzusammenhang nicht ankam; fraglich war allein, inwieweit die Verursachung einer völlig überzogenen psychischen Reaktion dem Arzt zugerechnet werden kann 4 7 6 . Zum anderen ging es nicht um einen Behandlungsfehler, also einen Verstoß gegen den bei Allergietests zu beachtenden medizinischen Standard, sondern um einen an sich fehlerfreien Diagnoseeingriff, der lediglich gegen den Willen der Patienten durchgeführt worden war; auch von daher entbehrte der Hinweis auf die Möglichkeit der Beweislastumkehr bei einer groben Sorgfaltswidrigkeit jeglicher Grundlage. Man mag diese Entscheidung als Ausrutscher eines überlasteten Untergerichts abtun, das zudem im Ergebnis (Klageabweisung) das Richtige getroffen hat 4 7 7 . Doch dass das Gericht ernsthaft meinte, sich in diesem Fall mit der Beweislastumkehr anhand des groben Behandlungsfehlers auseinandersetzen zu müssen, demonstriert, dass es diesem Instrument sowohl an einer inneren Rechtfertigung als auch an fassbaren Konturen fehlt, die solche Missgriffe verhindern würden. II. Anwaltshaftung Kirby dachte bei der oben zitierten friction zwischen Ärzten und Juristen vermutlich vor allem an die Konfrontation im Gerichtssaal bei der Verhandlung von Arzthaftungsansprüchen. Reibungsflächen gibt es aber auch inhaltlich. Gerade Vgl. zu diesem Problemkreis Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 X 2 d). Die Literatur steht den Gerichten allerdings in nichts nach: Vogels diskutiert die Möglichkeit der Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehler in einem Fall des OLG Frankfurt (NJW 2000, 875), in dem die HlV-infizierte Klägerin den Arzt ihres Lebensgefährten mit der Begründung auf Schadenersatzanspruch nahm, der Arzt habe ihr dessen Aids-Erkrankung trotz eines ausdrücklichen Verbots durch seinen Patienten offenbaren müssen (Vogels, MDR 1999, 1445f.). Eine Begründung, warum der Verstoß gegen die (problematische) Pflicht, die ärztliche Verschwiegenheit zugunsten Dritter zu brechen, einen groben Fehler in der Behandlung des (welchen?) Patienten darstellen und deshalb die Klägerin im konkreten Fall des Beweises entheben könnte, dass sie sich bei ihrem Lebensgefährten und aufgrund der unterlassenen Warnung angesteckt hat, liefert Vogels nicht. 476
477
124
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
der Vergleich mit dem hier näher untersuchten Anwaltshaftungsrecht zeigt die ungerechtfertigten Differenzierungen zwischen den Berufsgruppen: Warum kommt der grob pflichtwidrig handelnde Anwalt bei unklarer Kausalität anders als der Arzt ungeschoren davon, jedenfalls dann, wenn er außerprozessual fehlt? Bydlinski sieht in der auf einen bestimmten Berufsstand beschränkten Beweislastumkehr „zweifellos" einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot 478 - wenn man die oben wiedergegebenen, so wenig überzeugenden Argumente für die Sonderbehandlung der Ärzte Revue passieren lässt, ist man geneigt, ihm selbst in dieser Härte zuzustimmen 479 . Die rhetorische Frage des englischen Richters Brown harrt auch in Deutschland noch der Antwort: „What distinction can sensibly be drawn between a client going to a solicitor with the chance of a good legal claim if his action is properly litigated and a patient going to a doctor with the chance of a good medical result if properly cared for, such chance in each case being lost through professional negligence?" 4 8 0 .
Doch auch innerhalb des Anwaltshaftungsrechts werden zweifelhafte Weichen gestellt: Warum wird im Anwaltshaftungsprozess wegen eines falsch geführten Gerichtsverfahrens die Differenzhypothese des § 2 4 9 BGB zugunsten der „richtigen" Entscheidung des Regressgerichts außer Kraft gesetzt, d.h. der Ersatz eines tatsächlich entstandenen Schadens unter Umständen aus „normativen" Gründen verwehrt bzw. ein „Schaden" ersetzt, der auch bei pflichtgemäßem Handeln eingetreten wäre? Mit welchem Grund wird von diesem Ausgangspunkt wiederum abgewichen, wenn es um steuerliche Schäden oder allgemein Änderungen in einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung geht? Warum schließlich modifizieren die Gerichte in der Fallgruppe des unterstellten „beratungsgerechten Verhaltens" die sonst angewandten Grundsätze des Anscheinsbeweises und erheben ohne Rücksicht auf den konkreten Fall den „vernünftigen" Mandant zum Maßstab? III. Sonstige Dienstleistungen Die Lösung der Rechtsprechung in Fällen unklarer Kausalität im Rahmen anderer Dienstleistungen zieht ebenfalls den Vorwurf der Gleichheitswidrigkeit auf sich. Gibt es im Verhältnis zu Anwälten keine sachlichen Gründe für ein ständisches Sonderrecht für Ärzte, gibt es sie auch im Vergleich zu anderen Dienstleistern nicht. Die Gerichte machen das deutlich, wenn sie in einer beliebigen Weise nur Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, S. 87f. Großzügiger allerdings BVerfGE 9, 338 (349ff.): Altersgrenze bei Hebammen, nicht aber bei Ärzten stellt keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz dar. 480 Hotson v. East Berkshire Area Health Authority [1985] 1 W.L.R. 1036, 1044 (Q.B.). Ähnlich Cane, Tort Law and Economic Interests, 140 (such a discrimination against personal injury victims seems difficult to justify). 478
479
§5 Fazit
125
bestimmten, offenbar handverlesenen Berufsgruppen, die mit den Ärzten nicht viel verbindet, die „ G u n s t " gewährt, an deren Sonderbehandlung teilzuhaben (Bademeister, Würstchenbudenbesitzer), während umgekehrt etwa ein im Leistungssportbereich betreuend tätiger Veterinärmediziner anders als seine „heilend e n " Kollegen eine Beweislastumkehr zu seinen Lasten nicht fürchten muss. Die von der Rechtsprechung gezogenen Grenzen sind rational nicht zu erklären.
IV. D a s A l l e s - o d e r - N i c h t s - P r i n z i p Sowohl im Arzt- wie im Anwaltshaftungsrecht befremdet schließlich die R i g o r o sität des Alles-oder-Nichts-Prinzips 4 8 1 . Immer wird ganz oder gar nicht gehaftet, unabhängig davon, wie groß die Unsicherheit über das Zutun des Arztes oder Anwalts i s t 4 8 2 . Schon geringfügige Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs können, wenn sie sich um die Grenze des notwendigen Beweismaßes bewegen, zu ganz konträren Ergebnissen führen, nämlich volle Haftung oder gänzliche Haftungsfreiheit 4 8 3 . Die Beweislastlösung der Rechtsprechung ändert an diesen starren Extremergebnissen nichts: Bei zu 9 0 % sicherer Kausalität des Arztfehlers geht der Patient vollständig leer aus, wenn der Arzt nicht grob gefehlt hat; bei einem nur zu 1 5 % wahrscheinlichen Kausalzusamm e n h a n g 4 8 4 kann der Patient seinen gesamten Schaden liquidieren, hat der Arzt einen elementaren Kunstfehler begangen. D e r Anwalt hat es bei außerforensischer Tätigkeit ein wenig besser: Soweit, wie in den meisten Fällen, der in seinen Voraussetzungen kupierte Anscheinsbeweis „beratungsgerechten"
Verhaltens
nicht zur vollen Haftung des Anwalts führt, gewinnt der M a n d a n t nichts, wenn er die Kausalität des anwaltlichen Fehlers für den Schaden nicht mit der nach § 2 8 7 Z P O erforderlichen Sicherheit nachzuweisen vermag. Schweizer
hat für diese Vorgehensweise das schöne Bild der „Alchimie" gefun-
den, „qui consiste ä fabriquer du blanc ou du noir ä partir d'une palette de g r i s " 4 8 5 . Die Alchimisten des Mittelalters versuchten sich aus heutiger Sicht an Irrwitzigem, nämlich an der Transmutation minderwertiger Stoffe in G o l d 4 8 6 .
4 8 1 Insoweit kritisch schon Bydlinski, FS Beitzke, 3 (32f.); Stoll, FS Steffen, 465 (466); Jansen, (1999) 19 OJLS 2 7 1 , 2 7 7 ; Kasche, Verlust von Heilungschancen, 250; Koziol, FS Stoll, 233 (238); Ch. Müller, La perte d'une chance, Rdnr.272f., 290 (zum schweizerischen Recht). 4 8 2 Der Begriff des Alles-oder-Nichts-Prinzips wird gelegentlich auch abweichend verwandt, nämlich zur Bezeichnung des Grundsatzes, dass das Gericht die Höhe der Schadenersatzsumme nicht im Hinblick auf die Schwere des Verschuldens des Täters oder allgemeine Billigkeitserwägungen (s. aber § 829 BGB) variieren kann, vgl. etwa Lange/Schiemann, Schadensersatz, Einl. VIII 1; RGRKJSteffen, § 823 Rdnr.428. 483 Koziol, FS Stoll, 233 (238). 4 8 4 Vgl. OLG Hamm VersR 1999, 623. 4 8 5 Diskussionsbeitrag Schweizer, in: Guillod (Hrsg.), Colloque Développements récents du droit de la responsabilité civile, 201. 4 8 6 Vgl. Haage, Alchemie im Mittelalter.
126
2. Kapitel: Gegenwärtige
Handhabung
in der deutschen
Praxis
Daran gemessen ist die in einem australischen Urteil wiedergegebene Beurteilung des Alles-oder-Nichts-Prinzips noch einigermaßen freundlich: „It would ... lead to the conclusion that the all or nothing a p p r o a c h ... is, at best, rough «487 justice.
V. H a f t u n g s v e r l a g e r u n g d u r c h beweisrechtliche Mittel 4 8 8 Das „Spiel" der Rechtsprechung mit Beweislast und -maß hat, das ist keine neue Erkenntnis, Auswirkungen auf den materiellrechtlichen Haftungsstandard 4 8 9 . Dieser wird einseitig angehoben, wenn der Arzt über eine Umkehrung der Beweislast für die (fehlende) Schadenskausalität im Ergebnis anders als ein Anwalt für einen von ihm nur möglicherweise herbeigeführten Schaden haftet. Unabhängig davon, ob man eine „Umverteilung durch Haftungsrecht" 4 9 0 in der Sache befürwortet oder nicht: Der richtige Ansatzpunkt für Überlegungen zur Haftungsverlagerung sollte nicht das Beweis-, sondern offene materiell-rechtliche Erwägungen sein. VI. Die deutsche Praxis: Kein Vorbild f ü r E u r o p a Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen der Dienstleisterhaftung Regeln für den Umgang mit unaufklärbaren Kausalverläufen zu finden, die europaweit einsetzbar sind. Nach der obigen Bestandsaufnahme kann die Empfehlung nicht lauten, den deutschen Ansatz in andere Länder zu exportieren. Dies gilt umso mehr, als Deutschland insoweit völlig isoliert ist: Es gibt, soweit ersichtlich, keine Rechtsordnung in der EU, die einen ähnlichen Weg beschreitet und sich in Kausalitätsfragen am „groben Fehler" im Arzthaftungsrecht 491 oder an der Pflicht zur „richtigen Entscheidung" des Regressgerichts im Rahmen der Anwaltshaftung (hier mit Ausnahme Österreichs 492 ) orientiert. Man mag dies zumindest als Indiz werten, dass sich die deutsche Praxis in eine Sackgasse verrannt hat. 487 Naxakis v. Western General Hospital, [1999] HCA 22, at No. 30, per Goudron / , der selbst in concreto allerdings Schadenersatz auf der Basis einer verlorenen Chance ablehnte. 488 So der Titel des vielzitierten Aufsatzes von Stoll in AcP 176 (1976), 145. 485 Vgl. etwa Stoll AcP 176 (1976), 145; Stürner Z Z P 98 (1985), 237; Loser-Krogh, zsr/rds 2003 II, 127 (161) zur Reduktion der Anforderungen für den Kausalitätsnachweis im Revisionsprojekt des schweizerischen Haftpflichtrecht. 490 Mansel, FS Henrich, 425 (428). 491 In Frankreich hatte das oberste Verwaltungsgericht (Conseil d'Etat) lange Zeit die Haftung öffentlicher Krankenhäuser auf Fälle beschränkt, in denen der Behandlungsseite ein grober Fehler (faute lourde) unterlaufen war. Dies war aber erstens eine generelle Haftungsvoraussetzung, kein Kriterium für eine Beweislastumkehr bei Kausalitätszweifeln, und wurde zweitens vom Conseil d'Etat schon vor zehn Jahren als Irrweg verworfen, CE, 10.4. 1992, JCP 1992 II 21881 Anm. Moreau. 492 S. unten S.161.
3. Kapitel
Lösungsvorschläge in der Literatur und eigener Ansatz § 1 Lösungsvorschläge
in der
Literatur
Zu erörtern bleibt, ob die deutsche Literatur einen Weg aus dieser Sackgasse gewiesen hat. Vorab ist dabei zu konstatieren, dass insbesondere die auf Arzt- oder Anwaltshaftung spezialisierte Literatur nur wenig beiträgt: Sie begrenzt sich zumeist „selbstverschuldet anwendungswissenschaftlich" 1 auf die Begleitung, Erläuterung und Ausdifferenzierung der von der Rechtsprechung entwickelten Handlungsstrategien und vernachlässigt die wissenschaftliche Grundauseinandersetzung zugunsten praktischer Problemerörterung 2 . Abweichende Ansätze kommen eher von nicht spezialisierten „Außenseitern". Die von ihnen gemachten Lösungsvorschläge können wie folgt zusammengefasst werden:
I. Generelle Beweismaßherabsetzung Keine Notwendigkeit für spezielle Regeln zum Umgang mit unaufklärbaren Kausalzusammenhängen bei fehlerhaften Dienstleistungen sehen die Autoren, die wie Kegel generell 3 oder Maassen zumindest für Schadenersatzstreitigkeiten 4 die überwiegende Wahrscheinlichkeit als Beweismaß aller Tatbestandsmerkmale genügen lassen wollen 5 . Zwar tritt bei dieser Lösung die Schärfe des Alles-oderNichts-Prinzips noch deutlicher hervor: Eine zu 51% sichere Kausalität führt zu vollem Schadenersatz, während eine 49%-ige Sicherheit die ebenso vollständi1
Hart, FS Heinrichs, 291 (301). Vgl. Hart, FS Heinrichs, 291 (301) zum Arzthaftungsrecht. 3 Kegel, FS Kronstein (1967), 321 (343). 4 Maassen, Beweismaßprobleme im Schadenersatzprozeß. 5 Zumindest im Ergebnis ähnlich Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 107ff. (großzügiger Einsatz des Anscheinsbeweises, der ein Fall der Beweismaßreduzierung auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist, für die Feststellung der Fahrlässigkeit und der Kausalität); Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß (1983), 81 ff.; Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis (1983). Ähnlich auch Brüggemeier, Prinzipien des Haftungsrechts, 233f., der zur „Verwirklichung kontextueller Gerechtigkeit" im Haftpflichtprozess für den Nachweis aller anspruchsbegründenden Tatsachen in offener Abweichung vom Regelbeweismaß des § 2 8 6 Z P O lediglich eine „hohe" Wahrscheinlichkeit fordert. Zu Gottwalds Theorie des flexiblen Beweismaßes, wonach es kein einheitliches „objektives Beweisquantum" gibt, sondern nach den Umständen des konkreten Einzelfalls auch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreichen kann (Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 244f.), zuletzt ders., FS Henrich, 165 (173). 2
128
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener
Ansatz
gen Niederlage des Patienten oder Mandanten bedeutet6. Immerhin aber würde im Bereich zwischen der knapp überwiegenden Wahrscheinlichkeit und der richterlichen Gewissheit die Feststellung der Kausalität möglich und dem Anspruchsteller ebenso geholfen, wie es die Rechtsprechung durch ihre zahlreichen Sonderregeln zumindest im Arzthaftungsrecht versucht. Doch sind die genannten Autoren nicht nur bei den Gerichten auf wenig Gegenliebe gestoßen, sondern haben auch sonst kaum Gefolgschaft gefunden. Dies wohl zu Recht, denn steht schon die Prämisse Kegels, dass die „überwiegende Wahrscheinlichkeit das beste [ist], was wir haben können" 7 , auf tönernen Füßen (außerhalb der hier interessierenden pathologischen Fälle gibt es zahlreiche Konstellationen, in denen die Gerichte tatsächlich zu einer Gewissheit gelangen können), so sprechen jedenfalls der Wortlaut des § 286 ZPO und die Systematik des Gesetzes gegen einen allgemeinen preponderance-of-evidence-Standard im deutschen Recht. Ungeachtet allen Streits über objektive oder subjektive Elemente in der richterlichen Überzeugungsbildung8 verlangt § 2 8 6 ZPO, dass eine tatsächliche Behauptung für „wahr" zu erachten ist, soll sie als bewiesen gelten - eine bloße Plausibilität oder überwiegende Wahrscheinlichkeit ist damit nicht umschrieben9. Auch die Systematik des Gesetzes, das nicht nur in § 294 ZPO (Glaubhaftmachung), sondern vor allem in § 287 ZPO (die „freie" Überzeugung tritt an die Stelle des Fürwahrhaltens) bewusst geringere Anforderungen stellt, spricht dagegen, schon den Ausgangspunkt in § 286 ZPO zu verwässern10. Wenn in den von § 287 ZPO erfassten Fällen der Richter ausnahmsweise nicht von der Wahrheit einer tatsächlichen Behauptung, sondern nur von deren Wahrscheinlichkeit - zu einem bestimmten Grade - überzeugt sein muss, ist umgekehrt zu folgern, dass im Normalfall des § 2 8 6 ZPO die überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht ausreicht 11 . Der gleiche Schluss ist aus der Vielzahl gesetzlicher Sondervorschriften zu ziehen, die Abschwächungen des Regelbeweismaßes des § 2 8 6 ZPO enthalten 12 . Schließlich ist auch zu bedenken, dass ein durchgehender Rückzug auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Frage nach der objektiven Beweislast fast jede Bedeutung nehmen würde. Wenn es ausreicht, dass die Waage sich nur ein wenig zugunsten der einen und zu Lasten der gegenteiligen Annahme neigt, um eine Tatsache als feststehend zu betrachten und ihr Gegenteil zu verwerfen, kann es Kritisch unter diesem Gesichtspunkt etwa Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 111. Kegel, FS Kronstein (1967), 321 (335). 8 Vgl. die Wiedergabe der unterschiedlichen Positionen bei Baumgärtel, FS 600-Jahr-Feier der Universität Köln (1988), 165 (166ff.), und Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 3 8 ff. 9 Vgl. MünchKommZPO/Priitting, § 286 Rdnr. 35; Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 47. 10 Vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 79ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 174ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, 520 m.w.N. 11 Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 140f. 12 Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 79; Katzenmeier, Arzthaftung, 520. 6
7
51 Lösungsvorschläge zu einer non-liquet-Entscheidung
in der Literatur
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nur in den in der Praxis noch nie beobachteten
Fällen k o m m e n , in denen für beide Varianten jeweils e x a k t eine 5 0 % i g e Wahrscheinlichkeit spricht. Angesichts der vom Gesetzgeber bewusst als eigenständigem Risikozuweisungssystem konzipierten Beweislast 1 3 und der darauf aufbauenden vielfältigen gesetzlichen Beweislastregeln läge in der faktischen Verabschiedung der Beweislast ein weiterer Systemverstoß 1 4 . In der Sache wird die hohe Messlatte des § 2 8 6 Z P O damit gerechtfertigt, dass der gegen seinen Willen in einen Rechtsstreit verwickelte Beklagte einen Anspruch darauf habe, dem Kläger nur durch ein richtiges, nicht lediglich möglicherweise
richtiges Urteil zu unterliegen 1 5 . Deshalb muss die gerichtliche Sach-
verhaltsaufklärung die Aufdeckung des „ w a h r e n " Geschehens zumindest anstreben 1 6 ; im Wissen um die unzulänglichen menschlichen Erkenntnismöglichkeiten 1 7 darf sich das Gericht zwar mit der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit", nicht aber weniger zufrieden geben. Kritiker, die im allgemeinen Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gleich einen Angriff auf die Wurzeln des Rechtsstaats sehen 1 8 , dürften angesichts seiner Verwendung im Zivilprozessrecht zahlreicher anderer, durchaus rechtsstaatlich organisierter Gemeinwesen zwar etwas zu hoch greifen 1 9 . Nicht von der H a n d zu weisen ist aber der Einwand, dass ein solches abgeschwächtes Beweismaß (ebenso wie die arzthaftungsrechtlichen Beweislastregeln der Gerichte) wegen der „materiellrechtlichen Verflochtenheit der B e w e i s m a ß r e g e l n " 2 0 zu einer Ausuferung der materiellrechtlichen Anspruchsgrundlagen führt 2 1 - die Haftung für die bloß wahrscheinliche Schädigung eines anderen unterscheidet sich qualitativ von der für die Fol-
Vgl. MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr.88ff. MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr.38. 15 Vgl. Walter, Freie Beweiswürdigung, 173 ff., insbes. 182: Im Volke ist das Rechtsgefühl verankert, dass man nur das beanspruchen kann, was bewiesen ist. 16 BGHZ 53, 245 (252); Walter, Freie Beweiswürdigung, 164; Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, Rdnr. 359. 17 Walter, Freie Beweiswürdigung, 152. 18 Indirekt Habscheid, FS Baumgärtel (1990), 105 (119): Das Beweismaß der richterliche Gewissheit gründet sich auf unsere Vorstellungen vom Rechtsstaat. 19 Bezeichnenderweise berufen sich umgekehrt auch die Anhänger des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf ein ähnlich hohes Rechtsgut mit unscharfen Konturen, nämlich auf die „Gerechtigkeit: wenn wir schon nicht sicher oder fast sicher sein können, geben wir immer noch besser dem recht, der wahrscheinlich recht hat, als dem, der wahrscheinlich unrecht hat" (Kegel, FS Kronstein (1967), 321 (344), Hervorhebung im Original). 20 Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht Rn. 364. Vgl. auch Baumgärtel, FS 600Jahr-Feier der Universität Köln, 165 (174): „Mit der Herabsetzung des Beweismaßes wird ... ebenso eine materielle Rechtsfolge begründet wie im Ergebnis durch eine Beweislastentscheidung." 21 Arens, ZZP 88 (1975), 32; Walter, Freie Beweiswürdigung, 181; Baumgärtel, FS 600Jahr-Feier der Universität Köln, 165 (179); Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, l l l f . ; P r « t ting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 78 f.; Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 46. 13 14
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3. Kapitel: Lösungsvorschläge in der Literatur und eigener Ansatz
gen eines zweifelsfrei nachgewiesenen Haftungstatbestandes. Es ist nicht dasselbe, ob Schadenersatz wegen einer unerlaubten Handlung oder wegen des bloßen Verdachts einer unerlaubten Handlung zu leisten ist 22 . Ob man sich für die eine oder andere Lösung entscheidet, hängt von der Wertung ab, unter welchen Umständen eine Rechtsfolge eintreten soll - das ist eine materiellrechtliche Entscheidung 23 . Auch die glühendsten Verfechter eines abgeschwächten Beweismaßes werden einräumen müssen, dass dem deutschen materiellen Recht eine solche Entscheidung zu ihren Gunsten nicht zu entnehmen ist. Im Gegenteil ist § 252 S. 2 BGB ein nachdrücklicher Beleg dafür, dass die bloße Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Umstandes nur in besonders gelagerten Fällen, folglich nicht generell, ausreichen soll. Will man das Beweismaß reduzieren, bedarf es daher einer besonderen, auf die einzelne im Prozess entscheidungserhebliche Norm bezogenen Begründung aus dem materiellen Recht - allgemeine zivilprozessuale Zweckmäßigkeitserwägungen sind dafür kein adäquater Ersatz. Baumgärtel möchte eine materiellrechtliche Rechtfertigung im Einzelfall dann annehmen, wenn „der konkrete materiellrechtliche Anspruch eine solche Beweismaß-Reduzierung gebietet, damit er überhaupt eine Chance hat, realisiert zu werden" 2 4 . Die Konkretisierung dieses Kriteriums mag in der Praxis Schwierigkeiten machen - es macht aber in zutreffender Weise deutlich, dass es sich nur um seltene Ausnahmefälle handeln kann. Der Weg zu einer pauschalen Beweismaßreduzierung ist versperrt.
