Carmen: Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst 9783412213541, 9783412205799


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Carmen: Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst
 9783412213541, 9783412205799

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Literatur – Kultur – Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von

Anne-Kathrin Reulecke und Ulrike Vedder in Verbindung mit Inge Stephan und Sigrid Weigel

Kleine Reihe Band 28

Carmen Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst

Herausgegeben von

Kirsten Möller, Inge Stephan und Alexandra Tacke

2011

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Abbildung einer Silhouettenfigur aus Lotte Reinigers „Carmen“ (1933). © Christel Strobel, Agentur für Primrose Productions. Mit freundlicher Genehmigung von Christel Strobel.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Layout: Annika Beckmann Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20579-9

Inhalt Einleitung von Kirsten Möller, Inge Stephan & Alexandra Tacke..............................7

I. Ursprungsfantasien Prosper Mérimées Carmen Eine französisch-spanische Beziehungsgeschichte von Kirsten Möller ....................................................................................13 Carmen im Blick Die Funktion der Rahmungen in Prosper Mérimées Novelle & Georges Pichards Comic von Alexandra Tacke...............................................................................25 Carmen in carmine Carmen als musikalisches Phänomen von Patricia Fiebrich.................................................................................35 Wenn Musik verführt Carmen und ihre Nachfolgerinnen von Melanie Unseld ..................................................................................49

II. Carmen auf der Leinwand Klasse. Geschlecht. Inszenierungsweisen. Carmen in frühen Stummfilmen (DeMille, Chaplin, Lubitsch) von Florian Kappeler ................................................................................62 Carmen als Silhouettentheater Lotte Reinigers Carmen (1933) von Alexandra Vasa ...............................................................................77 Carmen, eine weiße Fantasie Alterität und Hegemonie in Otto Premingers Carmen Jones (1954) von Julia Eckhoff......................................................................................92

Tanz der Geschlechter Carlos Sauras Film Carmen (1983) von Jacqueline Roussety...........................................................................106 Zwischen Mythos und Moderne Carmen/Elektra in Jean-Luc Godards Prénom Carmen (1983) von Julia Freytag.....................................................................................125

III. Carmen medial Anna Sutter – Carmen Alain Claude Sulzers Novelle Annas Maske als Montage des Schicksals von Almut Hille.....................................................................................140 Keine Kinderkrankheit Ana Castillos Chicago-Chicana und ihre Carmen-Nummer Peel my Love like an Onion (1999) von Rike Bolte ........................................................................................150 Fantasías sobre Flamenco Getanzte Carmenbilder zwischen Körperwissen, Punk & Porno von Julia Roth ........................................................................................167 „Wunsch, Carmen zu werden“ Katarina Witts Carmen on Ice (1989) von Inge Stephan.....................................................................................187 Der Zauber des unergründlichen Blicks Auf der Suche nach Carmen in der Bildenden Kunst von Lydia Strauß....................................................................................203 Abbildungsnachweise ..............................................................................223 Verfasser/innen ........................................................................................224

Einleitung von Kirsten Möller, Inge Stephan & Alexandra Tacke Carmen, die Heldin in Prosper Mérimées gleichnamiger Novelle (1845), ist von zweifelhafter Herkunft.1 Die umständlichen Nachforschungen des Erzählers über die geografische Lage des antiken Schlachtfeldes Mundo/Mondo, mit denen der Text eröffnet wird, lassen sich ebenso als Anspielung auf die unsichere Abstammung der Titelfigur lesen wie die abschließenden pseudo-ethnografischen und sprachwissenschaftlichen Überlegungen zu den „über ganz Europa verstreuten Nomaden […], die unter dem Namen Bohémiens, Gitanos, Gypsies, Zigeuner usw. bekannt sind“ (S. 70). Über die Eltern, Geschwister oder andere Verwandte von Carmen erfahren wir nichts. Der Erzähler hält sie zunächst für eine „Andalusierin“, dann für eine „Maurin“, schließlich für eine „Jüdin“. Carmen selbst bezeichnet sich als „Zigeunerin“, der Erzähler bezweifelt allerdings, dass sie „reinrassig“ (S. 20) ist, weil sie ihm „viel hübscher“ erscheint als alle Frauen ihres Volkes, denen er jemals begegnet ist. Gegenüber dem aus der baskischen Provinz Navarra stammenden Don José gibt Carmen sich als „Landsmännin“ (S. 33) aus und versucht sein Vertrauen zu erschleichen, indem sie sich zum Opfer von Zigeunern erklärt, die sie nach Sevilla verschleppt hätten, wo sie in einer Tabakmanufaktur arbeiten müsse, um sich Geld für die Rückkehr nach Navarra zu verdienen und ihre „arme Mutter“ (ebd.) zu unterstützen. Nachdem José aus Eifersucht einen Offizier, der Carmen nachstellt, getötet hat, lebt er zusammen mit der Schmugglerbande, zu der schließlich auch Carmens Ehemann Garcia stößt, den José ebenfalls tötet, weil er „der einzige“ (S. 60) bei Carmen sein will. Während die Novelle über Carmens Ende keinen Zweifel lässt – Don José ersticht sie –, bleibt ihre Herkunft wie die der ,Zigeuner‘ insgesamt im Dunkeln. „Die Geschichte der Zigeuner ist noch nicht erforscht“ (S. 75), konstatiert der Erzähler im letzten, nachgeschobenen Teil der Novelle. Weder die ägyptische noch die indische Herkunft lässt sich verifizieren. Die Suche nach den Ursprüngen verliert sich im Imaginären. Auch der Name gibt Rätsel auf. Plausibler als die etymologische Herleitung aus dem Lateinischen, wo Carmen „Lied“ bedeutet, ist der Verweis von Thomas Macho auf die „Virgen del carmen“, die Jungfrau vom heiligen Berg Carmel, deren Fest jährlich mit großem Pomp in Spanien und Lateinamerika gefeiert wird2 und die im spanischspra-

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chigen Kulturkreis so populär ist, dass Carmen – nach Maria – zu einem der beliebtesten Mädchennamen geworden ist. In Mérimées Novelle gibt es deutliche Hinweise auf diese biblisch-christliche Genealogie, die in der Oper von Bizet zugunsten der Lied-Variante fallengelassen und auf die nomadischen Wurzeln der Heldin reduziert worden ist. Da Carmen jedoch bereits zu Zeiten von Bizet als Deckname für Prostituierte gebräuchlich war, erscheint das Verhältnis zwischen der „Virgen del carmen“ und der Titelheldin von Mérimée zumindest in der Rückschau in einem zweifelhaften Licht. In seinem Buch Georges Bizet (1982) schreibt Michel Cardoze: Carmen war der von Prostituierten bei ihrer Tätigkeit am häufigsten verwendete Deckname. Die Register der Freudenhäuser beweisen es: Das Pseudonym, das Marie, Jeanne, Joséphine, Anna und wie sie alle heißen mögen, sofort in den Sinn kommt, ist Carmen.3

Auch heute scheint Carmen als Deckname im Prostituiertenmilieu immer noch sehr beliebt zu sein, wie man schnell feststellen kann, wenn man den Namen als Suchwort bei Google eingibt. Wenn man all die vielfältigen und widersprüchlichen Assoziationen bedenkt, mit denen der Erzähler in Mérimées Novelle die Herkunft und den Namen der Titelfigur ins Ungewisse rückt, erstaunt es nicht, dass gerade Carmen im 20. Jahrhundert zu einer frei vagabundierenden Chiffre für eine geheimnisumwitterte Weiblichkeit avanciert. Als Carmen von Sankt Pauli (1928), als Carmen Jones (1954) oder als U-Carmen e-Khayelitsha (2004) kann sie sozial, sexuell und ethnisch sehr unterschiedliche Identitäten annehmen, die nur noch sehr vermittelt auf Mérimées Novelle zurückverweisen. Diese bleibt jedoch stets die Ursprungserzählung, auch wenn mit der Oper von Bizet rasch eine Konkurrenzversion auf den Markt kam. Anders als bei den antiken Mythen, wo die Suche nach den Ursprüngen zumeist ins Leere läuft – die verschiedenen Varianten sind es, die Figuren wie Kassandra, Antigone oder Medea konstituieren –, weist Carmen als moderner Mythos im Sinne von Roland Barthes eine klare Genealogie auf: Ihr literarisches Geburtsjahr fällt ins Jahr 1845, ihr musikalisches ins Jahr 1875. Als Figur hat sie jedoch keine sichere Abstammung, diese wird vielmehr vom Erzähler systematisch verschleiert. Ihre Identität ist ein Ergebnis literarischer und musikalischer Fantasien über Weiblichkeit, die sich aus antiken und christlichen Mythen speisen und mit damaligen zeitgenössischen Vorstellungen über Alterität und Exotismus aufgeladen sind.

Einleitung

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Emphatisch preist Nietzsche Bizets Oper 1888 als „Gegenstück zu Wagner“4: Mit ihm nimmt man Abschied vom feuchten Norden, von allem Wasserdampf des Wagnerischen Ideals. Schon die Handlung erlöst davon. Sie hat von Mérimée noch die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die harte Notwendigkeit; sie hat vor allem, was zur heißen Zone gehört, die Trockenheit der Luft, die limpidezza in der Luft. Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert. Hier redet eine andere Sinnlichkeit, eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon.5

In Bizets Oper findet Nietzsche eine Auffassung von Liebe, „die einzige, die des Philosophen würdig ist“6: Nicht die Liebe einer „höheren Jungfrau“: keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter ist!7

Dieser hohe ekstatische Ton, mit dem Nietzsche von der „südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität“8 Bizets im Vergleich zur dumpfen nordischen Schwüle der Wagnerischen Musik schwärmt, lässt aufhorchen. Offenbar geht es um mehr als Musik. Bizets Carmen wird zu einer Lebenshaltung, die vom Pathos, das sich aus dem Exotismus und Orientalismus des 19. Jahrhunderts speist, angeheizt wird. Dieses Pathos hat sich jedoch schnell verbraucht: Aus der Literatur und der Oper wandert Carmen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in ein neues Medium ab: Der Film wird zu ihrer neuen Heimat. Carmen wird zu einer internationalen Ikone und immer dann verstärkt in Szene gesetzt, wenn es um die Bewältigung von Alteritätsund Emanzipationskrisen geht. Als ungebundene, freie Frau wird sie – vor allem unter dem Einfluss der Frauenbewegung nach 1968 – zu einer Figur, auf die Sehnsüchte nach Freiheit, aber auch Ängste vor dem Fremden projiziert werden. Sie ist eine Wiedergängerin der femme fatale der Jahrhundertwende. In der jüngsten Carmen-Adaption Carmen – Ein deutsches Musical, das im Juni 2010 auf den Festspielen in Bad Hersfeld aufgeführt wurde, ist der Stoff in die frühen Nachkriegsjahre verlegt. Erzählt wird die Geschichte von Carmen, Jo und Marie, die sich in Westdeutschland zwischen 1948 und 1955 neu zu orientieren suchen. Die Musik verwendet Jazz und Unterhaltungsmusik jener Jahre, nimmt aber auch Bezug auf die bekannten Motive aus der Carmen-Oper von Bizet. Carmens Herkunft liegt wie bei Mé-

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rimée im Dunkeln. Im raschen Wechsel von Rollen und Kostümen baut sie sich eine erfolgreiche Halbweltexistenz auf. Jos Jugendliebe, die – wenig überraschend – den Namen Marie trägt, fungiert als Gegenfigur zu Carmens verführerischer Weiblichkeit. In dieser Konfrontation zwischen Carmen und Marie wiederholt sich eine Aufspaltung, die ebenfalls auf alte Muster der femme fatale und der femme fragile der Jahrhundertwende zurückverweist. Es scheint, als ob diese Muster erzählerisch immer noch vital sind, so dass ein Ende des Carmen-Mythos nicht abzusehen ist. Die Beiträge in diesem Band widmen sich unterschiedlichen Anverwandlungen des Carmen-Mythos: Im ersten Abschnitt geht es vornehmlich um seine Ursprungserzählungen in Literatur und Oper, aber auch bereits um deren Fortschreibungen. Die Novelle von Mérimée steht einmal aus dem Blickwinkel der Binnen- und einmal aus dem der Rahmenhandlung im Zentrum des Interesses. Die Oper von Bizet wird aus zweifacher Perspektive beleuchtet: Die Carmen-Figur wird zum einen in ihrer besonderen musikalischen Gestaltung und zum anderen in ihrer Funktion als ‚große Schwester‘ anderer Frauengestalten in der Operngeschichte betrachtet. Der zweite Abschnitt widmet sich Carmens Weg auf die Leinwand: Stationen sind unter anderem die frühen Stummfilme von Cecil B. DeMille, Charlie Chaplin oder Ernst Lubitsch, der Silhouettenfilm von Lotte Reininger sowie prominente Verfilmungen aus den 1980er Jahren von Carlos Saura und Jean-Luc Godard. Der dritte Abschnitt rückt weitere mediale Auseinandersetzungen in den Blick: von zeitgenössischen literarischen Texten wie der Novelle Annas Maske (2001) oder dem Roman Peel my Love like an Onion (1999) über performative Adaptionen im zeitgenössischen Flamenco oder on Ice (Katarina Witt als Carmen) bis hin zur Suche nach den Spuren Carmens in der Bildenden Kunst. Wenn in den in diesem Band versammelten Aufsätzen vielfach von Carmen als ‚Zigeunerin‘ die Rede ist, dann vor allem deshalb, weil sich die Autor/innen u. a. damit auseinandersetzen, wie die einzelnen Texte, Filme, Musikstücke oder Bilder Carmen als ‚Zigeunerin‘ inszenieren und dabei auf das Konstrukt der ‚Zigeunerin‘ zurückgreifen bzw. dieses fortschreiben.9 Der deutsche Begriff ‚Zigeuner/ in‘ ist eine Fremdbezeichnung und darüber hinaus mit Klischees, Vorurteilen und der Geschichte von Ausgrenzung, Verfolgung und Völkermord belastet.10 In einem dies berücksichtigenden Sprachgebrauch wird mittlerweile die von Interessenverbänden eingeführte Selbstbezeichnung „Sinti und Roma“ verwendet. Ein Rückgriff in diesem Band auf den in seiner spezifischen Problematik hier zu knapp

Einleitung

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umrissenen Begriff ‚Zigeuner/in‘ ist aber in Hinblick auf die untersuchten Werke und ihren Anteil an der Persistenz des Begriffs unumgänglich. Ohne die Hilfe von vielen Personen hätte der vorliegende Band nicht realisiert werden können. Deshalb möchten wir uns an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei allen Mitwirkenden bedanken. Gedankt sei zunächst allen Studierenden des Carmen-Seminars im Wintersemester 2008/09, die uns durch ihr Interesse und ihre Fragen wertvolle Denkanstöße gegeben haben. Annika Beckmann und Julia Eckhoff danken wir für das kompetente Lektorat und Annika Beckmann für den Satz. Nicht zuletzt gilt unser Dank den Autor/innen sowie den Künstler/innen, Fotograf/innen und Verlagen, die uns freundlicherweise ihre Bildrechte überlassen haben.

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Anmerkungen 1

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Prosper Mérimée: Carmen. Novelle, übersetzt von Wilhelm Geist, revidiert und mit einem Nachwort versehen von Günter Metken, Stuttgart 2005. Im Folgenden werden Zitate unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Thomas Macho: „Carmens Geschichte“. In: Peter Paschek, Verena Formanek (Hrsg.): Blicke auf Carmen. Goya. Courbet. Manet. Nadar. Picasso, Köln 2005, S. 45-85, hier S. 56-60. Michel Cardoze: Georges Bizet. Paris 1982. Zit. nach: Prosper Mérimées Novelle „Carmen“. Die Oper, die Filme, Faszination des Flamenco, zusammengestellt von Christiane Filius-Jehne, München 1984, S. 119f. Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. In: ders.: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, Frankfurt a. M./Wien 1995, S. 905-938, hier S. 905. Ebd., S. 906. Ebd., S. 907. Ebd. Ebd. Zum „Begriff Zigeuner(in)“ als einem „mythischen Begriff“ vgl. Almut Hille: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2005, S. 8-18, hier S. 11. Vgl. Michail Krausnick, Daniel Strauß (Hrsg.): Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen. Handbuch Sinti und Roma von A-Z, Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden Württemberg, Norderstedt 2008, S. 120-121; Michael Zimmermann: „Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Europa des 20. Jahrhunderts“. In: ders. (Hrsg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 13-70, hier S. 63.

I. Ursprungsfantasien Prosper Mérimées Carmen Eine französisch-spanische Beziehungsgeschichte von Kirsten Möller One would think that everything has already been said about Carmen – the character, the novel, the opera, and her infinite resurrections in the last one hundred years of plenitude – and that we might as well let her rest in peace.1

Mit dieser Bemerkung beginnt José Colmeiro seinen Aufsatz „Exorcising Exotism: Carmen and the Construction of Oriental Spain“ von 2002 – eine der jüngeren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Carmen-Mythos2, der seinen Ursprung in einer Novelle aus dem 19. Jahrhundert hat. Und in der Tat, gerade über diese Novelle mit dem Titel Carmen (1845/1847) von dem französischen Schriftsteller Prosper Mérimée (1803-1870) scheint schon so vieles gesagt. Die Interpretationsansätze sind dabei so vielfältig wie zum Teil auch widersprüchlich wie Colmeiro es beschreibt: Contemporary critical readings of the Carmen myth, particularly in cultural studies, follow two contradictory tendencies. Those informed by feminist theory see her as an affirmation of free will, independence, and liberation; those informed by postcolonial theory seek to unmask the misogynist and racist undertones toward the other, which ultimately neutralize those emancipatory impulses.3

Angesichts der anhaltenden Faszinationskraft der Geschichte um die schöne ‚Zigeunerin‘4 – beispielsweise fand sich die Bizet’sche Oper in den letzten Jahren immer auf den vordersten Plätzen unter den meistgespielten Opern Deutschlands5 und inspirierte der CarmenMythos den Rapper Sido 2008 zu einem Song mit dem Titel „Carmen“ – bleibt die Frage nach dem besonderen Charakter, der Mérimées Erzählung inne wohnt, weiterhin aktuell. Zu vermuten ist, dass gerade die Ambiguität die nach wie vor hohe Attraktivität und Lebendigkeit des Carmen-Mythos ausmacht, den Mérimée mit seinem Text begründete. Die Novelle erschien erstmals am 1. Oktober 1845 in der Revue des Deux Mondes, allerdings noch ohne den vierten Teil, der erst der Veröffentlichung von 1847 hinzugefügt wurde. Mérimée schrieb die No-

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velle nach eigenen Angaben im Februar 1845 innerhalb weniger Tage, konnte sich aber bei der Niederschrift schon auf vorhandenes Material wie seine Reiseerinnerungen in Briefform, seine historischen Forschungen über den König Pedro I. sowie seine Studien über ,Zigeuner‘ stützen. Er zog seine Inspiration nach eigenen Angaben insbesondere aus zwei Erlebnissen während seiner ersten Spanienreise 1830: aus der Begegnung mit einem schönen Mädchen, das sich Carmencita nannte, und aus der Bekanntschaft mit der Gräfin Montijo, die ihm die Geschichte von einem Räuber, der seine Geliebte tötete, und von Pedro I. erzählte. Mérimée war der erste der französischen Schriftsteller der Romantik, der längere Zeit Spanien bereist hatte. Seine Reiseerlebnisse verarbeitete er in seinen Lettres d’Espagne (1832) und später in der Novelle.6 Eine weitere Inspiration für Carmen könnte aber auch das Gedicht „Die Zigeuner“ (1824) von Alexander Puschkin gewesen sein, das Mérimée allerdings erst 1852 vom Russischen ins Französische übersetzte. Die Novelle zeichnet sich vor allem durch ihre verschiedenen Erzählebenen aus, wodurch eine Rahmung für die ‚eigentliche‘ CarmenGeschichte7, die Binnenerzählung geschaffen wird, die im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen soll.8 Im ersten Teil der Novelle berichtet der Ich-Erzähler, ein französischer Archäologe, von einem zufälligen Treffen in der Ebene von Cachena mit einem Banditen namens Don José, der für die späteren Ereignisse eine entscheidende Bedeutung spielen soll. Im zweiten Teil steht die Begegnung des IchErzählers mit Carmen im Vordergrund. Den dritten Teil bildet die Erzählung der ‚eigentlichen‘ Carmen-Geschichte durch Don José. Der vierte Teil ist ein pseudowissenschaftlicher Bericht über das Volk der ‚Zigeuner‘. Mérimée bezieht sich hier u. a. auf zeitgenössische Abhandlungen des englischen Autors George Henry Borrow. Der Ich-Erzähler trifft im zweiten Teil abends in Cordoba am Ufer des Guadalquivir das erste Mal auf die junge Frau, die sich ihm im anschließenden Gespräch als Carmen vorstellt. Sie trägt laut dem Bericht des Erzählers einen „großen Strauß Jasmin im Haar“, ist „klein, jung, wohlgebaut“ und „wie die meisten Arbeiterinnen am Abend“ (18) schwarz gekleidet. Es entspinnt sich ein Gespräch über beider Herkunft – Carmen vermutet in dem Erzähler zuerst einen Engländer, ein Trugschluss, den dieser mit einer Fußnote im Text als typisch für Spanien und die Spanier kommentiert, die angeblich jeden Fremden für einen Engländer hielten. Dies rührt möglicherweise daher, dass die Spanien-Reisenden dieser Zeit vielfach Engländer waren.9 Über Carmens Herkunft und ethnische Zugehörigkeit entspinnt

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sich dann ein längerer Wortwechsel – der Erzähler rät vergeblich verschiedene Möglichkeiten (aus Cordoba, Andalusierin, Maurin, Jüdin), bis Carmen sich als ,Zigeunerin‘ vorstellt. „Ich war damals, es sind nun fünfzehn Jahre her, so ungläubig, daß ich keineswegs entsetzt zurückwich, als ich mich neben einer Zauberin sah“ (20) – so beschreibt er im Rückblick seine erste Reaktion auf diese Enthüllung. Im Gegenteil: Die magischen Kräfte, die er bei Carmen vermutet, weckten seine Neugier und Faszination. Im Folgenden benutzt der Erzähler aber verschiedene oft abwertende Namen und Bezeichnungen für Carmen, nennt sie eine Gitanella, Hexe, Teufelsdienerin, ,Zigeunerin‘, Satans Patenkind oder Teufelsmädchen. Die Faszination zum Zeitpunkt des Kennenlernens wird von der späteren Ablehnung, möglicherweise begründet in dem Wissen um den Ausgang der Geschichte, überschattet. An der Diskussion über Fragen der Herkunft wird deutlich, wie schwer Carmens ethnische oder nationale Identität10 zu fassen ist bzw. wie sehr sie sich einer Einordnung nach festen Identitätskategorien entzieht. Wenige Sätze später schließt der Erzähler eine Beschreibung Carmens an, die mit folgender Überlegung beginnt: „Ich bezweifle sehr, daß Fräulein Carmen reinrassig war, jedenfalls war sie unendlich viel hübscher als alle Frauen ihres Volkes, denen ich je begegnet bin“ (20). Obgleich sie sich selbst kurz vorher eindeutig als ‚Zigeunerin‘ identifiziert hat, stellt der Erzähler diese Selbstzuordnung in Frage. Die Kriterien der vollkommenen Schönheit einer Frau, wie sie laut Aussage des Erzählers von den Spaniern kolportiert werden, passen aber, so sein Eindruck, auch nicht auf Carmen. In seiner Darstellung ist Carmen also zu schön, um eine ‚Zigeunerin‘ zu sein, ihre Schönheit aber von solcher Art, die sie auch nicht als Spanierin auszeichnet. „Um nicht durch eine zu weitschweifige Beschreibung zu ermüden, sage ich zusammenfassend, daß jedem Fehler eine Qualität gegenüberstand, die vielleicht durch den Kontrast noch stärker heraustrat“ (21). Als Beispiel sei hier die Beschreibung ihrer Augen und Lippen zitiert: „Ihre Augen waren schräg, aber bewundernswürdig geschlitzt, ihre Lippen vielleicht ein wenig voll, aber gut geschnitten“ (ebd.). Claudia Bork erkennt in diesen Punkten „die antithetische und daher verführerische Schönheit der femme fatale“11. Sie deutet Carmen anhand einer genauen Analyse ihrer einzelnen physischen Merkmale und ihrer Charaktereigenschaften als femme fatale. Carmen fügt sich nicht in ein traditionelles Frauenbild: Sie raucht, handelt mutig, lässt sich auf keine Rolle festlegen, ist bindungslos und freiheitsliebend. Sie kennt weder Treue noch Aufrichtigkeit. Sie hat keine Kinder.

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Der Erzähler grenzt Carmen in dieser Passage der Novelle sowohl von dem Volk der ‚Zigeuner‘ als auch von dem der Spanier ab. Er räumt ihr eine Sonderstellung ein, die Mary B. Collier folgendermaßen beschreibt: „Elle vit d'après le code bohémien, dit-elle; mais en fait ‚son code‘ est un système sans système. Même dans la communauté des gitans, elle est exceptionelle“12. Sabine Haupt bezeichnet die femme fatale als europäischen Mythos des 19. Jahrhunderts. Sie definiert diese als Figur, in der sich der „Konflikt zwischen sittlichen und sozialen Ambitionen auf der einen und triebhaften Impulsen auf der anderen Seite“13 kristallisiert. Ihre Funktion „ist eine rein triebökonomische“14, die den Mann entlastet, ihn zum Opfer der Verführerin macht. Ihr Auftreten im 19. Jahrhundert setzt Haupt in Verbindung mit der sich ganz allmählich entwickelnden Frauenemanzipation und der männlichen Angst vor dieser.15 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird aus der tanzenden, beweglichen Exotin, der in orientalische Düfte gehüllten und den männlichen Zuschauer betörenden Verführerin Salomé […] die modische Ikone einer hysterischen, vom kataleptischen Muskelkrampf herbeigeführten Versteinerung.16

Carmen – eine Schwester Salomés – wird in der Novelle mit einer ausgeklügelten Tiermetaphorik beschrieben: Neben einer kleinen Anzahl positiv besetzter Tierbilder, die Unschuld und Jugend suggerieren, wird sie vor allem mit einer Katze, einem Wolf oder einem Chamäleon verglichen. Für Claudia Bork sind diese Metaphern ein weiterer Hinweis auf die mögliche Einordnung von Carmen als femme fatale: Die Tiermetaphern und -vergleiche bilden […] eine kongruente Bildkette und illustrieren, konkretisieren und intensivieren die Eigenschaften der femme fatale Carmen. Neben den Lebensfreude und Eros symbolisierenden Tieren verweisen vor allem die Tierbilder, die eine Teufels-, Dämonen- und Todessymbolik konnotieren, auf die Diabolik und die todbringende Eigenschaft der femme fatale.17

Der Erzähler begleitet Carmen im Anschluss an die erste Begegnung in ihre Wohnung, wo er sich von ihr wahrsagen lassen will. Während der Prozedur werden sie allerdings von einem Mann unterbrochen, den der Erzähler als Don José wiedererkennt. Nach einem kurzen heftigen Streit mit Carmen, offenbar wollte sie den Fremden durch Don José umbringen lassen, geleitet er den Erzähler aus dem Haus, rettet ihm das Leben.

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Im dritten Teil der Novelle berichtet Don José, im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartend, dem Erzähler von seiner Beziehung zu Carmen und seinem damit verbundenen Schicksal. Elisabeth Bronfen charakterisiert in ihrem Buch Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (1993) diesen Bericht folgendermaßen: In seiner Erzählung schildert José Carmen als Verkörperung all dessen, was ihm entgegengesetzt ist, einer Lebensart, die ihn wegen ihres Andersseins fasziniert, die ihn aber auch zu verschlingen und damit sein Selbst und die normative Ordnung, der er angehört, zu vernichten droht.18

Don José wurde als Baske und „alter Christ“ (27) im Batzantal geboren. Sein vollständiger Name lautet Don José Lizzarabengoa. „Don nenne ich mich, weil ich das Recht dazu habe“ (29), erläutert er seine Herkunft und verweist auf seinen langen Stammbaum. Eigentlich sollte er Geistlicher werden, verfiel aber dem Spiel und tötete einen Gegner im Streit, so dass er das Land verlassen musste und dem Reiterregiment beitrat. Seine erste Begegnung mit Carmen vor den Toren einer Tabakmanufaktur in Sevilla, wo er Wache stand, beschreibt Don José als unvergesslich: Carmen, in einem sehr kurzen roten Rock und mit einem Strauß Akazien geschmückt, nähert sich ausgerechnet ihm, der sich schon von ihr abgewandt hat, und spricht ihn in frechem Tonfall an. Zum Ende des kurzen Wortwechsels schnippt sie ihm eine Akazienblüte ins Gesicht, die Don José völlig benommen aufhebt. Auffällig ist eine gewisse Parallelität dieser ersten Begegnung zu der des Ich-Erzählers mit Carmen: In beiden Fällen spielen Carmens Blumenschmuck und ihre Kleidung eine wichtige Rolle. Und beide Männer sind von Carmen auf ihre Art in den Bann gezogen. Als kurz darauf Carmen eine andere Arbeiterin in der Fabrik im Streit mit einem Messer verletzt, muss Don José sie verhaften und abführen. In der Schlangenstraße bezirzt sie ihn, sie entfliehen zu lassen. Das gelingt ihr, indem sie ihn in seiner Muttersprache – dem Baskischen – anspricht. Als ‚Zigeunerin‘ scheint Carmen verschiedene nationale, ethnische und kulturelle Identitäten spielerisch zu verkörpern. Larry Duffy beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: Likened to ‚un caméléon‘, she is every woman, in that she is able effortlessly to occupy a number of roles and cultural identities. Furthermore, she cannot be tied to any particular one of these identities […]. Carmen is the consummate translator, the consummate transgressor of boundaries, whether these be political, geographical, cultural, sexual, moral or linguistic.19

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Im Gegensatz zu ihr verlange es Don José, der immer noch darunter leidet, dass er seine Heimat verlassen musste, nach Sicherheit, nach einer stabilen Identität: „In short, Don José likes certainty, and suffers anxiety in uncertain contexts, not least where culture is concerned.“20 Für Don José ist Carmen, die ihn zugleich fasziniert, in ihrer sprachlichen Flexibilität, Mehrdeutigkeit und der Verwirrung, die sie stiftet, Auslöser und Verstärker seiner Ängste und Unsicherheiten, die schon aus dem Verlust seiner baskischen Heimat herrühren. Don José kommt für das Zulassen ihrer Flucht für einen Monat ins Gefängnis, wohin ihm Carmen eine Feile und ein Goldstück – eingebacken in einem Brot – schicken lässt. Er bricht aber nicht aus, sondern sitzt seine Strafe ab – ein Versuch, in sein altes Leben zurückzukehren und sich dessen Ordnung zu unterwerfen. Er trifft Carmen das nächste Mal, als er – nach seiner öffentlichen Degradierung – vor dem Haus des Oberst Wache steht. Sie nennt ihm als Treffpunkt die Taverne von Lillas Pastia in Triana, von dort brechen sie aber sogleich auf, um auf Carmens Initiative hin Leckereien zu kaufen. Carmen führt Don José in die Candilejostraße, wo sie sich im Haus einer ,Zigeunerin‘ einrichten. Mit den Worten „,Ich zahle meine Schuld, ich zahle meine Schuld, so ist das Gesetz der cales!‘“ (41) wirft sie sich Don José an den Hals. Sie verbringen den Rest des Tages und die Nacht gemeinsam – Don José kehrt nicht mit dem Zapfenstreich in sein Quartier zurück, entzieht sich der Ordnung, der er sich noch durch das Absitzen der Gefängnisstrafe wieder unterworfen hatte. Am nächsten Morgen verabschiedet sich Carmen mit den Worten von ihm, dass sie nun quitt seien und dass sie sich besser nicht wieder sehen, wenn er nicht eines Tages am Galgen enden wolle. Nach einigen Wochen begegnet Don José Carmen doch wieder, als er Wache an einer Bresche in der Stadtmauer steht. Sie überredet ihn, ihre Freunde mit Schmugglerware durchzulassen und verspricht ihm dafür, noch einen Tag in der Candilejostraße mit ihm zu verbringen. Als er sie dort am nächsten Morgen trifft, ist sie allerdings schlechter Laune – sie trennen sich im Streit. Weinend flüchtet sich Don José schließlich in eine Kirche, wo ihn Carmen aufspürt und bittet, mitzukommen – sie habe ihn wohl doch wider Willen gern. Ihr Verhältnis bleibt aber von den ‚Launen‘ Carmens geprägt. Eines Abends – Don José hat mittlerweile mit der alten ,Zigeunerin‘ in der Candilejostraße Bekanntschaft geschlossen und trinkt ein Gläschen mit ihr – bringt Carmen einen Leutnant aus seinem Regiment mit in die Wohnung. Vor lauter Eifersucht tötet Don José seinen Vorge-