Bezeichnend ist, dass in den USA, wo im Zivilprozess aller Einzelstaaten grundsätzlich das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gilt, große Schwierigkeiten auftauchen, wenn seine Implikationen auf die Spitze getrieben werden. Berühmt wurden Cohens „Paradoxon" vom zahlungsunwilligen Rodeo-Besucher 25 und Tribes „Blauer-Bus"-Schulfall 26 . In Cohens Beispiel wird ein Rodeo-Besucher vom Veranstalter mit dem alleinigen Argument auf nachträgliche Zahlung des Eintrittspreises in Anspruch genommen, dass von 1000 Zuschauern 501 nicht gezahlt hatten. In Tribes Fall verklagt eine von einem nicht näher identifizierten Bus angefahrene Passantin die Blue Bus Company auf Schadenersatz, weil diese 80% aller Buslinien im Stadtgebiet betreibt.
In beiden Fällen ist die amerikanische Doktrin der einhelligen Auffassung, dass die bloße (knapp oder deutlich) überwiegende Wahrscheinlichkeit der Leistungserschieichung durch den Veranstaltungsbesucher bzw. der Verwicklung der Blue Bus Company in den Unfall für einen Klageerfolg nicht ausreichen kann; in beiden Fällen bedarf es großer - und nicht immer überzeugender - argumentativer 22
Arens, ZZP 88 (1975), 32. Vgl. Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, Rdnr.362ff.; Baumgärtel, FS 600Jahr-Feier der Universität Köln, 165 (177). 24 Baumgärtel, FS 600-Iahr-Feier der Universität Köln, 165 (174). 25 Cohen, L.J., The Provable and the Probable, 74ff. 26 Tribe, (1971) 84 Harvard L.Rev. 1329, 1340f. 23
§1 Lösungsvorschläge
in der Literatur
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Anstrengungen, um dieses Ergebnis zu vermeiden, will man nicht grundsätzlich an der niedrigen Beweisschwelle rütteln 2 7 .
II. Beweismaßherabsetzung für den Kausalitätsnachweis Gegen die am Wortlaut des § 2 8 6 Z P O und seiner Stellung im Gesamtgefüge orientierten Kritik sind diejenigen Autoren gefeit, die das erforderliche Beweismaß nicht generell, sondern speziell für den Nachweis der Kausalität herabsetzen wollen. M a n c h e bemühen zu diesem Z w e c k § 2 8 7 Z P O (unten 1.), andere eine Analogie zu beweismaßsenkenden Sondervorschriften (2.) oder zu § 8 3 0 Abs. 1 S . 2 B G B (3.) 2 8 .
1. §287 ZPO § 2 8 7 Z P O ist kein Allheilmittel für Kausalitätszweifel. Im R a h m e n der Darstellung der Rechtsprechung zur Anwaltshaftung bei der außergerichtlichen Beratung hat sich gezeigt, dass auch diese Hürde für den M a n d a n t e n häufig zu h o c h ist. Immerhin aber könnte die Anwendung dieser N o r m das Leben für diejenigen Anspruchsteller erleichtern, die ansonsten die noch höhere Hürde des § 2 8 6 Z P O zu überspringen haben. Das betrifft vor allem Klienten, die auf deliktischer oder vertraglicher Basis Schadenersatz wegen der Verletzung eines absoluten Rechtsguts geltend machen, insbesondere also vom Heilungserfolg der ärztlichen Bemühungen enttäuschte Patienten 2 9 . U m ihnen mit § 2 8 7 Z P O zu helfen, werden zwei Wege beschritten: Die einen halten an der dem Verständnis des § 2 8 7 Z P O traditionell zugrunde liegenden Zweiteilung in Haftungsbegründung und (allein von § 2 8 7 Z P O erfasste) -ausfüllung fest, verorten aber (auch) die Verursachung eines primären Schadens beim letzteren Aspekt und damit „autom a t i s c h " im Anwendungsbereich des § 2 8 7 Z P O 3 0 . Andere rütteln nicht an der Zuordnung der Kausalität für den Primärschaden zur Haftungsbegründung, wollen dafür aber die haftungsbegründende Kausalität unter der Berufung darauf, dass § 2 8 7 Z P O auch das „ o b " des Schadens erfasst, ebenfalls den erleich-
27 Tribe kommt zum mehr oder weniger apodiktischen Ergebnis, dass statistische Angaben als solche kein hinreichendes Beweismittel sind ((1971) 84 Harvard L.Rev. 1329, 1393); Kaye meint immernhin, dass man unterscheiden müsse zwischen „justified and unjustified naked Statistical evidence" ((1987) 73 Cornell L.Rev. 54, 55) ähnlich Nesson, (1985) 98 Harvard L.Rev. 1357, 1378f.; vgl. zum Ganzen auch Cohen, (1985) 60 N.Y.U.L.Rev. 385. 2 8 Für eine Wahrscheinlichkeitshaftung im deutschen Umwelthaftungsrecht nur de lege ferenda und deshalb hier nicht darzustellen Wiese, ZRP 1998, 27 (30f.). 2 9 Näher unten S.382. 30 Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 92ff.; 121; 135f.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 243; für das Arzthaftungsrecht Bodenburg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, 79 f.
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3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
terten Anforderungen dieser N o r m unterwerfen 3 1 . Unabhängig v o m konstruktiven Weg bleiben aber auch hier B e d e n k e n 3 2 : § 2 8 7 Z P O bietet nach dem Konzept des Gesetzgebers dem Geschädigten im Wege einer Ausnahmeregelung eine Erleichterung gegenüber seinen ansonsten zu erbringenden Beweisanstrengungen. Die N o r m durchbricht den Grundsatz, dass der Geschädigte die Voraussetzungen seines Anspruchs voll zu beweisen h a t 3 3 . Die darin umgekehrt liegende Belastung seines Gegners bedarf einer Rechtfertigung. Z u finden ist sie darin, dass derjenige, für den mit dem üblichen Beweisstandard des § 2 8 6 Z P O feststeht, dass er alle Haftungsvoraussetzungen mit Ausnahme eben des Schadens verwirklicht hat, nicht Vorteile daraus ziehen soll, dass die Schadenshöhe allgemein oder einzelne Folgeschäden im Besonderen schwer zur Gewissheit des Gerichts nachzuweisen sind. Anders ausgedrückt: Wer zweifelsfrei für die Beeinträchtigung eines anderen gerade stehen muss - in den Worten Stolls: Wer nachweislich „in den fremden R e c h t s k r e i s " eingegriffen h a t 3 4 - , soll die Unsicherheit über den genauen Umfang der ihm anzulastenden negativen Folgen nicht haftungsbefreiend auf das Opfer abwälzen können, sondern dessen von ihm verschuldetes Beweisrisiko mittragen 3 5 . D a r a u s aber folgt, dass § 2 8 7 Z P O nicht bereits für die Erleichterung der Feststellung eingesetzt werden kann, ob der Prozessgegner des Opfers tatsächlich „in den fremden R e c h t s k r e i s " eingegriffen, das heißt einen Haftungsgrund verwirklicht hat. D a m i t ist zwar noch nicht endgültige Klarheit über die Zuordnung von Kausalitätsfragen zu § 2 8 6 Z P O oder § 2 8 7 Z P O gewonnen, denn auch auf dieser Basis lässt sich trefflich darüber streiten, welche Elemente im Einzelnen zum H a f tungsgrund oder zur Haftungsausfüllung zu zählen sind, zumal Eingriffs- und Verhaltensnormtatbestände unterschiedliche Anforderungen stellen 3 6 . Jedenfalls aber für den zur ersteren Kategorie zu zählenden § 8 2 3 Abs. 1 B G B steht fest, dass der Z u s a m m e n h a n g zwischen der Handlung oder dem pflichtwidrigen Unterlassen des Täters und der Beeinträchtigung eines absoluten R e c h t s oder Rechtsguts des Opfers als Teil des Haftungsgrundes nach § 2 8 6 Z P O zu beweisen ist 3 7 . Solange nicht sicher ist, dass die Verletzung eines der in § 8 2 3 Abs. 1 B G B genannten Rechtsgüter auf den Anspruchsgegner zurückzuführen ist, solange sind die Beziehungen zwischen Schädiger und Geschädigtem nicht hinreichend „ f i x i e r t " 3 8 , um die Befreiung des Letzteren v o m Risiko des Kausalitätsbeweises zu rechtfertigen. Wollte man die bloße Gefährdung des Geschädigten aus31 Prölls, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, 53 ff.; Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 47ff. 3 2 So etwa auch Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 158. 33 Krens, ZZP 88 (1975), 1 (20). 34 Stoll, AcP 176 (1976), 145 (185). 35 Arens, ZZP 88 (1975), 1 (20). 3 6 Näher zu diesen Kategorien Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 84ff. 3 7 A.A. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 135f. 38 Gaupp, Beweisfragen im Rahmen ärztlicher Haftungsprozesse, 39.
§ 1 Lösungsvorschläge
133
in der Literatur
reichen lassen, entfernte man sich vom materiellen Recht, das für Schadenersatzansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB gerade die Rechtsgutsverletzung und nicht nur eine Gefährdung wie etwa bei der vorbeugenden Unterlassungsklage verlangt 39 , ganz abgesehen davon, dass der Begriff der „Gefährdung" außerordentlich unscharf ist 40 . Wenn aber für den Kernbereich der deliktischen Haftung der Weg zu einer erleichterten Kausalitätsfeststellung über §287 ZPO versperrt ist, ist dem Ansatz, der letzteren Norm pauschal alle Fragen des Ursachenzusammenhangs in einem Schadensprozess - egal auf welcher Grundlage - zuzuweisen, der Boden entzogen. 2. Analogie zu beiveismaßsenkenden Kausalitätsnachweis
Sondervorschriften
für den
Andere wollen dem Geschädigten dadurch helfen, dass sie unabhängig von § 287 ZPO und in einer noch stärkeren Herabsetzung des Beweismaßes für den Nachweis der Kausalität die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Ursachenbeziehung für hinreichend halten 41 . Begründet wird dies mit einer Analogie zu speziellen Kausalitätsregelungen mit gegenüber § 286 ZPO verminderten Anforderungen; genannt werden etwa § § 1 1 9 , 2 5 2 , 2 0 7 8 BGB, 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG, 52 BSeuchenG, 15 Abs. 1 , 2 8 Abs. 1 , 4 1 Abs. 2 BEG 42 . Schon die erstaunliche Bandbreite - von der Irrtumsanfechtung über ansteckende Krankheiten bis zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen und rassischen Verfolgung mahnt allerdings zur Vorsicht. § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG etwa ist schon deshalb wenig hilfreich, weil er nicht die Kausalitätsbeziehung zwischen einem Produktfehler und dem vom Betroffenen beklagten Schaden betrifft, sondern dem Hersteller lediglich den ihn von der Haftung befreienden Nachweis erleichtert, dass das Produkt diesen Fehler noch nicht aufwies, als er es in den Verkehr brachte 43 . Die Formulierung des § 119 Abs. 1 BGB, es müsse „anzunehmen" sein, dass die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage nicht abgegeben worden wäre, ist im Zusammenhang mit dem Zusatz „bei verständiger Würdigung des Falles" zu lesen und bedeutet deshalb im Ergebnis keine Beweismaßsenkung für den Kausalzusammenhang mit dem Irrtum, sondern eine Verschärfung der Anforderungen: Die (nach den gewöhnlichen Kriterien nachzuweisende) Kausalität wird vom
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Arens, Z Z P 88 (1975), 1 (20). So zu Recht Arens, Z Z P 88 (1975), 1 (21). 41 MünchKommZPO/Prütting, § 286 Rdnr.46; zustimmend Fleischer, J Z 1999, 766 (773f.); im Ergebnis ebenso Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 182, der zwar am hohen Beweismaß der Wahrheitsüberzeugung in § 286 Z P O nicht rütteln will, als deren Bezugsgröße aber in materiellrechtlicher Hinsicht nicht „die Kausalität", sondern bloß die „Wahrscheinlichkeit der Kausalität" gelten lassen will. 42 MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr.47. 43 Statt aller Palandt/Thomas, § 1 ProdHaftG Rdnr. 17. 40
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3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
normativen M a ß s t a b des „reasonable m a n " ergänzt 4 4 , um „subjektiven Launen des I r r e n d e n " 4 5 den Schutz zu versagen. In § 2 0 7 8 B G B fehlt dieser objektive Filter, doch wird auch hier von der herrschenden M e i n u n g dem Anfechtenden der Weg zum Erfolg eher erschwert denn erleichtert: Es soll die bloße ( M i t u r s ä c h lichkeit nicht genügen, sondern erforderlich sein, dass der Irrtum den „bewegenden G r u n d " für die Einsetzung a u s m a c h t 4 6 . § 2 5 2 S . 2 B G B seinerseits ergänzt („konkretisiert und p r ä z i s i e r t " ) 4 7 § 2 8 7 Z P O und stellt deshalb wie diese N o r m auf einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab a b , der zwar unter der Gewissheit des § 2 8 6 Z P O , aber über der bloß überwiegenden Wahrscheinlichkeit liegt 4 8 , zu der der Analogieschluss führen soll. Es verbleibt damit in §§ 1 5 Abs. 1 , 2 8 Abs. 1 , 4 1 A b s . 2 B E G und in der N a c h folgevorschrift des § 5 2 A b s . 2 S. 1 BSeuchenG, § 6 1 S . l Infektionsschutzgesetz ( I f S G ) 4 9 , der in der Tat das Beweismaß für den Ursachenzusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsschaden auf die (überwiegende) Wahrscheinlichkeit s e n k t 5 0 , eine schmale, ja allzu schmale Basis für einen auf alle Kausalitätsfragen ausgedehntes Beweismaß der preponderance
of evidence.
m a n nicht zum zu R e c h t längst verabschiedeten Satz singularia
Selbst wenn
non sunt
exten-
denda zurückkehren m ö c h t e 5 1 , liegt in der Sache ein Umkehrschluss näher als die Analogie: Gerade die Tatsache, dass im Allgemeinen die bloß wahrscheinliche Kausalität nicht ausreicht, hat den Gesetzgeber motiviert, (nur) für besondere Fallgestaltungen, in denen ihm diese Bürde als für den Anspruchsteller zu groß erschien, Erleichterungen vorzusehen. Im Entschädigungsrecht des B E G liegt dies auf der H a n d : § § 1 5 Abs. 1 , 2 8 Abs. 1 , 4 1 Abs. 2 B E G sollen den in der spezifischen M a t e r i e liegenden Beweisschwierigkeiten begegnen (wann sind u.U. erst viele J a h r e später auftretende Körperschäden oder der Tod auf „die Verfolgung" im Dritten Reich zurückzuführen 5 2 ?) bzw. die Folgen des durch die Wirren der Vgl. MünchKomm/Kramer, § 119 Rdnr. 126 m.w.N. Prot. I, 231. 4 6 BGH W M 1 9 8 7 , 1 0 2 0 ; Hk-BGB/Hoeren, § 2 0 7 9 Rdnr. 6; ähnlich MünchKomm/Leipold, § 2078 Rdnr. 20: Der Irrtum muss im Rahmen der gesamten Vorstellungen des Erblassers so gravierend sein, dass er es rechtfertigt, ihn aus der Bindung zu befreien. 47 MünchKomm/Oetker, § 252 Rdnr. 30. 48 Larenz, Schuldrecht I, § 2 9 II b (S.492: „hoher Grad an Wahrscheinlichkeit"); MüllerSto-y, Schadensersatz für verlorene Chancen, 214f.; a.A. MünchKomm/Oetker, § 2 5 2 Rdnr. 31. 4 9 Artikel 1 des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz - SeuchRNeuG) vom 20. Juli 2 0 0 0 , BGBl. 2000 I 1054 5 0 „Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 [= Schutzimpfung oder eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe] genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs". 5 1 Zur grundsätzlichen Analogiefähigkeit von Ausnahmevorschriften in den Grenzen ihres jeweiligen Grundgedankens statt aller MünchKomm/Säcker, Einl. Rdnr. 102ff. mit zahlreichen Nachweisen. 5 2 Vgl. aus neuerer Zeit BGH M D R 2 0 0 2 , 1 2 4 8 (zweifelhafter Ursachenzusammenhang zwischen der rassischen Verfolgung in den Vertreibungsgebieten als Angehöriger des deutschen Sprach- und Kulturkreises und zwei Herzinfarkten, die erst 1980 und 1981 auftraten) 44
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§ 1 Lösungsvorschläge
in der Literatur
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Kriegs- und Nachkriegszeit bedingten Verlusts von Beweismitteln lindern, weil hierin eine besondere, gegenüber dem allgemeinen Beweisrisiko erhöhte Gefährdung der Durchsetzbarkeit materiell berechtigter Ansprüche liegt. Entsprechendes gilt für § 61 S. 1 IfSG: Im Vergleich zum allgemeinen Beweisrisiko erscheint die Prüfung, ob die nach einer Impfung auftretende gesundheitliche Beeinträchtigung eine die Entschädigungspflicht auslösende „unüblichen Impfreaktion" darstellt, als ein gerade wegen der geforderten „Unüblichkeit" besonders schwieriges Unterfangen. Im Ergebnis erscheint deshalb der Analogieschluss als ein (zu) dünner Deckmantel für einen Lösungsversuch, der aus einem durchaus berechtigten rechtspolitischen Unbehagen mit der derzeitigen Rechtslage resultiert, sich aber de lege lata nicht aus den Intentionen des Gesetzgebers ableiten lässt. Wer den Nachweis der Kausalität generell an ein geringeres Beweismaß binden will als andere Tatbestandsmerkmale, verlässt das geltende Recht. Der pauschale Hinweis, dass der Kausalitätsbeweis besonders schwierig zu führen sei 53 , ist keine Rechtfertigung, zumal es an jeglichen empirischen Belegen für diese Aussage fehlt. Dass der Kausalzusammenhang nur durch Gedankenoperationen, durch ein „Denken in (hypothetischen) Alternativen" zu erschließen ist 54 , dass es „pathologische" Fälle gibt, wie sie auch diese Untersuchung beschäftigen, in denen der Kausalitätsnachweis problematisch ist, sagt nichts darüber aus, ob Beweisprobleme generell häufiger in Zusammenhang mit diesem Tatbestandsmerkmal als mit einem anderen auftauchen. 3. Analogie zu §830 Abs. 1 S. 2 BGB Einige Gefolgschaft hat schließlich Bydlinski55 mit seinem Vorschlag gefunden, im Rahmen der deliktischen Haftung in Analogie zu § 830 Abs. 1 S.2 BGB und unter Heranziehung des Gedankens der Mitverantwortung aus § 254 BGB die bloße Möglichkeit einer Kausalbeziehung, die nicht einmal eine überwiegende Wahrscheinlichkeit sein muss, für eine allerdings nur entsprechend der Größe der Möglichkeit anteilige Haftung ausreichen zu lassen, wenn die übrigen Haftungsvoraussetzungen auf dem üblichen Wege nachgewiesen wurden 5 6 . 53 MünchKommZPO/Prütting, §286 Rdnr.47; Prutting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 109. 54 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 149. 55 Probleme der Schadensverursachung, 77ff., 113; ders., FS Beitzke, 3 (30ff.); ders., FS Frotz (1993), 3 (6); aufbauend auf Wilburg, nach dem ein Täter immer dann anteilig für eine Schaden haften soll, wenn ein „ursächlicher Zusammenhang zwischen Tat und Verletzung nicht bewiesen, sondern nur möglich ist" (Die Elemente des Schadensrechts (1941), 74f.). 56 Wie Bydlinski Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 82 II 3 c); Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 120; Heime, NJW 1973, 2021 (2022); Soergel/Zeuner, § 830 Rdnr. 18; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdnr. 526f. Für das Arzthaftungsrecht zustimmend Kasche, Verlust von Heilungschancen (1999), 260ff., Koziol, FS Stoll, 233 (247ff.). Für
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
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in der Literatur und eigener
Ansatz
Z w a r w i r d m a n § 8 3 0 A b s . 1 S. 2 B G B n i c h t v o l l s t ä n d i g die A n a l o g i e f ä h i g k e i t a b s p r e c h e n k ö n n e n . E s ist n i c h t s d a g e g e n e i n z u w e n d e n , die N o r m e n t s p r e c h e n d a u f d e l i k t i s c h e u n d G e f ä h r d u n g s t a t b e s t ä n d e a u ß e r h a l b der § § 8 2 3 ff. B G B 5 7 sow i e a u f v e r t r a g l i c h e 5 8 S c h a d e n e r s a t z a n s p r ü c h e a n z u w e n d e n , w e i l die
Norm
n i c h t a u f B e s o n d e r h e i t e n des D e l i k t s r e c h t s i m A l l g e m e i n e n o d e r d e r § § 8 2 3 ff. B G B i m Speziellen b e r u h t , s o n d e r n e i n e n I n t e r e s s e n k o n f l i k t zu l ö s e n v e r s u c h t , der sich in g l e i c h e r W e i s e in allen F ä l l e n der S c h a d e n e r s a t z h a f t u n g
stellen
kann59. F r a g l i c h ist aber, o b die V o r s c h r i f t h i n s i c h t l i c h der k o n k r e t e n A u s g e s t a l t u n g der U n s i c h e r h e i t ü b e r d e n K a u s a l v e r l a u f a u s g e d e h n t w e r d e n k a n n . D i e g a n z ü b e r w i e g e n d e M e i n u n g 6 0 l e h n t dies zu R e c h t a b , weil die R e g e l u n g i h r e ratio
aus
einer g a n z speziellen K o n s t e l l a t i o n s c h ö p f t : W ä h r e n d u n g e w i s s ist, w e r v o n m e h r e r e n , die u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r r e c h t s w i d r i g u n d s c h u l d h a f t ( s o w e i t n a c h der e i n s c h l ä g i g e n A n s p r u c h s g r u n d l a g e e r f o r d e r l i c h ) eine u n e r l a u b t e H a n d l u n g b e g a n g e n h a b e n , d e n S c h a d e n des O p f e r s v e r u r s a c h t h a t , s t e h t j e d e n f a l l s fest, dass
eine v o n diesen P e r s o n e n v e r a n t w o r t l i c h ist. D e r G e s c h ä d i g t e w ü r d e hier,
die entsprechende Vorschrift des niederländischen Rechts ( § 6 : 9 9 BW) wie Bydlinski Akkermans, Proportionele aansprakelijkheid bij onzeker causaal verband (1997), 70ff.; im österreichischen Recht Bydlinski folgend etwa Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht, Bd.I, Rdnr. 3/36ff., 57, und in beschränktem Umfang Teile der österreichischen Rechtsprechung, vgl. dazu unten S. 158 ff. Porat/Stein, Tort Liability under Uncertainty, schließlich vertreten „within the confines of the English and American tort doctrines" (S. 1) mit ihrer „evidential damage doctrine" eine ganz ähnliche Lösung: Der (mögliche) Deliktstäter soll in den im deutschen Recht von § 8 3 0 Abs.l S. 2 BGB in direkter Anwendung erfassten Fällen in voller Höhe (S. 167f.), bei sonstigen unklaren Kausalverläufen entsprechend der Wahrscheinlichkeit seiner Ursächlichkeit für eine Quote des Endschadens (S. 168) haften. Ihre Argumentation aber greift zu kurz: „We reach this conclusion on the argument that the law should recognize that the plaintiff has a legitimate interest in ascertaining the cause of her or his direct damage whenever it is possible that this damage resulted from a wrongdoing. By inflicting evidential damage and thereby taking away from the plaintiff the information necessary for ascertaining the cause of her or his direct damage, the defendant took something of value from the plaintiff", das er zu ersetzen habe (S. 167). Die anteilige Einstandspflicht des möglichen Täters kann nicht allein mit des Opfers Informationsdefizit hinsichtlich seines Kausalbeitrags begründet werden. Es bedarf vielmehr gerade der (von Porat und Stein nicht gegebenen) Begründung, warum eine nur möglicherweise in den Schaden des Opfers involvierte Person für dessen lückenhaften Kenntnisstand gerade stehen soll. 5 7 Näher mit Beispielen Eberl-Borges, NJW 2 0 0 2 , 949; Eberl-Borges AcP 196 (1996), 491 (526ff.); Rechtsprechungsnachweise zur analogen Anwendung des § 830 Abs. 1 S.2 im Bereich der Gefährdungshaftung Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 830 Rdnr. 74. 5 8 BGH NJW 2 0 0 1 , 2538; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 8 3 0 Rdnr. 77; Eberl-Borges, NJW 2 0 0 2 , 949; Schantl, VersR 1981, 105 (107). 5 9 BGH NJW 2 0 0 1 , 2538 (2539) im Anschluss an Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 830 Rdnr. 74; Eberl-Borges, NJW 2 0 0 2 , 949. 6 0 Etwa MünchKomm/Stein, § 8 3 0 Rdnr. 24; R G R K / S t e f f e n , § 8 3 0 Rdnr. 19; Erman/Schiemann, § 8 3 0 Rdnr. 7; ]auernig/Teichmann, § 8 3 0 Rdnr. 11; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 8 3 0 Rdnr. 82f. m.w.N.; Katzenmeier, Arzthaftung, 527 m.w.N.; Mehring, Beteiligung und Rechtswidrigkeit bei § 830 I 2 BGB, 106ff.
§ 1 Lösungsvorschläge
137
in der Literatur
würde man die Zweifel über den Kausalzusammenhang zu seinen Ungunsten werten, eines sicheren Anspruchs gegen jedenfalls einen der Missetäter beraubt. Wollte man hingegen die Norm im Wege der Analogie auf Fallgestaltungen ausdehnen, in denen die Wahl nicht zwischen mehreren Tätern zu treffen ist, sondern zwischen einem möglichen Verantwortlichen und dem dem Geschädigten selbst zur Last fallenden Zufall oder Schicksal, so würde ein Anspruch geschaffen, von dem man nicht weiß, ob er nicht zu Unrecht einen Schadensausgleich dort begründet, wo keiner angebracht wäre. Es liegt nicht in der Zweckrichtung der Vorschrift, dem Geschädigten auch bei nur möglicher Berechtigung einen Ersatzanspruch zu verschaffen 61 . Im Gegenteil: Das Interesse des Geschädigten, in einer unklaren Situation Schadenersatz zu verlangen, wird nur dann gegenüber dem Interesse der möglichen Täter, nicht ohne Kausalitätsnachweis haften zu müssen, höher bewertet, wenn dem Geschädigten unzweifelhaft ein Ersatzanspruch zusteht und lediglich fraglich ist, gegen welchen Beteiligten 62 . In dieser Situation hat jeder der möglichen Täter eine Handlung vorgenommen, die zu dem eingetretenen Schaden führen konnte: „Ob sie tatsächlich für den Schaden kausal wurde, war nur noch eine Frage des Zufalls. Wurde sie nicht kausal, so war dies jedenfalls kein Verdienst des jeweiligen Beteiligten" 6 3 . Dies unterscheidet die von § 8 3 0 Abs. 1 S . 2 BGB erfassten Fälle von den hier interessierenden Fallgestaltungen, in denen nach der Beweislage möglich ist, dass der Schaden vom Geschädigten selbst ersatzlos zu tragen ist. Man mag die auf die Auswahl zwischen mehreren möglichen Tätern begrenzte Zweckrichtung der Norm aus rechtspolitischer Sicht kritisieren. Sie verhindert aber de lege lata, die hier interessierenden Zweifel darüber, ob dem Geschädigten überhaupt ein Ersatzanspruch zusteht, als einen in der Interessenlage vergleichbaren Sachverhalt anzusehen, der im Wege des Analogieschlusses abzudecken ist. Die Zurechnung der nur möglicherweise verursachten Rechtsgutsverletzung bedeutet hier für den Betroffenen, dass er von einem allgemeinen Lebensrisiko insoweit freigestellt wird, als sich möglicherweise sein Schaden auch ohne den Beitrag des in Anspruch Genommenen eingestellt hätte 6 4 , während § 8 3 0 Abs. 1 S. 2 BGB nur das besondere Risiko paralleler deliktischer Handlungen verteilen will. Man kann im Übrigen schwerlich davon ausgehen, dass das Fehlen einer allgemeinen Regel, die dem Geschädigten einen Anspruch gegen den nur möglichen Verursacher seines Schadens bescheren soll, eine vom Gesetzgeber ungewollte,
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 8 3 0 Rdnr. 84. Eberl-Borges, N J W 2 0 0 2 , 949 (950). 63 Eberl-Borges, N J W 2 0 0 2 , 9 4 9 (950); vgl. auch Eberl-Borges, 491(502ff.). 6 4 Richtig Stall, FS Steffen, 4 6 5 (477). 61 62
AcP 196
(1996),
138
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
„planwidrige" Lücke darstellt 65 . Fälle, in denen das angegangene Gericht nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen kann, ob der Beklagte tatsächlich den Schaden verursacht hat oder dieser vom klagenden Geschädigten ersatzlos selbst zu tragen ist, waren und sind dem Gesetzgeber nicht unbekannt; die non-liquetEntscheidung zu Lasten des Klägers ist die von ihm generell vorgesehene Antwort. In wenigen besonderen Situationen, in denen ihm diese Antwort nicht ausreichend erschien, hat er eine abweichende Regelung ausdrücklich normiert, so etwa in § 84 Abs. 2 AMG in der Fassung durch das Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz 66 . Das schließt aus, in allen anderen Fallgestaltungen, in denen er sich zu einem solchen Schritt nicht durchringen konnte, im Wege des Analogieschlusses korrigierend einzugreifen. Gegen diesen spricht schließlich auch, dass die Rechtsfolge des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB nicht passt: Er ordnet eine volle Haftung des in Anspruch genommenen möglichen Täters an, während in analoger Anwendung nur eine teilweise Haftung in Abhängigkeit vom Grad der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs begründet werden soll. Wenn §830 Abs. 1 S.2 BGB dazu genutzt wird, eine nur möglicherweise verursachte Rechtsgutsverletzung zuzurechnen, ist nicht zu begründen, warum der daraus hervorgehende Schaden des Betroffenen nur teilweise zu ersetzen ist 67 . Der Gedanke der „Mitverantwortung" aus § 254 BGB, dessen sich Bydlinski als Brücke bedient 68 , ist wenig tragfähig, weil es nicht darum geht, dem Geschädigten einen Vorwurf dahingehend zu machen, dass er selbst in sorgfaltswidriger Weise zur Schadensentstehung beigetragen hat 6 9 . Der Hinweis auf § 840 Abs. 1 BGB70 passt ebenso wenig, weil diese Norm zwar zum Ausgleich im Innenverhältnis zwischen zwei nach außen als Gesamtschuldner haftenden Schädigern zu § 426 BGB und somit nach einhelliger Praxis zur Anwendung des § 254 BGB führt 7 1 , dabei aber gerade einen nachgewiesenen Kausalbeitrag beider Gesamtschuldner voraussetzt und gerade nicht „Verantwortlichkeitsbeiträge auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsschätzungen festlegt" 72 .
65
Zu dieser Voraussetzung des Analogieschlusses vgl. hier nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 194. 66 BGBl. 2002 I, 2674. § 84 Abs. 2 S. 1 A M G bestimmt: „Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist." 67 Stoll, FS Steffen, 465 (477). 68 Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, 87. 69 Ebenso Mehring, Beteiligung und Rechtswidrigkeit bei § 830 I 2 BGB, 108. 70 Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr.40 (Januar 1999), 9. 71 Vgl. hier nur Münch Komm/Stein, § 840 Rdnr. 22 mit zahlreichen Nachweisen. 72 So aber Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr.40 (Januar 1999), 9.
§ 1 Lösungsvorschläge
in der
Literatur
139
III. Beweislastumkehr für die Kausalität bei jeder Pflichtwidrigkeit Andere Wege gehen diejenigen, die statt beim Beweismaß bei der Beweislast ansetzen: Ist ein Pflichtenverstoß des Anspruchsgegners bewiesen, soll dieser die Beweislast dafür tragen, dass sein Handeln nicht für den Schaden des Opfers ursächlich war 73 . Gegen dieses „krude und mechanische Instrument"74 sprechen jedoch die bereits gegen die arzthaftungsrechtliche Rechtsprechung zur Beweislastumkehr (erst) bei einem groben Pflichtenverstoß vorgebrachten Gründe75: Will man nicht lediglich trotz ungewisser Schadensursächlichkeit eine unzulässige zivilrechtliche Sanktion des Pflichtvergessenen durchsetzen, ist die Umkehr der Beweislast allenfalls dann gerechtfertig, wenn die Regel, die verletzt wurde, gerade deshalb aufgestellt wurde, um (auch) die Unklarheit über den weiteren Kausalverlauf zu verhindern. Dem ist nur in den seltensten Fällen so. Ein bereits genanntes Beispiel ist die ärztliche Dokumentationspflicht: 'Wenn die Aufzeichnungen über den Behandlungsverlauf nicht nur die Therapie sichern, sondern auch den Patienten vor Beweisnot bewahren sollen76, kann man vom Arzt im Haftpflichtprozess verlangen, die Vermutung zu entkräften, dass eine vollständige Dokumentation dem Patienten die Beweisführung ermöglicht hätte. In der Regel soll eine Verhaltensnorm hingegen ein bestimmtes Risiko minimieren - ob dieses sich bei einem Verstoß verwirklicht hat, kann und soll die Regel selbst nicht beantworten77. Die Pflichtwidrigkeit als solche gibt keinen Grund und keine Handhabe dafür, das Schadensrisiko im Wege der Beweislastumkehr auf eine Person zu übertragen, von der gerade nicht bekannt ist, ob sie auf das verletzte
73 Deutsch, FS Larenz I, 885 (901 f.); Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 149 (für das Arzthaftungsrecht). Vorsichtig in diese Richtung auch Staudinger/Schiemann, Vorbem. zu § § 2 4 9 f f . Rdnr. 95, der im Rahmen der Darstellung der arzthaftungsrechtlichen Sonderregeln der Rechtsprechung eine „überzeugende Begründung" dafür vermisst, „weshalb bei einem nachgewiesenen Behandlungsfehler, der den Schaden herbeizuführen geeignet war, die Beweiserleichterung erst eingreift, falls dieser Fehler als grob oder schwer gekennzeichnet werden kann."
Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 2 3 3 . Oben S.34ff. 7 6 So Uhlenbruck/Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 59 Rdnr. 5, 8. Das ist aber nicht unumstritten, a.A. etwa Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdnr.202 („Ziel und Zweck der Dokumentation sind nicht die forensische Beweissicherung, sondern die Gewährleistung sachgerechter medizinischer Behandlung ..."). 7 7 Vgl. etwa BGH J Z 1988, 656 (659): Die anwaltliche Pflicht zur eindeutigen Formulierung eines Vertrages hat nicht den Zweck, den Mandanten in einem Regressprozess gegen den Anwalt vor Beweisschwierigkeiten zu schützen, sondern ihn vor Streitigkeiten mit dem Vertragspartner über den Vertragsinhalt zu bewahren. Ablehnend Poll, ZVglRWiss 94 (1995), 2 3 7 (254), mit der wenig überzeugenden Begründung, dass diese Pflicht des Anwalts „gerade gegenüber seinem Mandanten" bestehe. Das gilt wohl für die meisten Vertragspflichten und ist deshalb wenig geeignet als Unterscheidungskriterium zwischen Vertragspflichten, deren Verletzung eine Beweislastumkehr für die Schadenskausalität herbeiführt, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. 74
75
140
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
Interesse tatsächlich eingewirkt h a t 7 8 . Deshalb ist etwa auch dem B G H nicht zuzustimmen, der im bekannten Schwimmmeister-Fall v o m beklagten Schwimmmeister den Nachweis verlangte, dass der Schwimmschüler, der während der pflichtwidrigen Abwesenheit des Beklagten ertrunken war, auch bei ordnungsgemäßer Beaufsichtigung ums Leben g e k o m m e n w ä r e 7 9 ; zweifelhaft w a r die Verantwortung des Beklagten in diesem Fall deshalb, weil auch ein Tod durch plötzliches Herzversagen möglich war. D e r Schwimmmeister hat die Badenden zu überwachen, um sie vor auf diese Tätigkeit zurückzuführende Risiken zu schützen, nicht um ihnen die Beweisführung zu erleichtern, falls ungewiss ist, o b sich im Schaden seine Pflichtverletzung oder eine davon unabhängige Prädisposition des Geschädigten ausgewirkt hat. Deutlich wird dies auch an einer Entscheidung des OLG Hamm 8 0 , in der das Gericht gerade entgegengesetzt entschieden hat. Dem Arzt wurde vorgeworfen, im Rahmen einer unter Intubationsnarkose durchgeführten Hüftoperation die Pflicht verletzt zu haben, den zur Infusion genutzten rechten Arm des am anderen Arm an einer Plexusparese leidenden Patienten in einem Abduktionswinkel von unter 90° zu lagern. Es kam postoperativ zu einer Lähmung des rechten Armes. Ungeklärt blieb, ob dies bei pflichtgemäßer Lagerung hätte vermieden werden können. Das Gericht bejahte dennoch den Ursachenzusammenhang, weil die Beweislast für die fehlende Kausalität wegen der grundsätzlichen Eignung der unterlassenen Maßnahme zur Schadensvermeidung beim Arzt liege 81 . Das entbehrt jeglicher Grundlage: Wäre die spezielle Lagerung des Armes nicht geeignet, Schaden abzuwenden, bestünde schon keine Pflicht des Arztes zu dieser Maßnahme. Ob die Pflichtverletzung aber im konkreten Fall tatsächlich einen Schaden verursacht hat, ist eine Frage, deren Beantwortung man nicht allein deshalb dem Arzt auferlegen kann, weil er diese Pflicht vermeintlich verletzt hat 8 2 .