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setzten im Streit und flieht. Carmen bringt ihn in Sicherheit, versorgt seine Wunden und schlägt ihm vor – da er Sevilla verlassen muss, um nicht hingerichtet zu werden –, als Schmuggler an die Küste zu gehen. Und so wird Don José zum Banditen, ein Leben, das er vorläufig genießt, schon allein deshalb, weil er jetzt viel Zeit mit Carmen verbringt. Dieses ‚Vergnügen‘ dauert so lange an, bis Carmen ihren rom, ihren Mann, Garcia aus dem Gefängnis befreit. Dieser wird in der Novelle folgendermaßen beschrieben: „er war wohl das häßlichste Scheusal, das die Zigeuner je hervorgebracht haben: schwarz die Haut und noch schwärzer die Seele, war er der schändlichste Schurke, dem ich in meinem Leben begegnet bin“ (50). Auch berichtet Don José von der kaum vorhandenen Solidarität der Schmuggler,Zigeuner‘ untereinander, schildert eine Szene, in der ein Schmuggler auf der Flucht einen schwer verwundeten Kameraden einfach erschießt. Seine negative Einschätzung der ‚Zigeuner‘ verbirgt Don José nicht – hier kommen antiziganistische Stereotype zur Sprache, die im vierten Teil der Novelle noch einen weitaus größeren Platz einnehmen. Als die Schmuggler längere Zeit nichts von Carmen gehört haben, die ihnen sonst immer die ‚Geschäfte‘ vermittelt, macht sich Don José verkleidet als Orangenhändler nach Absprache mit den anderen auf nach Gibraltar, um sie zu finden. Dort trifft er sich mehrmals mit ihr und sie verabreden einen Plan, um einen reichen Engländer auszurauben, gemäß dem – so zumindest Carmens Vorschlag – auch ihr Mann Garcia sterben soll. Don José provoziert Garcia aber schon zuvor und tötet ihn im Streit. Nun wird Carmen seine romi. In der Novelle heißt es: ,Weißt du‘, sagte sie mir, ‚daß ich dich, seit du wirklich mein rom bist, weniger liebe als früher, als du mein minchorrô warst? Ich will nicht gequält, schon gar nicht kommandiert werden. Ich will frei sein und tun, was mir gefällt. Hüte dich, mich zum Äußersten zu treiben. Wenn du mich langweilst, werde ich einen gefälligen Burschen finden, der dir tut, wie du dem Einäugigen!‘ (62)

Während Don José infolge einer schweren Verletzung längere Zeit daniederliegt, lernt Carmen den Picador Lukas kennen. Voller Eifersucht stellt Don José sie vor die Wahl: Entweder wandert sie mit ihm nach Amerika aus oder er wird sie töten. Carmens Position ist eindeutig: „Als mein rom hast du das Recht, deine romi zu töten; aber Carmen wird immer frei sein. Als calli ist sie geboren, als calli wird sie sterben“ (69). Die restriktive Ordnung, die das Zusammenleben zwi-

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schen rom und romi – zwischen Mann und Frau – regelt, steht für Carmen unter der Freiheitsliebe der calli – der ‚Zigeuner‘–, die für sie oberste Priorität besitzt. Ihre individuelle Freiheit ist nicht durch ihre Zuordnung zu einer Geschlechteridentität einzuschränken. Don José ersticht sie. Er legt zusammen mit dem Ring, den er ihr geschenkt hatte und den sie kurz vor ihrem Tod von ihrem Finger riss, ein kleines Kreuz in ihr Grab – schon zuvor hat er einen Priester gebeten, für Carmen zu beten. Auf diese Weise übt er Macht über die tote Carmen aus – macht sie durch den Ring symbolisch wieder zu seiner Frau und unterstellt sie gleichzeitig dem christlichen Glauben: „Vielleicht tat ich unrecht“ (69), lautet sein zögerlicher Kommentar. Nach dieser Tat stellt sich Don José der Polizei, unterwirft sich damit der Ordnung, der er vor der Begegnung mit Carmen angehört hat. Er übergibt dem Erzähler ein Medaillon, das dieser der Mutter von Don José bringen soll und kehrt so symbolisch in den Kreis seiner Familie zurück. Elisabeth Bronfen interpretiert Carmens Ermordung als notwendige Voraussetzung zur Wiederherstellung geltender kultureller Normen und Werte: „Die Konstruktion der Frau als Anderer dient rhetorisch dazu, eine Sozialordnung zu dynamisieren, während ihr Tod das Ende dieser Phase der Veränderung bezeichnet.“21 Seinen Bericht schließt Don José mit den Worten: „,Armes Kind! Die cales haben Schuld, die sie so erzogen haben‘“ (70). Damit weist er endgültig alle Schuld von sich, wälzt diese auf die ‚Zigeuner‘ ab. Die Novelle ist laut der Interpretation von Karl Hölz nach einem für die bürgerliche Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts typischen Vermittlungsschema strukturiert: Einerseits wird mit der Heldin ein exotisches Ausscheren aus den Wertvorstellungen der eigenen Kulturwelt erzählerisch eingelöst, andererseits erfolgt dieser Ausflug in die kulturelle und weibliche Barbarei aber so, daß im Konflikt der Kulturen und Geschlechter der koloniale und männliche Unterwerfungsgestus keinen Schaden nimmt.22

Carmen wird von Prosper Mérimée als ‚die Andere‘ inszeniert. Sie ist gewissermaßen eine Fremde zweiter Ordnung, da der Ich-Erzähler einen Großteil seiner Kenntnis von Carmens Geschichte aus zweiter Hand, durch die Erzählung des ebenfalls auf den ersten Blick als fremd inszenierten Don José erlangt. Allerdings überwiegen bei genauerer Betrachtung die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Männern – beispielsweise in ihrer Faszination für Carmen und ihrer Verpflichtung auf eine gemeinsame Ordnung: „Ich kannte den Charakter der Spanier genügend, um sicher zu sein, daß ich nichts von

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einem Mann zu fürchten brauchte, der mit mir gegessen und geraucht hatte“ (8). Was ihre Beziehung zu Carmen betrifft, gibt es zum einen die eigenen Erfahrungen des Erzählers mit der Verführungskraft und Gefahr, die von Carmen ausgehen, und zum anderen die vermittelten des Don José, die gleichsam als Steigerung der Erfahrungen des IchErzählers erscheinen. Das Stereotyp der Anderen ermöglicht die Auslagerung des Ambivalenten aus dem eigenen Selbst, dieses zu kontrollieren und Grenzen zu ziehen. Beide – sowohl der eigentliche Erzähler als auch Don José – fühlen sich in gewissen, geheimen Punkten von Carmen angesprochen, die sie für gewöhnlich eher unterdrücken: der Erzähler in seiner Faszination für die Magie, Don José möglicherweise in seiner Leidenschaft für das Spiel. Bronfen interpretiert Carmen in diesem Sinn als einen der beharrlichsten Mythen in Reaktion auf archaische Wünsche und Ängste bezüglich der Frau, die als ‚Andere‘ bezeichnet wird, weil sie eine faszinierende Sinnlichkeit und Leidenschaft verkörpert – eine Sprengkraft für männliche Ordnung, Vernunft und Kontrolle.23

Die femme fatale Carmen wird – als Angehörige eines vermeintlich niedrigen Volkes und einer fremden Ethnie – außerhalb jeglicher Ordnungsbezüge angesiedelt. In der Carmen-Figur von Mérimée vereinen sich die in den Diskursen des 19. Jahrhunderts verbreiteten typisierten Konstruktionen der femme fatale und der exotischen Fremden, der ,Zigeuner‘, wie auch Karl Hölz diagnostiziert: Carmen bezieht ihre bedrohlichen Verführungskünste aber nicht nur aus ihrem weiblichen Reiz. Indem Mérimée das Geschehen an den fernen Ort Südspaniens verlagert und darüber hinaus den Leser auch zugleich mit der Heldin in die fremde Kulturwelt der Zigeuner[…] einführt, überlagert sich das Liebesmotiv mit exotischen Vorstellungen der Fremdheit. Mehr noch wird sichtbar, daß die vom weiblichen Subjekt ausgehende Gefahr in Wirklichkeit die kulturelle Selbstgewißheit des männlichen Subjekts aufs Spiel setzt. Das Faszinosum des weiblich erfahrenen exotischen Reizes schlägt in eine beruhigende kulturelle Differenzerfahrung um und ruft kolonisierende Abwehrstrategien auf den Plan.24

Spanien gehörte im 19. Jahrhundert zum Territorium der OrientMode – ein Phänomen, das Edward Said mit seinem durchaus umstrittenen Werk Orientalism (1978) ins Bewusstsein gerückt hat. Hölz begründet die Identifikation Spaniens mit dem Orient wie folgt: Die geographische und geologische Besonderheit – die Isolation durch die Pyrenäen sowie die Trockenheit und Hitze – aber vor allem auch der maurische Einfluss legten es nahe, in Spanien das Unangepaßte, Außergewöhnliche und Zivilisationsferne anzusiedeln.25

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Hierauf verweist auch schon der Vergleich, den der Erzähler gleich im ersten Teil der Novelle zwischen Spanien und dem Orient herstellt: „In Spanien stiftet das Geben und Nehmen einer Zigarre gastfreundliche Beziehungen wie im Orient das Teilen von Brot und Salz“ (7). Spanien wird als fremdes Sehnsuchtsland imaginiert, das nicht nur die französischen Romantiker in seinen Bann zog, wie José Colmeiro konstatiert: The romantic construction of Spain embodied the qualities that writers such as Borrow, Chateaubriand, Hugo, Byron, Irving, Mérimée, and many others were looking for: a rich cultural past, a preservation from modernity, a certain quaintness, and a heroic history (from the Medieval hero El Cid to the guerilla resistance in the War of Independence against Napoleon).26

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominierte Frankreich über Spanien: Auf die Besetzung durch Napoléon folgten der sechsjährige Unabhängigkeitskrieg und die französische Militärintervention gegen die Spanische Revolution von 1822 bis 1823. Der französische Imperialismus brachte die Entdeckung der spanischen Kunst mit sich. Spain, like the Gypsies themselves, is constituted in romantic literature as an internal other to European modern identity, the same position of internal alterity that, ironically, the Gypsy has come to hold within modern Spanish culture27

– so beschreibt Colmeiro die Fremdheit zweiter Ordnung, die ich für die Carmen-Figur in der Novelle diagnostiziert habe. Indem Mérimée seinen Erzähler die fremde Kultur Spaniens entdecken lässt, der dabei auf die dieser Kultur wieder fremde Figur der ‚Zigeunerin‘ stößt, die gleichwohl in ihrer Rolle als ‚Zigeunerin‘ nicht restlos aufzugehen scheint, eröffnet er ein Wechselspiel der Alteritäten, das festgefügte Identitäten infrage stellt.28 Diese Verunsicherung von Rollenbildern und die Ambiguität der Deutungsmöglichkeiten eröffnen bis heute vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten. Die zwiespältige Faszination des Fremden und der fremden Lebensweise, die sich in der CarmenNovelle spiegelt, ist die Folie, vor deren Hintergrund der CarmenMythos bis heute nicht an Aktualität verloren hat.

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José Colmeiro: „Exorcising Exoticism: Carmen and the Construction of Oriental Spain”. In: Comparative Literature 54 (2002), H. 2, S. 127-144, hier S. 127. Für die Definition der Carmen-Erzählung als Mythos vergleiche die Einleitung zu diesem Band. Colmeiro (wie Anm. 1), S. 128. In meinem Beitrag setze ich den Ausdruck ‚Zigeuner‘ in einfache Anführung, um auf die Problematik dieser Fremdbezeichnung hinzuweisen, die in der Übersetzung der Novelle von Mérimée genutzt wird. So fand sich Bizets Carmen in der Spielzeit 2007/2008 auf Platz 7 der Opern mit den meisten Aufführungen in Deutschland laut einer Statistik des Deutschen Musikinformationszentrums: http://www.miz.org/statistiken. html, 29.10.2009. Das deutsche Theaterverzeichnis sieht Carmen sogar auf Platz zwei der meistgespielten Opern für diesen Zeitraum: http://www. theaterverzeichnis.de/rueckblick.php, 29.10.2009. Der Kommentar dieser Ausgabe verfolgt dies detailliert nach. Vgl. Prosper Mérimée: Romans et Nouvelles. Hrsg. v. Henri Martineau, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1951, S. 819-825. Ich bezeichne diese Erzählebene als die ‚eigentliche‘ Carmen-Geschichte, da hier die Ereignisse verhandelt werden, die später in der Rezeption, beispielsweise in der Bizet’schen Oper, weiter ‚verarbeitet‘ werden. Alexandra Tacke widmet sich mit ihrem Beitrag in diesem Band explizit der Rahmenhandlung. „Voyager pour le plaisir de voyage est un goût récent qui naît avec le romantisme. L’individu assez fortune pour se rendre ailleurs afin de se dépayser en recherchant des sensations fortes est un prototype anglais.“ Gérard Challiand: „Présentation“. In: Prosper Mérimée: Lettres d’Espagne. Paris 1989, S. 9-27, hier S. 9. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff vgl. Claudia Breger: „Identität“. In: Christina von Braun, Inge Stephan (Hrsg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 47-65. Claudia Bork: Femme Fatale und Don Juan. Ein Beitrag zur Motivgeschichte der literarischen Verführungsgestalt, Hamburg 1992, S. 67. Mary B. Collier: La Carmen essentielle et sa réalisation au spectacle. New York 1994, S. 14. Sabine Haupt: „Die Femme fatale“. In: Betsy van Schlun, Michael Neumann (Hrsg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Das 19. Jahrhundert, Regensburg 2008, S. 140-161, hier S. 144. In ihrem Aufsatz spielt Carmen allerdings keine Rolle. Ebd., S. 145. Vgl. auch Jürgen Blänsdorf: „Begriff und Umfang des Themas femme fatale“. In: ders. (Hrsg.): Die femme fatale im Drama. Heroinen – Verführerinnen – Todesengel, Tübingen/Basel 1999, S. 7-18. Haupt (wie Anm. 13), S. 154.

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Kirsten Möller Bork (wie Anm. 11), S. 85. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Deutsch von Thomas Lindquist, München 1994, S. 268. Larry Duffy: „Perdue en traduction: Translation, Betrayal and Death in Mérimée's Carmen”. In: Nigel Harkness et al. (Hrsg.): Birth and Death in Nineteenth-Century French Culture. Amsterdam/New York 2007, S. 49–61, hier S. 53. Ebd., S. 56. Bronfen (wie Anm. 18), S. 263. Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 115. Brofen (wie Anm. 18), S. 266. Hölz (wie Anm. 22), S. 104. Ebd., S. 105. Colmeiro (wie Anm. 1), S. 130. Ebd., S. 129-130. Colmeiro schreibt in diesem Sinne: „Two parallel trends intimately related to the orientalist outlook in search of exotic others took place at this time: the vogue of traveling to Spain to follow the oriental trail, and the transformation of Gypsies into bohemians”. Ebd., S. 132.

Carmen im Blick Die Funktion der Rahmungen in Prosper Mérimées Novelle & Georges Pichards Comic von Alexandra Tacke Als Figur ist Carmen schwer zu fassen. Sie gleicht einem Chamäleon, das sein äußeres Erscheinungsbild problemlos verändern und sich der jeweiligen Umgebung anpassen kann. „Carmen ist eine Naturgewalt, lachend, dämonisch, zerstörend und spielerisch.“1 Sie ist betörend schön und raubt den Männern die Sinne, wenngleich sie sich nicht mit den üblichen Schönheitszuschreibungen beschreiben lässt: „Es war eine seltsame und wilde Schönheit, ein Gesicht, das anfangs erstaunte, das man aber nicht vergessen konnte.“2 Carmen versteht es, sich richtig in Szene zu setzen und die Blicke auf sich zu ziehen. Als ‚Zigeunerin‘ ist und bleibt sie die ‚exotische Fremde‘, die als Projektionsfläche für Wünsche, Sehnsüchte und Ängste fungiert. Sie zieht an und stößt ab. „Sie ist schillernd: treu und untreu“3, da und fort; sie liebt und liebt nicht. „Mit der Gefahr spielen, die Gesellschaft provozieren, […] ist ihr Bedürfnis.“4 Ihre ungezügelte Wildheit und ungebändigte Erotik lässt sie aus dem Rahmen fallen. Mit ihren Maskeraden und Rollenwechseln sprengt sie sowohl nationale als auch gesellschaftliche Grenzen. Sie „ist ein asoziales Wildwesen mit anarchischem Freiheitsdrang, das vom inneren Daimon gegen die Gesellschaft und ihre Zwänge gestellt wird.“5 Schwer fassbar bleibt Carmen jedoch vor allem deshalb, weil sie selbst in der nach ihr benannten Novelle von Prosper Mérimée nicht zu Wort kommt. Während sie stumm bleibt, sind es vielmehr die Männer (der Ich-Erzähler, Don José)6, die Carmen in den Blick nehmen. Von ihr erzählend und sich an sie erinnernd versuchen sie, Carmen in unterschiedliche (Deutungs-)Rahmen einzupassen. Letztendlich stellen sie Carmen dadurch allerdings nur still – töten sie, machen sie zu einer starren Leiche, die ins versteinerte Reich der Ewigkeit (d. h. in das der Narration) überführt wird. In ihrer Studie Nur über ihre Leiche vermutet Elisabeth Bronfen, dass Carmen vor allem deshalb ermordet werden muss, weil „ihr Begehren niemals an einen Mann fixiert ist, sondern von einem männlichen Körper zum nächsten gleitet und möglicherweise gänzlich über

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Abb. 1: Olympe Aguado: Bewunderung/Admiration (um 1860)

die männliche Referenz hinaus.“7 Carmens permanente Verwandlungen und ihr anhaltender Freiheitsdrang stellen eine ‚kastrierende‘ Verwundung für den männlichen Narziß(mus) dar, sie bedrohen den Mann in seiner Selbstidentität. Dem Diskontinuierlichen, Flatterhaften und Mobilen, das Carmen als ‚nomadische Zigeunerin‘ repräsentiert, muss Einhalt geboten werden. Am Ende erkennt Don José, nur der Tod Carmens produziert etwas, das Dauer hat. Als Leiche wird sie zu einem Bild der Erinnerung: Während Erotik den Tod als Auflösung der Selbstgrenzen manifestiert, produziert der Tod der Erotik (versinnbildlicht an der Leiche der Frau, die sonst immer wieder diese Erfahrung von Kontinuität als ‚Tod‘ des Individuums auslösen würde, nur um sie wieder zu enttäuschen) eine Rückkehr zur Dauer in Form des Gesetzes und zur Kontinuität in Form von Narrationen. Während Erotik eine Erfahrung der Enteignung war (ein Verlust an Macht über sich selbst und über die Geliebte), ermöglicht der Mord José die Erfahrung, Carmen wieder zu besitzen, da er, indem er sie überlebt, Macht über sie gewinnt.8

Geht es auf der Ebene der Erzählung von Don José in der Tat darum, wie Elisabeth Bronfen richtig dargelegt hat, den Verlust an Macht über sich selbst und über die Geliebte aufzuheben und die Kastrationsdrohung abzuwenden, bleibt der Leser bis zum Schluss der Novelle mit einem schmerzlichen Mangel/Verlust konfrontiert. Indiz dafür ist zum einen die Tatsache, dass das Objekt des Begehrens (Carmen = objet a) schon von Beginn an für immer verloren ist.

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Bezeichnend ist zum anderen auch, dass der Ort, an dem Carmens Leichnam beerdigt ist, dem Leser ebenso unbekannt bleibt wie ihre Abstammungs- und Familiengeschichte. Sie ist und bleibt anwesendabwesend. Abgesehen davon, ist es die komplexe Rahmenstruktur des Textes, die wesentlich dazu beiträgt, dass die Mérimée’sche Novelle um ein leeres Zentrum kreist. Die Rahmungen des Textes sind dabei nicht nur wichtig für das Verständnis der Carmenfigur, sondern auch für diverse Techniken der Distanzierung, Konstruktion und De-Konstruktion. Insbesondere in den Bearbeitungen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird dieser Aspekt der Novelle wieder relevant werden. Noch vor Jean-Luc Godard und Carlos Saura, die selbstreflexive Filme produziert haben, in denen es in erster Linie um die Dekonstruktion des Carmen-Mythos geht, adaptierte der erotische Comiczeichner Georges Pichard 1981 die Carmen-Novelle. Ähnlich wie Godard und Saura interessiert Pichard die Rahmenstruktur des Textes, die im Libretto weggelassen worden ist. Indem Pichard die Rahmenstruktur in ein neues Medium, den Comic, überträgt, legt er den Fokus auf die Konstruiertheit der Carmen-Figur sowie den Zusammenhang von Blick und Begehren. Geschickt knüpft er damit an die eigentliche Sprengkraft der Mérimée’schen Novelle an.

Prosper Mérimée: Carmen. Novelle (1845) Die Entstehungsgeschichte von Carmen deutet daraufhin, wie überlegt Prosper Mérimée beim Schreiben seiner Novelle vorgegangen sein muss. Die Eindrücke seiner Spanienreisen fanden zunächst in den Lettres d’Espagne Eingang. Stierkämpfe, Straßenräuber und die Zigeuner Andalusiens – Themen, die später in der Carmen-Novelle als Hintergrund fungieren – finden hier bereits Erwähnung. Obwohl die Gräfin von Montijo Mérimée während seiner ersten Spanienreise 1830 die Carmen-Geschichte erzählt haben muss, verarbeitet dieser den Stoff erst 15 Jahre danach. Nach „Studien über römische Städte in Andalusien und einer gründlichen Beschäftigung mit den Zigeunern“9 erscheint die Erzählung 1845 in der Revue des Deux Mondes. Das Integrieren eines (pseudo-)wissenschaftlichen Diskurses sowie die Installierung einer (gleich doppelten) männlichen Erzählinstanz sind zentral für die Deutung des Textes. Insbesondere die komplexe Rahmenstruktur der Novelle zeugt von dem starken Konstruktionswillen Mérimées. Der Rahmenerzähler ist als Ethnologe ein

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Sammler von Narrationen – archäologische, ethnologische und geschichtliche Studien interessieren ihn gleichermaßen, ebenso wie die Erzählungen von fremden Personen, denen er auf seiner Reise durch Spanien begegnet. Im Gefängnis vertraut Don José dem Ich-Erzähler seine Erlebnisse mit Carmen an, die dieser den Lesern in Form der Novelle überliefert. Da der Rahmenerzähler Carmen einige Zeit zuvor persönlich erleben konnte, kommt es zu interessanten Spiegelungen zwischen den zwei Erzählebenen. Beide Erzähler teilen die Faszination für Carmen, begehren sie: Ihr betörender Duft und ihr intensiver Blick werden beispielsweise von beiden bemerkt und ähnlich kommentiert. Mérimée stattet seine Novelle zudem noch mit weiteren Rahmen aus. Dem Text vorangestellt ist ein griechisches Zitat von Palladas, das als Lesanleitung gelesen werden kann, da es bereits das Hauptthema der Novelle, nämlich Erotik und Tod anreißt: „Das Weib ist bitter wie Galle; doch sind zwei Gelegenheiten, wo es angenehm ist: im Bett und auf der Bahre“ (S. 3). Auf das Zitat folgt die Rahmenerzählung des französischen Archäologen, der die Geschichte von Don José wiedergibt. Als vierter Rahmen fungiert eine eigenwillige Abhandlung über die Geschichte und Sprache der ‚Zigeuner, Gitanos, Gypsies‘, die Mérimée erst 1847 seiner Novelle hinzugefügt hat. Nicht zuletzt die Konstruktion des Rahmens im Rahmen bzw. der Erzählung in der Erzählung hat zu einer Vielzahl von Interpretationen geführt. Besonders überzeugend ist der Interpretationsansatz von Kirsten von Hagen. In ihrer Studie Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film widmet sie dem Carmen-Mythos und den MythenBricolagen, die dieser bis heute hervorgerufen hat, das 5. Kapitel.10 In ihrer Interpretation der Novelle liegt der Hauptschwerpunkt auf den unterschiedlichen Rahmungen. Durch diese gelingt es zum einen, die Identität Carmens eindeutigen Zuordnungen zu entziehen, zum andern geraten die Blickperspektiven auf Carmen als solche in den Fokus und können kritisch hinterfragt werden. Inszenierungsräume (die die Blicke auf Carmen lenken und als Schauräume des Begehrens fungieren) werden ebenso als solche im Text kenntlich gemacht und ausgestellt wie die Inszenierungstechniken des Textes selbst. Durch Brüche dieser Art etabliert Mérimée „ein Spiel der Rahmungen, indem er in einem permanenten Prozess der Neu- und Umrahmung immer neue Rahmen aufbaut, die sich gegenseitig ergänzen, verstärken und zum Verschwinden bringen.“11 Deutlich wird dadurch, dass Carmen „das Ergebnis mehrfacher Vermittlungsprozesse und inszenierter Blicke“12 ist. Als ortlose, vagabundierende Figur zirkuliert sie

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zwischen den einzelnen Bereichen. Sie selbst ist und bleibt eine Leerstelle, der blinde Fleck in den unterschiedlichen Rahmungen. Die Funktion eines Rahmens ist normalerweise einzufassen, stillzustellen und eine klare Trennung zwischen Innen und Außen zu ermöglichen. Dies gelingt allerdings nicht immer. Jacques Derrida hat in seiner Abhandlung über das Parergon (= Beiwerk) die Problematik des Rahmens zum Thema gemacht: „Nun ist der Rahmen problematisch. Ich weiß nicht, was an einem Werk wesentlich und was nebensächlich ist. […] Wo hat der Rahmen seinen Ort. Hat er einen Ort. Wo beginnt er. Wo endet er. Was ist seine innere Grenze? Seine äußere Grenze?“13 Diese Ambivalenz des Rahmens wird häufig missachtet, ebenso wie seine Konstruiertheit vergessen wird. Vielmehr geht es darum, die „Rahmenwirkung zum Verschwinden zu bringen“14. Die Derrida’sche Methode der Dekonstruktion wirkt dem entgegen, indem sie weder den Rahmen komplett neu absteckt „noch von der reinen einfachen Abwesenheit des Rahmens“15 träumt, sondern den Rahmen als solchen in den Blick nimmt und zum Thema macht. Insbesondere raffinierte Rahmen-im-Rahmen-Konstruktionen – wofür die Novelle von Mérimée ein gutes Beispiel abgibt – ermöglichen es, dass der Rahmungsprozess selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Es verwundert insofern nicht, dass Anfang der achtziger Jahre, im Zuge der aufkommenden Postmoderne, der Mérimée’sche Text wiederentdeckt wird, während die Opernfassung, die auf Ent-Distanzierung und Ent-Rahmung setzt, eher in den Hintergrund tritt. Es ist die komplexe Rahmenstruktur der Novelle, die Filmemacher wie JeanLuc Godard und Carlos Saura ebenso wie den Comiczeichner Georges Pichard faszinieren.

Georges Pichard: Carmen. Comic (1981) Der französische Comiczeichner Georges Pichard (1920-2003) ist bekannt für seine erotischen Comics. Zusammen mit Jacques Lob veröffentlichte er Comics wie Blanche Épiphanie (1967) und Ulysses (1968) und begründete damit seinen Ruhm. Mit George Wolinski entwarf er seinen bekanntesten Charakter Paulette. Es folgten weitere gut gebaute, großbusige Protagonistinnen wie Caroline Choléra (1976) und Marie-Gabrielle (1981). Auch Carmen faszinierte ihn. 1981 adaptierte er die Mérimée’sche Novelle für einen Comic, der die Erotik und Exotik von Carmen in den Vordergrund stellt.

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Abb. 2: Georges Pichard: Carmen. Comic (1981) (Ausschnitt, S. 24)

Auch wenn Pichard die komplexe Rahmenstruktur der Mérimée’schen Novelle vereinfacht, nimmt er sie geschickt in seiner Panelgestaltung auf. So werden bei ihm einzelne Panels zu kleinen Gucklöchern, prachtvollen Theaterbühnen, gerahmten Gemälden oder kostbaren Foto-Votiven. Einige Panels sind aufwendig verziert und erinnern an verschnörkelte Jugendstilrahmen (Abb. 2). Während manche Panels deutlich gerahmt und begrenzt sind, gibt es auch solche, die keine oder nur verschwommene Konturen aufweisen. Meistens sind es die Vorstellungsbilder von Don José, die vage bleiben und noch keine festen Konturen angenommen haben. Auffällig ist, dass nur Carmen aus dem Rahmen fällt, indem sie entweder ihren Fuß verführerisch in das nächste Panel hineinhält (Abb. 3) oder ihr Fleisch derart üppig ist, dass es in den nächsten Rahmen hineinragt. Immer wieder verdeutlicht der Comic, dass Carmen in keinen Rahmen passt und alle Vorstellungsbilder sprengt. Der Zwiespalt Don Josés Carmen einerseits für ihre Wildheit und rahmensprengende Art zu begehren (Abb. 3, oben), sie sich andererseits als Heilige zu wünschen (Abb. 3, unten), wird besonders anschaulich auf einer Seite, in der Pichard gegensätzliche Weiblichkeitsbilder, wie das von der Hure sowie das von der Heiligen, witzig-ironisch aufruft und miteinander kontrastiert. Bereits die erste Seite des Carmen-Comics (Abb. 4), eine Art zweites Cover, rückt die Thematik des Erblickt- und Gerahmt-Werdens ins Zentrum und lässt eine ähnlich komplexe Rahmenstruktur erkennen, wie sie bereits in der Novelle von Mérimée angelegt ist. In der oberen Hälfte der Seite dominiert Don José das Panel. Er trägt eine Uniform und einen langen (phallischen) Stab in seiner übergroßen Hand. Sein Kopf ist leicht zur Seite gewendet. Sehnsuchtvoll blickt er Carmen nach, die verführerisch eine Treppe hochgeht. Eine Art Spotlight, das bezeichnenderweise von den zwei oben am Rand erwähnten Autorennamen Mérimée und G. Pichard ausgeht, setzt sie in ein vorteilhaftes Licht. Gleichzeitig markiert das Spotlight, dass der

Carmen im Blick

Abb. 3: Georges Pichard Carmen. Comic (1981) (Ausschnitt, S. 36)

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Abb. 4: Georges Pichard: Carmen. Comic (1981) (Ausschnitt, S. 3)

Blick auf Carmen ein eindeutig männlicher ist. Die Blick- und Begehrensstruktur, die schon in der Novelle von Mérimée angelegt ist und von Georges Pichard in seinem Comic bildnerisch umgesetzt wird, wird auf der ersten Seite u. a. auch durch einen perspektivischen Tiefenraum angedeutet, der sich hinter dem Torbogen eröffnet und der unmittelbar mit Carmen zusammenzuhängen scheint, da diese ebenfalls kurz davor ist, eine Tür zu öffnen und damit den Blick auf einen Innenraum freizugeben. Den Zusammenhang von Tiefenraum und Geschlecht hat Linda Hentschel eingehend in ihrer Studie Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne analysiert. Interessant an Hentschels Studie ist, dass sie danach fragt, inwiefern die Überblendung von Weiblichkeit und Tiefraum mit den neuen Sehapparaten der Moderne zusammenhängt. Insbesondere die zentralperspektivische Ästhetik liest sie „als eine visuelle Raumpenetrationsmaschinerie.“16 Um ihre These zu untermauern, bezieht sie sich u. a. auf Albrecht Dürers berühmten Stich Der Zeichner des liegenden Weibes (1538) (Abb. 5), in dem es darum geht, das überbordende und üppige Fleisch einer liegenden Frau zu rahmen und in ein Bild zu überführen. Anhand des zentralperspektivischen

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Abb. 5: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes (1538)

Rasterungsverfahrens in Dürers Stich zeigt Hentschel, was die illusionistische Herstellung der Zentralperspektive für die Geschlechterordnung bedeutet. Ihre These ist, dass „die zentralperspektivische Apparatur unbedingt im Zusammenhang mit der Genese eines voyeuristischen Blicks gesehen werden sollte.“17 In der Folgezeit verschwand der voyeuristische Betrachter, der bei Dürer noch ins Bild gesetzt worden ist, dann immer mehr aus dem Bildfeld, um als unsichtbarer Betrachter vor dem Bildfeld seiner voyeuristischen Lust ungestört frönen zu können.18 Hentschel weist darauf hin, dass sich die voyeuristische Lust allerdings nicht nur auf den weiblichen Akt beschränkt, sondern auf den medialen Tiefenraum ausweitet, der seit der Renaissance zu dem Objekt des Begehrens schlechthin avanciert ist. Bereits im Stich von Dürer ist ihrer Meinung nach angelegt, was in späteren Aktdarstellungen – nicht zuletzt in dem Skandalbild L’origine du monde (1866) von Gustav Courbet oder frühen pornografischen Fotografien, die das weibliche Geschlecht zeigen – offengelegt wird: der Zusammenhang von zentralperspektivischer Suggestion räumlicher Tiefe und der „Lust am visuellen Eindringen in weibliche Körpertiefen.“19 Hentschel zeigt weiter, „dass mit der Feminisierung des visuellen Raumes […] das Sehen selbst sexualisiert wird.“20 Die Sexualisierung des Sehens wird in dem Comic von Georges Pichard mehrfach zum Thema gemacht. Durch auffällige Rahmungen, Gucklöcher etc. (die nicht selten den Blick in einen perspektivischen Tiefenraum freigeben) wird der Voyeurismus des Lesers, den der erotische Comic eigentlich bedienen soll, als solcher in den Vordergrund gerückt und ausgestellt. Durch Brüche wie diese wird der Leser sich seiner Position als Blickender bewusst. Kurzzeitig wird seine voyeuristische Lust gestört, indem das Blickdispositiv selbst in den Blick rückt.