Vgl. Hanau, Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 128. BGH NJW 1963, 959 = VersR 1963, 541. 80 VersR 1998, 1243. 81 OLG Hamm VersR 1998, 1243 (1244). 82 Im Ergebnis wie das OLG Hamm auch BGH NJW 2002, 2636: Der Arzt hatte bei der Ultraschalluntersuchung einer Schwangeren in der 20. Schwangerschaftswoche schwerwiegende Schädigungen des ungeborenen Kindes übersehen, bei deren Kenntnis sich die Eltern zu einem nach den Grundsätzen der medizinischen Indikation rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 a Abs. 2 StGB entschieden hätten. Allerdings besteht nach einer der Entscheidung zugrunde zu legenden Behauptung der Revision bei einem Schwangerschaftsabbruch in der 22.-24. Schwangerschaftswoche, wie er hier in Frage kam, eine 30%-ige Chance, dass trotz des Abbruchs ein überlebensfähiges Kind geboren worden wäre. Die daraus resultierenden Zweifel im Hinblick auf die Kausalität des ärztlichen Fehlers für die als Schaden von den Eltern geltend gemachten Unterhaltsbelastungen sollte der Arzt unabhängig von einem „groben" Behandlungsfehler tragen, weil der vom ärztlichen Fehler verhinderte Schwangerschaftsabbruch „in der Regel die Beendigung des Lebens des Embryos zur Folge" hat (BGH NJW 2002, 2636, 2639). Letzteres mag richtig sein, beantwortet aber nicht die Frage, warum dem Arzt die Unsicherheit darüber zu Last fällt, ob der konkrete Fall eine Ausnahme zu dieser Regel gewesen wäre. 78
79
§ 1 Lösungsvorschläge
in der
Literatur
141
Deshalb findet man zu Recht im BGB keine allgemeine Kausalitätsvermutung, wie sie noch das Preußische Allgemeine Landrecht in § 2 5 I 6 enthielt 83 . Es gibt keinen Anlass, sie durch die Hintertür einzuführen.
IV. Übertragung des Arzthaftungskonzepts auf andere Bereiche Manche sehen eine berufsgruppenübergreifende Lösung darin, die arzthaftungsrechtlichen Grundsätze auf andere Bereiche zu übertragen. Ein „grober" Verstoß gegen Berufspflichten soll also auch bei anderen Dienstleistern 84 , insbesondere bei Anwälten 85 , geeignet sein, die Beweislast für den (fehlenden) Kausalzusammenhang mit dem Schaden umzukehren. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Konzept erübrigt sich an dieser Stelle: Wer wie der Verfasser dieser Arbeit der arzthaftungsrechtlichen Lösung ablehnend gegenüber steht - die Gründe für diese Haltung wurden oben im Einzelnen dargelegt-, kann die Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs nicht befürworten. Bekräftigt sieht man sich darin ausgerechnet durch die Anhänger der Gegenauffassung. Heinemann etwa fordert zwar die Übertragung der Rechtsprechungsgrundsätze zur Arzthaftung auf das Anwaltshaftungsrecht und allgemein auf „vermögensbezogene" Berufspflichten 86 , gelangt aber, wie bereits oben 8 7 zitiert, zugleich zur Erkenntnis, die Anknüpfung der Beweislastumkehr an den groben Verstoß sei „willkürlich" und „schwer nachvollziehbar" 8 8 - es spricht wenig dafür, dass eine „willkürliche" Rechtsprechung durch eine Ausdehnung auf bislang von ihr nicht berührte Felder erträglicher wird. Teske und Poll schließen sich Heinemanns Ziel mit nur geringer Überzeugungskraft an: Der eine be83 „Wer aber in Ausübung einer unerlaubten Handlung sich befunden hat, der hat die Vermuthung wider sich, daß ein bey solcher Gelegenheit entstandener Schade durch seine Schuld sey verursacht worden".(Allgeraeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Textausgabe 1970, 84). 84 Palandt/Heinrichs, § 2 8 2 Rdnr. 14; Jauernig, Zivilprozessrecht, § 50 VII 3. R G R K / S t e f f e n , § 823 Rdnr. 5 2 4 , befürwortet eine „Kausalitätsvermutung" zumindest bei der groben Verletzung von „Berufspflichten" zum Schutz von Leben und Gesundheit, ohne allerdings zu erläutern, ob noch weitere Tätigkeiten über die von der Rechtsprechung neben den Ärzten bereits erfassten Konstellationen hinaus dafür in Betracht kommen. 85 Heinemann, N J W 1 9 9 0 , 2 3 4 5 (2352); Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 161 ff., 183; Poll, Die Haftung der Freien Berufe zwischen standesrechtlicher Privilegierung und europäischer Orientierung, 158f.; ders., ZVglRWiss 94 (1995), 2 3 7 (252); Teske, J Z 1995, 4 7 2 (474); Vollkommer, Anwaltshaftung, l.Aufl., Rdnr. 525; Ziegler, J R 2 0 0 2 , 2 6 5 (269). Ausdrücklich ablehnend zur Beweislastumkehr anhand der groben Pflichtverletzung im Anwaltshaftungsrecht hingegen Borgmann/Haug, Anwaltshaftung, § 4 5 Rdnr. 2 4 ; Chab/ Bräuer, BRAK-Mitt. 2 0 0 1 , 163; Fischer, in: Zugehör (Hrsg.), Handbuch der Anwaltshaftung, Rdnr. 1045. 86 87 88
Heinemann, S.44. Heinemann,
N J W 1990, 2 3 4 5 (2352). N J W 1990, 2 3 4 5 (2352).
142
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener
Ansatz
kennt, dass ihm eine „positive Begründung" für Beweiserleichterungen bei groben ärztlichen Fehlern nicht gelingt 89 , der andere lässt dahinstehen, ob die arzthaftungsrechtliche Anknüpfung an die grobe Pflichtverletzung wirklich „sachgerecht und ausreichend" ist 90 - man sollte meinen, dass dies zwei Punkte sind, die vor der Empfehlung zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der fraglichen Regelung zu klären ist. Ebenso verwundert es, wenn Mätzig über mehrere Seiten „grundlegende ... Einwände" 9 1 gegen die arzthaftungsrechtliche Rechtsprechung ausbreitet, um dann das Argument für ihre Übernahme in die Anwaltshaftung darin zu sehen, dass der Anwalt, der einen groben Pflichtverstoß begeht, sich zu seiner „Zusage" einer ordnungsgemäßen Dienstleistung „derartig in Widerspruch [setzt], daß ihm das Beweisrisiko zuzumuten ist" 92 . Wenn dieser Gedanke richtig wäre, müsste er auch die Beweislastumkehr im Arzthaftungsrecht vor den „grundlegenden Einwänden" retten, denn auch der Arzt verspricht fehlerfreie Dienste. Aber er ist tatsächlich ein allzu dünnes Feigenblatt für eine allein auf das (trügerische) Rechtsgefühl gestützte Billigkeitslösung: Der Verstoß gegen die vom Arzt oder Anwalt übernommene vertragliche Verpflichtung zur fehlerfreien Dienstleistung sagt, ob grob oder leicht, nichts über die Verteilung des Beweisrisikos in Bezug auf die Folgen eines Pflichtverstoßes aus.
V. Rückkehr zur Differenzhypothese bei der Anwaltshaftung für prozessuale Fehler Schließlich sind auch die wenigen, aber gewichtigen Stimmen zu nennen, die Kritik an der Rechtsprechung zur Haftung des Anwalts für prozessuale Fehler üben. Ohne einen übergreifenden, auch andere Dienstleistungen einbeziehenden Lösungsvorschlag zu machen, fordern sie bereits seit langem ein Umdenken speziell in diesem Bereich 93 . Doch beschränken sich diese Autoren auf die Forderung, der Suche nach der hypothetischen Entscheidung des Vorgerichts wieder den zur Bestimmung der Schadenskausalität maßgeblichen Platz einzuräumen, unter Überwindung etwaiger Schwierigkeiten bei der Ermittlung der hypothetischen Entscheidung mittels § 287 ZPO. Den Umstand, dass dieser Spezial-Ansatz nicht zu der hier gesuchten übergreifenden gemeinsamen Lösung für alle Fälle der
89
Teske, J Z 1995, 472 (474). Poll, ZVglRWiss 94 (1995), 237 (252). 91 Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 162. 92 Mätzig, Der Beweis der Kausalität im Anwaltshaftungsprozeß, 164. 93 Baur, Festschrift Larenz 1,1063; Braun, Z Z P 96 (1983), 89; ders., J Z 1997,259; Staudinger/Schiemann, § 249 Rdnr. 73; mit zweifelhaften Differenzierungen Schräder, M D R 1979, 372 (373: Hypothetischer Vorprozess ist nur für den Teilbereich der vom Regressgericht zu verwendenden Beweismittel maßgeblich); Rötelmann, NJW 1958, 1590 (1591): Hypothetische Entscheidung des Vorgerichts wegen § 242 BGB (!) dann nicht maßgebend, wenn sie zu Unrecht zugunsten des Klägers ausgefallen wäre. 90
§2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
143
Dienstleisterhaftung bei unklaren Kausalverläufen führt, mag man noch mit einem Achselzucken übergehen. Zwei Umstände allerdings verhindern, dass man sich mit dem Ansatz auch nur für die Anwaltshaftung für forensische Pflichtverletzungen zufrieden geben kann. Zum einen ist die pauschale Annahme, man könne unter Zuhilfenahme von § 2 8 7 ZPO stets die hypothetische Entscheidung des Gerichts mit einer für die Beurteilung der Schadenersatzforderung hinreichenden Sicherheit ermitteln, deutlich zu optimistisch, wie später im Einzelnen zu zeigen sein wird 94 . Zum anderen setzen die Anhänger dieser Auffassung stillschweigend voraus, dass das Vorverfahren ohne Anwaltsfehler immer mit einer streitigen Entscheidung des Gerichts geendet hätte - eine Annahme, die angesichts der zahlreichen von beiden Seiten fehlerlos geführten Prozesse, in denen am Ende ein Vergleich oder eine sonstige Form der gütlichen Einigung steht, der Wirklichkeit ebenso wenig gerecht wird wie die Lösung der Rechtsprechung. Dies wird unten näher auszuführen sein95; an dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass 1999 nur etwas mehr als ein Viertel aller zivilrechtlichen Verfahren vor den Amtsgerichten und aller erstinstanzlichen Verfahren vor den Landgerichten durch streitiges Urteil erledigt wurden96. VI. Fazit Der Uberblick zeigt: Nicht nur die deutsche Rechtsprechung überzeugt nicht als Modell für eine europaweite Regelung der Dienstleisterhaftung bei unaufklärbaren Kausalverläufen. Auch die bisherigen Ansätze in der deutschen Literatur vermögen nicht rundum zu befriedigen. Möglicherweise hilft ein neuer Weg, bei dem Anregungen aus dem europäischen Ausland aufgenommen werden.
§2 Ein neuer Ansatz für die Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren Kausalverläufen: Der Verlust einer Chance I. Haftung für den Verlust einer Chance: Schadensbewertungsstatt Kausalitätsproblem Die vorangegangene Analyse der deutschen Praxis hat deutlich gemacht, dass es nicht nur die willkürlichen Entscheidungskriterien und die mangelnde Voraussehbarkeit der Ergebnisse im Einzelfall sind, die befremden. Vielmehr stört auch, vielleicht sogar in erster Linie, die Härte, mit der das Alles-oder-Nichts-Prinzip
94 95 96
S.388ff. S.400ff. Vgl. die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, Statistisches J a h r b u c h 2 0 0 1 , 3 5 9 .
144
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
trotz der Ungewissheit über den Beitrag des Anspruchsgegners zum Schaden des Opfers durchgesetzt wird. Wer die Beweislast trägt und die Schwelle des Beweismaßes nicht erreicht, verliert stets zur Gänze, sein Gegner triumphiert auf ganzer Linie. Dieser Umstand sorgt dafür, dass den größten Zuspruch unter den alternativen Lösungsvorschlägen der Literatur Bydlinskis
Forderung nach abgestuftem
Schadenersatz entsprechend der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs erfährt, ungeachtet der Tatsache, dass ein de lege lata tragfähiges Fundament für diesen Weg fehlt. Auch den Gerichten ist gelegentlich unwohl. In einem Fall, in dem es darum ging, o b und gegebenenfalls in welcher H ö h e einem durch eine fehlgeschlagene ärztliche Behandlung geschädigten Vertragsfußballspieler
mit
Trainerlizenz
Schadenersatz wegen entgangener Nebeneinkünfte als Trainer bei Amateurvereinen für den geltend gemachten Zeitraum von 1 0 J a h r e n zustand 9 7 , begnügte sich der B G H nicht mit dem Hinweis an das Berufungsgericht, dass im R a h m e n des § 2 5 2 S . 2 B G B in Ermangelung gegenteiliger Anhaltspunkte von einem „durchschnittlichen E r f o l g " des Geschädigten ausgegangen werden könne und auf dieser Grundlage der Schaden zu schätzen sei. Er fügte nahtlos - und ohne weitere Begründung - an, „[vjerbleibende Risiken k ö n n e n . . . gegebenenfalls auch gewisse Abschläge r e c h t f e r t i g e n " 9 8 . Im Ergebnis mag man dem Gericht gerne folgen: In einem so volatilen Geschäft wie dem Fußball v o m „durchschnittlichen E r f o l g " eines Trainers auszugehen und eine Beschäftigung über einen Zeitraum von zehn J a h r e n zu prognostizieren, erfordert ebensoviel M u t wie die Voraussage eines raschen und endgültigen Scheiterns - da erscheint es als naheliegende Lösung, einen mittleren Weg zu gehen und den Kläger an den Unwägbarkeiten der Prognose durch eine Reduktion seines
Schadenersatzan-
spruchs teilhaben zu lassen. § 2 5 2 S. 2 B G B bietet dafür aber ebenso wenig eine Basis wie § 2 8 7 Z P O . Denn hat man einmal den Gewinn, der dem Geschädigten entgangenen ist, anhand des „gewöhnlichen" Verlaufs festgestellt, gilt wie sonst auch das Alles-oder-Nichts-Prinzip. D e r auf diese Weise ermittelte Schaden ist vollständig auszugleichen, auch wenn sein Ersatz vielleicht - sicher wird m a n es nie erfahren - den Kläger besser stellt, als er stünde, hätte er wirklich sein Glück als Fußballtrainer probieren können. Das Gesetz erlaubt keine weiteren Sicher-
BGH NJW 1998, 1633. BGH NJW 1998, 1633 (1634), unter Bezugnahme auf BGH NJW 1995, 1023, wo der gleiche (VI.) Senat ebenfalls ohne Begründung ausgeführt hatte, dass bei der Ermittlung des unfallbedingten Erwerbsschadens eines Geschädigten, der zum Unfallzeitpunkt in keinem festen Arbeitsverhältnis stand und insgesamt bis dahin ein wenig strukturiertes Erwerbsleben hatte, die „durchschnittliche^] Verdienstmöglichkeiten der in Frage kommenden beruflichen Tätigkeiten als Ausgangspunkt heranzuziehen und von diesen die im Hinblick auf die Unsicherheiten der beruflichen Entwicklung des Klägers geboten erscheinenden (gegebenenfalls prozentualen Abzüge) vorzunehmen" (1024). Ebenso auch BGH NJW 1 9 9 8 , 1 6 3 4 (1636) zum Erwerbsschaden eines Selbständigen. 97 58
§ 2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
145
heitsabschläge mit dem Argument, dass es im konkreten Fall unsicher ist, o b dieser gewöhnliche Verlauf tatsächlich eingetreten w ä r e " . Aus den USA gibt es Ähnliches zu berichten: Empirische Studien im Rahmen von mock trials (gestellten Gerichtsverhandlungen) ergaben, dass die juries in Fällen nicht eindeutiger, aber für das US-amerikanische Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit noch hinreichend sicherer Kausalität durchschnittlich 2 0 % weniger Schadenersatz zusprachen als in Konstellationen, in denen über die Kausalität keine Zweifel bestanden, ungeachtet des Umstands, dass der Schaden selbst in beiden Fallgruppen gleich hoch war 1 0 0 . Hier zeigt sich das gleiche Phänomen wie in der obigen BGH-Entscheidung: Obwohl die Voraussetzungen für einen vollständigen Schadenersatz nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip gegeben waren, diskontierten die Jury-Mitglieder die Ersatzsumme wegen der verbleibenden Unsicherheit über den Kausalverlauf. Die in dieser Arbeit vertretene These zur Behebung dieses Dilemmas für den Dienstleistungsbereich ist: In den Fallgestaltungen, in denen es die vertraglich übernommene oder gesetzlich übertragene Pflicht des Dienstleisters ist, sein möglichstes im Hinblick auf einen Erfolg beizutragen, dessen Erreichung nach den Vorstellungen beider Vertragsparteien nicht allein von seinem sorgfältigen Handeln abhängt, k a n n der vom Dienstleister nach einer Pflichtverletzung auszugleichende Schaden schon in dem Verlust der Chance liegen, dieses Ziel zu realisieren. Konkreter lässt sich anhand der in dieser Arbeit in den Vordergrund gerückten Anwälte und Ärzte formulieren: Wenn ein Anwalt durch eine Pflichtverletzung das Risiko eines für seinen M a n d a n t e n ungünstigen Ausgangs des Streits zur Gewissheit macht oder der Arzt durch einen Kunstfehler eine von Beginn an unsichere Heilungschance zunichte macht, kann bereits darin ein Schaden liegen, der zum Ersatz verpflichtet. Gleiches gilt, wenn der Arzt oder der Anwalt seinen Klienten vor einer von diesem zu treffenden Entscheidung über eine medizinische oder juristische M a ß n a h m e über deren Implikationen aufzuklären hatte und dies unzureichend getan hat: Entgangen ist dem Klienten zunächst einmal die C h a n c e , durch eine informierte Entscheidung den schlechten Ausgang abzuwenden. D e r Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und
diesem
Schaden ist in den meisten Fällen relativ einfach feststellbar; der Unsicherheit über den weiteren Verlauf, das heißt darüber, o b im weiteren
Ungemach des
Klienten (Prozessniederlage, gesundheitliche Beeinträchtigung) sich tatsächlich das erhöhte Risiko ausgewirkt hat, ist eine Frage der Bewertung
der vom Dienst-
leister vereitelten Chance auf eine abweichende Entwicklung. Anknüpfungspunkt der schadensrechtlichen Betrachtung ist demnach - und darin unterscheidet sich dieser Ansatz von Bydlinskis
Analogie zu § 8 3 0 Abs. 1
9 9 Ähnlich Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 227, der aber den Hinweis auf das Alles-oder-Nichts-Prinzip als „formal" herabwürdigt und es im Ergebnis begrüßt, dass der BGH mit einer „schätzweisen Abstufung" der Ersatzsumme zu Ergebnissen kommt, die mit diesem Grundsatz nicht in Einklang zu bringen sind. 100 Gold, (1986) 96 Yale L.J. 376, 399 Fn. 118.
146
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
S. 2 B G B - nicht der am Ende der anwaltlichen oder ärztlichen Betreuung eingetretene Vermögens- oder Gesundheitsschaden, sondern die entgangene M ö g l i c h keit der Vermeidung dieses Schadens. Demgemäss ist nicht der volle Vermögensoder Gesundheitsschaden auszugleichen, sondern nur der Wert der verlorenen Aussicht. D a s Problem wird dadurch zum einen von der Kausalität in die Schadensbewertung verlagert, w o es differenzierter gelöst werden kann als nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. D e r Wert einer Chance bestimmt sich nach dem Wert des angestrebten Erfolges in Abhängigkeit von seiner Eintrittswahrscheinlichkeit. Z u m anderen wird eine uferlose Ausdehnung der Haftung vermieden: Nicht jeder nur mögliche Verursacher irgend eines Schadens kann anteilig zur Kasse gebeten werden, sondern nur derjenige, der zuvor die Verpflichtung übern o m m e n hatte, für eine Chance zu sorgen.
II. M e i n u n g s s t a n d in D e u t s c h l a n d z u m V e r l u s t e i n e r C h a n c e als e r s a t z f ä h i g e m S c h a d e n 1.
Rechtsprechung
Die Rechtsprechung hat den Verlust einer Chance noch nicht als einen zumindest der Diskussion würdigen Schadensposten entdeckt. Soweit ersichtlich, gibt es nur ein Verfahren, in dem ein Untergericht zumindest der Sache nach eine verlorene Chance als ersatzfähigen Schaden anerkannt hat. Die beklagte Stadt hatte einen Architektenwettbewerb für ein Kurhaus mit Hoteltrakt ausgeschrieben. Es waren vier Preise ausgesetzt, von denen der höchste D M 22.000 betrug; zwei der preisgekrönten Arbeiten sollten angekauft werden. 42 Architekten wurden zum Wettbewerb zugelassen. Der Kläger, der etwa D M 82.000 in einen Vorentwurf und ein Modell investiert hatte, wurde demgegenüber zu Unrecht wegen angeblich verspäteter Einreichung seines Entwurfs von der Teilnahme ausgeschlossen und klagte auf Schadenersatz in Höhe seiner Aufwendungen. Unter dem Gesichtspunkt eines Anspruchs auf Ersatz des Vertrauensschadens (negatives Interesse) 101 war die Klage nicht zu begründen, denn die Aufwendungen wären dem Kläger auch dann entstanden, wenn er ordnungsgemäß zum Wettbewerb zugelassen worden wäre 1 0 2 . Das OLG Frankfurt am Main als Berufungsgericht sprach dem Kläger denn auch zwei Drittel der Klagesumme unter dem Gesichtspunkt des positiven Interesses zu, weil ihm die „Chance [genommen worden war], einen Preis zu gewinnen und den anschließenden Auftrag zu erhalten"; zudem sei ihm die Erhöhung des fachlichen Renommees sowie die Werbewirkung der Teilnahme beim interessierten Publikum entgangen, die zu Aufträgen hätten führen können. Ein Drittel der tatsächlichen Aufwendungen hielt das Gericht nicht für ersatzfähig, weil mit der Teilnahme an einem Architektenwettbewerb auch „immaterielle Vorstellungen" (Befriedigung rein fachlicher und künstlerischer Interessen, Vermittlung von Anregungen für die künfti101 Zum Ersatz des Vertrauensschadens bei pflichtwidriger Nichtberücksichtigung des Teilnehmers an einem Wettbewerb vgl. allgemein MünchKomm/Oetker, §249 Rdnr. 33; Ackermann, ZHR 164 (2000), 394 (415). 102 Vgl. BGH NJW 1983, 443 (444).