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Carmen im Blick

Ähnlich lässt sich auch der herausfordernde Blick von Carmen am unteren Rand der ersten Seite interpretieren (Abb. 4, unten). Lasziv, eine Zigarre rauchend blickt sie den Leser direkt an, wirft ihn auf sich selbst zurück. Carmen wird als Projektionsfläche ausgestellt, die in keine Rahmenstruktur passt. Auffällig ist der Hintergrund, vor der sie gezeigt wird und die an die Rasterungsstrukturen von Dürrer erinnern. (Vgl. Abb. 4, unten). Schon in der Novelle von Mérimée ist es der Blick Carmens, der die Männer irritiert und in ihren Bann zieht. Selbst als Carmen von Don José erstochen wird, sind es „ihre großen, schwarzen Augen“ (S. 69), die starr auf ihn geheftet sind und ihm fortan in Erinnerung bleiben werden. Mit diesen ‚großen, schwarzen Augen‘ endet auch der Comic (Abb. 6). Nachdem Don José Carmen ermordet hat, scheint Carmens Leiche endlich in einen Rahmen zu passen. Hingegossen wie sie von Pichard gezeichnet wird, gleicht sie einer ‚schönen Leiche‘, die allerdings mit ihrem direkten (wenngleich auch toten) Blick, den Rahmen durchbricht und den Leser schmerzlich trifft.

Abb. 6: Georges Pichard: Carmen. Comic (1981) (Ausschnitt, S. 63)

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Günter Metken: „Nachwort“. In: Prosper Mérimée: Carmen. Novelle. Übersetzung von Wilhelm Geist, revidiert und mit einem Nachwort von Günter Metken, Stuttgart 2005, S. 79-86, hier S. 83. Prosper Mérimée: Carmen. Novelle. Übersetzung von Wilhelm Geist, revidiert und mit einem Nachwort von Günter Metken, Stuttgart 2005, S. 21. Im Folgenden werden Zitate unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Metken (wie Anm. 1), S. 83. Ebd. Ebd. Es ist auffällig, dass der Mythos Carmen vor allem immer wieder von Männern in den Blick genommen, d. h. rezipiert und adaptiert worden ist. Lotte Reiniger, Alice Guy und Judith Kuckart bilden dabei die Ausnahme. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1996, S. 270. Ebd., S. 272. Metken (wie Anm. 1), S. 81. Vgl. Kirsten von Hagen: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009. Ebd., S. 123. Ebd. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Wien 1992, S. 84. Ebd. Ebd. Linda Hentschel: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001, S. 13. Linda Hentschel geht hier auf Thesen von Sigrid Schade ein: Vgl. Sigrid Schade: „Zur Genese des voyeuristischen Blicks. Das Erotische in den Hexenbildern Hans Baldung Griens“. In: Cordula Bischoff et al. (Hrsg.): FrauenKunstGeschichte. Zur Korrektur des herrschenden Blicks, Gießen 1984, S. 98-110. Vgl. Daniela Hammer-Tugendhat: Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei Tizians. In: Daniela Erlach et al. (Hrsg.): Privatisierung der Triebe. Sexualität der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 367-445; Regine Prange: „Das Interieur als ‚Frauenzimmer‘. Zur modernen Bildgeschichte des weiblichen Aktes im Innenraum“. In: kritische berichte, Nr. 3 (1995), S. 43-73. Hentschel (wie Anm. 16), S. 29. Ebd., S. 30.

Carmen in carmine1 Carmen als musikalisches Phänomen von Patricia Fiebrich „Und wie herrlich ist dieser Opernstoff! Ich bin überzeugt, daß ‚Carmen‘ in zehn Jahren die populärste Oper der ganzen Welt sein wird.“2 Diese optimistische Überzeugung Pjotr Tschaikowskis teilten die wenigsten Zuschauenden, als sie 1875 in Paris die ersten Aufführungen von Georges Bizets letzter Oper Carmen sahen. Allein das Milieu, in dem die Handlung stattfindet, erregte die Gemüter. Vorbild war die gleichnamige Novelle von Prosper Mérimée. Mit einer ‚Zigeunerin‘3 und einem baskischen Schurken im Mittelpunkt wendet sich die Oper den Rändern der Gesellschaft zu. Welche Realistik, aber was für ein Skandal! […] Aus der niedersten Klasse nehmen neuerdings unsere Autoren die Hauptgestalten unserer Dramen, Komödien und jetzt sogar unserer operas comiques. […] Carmen ist und bleibt ein schamloses Weib, eine liederliche Zigeunerin.4

Nachdem die Rolle der Carmen von Bizets erster Wunschkandidatin Marie Roze abgelehnt wurde, weil sich die Heldin ihrer Meinung nach zu nah an der „geschmacklosen“ Hauptfigur aus der Novelle von Mérimée befand, gab es heftige Kritik an der Carmen-Darstellerin Célestine-Laurence Galli-Marié. Sie hatte die Rolle laut den Kritikern auf der Bühne zu realistisch verkörpert.5 Gerade dies jedoch sah Bizet als sein Ziel: Er forderte von seinen Darstellern „mehr Realismus, zu einem Mittelweg kann ich mich nicht verstehen“6. Er war demnach nicht gewillt, Details an seiner Oper oder der Inszenierung zu ändern, um dem Publikum zu gefallen. Schon vor der Uraufführung waren die Kritiker besorgt, da Carmen „bedenkliche Charaktere und schlüpfrige Situationen“7 zeige. Das mit Charles Gounod, Jacques Offenbach, Jules Massenet und anderen Künstlern prominent besetzte Publikum bei der Premiere nahm das Werk nicht sehr wohlwollend auf. Der Librettist Ludovic Halévy schreibt am folgenden Tag in einem Brief: Gute Wirkung des ersten Aktes. Das Auftrittslied der Galli-Marié wird beklatscht […] ebenso das Duett zwischen Micaela und José. Der Akt endet gut, mit Beifall und Hervorrufen […] viele Leute strömen auf die Bühne, Bizet wird umringt und herzlich beglückwünscht. Der zweite Akt verläuft weniger glücklich. Der Anfang wirkt glänzend, das Auftrittslied des Torreros

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Patricia Fiebrich macht starken Eindruck. Dann aber tritt zunehmende Kühle ein. Hier entfernt sich Bizet immer weiter von der herkömmlichen Form der opéra comique. Das Publikum scheint verwundert, weiß sich nicht zurecht zu finden. […] In der Pause stellen sich schon weniger Leute bei Bizet ein […] Während des dritten Aktes nimmt die Kälte zu […] Beifall erntet nur die Arie der Micaela, die noch recht nach altem Brauch ist […] Und nach dem vierten Akt, der von Anfang bis Schluss mit eisiger Stimmung aufgenommen wird, bleibt die Bühne leer, nur drei oder vier wahre Freunde stellen sich bei Bizet ein. Sie versuchen ihn zu beruhigen, zu trösten, aber aus ihren Blicken spricht deutliche Niedergeschlagenheit: ‚Carmen‘ ist durchgefallen8.

Berühmt und beliebt wurde die Oper erst nach Bizets Tod, durch einige einschneidende Veränderungen: Die Sprechteile wurden durch neu komponierte Rezitative ersetzt, einige Teile gekürzt und zwei Figuren gestrichen. Dadurch wurde die Oper insgesamt kürzer, die Handlung leichter verständlich und so gegen Bizets Wunsch den Erwartungen des Opernpublikums angepasst. Die zumeist romantisierende Interpretation der Musik führte laut Walter Felsenstein ebenfalls zu einer „bequemer zu genießende[n] Schönheit“9. Eine der wenigen positiven Reaktionen, die sich auch mit den in Carmen dargestellten Geschlechterrollen befasst, stammt von dem französischen Schriftsteller Théodore de Banville: Bizet ist einer von jenen ambitionierten Männern, für die Musik, vor allem im Theater, nicht eine Unterhaltung, ein Abendgenuß ist, sondern eine herrliche Sprache, um den Schmerz, die Narrheit, den göttlichen Hauch des Menschseins auszudrücken. Statt der himmelblauen und rosa Puppen, die die Freude unserer Väter waren, hat er versucht, wirkliche Männer und Frauen, verblendet und gequält von Leidenschaft, zu zeigen.10

De Banville meint hier den Reichtum an Facetten bei Bizets Hauptfiguren. Die „wirklichen Frauen und Männer“ sind Carmen und Don José, die viel mehr Ambivalenzen aufweisen, als die bis dato meist eindimensional vertonten Opernfiguren. Carmens Weiblichkeit wird um die Facette ihrer tiefen Stimme erweitert, sie bewegt sich durch alle Bereiche des emotionalen Lebens, und dies wird besonders im Kontrast mit ihrer Gegenfigur Micaela deutlich. Wenige Monate nach der Uraufführung und einige Wochen nach Bizets Tod wurde die Oper in Wien mit großer Begeisterung aufgenommen und begann von hier aus ihren erfolgreichen Weg in die europäischen Opernhäuser. Dieser Erfolg ist zum Teil aber den geänderten Passagen zu verdanken, die Bizets Freund und Kollege Ernest Guiraud kurz nach dem Tod des Komponisten vornahm. Die Änderungen hatte Bizet vorher vertraglich der Wiener Oper zugesagt,

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konnte sie jedoch nicht mehr selbst vornehmen. Tschaikowski sollte schließlich recht behalten. Carmen als eine der meistgespielten Opern in Europa erfreut sich nach wie vor ungebrochener Beliebtheit. Die Titelheldin Carmen ist zu einem Symbol für leidenschaftliche Frauenfiguren und verzweifelte Liebe geworden. Es existieren zahlreiche Verfilmungen ihrer Geschichte, und auch für die aktuelle Popmusik fungiert Carmen als Inspirationsquelle. Der deutsche Rapper Sido veröffentlichte 2008 einen Song namens „Carmen“. Im dazugehörigen Musikvideo werden die bekannten Carmen-Symbole aus der Oper verwendet, so zum Beispiel die rote Blume im schwarzen Haar einer Frau. Auch die R’n’B-Sängerin Beyoncé Knowles spielte 2001 die Rolle der Carmen in einer sogenannten ‚hip hopera‘, einer Verschmelzung der Genres Hip-Hop und Oper.

Neuerungen auf der Opernbühne Carmen unterscheidet sich deutlich von anderen weiblichen Opernfiguren ihrer Zeit. Sie liebt die Freiheit mehr als irgendeinen Mann, und kein Mann kann sie dauerhaft an sich binden. „Carmen wird immer frei sein, im Leben wie im Tode“ äußert sich Carmen in der Novelle von Prosper Mérimée, welche als Textgrundlage für die Oper diente.11 Daneben zeichnen sie Entschlossenheit und Stärke aus sowie der Unwille, traditionelle Rollen zu erfüllen. Vor allem aber besitzt sie Macht über Männer. Genau diese Macht ist es jedoch, die ihr Leben bestimmt und schließlich ihr frühes Ende herbeiführt. Der Tod der beliebten Titelheldin am Ende einer Oper war eine Provokation und für den Operndirektor Adolphe de Leuven untragbar; er bestand auf einer Abänderung der Schlussszene. Bizet verweigerte diesen Wunsch, woraufhin de Leuven 1874 entsetzt die Institution verließ.12

Die musikalische Verarbeitung der Charaktere Die Besonderheit der Figuren spiegelt sich auch in der musikalischen Konzeption wider. Bizet hat eine außergewöhnliche Musik komponiert, die Carmens Charakter durch die Wahl der Stimmlage, Melodieführung, Harmonik und der musikalischen Form reflektiert. Die weibliche Hauptrolle singt nicht in der ‚höchsten Klasse‘ des Gesangs, dem Sopran, sondern im Mezzosopran. Bizet komponiert eine

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Musik, die schon selbst die Besonderheit und in gewissem Maße Männlichkeit seiner Hauptfigur ausdrückt. In der Stimmlage Mezzosopran hat Carmen eine tiefere Stimme als die anderen Frauenfiguren dieser Oper, die allesamt Sopran-Rollen singen. Beethoven verlangte noch, dass eine Sopranistin „bis zum c³ und gelegentlich Töne zwischen e³ und a³ singen“13 können muss. Die Überschreitung der natürlichen Grenzen der menschlichen Stimme war im 18. Jahrhundert noch das Ziel der Gesangsausbildung. Eine möglichst hohe Stimme war eines der wichtigsten Merkmale einer Operndiva. Je höher und klarer sie klang, desto deutlicher verkörperte sie die weibliche Unschuld und den guten Charakter der Figur. Traditionell wurden ‚schlechte‘ oder unheilvolle Charaktere wie Dalila bei Camille Saint-Saёns oder Azucena in Verdis Der Troubadour, von tiefen Frauenstimmen gesungen. Carmen nimmt in dieser Hinsicht eine ambivalente Rolle ein, da sie sich in der Oper nicht wirklich etwas zuschulden kommen lässt, um als ‚böser‘ Charakter identifiziert werden zu können, aber doch durch ihre Unangepasstheit das tödlich endende Chaos auslöst. Allein darauf kann es Bizet jedoch nicht angekommen sein. Immerhin ist ihre Stimme nicht nur tiefer – und damit ‚männlicher‘ – sondern auch facettenreicher und zu vielfältigeren Klangunterschieden fähig. Ein Mezzosopran kann mehr Volumen erzeugen und damit mehr Leidenschaft und Macht ausdrücken als ein reiner Sopran. Diese Eigenschaften stehen traditionell für den männlichen Opernhelden, bereichern und vervollkommnen aber in diesem Falle Carmens besondere Persönlichkeit und lassen für sie keine Verkörperung einer ‚unschuldigen‛ Weiblichkeit zu. Bei Bizets Carmen wird nicht mehr nur der Tonumfang der Singstimme als Qualitätsmerkmal verstanden, sondern die Wandlungsfähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten. Bizet selbst äußerte sich zum Operngesang: „Die Schule der Gurgeleien, der Rouladen, der Lüge ist tot, ganz tot! Bestatten wir sie ohne Tränen, ohne Bedauern, ohne Bewegung, und nun – vorwärts!“14 In der opéra comique, als welche Carmen ursprünglich komponiert wurde und die sich aus dem Sprechtheater entwickelte, war zusätzlich die Natürlichkeit der Sprache wichtig. Carmens Gesang wurde daher von Bizet nicht in unnatürlich hohe Lagen verlegt, sondern er komponiert ihre Stimme im Umfang as – a². Bizet benutzt in seiner Partitur nur zweimal den für Opern typischen Begriff der Arie, häufiger schreibt er ‚Chansons‘. In dieser Gattung wird kein extrem opernhafter Gesang verlangt, sondern sie ist dem Repertoire der Volksmusik entlehnt.

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Abb.1: Beginn der Ouvertüre mit dem Thema der Quadrilla in A-Dur

Während Carmen also als Mezzosopran singt, singen alle anderen Frauenfiguren in dieser Oper, ihre Freundinnen und Micaela, als echte Soprane im Umfang c¹ – c³. Micaela, die in Mérimées Novelle nicht vorkommt und von den Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy erfunden wurde, stellt nicht nur charakterlich eine Gegenfigur zu Carmen dar, sondern wurde auch musikalisch als solche von Bizet konzipiert. Mit dieser Art der Komposition bricht Bizet bewusst die Tradition, nach der das Verhältnis zwischen zwei Frauenstimmen in einer Oper gleichzeitig Orientierungsmerkmal für das Publikum war. Charakterlich war eine Rolle, die im Alt oder Mezzosopran sang, stets der Rolle der Sopranistin untergeordnet. Umgekehrt bei Carmen: Sie ist die Hauptfigur, und Micaela ordnet sich ihr unter.

Das Carmen-Motiv Schon die Ouvertüre reflektiert Carmens gesellschaftliche Stellung. Ihr Thema erklingt außerhalb der musikalisch geschlossenen Form, ohne Einleitung, ohne klassisch auskomponierten Schluss, ohne Kommentar nach ihrem Tod. Die Ouvertüre beginnt zunächst in A-Dur mit dem Thema aus Nr. 25 „Allegro giocoso“ („schnell, scherzhaft/spielerisch“) im letzten Akt, dem Ohrwurm der Oper (vgl. Abb. 1). Es ist der festliche Aufzug der Quadrilla, der Stierkämpfer, beim Einmarsch in die Arena. Im Schlussakt wird zu dieser Musik der Text „Les voici, voici la quadrille, la quadrille des toréros! Sur les lances, le soleil brille! En l’air toques et sombreros!“ („Vivat hoch, die ganze Quadrilla, die Quadrilla der Toreros! Ihre Waffen grüßen Sevilla, Zum Gruß werft hoch empor Mützen und Sombreros!“ 15) gesungen. Es spielt das volle Orchester mit viel Schlagzeug und lauten Piccoloflöten einen durch Gegenschlagrhythmus von Bassinstrumenten und Blech ausge-

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Abb. 2: Zweites Thema der Ouvertüre, die marschartige Musik des Torero

lassenen 2/4-Takt, die Melodie wird unisono von Streichern und Bläsern in staccatoartigen Sechzehntelnoten und Trillern gespielt, allesamt im fortissimo. Man hört förmlich die Menge in der Arena, die Feierstimmung der Massen. Ein Zwischenteil ist in der Paralleltonart Fis-Moll eingefügt, dieses Thema erklingt in der Szene, in der die unbeliebten Polizisten erscheinen und die Kinder singen: „Voici, débouchant sur la place, Voici d’abord, marchant au pas, L’alguazil à vilaine face. A bas, à bas!“ („Leider sind als erste am Platze stets die Polizisten zu sehn! Zwingt sie, ihrer Wege zu gehen und pfeift auf ihre finstre Fratze: hinweg! Hinweg!“). Darauf folgt wieder das übertönende Jubelgeschrei vom Anfang. Es fügt sich ein ruhigeres Thema ein, welches aus Nr. 13 „Couplet“ („Strophenlied“) stammt (vgl. Abb. 2). Dies ist das Thema vom Torero Escamillo. Eine verhaltene und geordnete Musik, die sehr viel leiser als das erste Thema gespielt wird. Trompeten und Posaunen geben im staccato den marschartigen Rhythmus vor, der ebenfalls im 2/4-Takt erklingt. Die Melodie erscheint hier in längeren legato-Bögen, die von den Streichern gespielt werden und so einen auffälligen Kontrast zu den Blechbläsern ergeben. Das stolze Torero-Thema, zunächst getragen, würdevoll und elegant, wird geradezu triumphal, wenn es im vollen Orchester noch einmal eine Oktave höher und im forte erklingt. Auch hier erscheint dem Publikum die Arena vor Augen, der Jubel über den Sieg und die Überlegenheit des Siegers. Dazu wird in Nr. 13 der Text „Toréador, en garde!“ („Toreador, sei auf der Hut!“) von den Besuchern der Taverne gesungen. Bizet komponiert anschließend noch einmal eine verkürzte Version des Quadrilla-Themas mit großer Schlusswirkung, womit sich eine geschlossene Bogenform ergibt. Nach diesem fulminanten Schluss folgt eine befremdliche Generalpause – und daraufhin Carmens Thema, welches auch als ‚Todes-

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Motiv‘ bezeichnet wird. Da die ersten beiden musikalischen Themen jetzt nicht mehr in der Ouvertüre aufgegriffen werden, steht Carmens Thema in dieser Komposition allein, als Außenseiter, weder in die anderen eingebunden noch überhaupt mit ihnen verbunden. Ihre Musik erklingt plötzlich, im fortissimo, in Moll, im langsamen 3/4Takt „Andante moderato“ („langsam, gemäßigt“), unterscheidet sich also auch harmonisch und rhythmisch deutlich von den ersten beiden Themen. Diese formale Absetzung des Themas von den vorigen sowie der Aufbau innerhalb des Carmen-Themas spiegeln die Gesamthandlung der Oper und ihre dramatische Entwicklung wider. Tremolierende Streicher kündigen Unheilvolles an; dazu erklingt die Melodie, gespielt von den tiefen Instrumenten Fagott, Klarinette, Cello und Trompete (s. Abb. 3). Die dominierenden Celli erzeugen den verzweifelten Ausdruck der Musik, der gleichzeitig harte Klang wird durch die Trompeten in ihrer tiefsten Lage verstärkt. Diese Melodie hat nichts Weiblich-Unschuldiges oder Hoffnungsvolles in sich. Sie wird von tief klingenden und zusätzlich von denjenigen Instrumenten des Orchesters gespielt, welche als Jagdinstrumente traditionell männlich konnotiert sind. Carmens Melodie wird an verschiedenen Stellen in der Oper zitiert, nie ohne ein Unglück anzukündigen, und immer mit unheimlich tremolierenden Streichern unterlegt. Besonders eindrucksvoll geschieht dies vor der sogenannten ‚Blumenarie‘ von Don José, in der er seine Liebe zu Carmen bekräftigt und damit sein Schicksal besiegelt. Seine Zukunft scheint hier bereits festgelegt, und für den Zuhörer wird dies durch das vorher leise und geheimnisvoll gespielte ‚Todes-Motiv‘, welches gleichzeitig Carmens Motiv ist, angekündigt. Harmonisch und dynamisch erfährt Carmens Thema eine extreme Steigerung in der Ouvertüre. Ihre Melodie und Harmonik steigen chromatisch und im crescendo auf. Die gehaltenen und tremolierten langen Akkorde sind als Septakkorde wirkungsvoll gewählt: Es sind die schmerzlichen, klagenden Intervalle, die stets nach einer Auflösung streben, welche Bizet ihnen jedoch verweigert. Die Linie endet schließlich sehr plötzlich mit einem lauten Schlag auf einem verminderten Septakkord, ohne einen echten Schluss oder wenigstens eine harmonische Auflösung zu erfahren. Dieser formale Aufbau entspricht im Wesentlichen dem Verlauf von Carmens Leben, welches von permanenten Spannungen geprägt ist: Gleich zu Beginn gerät sie mit einer Arbeiterin in der Tabakfabrik in Streit, wird verhaftet, flieht, und zieht schließlich mit Don José und der Schmugglerbande weiter. Sie weigert sich jedoch seine Ehe-

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Abb. 3: Carmens Motiv, das „Todes-Motiv“

frau zu werden und zieht seinen Unmut auf sich, welcher verstärkt wird durch ihr Treffen mit dem Torero Escamillo. Der eifersüchtige Don José tötet Carmen schließlich vor einer Stierkampfveranstaltung unbemerkt vom Publikum, das in der Arena den Stierkampf feiert. Niemand trauert um Carmen. Bizet komponiert ihr kein Nachspiel, keine Trauermusik. Ihr Leben endet, wie schon in der Ouvertüre angekündigt, mit einem Paukenschlag. Auch die Melodie, die Bizet für Carmen komponiert, entspricht neben dem formalen Aufbau ihres Themas nicht den zeitgenössischen europäischen Hörgewohnheiten, ganz im Gegensatz zu den Themen der Quadrilla und des Torero. Carmens Melodieführung enthält charakteristische fallende übermäßige Sekunden, die in europäischer Hörweise andalusisch oder auch orientalisch klingend beschrieben werden (vgl. Abb. 3).16 Die Melodie ist bedrohlich tief im Bass zu hören. Die Intervalle der ‚Zigeunertonleiter‘ verleihen ihr den exotischen Klang: auf die kleine Sekunde d¹-cis¹ folgt die fallende übermäßige Sekunde cis¹-b. Nach Rückkehr zum cis¹ endet das Motiv auf a, eine Quarte tiefer als der Ausgangston. Das Thema wird nach zwei Paukenschlägen im gleichen Intervallschema zweimal wiederholt mit den Tonfolgen a-gis-f und g-fis-es. Im Gegensatz zu den ersten beiden ist Carmens Thema, obwohl es das einzige Thema einer Frau ist, in der Unterstimme notiert und klingt damit tiefer als die beiden Themen der Männer. Die Töne entsprechen aneinandergereiht der sogenannten ‚Zigeunertonleiter‘ – d-cis-b-a-gis-f-e –, welche eine eindeutige Assoziation mit ‚exotischer‘ Musik hervorruft.17 Gleichzeitig erhält es etwas Unheimliches durch

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die ständig auftauchenden Paukenschläge im Hintergrund. Das Motiv wird meist mehrmals hintereinander gespielt und dabei immer in fallender Sequenz, also als absteigende Melodie, was hörpsychologisch mit negativen Emotionen verknüpft ist.18 Diese nichteuropäische und darum für zeitgenössische Hörer kaum ohrwurmartige Melodieführung spiegelt durch ihre Fremdheit und Andersartigkeit für europäisch geprägte Ohren Carmens Außenseitertum wider. Zusätzlich erscheint es als einziges der drei Hauptmotive nie in einer gesungenen Version, sondern ausschließlich im Orchester, jedoch immer mit intensiver Wirkung. Neben der bereits erwähnten ‚Blumenarie‘ werden auch andere Szenen von diesem Motiv begleitet, zum Beispiel schon Carmens erster Blick auf Don José vor der Tabakfabrik, der damit als Auslöser für die gesamte Handlung gekennzeichnet wird.19 Don José wird ebenfalls musikalisch charakterisiert. Er erfährt die radikalste Wandlung von der Figur aus der Novelle zur Opernfigur. Bei Bizet bleibt kaum etwas übrig vom starken, unabhängigen, ‚männlichen‘ Schurken. Der neue Don José scheint stärker im Zwiespalt zwischen Pflicht und Leidenschaft: seine Mutter und Micaela auf der einen Seite, Carmen und die ‚Zigeuner‘ auf der anderen. Er muss sich entscheiden zwischen dem ‚einfachen ehrlichen‘ Leben mit Micaela und den aufregenden Abenteuern mit Carmen. Er entscheidet sich für den Kampf um Carmens Liebe, jedoch lässt die unterschiedliche Auffassung beider von Liebe und Freiheit dieses Unterfangen scheitern. Besonders in der Schlussszene ist seine Verzweiflung musikalisch deutlich zu hören. Nachdem Don José wutentbrannt („éperdu“) „Pour la dernière fois, démon, veux-tu me suivre?“ („Zum allerletzten Mal, Dämon: willst du mir folgen?“) singt, Carmen dies verneint und zur Betonung ihres Unwillens den gemeinsamen Ring wegwirft, ersticht er sie und „wirft sich über sie“20. Seine letzten Worte sind wieder zart: „C’est moi qui l’ai tuée. Ah Carmen! Ma Carmen adorée!“ („Ich war’s, der sie getötet. Ach, Carmen! Ach Carmen, du mein Leben!“), während laute Jubelschreie und eine triumphale Musik aus der Arena schallen. Dieses musikalische Wechselspiel bildet das Verhältnis des Paares ab. Konzipiert als typischer Heldentenor verfügt Don José auch über zarte Melodien, die seine Zwiespältigkeit verdeutlichen. Wie seine Hauptfiguren auch ist Bizets Musik von Ambivalenzen und Kontrasten gekennzeichnet. Schon in der Ouvertüre überrascht die Nebeneinanderstellung der musikalischen Themen, die teilweise ohne Übergang aufeinander folgen. Das ‚Todes-Motiv‘ jedoch macht er in fast allen Stücken hörbar, selbst in der Volksfest-Musik erklingt

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es unterschwellig. Die beiden Hauptfiguren werden musikalisch verstärkt durch die Konzeption der jeweiligen Gegenfigur. Neben Carmen steht die brave und leidenschaftslose Micaela, und Don José wird der entschlossene und kräftige Escamillo als Bariton gegenübergestellt. Die Stimmverteilung als Tenor und Bariton hat Bizet ebenso gegensätzlich gewählt wie die Charaktere der beiden männlichen Hauptfiguren.21 Escamillos Stimme wirkt männlicher, entschlossener und sicherer, und schließlich gewinnt er den Stierkampf und Carmens Liebe. Obwohl „Übereinstimmung und Glücklichsein“ laut Stephan Stompor selten in der Oper zu hören sind, so sind sie im Duett zwischen Carmen und Escamillo (Nr. 26), welches kurz vor dem Stierkampf in der Arena gesungen wird, umso deutlicher als Ausnahme komponiert. Stompor schließt hieraus, dass Bizet uns hier den „Beginn einer echten und großen Liebe“22 deutlich machen wollte. Der Stierkampf und die gleichzeitige Ermordung Carmens bilden das Finale der Oper. Es handelt sich beim Stierkampf um ein Ritual, in dem Grausamkeit, Tradition, Blut, Volksfest, Tod und Sieg untrennbar miteinander verbunden sind. Die Tötung des Stiers durch Escamillo und die Ermordung Carmens durch Don José fallen zeitlich zusammen. Unbeachtet vom Publikum des Stierkampfes findet der Kampf zwischen Don José und Carmen seinen tödlichen Höhepunkt. Beide Szenen spielen sich jedoch nicht unabhängig voneinander ab, Bizet komponiert die beiden Morde parallel. Die Menge in der Arena jubelt laut, ausgerechnet bei Carmens Worten zu Don José „Jamais Carmen ne cédera! Libre elle est née et libre elle mourra!“ („Niemals, niemals gebe ich nach! Frei bin ich geboren, und frei will ich auch sterben!“). Dazu stimmt der Chor wie zur Bestätigung in just diesem Moment an „Viva! La course est belle! Sur le sable sanglant le taureau qu’on harcèle s’élance en bondissant“ („Bravo! Eine prachtvolle Runde! Die Arena entlang rast mit blutender Wunde der Stier gegen den Feind“). Dazu schmettern die Trompeten, den Sieg verkündend, und die Menge in der Arena tobt vor Begeisterung. Der Stier stirbt, während gleichzeitig Don Josés Rolle als Mörder mit Carmens Worten besiegelt ist. Der Text und die Musik sind in diesen Szenen so detailliert aufeinander abgestimmt, dass der Ausgang der Szene vor der Arena vom Publikum schon geahnt werden kann. Nach einer langsamen Steigerung der Streicher von leisen chromatischen Wogen zum Forte ertönen bei den entscheidenden Worten Carmens an Don José „Je l’aime!“ („Ich lieb’ ihn!“23) laute Trompetenfanfaren und Siegesrufe aus der Arena.