§ 2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
147
ge Arbeit) verbunden seien und „insoweit ein Teil des Aufwandes des Architekten von vornherein immer als unrentabel abgebucht" werde 1 0 3 . Dieses Urteil hat einige Schwächen, von denen die erste und größte ist, dass das Gericht seinem eigenen Ansatz bei der verlorenen Chance als Schaden nicht treu bleibt. Statt sich zur Schadensberechung die Frage zu stellen, wie groß die Chance auf einen Erfolg (bei 4 2 weiteren Teilnehmern!) gewesen wäre und welchen Wert sie bei einem Preisgeld für den ersten Platz von D M 2 2 . 0 0 0 und der an eine Auszeichnung gekoppelten Ankaufsmöglichkeit gehabt hätte, will der Senat als M a ß s t a b für den Schaden die fehlgeschlagenen Aufwendungen des Klägers („Frustrationsschaden") heranziehen. M a n müsse auf der Basis der „Rentabilitätsvermutung" davon ausgehen, dass der Geschädigte seine Aufwendungen durch Vorteile, die er aus der Durchführung des gescheiterten Projekts gezogen hätte, wieder eingebracht h ä t t e 1 0 4 . In dieser Rentabilitätsvermutung liegt der zweite Fehler, wobei die pauschale und nicht näher begründete Kürzung der Ersatzsumme um ein Drittel wegen angeblich mitschwingender
„immaterieller
Vorstellungen" verrät, dass dem Gericht selber ein wenig unwohl war. D e r B G H begnügt sich in der Revisionsentscheidung denn auch mit dem trockenen Hinweis, dass die Rentabilitätsvermutung für Austauschverträge entwickelt wurde, bei denen sich im Regelfall die beiderseitigen Leistungen nach dem Parteiwillen als gleichwertig gegenüberstehen 1 0 5 . Bei einem Wettbewerb werden hingegen von den Teilnehmern Kosten aufgewendet, ohne dass dem ein rechtsgeschäftlich begründeter Anspruch auf eine gleichwertige Gegenleistung entgegensteht; im konkreten Fall m a c h t schon die Diskrepanz zwischen dem 1. Preis von D M 2 2 . 0 0 0 und den Aufwendungen des Klägers von D M 8 2 . 0 0 0 deutlich, dass eine angemessene Rendite nur in kühnen Träumen erwartet werden konnte. Der B G H bereitet diesen Träumen ein jähes Ende: Wolle der Architekt mit seiner Klage Erfolg haben, müsse er nach § 2 8 7 Z P O nachweisen, dass er Preis und gegebenenfalls Auftrag tatsächlich gewonnen hätte; gelinge ihm das nicht, stehe ihm kein Schadenersatz z u 1 0 6 . M a n k a n n dem B G H sicherlich nicht vorwerfen, dass er dem verunglückten Ansatz des Berufungsgerichts eine Absage erteilt hat. Zweifelhaft ist aber, o b seine eigene Lösung überlegen ist. Grunsky
bejaht mit dem Hinweis, dass m a n dem
Kläger im Wege der Schadensberechnung nicht das Risiko des Scheiterns abnehmen dürfe, das er bei ordnungsgemäßer Behandlung seines Entwurfs hätte in K a u f nehmen m ü s s e n 1 0 7 . Das trifft zu, doch legt das Argument zugleich die Schwäche der BGH-Entscheidung bloß, denn das Risiko zu scheitern ist die 103 Vgl. insoweit die Wiedergabe der Entscheidungsgründe des Berufungsgerichts in BGH NJW 1983, 442 (443). 104 Begründung wiedergegeben in BGH NJW 1983, 442 (443). 1 0 5 BGH NJW 1983, 442 (443); vgl. auch BGHZ 71, 234 (238). 106 BGH NJW 1983, 442 (444). 107 Grunsky, JZ 1983, 372 (377).
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3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
Kehrseite der Möglichkeit zu gewinnen. Wenn bei der Berechnung des Schadenersatzanspruchs das Risiko nicht vernachlässigt werden darf, dass der Teilnehmer leer ausgeht, gilt gleiches auch für seine Chance,
als Sieger aus dem Wettbe-
werb hervorzugehen. D e r B G H aber schneidet diese a b , wenn er v o m Kläger den Nachweis fordert, dass er ohne den Ausschluss tatsächlich gewonnen hätte. Dieser Nachweis wird k a u m jemals gelingen - die Unwägbarkeiten sind auch dann groß, wenn nicht, wie im konkreten Fall, 4 2 weitere Konkurrenten antreten. Z w a r mag die Frage der „Preiswürdigkeit" durch einen Sachverständigen im Wege eines „hypothetischen Inzidentwettbewerbs" zu beantworten sein, wie der B G H m e i n t 1 0 8 ; damit ist aber noch nicht eindeutig geklärt, o b der Kläger im tatsächlich durchgeführten Wettbewerb wirklich einen Preis erhalten hätte, geschweige denn, welcher von den vieren an ihn gegangen wäre, und o b mit ihm auch ein Ankauf der Arbeit verbunden gewesen wäre. Die situationsgebundene Entscheidung einer mehrköpfigen J u r y auf der Grundlage von Fachexpertise im Nachhinein mit der v o m B G H geforderten Sicherheit hypothetisch feststellen zu wollen, erscheint als ein müßiges U n t e r f a n g e n 1 0 9 . K a n n deshalb der Veranstalter eines Wettbewerbs regelwidrig Teilnehmer ausschließen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen? Passend dazu gibt es für den hier interessierenden Dienstleistungssektor nicht eine einzige gerichtliche Stellungnahme zur Frage der Haftung für eine verlorene Chance. Z u erklären ist dies daraus, dass man sich hier wie in anderen Bereichen mit den oben wiedergegebenen Mitteln der Beweislastumkehr in speziellen Fällen und der Beweismaßreduktion für die haftungsausfüllende Kausalität in § 2 8 7 Z P O zufrieden gibt - sehr zu Unrecht, wie die Entscheidung des B G H im Architektenfall und das bereits oben diskutierte Rennpferdurteil des O L G Düsseld o r f 1 1 0 zeigt. Dem widerspricht nicht, dass der BGH im sog. Frachttreuhandfall 111 mit einer recht großzügigen Interpretation des § 287 ZPO i.V.m. § 252 BGB ZPO zu helfen wusste. In diesem Fall war drei Speditionen aufgrund rechtswidriger, die Einschaltung einer bestimmten andere Speditionsfirma festlegender Ausschreibungsbedingungen für Getreideimportlizenzen die Chance genommen worden, in Konkurrenz untereinander Aufträge für die Vermittlung von Schiffsraum für den Transport des Getreides zu erhalten. Das Berufungsgericht hatte die Schadenersatzklage einer der drei Speditionen nach Beweisaufnahme abgewiesen, weil diese nicht belegen konnte, dass ihr konkrete Aufträge entgangen sind: Die potentiellen Kunden, von denen einige als Zeugen gehört wurden, hätten sich jeweils mit BGH NJW 1983. 442 (444). So auch Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr. 40 (Januar 1999), 6. 110 VersR 1987, 691, dazu oben S. 118. 111 BGHZ 29, 393. In der Literatur zu diesem Fall etwa Arens, ZZP 88 (1975), 1 (12f.); Fleischer, JZ 1999, 766 (770); MünchKomm/Grunsky, 3. Aufl., §252 Rdnr. 9; Lange, Schadensersatz, 2. Aufl. (1990), § 6 X 3; Müller-Stoy, Schadensersatz für verlorene Chancen, 119ff.; Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431 (461ff.), Stoll, AcP 176 (1976), 145 (190). 108
109
§2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
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gleich großer Wahrscheinlichkeit, also 1:3, an eine der drei fraglichen Speditionen gewandt. Der BGH hob die Entscheidung mit der Begründung auf, dass es im Rahmen von § 2 5 2 S. 2 BGB genüge, wenn nach dem „allgemeinen Lauf der Dinge" die Klägerin jedenfalls von einigen Kunden wahrscheinlich beauftragt worden wäre, auch wenn diese nicht namentlich benannt werden können; der insoweit entstandene Schaden sei nötigenfalls nach § 2 8 7 Abs. 1 ZPO zu schätzen 112 . Diese Lösung hat, unabhängig davon, wie man dieser Methode der „abstrakten Schadensberechnung" gegenübersteht 113 , nur einen sehr engen Anwendungsbereich. Sie „funktioniert" nur in der seltenen Konstellation, dass mehrere entgangene Aufträge im Raum stehen. Sie versagt hingegen, wenn es, wie in den meisten Wettbewerbsfällen, nur um einen Auftrag geht 1 1 4 - hier ist die Frage, ob ein Schaden entstanden ist, nicht von der Antwort auf die Frage zu trennen, wem dieser eine konkrete Auftrag erteilt worden wäre 1 1 5 .
2.
Literatur
Die Literatur zeigt sich in Deutschland nur wenig aufgeschlossener als die Rechtsprechung. Gelegentlich und eher beiläufig (nämlich in Fußnoten) wird einem entzogenen oder vernichteten Lotterielos deshalb ein v o m T ä t e r auszugleichender Vermögenswert zugesprochen, weil es eine Gewinnchance verkörpert 1 1 6 . Den Verlust einer „ r e i n e n " , nicht in einem W e r t p a p i e r 1 1 7 verkörperten Chance bei unaufklärbaren Kausalverläufen als Schaden zu begreifen, wird hingegen bis in neueste Zeit nur ganz vereinzelt, und dann auch nur auf sehr spezifische Fallgestaltungen beschränkt, vertreten. 1 9 0 8 hatte Oeblert in einem kurzen Beitrag für Seufferts
Blätter angeregt, den
„Verlust der Chance, einen zweifelhaften Prozeß zu g e w i n n e n " , als „positiven S c h a d e n " anzusehen 1 1 8 . Dieser frühe Vorstoß erntete rasch scharfe Kritik von Josef in derselben Z e i t s c h r i f t 1 1 9 und geriet alsbald in Vergessenheit. BGHZ 29, 393 (399f.). Vgl. ausführlich Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431; kritisch etwa Keuk, Vermögensschaden und Interesse, 186 ff.; Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 6 XI 2; Staudinger/Schiemann, §252 Rdnr. 23. 114 Treffend Fleischer JZ 1999, 766 (770): „Gedankliche Sackgasse". 1 1 5 Zu den eher seltenen Fällen, in denen diese Frage zugunsten des Klägers beantwortet werden konnte, vgl. BGH VersR 1966, 630; OLG Düsseldorf, BauR 1985, 107; OLG Düsseldorf, BauR 1989, 195, OLG Düsseldorf BauR 1990, 257. 116 Vgl. Mertens, Der Begriff des Vermögensschadens im Bürgerlichen Recht, 165 Fn.76: „Chancenwert" eines Loses, zustimmend Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 2 I 2. Ähnlich Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 119, der vom Entzug „echter" Gewinnchancen spricht und die Bezugnahme auf den nicht zu ersetzenden „vollen Hauptgewinn" zu verstehen gibt, dass er insbesondere an Lotterien und ähnliche Gewinnspiele denkt. Abweichend Wiese, Der Ersatz des immateriellen Schadens, 30 Fn. 100: Kein Vermögensschaden, wenn sich das Los in der Retrospektive als wertlos herausgestellt hat, ebenso Keuk, Vermögensschaden und Interesse, 193 Fn. 7. 1 1 7 Zum Lotterielos als Wertpapier vgl. Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, § 1 II 5. 118 Oehlert, Seuff.B1.73 (1908), 740 (741). 119 Josef, Seuff.B1.75 (1910), 20. 112 113
150
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener
Ansatz
Viel später äußerte Deutsch zum Arzthaftungsrecht eher beiläufig die Auffassung, (nur) „beim Schmerzensgeld und im Falle des Mitverschuldens" käme eine anteilige Haftung nach Maß des erhöhten Risikos in Betracht 120 - ein halbherziger und wenig überzeugender Versuch, denn ob und unter welchen Bedingungen eine Risikoerhöhung (oder umgekehrt eine vereitelte Chance) die Haftung auslösen kann, muss man entscheiden, bevor man sich über den Umfang der Haftungsfolgen und eine eventuelle Begrenzung durch Mitverschulden Gedanken macht 121 . Zudem erscheint es im Ergebnis wenig plausibel, dass materieller und immaterieller Schaden unterschiedlich behandelt werden und ein Mitverschulden des Geschädigten nicht nur zu einer Kürzung seines Anspruchs um seinen Mitverschuldensanteil, sondern zu einer weiteren, nach dieser Lösung in anderen Fällen ja nicht durchgeführten Quotelung entsprechend der Risikoerhöhung durch den Schädiger führen soll. Stoll möchte wie sein Schüler Müller-Stoy122 in Anlehnung an die englische Rechtsprechung fast ebenso beiläufig wie Deutsch eine verlorene „Erwerbschance", also die Chance auf Erringung eines Vermögensvorteils oder auf Verhinderung einer Vermögenseinbuße, als solche kompensieren, wenn sie „rechtlich geschützt" ist, was sich insbesondere aus einer vertraglichen Beziehung zum Schädiger ergeben könne 123 . Zum Verlust einer Heilungschance begnügt er sich mit dem Hinweis, dass diese, weil kein selbständiges Rechtsgut, jedenfalls deliktsrechtlich nicht geschützt sei 124 ; vertragsrechtlich komme eine Haftung nicht in Frage, weil der Arzt keinen Heilungserfolg schulde und deshalb nur dann einste-
120 Deutsch, FS Larenz I, 885 (902). Im Rahmen einer kritischen Anmerkung zu einem BGHUrteil stellt er weitergehend die Frage, ob nicht die französische und - zu Unrecht im gleichen Atemzug genannte, vgl. unten S. 195 ff. - englische Rechtsprechung zum prozentualen Ersatz einer verlorenen Heilungschance „dem Geschehnis angepasster [ist], ... wertungsjuristischen Grundsätzen [entspricht] und ... überdies gerecht [ist]?" (NJW 1986, 1541). Eine Antwort gibt er nicht. Ähnlich vage gibt sich Deutsch, in seinem Allgemeinen Haftungsrecht, Rdnr. 852: Soweit es verlorene Aussichten gibt, ist der Verlust einer Chance „ein guter Weg, die Unsicherheit der Zurechnung des Schadens vom Prozeßrecht in das materielle Recht zu verlegen" Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 58, findet es bedauerlich, dass sich in Deutschland die Tendenz zur Haftung für den Verlust einer Chance „unter der Herrschaft des Alles-oder-Nichts-Prinzips leider noch nicht [hat] manifestieren können"; unklar bleibt, ob dieses Prinzip aus seiner Sicht eine de lege lata unüberwindbare Hürde darstellt.
Insoweit kritisch auch Stoll, AcP 176 (1976), 145 (177 Fn. 100). Müller-Stoy, Schadensersatz für verlorene Chancen (1973). Er befasst sich trotz des weiten Titels nur mit „Erwerbschancen" und sucht damit kein die Arzthaftung umfassendes Gesamtkonzept. 123 Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Nr. 32. 124 Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Nr. 32 Fn. 162 (S.41); Stoll, FS Steffen, 4 6 5 (475); in der Sache ebenso schon Stoll AcP 176 (1976), 145 (157f.). Ebenso Katzenmeier, Arzthaftung, 526, der daraus allerdings ohne Betrachtung der vertragsrechtlichen Seite vorschnell den Schluss zieht, dass der Ersatz einer verlorenen Heilungschance im deutschen Recht generell nicht möglich sei. 121 122
§2 Haftung von Dienstleistern
bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
151
hen müsse, wenn er durch den Behandlungsfehler nachweislich einen Gesundheitsschaden verursacht habe 125 . So sehen es auch Taupitz/Jones126. Matthies lehnt für das Arzthaftungsrecht ebenfalls ab, die Gesundungschance zum geschützten Gut zu erheben, möchte aber bei unklaren Kausallagen sowohl den vertraglichen als auch deliktischen Schadenersatz mit Hilfe des Rechtswidrigkeitszusammenhangs auf das zusätzliche Risiko beschränken, das der Behandlungsfehler „im Rahmen des Konglomerats Erkrankung-Behandlung" für die Leiden des Patienten gesetzt hat. Er kommt so nach eigenem Bekunden zu Ergebnissen, die mit der Haftung für eine verlorene Chance zumindest verwandt sind 127 . Schäfer unterzog den oben 128 geschilderten Architektenwettbewerb-Fall einer Analyse aus rechtsökonomischer Sicht und leitet daraus ein Plädoyer für die „Wahrscheinlichkeitskausalität mit pro-rata-Haftung"129 ab, die er aber nicht mit Hilfe der verlorenen Chance als Schadensposten in das geltende Recht integrieren will, sondern unter Hinweis auf die Haftungsminderung bei mitwirkender Sach- oder Betriebsgefahr analog § 254 BGB 1 3 0 und die Schadensaufteilung im Innenverhältnis, wenn der Gläubiger einen von mehreren Schädigern zur gesamtschuldnerischen Haftung (etwa nach § 840 Abs. 1 BGB) herangezogen hat 1 3 1 . Schäfer meint, die beiden genannten Regelungen seien Ausdruck einer Durchbrechung des Alles-oder-Nichts-Prinzips im Sinne der Wahrscheinlichkeitskausalität 132 , eine Einschätzung, die offensichtlich nicht zutrifft: Die Normen verteilen bei feststehender Mitursächlichkeit der Beteiligten den Schaden anhand einer Gewichtung ihrer Mitverantwortlichkeit, bieten jedoch keine Handhabe für eine Schadensteilung, wenn fraglich ist, ob der in Anspruch Genommene überhaupt einen Kausalbeitrag geleistet hat. Zudem bleibt es im Hinblick auf den Geschädigten dabei, dass ihm im Sinne des Alles-oder-Nichts-Prinzips der gesamte Schaden zu ersetzen ist. Angesichts dieser kärglichen Ausbeute 133 muss man schon von Hochkonjunktur sprechen, wenn in jüngerer Zeit gleich mehrere Autoren die Möglichkeit ei125 Stall, FS Steffen, 4 6 5 (470). Ablehnend zum Ersatz einer Heilungschance auch MüllerStoy, Schadensersatz für verlorene Chancen, 234. 126 Taupitz/Jones, in: Ratajczak (Schriftltg.), Waffen-Gleichheit, 67 (80). 127 Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, 95ff. 1 2 8 S. 146. 129 Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr.40 (Januar 1999), 11. 1 3 0 Dazu Lange/Schiemann. Schadensersatz, § 10 VII 1. 131 Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr.40 (Januar 1999), 9. Im „Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts" von Schäfer/Ott, 253ff., 2 5 9 wird die „Wahrscheinlichkeitskausalität" noch als eine de lege ferenda einzuführende Neuerung für das deutsche Recht dargestellt. 132 Schäfer, Haftung bei unsicherer Kausalität, der Architektenwettbewerb, Diskussionsbeitrag Recht und Ökonomie Nr.40 (Januar 1999), 9. 1 3 3 An diesem Befund ändert auch Mertens nichts, der, ohne dies näher zu erläutern, „faktische Erwerbschancen" als Vermögensgut betrachten will, „soweit es sich um hinreichend kon-
152
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
ner „ C h a n c e n h a f t u n g " im deutschen Recht näher und gründlicher ins Auge fassen. Großerichter
lehnt sie rundweg ab, weil sie der in § 2 4 9 B G B formulierten
und in den § § 2 5 2 S. B G B , 8 4 2 B G B konkretisierten „Zustandsdifferenz" widerspreche, welche die Einbeziehung des absehbaren weiteren
hypothetischen
Schicksals der betroffenen Position erfordere und deshalb verhindere, dass m a n bei der Chance „stehen b l e i b t " 1 3 4 . Z u d e m k o m m e m a n im Hinblick auf die Heilungschance im deutschen R e c h t „de lege lata nicht daran vorbei, d a ß nur eine Rechtsgutsverletzung warum Fleischer
die Haftung b e g r ü n d e t " 1 3 5 , wobei allerdings offen bleibt,
die Heilungschance selbst dieses verletzte Rechtsgut nicht sein k a n n 1 3 6 . k o m m t unter vertragsrechtlichen und deliktischen Aspekten zu einem
dreigeteilten Ergebnis: In Ausschreibungs- und Wettbewerbsfällen sei der Ersatz verlorener Chancen nach vertragsrechtlichen Kriterien als eine Art der Schadensberechnung „statthaft und sinnvoll", während dieser Ansatz im (deliktsrechtlich geprägten) Arzthaftungsrecht nicht geeignet sei, Kausalitätszweifel zu überwinden; im Anwaltshaftungsrecht hat er seine eigenen Zweifel und m ö c h t e vorbehaltlich einer gründlicheren Diskussion in der Z u k u n f t nur beim „gegenwärtigen Entwicklungsstand" einen Ersatz verlorener Prozess-Chancen
ausschlie-
ß e n 1 3 7 ; zusammengefasst also: J a , nein, vielleicht - eine Differenzierung, die so nicht nur Koziol
unbefriedigend erscheint 1 3 8 . Dessen Position ist eine andere: So-
wohl der Ersatz von Gewinn- als auch der von Prozess-Chancen scheitert im deutschen R e c h t daran, dass das B G B nur den Ersatz des subjektiven Schadens kenne, nicht aber eine objektiv-abstrakte Berechnung des positiven Schadens im Zeitpunkt der Schädigung 1 3 9 . Was die Heilungschancen angeht, so m ö c h t e er diese nicht als eigenständiges Rechtsgut oder Schadensposition anerkennen, sondern schließt sich der o b e n 1 4 0 dargestellten Bydlinskiscben
Lösung der anteiligen
kretisierte und individualisierte Positionen handelt, die Träger eines gegenwärtigen wirtschaftlichen Wertes sind" (Der Begriff des Vermögensschadens im Bürgerlichen Recht, 151). Der Zusammenhang dieser Aussage macht deutlich, dass es ihm nur um die dogmatische Einordnung des § 252 BGB und um die Ersatzfähigkeit entgangenen Gewinns als Folgeschaden eines die Haftung des Schädigers auslösenden Schadensereignisses geht. S. schließlich noch Thüsing, ZRP 2 0 0 1 , 126 (128), der die Haftung für eine verlorene Chance „auf Gewinn, Heilung oder Prozessobsiegen" als eine Richtung ansieht, in die es im deutschen Recht zur Überwindung von Beweisschwierigkeiten gehen könne, freilich ohne dies auch nur ansatzweise zu vertiefen. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 228f. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 262 (Hervorhebung im Original). 1 3 6 Ähnlich und ebenfalls ohne Begründung Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 97 Rdnr. 15: Auch für Ansprüche aus verletzten vertraglichen Pflichten gilt, dass die Sanktion des Schadenersatzes nur für den Fall der Verletzung eines individuellen Rechtsguts vorgesehen ist. 137 Fleischer, J Z 1999, 766 (775). 138 Koziol, FS Stoil, 233 (242). Ohne Begründung (nur) gegen Fleischers Postulat der Ersatzfähigkeit von Gewinnchancen MünchKomm/Oetker, § 2 4 9 Rdnr. 26. 139 Koziol, FS Stoll, 233 (241); ders., in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), 195 (200). 1 4 0 S. 135. 134
133
§2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
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Haftung für den möglicherweise verursachten Gesundheitsschaden über eine Analogie zu § 8 3 0 A b s . l S . 2 B G B a n 1 4 1 . Kasche,
die in ihrem gleichnamigen
Werk ohnehin nur den „Verlust von Heilungschancen" auf rechtsvergleichender Grundlage erörtert, sieht dies e b e n s o 1 4 2 . Jansen
schließlich gibt sich forscher:
Genereller deliktischer Schadenersatz für verlorene Chancen - mit denen er im Wesentlichen Heilungschancen meint - sei in Deutschland verfassungsrechtlich g e b o t e n 1 4 3 , womit sich eine Auseinandersetzung mit kleinkrämerischen Hinweisen auf einfachgesetzliche Hürden erübrigt. Eine Koppelung der Haftung für eine verlorene Chance an einen entsprechenden „Schutzauftrag", wie hier vorgeschlagen, wird von keinem Autor auch nur als Möglichkeit erwogen.