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Abb. 4: Die letzten Worte der Oper. Don José äußert, eingeleitet vom Todes-Motiv, seine Verzweiflung über Carmens Tod

Carmen hat ihren Tod bereits erwartet, die Karten haben ihn angekündigt, und nun präsentiert er sich in voller Lautstärke. Das ‚Todes-Motiv‘ wird viermal fortissimo gespielt und demonstriert seine unaufhaltsame Macht. Carmen wirft den Ring weg, den Don José ihr einst geschenkt hat, worauf das Orchester mit lautem Schrei zu antworten scheint. All dies ertönt zunächst abwechselnd und schließlich gleichzeitig mit dem triumphierenden Torero-Thema aus der Arena. Während Carmen sterbend zu Boden sinkt, wiederholen die Besucher laut das Lied des Siegers in der Stierkampfarena. Zum dramatischen, in wuchtigem, vollem Klang tremolierenden Orchester singt Don José seine letzten Worte mit einer ergreifenden zarten Melodie (vgl. Abb. 4). Im ersten Takt der Abbildung ist das sehr laute ‚Todes-Motiv‘ zu sehen, dann übernimmt Don José den Gesang. Seine Melodie wird musikalisch nicht zu Ende geführt im Sinne eines Schlusstones in der Tonika. Ihm bleibt nach dem Mord und den Worten „Ma Carmen adorée!“ („Du mein angebetet Leben!“) die Stimme weg. Man könnte behaupten, die Schuld an Carmens Tod sei bei ihr allein zu suchen. Carmen hat bis zur letzten Minute die Option, am Leben zu bleiben und mit Don José zu leben. Sie entscheidet sich dagegen. Sie will sich seinen Wünschen nicht fügen und wird schließlich von ihm erdolcht. Dieses konsequente Verhalten einer Frau, die lieber stirbt als sich unterzuordnen, ist ein Novum auf der Opernbühne,

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das Bizet auf besondere Weise vertont hat. Ihre tiefe Stimme und die ‚exotischen‘ Melodien machen Carmen zur Außenseiterin, die jedoch auf die Zuhörenden eine große Attraktion ausübt: Ihre Mezzosopranstimme befindet sich in einer natürlichen Stimmlage und ist so dem Publikum viel näher als die künstlich hohen Sopranstimmen. Die Zuschauenden haben durch Carmens Herkunft zwar eine gewissen Distanz zu ihr, aber auch mehr Mitleid und Sympathien für sie als für die bis dahin üblichen ‚bösen‘ weiblichen Charaktere bzw. die Figuren aus adligen Kreisen. Beim Publikum ist sie vielleicht auch deshalb bis heute erfolgreich und gehört zu den meistgespielten Opern des 19. Jahrhunderts in Europa.24

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Anmerkungen 1 2 3

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Das lateinische Wort carmen bedeutet soviel wie Lied oder Gesang und ist gleichzeitig ein weiblicher Name. Zit. nach: Stephan Stompor: „Zum Werk“. In: Peters-Textbücher: BIZET Carmen, Edition Peters, Leipzig 1982, S. 240. Der Begriff „Zigeunerin“ wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert abwertend und bis heute diskriminierend verwendet. Er bezeichnet zumeist Menschen in Gruppen, die aus verschiedenen Gründen keinen festen Wohnsitz haben oder keiner ‚Nation’ angehören. Die Bezeichnung als „Zigeunerin“ wird in der Übersetzung der Novelle von Mérimée mehrfach verwendet, und taucht als erstes als ein Zitat von Carmen selbst auf: „Gehen Sie, gehen Sie; Sie sehen doch, dass ich Zigeunerin bin […]“ (S. 20). Später greift Don José dieses Wort als Beschreibung für Carmen auf, meist in sexistischer oder besitzergreifender Weise: „meine Zigeunerin“ (S. 21), „mit lockendem Blick, die Faust in der Hüfte, frech wie eine echte Zigeunerin“ (S. 29). Alle Zitate in: Prosper Mérimée: Carmen. Novelle, Stuttgart 1991. Stompor (wie Anm. 2), S. 239. Hier ist beispielhaft zu sehen, wie abwertend der Begriff „Zigeunerin“ gebraucht wurde. Es wurde nicht weniger befürchtet, als dass Menschen und Schicksale aus „der niedersten Klasse“ in die Opernhäuser und „unsere[…] Dramen“ gelangten. Der Autor der zitierten Opernkritik stellt sicher, dass Carmen ein „schamloses Weib“ „ist und bleibt“. „Realistisch“ meint in diesem Fall, dass die Sängerin auf der Bühne alle Klischees über ‚Zigeunerinnen‘ erfüllte, indem sie nicht opernhaft künstlich sang, und dadurch ihre Zugehörigkeit zu einer ‚niederen‘ Klasse ausdrückte. Dies war eine neue Art des Gesangs auf einer Opernbühne, ausgeführt von der Titelfigur. Bizet hatte verlangt, sich von der Künstlichkeit zu verabschieden und eine Art „Natürlichkeit“ in den Gesang und die Darstellung einfließen zu lassen. Galli-Marié musste in späteren Aufführungen in Paris wieder die Carmen singen, weil andere „harmlosere“ Sängerinnen, durch die sie zunächst ersetzt worden war, in dieser Rolle nicht überzeugten. Stompor (wie Anm. 2), S. 236. Ebd., S. 239. Zit. nach: Kurt Pahlen: George Bizet. Carmen, Mainz 1979, S. 287f. Stompor (wie Anm. 2), S. 241f. Ebd., S. 240. Mérimée (wie Anm. 3), S. 69. Wright, Lesley A.: Artikel „George Bizet“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begr. von Friedrich Blume, Zweite neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, München 1994, Personenteil Bd. 2, Sp. 1710. I. Ritter von Seyfried (Hrsg.): Ludwig van Beethoven’s Studien im Generalbasse, Contrapuncte und in der Compositions-Lehre. Wien 1832, rev. von H. H. Pierson, Leipzig/Hamburg/NewYork 1835, S. 314; zit. nach: Seedorf, Thomas: Artikel „Stimmengattungen“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begr. von Friedrich Blume,

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Patricia Fiebrich Zweite neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, München 1994, Sachteil Bd. 8, Sp. 1805. Stompor (wie Anm. 2), S. 237. Alle Textübersetzungen nach der Version von Walter Felsenstein aus dem Jahr 1972. In: Peters-Textbücher (wie Anm. 2), S. 18ff.; Die Übersetzungen wurden so angepasst, dass sie in der deutschen Version gut singbar sind und mit der Musik übereinstimmend klingen. Darum scheinen die Übersetzungen sehr frei gewählt und sind nicht wörtlich zu nehmen. Bizet war nie selbst in Spanien, er ließ sich stattdessen von Musikern beraten, was zu seiner Zeit als ‚spanische‘ Musik ‚galt‘. Der Begriff ‚Zigeunertonleiter‘ wird noch heute im Musikunterricht verwendet, ist jedoch irreführend bzw. nur teilweise korrekt. Er bezeichnet Tonleitern, die sich, im Gegensatz zum mitteleuropäischen Dur-Moll-System, durch zwei übermäßige Sekundschritte auszeichnen. Diese Tonfolgen sind unter anderem, aber nicht ausschließlich, in der Musik der Roma und Sinti zu finden. Bestimmte Ton- oder Rhythmusfolgen sind scheinbar universell gültig und werden immer von allen Hörenden gleich verstanden, vgl. dazu zum Beispiel Malte Jessl: So universell ist die Sprache der Musik. http://www.welt.de/ wissenschaft/article3428037/So-universell-ist-die-Sprache-der-Musik.html, 10.07.2010. In Nummer 6. Felsenstein (wie Anm. 15), Regieanweisung S. 231. Das Wort Bariton stammt aus dem griechischen (barys „schwer“, „tief“ und tonos „Klang“) und bezeichnet eine mittlere männliche Stimmlage; der Tenor hingegen ist die höchste Männerstimme im klassischen Fach. Dadurch ermöglicht es Bizet dem Tenor Don José nicht, eine Art „Männlichkeit“ auszustrahlen, wie es der Bariton Escamillo durch seine Stimme tut. Stompor (wie Anm. 2), S. 244. Gemeint ist Escamillo. http://www.miz.org/intern/uploads/statistik22.pdf, 10.07.2010.

Wenn Musik verführt Carmen und ihre Nachfolgerinnen von Melanie Unseld In der Zigarrenfabrik eskaliert ein Streit zwischen den Arbeiterinnen: Carmen verletzt eine andere Frau mit dem Messer. Sie wird von Don José abgeführt, der Leutnant verlangt einen Bericht von seinem Sergeanten. Die beiden Männer sind sich selbstverständlich über die Formalitäten des Verhörs einig. Don José bekräftigt, dass für ihn „der Fall […] klar zu sein“ (1. Akt, 9. Szene)1 scheint, der Leutnant geht routiniert zur Vereidigung des Zeugen José über: „Ich brauche nicht zu fragen, ob Sie die Wahrheit gesagt haben“, woraufhin ihm Don José sein Ehrenwort gibt: „Mein Eid als Navarreser, Herr Leutnant!“ (ebd.)2. Dass dieser Eid bereits nichtig ist, da Don José „als Navarreser“ zu diesem Zeitpunkt bereits kein Ehrenmann mehr ist, wird später noch zu beleuchten sein. An dieser Stelle aber mag das rhetorische Ritual zwischen den beiden Männern im Vordergrund stehen, vor allem auch im Kontrast zu der „Antwort“, die Carmen kurz darauf im Verhör geben wird. Während sich die beiden Männer in gesprochenem Wort kurz und knapp über die bezeugte Wahrheit austauschen, antwortet Carmen auf andere Art (ebd.)3: LEUTNANT (zu Carmen) Haben Sie etwas zu antworten? Sprechen Sie, ich warte… (Statt zu antworten, beginnt Carmen zu trällern.) CARMEN (singend) Schneide mich, verbrenne mich, ich werde dir nichts sagen, ich widerstehe allem, dem Feuer, dem Eisen und dem Himmel selbst.

Der Leutnant ermahnt Carmen, ihm nicht auszuweichen: LEUTNANT Ich will von dir keine Lieder, sondern eine Antwort. CARMEN (singend) Mein Geheimnis bewahre ich, und ich bewahre es gut! Ich liebe einen anderen und sage noch im Sterben, daß ich ihn liebe.

Nicht nur, dass Carmen – einem Verhör unangemessen – von einem Geheimnis singt, das preiszugeben sie nicht bereit ist, die Antwort hat auch nichts (zumindest nichts Erkennbares) mit dem Vorfall in der Fabrik zu tun. Vor allem aber singt Carmen. Bezieht man sich auf die Originalversion von Bizets Opéra comique mit den für die Gattung typischen Dialogen (statt auf die nicht von George Bizet stam-

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mende Rezitativversion)4, fällt der Kontrast zwischen Sprechen und Singen besonders auf: Carmen verweigert auf diese Weise nicht nur eine konkrete Antwort, sondern verweigert das Sprechen überhaupt. Egon Voss gibt hierzu drei Interpretationsansätze: Carmens plötzliches und im Verhör deplatziertes Singen könne „als typische Unverschämtheit der Dirne“ ausgelegt werden oder „als Beginn von Carmens auf José gerichteter Verführungsstrategie oder als Ausdruck von Carmens Erkenntnis, daß sie mit der erwarteten Antwort ihre Lage nicht verbessert“5. Welchem Ansatz man auch immer folgen mag, zentral ist, dass der Leutnant von Carmens Singen keineswegs überrascht zu sein scheint, eine andere, dem Verhör angemessene Antwort nicht mehr erwartet. Vielmehr zieht er aus dem Chanson seine Rückschlüsse: „Ha! Ha! Wir werden es den Tönen entnehmen. Soviel ist sicher, nicht wahr, daß es Messerstiche gegeben hat und daß sie sie verteilt hat“ (1. Akt, 9. Szene)6. In diesem Moment scheinen in nuce alle Themen offen zu liegen, die die Oper Carmen (1875) und vor allem auch die besondere Strahlkraft der titelgebenden Hauptfigur auf nachfolgende Frauenfiguren der Opernbühne (und darüber hinaus) auszumachen scheint: Zwei Kommunikationswelten stehen sich hier diametral gegenüber: einerseits die rational-juristische der Männersprache, in der das Ehrenwort eines (nicht mehr ehrenhaften) Mannes genügt, andererseits die alogische ‚Sprache‘ der Verführerin, die von Liebe und Geheimnis singt, anstatt juristisch einwandfrei zu antworten. Die Unterscheidung dieser Kommunikationswelten wird dadurch noch unterstrichen, dass die gesprochenen Worte der Männer deutlich zu verstehen sind, während sich Carmen der Musik bedient. Der Gesang aber steht hier, über den gesungenen Textinhalt hinaus, für Verführung, entsprechend der langen abendländischen Tradition des Gesangs als Verführungskunst. In diese Traditionslinie reiht sich Carmen – die den Hinweis auf das Gesungene bereits im Namen trägt – mit ihren Liedern ein, ist eine durch Gesang (ver)lockende fremde Frau. Dass es gerade auch Tanzlieder sind, die die Auftritte von Carmen charakterisieren (Seguidilla, Habanera), unterstreicht nicht nur das exotisch-spanische Kolorit ihrer Figur, sondern auch den Aspekt der Körperlichkeit. Die Musik als (exotische) Verführungskunst und die durch Gesang (ver)lockende fremde Frau sowie die verunmöglichte Kommunikation zwischen den Geschlechtern – diesen drei Aspekten sei im Folgenden nachgegangen, um Carmen-Nachfolgerinnen in der Musikgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nachzuspüren. Es sind, das sei einschränkend angemerkt, Moment-

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aufnahmen einer Carmen-Rezeption, für die bewusst nicht die naheliegendsten Beispiele ausgewählt wurden, nicht zuletzt auch um die Tiefenwirkung dieser Figur innerhalb der Musik- und Kulturgeschichte zu dokumentieren. Carmen ist gleichsam der Prototyp für die in ihrer Exotik7 verführerische Frau auf der Opernbühne des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Ihre ‚Exotik‘ ist dabei keineswegs geografisch zu verstehen, vielmehr ist es eine imaginierte Fremdheit, die sie verkörpert: Als ‚Zigeunerin‘ steht sie außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, repräsentiert das Andere, vor allem das Unkontrollierbare. Dieses Fremde aber hat – vor allem aus der Perspektive des in die Gesellschaft Integrierten – eine die Ordnung bedrohende und zugleich eine verführende Komponente. Und diese Melange ist umso gefährlicher, als Carmen nicht in unerreichbarer Ferne steht, sondern gleichsam in der Nachbarschaft: das Fremde gleich jenseits des eigenen Gartenzauns. In diesem Sinne bezeichnete auch Egon Voss das in Carmen exponierte ‚Zigeunertum‘ „als eine besondere Form von Domestizierung, jene Form nämlich, die dem Bürgertum als Abwechslung willkommen ist, ohne doch als Abweichung von der Norm allzu störend zu wirken“8. Weder ist Spanien von Paris aus betrachtet ein exotisches Land, noch sind die ‚Zigeuner‘ exotisch im Sinne einer räumlich weiten Ferne, im Gegenteil sind sie temporär Teil der Gesellschaft, wenn auch am Rand stehend. Damit ist die Exotik, die Carmen verkörpert, keine fernliegende, sondern die der reizvollen Fremden, die umso verführerischer ist, als sie greifbar zu sein scheint. Diese zum Greifen nahe, und doch unnahbare ‚exotische‘ Frau konfrontiert den verführten Mann mit einer Entscheidung: für oder gegen die eigene, sichere Gesellschaft, gegen oder für die gefährliche Fremde. Diese Situation ist gerade auch für eine Gesellschaft, die in der Kolonisation fremder Länder ihre imperialen Ansprüche deutlich macht, eine sehr konkrete. Die konkrete Konfrontation mit dem (eroberten) Fremden wird zur individuellen Versuchung. Doch die Botschaft, die auf den Opernbühnen in Europa den Männern mitgegeben wird, ist deutlich: Grenzüberschreitungen dieser Art sind gefährlich, eine Vereinigung des Eigenen mit dem Exotischen kann nicht gelingen. Und während der Tod der grenzüberschreitenden Frau die Regel ist, unterscheiden sich die Konsequenzen für den Mann durchaus: Ein Zurückkehren in die Gesellschaft ist ebenso möglich wie das Ausgestoßenwerden. Don José wird durch die verführerische Frau zum Mörder. Sein Weg dorthin verläuft in mehreren Stufen. Don José ist Soldat, als

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Sergeant in Sevilla stationiert. Ursprünglich stammt er aus dem Norden, aus Navarra. In der dritten Szene des ersten Aktes schildert er im Gespräch mit dem Leutnant, wie er zum Militär kam: LEUTNANT Sie sind aus Navarra? JOSÉ Und ein alter Christ. Don José Lizzarabengoa ist mein Name… Man wollte, daß ich Priester werde[,] und hat mich studieren lassen. Aber ich habe kaum Nutzen daraus gezogen, ich liebte das Ballspiel [franz.: jouer à la paume9] zu sehr… Eines Tages, als ich gewonnen hatte, suchte ein Kerl aus Alava Streit mit mir; ich gewann zum zweitenmal, aber das zwang mich, die Heimat zu verlassen. Ich wurde Soldat!10

An dieser Stelle wird deutlich, dass José keineswegs den wohlanständig-bürgerlichen Typus verkörpert, als der er gern im Gegensatz zu Carmen (und auch zum Draufgänger Escamillo) interpretiert wird, sondern dass auch er ein ‚Il Traviato‘ ist, einer, dessen Lebensweg als Priester vorgezeichnet war, der aber (durch eigenes Verschulden) seinen gesellschaftlichen Status verloren hat und deshalb zum Militär gegangen ist. Don Josés gesellschaftlicher Abstieg hat damit bereits vor der Begegnung mit Carmen begonnen. Sein Abstieg scheint unausweichlich, auch wenn (oder gerade weil) er ihn aufzuhalten trachtet, indem er sich zunächst der Versuchung, die von den Fabrikarbeiterinnen ausgeht, fernzuhalten sucht: Als die Arbeiterinnen in die Fabrik zurückkehren, wendet er sich ostentativ ab. Und obwohl José gerade Carmen auszuweichen versucht, ist sie es, mit der er zuerst spricht, nicht Micaela, die ihn zwar zuvor schon gesucht, aber nicht angetroffen hat. Micaela als Verkörperung der Heimat („der blaue Rock, die Zöpfe… das ist die Tracht von Navarra… das erinnert mich an die Heimat“; 1. Akt, 3. Szene11) steht – abgesehen von dem Weiblichkeitsideal, das sie selbst verkörpert und mit dem sie als Gegenfigur zu Carmen aufgebaut wird – auch für Don Josés ehemals gut situierte Position. Diese ist für ihn unwiederbringlich verloren. Doch die Verantwortung dafür zu übernehmen, fällt José schwer, vielmehr gibt er die Schuld dem „Dämon“, dessen „Opfer“ (1. Akt, 7. Szene)12 er werde. Im Gespräch und Duett mit Micaela stellt er die wohlgeordnete, aber vergangene Welt der Heimat, des Dorfes, seiner Familie und der Mutterliebe, der gefährlichen Gegenwart gegenüber: Andalusien, die Stadt Sevilla, Militär, die Zigarrenfabrik, Arbeiterinnen und die „Zigeunerin […] mit ihren verhexenden Blumen“ (1. Akt, 8. Szene)13, Promiskuität und Sexualität. Und es ist diese „Sevilla-Welt“, die ihn gleichsam schuldlos ins Verderben ziehe. Während ihn seine frühere Spielleidenschaft zwar aus dem Stand eines Ehrenmannes vertrieben, er aber immerhin im Militär eine

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zweite Heimat gefunden hatte, ist es der Mord an Carmen, der ihn endgültig aus der Gesellschaft ausstößt. Seine von der verführerischen Frau ausgelöste Grenzüberschreitung endet für ihn mithin im Außenseitertum. In vergleichbarer Situation – verführt durch eine exotisch-fremde Frau – findet sich auch Gérald wieder, der Protagonist aus Léo Delibes Erfolgsoper Lakmé (1883)14. Auch der Soldat Gérald ist von der hier nun indischen Exotik in Gestalt der Lakmé hingerissen, vergisst seine Soldatenpflicht und träumt von einer Zukunft mit der Priestertochter Lakmé. Doch diese Liaison zwischen dem Eigenen und dem Fremden – aus der je wechselseitigen Perspektive – wird sowohl von Lakmés Vater als auch Géralds Freund Frédéric als eine die Ordnung störende bekämpft. Doch während der Vater unbarmherzig Verzicht und Verrat von Lakmé fordert, gesteht Frédéric seinem Freund immerhin den exotischen „Traum“ zu (3. Akt, 2. Szene): FRÉDÉRIC Ich verdamme dich nicht. Man ist nicht Herr seiner Träume, und seit zwei Tagen lebst Du im Rausch eines wahrhaftigen Traumes. – Aber du bist gerade erwacht, gerade zur rechten Zeit. […] Du kennst Deine Pflicht. GÉRALD In einer Stunde werde ich zurück sein. FRÉDÉRIC Ich gehe ruhigen Gewissens. Ich habe ihn gerettet.15

Der auf diese Weise vor der Verführung der exotischen Frau Gerettete kehrt in die geordneten Verhältnisse seiner Soldaten-Existenz zurück, Lakmé aber begeht Selbstmord. Die so wiederhergestellte Ordnung, die mit dem Tod der verführerischen, die Ordnung bedrohenden Frau endet, ist im Kontext der Opernästhetik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die erwartete Konsequenz.16 Bezeichnend bei Lakmé aber ist – vor allem vor dem Hintergrund der Carmen-Rezeption –, dass es wiederum der exponierte Gesang ist, der den Mann verlockt: Der Höhepunkt der Oper liegt in ihrer „Légende de la Fille du paria“ (2. Akt, 10.-12. Szene), die Lakmé auf Geheiß ihres Vaters singt. Durch den Gesang soll Gérald angelockt werden, seine Erregung soll – so der Plan des Vaters – ihn als Geliebten Lakmés verraten. Und obwohl Frédéric Gérald zurückzuhalten versucht, geschieht genau dies, die dramatischen Entwicklungen nehmen daraufhin ihren Lauf. In dieser „Légende“ aber ist nicht nur der Kern der Verführung Géralds zu erkennen, sondern auch die Verführung, die die Oper Lakmé auf das Pariser Opernpublikum ausübte. Der Erfolg war immens, flankiert durch Presseberichte, die just die „Légende“ hervorhoben:

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Melanie Unseld Die Figur der Lakmé ist […] eine Art mysteriöse Erscheinung, ein hinduistisches, zierlich-ätherisches Idol, das dem Traum eines Dichters zu entspringen scheint. Und ihre kristallklare, reine Stimme schmiegt sich bestens den expressiven und farbigen Melodien an, wie perlende Noten, die in der Légende de la fille des parias [sic] an das Glöckchen eines Zauberers erinnern.17

Unzweifelhaft der Adressatenkreis dieser stimmlichen Verzauberung: Eine Abbildung18 von Henri Meyer anlässlich der Aufführung der Lakmé in der Opéra Comique am 26. März 1885 zeigt den Vorplatz der Opéra mit einer vielhundertköpfigen Menge, ausschließlich bestehend aus Männern. Dass dies kaum ein Zufall sein dürfte, darauf deutet auch ein dezenter Hinweis des Uraufführungsrezensenten hin, der das goutierende Publikum als „pacha-public“19 bezeichnet hatte. Die durch Gesang (ver)lockende fremde Frau ist im Motivarsenal der abendländischen Kulturgeschichte fest verankert: von den Sirenen, gegen deren Gesang sich Odysseus nur mit wachsverstopften Ohren wappnen kann, bis zu den Rusalken, Undinen und der Loreley, die als wassernahe Geschöpfe Männer singend ins Wasser, in den Tod ziehen. Verlockung und Gesang ist darüber hinaus auch konstituierendes Element, wenn über den Status realer Sängerinnen nachgedacht wird – von der Primadonna über die Diva20 bis hin zum weiblichen Popstar21. Auch Carmen verlockt durch ihren Gesang: zunächst indem sie dem Leutnant im Verhör singend ihre Antwort schuldig bleibt, dann in der Habanera (1. Akt, 5. Szene), die zwar an die Gruppe der Soldaten gerichtet ist, aber doch vor allem denjenigen meint, der sich von ihr abwendet: Don José hat sie nicht angesehen, um sich von ihrem Tanz und ihrem Aussehen nicht verführen zu lassen, aber dem Klang ihrer Stimme kann er sich nicht verschließen. Der visuell gelenkten Begierde konnte Don José ausweichen, nicht aber derjenigen, die durch das bloße Hören hervorgerufen wird. Und gerade im Vergleich zur schlichten Weise, mit der Micaela musikalisch charakterisiert ist, wird Carmens Gesang in seiner Verbindung mit Körperlichkeit (Tanzlieder) und Fremdheit (spanisches Kolorit, Exotik) als andere Klangwelt hörbar, die auf Don José eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, die ihn zugleich auch verängstigt. Und es ist bezeichnend, dass er die Furcht vor ihrer Attraktivität zu bändigen versucht, indem er singt: Er handelt wie das Kind, das in den dunklen Keller geschickt wird, um etwas zu holen, und, um sich Mut zu machen, ein Lied anstimmt. Das Lied vom mutigen Dragoner aus Alcalá dient der Beschwichtigung der Angst.22

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Zugleich ruft es das Bild des tapferen Soldaten auf, ein Männlichkeitsbild, das nicht nur für Heldentum steht, mithin als Verweis auf Don Josés militärisches Umfeld dient, sondern das vor allem die Begegnung mit der verführenden Frau mit dem Schlachtfeld vergleicht, auf dem der Mann sich heldenhaft zu bewähren hat, indem er seinen Gegner tötet: „[I]ch ziehe los, um meinen Gegner ins Jenseits zu schicken“ (José im 2. Akt, 4. Szene)23. Doch die ‚Zigeuner‘ unterbrechen Don Josés Chanson, überlegen gemeinsam, wie sie ihn auf ihre Seite ziehen können. Der zweite Teil des Chansons spricht denn auch von der Liebe zu einer schönen Frau und leitet die Begegnung mit Carmen ein. Don Josés Weg – im Chanson durch zwei getrennte Strophen stilisiert – ist endgültig besiegelt: vom mutigen Soldaten, der seine Einheit verlässt, zum Liebhaber, der seinen neuen gesellschaftlichen Ort in der Gruppe der Außenseiter sucht (aber nicht finden wird). Mit dieser Perspektive auf den ‚Traviato‘, die sich nur scheinbar von der Titelfigur abwendet, kommt ein Werk in den Fokus, das zunächst nicht zwingend im Carmen-Kontext zu verorten zu sein scheint: Leoš Janáčeks Liederzyklus Tagebuch eines Verschollenen. Im Zentrum des Zyklus steht ein Don-José-ähnlicher ‚Traviato‘, der aus seinem heimatlichen Kontext herausgeht, verführt durch den Gesang einer fremden Frau, der alles zurücklässt und für die Liebe zu der ‚Zigeunerin‘ seine Ehre hingibt. Janáčeks Liederzyklus Tagebuch eines Verschollenen entstand 19171919. Grundlage der Lieder ist ein Gedichtzyklus, der im Mai 1916 anonym in der Brünner Tageszeitung Lidové noviny mit dem Zusatz „Aus der Feder eines Autodidakten“ erschienen war. Die Redaktion hatte den Texten folgende Erklärung vorausgeschickt: In einem Gebirgsdorf Ostmährens verschwand vor einiger Zeit auf unaufgeklärte Weise J. D., ein ordentlicher, arbeitsamer Bauernbursch, die einzige Hoffnung seiner Eltern. Man vermutete zuerst ein Unglück oder ein Verbrechen. Erst einige Tage später wurden in seiner Kammer Aufzeichnungen gefunden, die das Geheimnis des Verschwundenen enthüllen. Die Papiere enthielten kleine Gedichte. Niemand dachte zunächst daran, dass sie den Schlüssel zu dem rätselhaften Vorfall bilden könnten. Die Hausleute hielten sie für blosse Abschriften von Volksliedern, wie Bauernburschen sie sich zu machen pflegen, und schenkten ihnen daher keine Beachtung. Erst das Gerichtsverfahren brachte ihren wahren Inhalt und Hintergrund ans Licht. Ihres rührenden Herzenstones und dichterischen Wertes wegen verdienen sie, dem Staub der Gerichtsakten entrissen zu werden.24

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Leoš Janáček, selbst Mitarbeiter der Lidové noviny, wurde auf die 23 Gedichte aufmerksam: In Dialekt verfasst, interessierten sie ihn als Volksliedsammler, die Dramatik der Geschichte fesselte ihn, vor allem aber die im Zyklus auftretende Frauengestalt, eine junge ‚Zigeunerin‘, die den „ordentlichen Bauernbursch“ dazu verlockt, sein geordnetes Leben, seine Familie und seine Heimat aufzugeben. Er wählte 22 der Gedichte aus und vertonte sie für Tenor, Mezzosopran, drei Frauenstimmen und Klavier.25 Der Zyklus schildert, aus der Perspektive des jungen Bauern Jan, die Begegnung mit der ‚Zigeunerin‘ Zefka. Ähnlich wie Don José versucht Jan, sich der Verführung nicht hinzugeben, indem er sich ihrem zunächst nur visuell verlockenden Einfluss zu entziehen sucht: „Warum geht sie nicht in die Welt hinaus? Ich wäre fröhlicher, würde sie fortgehen“ (2. Lied)26. Auch hier ist es aber schließlich das Lied der ‚Zigeunerin‘, das ihn verführt (10. Lied), auch hier ist es die Angst, die Jan auf dem Weg zu Zefka erfasst (9. Lied), sie zieht ihn in eine andere, ihm fremde Welt hinein – „willst du, Janek, sehen, wie die Zigeunerinnen schlafen?“ (11. Lied)27 – kulminierend in einer ersten Liebesnacht (13. Lied, Klaviersolo). Doch dem jungen Bauern ist sogleich klar, dass er damit nicht nur die Liebe gefunden, sondern auch seine Unschuld (14. Lied) und seinen Ort in der Gesellschaft verloren hat (16. Lied). Der Liebesnacht folgt ein langer Abschied von seinem bisherigen Leben, dem Jan im letzten Lied des Zyklus (22. Lied) mit angstvoll sich in die Höhe schraubender Stimme ein letztes Lebewohl singt: Leb’ wohl, mein Heimatland, leb’ wohl, mein Dörfchen lieb! Es bleibt mir nichts übrig, für immer muß ich euch verlassen. Leb’ wohl, mein Vater und auch du, Mütterlein, leb’ wohl, du Schwester mein […] gar keine Rückkehr gibt es für mich mehr! Alles nehme ich auf mich, was das Schicksal befiehlt! Zefka wartet auf mich, meinen Sohn in den Armen!28

Damit verlässt Jan seine Herkunftsfamilie, sein Dorf, die Gesellschaft und geht einer ungewissen, nach Art der ‚Zigeuner‘ unsicher vagabundierenden Zukunft entgegen. Die ‚Zigeunerin‘ als Symbol für die fremde verführerische Frau ist für die Musikkultur des böhmisch-mährisch-ungarischen Gebiets ein Topos, der kompositorisch ebenso einfach aufzurufen wäre wie die spanische ‚Zigeunerin‘ Carmen durch exotisch-hispanisierende Elemente. Um so erstaunlicher daher, dass Janáček, der mit der Volksmusik der Region bestens vertraute Komponist, sowohl auf die stereotypen als auch die ethnografisch genauen Elemente der ‚musi-

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kalischen Verführung‘ gänzlich verzichtet. Es ist gerade nicht das ‚Zigeuner‘-Melos, das er in den kurzen Auftritten der Zefka zum Klingen bringt, ebenso wenig eine authentische ‚Zigeuner-Musik‘, sondern eine auffallend schlichte Melodik. Die musikalische Verführung findet vielmehr in der dem Bauernburschen zugedachten Musik statt. Zwei Interpretationsansätze liegen damit auf der Hand. Zum einen wird so der Fokus auf den Mann gelenkt, auf seine Imagination der fremden Frau: Hörend lernen wir kaum die Frau selbst kennen, sondern erfahren viel mehr über die Eindrücke, die sie in dem jungen Bauern hinterlässt, und das, obwohl für Janáček das ‚Zigeuner‘-Sujet besonders wichtig war – Kompositionsskizzen überschrieb er mit „Cigánka náčrtky“ („Zigeunerskizzen“)29. Zefka bleibt letztlich fremd, während der Weg des ‚Traviato‘ nachvollziehbar wird. Zum anderen wirft Janáček mit dem Auslassen des ‚Zigeuner‘Melos die Frage der Fremdheit neu auf: Die geschilderten Ereignisse sprechen von der gesellschaftlich realen Unvereinbarkeit der beiden Welten – dem Leben als ‚Zigeuner‘ einerseits und der dörflichen Gesellschaft andererseits –, doch die Musik spricht von individueller Ähnlichkeit, jener Nicht-Fremdheit, von der Zefka spricht: „Ich bin nicht so schwarz, wie es dich dünkt“ (8. Lied). Damit wird die Frage des Andersseins ins Auge des Betrachters zurückverwiesen. Und die Musik pflichtet bei, wenn sie Zefka nicht mit den gängigen Attributen des musikalischen Exotismus, der für ihre Figur so naheliegend wäre, ausstattet. Kehren wir noch einmal zu jenem Verhör zurück, das sich nach dem Vorfall in der Fabrik zwischen dem Leutnant und Carmen abspielt: Er verlangt eine verbale Erklärung, sie antwortet nicht, sondern singt und lässt damit alle Fragen offen. Diese Szene einer gescheiterten Kommunikation, in der sich die ‚Logik‘ der Sprache und die ‚Irrationalität‘ der Musik, das männliche und das weibliche Prinzip unvereinbar gegenüberstehen, findet sich in der Anfangsszene von Pelléas et Mélisande wieder, der 1902 uraufgeführten Oper von Claude Debussy (Text: Maurice Maeterlinck). König Golaud findet Mélisande verirrt im Wald an einer Quelle sitzend und fragt sie aus. Und da er ein Verbrechen vermutet, gerät dieses Gespräch kurzerhand zu einem knappen Verhör. Doch ihre Antwort besteht zunächst nur aus ihrem Schweigen und der dazu erklingenden Musik. Und auf die folgenden Fragen gibt Mélisande ‚unpassende‘ Antworten, Antworten, die kaum dazu beitragen, den ‚Fall‘ zu klären (1. Akt, 1. Auftritt)30:

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Melanie Unseld GOLAUD Warum weint Ihr, hier, ganz allein? MÉLISANDE Fasst mich nicht an! Fasst mich nicht an! GOLAUD Habt keine Angst! Ich tue Euch nichts! Oh… wie schön Ihr seid. MÉLISANDE Fasst mich nicht an! GOLAUD […] Hat Ihnen jemand Schmerzen zugefügt? MÉLISANDE Oh, ja, ja, ja! GOLAUD Wer hat Euch Schmerzen zugefügt? MÉLISANDE Alle! Alle! GOLAUD Welches Übel hat man Euch zugefügt? MÉLISANDE Ich will es nicht sagen! Ich kann es nicht sagen! GOLAUD […] Woher kommen Sie? MÉLISANDE Ich bin geflohen! Geflohen…, geflohen… GOLAUD Ja, aber von wo seid Ihr geflohen? MÉLISANDE Ich bin verloren! verloren… oh, oh… ich bin hier verloren… ich bin nicht von hier, ich bin hier nicht geboren… GOLAUD Von woher kommt Ihr? Wo seid Ihr geboren? MÉLISANDE Oh, oh! Weit weg… weit, weit!

Das Gespräch nimmt seinen Lauf, ohne dass Golaud die Identität der Mélisande herausfindet. Sie bleibt ihm rätselhaft, zugleich findet er durch sie wieder zurück in seine Welt. Denn auch Golaud ist in dieser Situation ein ‚Traviato‘, er hat sich bei der Jagd im Wald verirrt. Auf die junge Frau blickend, versucht er sofort ein Wiederanknüpfen an die rationale Welt, versucht mit der Rationalität seiner Fragen auch, sein eigenes Verlorensein zu überwinden. In der Sicherheit, die er durch die Fragen zu erreichen versucht, scheint ihm ein Rückweg in die geordnete Welt möglich. Dass er Mélisande mit auf sein Schloss nimmt – ein Schritt der Grenzüberschreitung auch hier –, spricht von der Verführung, die die fremde Frau auf ihn ausübt, und ist zugleich Auslöser der dramatischen Handlung. Dass es zu Beginn des dritten Aktes wiederum der Gesang Mélisandes ist, der Pelléas, Golauds Halbbruder und Rivale, in ihre Nähe lockt, weist Mélisande als eine der durch ihren Gesang verführenden Frauenfiguren aus. Mélisande als stille Nachfolgerin Carmens? Es ist nicht eben selbstverständlich, gerade auch die der femme fragile nahestehenden Frauenfiguren wie Mélisande und Lakmé als Nachfolgerinnen Carmens zu betrachten, die doch eigentlich als Sinn- und Vorbild der femme fatale gilt. An dieser Stelle aber bewahrheitet sich einmal mehr, dass nicht eine Polarisierung zwischen femme fragile und femme fatale zielführend ist,31 sondern die Betrachtung beider Frauentypisierungen unter gemeinsamen Aspekten wie Fremdheit, Verführung und den Konsequenzen der Begegnung zwischen dem Eigenen und Fremden. Die unmögliche Kommunikation zwischen den Geschlechtern, wie sie im Carmen-Verhör ebenso aufscheint wie in

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der Anfangsszene von Pelléas et Mélisande, steht dabei nicht zuletzt auch für die Unvereinbarkeit jener Dichotomien, die die bürgerliche Gesellschaft als konstituierend für sich selbst angenommen hatte: Mann versus Frau, das Eigene versus das Fremde, auch die eigene Nation versus das kolonisierte Land: Die Musik vermittelt dabei das buchstäblich Unsagbare jener Attraktivität, das diesen Gegensätzlichkeiten bei aller Unvereinbarkeit innewohnt: die Verführung durch das Andere.

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Henri Meilhac, Ludovic Halévy: Carmen. Opéra comique in vier Akten nach der Novelle von Prosper Mérimée, Musik von Georges Bizet, zweisprachiges Textbuch nach dem Erstdruck des Librettos, Paris 1875; neue wortgetreue deutsche Übersetzung von Birgit Baitzel. In: Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.): Georges Bizet. Carmen, Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek 1984, S. 35-165, hier S. 73. Ebd. Diese und die folgenden Libretto-Auszüge ebd., S. 73-75. Dazu vgl. Fritz Oeser: „Bizets ‚Carmen‘ in authentischer Gestalt“. In: Jahrbuch der Komischen Oper IV. Berlin (DDR) 1964; wiederabgedruckt in: Csampai, Holland (wie Anm. 1), S. 196-223. Dagegen: Winton Dean: „The true ‚Carmen‘?“. In: The Musical Times, November 1965, S. 846-855; vgl. dazu auch Egon Voss: „Ist Carmen, was wir von ihr glauben? Versuche einer Interpretation gegen die Tradition“. In: Csampai, Holland (wie Anm. 1), S. 930, hier S. 9-13. Voss (wie Anm. 4), S. 12. Carmen, Libretto (wie Anm. 1), S. 73-75. Die als ‚exotisch‘ konnotierte Frau unter einer Gender-Perspektive in den Blick zu nehmen, ist inzwischen ebenso selbstverständlich (vgl. v. a. Susan McClary: „Images of race, class and gender in nineteenth-century French culture“. In: dies.: George Bizet. Carmen [= Cambridge opera handbooks], Cambridge 1992, S. 29-43) wie die Spiegelfunktion des Exotischen zu beachten, wie dies wegweisend von Edward Said unternommen wurde (Edward W. Said: Orientalism. London 1985). Und obwohl die Exotik einer Carmen geografisch keineswegs mit Opernfiguren wie Thaïs oder Lakmé zu vergleichen ist, scheint sie doch gleichsam der Prototyp für die in ihrer Exotik verführerische Frau in der Operngeschichte. Voss (wie Anm. 4), S. 25. Bei diesem Ballspiel handelt es sich offenbar um eine Variante des Schlagballs, der in der französischen Literatur als Zeitvertreib für gehobene Stände Verwendung findet, u. a. in Eugène Sues Les Mystères du peuple, Alexandre Dumas’ Vingt ans après. Carmen, Libretto (wie Anm. 1), S. 51. José (ebd.), nachdem Micaela bereits in der 1. Szene ebenso aufgetreten ist (Moralès: „…nett angezogen, ein blauer Rock, Zöpfe, die auf die Schultern fallen…“; ebd., S. 47). Ebd., S. 63. Ebd., S. 67. Text von Pierre Edmond Julien Gondinet und Philippe Emile Francois Gille, Uraufführung 1883, Paris, Opéra Comique. Auszug aus einer Textvariante aus dem 3. Akt, 2. Szene. Léo Delibes: Lakmé. Opéra en 3 Actes, Partition Chant et Piano, Paris 1883, faksimilierter Nachdruck, [o. O.] 1992, S. XVII (Übersetzung: M. U.).

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Vgl. dazu Melanie Unseld: „Man töte dieses Weib!“ Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart/Weimar 2001. H. Moreno: „Lakmé“. In: Le Ménestrel. Musique et théâtres 49 (1883), H. 21, S. 1 (Übersetzung: M. U.). Abb. abgedruckt in Delibes: Lakmé (wie Anm. 15), o. S. Moreno (wie Anm. 17). Vgl. dazu u. a. Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002. Vgl. dazu u. a. Alenka Barber-Kersovan: „Madonna: The Material Girl. Eine amerikanische Karriere“. In: dies., Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld (Hrsg.): Frauentöne. Beiträge zu einer ungeschriebenen Musikgeschichte (= Forum Jazz Rock Pop 4), Karben 2000, S. 261-282. Voss (wie Anm. 4), S. 21. Carmen, Libretto (wie Anm. 1), S. 107. Zit. nach: http://www.leos-janacek.org/lex/1t.htm#tagebucheinesverscholle nen, 10.10.2009. Vgl. dazu die Informationen im Online-Lexikon der Leoš Janáček-Gesellschaft: http://www.leos-janacek.org/lex/1t.htm#tagebucheinesverschollenen, 10.10.2009. Übersetzung nach Supraphon, vgl. CD-Booklet: Janáček. The Diary of One Who Disappeared. Ian Bostridge, Ruby Philogene, Thomas Adés, EMI Classics, S. 22. Ebd., S. 28. Ebd., S. 34. Vgl. Online-Lexikon der Leoš Janáček-Gesellschaft (wie Anm. 25). Claude Debussy: Pelléas et Mélisande, Klavierauszug, S. 6-11 (Übersetzung: M. U.). „Denn diese Polarisierung verschweigt nicht nur wesentliche Merkmale, die beiden Typen eigen sind (etwa ihre Realitätsferne oder auch ihr Tod), sondern drängt auch zahlreiche andere Spielarten an den Rand: So rückt beispielsweise die femme enfant je nach Sinnzusammenhang in die Nähe der femme fragile (Mélisande) oder der femme fatale (Salome). Gegen einen Antagonismus zwischen femme fragile und femme fatale spricht außerdem, daß sich Frauenfiguren zuweilen durch beide femme-Typen charakterisieren lassen, ohne daß daraus ein Widerspruch entstünde.“ Unseld (wie Anm. 16), S. 65.

II. Carmen auf der Leinwand Klasse. Geschlecht. Inszenierungsweisen. Carmen in frühen Stummfilmen (DeMille, Chaplin, Lubitsch) von Florian Kappeler Intersektionalität und Intermedialität: Der Carmen-Boom im frühen 20. Jahrhundert „Carmen“ ist mit über 80 Bearbeitungen bis auf den heutigen Tag einer der meistverfilmten Stoffe1 und zugleich eines der ersten überhaupt filmisch erfassten Motive: Thomas A. Edison, der Erfinder des Kinetoskops und Gründer des ersten Filmstudios, drehte bereits 1894 den ersten Carmen-Film: eine 21 Sekunden lange Tanzszene.2 Es sollte danach zwar zwölf Jahre dauern, bis eine Reihe (heute verschollener) weiterer, meist nur einige Minuten langer Stummfilme gedreht wurden, aber bis zum Jahr 1913 waren es bereits sechzehn Carmen-Filme, und allein 1913 kamen fünf weitere hinzu. Die Jahre vor und während des Ersten Weltkrieges können also nicht nur als Beginn der filmischen Carmen-Rezeption, sondern auch als deren erster Boom verstanden werden. Dieser frühen und intensiven Adaption des Carmen-Stoffes durch den Stummfilm soll im Folgenden anhand dreier prominenter Beispiele nachgegangen werden: Cecil B. DeMilles Verfilmung mit dem Opernstar Geraldine Farrar (1915), Charlie Chaplins und Leo Whites Burlesque on Carmen aus dem Jahr 1916 und Ernst Lubitschs Film mit Pola Negri in der Hauptrolle (1918). Ganz allgemein kann vermutet werden, dass der Carmen-Boom zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Neubestimmung der Geschlechterrollen im Zuge der Kämpfe der ersten Frauenbewegung sowie neuer Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft, etwa dem zunehmenden Bedarf nach lohnarbeitenden Frauen auch aus den Mittelschichten, zusammenhängt. Zugleich ist die Tatsache, dass der Film bei der frühen Rezeption des Carmen-Stoffes eine wichtige Rolle spielte, vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Medium Film

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zu Beginn des Jahrhunderts durch Stoffe der (europäischen) Hochkultur für ein breiteres bürgerliches Publikum erschlossen werden sollte.3 Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist DeMilles Film, der als Erstes in Hinsicht auf Intersektionalität und Intermedialität, besonders vor dem Hintergrund von Konstellationen der Geschlechterund Klassenherrschaft sowie medienhistorischen Ereignissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert werden soll. Insofern liegt es nahe, die Carmen-Verfilmungen intersektional und intermedial zu untersuchen. Intersektional ist die Figur der Carmen angelegt, insofern sie als Proletarierin, ‚Zigeunerin‘ und Frau in mehrfacher Weise Herrschaftsverhältnissen unterworfen ist.4 Ein Teil ihrer Faszination, aber auch ihrer latenten Bedrohlichkeit liegt darin, dass ihre Darstellung Elemente aktiven und selbstbewussten Handelns aufweist, obwohl die genannten Herrschaftsverhältnisse sie eigentlich am unteren Ende der Gesellschaft positionieren. Als intermedial kann die Inszenierung von Carmen im Film zum einen bezeichnet werden, weil sie die Darstellungen in Buch und Oper rekonfiguriert (sekundäre Intermedialität beziehungsweise Medienwechsel). Zum anderen weisen Schrift, Bild und Ton auch innerhalb des Films als Medium intermediale Konfigurationen auf (inhärente Intermedialität beziehungsweise Medienkombination).5 So enthalten die besonders auf Bildlichkeit fokussierten Stummfilme oft Elemente des Buchs (etwa Untertitel) und des Tons (Musik). Als ein Spezifikum der Stummfilme kann zudem die besondere Rolle der Körpersprache hervorgehoben werden, auf die sie wegen ihrer Reduktion von Stimme und Schrift stärker als Oper und Novelle fokussieren.6 Darstellungsformen und -medien können durch Herrschaftsverhältnisse überdeterminiert sein. So sind die Codierung der Blickverhältnisse und die Unterscheidung stimmlicher und schriftlicher Präsentationsweisen teils durch Geschlechterherrschaft strukturiert, und bestimmte Darstellungsformen wie Film und Oper werden historisch der proletarischen oder der bürgerlichen Klasse zugeordnet. Die frühe Geschichte des Films ist in mindestens zweifacher Hinsicht proletarisch codiert: erstens, da Edison den Film besonders als Disziplinierungsmittel für FabrikarbeiterInnen – zur Produktion stereotyper, formelhafter Bewegungen – verstanden wissen wollte, und zweitens, da der Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zu großen Teilen proletarisches Publikum hatte, das im Film eher ein „Kino der Attraktionen“ und der Zerstreuung suchte als die Disziplinierung zu stereotypen Bewegungen im Arbeitsprozess.7

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Dieses Konfliktfeld von Stereotypie und Attraktion ist auch für die Carmen-Stummfilme und besonders die in ihnen dargestellten Körpersprachen konstitutiv. Der weniger als Filmtheoretiker bekannte Autor Robert Musil hat in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) in kritischer Rezeption der Filmtheorie von Béla Balász einige interessante Gedanken zu dieser Frage entwickelt. Musil begreift „das prätentiös Formelhafte der Gebärden“8 als die stereotype Präfiguration des Erlebens und Wahrnehmens durch Sprache, Begriffe und Wissen. Dagegen setzt er das unmittelbare Erlebnis der innerhalb dieser Schemata nicht-sichtbaren und ‚unausdrückbaren‘ Elemente der Realität. Der Stummfilm kann Musil zufolge zwar einerseits stereotype Wahrnehmungsweisen reproduzieren. Er ist aber andererseits Prototyp einer Ästhetik, die durch die Abstraktion von den Kontexten, in denen sich diese ‚normalerweise‘ vollziehen (besonders der Sprache), fähig ist, diese nicht nur sichtbar zu machen, sondern zumindest momenthaft auch zu durchbrechen.9 Inwieweit dies in frühen Carmen-Stummfilmen gelingt, ist eine der im Folgenden diskutierten Fragen.

Inszenierung und Verbürgerlichung: Cecil B. DeMilles Carmen zwischen Oper und Film Cecil B. DeMille, einer der ersten Filmproduzenten Hollywoods und seit 1914 führender Kopf des Filmproduktionsunternehmens Paramount Pictures, versuchte, mit aufwändigen und längeren Filmen das Medium Film einem breiten und vor allem auch bürgerlichen Publikum schmackhaft zu machen. Die unter anderem als Darstellerin der Carmen bekannte Opernsängerin Geraldine Farrar, die später mehrere Filme mit DeMille drehte, wurde vom Paramount-Produzenten Jesse L. Lasky angeblich für den Film mit dem Argument gewonnen, ein Auftritt in einem Film werde ihr beim Grad ihrer Berühmtheit nicht schaden.10 Ein Auftritt beim bürgerlichen Publikum renommierter SchauspielerInnen im proletarisch codierten Medium Film galt damals als anrüchig. Obwohl es zu dieser Zeit schon allein neun in den USA produzierte Carmen-Filme gab – mindestens zwei (beide 1913) länger als einige Minuten –, gelang erst DeMilles Verfilmung und dem zeitgleichen, heute verschollenen Film von Raoul Walsh mit Theda Bara in der Hauptrolle der große Durchbruch auf dem Markt. DeMilles Film ist ganz um die Hauptdarstellerin zentriert, die weniger als proletarische ‚Zigeunerin‘ denn als Diva inszeniert wird, et-

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wa indem sie in mehreren Szenen den Mittelpunkt eines Chors anderer DarstellerInnen bildet.11 Wie bereits daran deutlich wird, dass Farrar oft die Kamera und nicht José anblickt, steht im Mittelpunkt der Präsentation die dem bürgerlichen Publikum bekannte Darstellerin als die Beziehung Carmens und Josés. Die Carmen dieses Films bleibt unverletzlich, da ihr Körper und ihre Verführungskünste im Gegensatz zu Novelle und Oper rein instrumentell eingesetzt werden: Damit die Schmugglerbande, zu der sie gehört, die Stadttore passieren kann, soll sie José, der Wache hält, mit ihren erotischen Reizen ablenken. Der Untertitel „Bound by Love“ ist nur einseitig zu verstehen. Anders als in der Novelle gibt es keine Ambivalenzen in Carmens Begehren: Bereits vor der Verführung Josés hat sie mit dem Stierkämpfer Escamillo angebandelt, und diese Beziehung ist im Gegensatz zu der zu José nicht rein instrumentell strukturiert. Somit geht es hier weniger um die Probleme einer Liebesbeziehung von gesellschaftlich höchst unterschiedlich positionierten Figuren. Vielmehr gehört Carmen einem eindeutig kriminellen Milieu an, das den Soldaten José für seine Zwecke instrumentalisiert. Carmen ist in erster Linie Kriminelle, nicht Proletarierin. Die Fabrikarbeit ist nur ein Mittel, sich José zu nähern. Diese Eindeutigkeit des Geschehens entschärft den Plot deutlich: Die Betonung des Kriminellen neutralisiert den Klassenkonflikt, auf der anderen Seite macht die später durch Carmens weißes Kleid angedeutete Hochzeit mit Escamillo deutlich, dass die im Film dargestellte Gesellschaft selbst Kriminellen einen gesellschaftlichen Aufstieg beziehungsweise eine verbürgerlichende Normierung erlaubt. Allerdings steht die freie Wahl des Ehepartners, welche, wie die Untertitel im Film deutlich machen, letztlich auch Josés Mord an Carmen motiviert, zumindest strikt patriarchalen Verhältnissen entgegen. Die Handlung von DeMilles Film ist insgesamt nicht komplex oder ambivalent strukturiert, sondern entweder eindeutig oder, ganz im Gegensatz zur Novelle, willkürlich oder auch gar nicht motiviert. Dass zum Beispiel die Schmuggler während des Gefechts verzweifelt versuchen, durch Zuhalten der Tür die Soldaten fernzuhalten, sie aber sofort nach dessen Ende und Josés Flucht öffnen, ist innerhalb der Handlung unmotiviert und dient als rein formales Mittel der Spannungssteigerung. Im Zentrum stehen bei DeMille die stereotypen Ereignisse, Motive und Symbole der Carmengeschichte und deren aufwändige Inszenierung. Kostümierung, Kulissen und Musik sind eindeutig der Oper entlehnt. Als spezifisch filmische Möglichkeit werden ergänzend Naturaufnahmen (Meer, Berge, Wald, Tiere) ein-

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Abb. 1: In-szenierung: Diva Carmen (Geraldine Farrar in DeMilles Carmen)

gesetzt, die im Gegensatz zum Bild der zivilisierten Stadt Carmen und den Schmugglern zugeordnet werden. Nicholas Till geht davon aus, dass eine solche Inszenierungsweise, die den performativen Akt selbst (und nicht seine Zwecke oder Motive) in Szene setzt, die Feminisierung der aktiven Handlungsgestaltung durch die Carmen-Figur mittels der Passivität des Raumes relativiert.12 Eine weitere These von Till ist, dass der verletzliche und uneindeutige Körper Carmens durch den Filmapparat und die Schrift (die erläuternden Untertitel) unter Kontrolle zu bringen versucht wird. Dies gelingt meiner Ansicht nach in Farrars Darstellung der Carmen nicht ganz, da ihre Gesten gerade durch ihre immense Performativität und ihre teils unzureichende Motivierung als Inszenierung sichtbar werden, was ihre Stereotypie in quasi hyperbolischer Weise mitunter stört. Dadurch wird entsprechend der oben genannten Annahmen Robert Musils der ‚normale‘ Handlungskontext durchbrochen. Auch Carmens Körpersprache schwankt zwischen bürgerlichopernhafter Performativität und gegenläufigen Momenten: Ihr offensiv verschlagenes, fast dämonisches Lächeln und ihr ‚tierartiges‘ Anschmiegen an José nach ihrer Verhaftung mögen noch als besonders deutliche Akzentuierung der Verführung Josés zum Zwecke des Schmuggels durchgehen. Dagegen wird die Duellszene unter anderem dadurch, dass die Fechtenden über Gegenstände fallen und Carmen versucht, Josés Gegner mit Tüchern einzuwickeln, in fast burlesker Weise inszeniert. Auf solche Weise werden die aus der Oper übernommenen theatralischen Elemente vereinzelt mit proletarisch co-

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dierten Darstellungsformen kombiniert. Dies wird am deutlichsten, wenn Carmen Männer mit Boxschlägen außer Gefecht setzt und kulminiert im Ende des Films: José wirft sich hier mit einer Geste, die an das Ende von Shakespeares Romeo und Julia erinnert, aber eher komisch als tragisch anmutet, über den toten Körper Carmens. Diese komischen Elemente konterkarieren die ernsthafte und tragische bürgerliche Form der Oper, aber neutralisieren gerade durch ihre Komik auch einen möglichen kritischen Gehalt des Proletarischen. Mit DeMilles Film verliert der Carmen-Stoff – und das zeigt auch die durchaus ambivalente zeitgenössische Rezeption13 – zwar ein Stück seiner opernhaften Erhabenheit, wird aber für ein bürgerliches Publikum durch die Entschärfung manch störenden Potentials zugleich kommensurabel.

Männlichkeitskrise und leeres Zentrum: Charlie Chaplins Burlesque on Carmen Da schon DeMilles Film seinen opernhaften Inszenierungscharakter teilweise hyperbolisch ausstellt und mit komisch-burlesken Elementen kombiniert, verwundert es wenig, dass er (neben dem Film von Walsh) Anlass wie Objekt von Charlie Chaplins Carmen-Burleske wurde. Chaplin führte dabei gemeinsam mit dem Schauspieler Leo White Regie. Besonders die Parallelhandlung um den zwergenhaften Don Remendado (in der Oper einer der Schmuggler), verkörpert durch den Zirkus- und Slapstickdarsteller Ben Tarpin, entwickelte White nach Chaplins Kündigung bei der Firma Essanay weiter und verdoppelte so die Länge des Films; Chaplins Klage gegen diese Version blieb erfolglos. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die kürzere Version. Die Parallelhandlung um Remendado und seine Liebe zur dicken Frasquita (span.: Flakon) spielen auch in dieser Version eine Rolle. Dabei wird nicht allein die ‚große‘ Liebesgeschichte Josés und Carmens durch eine banalere Liaison von Angehörigen der unteren Klassen karikiert. Auch die oft nicht motivierte Inszenierungsweise von DeMilles Film wird persifliert, wenn etwa Remendado die Soldaten vor den Stadttoren mit den einfachsten Mitteln austrickst (er blickt zum Beispiel in die andere Richtung, um die Aufmerksamkeit vom Tor abzulenken), was ein tragendes Moment von DeMilles Verfilmung, nämlich die mühsamen Versuche, den Schmugglern Einlass in die Stadt zu verschaffen, von vornherein ad absurdum führt. An-

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ders als bei DeMille stehen nicht theatrale Inszenierung und Burleske nebeneinander, sondern die Burleske gilt der theatralen Inszenierung. Dies betrifft auch die Inszenierung von Geschlechtlichkeit. In Chaplins Carmen steht José im Zentrum, der hier den Namen Darn Hosiery trägt (engl.: Strumpfstopfer; „darn!“ bedeutet aber auch „verflixt!“). Es ist Hosiery, der in dieser Verfilmung die großen Gesten performiert. Schon in der ersten Szene des Films streicht er sich in übertriebener Weise über Schnurrbart und Uniform, was seinen sozialen Status und seine Männlichkeit ironisiert, indem sie übermäßig betont werden. Die massive Inszenierung des Männlichen nähert sich ganz allgemein deshalb schnell einer Travestie von Männlichkeit, da diese oft darüber definiert wird, dass sie sich (angeblich) gerade nicht explizit inszenieren muss.14 Tatsächlich erscheint Hosiery nicht nur aufgrund seines Namens, der auf das weiblich codierte Textilgewerbe verweist, sondern auch aufgrund seiner übertriebenen Gestik und Mimik als unmännlich und infantil, wenn nicht sogar als feminin, so etwa wenn er beim ersten Flirt mit Carmen seinen Finger in den Mund steckt oder einen Teller als Spiegel benutzt. Mehr als deutlich wird diese Depotenzierung von Hosierys Männlichkeit schließlich durch die im Film omnipräsenten Phallussymbole, besonders seinen winzigen Säbel, mit dem er zum Beispiel während der Verführung durch Carmen hinter seinem der Kamera zugewandten Rücken leicht obszöne Gesten macht, der aber des Öfteren (so bei allen Mordversuchen) auch abknickt. Im Gegensatz dazu wird die Virilität anderer Soldaten und besonders des Stierkämpfers Escamillo etwa durch überdimensionale Schnurrbärte und Helme mit Federbusch überbetont. Auf der im Gegensatz zu DeMilles Film stark beschleunigten Handlungsebene ist Chaplins Carmen eine simple Dreiecksgeschichte, bei der die Hauptfigur zwischen Hosiery und Escamillo steht15, während ihre Aktivität – ein Grund ihrer Faszination und irritierenden Wirkung – noch deutlich stärker beschnitten wird als bei DeMille. Man könnte auch sagen: Sie muss nicht viel tun, die Männer (besonders Hosiery) depotenzieren sich schon selbst. Im Vordergrund steht die Inszenierung einer geschwächten und krisenhaften Männlichkeit. Dies neutralisiert aber zugleich Carmens Performanz einer starken Frau, die herrschende Geschlechterrollen tendenziell infrage zu stellen geeignet wäre.16 Carmen bildet das leere Zentrum einer karikierenden Inszenierung krisenhafter Männlichkeit.

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Abb. 2: Karikatur: Diva José (Charlie Chaplin in Burlesque on Carmen)

Formal reicht es für Chaplins Burleske beinahe aus, DeMilles Film in neuem Kontext zu zitieren, so bei Carmens Tanz, der schon bei DeMille übertrieben wirkt (hier tanzt allerdings später auch noch Chaplin). Die Duellszene wird komplett ins Burleske gewendet: Die Fechtenden (und besonders Chaplin) führen die immergleichen Bewegungen aus, die im Gegensatz zum gesamten Film ungewöhnlich verlangsamt wirken, würgen sich, versetzen dem anderen Tritte unter die Gürtellinie und schwingen sich wie depotenzierte Tarzans an Knoblauchlianen in die Luft. Der höchst theatralische Charakter der Inszenierung DeMilles, der durch aufwändig gestaltete und langsam entwickelte Szenen gekennzeichnet ist, wird ferner durch eine slapstickartige Beschleunigung des Handlungsverlaufs karikiert. Dabei hebt die Burleske besonders die mangelnde Motivation der Carmen-Handlung hervor: Das schon bei DeMille unzureichend motivierte Zuhalten der Tür während der Duellszene (siehe oben) wird zum Beispiel endlos ausgeweitet und geht sogar weiter, als Hosiery und Carmen geflohen sind und die Tür längst nicht mehr in den Angeln ist, sondern nur noch von den zwei Parteien hin- und hergeschoben wird. Ebenso unmotiviert wirkt der Mord an Carmen, der am Ende auch wieder zurückgenommen wird, indem Chaplin seinen stumpfen Theatersäbel an der plötzlich wieder auferstandenen Carmen demonstriert.

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Chaplins Film karikiert nicht nur die Inszenierungsweise der Carmengeschichte (besonders) bei DeMille, sondern zum Beispiel qua Depotenzierung phallischer Symbole auch Inszenierungsweisen von Männlichkeit. Allerdings wird das irritierende Potential der Carmen-Figur durch diese karikierende Inszenierung krisenhafter Männlichkeit in den Hintergrund gedrängt und damit noch stärker neutralisiert als bei DeMille. Ganz im Gegensatz dazu stellt dann Ernst Lubitsch die Figur der Carmen und ihre Klassen- und Geschlechterposition wieder in den Vordergrund.