3. Gesetzgebung:
§126
GWB
Die soweit ersichtlich einzige deutsche gesetzliche Haftungsregel, die die verlorene „ C h a n c e " ausdrücklich erwähnt, ist der mit dem Vergaberechtsänderungsgesetz 1 4 4 Anfang 1 9 9 9 in Kraft getretene § 1 2 6 S. 1 G W B : „Hat der Auftraggeber gegen eine den Schutz von Unternehmen bezweckende Vorschrift verstoßen und hätte das Unternehmen ohne diesen Verstoß bei der Wertung der Angebote eine echte Chance gehabt, den Zuschlag zu erhalten, die aber durch den Rechtsverstoß beeinträchtigt wurde, so kann das Unternehmen Schadensersatz für die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme an einem Vergabeverfahren verlangen." Fleischer
sieht die N o r m als „letzten Beweis" für die Sachgerechtigkeit der Er-
satzfähigkeit verlorener Gewinnchancen in zumindest allen Ausschreibungsund Wettbewerbsfällen (und nicht nur in solchen, die dem Vergaberecht des Vierten Teils des G W B unterliegen) 1 4 5 . Aber schon die Rechtsfolge des § 1 2 6 S. 1 G W B m a h n t hier zur Vorsicht: Angeordnet wird der Ersatz der Kosten, die das Unternehmen im Vertrauen auf die ordnungsgemäße Durchführung des Vergabeverfahrens aufgewendet hat, also nur des negativen Interesses. Die Vorschrift gewährt keinen Ersatz für den wie auch immer zu berechnenden Wert der vereitelten C h a n c e , den Zuschlag für die ausgeschriebenen Arbeiten zu erhalten 1 4 6 . Die wirkliche Bedeutung des Begriffs der „echten C h a n c e " im K o n t e x t der Haftung des Auftraggebers bei Vergabeverstößen erhellt sich aus den vor der Kodifi141 Koziol, FS Stoll, 233 (2.48 ff.); ihm zum schweizerischen Recht zustimmend Loser-Krogh, zsr/rds 2003 II, 127(172). 142 Kasche, Verlust von Heilungschancen, 269. 143 Jansen, (1999) 19 OJLS 272, 292. 144 BGBl. 1998 I, S.2512; allgemein zu diesem Gesetz und seiner Entstehung Byok, NJW 1998, 2774; Gröning, ZIP 1998, 370; Pietzcker, ZHR 162 (1998), 427. Das Gesetz setzt europäische Vorgaben durch die sog. Rechtsmittelrichtlinie (RL 88/665/EWG, AB1.EG 1998 Nr. L 395/33) und die Sektorenüberwachungsrichtlinie (RL 92/13/EWG, ABl.EG Nr.L 1992/14) um. 145 Fleischer, JZ 1999, 766 (771); ähnlich Taupitz/Jones, in: Ratajczak (Schriftltg.), WaffenGleichheit, 67 (79): „gesetzgeberische Anerkennung" des Prinzips der verlorenen Chance. 146 Das hält auch Ackermann, ZHR 164 (2000), 394 (428) Fleischer entgegen.
154
3. Kapitel: Lösungsvorschläge
in der Literatur und eigener Ansatz
zierung entwickelten richterrechtlichen Regelungen. Die Rechtsprechung sah seit jeher den Schadenersatz des Bieters bei Rechtsverstößen im Vergabeverfahren grundsätzlich als auf das negative Interesse gerichtet an; nur in Ausnahmefällen konnte das positive Interesse liquidiert werden 147 . Obwohl die Rechtsgrundlage für den Schadenersatzanspruch in einem vorvertraglichen Vertrauensverhältnis gesehen wurde 1 4 8 , das bei Verstößen gegen die in den Verdingungsordnungen für Bauleistungen (VOB/A), freiberuflichen Leistungen (VOF) und sonstigen Leistungen (VOL/A) geregelten verfahrensrechtlichen Bestimmungen zur Haftung aus culpa in contrahendo führt, sollte der Ersatz des negativen Interesses aber entsprechend § 122 BGB auf die Höhe des positiven Interesses beschränkt sein. Vom Ersatz des negativen Interesses ausgeschlossen war somit jeder Bieter, der auch in einem rechtmäßigen Verfahren den Zuschlag nicht erhalten hätte, oder umgekehrt: Schadenersatz stand grundsätzlich nur demjenigen zu, der nachweisen konnte, dass er bei einem Verfahren den Zuschlag erhalten hätte 149 . Dieser Nachweis ist schwer, weil die Entscheidung des Auftraggebers zugunsten eines der Angebote nicht zwingend vorgegeben ist: Er muss nicht unbedingt das preisgünstigste Angebot wählen, sondern hat einen Beurteilungsspielraum dahingehend, welches der Angebote unter Berücksichtigung aller technischen, wirtschaftlichen und gegebenenfalls auch gestalterischen Gesichtspunkte das vorteilhafteste ist (vgl. § 25 VOB/A) 150 . Damit wird dem Bieter regelmäßig nicht der Nachweis gelingen können, dass die Wahl des Auftraggebers bei rechtmäßigem Vergabeverfahren nur auf ihn fallen konnte - eine Schadenersatzklage erschiene in den meisten Fällen aussichtslos. Aus diesem Grund hatte der Regierungsentwurf noch vorgesehen, dass derjenige Bieter Schadenersatz verlangen könne, der ohne den Rechts verstoß „in die engere Wahl" gekommen wäre 151 . Diese Formulierung wurde vom Bundesrat als zu weit beanstandet 152 , worauf man ersatzweise auf die „echte Chance" zurückgriff, die bereits in Art. 2 Abs. 7 der Sektorenüberwachungsrichtlinie 153 zu finden ist. Daraus wird deutlich: Auch unter § 126 GWB wird grundsätzlich daran festgehalten, dass nur der hypothetisch erfolgreiche Bieter Anspruch auf Ersatz seines Vertrauensschadens hat. Die Bezugnahme auf die „echte Chance" soll lediglich seine Beweislast erleichtern, indem richterliche Gewissheit über den Zuschlag nicht verlangt
147 BGHZ 139,259 (272) = NJW 1998, 3644; BGH NJW 2 0 0 2 , 2 5 5 8 . Näher zum Ersatz des positiven Interesses im Vergaberecht BGHZ 120, 281 (284); BGH W M 1998, 2385 (2388); OLG Düsseldorf BauR 1999, 471. 148 Vgl. BGHZ 49, 77 (79); 149 Motzke, in: Motzke/Pietzcker/Prieß, VOB Teil A, Syst V, Rdnr. 150ff. mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung. 150 Ackermann, Z H R 164 (2000), 394 (409). 151 BT-Drucks. 13/9340, S.9. 152 BT-Drucks. 13/9340, S.44 153 RL 92/13/EWG, AB1.EG Nr.L 1992/14.
5 2 Haftung von Dienstleistern bei unaufklärbaren
Kausalverläufen
155
wird 1 5 4 . Das Beweismaß für den Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Nichtberücksichtigung beim Zuschlag wird abgesenkt, nicht die Chance auf den Zuschlag selbst zum Gegenstand der schadensrechtlichen Betrachtung gemacht. Entpuppt sich somit § 1 2 6 G W B als eine Norm, die mit dem hier vorgestellten Ansatz, den Verlust der Chance als ausgleichspflichtigen Schaden zu begreifen, keine Berührungspunkte aufweist, so bleibt es bei dem Befund: Die verlorene Chance als Schadensposten hat ihren Platz im deutschen Recht noch nicht gefunden. Im Ausland zeigt sich freilich ein ganz anderes Bild. Ihm wird im folgenden Kapitel nachgegangen.
1 5 4 Vgl. Ackermann, Z H R 164 (2000), 3 9 4 (426f.); Motzke, in: V O B Teil A, Syst V, Rdnr.275.
Motzke/Pietzcker/Prieß,
4.
Kapitel
Die Haftung für verlorene Chancen in der Praxis anderer Rechtsordnungen §1
Einleitung
Wenn hier ein Blick über die Grenzen geworfen werden soll, so geht es weder darum, fremde Regelungen „eins zu eins" in das deutsche Recht zu übertragen, noch um eine genaue Analyse und Kritik der dogmatischen und systematischen Schwierigkeiten, denen der Gedanke der Haftung für eine verlorene Chance innerhalb der jeweiligen fremden Rechtsordnung begegnet1. Der Anspruch ist schlichter. Bezweckt wird, was manche insgesamt als das Ziel der Rechtsvergleichung beschreiben: ,,[T]o make observations, and to gain insights, which would be denied to one who limits his study to the law of a single country" 2 . Die observations und insights werden belegen, dass die verlorene Chance zum internationalen „Vorrat an Lösungen" 3 gehört, den der deutsche Rechtsanwender angesichts der oben beschriebenen Schwierigkeiten mit unseren „hausgemachten" Lösungen nicht ignorieren sollte. Dem Programm dieser Arbeit gemäß konzentriert sich der folgende Überblick auf die Rechte anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ausgegangen wird wegen seiner Nähe zum deutschen Recht vom österreichischen Recht, gefolgt von einem Blick in den romanischen Rechtskreis, die Niederlande, die europäischen Common-! ,aw-\ .ander und schließlich in das schottische Recht. Abgerundet wird die Darstellung von einem Exkurs zu außereuropäischen CommonLaw-Staaten, nach Québec und zur Schadenersatzhaftung bei Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Nicht fehlen darf schließlich die Erörterung der Rolle verlorener Chancen in den UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts und im Vorentwurf eines Code Européen des Contrats. Die von der Lando-Kommission vorgelegten Principles of European Contract Law nehmen sich des Themas hingegen nicht ausdrücklich an und können deshalb hier vernachlässigt werden.
Für Frankreich vgl. insoweit etwa Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 73 ff. Schlesinger/Baade/Damska/Herzog, Comparative Law, 1. 3 Das Wort wird Zitelmann zugeschrieben, vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 2 I (S. 14). 1
2
§ 1 Einleitung
157
Nach Art. 9:501 (1) der Lando Principles ist grundsätzlich jeder Schaden voll zu ersetzen, der seine Ursache in der Pflichtverletzung einer der Parteien findet; Art. 9:501 (2) (b) präzisiert, dass darunter auch ein „future loss which is reasonably likely to occur" fällt. Ohne weitere Erläuterung wird in der Kommentierung hinzugefügt: „Future loss often takes the form of the loss of a chance" 4 , um dann in den „Notes" durch einen Verweis auf Anmerkung 6 zu Art. 9:503 die deutsche Lösung des § 252 S. 2 BGB und den Schadenersatz für verlorene Chancen nach französischem und englischem Recht schlicht gleichzustellen 5 . Der fundamentale Unterschied zwischen dem vollen Ersatz eines nur möglicherweise vereitelten zukünftigen Gewinns durch Absenkung des Beweismaßes für den Kausalzusammenhang auf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit und dem (Teil-)Schadenersatz für den Verlust einer Chance auf zukünftigen Gewinn nach dem Maße der Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung bei pflichtgemäßem Verhalten wird dabei gänzlich ignoriert. Angesichts der G r e n z e n , die einem einzelnen A u t o r bei r e c h t s v e r g l e i c h e n d e n U n t e r f a n g e n zeitlich, s p r a c h l i c h u n d d u r c h Z u g a n g s b a r r i e r e n zu d e n Q u e l l e n gesetzt sind, w i r d Vollständigkeit w e d e r hinsichtlich der B e r ü c k s i c h t i g u n g aller M i t g l i e d s t a a t e n der E u r o p ä i s c h e n U n i o n n o c h i n n e r h a l b d e r einzelnen Rechtso r d n u n g e n a n g e s t r e b t . So w i r d d e r Leser i n s b e s o n d e r e einen Einblick in die s k a n d i n a v i s c h e n R e c h t e u n d d a s R e c h t D ä n e m a r k s vermissen. A u c h d a s R e c h t der Schweiz bleibt a u s g e k l a m m e r t . Die Schweiz v e r m a g z w a r ein i n t e r e s s a n t e s Urteil des O G Z ü r i c h 6 z u r A r z t h a f t u n g b e i z u s t e u e r n , d a s a b e r vereinzelt geblieb e n ist u n d die w e i t e r e G e r i c h t s p r a x i s n i c h t beeinflusst h a t 7 . Die Schweizer Literatur setzt sich in neuerer Zeit allerdings vermehrt mit der Haftung für verlorene Chancen auseinander 8 . Und der bereits 1999 präsentierte Vorentwurf eines Bundesgesetzes zur Revision und Vereinheitlichung des Haftungsrechts (VE HPG) 9 , dessen Verwirklichungschancen immer noch höchst ungewiss sind, sieht in seinem Art. 56d Abs. 2 vor, dass sich das Gericht in Fällen, in denen der Beweis des Ursachenzusammenhangs nicht mit Sicherheit erbracht oder der beweisbelasteten Person nicht zugemutet werden kann, mit einer „einleuchtenden Wahrscheinlichkeit begnügen" und zudem „die Ersatzleistung nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit bemessen" darf. Zwar hat die dogmatische Analyse dieser Vorschrift in der Literatur zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt 1 0 ; nach dem erläuternden Bericht von Widmer/Wessner aber soll sie zumindest im Ergebnis dem Richter ermöglichen, „die Ersatzleistung nach dem sogenannten Grundsatz
4
Lando/Beale, Principles of European Contract Law, Parts I & II, 436. Lando/Beale, Principles of European Contract Law, Parts I &c II, 438 mit 443. 6 SJZ 1989, 119. 7 Zum Umgang mit Problemen beim Nachweis der Kausalität in der Schweiz vgl. Widmer, in: Spier (Hrsg.), Unification of Tort Law: Causation, 105; speziell zum Arzthaftungsrecht Kuhn, in: Honsell, (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 73ff.; vgl. ferner Kuhn, MedR 1999, 248 (252f.). 8 Vgl. insbesondere Ch. Müller, La perte d'une chance (2002); ders., AJP/PJA 2002, 389; weitere Nachweise bei Loser-Krogh, zsr/rds 2003 II, 127 (172 Fn.205). 9 Im Internet mit Kurzkommentar und erläuterndem Bericht abrufbar über www.ofj.admin.ch/d/index/html, Menüpunkt „Rechtsetzung", Untermenüpunkt Wirtschaft & Handel/ Haftpflichtrecht. 10 Knapper Überblick bei Müller, AJP/PJA 2002, 389 (396). 5
158
4. Kapitel: Chancen in der Praxis anderer
Rechtsordnungen
der [sie] ,Verlust einer Chance', wie er im französischen und im angelsächsischen Recht entwickelt wurde, zuzusprechen" 1 1 .
Innerhalb der dargestellten Rechten liegt der Schwerpunkt beim französischen und englischen Recht. Das erstere verdient besondere Aufmerksamkeit, weil es am weitesten fortgeschritten ist in der Ausbildung einer kohärenten, über die engen Grenzen einzelner Fallgestaltungen hinausgehenden Doktrin der verlorenen Chance. Eine solche bietet das letztere schon wegen der mehr induktiven Rechtsgewinnung im Case-law-System nicht, es hat aber den Vorteil wesentlich ausführlicherer Urteilsbegründungen, die die Gründe für bestimmte Weichenstellungen besser offen legen als das apodiktische, in der Länge selten eine Druckseite übersteigende französische Urteil 12 . Im Übrigen wird viel Wert auf die Darstellung der den zentralen Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte gelegt, um die Bandbreite der dem Gedanken der verlorenen Chance offen stehenden Konstellationen deutlich zu machen. In der Literatur vertretene Meinungen werden im vorliegenden Zusammenhang nicht wiedergegeben; eine Ausnahme gilt dort, wo sie zum Verständnis der Rechtsprechung beitragen. Ihre Argumente finden im Übrigen in den folgenden Kapiteln Gehör, soweit sie rechtsordnungsübergreifend einen Beitrag zum Erfassen und zur Überwindung der Probleme bei der Eingliederung der verlorenen Chance ins deutsche Recht leisten können.