Die Erotik des Proletarischen: Geste und Tausch in Ernst Lubitschs narrativem Kino Die Uraufführung von Lubitschs Carmen-Film wurde der Hauptdarstellerin Pola Negri zufolge am 20. Dezember 1918 von den Kanonen der Revolution untermalt.17 In der US-Version Gypsy Blood von 1921, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, wurden sexuelle Details gestrichen (etwa dass José Carmens Füße küsst). Trotzdem steht die proletarische Sexualität Carmens innerhalb einer instabilen Beziehungsdynamik zu José hier im Vordergrund. Der Film impliziert durchaus auch komische Elemente, etwa Carmens Verführung eines dummen und hässlichen Gefängniswärters (die allerdings im Ansatz aus Taylors Film von 1913 übernommen ist); insgesamt kann aber nicht von einer Burleske wie bei Chaplin gesprochen werden, sondern von einer narrativen Inszenierung. Zum einen orientiert sich Lubitschs Verfilmung nämlich stärker als die bisher diskutierten Filme an der Novelle von Prosper Mérimée: Wie diese ist sie durch eine Erzählperspektive gerahmt, die allerdings nicht wie in der Novelle von einem wissenschaftlich tätigen Schreiber eingenommen, sondern als Zigeunererzählung am Lagerfeuer inszeniert wird. Des Weiteren ist die Handlung anders als bei DeMille und Chaplin narrativ stärker verbunden und motiviert. Formal spielt das Medium der Schrift noch eine größere Rolle als bei DeMille, unter anderem dadurch, dass neben Untertiteln auch gefilmte Briefe in die Darstellung einbezogen werden. Obwohl also auf den ersten Blick eher von einem narrativ orientierten Film gesprochen werden kann als von einem damals meist proletarisch codierten ‚Kino der Attraktionen‘, spielt das Proletarische und auch das Bild des ‚Zigeunerischen‘ eine größere Rolle als bei DeMille oder Chaplin. Während dort die Geschlechterpositionen im

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Vordergrund stehen, Klassenverhältnisse nur auf der Ebene der Darstellungsform eine Rolle spielen und ethnische Elemente sowie rassistische Zuschreibungen untergeordnete Bedeutung haben, kann bei Lubitsch von einer Verbindung all dieser Elemente auf der Ebene der Handlung und besonders in der Figur der Carmen gesprochen werden.18 So wird die (baskische) Herkunft Josés wie in der Novelle von Carmen eingesetzt, um ihn für sich zu gewinnen, indem sie darauf verweist, auch sie komme ‚aus den Provinzen‘. Obwohl das Milieu, in welchem Carmen lebt, als ‚zigeunerisch‘ dargestellt wird, überwiegt doch die (sub-)proletarische Komponente: Die Fabrikarbeit wird explizit dargestellt, und Carmens Körper weist deutlich proletarisch-burschikose Züge auf. Schon der Beginn des Films kann als Konfrontation der Organe der herrschenden Klasse und der Arbeiterinnen gesehen werden, die durch die fest organisierte Masse der Soldaten und die sie vom Balkon der Fabrik aus beobachtende lockerer formierte Masse der Arbeiterinnen präsentiert wird. Im Gegensatz zur Oper sind die Blicke der Arbeiterinnen dabei auf die Soldaten gerichtet, und die Kamera folgt dieser Blickrichtung. Der Blick ist also, anders als in der herrschenden Ordnung üblich, weiblich und proletarisch kontrolliert, und den ZuschauerInnen wird durch die Richtung der Kamera eine Solidarisierung mit diesem Blick nahegelegt. Mehr noch als durch den Blick inszeniert sich Lubitschs Carmen durch ihre Körpersprache. Besonders signifikant ist die aus der Novelle übernommene und dort dem ‚Zigeunerischen‘ zugeordnete Geste, bei der Carmen sitzend den Arm in ihre Hüfte stemmt. Im Gegensatz zu den großen Gesten der sorgfältig gekleideten und geschmückten Diva Geraldine Farrar zeichnet sich ihre Performanz durch kleinere, zugleich sinnlichere und burschikosere Gesten aus, welche auf ihre proletarische Herkunft verweisen und erotische Subversion andeuten.19 Diese Körpersprache ist stark erotisch übercodiert, wie zum Beispiel Carmens flehendes Anschmiegen an José oder ihr erotisierter Blick zeigen, bei dem ihre Augen in eindeutig inszenierter, wenn nicht ironischer und dennoch sexualisierter Weise zu ihm aufschauen. Bruce Babington sieht darin „a seductiveness independent on the codes of hyper-refined feminity“20. Selbst die Fesselung Carmens durch José während ihrer Verhaftung wird von ihr gestisch in erotisierender Weise umgedeutet. Wie das in der US-Version gestrichene Füßeküssen Josés verweist dies auf in der bürgerlichen Ordnung verfemte, sadomasochistische Formen der Erotik. Die

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Abb. 3: Sex und Macht: Proletarische Carmen (Pola Negri in Lubitschs Carmen)

„Bounds of Love“ sind in diesem Film also physisch und erotisch codiert. Noch folgenreicher für den Verlauf der Handlung ist, dass Carmen José in dieser Szene mit dem Mund (die Hände sind ja gefesselt) die Blume stiehlt, die sie ihm früher geschenkt und die er sich angesteckt hatte. Zentral ist dies deshalb, da hier deutlich wird, dass die sexuelle und klassenmäßige Überdeterminierung ihrer amourösen Verstrickung wie in der Novelle durch eine Logik des Tausches und der Schuld strukturiert ist. Es geht nicht um Instrumentalisierung wie bei DeMille, sondern um (prekäre) Tauschverhältnisse und die Frage, wer wem etwas schuldet. Die von Negri dargestellte Carmen benutzt José nämlich nicht ausschließlich für ihre kriminellen Zwecke, sondern ist teilweise ernsthaft von ihm affiziert. Dies ist am deutlichsten an der Stelle erkennbar, an der Carmen erfährt, dass José durch ihre Schuld, aufgrund ihrer Flucht im Knast sitzt. Diese Logik der Schuld wird fortgesetzt, wenn Carmen José ein Brot mit einem Brief und einer Feile ins Gefängnis schickt. Diese Gegen-Gabe gibt José ihr später wiederum zurück, und sie erwidert seinen damit verbundenen Annäherungsversuch, um die durch die Rückgabe der Feile gestiegene Schuld zu begleichen. Dass sie zum Treffen mit José in ihrem Zimmer noch für viel Geld Kuchen und Gebäck kauft, bürdet die Schuld dann endgültig ihm auf. Es stellt bereits eine Umkehrung der herrschenden Geschlechterund Klassenverhältnisse dar, dass es die proletarische Frau ist, welche die Geschenke macht, und der die herrschende Ordnung repräsentie-

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rende Mann zu ihrem Schuldner wird. Folgerichtig zeigt der Film ab diesem Zeitpunkt die soziale und geschlechtliche Deklassierung Josés. Dies wird bereits dadurch symbolisiert, dass Carmen ihm, um ihn zu küssen, den Helm abnimmt. Später weint José sogar, geht gebeugt und fleht um ihre weitere Gunst, wobei Carmen vorübergehend eine tröstende, ja mütterliche Rolle einnimmt, wenn sie etwa seinen Kopf in ihrem Schoß birgt. Es ist aber offensichtlich, dass Carmen diesen deklassierten und infantilisierten Mann nicht mehr begehrt: Während er ihr Szenen macht, raucht sie, spielt Karten mit den männlichen Schmugglern, und wendet sich schließlich dem hypervirilen Escamillo zu (auch wenn diese Virilität gerade wegen ihrer übertriebenen Performativität etwas lächerlich wirkt). Diesen begehrt sie, wie ihre zur Kamera gewandte Mimik deutlich erkennen lässt, ‚auf den ersten Blick‘ und nähert sich ihm in einer der ausdrucksvollsten Szenen des Films nach einem intensiven Flirt ohne Umschweife und, im Gegensatz zur Verführung Josés, von vorne. José dagegen endet als psychotisch anmutender Alkoholiker mit wirrem Haar und Bart. Er erdolcht Carmen schließlich von hinten. Die Beziehung zu Escamillo als Spiegelung der Beziehung zu José mit umgekehrten geschlechtlichen Positionen zu lesen21, ist verkürzt. Sie ist vielmehr mit Klassenpositionen und deren Tausch verschränkt: Während José, gerade weil er Carmens proletarischem Begehren nicht gewachsen ist, seinerseits proletarisiert wird, wird Carmen durch die durchaus jenseits der Regeln bürgerlicher Annäherung begonnene Beziehung zu Escamillo verbürgerlicht, wie ihr weißes Kleid und ihr Schwur, ihn ewig zu lieben, am Ende zeigen. Unverfügbar für diese bürgerliche Normalisierung bleibt jedoch ein Rest des proletarischen Begehrens von Carmen, wie es Pola Negris Körpersprache noch in ihrer Sterbeszene inszeniert.

Fazit: „Carmen“ und die Faszination der Grenze Dieses Spannungsfeld von Stereotypisierung, Attraktion und Unverfügbarkeit ist für den Carmen-Boom im Stummfilm des frühen 20. Jahrhunderts konstitutiv. Wie an den drei Beispielen DeMille, Chaplin und Lubitsch gezeigt wurde, wird dieses Feld durch eine Kopplung von Herrschaftsverhältnissen – besonders Klasse und Geschlecht – und mediengeschichtlichen Umbrüchen sowie interme-

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dialen Inszenierungsweisen strukturiert, wobei letztere sowohl herrschaftsstabilisierende wie -destabilisierende Effekte haben können. So reduziert die Verfilmung von DeMille zwar das irritierende Potential der Proletarierin Carmen durch eine theatrale Inszenierung der stereotypen Momente des Stoffes. Zugleich erzeugen Brüche in der Motivation der Handlung und der Körpersprache der Carmen-Figur teils eine hyperbolische Travestie der insgesamt herrschaftsstabilisierenden Inszenierungsweise des DeMille-Films. Daran kann Chaplin anknüpfen, dessen Burleske gerade der Theatralität der DeMille’schen Inszenierung gilt. Zusätzlich steht hier eine Travestie von Männlichkeit, besonders von männlich codierten Körpersprachen und von Phallussymbolen im Zentrum, während die Rolle der Carmen und damit auch ihr subversives Potential geschwächt wird. Lubitschs narratives Kino betont dagegen mit dem intersektionalen Charakter der Carmen-Figur zugleich dieses Potential: Die proletarische und offensiv erotische Codierung ihrer Blicke und Gesten sowie die Subvertierung der kapitalistisch und geschlechtlich strukturierten Logik von Tausch und Schuld ermöglicht momenthafte Umkehrungen der Klassen- und Geschlechterpositionen. Stoff und Figur der Carmen bewegen sich somit an den Grenzen von Herrschaftsstabilisierung und -destabilisierung, an Grenzen, die Herrschaftsverhältnisse ziehen, an Grenzen zwischen Herrschaftsverhältnissen und an Grenzen medialer Inszenierungsweisen sowohl im historischen Medienwandel als auch innerhalb inhärent intermedial strukturierter Filme. Die historische Anziehungskraft des CarmenStoffes im frühen Summfilm liegt zugleich darin, dass sie erlaubt, diese Grenzen zu (re-)produzieren, und dass sie zeigt, dass sie beständig reproduziert werden müssen. Dies kündet von der Instabilität aller historischen Grenzen.

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Möglicherweise sogar nach „Dracula“ die am zweithäufigsten adaptierte Geschichte überhaupt, vgl. Phil Powrie, Bruce Babington, Ann Davies, Chris Perriam: Carmen on Film. A Cultural History, Bloomington/Indianapolis 2007, S. IXu.f. [i.F.: Powrie et al.]. Eine komplette Liste der Carmen-Filme ist aufgeführt und kommentiert in Ann Davies, Phil Powrie: Carmen on Screen. An Annotated Filmography and Bibliography, Woodbridge 2006. Abrufbar unter http://hdl.loc.gov/loc.mbrsmi/edmp.4019, 09.10.2009. Powrie et al. (wie Anm. 1), S. 31. Ich gebrauche den Begriff der Intersektionalität im Sinne miteinander zusammenhängender verstetigter Herrschafts-, d. h. Unterwerfungs- sowie Zwangsverhältnisse, besonders Klassen- sowie Geschlechterherrschaft und Rassismus. Die derzeitigen Debatten zum Konzept der Intersektionalität sind kaum mehr zu überblicken. Zur Einführung in diese Debatten im deutschsprachigen Raum vgl. Gudrun Axeli-Knapp, Angelika Wetterer (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster 2003. Vgl. Werner Wolf: „Intermedialität“. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Stuttgart 2004, S. 238-239. Nicholas Till: „Space, Time and Gender in the Film d’Art Carmen of 1910“. In: Ann Davies, Chris Perriam (Hrsg.): Carmen. From Silent Film to MTV. Amsterdam/New York 2006, S. 9-21, hier S. 11. Vgl. u. a. http://chnm.gmu.edu/courses/omalley/120/empire/narrativefilm. html, 15.10.2009. Robert Musil: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (Béla Balászs: Der sichtbare Mensch), 1925“. In: ders.: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. v. Albert Frisé, Hamburg 1955, S. 667-683, hier S. 677u. Ebd., S. 669ff. Gillian B. Anderson: „Geraldine Farrar and Cecil B. de Mille: The Effect of Opera on Film and Film on Opera in 1915“. In: Davies, Perriam (wie Anm. 6), S. 23-35, hier S. 24u. Powrie et al. (wie Anm. 1), S. 49u.f. Till (wie Anm. 6), S. 19f. Obwohl Till von der französischen Verfilmung von André Calmettes (1910) ausgeht, lassen sich seine Beobachtungen teilweise auf den DeMille-Film übertragen. Anderson (wie Anm. 10), S. 26ff. Vgl. Claudia Benthien, Inge Stephan (Hrsg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2003. Dabei ist teils ein möglicherweise schwuler Subtext zu beobachten, etwa wenn Chaplin sich im Duell auf den Unterlegenen setzt und seinen Hintern in einer obszönen Pose positioniert (das Letztere wiederholt sich am Ende des Films mit Chaplins eigenem Hinterteil). Auch Carmens Exotisierung als ‚Zigeunerin‘ spielt bei Chaplin kaum eine Rolle. Vielleicht ist das ganz gut so: Chaplins Film Der Vagabund aus demsel-

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Florian Kappeler ben Jahr strotzt im Gegensatz zur Burlesque on Carmen vor antiziganistischen Klischees. Leo White, neben Chaplin Regisseur der Burlesque, spielt hier eine alte ‚Zigeunerin‘. Im Vordergrund steht Chaplins Befreiung einer von ‚Zigeunern‘ geraubten (!) hübschen Amerikanerin aus den höheren Klassen, die er schließlich heiratet. Der Film inszeniert die Möglichkeit sozialen Aufstiegs auf Kosten der ‚Zigeunergesellschaft‘, die als brutal und unzivilisiert dargestellt wird. Powrie et al. (wie Anm. 1), S. 55. Dasselbe gilt auch für die später weltberühmte Carmen-Darstellerin Pola Negri (eigentlich Barbara Apolonia Chalupiec), die in proletarischem Milieu in Polen aufgewachsene Tochter eines ungarischen Rom. Diese Herkunft inszenierte sie bereits durch den Künstlernamen und spielte in allen anderen frühen Filmen Außenseiterinnen, die u. a. mittels Kostümierung versuchen, Teil der herrschenden Gesellschaft zu werden (Powrie et al. (wie Anm. 1), S. 61). Ebd., S. 64u. Die großen Gesten beherrscht sie zwar auch, aber nur an Stellen, an denen deren Instrumentalität betont werden soll, so z. B. gegenüber dem Gefängniswärter. Ebd., S. 62o. Ebd., S. 65f.

Carmen als Silhouettentheater Lotte Reinigers Carmen (1933) von Alexandra Vasa Alles ist karikiert, aber mit so viel Feingefühl für den realen Charakter eines jeden Geschöpfs, daß die Akzentuierung nie zur Verzerrung wird. Rudolf Arnheim über die Kunst Lotte Reinigers

Carmen, ein Silhouettenfilm1 der Trickfilmkünstlerin Lotte Reiniger, wurde zwar am 9. Juni 1934 bei den Filmfestspielen in Berlin uraufgeführt, bis 1945 blieb die Berliner Vorstellung jedoch die einzige in Deutschland. Ein Jahr nach der Vorführung verließ die Filmemacherin das Land. Rückblickend begründete sie ihre Entscheidung: „Ich bin aus Deutschland weggegangen, weil mir diese Hitlerveranstaltung nicht passte und weil ich sehr viele jüdische Freunde hatte, die ich nun nicht mehr Freunde nennen durfte und das ging mir gegen den Strich“2. Die Erlaubnis, ihren Film zu realisieren, erhielt die Animationsfilmerin zudem nur, weil ihr Filmprojekt eine französische und keine deutsche Oper parodierte.3 Zur Herstellung ihrer Filme benötigte Reiniger eine Kamera mit „Einzelbildmechanik (Stop-motion)“4. Nachdem die erste Aufnahme geschossen war, wurden die gefilmten Objekte verändert, um im Anschluss erneut eine Aufnahme der Gegenstände herzustellen. Alfred Happ bemerkt in seinem Buch zu Lotte Reiniger: „Die Aufgabe des Trickfilmkünstlers ist es nämlich, Bewegungseindrücke hervorzurufen, ohne daß er eine Bewegung photographiert“5. Reiniger schildert ihre Arbeit folgendermaßen: Man nimmt eine […] Schattenfigur, doch ohne Führungsstäbe, und legt sie flach auf eine Glasplatte, die mit einem transparenten Pauspapier bedeckt ist. Dann sägt man ein Loch in den Küchentisch, ungefähr in der Größe der Glasplatte (moderne Küchen wollen sowieso keinen Küchentisch mehr!), bedeckt das Loch mit der Glasplatte, stellt eine Lampe unter das Loch, knipst die Lampe an und löscht alles andere Licht aus – und die Figur erscheint nun als reine Silhouette.6

Für die Herstellung ihrer Silhouetten-Filmfiguren verwendete sie „eine Kombination von Blei und Pappe“, um „bessere Bewegungsmöglichkeiten“7 zu erzielen. Die Figuren werden in einzelne Gliedmaßen aufgeteilt und ausgeschnitten. Anschließend werden die losen Kör-

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perteile durch Drahtscharniere verbunden.8 Mit der Technik des Scherenschnitts war Lotte Reiniger seit ihrer Kindheit vertraut. Als Jugendliche perfektionierte sie ihr Können, während der laufenden Theaterproben fertigte sie Porträts der Schauspieler an.9 Mit ihrem Talent steht sie in einer Traditionslinie weiblicher Künstlerinnen, die sich aufgrund ihrer begrenzten Produktionsmittel und Förderungen mittels dieser für Töchter aus bürgerlichem Hause typischen Fertigkeit einen alternativen Zugang zur Kunst verschaffen. Reiniger hebt die Schattenrisstechnik durch das Medium Film auf eine neue Ebene. 1926, nach drei Jahren kontinuierlicher Arbeit, stellte Reiniger ihren Film Die Abenteuer des Prinzen Achmed fertig. Heute gilt dieser als der „bedeutendste Beitrag Deutschlands zum Animationsgenre“10. Mit einer Länge von 66 Minuten ist Reinigers Prinz Achmed der „erste animierte Langfilm“11 der Welt. Erst elf Jahre später entstand Walt Disneys Snow White and the Seven Dwarfs. Während Lotte Reiniger ihren Achmed lediglich mit der Unterstützung eines fünfköpfigen Teams realisierte, arbeitete Disney für Snow White bereits mit einem Stab von 750 Mitarbeitern zusammen, die Produktionskosten des 84 Minuten langen Films betrugen rund zwei Millionen Dollar.12 Inspiriert zu ihrer Carmen hatte Reiniger die Schauspielerin Catherine Hessling, die vor allem durch ihre Rolle der Nana in Jean Renoirs Literaturverfilmung Nana von 1926 bekannt wurde. Der Regisseur und frühere Ehemann Hesslings stand ebenfalls Pate für Reinigers Carmen, er diente der Figur des Gastwirts als Vorlage. Die Silhouettenfigur, für die ihr Mann und Mitarbeiter Carl Koch Vorbild war, lässt Reiniger in der Stierkampfarena mit einem Fernglas den Kampf beobachten.13 Nana und Carmen gehören zweifelsohne mit zu den bekanntesten Repräsentantinnen der verhängnisvollen femme fatale.14 Dieser Frauentyp entsteht im „letzten Drittel des 19. Jahrhunderts“15. Gerd Stein erkennt in der femme fatale „eine Nachfahrin der romantischen Undine“, aber auch der „rasenden Weiber aus der Trauerspielliteratur des 18. Jahrhunderts“ und konstatiert eine Nähe zu „biblischen Skandalfiguren“ und „mythologischen Monstern“16. Gleichwohl ist die femme fatale ein Kunstprodukt ihrer Zeit, eine Reaktion auf den „Emanzipationsanspruch, den Frauen erstmals im 19. Jahrhundert nachhaltig anmelden, […] dieser Anspruch wurde als eine unerhörte Bedrohung empfunden“17. Diesem Entwurf einer weiblichen Hauptfigur scheint ihre verhängnisvolle Wirkung auf das männliche Geschlecht ebenso auf den Leib geschrieben zu sein wie ihr vorzeitiges, unfreiwilliges Ableben.

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Das „Opfer des weiblichen Körpers“ stellt nach Elisabeth Bronfen eine Gewalt dar, die dazu dient, „Instabilität in Stabilität“ zurück zu verwandeln.18 Carmen wird zwar in Reinigers Film nicht zur „Chiffre der kulturellen und sexuellen Untergangsvision“19, dennoch entwirft auch Reiniger eine Carmen-Figur, die, wie in der Literatur des 19. Jahrhunderts üblich, für „das extrem Gefährliche, Chaotische und Verführerische“20 steht. Reinigers ungewöhnliche Adaption des Stoffes unterscheidet sich nicht nur deutlich vom Ausgang in Mérimées Novelle und Bizets Oper21, sie widerspricht auch den melodramatischen Konventionen des eigenen Genres, für das der Filmkritiker M. Hiller den Grundsatz formuliert: „[D]ie Silhouettenfilme sind ja eigentlich alle Dramen, nur ganz wenige, die dem Stoff die Lustigkeit aus sich heraus geben“22. Reiniger durchbricht dieses sowohl gängige als auch erfolgreiche dramatische Schema. Ihre Hauptfigur aus Pappe und Blei bleibt unversehrt, selbst beim Stierkampf nimmt niemand, auch kein Tier, Schaden. Christel und Hans Strobel weisen in ihrem Buch Lotte Reiniger23 darauf hin, dass die Künstlerin auch in ihrem Film Der Heuschreck und die Ameise (1954) die traditionelle Narration verändert hat.24 Die im Sommer musizierende Grille, bei Reiniger aus „silhouettenfilmästhetischen Gründen“25 eine Heuschrecke, wird nicht wie bei Äsop26, hier übrigens ein Mistkäfer, in der kalten Jahreszeit für ihr Musizieren im Sommer bestraft, sondern von Freunden aufgenommen. Moralischer Verlierer ihrer Adaption ist die Ameise, erst der Großmut des Heuschrecks sorgt für ihre Integration in die tierische Gemeinschaft. Über die Frühphase der Filmrealisation ihrer Carmen bemerkte die Regisseurin: „Mit der Musik im Kopf bereiten wir ein Skript unserer Geschichte vor, das weitgehend auf unserer eigenen Erfindung beruht – eine Art von ‚Variation über das Thema‘ des vollständigen Originals“27. Mit ihrem knapp zehnminütigen Film kreiert die Filmemacherin nicht nur eine unterhaltsame Variante des Carmen-Mythos, sie variiert auch den Blickwinkel der Erzählperspektive. Carmen ist, anders als in Novelle und Oper, nicht nur die weibliche Hauptfigur, die Geschichte wird auch aus ihrer weiblichen Position von der Kamera eingefangen. Reinigers Carmen-Adaption beginnt mit dem imaginierten Blick aus dem Publikum auf eine Opernbühne, die der Animation entsprechend als Teil eines Silhouetten-Opernhauses gekennzeichnet ist. Die charakteristischen Attribute des Films sind emblematisch am unteren Rand des Films angezeigt. Der verschnörkelte Notenschlüssel ver-

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weist auf die musikalische Bearbeitung Peter Gellhorns28, die sich leitmotivisch an der Musik Bizets orientiert, ohne jedoch moderne musikalische Einflüsse auszublenden. Harriet Margolis beschreibt das musikalische Arrangement der Parodie: Instead of a full orchestra, Gellhorn relies mainly on a piccolo or two, some trumpets and percussion, a piano, guitar, violin, and an alto saxophone. His orchestra belongs to the era of jazz and tea dances, and to the Berlin avantgarde.29

So wie Reinigers Film als ganzer ein Bindeglied zwischen der Hochkultur der Oper und der Populärkultur des Films darstellt, ergänzen sich auch musikalisch beide Welten.30 Auf gesprochene Dialoge sowie Untertitel verzichtet Reiniger gänzlich, sodass Bild und Musik für den Zuschauer die einzige Orientierung bieten. Über die Stationen des Films schreibt Margolis: [T]he film divides the story into five sections. The music guides us through the transitions, announcing each new section with new music, or even a trumpet fanfare. The music also helps to make the first four sections coherent in that each has its own signature tune from the opera.31

Dass sich der Handlungsverlauf dem Publikum ohne weitere Hilfsmedien erschließt, ist dem enormen Bekanntheitsgrad der Oper geschuldet. Dem Werkzeug der Animation wird ebenfalls Tribut gezollt: Eine weiße Schere ist neben dem Notenschlüssel abgebildet. Auf dem Vorhang des Opernhauses ist zudem eine Lyra zu erkennen, das traditionelle antike Schulinstrument für Text und Musik.32 Ihre „Hauptarbeit“ bestand, so Reiniger, darin „wegzulassen, was nicht unbedingt nötig ist“33. Die Trickfilm-Pionierin entwirft ihre Carmen als smoking woman: einerseits eine Reminiszenz an ihre berühmten Vorgängerinnen, anderseits – und dies scheint bei Reiniger das stärkere Argument – eine Geste der selbstbewussten Frau. Carmen raucht und genießt ihre Zigarre, einer Marlene Dietrich gleich, allein und unabhängig. Die erste Einstellung des Films fokussiert eine auf einem Balkon stehende, eine überdimensionierte Zigarre rauchende Frau mit Kurzhaarschnitt und Fransenpony – Carmen. Reiniger verzichtete weitestgehend auf die Darstellung ihrer Carmen als ‚Zigeunerin‘, lediglich ihr breiter Fußreif kann als Reminiszenz gedeutet werden.34 Die Silhouette mit ihrer modischen Frisur scheint sich stark am emanzipatorischen Frauenbild der zwanziger Jahre zu orientieren. Das Tragen kurzer Haare galt als ein Merkmal der selbstbewussten,

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Abb. 1: Carmen raucht.

emanzipierten Frau, ebenso wie auch das Rauchen in der Öffentlichkeit. Adelheid Rasche bemerkt in ihrem Aufsatz „Der männliche Blick“35 Die Frauen hatten sich neue Rechte und Positionen erkämpft oder erobert. Nicht zufällig wurden nun die Röcke und Kleider erstmals in der Modegeschichte kürzer – zuvor war lediglich die Arbeitskleidung der Landfrauen und Arbeiterinnen wadenlang gewesen36.

Reinigers Silhouettenfigur Carmen trägt ihren Rock der Mode dieser Zeit entsprechend kurz. Selbst die Definition einer Garçonne lässt sich auf die Hauptfigur übertragen: „Jeune fille ou femme qui revendique ou prend les allures et libertés d’un garçon“37. Carmen wirkt gedankenverloren. Als sie die Fanfaren der Soldaten vernimmt, wird sie aus ihrem Tagtraum herausgerissen und aktiv, ohne Zaudern und Zögern springt sie von der Veranda einer spanischen Häuserkulisse auf die Straße. Sie unterscheidet sich optisch von einer Dreiergruppe Frauen, die ebenfalls auf die in die Stadt einziehenden Soldaten aufmerksam werden, einerseits durch ihre ärmliche Kleidung und ihre Barfüßigkeit, vor allem aber durch ihre Entschlossenheit zum Handeln. Während die weiblichen Kontrahentinnen den Soldaten lediglich zuwinken, also in einer höflichen weiblichen Passivität verweilen, ergreift Carmen die Initiative.

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Fuß und Fetisch Nach ihrem Sprung vom Balkon auf die Straße folgt Carmen dem mit einem überaus monströsen Degen ausgestatteten Don José in eine Bar. Die Silhouette des Soldaten kontrastiert durch ihre filigranen und femininen Gesichtszüge die moderne, unabhängige Hauptfigur. Lediglich sein Schnurrbart, der deplaziert wirkt, verleiht ihm ein männliches Aussehen. Carmen tanzt für Don José auf Barhocker und Tisch, wobei die Grazie ihrer Füße besonders hervorsticht: Fast scheint sie zu schweben, ihre Füße berühren den Boden kaum. Über dieses Körperteil als Fetisch männlicher Begierde bemerkt Gerhard Wolf in seinem Aufsatz „Verehrte Füße“38: „Die Füße sind dem Geschlecht, dem weiblichen zuvörderst, näher als Hände oder Augen, und insofern mit Tabus belegt, sind sie ‚Extremitäten‘ des weiblichen Organs“39. Nicht ihre optische Erscheinung, sondern ihr Tanz verführt den Soldaten, der zudem nach ein paar Gläsern nicht mehr nüchtern ist und bei seinen Bemühungen, der Tänzerin zu folgen, erst einmal stürzt. Gemeinsam verlassen beide die Stadt und damit deren Ordnung. Fern der spanischen Stadt sind die Gesetze und Normen der Zivilisation bedeutungslos. Hier gilt das Gesetz der Outlaws, das einer eigenen Logik folgt. Carmen ist nun nicht mehr die Außenseiterin, die sie in der Stadt repräsentiert, sondern Teil einer Gemeinschaft, die sich nicht um bürgerliche Konventionen schert. Im Schutz der Dunkelheit, die durch einen Sternenhimmel angezeigt wird, tanzen die Banditen und mit ihnen Carmen um ein Lagerfeuer. Carmen lockt Don José in eines der Zelte. Mit einem zögerlichen, schüchternen Fußscharren, gelingt es ihr, den Widerstand Don Josés endlich zu brechen. Eine Geste, die Reiniger den Bullen in der Arena später kopieren lässt. Erst diese Bewegung motiviert Don José dazu, sie in seine Arme zu schließen. Die Fußgeste Carmens signalisiert für ihn einen weiblichen Akt der Unterwerfung, er verkennt jedoch, dass es sich dabei lediglich um einen simulierten Akt handelt. Der Fuß markiert für Wolf zugleich das Gegenteil des Bauchs, ein plastisch durchgestaltetes Gebilde, unaufschließbare Form, dabei zugleich von extremer Feinnervigkeit wie potentieller ‚Rohheit‘ (Schmutz und Gewalt). Sie bieten sich dem Fetischisten zur oralen Fußpflege an […], stets aber bleibt die Bedrohung des Tritts.40

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Abb. 2: Carmen tanzt für Don José. Abb. 3: Carmen tanzt mit den Räubern. Abb. 4: Carmen und Escamillo

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Auch in der ersten Begegnung mit dem Matador Escamillo spielen Fußgesten eine wichtige Rolle: Escamillo stößt Carmen in den Schmutz. Als sie bereits am Boden liegt, deutet er mit seinem Fuß einen Tritt an. Analog zur Unschuldsgeste Carmens wird durch diese, jedoch nur angedeutete Geste männliche Herrschaft signalisiert, sie bleibt aber ebenfalls inszeniert wie bereits Carmens Fußscharren eine Unterwerfungsgeste nur nachahmt.

Kleider- und Rollentausch Als Don José aus seinem Rausch erwacht, ist Carmen samt seiner Kleidung verschwunden. Anstelle der stattlichen Uniform bleibt ihm nur noch die schäbige Kleidung eines Banditen. Da ihm auch sein Degen geraubt wurde, nimmt er nun einen Dolch an sich. Aus der monströsen Kriegswaffe ist die Waffe eines Banditen geworden. Die herrschende Norm, repräsentiert durch Don José als Mann und Soldat, ist empfindlich geschwächt. Es gelingt ihm nicht, seiner Rolle als Stifter der Ordnung nachzukommen. Mit seiner Uniform verliert er auch seine „Zugehörigkeit“ als Subjekt „zu einem sozialen Milieu“41. Ohne Uniform kann Don José nicht mehr in der Gewissheit agieren, Teil der Staatsmacht zu sein. Der Raub seiner Militärbekleidung impliziert für ihn auch den zumindest vorübergehenden Ausschluss aus einem Kollektiv. Dieser vollzieht sich wirkungsmächtiger als bei Mérimée und Bizet. Denn sowohl die literarische Vorlage als auch die Opernfassung stellen eine neue männliche Identität als Schmuggler bereit, auch wenn Don José „diese Rolle als kultureller Überläufer nur halbherzig wird ausfüllen können“42. Reiniger verzichtet auf die Aufnahme Don Josés in einen neuen Verband von Männern. In seinem der Lächerlichkeit preisgegebenen Aufzug bleibt die Silhouette auf sich gestellt und scheitert, zu schwach um den Mythos „der kollektiven Moral“43 aufrecht zu erhalten. Carmen tauscht, zurück in der Stadt, die geraubte Kleidung Don Josés, Symbol der männlichen Herrschaft und für Hierarchie und Ordnung, gegen das Kleid der Verführung. Als charakteristisches Accessoire bekommt sie vom Händler überdies einen Fächer überreicht. Die eingangs eher burschikos dargestellte Carmen erwirbt sich ihre weibliche Ausdruckskraft durch eine List. Dabei vollzieht Carmen einen zweifachen Rollentausch. Als Vertreterin einer unteren sozialen Schicht ist sie bemüht, „alle Möglichkeiten auszuschöpfen, sich aufzuwerten“44. Zugleich dient das neue Outfit dazu, „die sinnliche Prä-

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senz einer Person“45 zu erhöhen. Carmen setzt durch ihre Kleidung ein erotisches Signal. Der Kleiderwechsel markiert für beide Figuren eine Verschiebung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges. Während Carmen nun optisch nicht mehr von den Damen der besseren Gesellschaft zu unterscheiden ist, verliert Don José seine Stellung in dieser. Der Positionswechsel wird von Reiniger eindrucksvoll durch die Veränderung der Körperhaltung eingefangen. Während sich Carmen stolzen Schrittes als Mitglied der städtischen Ordnung bewegt, fällt Don José körperlich in sich zusammen, den Rücken gekrümmt. In ihrem neuen Gewand, bereits unbemerkt verfolgt von Don José, trifft sie in einer Straßenszenerie auf den stolzen Stierkämpfer. Carmen stellt sich Escamillo in den Weg, doch ihre Verführungskräfte beeindrucken den professionellen Kämpfer bei dieser ersten Begegnung nicht. Im Gegenteil, er stößt Carmen zu Boden und schreitet vorbei, die drei besser situierten Damen der Eingangssequenz in seinem Gefolge. Ihre ‚neuen Waffen einer Frau‘ versagen. Reinigers Silhouettenfilm unterscheidet sich auch an dieser Stelle von Mérimées Vorlage.46 Zu dieser Filmszene bemerkt Margolis: „It would seem that Carmen’s sexuality is potent where her femininity is not“47.

In der Arena Carmen folgt dem Torero, ihrerseits selbst verfolgt, in die Stierkampfarena. Parallel zur Eingangsszene befindet sich Carmen in der Position der Voyeurin und abermals wiederholt sie, nun aber auf der Flucht vor Don José, der sie mit einem Messer bedroht, ihren Sprung ins Ungewisse. Sie landet im Zentrum der Arena, vor sich den mächtigen Stier und vollführt wie bereits für Don José ihren Verführungstanz. Eine Blüte wird dabei zum zirkulierenden Objekt. Bei Mérimée von Carmen an Don José weitergereicht und Auslöser der fatalen Beziehung zu Carmen landet die Rose nun im Maul des Tieres. Der verführte Stier ergibt sich Carmen. Nach einem akrobatischen Sprung auf den Tierrücken reitet sie auf diesem balancierend durch die Arena. Durch Carmens Ritt auf dem Rücken des Stiers zitiert der Film auch den Mythos von der Entführung Europas.48 Aus der Prinzessin ist eine Diebin geworden, die sich, in Unterscheidung zum Mythos,

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Abb. 5 & 6: Carmen und der Stier. Abb. 7: Carmen, Escamillo und der Stier

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nicht mehr durch die Verwandlung des Zeus in einen Stier täuschen lässt, sondern selbst Bluffs provoziert. In der Arena triumphiert sie und gewinnt die Gunst des Publikums. Es ist ihr entschlossener Sprung ins Ungewisse, der sie direkt in den Mittelpunkt der Arena befördert. Der Kampf Mann gegen Bestie entfällt, der Stier verfällt der femme fatale. Maskuline Herrschaftsfantasien, repräsentiert durch die Figur Don Josés und das mit männlicher Potenz assoziierte Tier, verkehren sich oder laufen ins Leere. Der wilde Stier wird unter dem Einfluss Carmens zu einem handzahmen Geschöpf, Don José seiner militärischen Kleidung und phallischen Waffe beraubt. Der Torero lässt sich hingegen von den gefährlichen weiblichen Signalen weder blenden noch bezirzen, er scheint aus demselben Holz (Papier) gemacht zu sein wie die weibliche Hauptfigur. Beide Silhouettenfiguren provozieren die Verführung des anderen Geschlechts. Carmen durch ihren Tanz, der Torero durch seine Kampftechnik, die gleichfalls tänzerisches Potenzial besitzt. Dass beide Techniken einander entsprechen, verdeutlicht Carmens Stiertanz. Durch ihr tänzerisches Können gelingt es ihr, sich den Stier gefügig und untertan zu machen. Beide sind im weitesten Sinne im Showbusiness tätig, beide sind beim anderen Geschlecht erfolgreich: Carmen als Verführerin von Mann und Tier, Escamillo als Torero, der von den Frauen als Sieger in der Arena bewundert wird. Kurzum: Verführung, Tanz und Gefahr sind das Metier beider. Reiniger entwirft in ihrem bezaubernden Spiel der Silhouetten eine Partnerschaft unter gleichstarken Partnern. Ihre Variation des Mythos reflektiert den Blick einer modernen Filmemacherin, die ihre filmischen Ideen mit, aber auch gegen männliche Perspektiven behauptet. Die Konstellation Carmen – Don José – Escamillo ist eine Dreiecksbeziehung, die bei Reiniger in einer neuartigen Dreieckskonstellation ihr Happy End findet: Carmen, Escamillo und der im Tanz unterworfene Stier verlassen gemeinsam die Arena. Damit parodiert der Silhouettenfilm das Genre der Oper, wo Eifersucht und Gefühlschaos für gewöhnlich auf Mord oder Selbsttötung hinauslaufen. Zugleich nimmt die Regisseurin in ihrem Film die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Parodie auf, bedeutete es doch „ein Lied komisch nachahmen, verspotten“49. Reiniger gestaltet Don José als einen ‚spanischen Macho‘, der nicht aus verschmähter Liebe zur Waffe greift, sondern aus gekränkter Eitelkeit. Er kann nicht verwinden, dass Carmen sich nicht für ihn als Liebhaber interessiert und sich seiner lediglich aus niederen Be-

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weggründen annimmt. Zugleich muss die Figur mit der Schmach leben, die weibliche List nicht beizeiten erkannt zu haben. Auch die leidenschaftliche femme fatale erscheint in einem ungewöhnlichen Licht. Ihre Verführungskünste schöpft sie nicht aus der Inszenierung des weiblichen Körpers mittels schöner Kleider, sondern aus ihrem Wesen. Sie fasziniert durch ihr Können und ihren Charakter. Doch auch Carmens Aktivitäten werden von Reiniger ironisch kommentiert. Ihre Bereitschaft, den eigenen Köper für das Versprechen luxuriöser Kleidung darzubieten, wird zu einer überflüssigen Handlung, da sie wirkungslos bleibt. Margolis bemerkt: Carmen’s sexuality derives from her physical activity and her physical power. That is the same source on which Escamillo draws for his attraction. In other words, gauged in terms of sexuality, they are equals.50

Der von vielen Frauen bewunderte Matador vergisst, fasziniert von Carmen, seine Profession, das Töten. Carmens Tanz mit der Bestie in der Stierkampfarena lässt sich letztlich auch als die Eroberung einer männlichen Domäne mit weiblichen Mitteln lesen. Der Stier könnte auch als eine Metapher des Mediums Film gedeutet werden, dem Reiniger als Urheberin des ersten abendfüllenden Trickfilms ihre eigene Perspektive einschreibt.

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Lotte Reiniger unterscheidet zwischen Silhouetten- und Schattenfilm: „Der wesentliche Unterschied zwischen einer Silhouette und einem Schatten ist nun, daß die Silhouette nicht verzerrt werden kann. […] Die Silhouetten existieren aus sich selbst heraus. Schatten hängen vom Licht ab, aber unter einer Silhouette versteht man immer einen scharfen Umriß im reinen Profil“ (Lotte Reiniger: Schattentheater, Schattenpuppen, Schattenfilm. Tübingen 1981, S. 13f.). Den Begriff der „Silhouette“ führt Lotte Reiniger auf eine spöttische Bezeichnung für den Pariser Finanzminister Etienne de Silhouette (1759) zurück. Seine eisernen Sparmaßnahmen sorgten dafür, dass alles, was „minderwertig und billig war“, von der Bevölkerung als „silhouette“ bezeichnet wurde. Zeitgleich kamen „schwarze, kleine Scherenschnitt-Porträts in Mode. […] Ihre Billigkeit reizte die Pariser zum Vergleich mit den ökonomischen Maßnahmen des Etienne de Silhouette. […] Daß der Marquis selber begeistert Silhouetten schnitt, mag ebenfalls zu seiner unerwarteten Unsterblichkeit beigetragen haben“ (Ebd., S. 11f.). Walter Schobert: „Gespräch mit Lotte Reiniger in London am 21.08.1969“. In: Lotte Reiniger, David W. Griffith, Harry Langdon (Hrsg.): Dokumentation Kommunales Kino. Frankfurt 1972, S. 99. Zit. nach Alfred Happ: Lotte Reiniger. Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst, Tübingen 2004, S. 41. Vgl. ebd., S. 44. Reiniger (wie Anm. 1), S. 91. Happ (wie Anm. 2), S. 143. Reiniger (wie Anm. 1), S. 92. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 103. Vgl. Andreas Platthaus: „Die Abenteuer des Prinzen Achmed”. In: Andreas Friedrich (Hrsg.): Filmgenres. Animationsfilm, Stuttgart 2007, S. 41-46, hier S. 42. Ebd., S. 41. Ebd. Andreas Friedrich, Dominique Henz: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. In: Friedrich (wie Anm. 9), S. 63-67, hier S. 63. Happ (wie Anm. 2), S. 44. Beide Figuren entstammen der Vorstellungsgabe französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Zwischen der Veröffentlichung von Mérimées Novelle Carmen im Jahr 1845 und der Veröffentlichung von Zolas Roman Nana 1880 vergehen fünfunddreißig Jahre. Die femme fatale ist in der Zwischenzeit aus der Fremde in die Hauptstadt Paris eingezogen. (Prosper Mérimée: Carmen. Novelle, Stuttgart 2005; Emile Zola: Nana. Berlin 1960). Gerd Stein: „Vorwort“. In: ders.: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft, Frankfurt a. M. 1984, S. 11-22, hier S. 11. Ebd., S. 12. Ebd.

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Alexandra Vasa Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994, S. 282. Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 103-129, hier insbesondere S. 106. Bronfen (wie Anm. 18), S. 263. Georges Bizet: Carmen. Oper in drei Akten, Text v. Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach der Novelle von Prosper Mérimée, Uraufführung in Paris am 3. März 1875. M. Hiller: „Der Silhouettenfilm“. In: Der Kinematograph (Nr. 881), 06.01. 1924, S. 7-8. Zit. nach: Deutsche Kinemathek Berlin unter der Mitarbeit v. Werner Dütsch: Lotte Reiniger. Berlin 1969, S. 7. Christel Strobel, Hans Strobel: Lotte Reiniger. Materialien zu ihren Märchenund Musikfilmen, Duisburg 1988. Vgl. ebd., S. 44f. Ebd., S. 46. Vgl. Äsop: „Die Ameise und der Mistkäfer“. In: ders.: Fabeln. Düsseldorf, Zürich 2005, S 117. Lotte Reiniger, Carl Koch: „Unser Metier“. In: John Halas, Roger Manvell: (Hrsg.): The Technique of Film Animation. London 1959, S. 279-286. Zit. nach: Deutsche Kinemathek Berlin (wie Anm. 22), S. 15. Der Komponist verwendete für diese und weitere Arbeiten mit Lotte Reiniger das Pseudonym Hans Gellhorn. Harriet Margolis: „Shadow and Substance: Reiniger’s Carmen Cuts Her Own Capers“. In: Chris Perriam, Ann Davies (Hrsg.): Carmen. From Silent Film to MTV, Amsterdam/New York 2005, S. 61-74, hier S. 64. Vgl. ebd., S. 65. Ebd. Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl. Berlin/New York 2002, S. 586. Lotte Reiniger: „Wie ich meine Silhouettenfilme mache“. In: Strobel, Strobel (wie Anm. 23), S. 13. In der Novelle antwortet Carmen auf die Frage nach ihrer Herkunft: „Gehen Sie, gehen Sie; Sie sehen doch, daß ich Zigeunerin bin“ (Mérimée (wie Anm. 14), S. 20). Das Äußere Carmens beschreibt die männliche Erzählinstanz im Folgenden: „Ihre Augen waren schräg. […] Ihr vielleicht etwas zu starkes Haar war schwarz, lang und glänzend, mit bläulichem Schimmer wie Rabenflügel. […] Es war eine seltsame und wilde Schönheit“ (Ebd., S. 21). Adelheid Rasche: „Der männliche Blick. Das Bild der ‚Neuen Frau‘ in Männer-Zeitschriften“. In: Stefanie Bung, Margarete Zimmermann (Hrsg.): Garçonnes à la mode im Berlin und Paris der zwanziger Jahre. Göttingen 2006, S. 118-132. Ebd., S. 120. Art. „Garçonne“. In: Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue du XIXe et du XXe siècle (1789-1960), Bd. IX, Paris 1981, S. 81. Zit. nach: Stephanie Bung, Margarete Zimmermann: „Von Paris nach Berlin: Victor

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Marguerittes La Garçonne und die Folgen“. In: dies. (wie Anm. 35), S. 7-27, hier S. 21. Gerhard Wolf: „Verehrte Füße. Prolegomena zur Geschichte eines Körperteils“. In: Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hrsg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 500-523. Ebd., S. 500. Ebd., S. 517. Lutz Hieber: „Wozu Mode? Funktionen der Kleidung“. In: ders., Andreas Urban (Hrsg.): Körperformen. Mode macht Erotik, Katalog zur Ausstellung im Historischen Museum Hannover vom 31. August 2008 bis 1. Februar 2009, S. 16-25, hier S. 19. Hölz (wie Anm. 19), S. 123. Bronfen (wie Anm. 18), S. 265. Hieber (wie Anm. 41), S. 20. Ebd., S. 23. Die Kostümierungen Carmens erscheinen in der Novelle als eine Abfolge von erfolgreichen Inszenierungen. Vgl. exemplarisch die Aussage Don Josés: „Es war Carmen, aber so gut verkleidet, daß ich sie, in einer anderen Sprache, nicht erkannt hätte.“ (Mérimée (wie Anm. 14), S. 53). Margolis (wie Anm. 29), S. 71. Hans-K. Lücke, Susanne Lücke: Antike Mythologie. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 717ff. Kluge (wie Anm. 32), S. 682. Margolis (wie Anm. 29), S. 71.

Carmen, eine weiße Fantasie Alterität und Hegemonie in Otto Premingers Carmen Jones (1954) von Julia Eckhoff I. Am 17. Mai 1954 wurde in den Vereinigten Staaten ein bedeutendes Urteil gesprochen. Im Fall „Brown vs. Board of Education“ erklärte das US Supreme Court, dass die Segregation in US-amerikanischen Schulen dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung widerspreche und folglich aufzuheben sei. Dieses Urteil bedeutete einen wichtigen Schritt im Kampf der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Rassismus und rassistische Ausgrenzung in der US-amerikanischen Gesellschaft. Im gleichen Jahr legte Otto Preminger in Zusammenarbeit mit 20th Century Fox eine Carmen-Fassung vor, die in sehr eindrücklicher Weise von den in Bewegung geratenen Verhältnissen zeugen sollte. Carmen Jones, ein ausschließlich weiß1 produzierter Opernfilm mit ausschließlich Schwarzer Besetzung, erzählt die Geschichte um Carmen als eine „thoroughly American story“2 – und kreist unzweifelhaft um die Frage, welche Position der afroamerikanischen Bevölkerung in der USamerikanischen Gesellschaft aus einer weißen Perspektive zukommen solle, dürfe und könne. Es ist ein hochgradig ambivalenter Film, der in liberaler Absicht mit rassistischen Vorstellungen in problematischer Weise hantiert und dabei unterschiedlichste Bedeutungen und Effekte produziert. Nicht ohne Grund wurde Carmen Jones häufig als „landmark […] in the history of black representation in the cinema“ bezeichnet, und das in positiver wie negativer Hinsicht.3 Dieser Film eröffnete neue Rollen für Schwarze Schauspieler_innen und brachte die erste Generation Schwarzer Hollywoodstars hervor. Die Hauptdarstellerin Dorothy Dandridge erhielt als erste Afroamerikanerin eine Oscar-Nominierung als „best actress“.4 Carmen Jones sollte Schwarze Figuren in neuer Weise gestalten und zeigte vorrangig rassistische Stereotype. Während der Film dafür gerade von Schwarzen Personen sehr stark kritisiert5 wurde, begrüßten ihn weiße Personen vielerorts als bedeutenden Schritt in der filmischen Repräsentation von Afroamerikaner_innen.

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II. Otto Preminger orientierte sich in der Gestaltung von Carmen Jones nicht nur an den beiden Carmen-Originalen: Prosper Mérimées Novelle und Georges Bizets Oper. In Idee und Konzeption ging der Film unmittelbar auf ein von Oscar Hammerstein II. konzipiertes und von Billie Rose produziertes Musical gleichen Namens zurück, das von 1943 bis 1945 am Broadway, später im Rahmen einer Tournee in vielen Städten der USA von weißem Publikum und Presse gleichermaßen gefeiert worden war.6 Es gilt nicht nur als das teuerste und aufwendigste Musical der vierziger Jahre, sondern mit über 500 ausverkauften Vorstellungen auch als eines der erfolgreichsten. Carmen Jones war ein nationales Projekt, antwortete auf verschiedene Stimmen und Fragen, die gerade zur Zeit des Zweiten Weltkriegs laut geworden waren und in Forderungen nach einer eigenen US-amerikanischen Kulturform kulminierten, die zugleich qualitativ hochwertig, jedoch nicht elitär, vielmehr demokratisch und modern sein sollte. Hammerstein hatte Bizets Oper Carmen in eine neue Form und mit einem Ensemble von über hundert Schwarzen Sänger_innen auf die Musicalbühne gebracht. Die Geschichte hatte er in die Vereinigten Staaten seiner Gegenwart transferiert und in einen als ,afroamerikanisch‘ konstruierten Kontext ,integriert‘. Alle Texte hatte er in die englische Sprache übersetzt, genauer noch, in einem als ,afroamerikanisch‘ konstruierten Englisch verfasst. Als in vielerlei Hinsicht amerikanisierte Fassung eines kanonisierten Stoffs der europäischen sogenannten ‚Hochkultur‘ präsentierte sich Carmen Jones als Träger der US-amerikanischen Vision: Mit Bizets Carmen, gesungen von afroamerikanischen Personen – die sich dafür nach den rassistischen Kategorien der weißen Produzenten besonders eigneten und der Neufassung ein Moment von ‚Authentizität‘ verleihen würden –, zelebrierte sich das weiße ,Amerika‘ als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Carmen Jones trat an als Beweis der Vielfalt an Talenten und Fähigkeiten einheimischer Menschen, als Ausdruck der Möglichkeit zu sozialer Mobilität und als Zeichen der Heterogenität der US-amerikanischen Gesellschaft, die an den Schwarzen Darsteller_innen vermeintlich unmittelbar abzulesen sei. Rassismus war für diese Produktion konstitutiv – in und mit dem Stück wurde ‚Alterität‘ gezielt hergestellt. Die stereotype rassistische Zeichnung der Figuren verwies afroamerikanische Personen auf den Platz der ‚Anderen‘ der US-amerikanischen Gesellschaft und legitimierte die weiße Vorherrschaft. Gleichzeitig eröffnete Carmen Jones Schwarzen Künstler_innen,

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denen zu dieser Zeit noch die meisten Opernbühnen verschlossen waren, eine Möglichkeit zu einer „professionellen Opernidentität“ im Rahmen einer hochrangigen und gesamtgesellschaftlich anerkannten Produktion.7 Knapp ein Jahrzehnt später – in einer Situation, in der die Kämpfe um eine Umgestaltung der US-amerikanischen Gesellschaft deutlich an Brisanz gewannen – arbeitete Otto Preminger an einer Wieder-Holung des erfolgreichen Unternehmens Carmen Jones. Dass dieser Film nicht nur eine ähnliche Konzeption und Stoßrichtung, sondern auch eine vergleichbare Problematik aufweisen sollte, mag schon der Originaltrailer anzeigen, der ihn ankündigte als „operatic masterpiece with a new modern story of the exciting people and colorful places of America“8. Seine Modernität markierte Carmen Jones bereits in technischer Hinsicht: Der Film präsentierte sich in Technicolor – er kann damit als die erste Farbfilmfassung des Carmen-Stoffes gelten9 – und im Breitbild-Format. Preminger folgte Hammerstein sowohl in der Entscheidung, Bizets originale Partitur zum Einsatz zu bringen, als auch darin, mit ausschließlich Schwarzen Schauspieler_innen zu arbeiten. Hammersteins Liedtexte übernahm er ohne Veränderungen, das heißt auch hier wurde Oper in einem als ,afroamerikanisch‘ konstruierten Englisch geboten. Und im Wesentlichen erzählt Preminger dieselbe Geschichte: Auch seine Carmen Jones ist verortet in den Vereinigten Staaten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, in einem als ,afroamerikanisch‘ konstruierten Kontext. Die Titelfigur – die, das macht die Ergänzung eines Nachnamens klar, ihren Platz im Mythos für ein Leben in den USA aufgegeben hat – arbeitet in der Kriegsindustrie. Die Fallschirmfabrik, die Carmen Jones jedoch nur gelegentlich aufsucht, ist auf dem Gelände eines Stützpunkts der US-Armee in einem nicht näher bestimmbaren Ort in einer ländlichen Region der Südstaaten gelegen. Dort trifft sie ihren Don José, den aufstrebenden GI Joe, der sich zunächst weniger für sie als für die Aussicht begeistert, in naher Zukunft die Fliegerschule besuchen zu dürfen. Keine Frage, dass sich dieser Plan nicht erfüllt. Joe wird Carmen verfallen – und, nach einer zusammen verbrachten Nacht und einem gewalttätigen Angriff auf seinen Vorgesetzten, den Carmen mitprovoziert, desertieren. Die gemeinsame Flucht nach Chicago, zu der Carmen drängt, wird ihn in eine desolate Lage führen und für sie mit ihrem Tod enden: Nach einem siegreichen Kampf des Preisboxers Husky Miller, der den Torero Escamillo als neue Bekanntschaft Carmens ablöst, wird Joe sie erwürgen.

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Preminger veränderte das Konzept Hammersteins nur in wenigen, jedoch nicht unwesentlichen Aspekten. Er verfasste neue Dialoge und füllte die narrativen Lücken des Musicals zwischen den einzelnen Teilen, die den vier Akten der Oper entsprachen, mit zusätzlichen Szenen, für die er auch Anleihen bei Mérimée vornahm.10 Damit akzentuierte er Hammersteins Geschichte in einer Weise neu, die deutlich auf die Fragen und Themen seiner Zeit verweist. Premingers Neuauflage des nationalen Projekts Carmen Jones zielte nicht nur auf eine Reaktivierung der optimistischen Vision der USamerikanischen Gesellschaft, sie verhandelte in erkennbarer Weise auch die Bestrebungen und Schwierigkeiten der afroamerikanischen Bevölkerung im Versuch der Integration und des sozialen Aufstiegs in der Nachfolge des Zweiten Weltkriegs.

III. Otto Preminger wieder-holte mit Carmen Jones aber nicht nur das elf Jahre alte Projekt Hammersteins, er wieder-holte damit zugleich eine wesentlich ältere Geschichte. Mit Carmen machte sich Preminger einen Stoff zu eigen, der nicht nur prominent Konflikte um Alterität und Hegemonie über Bewegungen des Auf- und Abstiegs thematisiert, sondern der sich zudem affirmativ auf das Konstrukt der ,Anderen‘ bezieht. Diese Problematik des Stoffs spiegelte und verdoppelte sich noch in und mit der Entscheidung zur Formatierung des Films als All-Black. Preminger legte, wie Hammerstein vor ihm, großen Wert darauf, in Carmen Jones ausschließlich mit Schwarzen Darsteller_innen zu arbeiten, und hielt konsequent, trotz damit verbundener Schwierigkeiten, eine Finanzierung für das Projekt zu finden, an diesem Aspekt der Konzeption fest.11 Mit dem spezifischen Format des Films zielte er zum einen auf die konkrete Unterstützung von afroamerikanischen Schauspieler_innen, denen er Arbeitsmöglichkeiten und das in neuen, hochkulturell codierten Rollen eröffnen wollte.12 Zum anderen ging es ihm darum, in und mit seinem Film Schwarze Menschen in einer bestimmten Weise sichtbar zu machen: This was really a fantasy, as was Porgy and Bess (1959). The all black world shown in these films doesn’t exist, at least not in the United States. We used the musical-fantasy quality to convey something of the needs and aspirations of colored people.13

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Preminger wollte mit Carmen Jones eine Geschichte über Afroamerikaner_innen erzählen14 und entwarf dazu ein Szenario, in welchem keiner einzigen weißen Person eine Rolle zukam.15 Robert Stam und Louise Spence haben darauf hingewiesen, dass die Präsenz weißer Figuren die tatsächlichen Machtverhältnisse evoziert und damit jene konstruierte All-Black-Fantasiewelt unweigerlich zerstört hätte.16 Mit und in seinem Film arbeitete Preminger engagiert an einem weißen Entwurf von Schwarz-Sein – unter expliziter Ausblendung der weißen Hegemonie sowie des Rassismus, des Verhältnisses, von dem die Realität von Schwarzen Menschen und weißen Menschen in den USA wesentlich geprägt war und ist. Das Format des Films wurde von afroamerikanischen Personen und Organisationen prominent kritisiert. So sprach sich beispielsweise Walther White, der Präsident der NAACP17, dem Preminger das Script noch vor Drehbeginn auf Anraten von 20th Century Fox mit der Bitte um eine kritische Prüfung vorlegte, explizit gegen diesen Aspekt der Konzeption aus. Er machte deutlich, dass das All-BlackFormat von Carmen Jones dem Ziel der Integration von Afroamerikaner_innen in die US-amerikanische Gesellschaft diametral entgegenstand.18

IV. Carmen Jones ist unzweifelhaft eine Fantasie – doch eine Fantasie, die keineswegs ohne Bezug zur Realität auskommen will. Auffällig ist, dass diverse Motive der Geschichte auf konkrete gesellschaftliche Umstände und Entwicklungen in den USA der vierziger und fünfziger Jahre verweisen. Viele solcher Elemente des Narrativs korrespondieren mit konkreten Bewegungen, über die Afroamerikaner_innen in dieser Zeit ihre Lebensumstände zu verbessern versuchten: So ruft beispielsweise Carmens und Joes Flucht nach Chicago die Second Great Migration auf, in der viele Afroamerikaner_innen die Südstaaten in der Hoffnung verließen, in den nördlichen Städten Arbeit und bessere Existenzbedingungen zu finden. Diese Realität bleibt in Carmen Jones jedoch lediglich evozierte Folie. Sie hat keinen Einfluss auf den Handlungsverlauf und wird auch von den Figuren nicht reflektiert. Jene Handlungsmomente, welche die Geschichte in ein Verweisverhältnis zur afroamerikanischen Lebensrealität setzen, trennen sie zugleich auch von ihr: Die Verwebung in die Carmen-Fantasie entkleidet sie ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs. So hat der

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Aufbruch nach Chicago seinen Grund etwa im Fluchtmotiv der Carmen-Story und nicht in schwierigen Lebensbedingungen in den Südstaaten, welche im Film vielmehr als harmonische Kulisse dienen. Auf dieser Kulisse spiegelt sich dann noch einmal das zentrale Thema des Films: Bewegung. „Premingers visual narrativ puts particular emphasis on vehicle of transportation as signifiers of social mobility“19. Autos, Züge, aber auch Straßen und Weggabelungen pflastern Carmen Jones den Weg. Der allerdings in eine festgelegte Richtung führt. Carmen und Joe sind erkennbar als die zentralen Figuren des Carmen-Stoffs in Szene gesetzt und durchlaufen auch hier alle mythischen Stationen ihres Liebes- und Leidenswegs. Auffällig ist, dass sie etwas genauer und in einigen Aspekten anders entwickelt sind als in den Originalen: Joe, der die Absicht verfolgt, die militärische Fliegerschule zu besuchen, scheint – anders als Don José – alle charakterlichen Voraussetzungen für einen gelingenden Aufstieg zu erfüllen. Er hat keine zweifelhafte Vergangenheit, zeigt sich rational, pflicht- und verantwortungsbewusst und ist seiner braven Verlobten Cindy Lou außerordentlich treu ergeben. Carmens offensive Annäherungsversuche lassen ihn völlig unbeeindruckt, erscheinen ihm gar lästig. Er beginnt sich erst für sie zu interessieren, als sie eine hausfräuliche, mütterliche und sittliche Seite offenbart. Carmen Jones ist eine uneindeutigere Figur und verweist bereits darin natürlich auf ihre Vorgängerin. Anfänglich ist sie explizit als „Carmen“ in Szene gesetzt: in rot-schwarzem Dress flirtend und kämpfend zeigt sie, anders als Joe, weder Pflichtbewusstsein noch Tugendhaftigkeit. Schon bald jedoch will sie Joe ein Abendessen zubereiten und wird ihn verführen, indem sie ihm die Schuhe putzt und den Gürtel richtet. Durch den Kontakt zu Joe scheint sie verwandelt und zeigt sich „as a woman with domestic qualities, sensitive and generous, who sacrifies herself to her man. […] This is far cry from Bizet’s heroine who accepts death as the price for her personal freedom.“20 In beiden Hauptfiguren von Carmen Jones scheinen deutlich weiße bürgerliche Werte auf. Darin heben sie sich nicht nur von ihren Vorgänger_innen, sondern auch von den rassistischen Stereotypen ab, entlang derer Schwarze Figuren in weiß produzierten Filmen auch der fünfziger Jahre nahezu ausschließlich gestaltet waren. Preminger arbeitete in Carmen Jones erkennbar an einem veränderten Bild von ‚Alterität‘. Joe fungiert hier offensichtlich als Repräsentant der Bestrebungen der afroamerikanischen Bevölkerung um sozialen Aufstieg. Seine Zeichnung als „Good Guy“ weist – in seiner Zeit bahnbrechend –

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seine Aufstiegsabsicht als legitim aus.21 Und Carmen Jones zeigt sich zunehmend als eine Figur, die ihm zu ,entsprechen‘ scheint. Doch obgleich sich beide ,verändert‘ haben mögen, ihre Geschichte hat es nicht – und sie ist keine eines gelungenen Aufstiegs, sondern die eines Untergangs. Auch diese Carmen-Fassung bleibt für die Protagonist_innen ohne Happy End – bietet sie damit eine implizite Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen selbst Personen, die sich strebsam und tugendhaft zeigen, aufs Scheitern verlegt sind? Vielleicht – doch näher legt Carmen Jones eine andere Spur. Die Fragen, mit denen Carmen Joes ersten Kuss provoziert – „Still don’t trust me, huh? Or don’t you trust yourself?“ 22 –, mögen es anzeigen: Die Figuren sind sich ihrer ,Veränderung‘ (um nicht zu sagen ,Verbesserung‘) selbst nicht sicher – und scheinen letztlich auch gar nicht anders zu können, als ihre Geschichte zu wiederholen. An allen entscheidenden Weggabelungen werden Carmen und Joe mit kurzer Verzögerung und aus etwas anderen Gründen die „old road“ 23 wählen und damit ihrem Ende Stück um Stück näher kommen. 24 Auch wenn sich am Film ablesen lässt, dass Preminger den Carmen-Stoff auszureizen und mit seinen Figuren auch deren Handlungen und die Entwicklungen etwas anders zu motivieren suchte, so hielt er mit dem Originalverlauf der Geschichte an einem Ablauf fest, den die Protagonist_innen selbst bedingen. In allen entscheidenden Situationen scheinen in Carmen Jones damit doch wieder die ,alten‘ Figuren ,durchzubrechen‘. Das ,tragische‘ Ende des Films erscheint als Niederlage von Carmen und Joe in ihrer Veränderung: beim Versuch einer weiß-Werdung – die sie deshalb nicht schaffen können, weil sie doch nicht die notwendigen Fähigkeiten bzw. das entsprechende ,Wesen‘ dazu besitzen. Carmen Jones zeigt ihren Untergang als Scheitern an sich selbst im Bestreben, etwas sein zu wollen, was sie nicht sein können: weiß.25

V. Die Konzeptionalisierung einer Verweißung von Carmen und Joe vollzieht und verdoppelt sich auf einer weiteren Ebene des Films: Jener der Musik. Preminger legte, wie Hammerstein vor ihm, großen Wert darauf, in Carmen Jones die originale Carmen-Partitur Bizets zum Einsatz zu bringen,26 und sah zunächst vor, dass die Schauspieler_innen die Opernstücke selbst sängen. Für die Hauptrollen wurden mit Dorothy Dandridge und Harry Belafonte dann auch zwei populäre

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Sänger_innen besetzt, die jedoch keinerlei Erfahrung mit Operngesang vorzuweisen hatten. Kurz vor Drehbeginn – Dandridge und Belafonte erarbeiteten sich bereits die Partitur – entschied sich Preminger zur Synchronisation ihrer Stimmen durch (weiße) Opernsänger_innen: „Even though both were singers, they were not able to sing an operatic score, so I auditioned young singers, most of them still in school, to record the songs.“27 Mit der Entscheidung zur Synchronisation28 schien Preminger sicherstellen zu wollen, dass Carmen Jones die ,Qualitätsstandards‘ der Oper erfülle. Die Synchronisation war ein zentraler Aspekt der öffentlichen Präsentation und Wahrnehmung des Films: Unlike other dubbed performances in Hollywood musicals, which were typically uncredited, the voices of […] [the leads] were featured in the film’s opening credits and were mentioned in nearly all of the film’s reviews.29

Während durch den expliziten Verweis auf die Synchronisation der Vorstellung, die gehörten Stimmen stammten tatsächlich von den sichtbaren Personen, gezielt entgegengewirkt wurde, war doch hinter den Kulissen intensiv daran gearbeitet worden, eine vermeintlich ‚authentische‘ Verbindung zwischen Personen und Stimmen zu konstruieren. So berichtet Marilyn Horne, welche die Carmen sang, in ihrer Autobiographie: Even though I was at that time a very light lyric soprano, I did everything I possibly could to imitate the voice of Dorothy Dandridge. I spent many hours with her. In fact, one of the reasons I was chosen to do this dubbing was that I was able to imitate her voice had she been able to sing in the proper register.30

Die Bemühungen Hornes – die besonders aussagekräftig erscheinen vor dem Hintergrund, dass sich Dandridge selbst erst eine bestimmte Sprechweise aneignete, um für die Rolle der Carmen besetzt zu werden –, fanden ihre Entsprechung in Dandridges Engagement, die Lippen- und Kehlkopfbewegungen Hornes zu kopieren.31 Solcherart Authentifizierungsstrategien korrespondieren mit der artifiziellen Sprache der (Lied)Texte, über die ein ähnlicher Effekt produziert werden sollte. Preminger zielte mit seinem Projekt auf die Inszenierung einer Transgression: Die weiß konnotierte Oper sollte in vermeintlich afroamerikanischer Weise gesungen werden. Durch die Synchronisation blieb gerade der mit ‚Anspruch‘ assoziierte Part, nämlich der Operngesang, weiß. Carmen Jones, darauf hat Jeff Smith hingewiesen, „creates the curious spectacle of a black actress voiced by a white singer trying to sound black“32. Obgleich sich der Konstruktionscharakter der angebotenen Dichotomie dem Film in gewisser Weise ent-

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nehmen lässt, transportierte er doch prominent die Botschaft, dass eine tatsächliche Transgression gerade deshalb nicht möglich ist, weil die ,Fähigkeiten‘ der gezeigten Personen dazu nicht ausreichten. Dem Einsatz der originalen Carmen-Oper in Carmen Jones kam die Funktion zu, die weiß-Werdung von Joe und Carmen auf einer weiteren Ebene zu vollziehen und zu markieren. Da die Protagonist_innen im Narrativ jedoch scheitern, verdoppelt sich mit der Synchronisation der Stimmen ihrer Schauspieler_innen noch dieser Aspekt der Konzeption.