§2
Länderberichte
I. Österreich 1.
Arzthaftung
Eine Haftung für die verlorene Chance einer Heilung ist in der österreichischen Arzthaftungspraxis ebenso unbekannt wie in der deutschen. Man versucht, dem Patienten, der das Kausalband zwischen dem ärztlichen Fehler und seinem Gesundheitsschaden nicht mit Sicherheit nachweisen kann, auf andere Weise zu helfen. In erster Linie haben die Gerichte das Beweismaß, das im Grundsatz den hohen deutschen Anforderungen entspricht 13 , für den Kausalitätsnachweis im Arzthaftungsrecht „wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises" 1 4 auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit reduziert, oder, negativ ausgedrückt: Ein Behandlungsfehler ist „für den Schadenseintritt dann kausal, wenn WidmerlWessner, Erläuternder Bericht zum VE HPG (oben Fn. 9), 245. „La cour décide, elle ne discute pas" ist die Devise zumindest der Cour de Cassation, vgl. Sonnenberger, IPRax 1984, 5. 13 Vgl. Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rdnr. 580 m.w.N. 14 OGH JB1.1993, 316 (319). 11
12
§2
Länderberichte
159
die pflichtgemäße Handlung den Eintritt des Schadens weniger wahrscheinlich gemacht hätte als deren U n t e r l a s s u n g " 1 5 . K a n n das Gericht dies bejahen, kann der Patient den gesamten Schaden aus der Gesundheitsbeschädigung liquidieren, ohne einen Abschlag wegen des Unsicherheitsfaktors machen zu müssen. Illustrativ hierzu der Sachverhalt der Entscheidung, aus der die obigen Zitate stammen: Bei einem Kleinkind wurde nach einem Krankenhausaufenthalt eine Infektionskrankheit entdeckt. Diese konnte auf mangelnde Hygienemaßnahmen im Krankenhaus zurückzuführen sein oder bereits vorher bestanden haben. Weil Ersteres immerhin „wahrscheinlich" war, gab der OGH der Schadenersatzklage in voller Höhe statt 1 6 . In anderen Entscheidungen hat der O G H bei feststehendem Behandlungsfehler unabhängig davon, o b er als grob bezeichnet werden k a n n - die Beweislast für die Kausalität umgekehrt und der Behandlungsseite auferlegt 1 7 , ohne das Verhältnis dieser Variante zur Lösung über die Beweismaßsenkung zu klären; gelegentlich stützt er sich zur Sicherheit auf beide Aspekte: „Haben [die Arzte] durch den ihnen unterlaufenen Kunstfehler ... gegen die behandlungsvertragliche Verpflichtung zur Vornahme alles dessen, was nach den anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft... geboten erscheint, verstoßen, dann bürdet diese erwiesene Vertragsverletzung der Beklagten ... den vollen Beweis dafür auf, daß das nach Erfahrung und logischer Erwägung vom Patienten zu tragende, das natürliche Behandlungsrisiko einer bleibenden Gesundheitsschädigung wesentlich erhöhende Verhalten ... im konkreten Behandlungsfall mit größter Wahrscheinlichkeit für die eingetretenen Folgen unwesentlich geblieben ist. Im vorliegenden Fall vermochte die Beklagte nicht nur diesen Beweis nicht zu erbringen; vielmehr steht irrevisibel fest, daß bei medizinisch richtigem und rechtzeitigem Handeln der [Ärzte] mit großer Wahrscheinlichkeit die Armamputation vermeidbar gewesen wäre" 1 8 . Hinzu k o m m t schließlich ein dritter Weg, der auf Bydlinskis
o b e n 1 9 beschriebe-
nem Vorschlag einer Haftung für mögliche Kausalität in Analogie zu § 8 3 0 Abs. 1 S. 2 B G B (bzw. in Österreich zu §§ 1 3 0 1 f. A B G B 2 0 ) unter Reduzierung des 15 OGH JB1.1993, 316 (319). Die Literatur spricht in anderer Nuancierung von einem „hohen" Grad an Wahrscheinlichkeit, vgl. Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht I Rdnr. 16/11; Stellamor/Steiner, Handbuch des österreichischen Arztrechts, Bd.I, 91. 16 OGH JB1.1993, 316. 17 Vgl. etwa OGH, 1998/10/29 6 Ob 3/98d, http://www.ris.bka.gv.at/jus/: „Wird durch die Nichtanwendung der sichersten Maßnahmen die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes nicht bloß unwesentlich erhöht, trifft den Rechtsträger des Krankenhauses die Beweislast dafür, daß die gewählte Methode mit großer Wahrscheinlichkeit für die eingetretene Gesundheitsschädigung unwirksam geblieben ist". Nach OGH JB1.1997, 392 Anm. Lukas soll es (außerhalb des Arzthaftungsrechts) genügen, dass der Beklagte nachweist, dass ein ihm nicht zur Last fallender verletzungskausaler Geschehnisverlauf „zumindest gleich wahrscheinlich ist". 18 OGH JB1.1992, 552, dazu etwa Kleewein, ÖJZ 1993, 161. 19 S. 135; in der österreichischen Literatur Bydlinski folgend etwa Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht, Bd.I, Rdnr.3/36ff., 57. 2 0 § 1301 ABGB: Für einen widerrechtlich zugefügten Schaden können mehrere Personen verantwortlich werden, indem sie gemeinschaftlich, unmittelbarer oder mittelbarer Weise,
160
4. Kapitel: Chancen in der Praxis anderer
Rechtsordnungen
Schadenersatzumfangs entsprechend § 1 3 0 4 A B G B 2 1
( § 2 5 4 BGB)
beruht22.
Erstmals ausdrücklich begangen wurde er in einer Entscheidung des 4 . Senats des O G H v o m 7 . 1 1 . 1 9 9 5 2 3 . Ein Kind kam mit schwersten Geburtsschäden (perinatale Asphyxie) zur Welt. Es konnte nicht geklärt werden, ob die Ursache hierfür in einer schicksalhaften dreifachen Nabelschnurumschlingung lag, die es bei Geburt aufwies, oder in einer schweren Plazentainsuffizienz der Mutter, welche die Ärzte verkannt hatten. Nur als Folge der Plazentainsuffizienz wäre die Asphyxie bei richtiger Behandlung durch die Ärzte zu verhindern gewesen. D e r O G H entschied sich für die analoge A n w e n d u n g der Grundsätze zur alternativen Kausalität unter B e s c h r ä n k u n g der S c h a d e n e r s a t z s u m m e a u f die H ä l f t e mit den W o r t e n : ,,[N]ur sie [gewährleistet] eine dem Gerechtigkeitsgebot entsprechende Problemlösung ... Demgegenüber wären nämlich bei alternativer Konkurrenz zwischen einem Erfolg aus schuldhaftem Handeln und einem Zufall nur - unverständliche und unbillige - Extremlösungen denkbar: Man könnte sonst nur entweder die Meinung vertreten, daß der Geschädigte mangels eindeutiger Feststellbarkeit, welches der beiden Ereignisse tatsächlich kausal war, jeden Ersatzanspruch verliere oder daß der Schädiger ungeachtet der gar nicht feststehenden Kausalität seines Verhaltens dem Geschädigten vollen Ersatz zu leisten habe. Beides widerspräche aber den tragenden Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechtes, welche jedoch bei der hier vertretenen Lösung jedenfalls insoweit gewahrt bleiben, als sie mit den den §§ 1302, 1304 ABGB zugrundeliegenden Wertungen im Einklang stehen" 2 4 . Die K o n s t r u k t i o n dieser L ö s u n g hat mit den Überlegungen, die der H a f t u n g für eine verlorene C h a n c e zugrunde liegen, nichts zu tun. D i e Ärzte haften nicht dafür, dass sie eine B e h a n d l u n g unterlassen h a b e n , die die Möglichkeit
zur Verhin-
derung der Asphyxie eröffnet hätte: Sie haften (wenn auch reduziert) für den G e sundheitsschaden selbst, indem das fehlende Bindeglied der K a u s a l i t ä t durch den „ m ö g l i c h e n " U r s a c h e n z u s a m m e n h a n g mit dem Schaden ersetzt wird. D e u t durch Verleiten, Drohen, Befehlen, Helfen, Verhehlen u. dgl.; auch nur durch Unterlassung der besonderen Verbindlichkeit das Uebel zu verhindern, dazu beygetragen haben. § 1302 ABGB: In einem solchen Falle verantwortet, wenn die Beschädigung in einem Versehen gegründet ist, und die Antheile sich bestimmen lassen, jeder nur den durch sein Versehen verursachten Schaden. Wenn aber der Schaden vorsätzlich zugefügt worden ist; oder, wenn die Antheile der Einzelnen an der Beschädigung sich nicht bestimmen lassen; so haften Alle für Einen, und Einer für Alle; doch bleibt demjenigen, welcher den Schaden ersetzt hat, der Rückersatz gegen die Übrigen vorbehalten. 2 1 § 1304 ABGB lautet: Wenn bey einer Beschädigung zugleich ein Verschulden von Seite des Beschädigten eintritt; so trägt er mit dem Beschädiger den Schaden verhältnißmäßig; und wenn sich das Verhältniß nicht bestimmen läßt, zu gleichen Theilen. 2 2 Ausführliche Darstellung dieser kontroversen und umstrittenen Rechtsprechung bei Juen, Arzthaftungsrecht, 23 ff. 2 3 JB1.1996, 181. 2 4 OGH JB1.1996, 181 (183), kritisch zu diesem Urteil Mayer-Maly, FS Deutsch, 667 (670 f.).
§2
Länderberichte
161
licher wird dies in Fallgestaltungen, in denen von vornherein der Begründungsversuch mit einer vereitelten Chance ausscheidet, Bydlinskis Lösung aber dennoch eingesetzt werden kann: In einem v o m 8. Senat des O G H entschiedenen Fall w a r der Kläger w ä h r e n d einer Schlägerei v o m Beklagten verletzt w o r d e n . Es k o n n t e nicht festgestellt werden, o b die Verletzung d u r c h den ersten, durch N o t w e h r gerechtfertigten Schlag des Beklagten oder einen der rechtswidrigen Folgeschläge verursacht w o r d e n war. N a c h Abzug eines 5 0 % i g e n Mitverschuldens des Klägers verurteilte der O G H den Beklagten zum Ersatz der H ä l f t e des verbleibenden Schadens, „weil bei Z u s a m m e n t r e f f e n v o m schuldhaften H a n d e l n einerseits u n d Zufall bzw. dem Geschädigten zuzurechnenden Schadensursachen andererseits eine Teilung des Schadens sachgerechter i s t " 2 5 .
Da aber die Haftung im Hinblick auf den nicht sicher festgestellten, sondern nur unterstellten Kausalzusammenhang der Höhe nach reduziert wird, kommt das Ergebnis dieser Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht der Haftung für eine verlorene Chance sehr nahe, zumal dann, wenn die Höhe des Abschlags in der Schadenersatzsumme sich nach der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden richtet. Die Rechtsprechung des 4. Senats des O G H ist in Österreich allerdings nicht unumstritten. Urteilen anderer Senate, die diesen Weg vorzeichnen 2 6 , stehen weitere gegenüber, die eine Schadensteilung bei zweifelhafter Kausalität ablehnen u n d stattdessen weiterhin auf Beweismaßherabsetzung oder Beweislastumkehr mit dem Ziel des vollen (oder gänzlich ausgeschlossenen) Schadensausgleichs setzen 2 7 .
2.
Anwaltsbaftung
In der Anwaltshaftung folgen die Gerichte, jedenfalls was die Haftung für prozessbezogene Fehler angeht, dem deutschen Ansatz: Für die Beurteilung, ob der Anwalt durch pflichtwidriges Prozessverhalten zum Schaden beigetragen hat, ist die Ansicht des Gerichts maßgeblich, das mit dem Regressanspruch befasst ist 28 . 25 O G H EvBl 1994/13. Vgl. in diesem Zusammenhang OLG Celle NJW 1950, 951: Ein Junge wurde bei einer „Steineschlacht" mit Spielkameraden von einem Stein am Auge verletzt; nicht auszuschließen war, dass es sich um einen von ihm selbst geworfenen und von einem Baum zurückprallenden Stein handelte. Das OLG Celle hielt die Spielkameraden nach §830 A b s . l S.2 BGB gesamtschuldnerisch haftbar für den Gesundheitsschaden, reduzierte die Anspruchshöhe aber nach §254 BGB. 26 Vgl. O G H JB1.1986, 576 Anm. Deutsch: Eine Schadensteilung bei einer Infektion, bei der unklar war, ob sie auf eine fehlerhaft unterbliebene Schockbehandlung und daraus resultierenden Abwehrschwäche der Unfallpatientin oder auf das allgemeine Operationsrisiko zurückzuführen ist, wurde auf der Grundlage der Lehre Bydlinskis nur deshalb abgelehnt, weil insoweit irrtümlich ein grobes Verschulden der Ärzte für erforderlich gehalten wurde (gegen diesen Irrtum Bydlinski, FS Frotz; 3 (7f.). Vgl. weiterhin O G H JB1.1990, 524 mit abl. Anm Holzer. 27 O G H JB1.1994, 549 Anm. Bollenberger-, O G H JB1.1992, 522; O G H JB1.1997, 392. 28 O G H (österr.) VersR 1994, 679; allg. zur Anwaltshaftung etwa Völkl/Völkl, Ö J Z 1998, 856.
162
4. Kapitel: Chancen in der Praxis anderer
Rechtsordnungen
In einer Entscheidung aus dem Jahr 1966 hat der O G H in Parallelität zu den oben geschilderten Arzthaftungsfällen die Beweislast für die Schadenskausalität eines außerprozessualen Anwaltsfehlers umgekehrt: Es sei die Sache des beklagten Anwalts, die mangelnde Kausalität seines Verhaltens für den eingetretenen Schaden nachzuweisen 29 . Folgeentscheidungen sind hierzu nicht ersichtlich 30 . II. F r a n k r e i c h 1. Ausgangspunkt:
Le dommage
certain
Das französische Recht geht andere Wege als das deutsche oder das österreichische, wobei der point de départ trotz anderer dogmatischer Einbettung aber in verblüffender Weise ähnlich ist. Während der deutsche und österreichische Richter sich durch die hohen Beweismaßanforderungen des Prozessrechts gezwungen sieht, eine sichere Feststellung zur Schadenskausalität zu versuchen, verhindert in Frankreich das materiellrechtliche Erfordernis des dommage certain31, dass das Gericht Schadenersatz auf der Basis nur unsicherer Kenntnis über die Folgen einer vertragswidrigen oder unerlaubten Handlung 3 2 zuspricht 33 . Zwar ist es für einen ausländischen Juristen ein wenig überraschend, als Begründung für dieses Kriterium die lapidare Aussage zu lesen: „La condition de certitude du dommage va de soi." 34 Aus französischer Sicht aber ist dieser Satz durchaus verständlich: Ist der Schaden die primäre „source d'obligation" 3 5 , also die zentrale, die Weichen stellende Haftungsvoraussetzung, welche die weiteren erforderlichen Elemente (faute 3 6 und lien de causalité) in den Hintergrund treten lässt, erscheint es in der Tat naheliegend, bereits an dieser Stelle eine fest29 O G H v. 3 . 1 1 . 1 9 6 6 , SZ 39/186 (in der Sacheging es um das Versäumnis eines Anwalts, eine titulierte Forderung vor Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen des Schuldners beizutreiben). 30 Vgl. Poll, ZVglRWiss. 94, 237 (244f. mit Fn.47). 31 Statt aller Terré/Simler/Lequette, Droit civil, Bd. III, Nr. 670. 32 Knapp zum Prinzip des „non-cumul", nach dem anders als im deutschen Recht Vertragsund Deliktshaftung nicht nebeneinander stehen, sondern die Erstere die Letztere ausschließt, Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, 181 m.w.N. Die Haftung von Anwälten und Ärzten gegenüber ihren Klienten beurteilt sich damit in Frankreich einheitlich nach vertragsrechtlichen Grundsätzen. Die Voraussetzung des dommage certain gilt aber für beide Haftungsquellen, so dass sich im vorliegenden Zusammenhang keine besonderen Konsequenzen aus dieser Sichtweise ergeben. 33 Der lien de causalité zwischen der faute des Schädigers und dem Schaden ist auch in Frankreich eine tatbestandliche Voraussetzung der Haftung, wird aber in der Praxis pragmatisch gehandhabt und entfaltet daher nicht eine gleich starke „Sperrwirkung" gegen eine ausufernde Haftung wie in Deutschland, vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 80ff. mit Nachweisen. 34 Viney/Jourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr.275. 35 Vgl. z.B. die Überschrift bei Carbonnier, Droit civil, Bd.IV, vor Nr. 199: „Le dommage causé à autrui comme source d'obligation". 36 Zu den Ausnahmen in Richtung einer Gefährdungshaftung auf der Basis einer Fortent-
§2
Länderberichte
163
stehende, reale Einbuße des Opfers zu f o r d e r n 3 7 , weil nur so sichergestellt ist, dass überhaupt ein das Haftungsrecht auf den Plan rufender ausgleichungsbedürftiger Fehlbestand in der Vermögenssphäre des Betroffenen entstanden ist 3 8 . D e r caractère
actuel
et certain
du dommage
übernimmt damit in Frankreich im
Hinblick auf die notwendige Einschränkung der Ersatzpflicht des Täters eine Aufgabe, die der Schadensbegriff im deutschen Deliktsrecht aufgrund des zusätzlichen Tatbestandsmerkmals der Verletzung eines absoluten Rechts oder eines Rechtsguts in § 8 2 3 Abs. 1 B G B oder der Schutzgesetzverletzung in § 8 2 3 Abs. 2 B G B nicht erfüllen m u s s 3 9 . D e n n o c h ist die Definition des dommage
cer-
tain ihrerseits nicht ohne Unsicherheiten: W ä h r e n d einerseits ein bloß „hypothetischer" oder „eventueller" Schaden ausgeklammert bleiben soll, ist andererseits ein dommage
futur,
also ein zum Zeitpunkt der Beurteilung des Anspruchs
durch das Gericht noch in der Zukunft liegender und in sich keinesfalls „sicher e r " Schaden auszugleichen, wenn er sich in der stehenden Formulierung der Cour de Cassation
nur darstellt als „prolongation certaine et directe d'un état de
choses actuel et c o m m e étant susceptible d'estimation i m m é d i a t e " 4 0 . Die
certitu-
de des Schadens k a n n darüber hinaus aber auch durch Ungewissheiten über den retrospektivisch zu beurteilenden Verlauf der Dinge beeinträchtigt sein: Stünde der Anspruchsteller heute wirklich besser da, denkt man die Handlung des Schädigers hinweg? K a n n man dies nicht mit Sicherheit beantworten, steht nicht (nur) der Kausalverlauf in Zweifel, sondern (auch) der dommage
2. Die „klassische" Anwendungsbereich
perte d'une chance:
certain41.
Voraussetzungen,
Die französischen Gerichte haben jedoch schon früh ein Mittel gefunden, um die Hürde des dommage
certain
in Fällen zu überwinden, in denen eine Entschädi-
gung des Opfers angebracht erschien, ohne dass die vom T ä t e r angestoßene oder abgebrochene Entwicklung im Vermögen des Geschädigten mit hinreichender Gewissheit nachvollzogen werden konnte: Nicht der vom diesem beklagte Verlust einer konkreten Vermögensposition oder der Nichteintritt eines angestrebten Vorteils wird kompensiert, sondern die - aus der Retrospektive mit Sicherheit - vereitelte Chance
auf Verhinderung des negativen Verlaufs.
wicklung der Art. 1384 CC und 1385f. CC vgl. in deutscher Sprache Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, Bd.2, Rdnr.2 O 30ff.; Brandt/Brandes, VersR 1991, 1109 ( l l l l f . ) . 37 Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 75. 38 Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 77. 3 9 Vgl. die Grundnorm des französischen Deliktsrechts, Art. 1382 CC: „Tout fait quelconque de l'homme, qui cause à autrui un dommage, oblige celui par la faute duquel il est arrivé, à le réparer." 4 0 Cass. req. 1.6. 1932, S. 1933 I 49 = D. 1932 I 102 = Gaz.Pal. 1932.2.J 363. 4 1 Vgl. zu diesem zweiten Aspekt des dommage certain etwa Viney/Jourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr.276ff.; Chartier, La réparation du préjudice, Nr. 16ff., 22ff.
164
4. Kapitel: Chancen in der Praxis anderer
Rechtsordnungen
Viney42 und andere 4 3 datieren den Beginn dieser Rechtsprechung auf ein Urteil der Cour de Cassation vom 1 7 . 7 . 1 8 8 9 4 4 . In dieser Entscheidung ging es um den Versuch eines Beklagten, einen Schadenersatzanspruch gegen den huissier (Gerichtsvollzieher) durchzusetzen, dessen Zustellungsfehler zur Unzulässigkeit der Berufung gegen das zuungunsten des Beklagten ausgefallene erstinstanzliche Urteil geführt hatte. Die Cour de Cassation wies das Begehren mit der Begründung zurück, dass das mit der als unzulässig gewerteten Berufung angegriffene Urteil rechtlich zutreffend sei und es keinen Grund gegeben hätte, dieses in zweiter Instanz aufzuheben oder abzuändern. Diese Argumentation stützt sich nicht auf verlorene Chancen, sondern erinnert an die deutsche Rechtsprechung, die die eigene Ansicht des Regressgerichts über die „richtige" Beurteilung der Rechtslage im Ausgangsverfahren entscheiden und eine Auseinandersetzung mit der Ungewissheit über den Ausgang des hypothetischen Berufungsverfahrens gerade vermissen lässt 4 5 . Tatsächlich kommt möglicherweise eher einer Entscheidung des Tribunal de Dijon von 1903 der Verdienst zu, als erstes Gericht - wenn auch noch undeutlich - die verlorene Chance ins Visier genommen zu haben. Das Gericht sprach dem Kläger aufgrund der vom huissier vereitelten Berufung, mit der der Kläger offenbar einen Anspruch im Wert von Fr. 10.000 verfolgt hatte, einen nicht näher spezifizierten Betrag von Fr. 1.000 zu. Erklären lässt sich dies wohl am besten mit einem Abschlag wegen der unsicheren Erfolgsaussichten der Berufung und folglich mit einer Abkehr vom Prinzip der eigenen Beurteilung der „richtigen" Entscheidung des Ausgangsverfahrens durch das Regressgericht. Diesen Weg beschritt später dann auch die Cour de Cassation, so in ihrer Entscheidung vom 2 7 . 3 . 1 9 1 1 4 6 . Hier machte das Gericht der Vorinstanz ausdrücklich zum Vorwurf, sich zu Unrecht eine eigene Meinung über die Begründetheit der verhinderten Berufung gemacht zu haben, diese Frage „étant nécessairement subordonnée [...] à la compétence de la jurisdiction qu'elle [die Klägerin] avait saisie" 4 7 .
In den knappen Worten der 1. Zivilkammer der Cour de Cassation-, „[U]n préjudice peut être invoqué du seul fait qu'une chance existait et qu'elle a été perdue" 4 8 .
Die Chambre Criminelle49 umschreibt die unmittelbare „Schadensqualität" einer verlorenen Chance in ständiger Rechtsprechung etwas ausführlicher wie folgt: Viney/]ourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr. 280. Z.B. Boré, JCP 1974 I 2620; Ch. Müller, AJP/PJA 2002, 389 (392 Fn.27). In der Sache ebenso, in der Formulierung aber vorsichtiger Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 95: „Erste ,aufweichende' Entscheidung [...]". 4 4 Cass. req., 17.7. 1889, S.1891 I 399. 4 5 Ähnlich in der Folge etwa Cass. req., 30.6. 1902, DP 1903 I 569 (570): Der über die Regressforderung gegen den huissier wegen der vereitelten Berufung entscheidende Richter müsse „se livrer à l'examen du mérite de cet appel". In seiner kritischen Anmerkung zu diesem Urteil schlägt Bouvier als anderen und besseren Weg vor, den Mandanten für die verlorenen „chances de gain du procès" (569) zu entschädigen. Möglicherweise hat er damit die spätere Rechtsprechungsentwicklung angestoßen. 4 6 Cass.civ., 27.3. 1911, DP 1914 I 225 Anm. Lalou. 4 7 Cass.civ., 27.3. 1911, DP 1914 I 225, 226. 4 8 Cass.civ. l r e , 2 7 . 1 . 1 9 7 0 , JCP 1970 II 16422 Anm. Rabut = RTD civ. 1969, 797 bei Durry. 4 9 Französische Strafgerichte haben im Rahmen der in Frankreich sehr viel zahlreicheren Ad42
43
§2
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„L'élément de préjudice constitué p a r la perte d'une chance peut présenter en lui-même un caractère direct et certain, c h a q u e fois qu'est constatée la disparition, par l'effet d u délit, de la probabilité d ' u n événement favorable . . . " 5 0
Die „perte d'une chance" findet sich dergestalt als Topos in jedem, auch noch so knappen einschlägigen Lehrbuch 51 und in zahllosen Gerichtsurteilen 52 . Sie wird als ein übergreifendes Phänomen wahrgenommen, das nicht auf einzelne Fallgestaltungen beschränkt ist. So ist unangefochten, dass grundsätzlich sowohl auf vertraglicher als auch deliktischer Basis 53 eine verlorene Chance einen ersatzfähigen Schaden darstellen kann, im letzteren Bereich dadurch begünstigt, dass das französische Deliktsrecht in Art. 1382 CC mit einer Generalklausel operiert, die anders als das deutsche Recht auch „reine" Vermögensschäden erfasst. Voraussetzung ist, dass die Chance als „réelle et sérieuse" 54 eingestuft werden kann, wenngleich die Tragweite dieser Bedingung nicht leicht zu fassen ist 55 . Die Formel hat die Gerichte nicht davon abgehalten, in einigen Entscheidungen auch lediglich äußerst schwache Chancen auf einen günstigeren Ausgang zu berücksichtigen 56 , während die oben zitierte Wendung der Cour de Cassation (probabilité d'un événement favorable) und andere Urteile die Deutung zulassen, dass eine überwiegende oder große Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen der unerlaubten oder vertragswidrigen Handlung und dem endgültigen Schaden notwendig ist 57 . Letzteres wird allerdings vor allem in den Fällen betont, in denen das Opfer einer Körperverletzung, beispielsweise bei einem Verkehrsunfall, häsionsverfahren (vgl. dazu aus deutscher Sicht v. Sachsen-Gessaphe, Z Z P 112 (1999), 3) häufiger als deutsche die Gelegenheit, sich zu zivilrechtlichen Fragen zu äußern. 50 Vgl. Cass. crim., 4.12. 1996, JCP 1997 IV 720 = D. 1997 IR 67. 51 Vgl. etwa das Kurz-Skript („aide-mémoire") zum gesamten „Droit civil" von Hess-Fallon/ Simon, 259. 52 Rechtsprechungsübersichten finden sich etwa bei Chartier, La réparation du préjudice, Nr. 22ff.; Vacarie, Rev. Rech. Jur. 1987, 903 (917f.). 53 Viney/Jourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr. 280. 54 Vgl. etwa Cass. civ. l r e , 1 . 4 . 1 9 6 5 , Bull. civ. 1530; Cass. civ. 2 e , 3 . 1 1 . 1 9 7 1 , DS 1972 J 667 Anm. Lapoyade-Deschamps; Cass.ass.plén., 3.6. 1988, RTD civ. 1989, 81 bei Jourdain; aus der Literatur: JC1. Civil (Endréo) Art. 1382 -1386 CC Fase. 101; Chartier, JCP 1985 II 20360; Viney /Jourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr. 283 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 55 Viney/Jourdain Les conditions de la responsabilité, Nr.283, vgl. auch Malaurie/Aynès, Cours de droit civil, Bd. 6, Les Obligations, Nr. 242 : „Le préjudice est certain si la chance existe réellement, c'est-à-dire s'il est probable que l'événement heureux se réalisera" (Hervorhebung hinzugefügt). Blumiger le Tourneau/Cadiet, Droit de la responsabilité, Nr. 660 : „Le juriste n'est pas un romancier, libre d'imaginer mille châteaux en Espagne". 56 Cass. civ. l r e , 9.10. 1976, Gaz.Pal. 1976.2.Somm. 274 ; App. Poitiers, 12.11. 1969, Gaz.Pal. 1970.1. J 8; TGI Aix-en-Provence, 27.11. 1975, Gaz.Pal. 1976.1.J 261; TGI Nantes, 20.12. 1977, D. 1978 IR 302. 57 So ausdrücklich Cass.crim, 23.2. 1977, JCP 1977 IV 106; in der Literatur etwa Chartier, JCP 1985 II 20360; ders. RIDC 1986, 441 (453); Flour/Aubert, Droit civil, Bd.II/2, Nr. 134; Jourdain, RTD civ. 1993, 149; Vacarie, Rev. Rech. Jur. 1987, 925; Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 103.
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4. Kapitel: Chancen in der Praxis anderer
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neben dem (unproblematischen) Ersatz der Pflege- und Heilungskosten weitere Zahlungen dafür fordert, dass ihm wegen der erlittenen Verletzungen die Möglichkeit der Qualifizierung für eine bestimmte Karriere durch einen Studienabschluss 58 , oder generell der Aufnahme einer Arbeit 59 , eines beruflichen Aufstiegs60 oder unbestimmter zusätzlicher Einnahmequellen nach Erreichen des Pensionsalters61 verwehrt geblieben sind. In diesen Fällen soll eine Entschädigung nicht aufgrund vager Spekulation über den weiteren Lebensweg des Opfers (u.U. über mehrere Jahrzehnte) geleistet werden müssen, sondern nur dann, wenn handfeste Kriterien die Annahme zulassen, dass dem fraglichen Erfolg keine wesentlichen Hürden entgegen gestanden hätten, wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten62. Dabei wird aber mehr Wert gelegt auf einen relativ kurzen zeitlichen Abstand 63 zu dem jeweiligen „Karrieresprung" als auf die ohnehin kaum mögliche Festlegung einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit als Schwellenwert64. Ein solcher wird im Übrigen ohnehin nicht gefordert in den hier vor allem interessierenden Fällen, in denen die verlorene Chance die einzige feststehende Folge der unerlaubten oder vertragswidrigen Handlung ist. Jedenfalls aber bilden die genannten Konstellationen der Beeinträchtigung des möglichen beruflichen Fortkommens als Folge einer Körperverletzung den Kern der „klassisch" genannten Fälle der Haftung für eine verlorene Chance 65 , die von zwei weiteren Fallgestaltungen komplettiert werden. (1) Zahlreich sind zum einen die Fälle, in denen, der oben referierten Entscheidung des BGH im Architektenwettbewerbsfall66 diametral entgegengesetzt, dem Kläger ein Schadenersatzanspruch zugesprochen wurde, weil er durch Verschulden des Beklagten (etwa eines Transportunternehmens) an der Teilnahme 5 8 Etwa Cass.crim., 24.2. 1970, DS 1970 J 307 = JCP 1970 II 16456 Anm. le Tourneau ; für die Aussichten auf erfolgreichen Abschluss eines Studien/'afcj-es App. Limoges, 1 9 . 1 0 . 1 9 9 5 , JCP 1996 IV 897. 5 9 Etwa Cass.crim., 19.1. 1972, JCP 1972 IV 55. 6 0 Etwa Cass. civ. 2 e , 13.11. 1985, Bull.Civ. II 172; Cass. civ. l r e , 19.11. 1983, Bull.Civ. I 304. 6 1 Cass.crim., 3.4. 1979, JCP 1979 IV 205; (abl.) Cass.crim., 23.11. 1971, D. 1 9 7 2 J 2 2 5 = RTD civ. 1972, 599 bei Durry, Cass. civ. 2', 1.4. 1965, Bull.Civ. II 336. 6 2 S. das Grundsatzurteil der zweiten Zivilkammer der Cour de Cassation vom 12.5. 1966, DS 1967 J 3: Die verlorene Chance einer 19jährigen auf eine Laufbahn als Apothekerin ist nicht ersatzfähig, weil ihr Ausbildungsstadium im fraglichen Zeitpunkt (baccalauréat noch nicht erfolgreich abgelegt) keine hinreichend sichere Aussage über die künftige berufliche Entwicklung zuließ. 6 3 So ausdrücklich Cass. civ. 2 e , 12.5. 1966, Bull.Civ. II 564, zustimmend („à bref délai") Terré/Simler/Lequette, Droit civil, Bd.III, Nr. 671 m.w.N. 6 4 Vgl. Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 104; Galand-Carval, in: Magnus (Hrsg.), Unification of Tort Law: Damages, 77 (82). Ausführlich zum Schadenersatz wegen einer entgangenen Chance auf berufliches Fortkommen Barrot, Le dommage corporel et sa compensation, Nr. 146 mit zahlreichen Fall- und Berechnungsbeispielen. 6 5 Zu dieser Einteilung etwa Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 96. 6 6 Oben S. 146.
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an einem Wettbewerb gehindert wurde und damit eine Gewinnchance verloren hat 6 7 . Wie im Falle des B G H betraf etwa die Entscheidung der Cour d'appel de Grenoble v.26.5. 1964 einen Architektenwettbewerb 6 8 . N a c h gravierenden Verfahrensfehlern klagten alle unterlegenen Bewerber den Gewinn aus dem entgangenen A u f t r a g ein. D a s Gericht vertrat die Auffassung, dass jeder Bewerber (nur) die Chance auf die Auftragserteilung verloren habe, u n d sprach jedem Kläger eine der Anzahl der Ausschreibungsteilnehmer entsprechenden Q u o t e des Gewinns zu.
Weiterhin ist vor allem das Rennpferd zu nennen, das nicht wie geplant in einem Rennen starten kann und deshalb seinem Besitzer oder einem Wetter die Chance nimmt, von einem Sieg oder einer guten Platzierung zu profitieren 69 . Entsprechendes gilt für künstlerische Wettbewerbe 70 . D a s Tribunal civil de la Seine etwa h a t einem Schriftsteller, der wegen der Weigerung seines Verlegers, die notwendige Anzahl an Belegexemplaren zu drucken, nicht in der Endausscheidung eines Literaturwettbewerbs antreten k o n n t e , eine nicht näher spezifizierte Summe als Schadenersatz f ü r den Verlust der Chance auf den Sieg (gegen sechs K o n k u r renten) zugesprochen 7 1 .
Eine für den Betroffenen häufig bedeutsamere Variante der Wettbewerbsfälle ist die Verhinderung der Teilnahme an einem der für viele Tätigkeiten im öffentlichen Dienst zwingend vorgeschriebenen Auswahlverfahren (concours)71. (2) Im hier besonders interessierenden Dienstleistungssektor sind es zum anderen gerade die Anwälte 73 , die für einschlägige Urteile gesorgt haben. Haftbar gemacht wird nicht nur in Gefolge des oben zitierten Leitfalls der perte d'une chance74 derjenige, der zum Verlust eines Prozesses beiträgt, welcher möglicherweise hätte gewonnen werden können 7 5 , sondern auch der Anwalt, der durch einen außerprozessualen Fehler die Chance seines Mandanten auf einen Vermögensvorteil zunichte macht 7 6 . Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Rechtsprechung für den deutschen Betrachter im Hinblick auf verlorene Prozes67
Vgl. die Nachweise bei JC1. Civil (Endréo) Art. 1382-1386 CC Fase. 101 Nr. 13. App. Grenoble, 26.5. 1964, RTD civ. 1964, 550 bei Tunc. 69 Z.B. TGI Senlis, 1 9 . 5 . 1 9 7 0 , und App. Paris, 2 1 . 1 1 . 1 9 7 0 , JCP 1972 II 16990 Anm. Bénabent; Cass. civ. 2 e , 4.12. 1972, D. 1972 J 596 Anm. le Tourneau ; Cass. civ. 2% 24.2. 1982, D. 1982 IR 345, Cass. crim. 6.6. 1990, D. 1990 IR 209. 70 Z.B. App. Lyon, Gaz.Pal. 1959.1. J 95 (Bildhauer). 71 Tribunal civil de la Seine, 16.12. 1953, Gaz.Pal. 1954.1.J 80. 72 Vgl. z.B. App. Limoges, 19.10. 1995, JCP 1996 IV 897. 73 Allgemein zur Anwaltshaftung in Frankreich Hamelin/Damien, Les règles de la profession d'avocat; Richard/Sage, Gaz.Pal. 1994.2.Doct 1324. 74 Oben Text zu Fn. 44. 75 Ausführliche Darstellung bei JC1. Civil (Péano) Art. 1382 -1386 CC Fase. 330 Nr.56ff.; hier statt aller Cass. civ. l r e , 16.7. 1998, JCP 1998 II 10143 Anm. Martin. Zahlreiche Rechtsprechungsnachweise bei Ch. Müller, La perte d'une chance, Rdnr. 61 ff., insbes. Rdnr. 63 mit Fn. 183. 76 So bereits Cass. civ., 1 6 . 6 . 1 9 2 6 , DP 19271149; zahlreiche weitere Rechtsprechungsnach68
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se lange Zeit außergewöhnlich großzügig war: Der Anwalt, der die Berufungsfrist versäumt, haftete - in weiter Auslegung der chance réelle et sérieuse - seinem Mandanten auch dann auf Schadenersatz, wenn ein positiver Ausgang des Verfahrens äußerst unwahrscheinlich war, weil der Mandant immerhin eines Druckmittels verlustig gegangen ist („perte d'un moyen de pression" 77 ), das jedem, auch wahrscheinlich erfolglosen, gerichtlichen Schritt innewohnt 78 . Neuere Urteile der Cour de Cassation deuten allerdings darauf hin, dass geringe Erfolgsaussichten im Erstverfahren nicht mehr als entgangene Chance berücksichtigt werden, sondern zumindest die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines günstigen Ausgangs erforderlich ist 79 . Am oberen Ende der Skala hat eine entsprechende Entwicklung nicht stattgefunden: Auch beim Verlust sehr guter Erfolgssaussichten kann der Mandant des pflichtvergessenen Anwalts nicht die gesamte im Vorprozess eingeklagte Summe liquidieren, sondern ist auf die perte d'une chance angewiesen80. Die verlorene Chance ist aber nicht auf Verkehrsunfälle, Pferderennen und Anwälte beschränkt, sondern wird als Argument in den vielfältigsten Situationen herangezogen. So hat die Cour de Cassation den Veranstalter eines Skikurses dafür zur Verantwortung gezogen, dass der von ihm eingesetzte Skilehrer nach dem Zusammenstoß eines seiner Schüler mit einem unbekannten Dritten versäumt hat, die Identität des Letzteren festzustellen, womit die Chance entging, diesen für die erlittenen Verletzungen haftbar zu machen 81 . Der Lieferant einer weise bei Ch. Müller, La perte d'une chance, Rdnr. 69. Vgl. für Notare Aubert, La responsabilité civile des notaires, Nr.43, 45, 78. 77 Cass. civ. 1", 9.10. 1976, Gaz.Pal. 1976.2.Soram 274. 78 App. Poitiers, 12.11. 1969, Gaz.Pal. 1970.1.J 8; TGI Aix-en-Provence, 27.11. 1975, Gaz.Pal. 1976.1.J 261; TGI Nantes, 20.12. 1977, D. 1978 IR 302. Weitere Nachweise beiJCl. Civil (Endréo) Art. 1382 - 1386 CC Fase. 101 Nr. l l f . 79 S. z.B. Cass. civ. l r e , 18.7. 1972, Bull.Civ. 1972 I Nr. 1964; App. Reims, 26.4. 1976, JCP 1977 II 18569; TGI Aix-en-Provence, 18.12. 1975, Gaz.Pal. 1976.1.J 261; App. Bordeaux, 16.6.1992, JCP 1992 IV 1769. Vgl. die ausführliche und überzeugende Analyse bei Großerichter, Hypothetischer Geschehensverlauf, 99 ff. Teile der Literatur sind mit dieser Entwicklung nicht einverstanden: Viney hält eine Rückkehr zur früheren großzügigeren Praxis für „souhaitable" (Viney/Jourdain, Les conditions de la responsabilité, Nr. 282). Unklar ist, worauf GalandCarval noch im Jahr 2000 die Auffassung stützt, „damages are awarded even if the chance to win the Appeal is slight" (Galand-Carval, in: Spier (Hrsg.), Unification of Tort Law: Causation, 53 (57)). Möglicherweise folgen nicht alle Instanzgerichte der von der Cour de Cassation vorgegebenen Linie. 80 App. Paris, 2 5 . 5 . 1 9 8 7 , DS 1987 IR 153; markant auch App. Paris, 1 7 . 1 1 . 1 9 9 5 , Gaz.Pal. 1996.l.J. 13: Schadenersatz nach Maßgabe der perte d'une chance, obwohl für die Entscheidung der ersten Instanz „des chances certaines d'être reformée en appel" bestanden; Cass. civ. l r e , 4.3. 1980, Bull. Civ. I Nr. 72; Cass. civ. l r e , 18.11. 1975, DS 1976 IR 38; abweichend Cass. soc., 18.4. 1980, Bull. Civ. VNr. 319: Voller Schadenersatz bei Versäumung der Ausschlussfrist für die Geltendmachung einer Arbeitsunfallrente. 81 Cass. civ. l r e , 1 0 . 6 . 1 9 8 6 , Bull. Civ. I Nr. 163. Vgl. hierzu auch den kalifornischen Fall demente v. State, 707 P.2d 818 (Cal. 1985), in dem der zu einem Verkehrsunfall gerufene Polizist es pflichtwidrig unterließ, die Identität des Unfallverursachers festzustellen. Der Staat Kalifor-
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defekten Alarmanlage musste nach einem Diebstahl im deshalb mangelhaft gesicherten Haus zu seinem Glück nicht für den vollen Wert des Diebesgutes gerade stehen, sondern nur für die „perte d ' u n e chance au niveau de la dissuasion des auteurs d'infractions, de la récupération des objets volés suite à l'arrestation des auteurs, ou du r e m b o u r s e m e n t des objets volés suite à l'identification des ces derniers" 8 2 .
Weniger froh über die perte-d'une-chance-Doktnn war wohl ein Börsenmakler, der seine Kunden nach einer offenbar verspäteten Auftragsausführung entschädigen musste für die „perte de chance, du fait d ' u n e inversion de cours et de la suspension de cotation des titres, cette erreur non contestée de la société de bourse ayant abouti à un m a n q u e à gagner fi„