VI. Besonders anschaulich wird die Verdopplung der Konzeption über die Ebenenkombination vor dem Hintergrund, dass in Carmen Jones keineswegs alle Schauspieler_innen synchronisiert wurden.33 Pearl Bailey, welche Frankie, eine der beiden Freundinnen Carmens, darstellte, sang mit ihrer eigenen Stimme, obwohl sie keine Opernsängerin war.34 Ihre Gesangpartien wurden vielmehr an ihre Stimmlage angepasst. Sie hat einen großen Auftritt im Film. Das Lied, das sie performt, trägt den signifikanten Titel „Beat out that Rhythm on a Drum“35 und ist die Entsprechung zum sogenannten „Zigeunerlied“ bei Bizet – Carmens Lied. Und hier wie dort erfüllt es dieselbe Funktion. Pearl Bailey’s performance […] brings together several signifiers of ,blackness‘ as it was understood within post-war American culture. The tune’s self-consciously ,primitive‘ rhythm, the lyrics’ references to African jungles, the wild dancing, the linkage between musical and bodily expressiveness, and the inclusion of obvious, if brief, elements of African-American musical performance styles all serve to link African-American culture with the culture of its origins, which, according to the song, may be found in the deepest regions of the so-called dark continent. By conforming to the most obvious stereotypes about African-American culture as earthier, more sensual, more libertine, more natural, ‚Beat out Dat Rhythm‘ functions to establish the exoticism and otherness of African-American culture […].36

Preminger positionierte an prominenter Stelle im Film mit Frankie eine Figur, deren Performance in ihrer rassistischen und exotistischen Gestaltung nicht nur an die originale Carmen-Szene, sondern auch an solcherart musikalische Zwischenauftritte denken lässt, die afroamerikanischen Sänger_innen in sonst weiß besetzten weiß produzierten (Musical)Filmen regelmäßig zukamen.37 Frankie ist hier die Position

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der ‚Anderen‘ zugewiesen – und deshalb sang Pearl Bailey keine ‚echte‘ Oper, aber mit eigener Stimme. Carmen Jones ist in dieser Szene ebenfalls anwesend, doch sitzt in einem rosa Kleid still und stumm am Tresen, wartet sehnsüchtig auf Joe. Und Frankie hat keineswegs nur diesen Auftritt im Film. Als promiske, käufliche und derbe, aber harmlose Freundin Carmens ist sie vor allem dann in Szene gesetzt, wenn diese vor den entscheidenden Wendepunkten im Carmen-Narrativ steht – und sie berät diese stets in einer Weise, die auf die originale Carmen zurückverweist.38 Doch Carmen Jones folgt Frankies Anregungen nie, genauer: nicht sofort, und immer aus anderen Gründen. Frankie fungiert in Carmen Jones erkennbar als Folie – doch sie ist nicht die einzige, der hier eine solche Funktion zukommt: Im Film ist eine deutliche Grenze zwischen den Figuren entlang rassistischer Zuschreibungen gezogen, wenn diese auch anders verläuft als bei Mérimée und Bizet. Sämtliche Nebenfiguren sind vorrangig über rassistische Stereotype gestaltet. Die Protagonist_innen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Charakterisierung anhand der Kategorien Gewalt, Moral und Käuflichkeit, sondern auch in ihren körperlichen Merkmalen, beispielsweise in der Pigmentierung ihrer Haut. Carmen und Joe treten deutlich aus dem in Carmen Jones konstruierten Kollektiv hervor – doch sie treten nicht hinaus, können nicht hinaustreten. Der Rahmen, in den diese Geschichte eingefasst ist, erweist sich für sie als wirkmächtige Grenze: Die weiße Hegemonie ist in dieser Fantasiewelt nicht nur unsichtbar, sie ist für die Protagonist_innen auch unerreichbar. Carmens und Joes Scheitern beim Versuch einer Grenzüberschreitung vollzieht sich dabei vor dem Hintergrund von Figuren, die eindeutig als ,Andere‘ fungieren – und die in dieser Geschichte kein ,tragisches‘ Ende erleben.39

VII. Dieser Film gibt unzweifelhaft Auskunft über die historische Situation, in der er entstand – als eine Situation, in der das Selbstverständnis des weißen ,Amerikas‘ bezüglich gesellschaftlicher Hierarchien und sozialer Positionen ins Wanken geraten war. Carmen Jones erweist sich primär als weißer Versuch der (Wieder-)Sortierung gesellschaftlicher Verhältnisse und der (Re-)Installierung und Vergewisserung über die weiße Hegemonie. Als Vision einer Gesellschaft, in der alle ,ihren‘ Platz haben, konstruiert, definiert und markiert er engagiert Alterität.

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Die Ambivalenzen des Films liegen auf verschiedenen Ebenen: Seinem Selbstverständnis als ,Vehikel‘ gemäß, eröffnete er konkrete Möglichkeiten für Schwarze Künstler_innen, die zugleich an die Bedingung einer Sichtbarmachung als ,Andere‘ geknüpft waren. Die Aufstiegs- und Integrationsbestrebungen der afroamerikanischen Bevölkerung stellt Carmen Jones, vor allem in der Figur Joe, fraglos als legitim dar. Doch indem der Film von gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert, lässt er die Schwierigkeiten der Bestrebungen als Scheitern an individuellen Fähigkeiten bzw. am ,Wesen‘ erscheinen. Als wolle er erweisen, dass aus der Integration keine Gefahr für die weiße Hegemonie entspringt, zeigt er Schwarze Figuren entweder als solche, die eine Veränderung ihrer Position gar nicht wollen, oder als solche, die diese zwar wollen und ‚dürfen‘, aber nicht können. Die Geschichte von Carmen, die lieber stirbt, als ihre ‚Alterität‘ aufzugeben, ist in Carmen Jones in eine neue Form gebracht: Die Bedrohung von Carmen und Joe liegt darin, dass sie nicht mehr die ‚Anderen‘ sein wollen. Mit ihrem Untergang bleibt die Grenze zwischen Alterität und Hegemonie, wie in Mérimées Carmen, unüberschritten.

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Schwarz und weiß werden in diesem Text nicht als biologische Tatsachen, sondern als politische Kategorien verwendet. Schwarz bezeichnet hier die Menschen, die als ‚Objekte‘ des Rassismus konstruiert werden, während weiß diejenigen markiert, die in den rassistischen und rassifizierenden Prozessen als die tätigen Subjekte fungieren. Siehe u. a. Susan Arndt, Antje Hornscheidt (Hrsg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2004, S. 13. Die Irritation im Schriftbild soll die Leser_innen davon abhalten, über die Begriffe gängige Assoziationsketten abzurufen. Nelly Furman: „Screen Politics. Otto Preminger’s Carmen Jones“. In: Chris Perriam, Ann Davis (Hrsg.): Carmen. From Silent Film To MTV, New York/ Amsterdam 2005, S. 121-133, hier S. 121. Jeff Smith: „Black Faces, White Voices. The politics of dubbing in Carmen Jones“. In: The Velvet Light Trap, Nr. 51, 2003, S. 29-42, hier S. 29. Der Film gewann außerdem diverse Preise, u. a. den Golden Globe in der Kategorie „best motion picture“. Vgl. z. B. Robert L.A. Clark: „Local Color. The Representation of Race in Carmen and Carmen Jones“. In: Operatic Migrations. Transforming Works and Crossing Boundaries. Burlington u. a. 2006, S. 217-239, hier S. 227. Es ist in besonderer Weise auf die fundamentale Kritik von Baldwin hinzuweisen: James Baldwin: Carmen Jones. The dark is light enough. In: Notes of a Native Son. Boston 1955, S. 46-54. Vgl. hier und im Folgenden vor allem: Annegret Fauser: „Dixie Carmen. War, Race and Identity in Oscar Hammerstein’s Carmen Jones“. In: Journal of the Society for American Music, Vol. 4, Nr. 2, 2010, S. 127-174 sowie Annegret Fauser: „Carmen in Khaki. Europäische Oper in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkrieges“. In: Sven Oliver Müller u. a. (Hrsg.): Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters im modernen Europa, Oldenburg 2010, S. 301-327. Ebd. Vgl. Clark (wie Anm. 4), S. 222. Furman (wie Anm. 2) S. 65. Vgl. Clark (wie Anm. 4), S. 222. Auch mit 20th Century Fox kam es, trotz mündlicher Zusage Darryl Zanucks, lange nicht zur Vertragsunterzeichnung. Vgl.: Otto Preminger: Preminger. An Autobiography, New York 1977. Otto Preminger war lebenslang Mitglied der NAACP. Gerald Pratley: The cinema of Otto Preminger. London 1971, S. 100f. Zit. n. Furman (wie Anm. 2), S. 127. Knight bemerkt in Bezug auf die acht All-Black-Musicalfilme, die Hollywood zwischen 1929 und 1959 produzierte und zu denen er auch Carmen Jones rechnet, dass „no other genre of Hollywood film provided similar intensity on representation of black Americans“. Arthur Knight: Disintegrating the musical. Black performance and american musical film, London/Durham 2002, S. 2, vgl. speziell zu Carmen Jones: S. 159-161.

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Carmen Jones war, wie Smith anmerkte, ein „throwback to the all-black films made in Hollywood during the thirties and forties such as The Green Pastures (1936), Cabin in the sky (1943) and Stormy weather (1943).“ Vgl. Smith (wie Anm. 3), S. 29. Robert Stam, Louise Spence: „Colonialism, Racism, and representation. An Introduction“. In: Bill Nichols (Hrsg.): Movies and Methods 2. Berkley 1985, S. 632-649. Die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) ist eine wichtige Bürgerrechtsorganisation. Furman (wie Anm. 2), S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Joe ist als auffällig unbedrohliche Figur in Szene gesetzt: Seine sozialen Aufstiegspläne artikulieren sich nicht in Form eines Anspruchs oder einer Forderung. Vielmehr wird er durch seinen strebsamen und tugendhaften Charakter geradezu als Träger des US-amerikanischen Ideals aufgerufen: Jeder kann alles erreichen, wenn er sich nur aufrichtig bemüht. Carmen Jones, 20th Century Fox, 1954: 00:29:52-00:30:08. Das zeigt sich im Film in einer sehr bedeutungsträchtigen Szene: Carmen Jones: 00:21:17-00:21:27. (1) So liefert Joe auch in Carmen Jones Carmen nicht im Gefängnis ab, in das er sie nach ihrem Streit mit einer Arbeiterin in der Fallschirmfabrik bringen soll. Wenn er sich auch von ihren offensiven Versuchen, ihn zu ihrer Freilassung zu bewegen, völlig unbeeindruckt zeigt, es für ihn überhaupt keine Option ist, seine Pflicht nicht zu erfüllen, so kann er doch am Ende ihrer hausmütterlichen Bemühung um ihn nicht widerstehen. Nach einer gemeinsamen Nacht ist Carmen verschwunden, was Joe einen Gefängnisaufenthalt einbringt. (2) Als Joe Carmen nach seiner Freilassung freudig mitteilt, er müsse sofort zur Fliegerschule aufbrechen, die zu besuchen er doch noch eine Chance erhalten habe, reagiert diese, die sehnsüchtig auf ihn gewartet hat, verletzt. Sie provoziert ihn mit Unterstützung von Sergeant Brown, der Joe bereits im Vorfeld mehrfach beleidigt hat. Joe, der bislang dessen Provokationen widerstanden hat, schlägt ihn in dieser Situation nieder. Erschrocken über seine Tat folgt er Carmen völlig benommen nach Chicago. (3) Die Situation in Chicago erweist sich als desolat: In der lauten, engen und düsteren Unterkunft, die Joe nicht verlassen kann, wird er aufgrund seiner Desertion doch polizeilich gesucht, zeigt er sich unzufrieden, eifersüchtig und aggressiv gegenüber Carmen, die sich – auf integere Weise – um die Existenzsicherung bemüht. Als sie ihn daraufhin verlässt und Husky Miller, dessen Werben sie bislang konsequent abgewiesen hat, aufsucht, spürt Joe sie dort auf. Völlig verzweifelt tötet er die – mittlerweile ganz in Weiß gekleidete – Carmen nach einem siegreichen Boxkampf Millers. Im Film wird mehrfach von anderen Figuren die Frage aufgeworfen, ob Joe überhaupt die charakterliche Stärke besitzt, den Aufstieg zu schaffen – und sie wird abschlägig beantwortet. Vgl. Clark (wie Anm. 4), S. 222. Preminger (wie Anm. 11), S. 135.

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Die Synchronisation von Singstimmen war in den Musical-Filmen, die Hollywood in den fünfziger Jahren produzierte, keineswegs unüblich – gerade in Fällen, in denen die als notwendig erachteten ,Fähigkeiten‘ der Schauspieler_innen nicht gegeben schienen. Vgl.: Marsha Siefert: „Image/Music/Voice“: Song Dubbing in Hollywood Musicals. In: Journal of Communication 45 (2), S. 44-64, hier S. 59f. Smith (wie Anm. 3), S. 33. Donald Bogle: Dorothy Dandridge. An Autobiography, New York 1997, S. 277f. Susan McClary hat angemerkt, dass die Opernsänger_innen in Carmen Jones mit besonders dünnen Stimmen sangen, so als ob sie eine Art plausible Performances anbieten wollten, einen Gesang, der zu nicht als Opernsänger_innen ausgebildeten Personen gehören könnte. Susan McClary: Georges Bizet. Carmen, Cambridge 1992, S. 133. Smith (wie Anm. 3), S. 39. Olga James, die Cindy-Lou-Darstellerin, war Opernsängerin und sang ebenfalls selbst. Bailey wurde vielerorts als die ,authentische‘ Stimme des Films gefeiert. Der Text des Liedes lautet: „Beat out that rhythm on a drum – And I don’t need no tune at all […] – I feel it beatin’ in my bones […] – I feel it beatin’ in my heart […] – And in my dream it kind of seems – There’s one big heart in all the world.“ Carmen Jones, 00:37:40-00:41:36. Smith (wie Anm. 3), S. 35. Vgl. Knight (wie Anm. 14). Vgl. zum Beispiel folgenden Dialog kurz bevor Carmen Joe verlassen wird: Frankie: „If you don’t show up for Husky, we’re right out in the cold. How about it, sugar, for us?“ Carmen: „Ain’t that I don’t want to help you, Frankie“ Frankie: „Only?“ Carmen: „I can’t.“ Frankie: „Love? Nobody lives on that street forever. Not with the same man. You’re bound to move, maybe sooner than you want to believe.“ Carmen: „Let you know when I get the message.“ Frankie: „When you do, ring me at the hotel.“ Carmen Jones 01:08:35-01:09:27. Es fällt auf, dass auch die Nebenfiguren nicht bedrohlich gezeichnet sind.

Tanz der Geschlechter Carlos Sauras Film Carmen (1983) von Jacqueline Roussety Als Carlos Saura seinen Film Carmen 1983 der Weltöffentlichkeit präsentierte, war das eine Sensation.1 Sauras Film überzeugte international vor allem als intermediales Gesamtkunstwerk durch die großartigen Tanzsequenzen und die Gitarrenmusik von Paco de Lucía. Carmen wurde in Cannes als bester künstlerischer Beitrag ausgezeichnet sowie für den Oscar, den César und den Golden Globe nominiert. Der Film spiegelt auf mehreren Ebenen die Auswirkungen des überraschend schnellen Wandels vom Franco-Regime zur Demokratie in Spanien wider. Zwar gab es auch schon vor Saura regimekritische Filmemacher wie z. B. Luis Berlanga und Juan Antonio Bardem, die ein Kino der Opposition schufen, im Ausland Preise gewannen, zu Hause aber von den Machthabern als Oppositionelle verfolgt und der Zensur unterworfen wurden. Ein, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht rückständiges und hermetisch abgeschlossenes Spanien öffnete sich erst nach Francos Tod.2 Im Rückblick wird deutlich, dass der Film den Wandel innerhalb der Geschlechterordnung des neuen Spanien auf ambitionierte Weise reflektierte und zugleich erstmals einen Anschluss an postmoderne westliche Diskurse herstellte, die in Spanien bis dahin offiziell verpönt waren. Ein typisches Merkmal der Postmoderne ist die permanente Selbstreflexivität des Künstlers auf sich und sein Medium. Diese Selbstreflexivität wird von Saura gezielt aufgegriffen, indem er gleichermaßen auf Literatur, Oper, Tanz und Film rekurriert: Die Novelle von Prosper Mérimée, der Flamenco und die Musik von Georges Bizet sind die intermedialen Bezugspunkte für das ehrgeizige Carmen-Projekt des Choreografen Antonio, das Saura wie ein Dokumentarfilmer in den einzelnen Entstehungsphasen auf der Probebühne präsentiert. Wie in seinen vorherigen Filmen, z. B. Bluthochzeit (1980), umkreist Carlos Saura auch in Carmen die zentralen Themenkomplexe Musik und Tanz, Erinnerung sowie Geschlechterbeziehungen, die er in einer emotionsgeladenen, poetischen, surrealistischen und über weite Strecken postmodernen Bildsprache auf die Leinwand bringt. Das Carmen-Projekt Antonios wird zum Projekt Sauras.

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Abb. 1: Tanz der Frauen. Hier werden die Positionen in der Compania geklärt. Abb. 2: Flamencobegleitung von Paco de Lucía, dem bekanntesten Flamencospieler Spaniens.

Auf mehreren Ebenen verschmilzt Carlos Saura dabei Kunst und ‚Wirklichkeit‘. Der Choreograf Antonio sucht für die Aufführung von Bizets Oper Carmen als Tanztheater eine perfekte Flamencotänzerin, die er in der professionellen Tanzakademie „Amor de Dios“ findet.3 Von Anfang an ist er dieser Frau verfallen – und wie in der Oper zerstört auch im ‚realen Leben‘ Eifersucht ihre Liebe. Die enge Kadrierung der Bühne und die damit eingeschränkte Sichtweise der Figuren auf ihre eigene Rolle bietet einen Einblick in ihr Innenleben, dient zugleich aber auch dem Choreografen Antonio Gades und dem Regisseur Carlos Saura als Projektionsraum für ihre erotischen und künstlerischen Träume, die deutlich geschlechtsspezifisch codiert sind. Auch wenn der Film durch Mérimées Novelle inspiriert ist, in der die schöne und begehrenswerte Carmen sich nicht in ihrer Freiheit

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Abb. 3: Christina und Carmen im Duell.

einschränken und sich lieber töten lässt, als sich einem Mann unterzuordnen, geht es Saura nicht um die Darstellung einer historischen oder überzeitlichen Geschlechterkonstellation, sondern er will den Wandel innerhalb der Geschlechterordnung in der Nach-Franco-Ära zeigen. Die moderne spanische Frau, die sich aus der männlichen Unterdrückung befreit, symbolisiert eine neue Mentalität, die sich in Spanien nach Francos Tod durchsetzte. In Sauras Film steht der Choreograf Antonio für den neuen spanischen Mann, der einerseits von einer starken und selbstbewussten Frau fasziniert ist, aber andererseits mit alten männlichen Klischees zu kämpfen hat, als er fürchten muss, die Kontrolle über die Frau zu verlieren.4 Für ihn ist dieser Wandel nicht einfach und letztendlich muss diese Liebe scheitern, da Antonio die schnelle Veränderung innerhalb der Geschlechterordnung für sich persönlich nicht umsetzen kann. Er ist es gewohnt, Regie zu führen, alles in geordnete Strukturen zu lenken. Ein Ausbruch aus diesem festgelegten Rhythmus bringt im wahrsten Sinne des Wortes die Choreografie mit ihren vorgegebenen Schritten aus dem Takt. Dieses Scheitern wird vom Regisseur über die Theaterbühne in Szene gesetzt, auf der die fiktive Geschichte mit der Filmdiegese verschmilzt. Es folgt ein Kampf der Geschlechter, der im Tanz seinen Ausdruck findet. Die Emotionen werden im Film fast ausschließlich durch den Körper zum Ausdruck gebracht. Begehren, Leidenschaft, Eifersucht bestimmen das Verhältnis zwischen allen am Carmen-Projekt Beteiligten. Die melodramatische Geschichte von Carmen und José, die sich in der tragischen Liebesgeschichte zwischen Antonio und seiner Carmen wiederholt, wird auch im Kampf zwischen den beiden kon-

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Abb. 4: Tanz der Männer. Hier nutzen sie den Stock, um ihren Rhythmus zu schlagen.

kurrierenden Carmen-Darstellerinnen Christina und Carmen sowie im Duell der Männer in sorgfältig choreografierten Tanzszenen ausagiert. Ruhige, auf Ausgleich und Annäherung zielende Gespräche schlagen plötzlich in Aggression und Streit um, die dann im Tanz ausgelebt werden. Bei Carlos Saura ist die Theaterbühne der eigentliche Ort des Geschehens. Dieser eng abgegrenzte Raum bietet im Film eine Metaebene der filmischen Reflexion. Die Bühne ist der Ort, an dem Realität und fiktive Welt miteinander verschmelzen und die Grenze zwischen Schein und Sein verläuft. Hier werden die Gefühle emphatisch nach außen gewendet und die Einsamkeit der Protagonisten deutlich. Das Theater mit seinen eigenen restriktiven Codes folgt einer Dramaturgie der Gefühle, in der sich die Frage nach der Lebenslüge nicht nur auf der Handlungsebene der Figuren stellt, sondern es zu einer Verschmelzung bei den Übergängen zwischen dem Spiel auf der Bühne und der Realität der Figuren, auch wenn sie die Bühne verlassen, kommt.

Der begrenzte Blick Am Anfang herrscht der Choreograf Antonio allmächtig über das Geschehen, er ist das ‚Genie‘, zu dem jeder aufsieht. Er lebt in seinem Tanzstudio in einer hermetisch abgeschlossenen Welt, die metaphorisch über die karg ausgestattete Bühne verdeutlicht wird.

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Die großen Spiegel an den Wänden verstärken den Eindruck einer geschlossenen Sphäre, die ihn und seine reale und fiktive Welt widerspiegelt und so dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, an seiner Selbstreflexivität teilzuhaben. Der ständige Blick aller Beteiligten in die Spiegel, die im Raum hängen und einen Teil der Bühne abgrenzen, deutet auf die Angst vor Kontrollverlust hin. Das eigene Ich muss permanent unter Beobachtung stehen. Von dem Moment an, als Antonio, durch Carmen verunsichert, die Kontrolle über sich verliert, sucht er im Spiegel verzweifelt nach seiner eigenen Identität. Er kann sich nur von außen betrachten.5 Er sieht sich in diesem Moment, wie andere ihn wahrnehmen. Sich aus dieser Perspektive zu sehen und zu erkennen, führt zu einem Doppelspiel der Reflexion. Das Sich-Verkennen endet in der Tragödie. Das Stadium des Kindes, das sein Über-Ich im Spiegelbild entdeckt, kann nicht mehr zurückerobert werden.6 Antonio kann sich nur noch in Scheinbilder retten. Indem er die moderne Tänzerin Carmen in eine folkloristische ‚Zigeunerin‘ mit traditionellem Schleier und Tuch aus dem 19. Jahrhundert zu verwandeln sucht, fixiert er die Frau auf ein verführerisches, längst überholtes ,Frauenbild‘, das als Triebkraft seines eigenen Begehrens fungiert. Carmen wird zur Projektionsfläche, zum bloßen Objekt seiner Begierde. Während die Kamera zurückweicht, hält Antonio mit seinem Blick dem eigenen Spiegelbild stand. In diesem Moment nimmt die Geschichte ihren Gang, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verfließen. Der Spiegel dient als Projektionsfläche, verdeutlicht aber auch eine Form der Selbstreflexivität, die als postmodernes Zeichen verstanden werden kann. Die einzige Figur, die sich nie selbst im Spiegel betrachtet, ist Carmen. Sie ist, wer sie ist, muss sich nicht über ihr Spiegelbild definieren. Sie muss sich den Tanz nicht aneignen, sondern sie scheint ihn ‚im Blut‘ zu haben. Sie ist die einzige Figur, die sich frei und ungezwungen durch alle Räume bewegt, während die anderen Figuren sich fast ausschließlich auf der Bühne aufhalten. Die Begrenzung des Studioraumes wird nicht nur durch die Spiegelwände, sondern auch durch eine breite Fensterfront verdeutlicht. Der Blick nach außen fördert die filmische Narration. Die äußere Realität, die im Kontrast zur Fantasiewelt Antonios steht, kann sich nur außerhalb des Studios entwickeln.7 Das große Fenster suggeriert Freiheit und die Möglichkeit, die Bühne zu verlassen, sich aus der Kunstwelt zu lösen. Während Carmen als einzige Figur das Studio immer wieder verlässt und sich in der Außenwelt bewegt, bleibt An-

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Abb. 5: Auf der Bühne versucht Antonio, eine neue Welt zu kreieren. Abb. 6: Antonio imaginiert sich seine perfekte Carmen. Er sieht sie jedoch nur im Spiegel. Abb. 7: Antonio in seiner hermetisch abgeschlossenen Welt. Nur der Blick nach draußen lässt erahnen, dass auch eine Welt außerhalb des Studios existiert.

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tonio in geschlossenen Räumen. Dadurch wird das Eingeschlossensein des Choreografen in seine Traumwelt deutlich. Die ausgeklügelte Kameraführung spiegelt seinen Rückzug in die Imagination wider. Antonio ist in einer vergangenen Zeit stehen geblieben, kann sich dem schnellen Wandel in Politik und Gesellschaft nicht anschließen. Als Künstler und als Liebender ist er seiner eigenen Imagination der schönen und willigen ‚Zigeunerin‘ verfallen, die sich jedoch bald als Trugbild erweist.

Die Geschlechterthematik Die Idee der neuen Frau und der Traum der unbedingten Liebe fordern ihre Opfer. Wer sich an die alten Bilder und Ordnungen klammert, ist verloren. Bereits der Beginn des Filmes macht deutlich, dass Antonio einem Frauenbild nachtrauert, das längst Geschichte ist. Mit seinem Versuch, eine neue Version des Carmen-Mythos als Tanztheater zu realisieren, erweist er sich ebenso als hoffnungslos altmodisch wie mit seinem Bemühen, eine ‚perfekte‘ Darstellerin für seine Carmen-Fantasie zu finden. Eigentlich hat sich schon zu Beginn des Filmes sein Bild von Carmen manifestiert. Er stützt sich in seiner Fantasie auf Prosper Mérimées Erzählung, die er äußerst affirmativ auslebt, indem er diesem Bild hinterher jagt. Den zeithistorischen und erzählerischen Kontext vernachlässigt er völlig. Er entnimmt dem Text das Bild einer Frau, die ihn durch Schönheit und Leidenschaft fasziniert. Diese literarische Figur ist es, die ihn inspiriert; Carmen wird zur Muse erkoren, die er zuerst als Tänzerin nach seiner Vorstellung modellieren, dann aber auch in Fleisch und Blut besitzen möchte. Das Geschehen wird dabei von Anfang an aus Antonios Sicht geschildert. Der Film zeigt minutiös, wie der Choreograf sich seine Darstellerin und Geliebte – wie Pygmalion seine Statue – im herrischen Zugriff immer wieder neu zu erschaffen versucht. Jede Entwicklungsstufe wird über den strengen Flamencotanz dargestellt, über einstudierte, sich wiederholende und immer schneller werdende Bewegungsabläufe, die die filmische Handlung vorantreiben. Dabei geht es nicht darum, die äußere Realität abzubilden, sondern darum, eine fiktive Wahnwelt zu schaffen. Aber im Laufe der Zeit verschmelzen Kunst und Realität. Neben der Novelle von Mérimée und der Opernmusik von Georges Bizet ist der Flamenco das Medium, in dem die CarmenProjektion Antonios ihre Auferstehung feiert. Mit dem Flamenco

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greift der Regisseur eine Tanz- und Musiktradition auf, in der sich verschiedene kulturelle Einflüsse mischen. Der Flamenco der Roma, einer Volksgruppe, die in Spanien als ,Gitanos‘ bezeichnet wird, fand nur im kleinen Kreis und hinter verborgenen Türen statt. Erst die Payos, die Nicht-,Gitanos‘, machten den Flamenco einem breiten Publikum zugänglich, indem sie die ,Gitanos‘ in ihre Tableos (Cafés) holten und versuchten, sie zu domestizieren und mit ihrer Kunst Geld zu verdienen. In Sauras Film sind alle Hauptdarsteller Payos, wohingegen viele aus der Compania ,Gitanos‘ sind. Carlos Saura erweist mit seinem Film einem Volk eine Hommage, das jahrhundertelang verfolgt, schikaniert und gezwungenermaßen gettoisiert lebte. Obwohl die Tänzerin Carmen, dargestellt von Laura del Sol, nie explizit als ‚Gitana‘ beschrieben wird, macht sie der Choreograf Antonio Gades sowohl als Bühnenfigur wie auch als Privatperson zur schönen und wollüstigen ‚Gitana‘ mit den „Wolfsauge[n]“8.

Der Flamencotanz als erzählerisches Filmelement Der Begriff „Flamenco“ leitet sich – so eine Erklärung von vielen – von dem Wort „fe-lah-mangu“ ab, dem arabischen Wort für volkstümlichen Gesang. Der berühmte Klagelaut des Flamencos mit seinen lang gezogenen „Ayays“ hat Ähnlichkeiten mit dem Klagelaut der arabischen Gesänge. Früher wurde der Cante Jondo nur hinter verschlossenen Türen gesungen, in Gefängnissen, in den Bergminen galt er als Klageschrei eines unterdrückten Volkes. Nach einer anderen Auffassung ist das Wort von dem Begriff „Flamma“ abgeleitet. Das war die abfällige Bezeichnung für die häufig bunt gekleideten ‚Zigeuner‘, die sich schon optisch von den Nicht-‚Zigeunern‘ abgrenzten.9 Flamenco ist ein metaphysisches Ereignis. Der Funke springt über und es kann der Duende, der Dämon, erlebt werden. Federico García Lorca beschreibt diesen Duende mit folgenden Worten: Engel und Muse kommen von außen; der Engel verleiht Talent, die Muse Form. Den Dämon aber muß man in den letzten, hintersten Behausungen des Blutes aufrütteln.10

Die erste bekannte Epoche der Flamencokunst wird von 1800 bis 1860 datiert. Hier entstanden die ,cafes cantantes‘. Das Ansehen der ,Gitanos‘ stieg allmählich. Nun bildeten sich die ersten Zentren für ,el cante‘, den Flamencogesang, von der Gitarre begleitet und mit Tanz

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Abb. 8: Carmen stürzt auf die Bühne und nimmt in diesem Moment die Position des Stieres bei einer Corrida ein.

untermalt. Der Flamenco wurde lange Zeit auch als andalusische Subkultur der nicht etablierten Schichten bezeichnet, etwa vergleichbar mit dem Jazz. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte die Kunst des Flamencos ins Licht der Öffentlichkeit. Bis dahin jedoch blieb sie im Verborgenen, wurde nur von Roma zu Roma weitergegeben. Dennoch existieren alte Belege dieser eigenen und ursprünglichen Kunstform. Der Film Carmen rief für den Flamenco ein weltweites Publikumsecho hervor. Über die Bewegungsabläufe werden Sehnsüchte vermittelt, Macht und Intrige ausgelebt, doch die Choreografien bleiben auf den Bühnenraum beschränkt. Dadurch wird der Tanz als Kunstform etabliert und die filmische Ästhetik verstärkt das Ineinandergreifen von Raum und Zeit. Die Liebesgeschichte zwischen Antonio und Carmen beginnt während der Tanzprobe. Der Tanz wirkt auf beide gleichermaßen erotisierend, das Aneinanderschmiegen während der Proben bietet permanenten Körperkontakt. Die Darbietung von Antonios Farruca, dem ,Männertanz‘ schlechthin, reißt Carmen förmlich vom Stuhl – wie das Hinausschreien eines Olés! Ein seit Jahrhunderten formvollendetes Spiel erzielt auch in der modernen Zeit seine Wirkung. Casanova beschrieb schon 1767 den Flamenco mit folgenden Worten: Sie nehmen tausend Stellungen ein, vollführen tausend lüsterne Gesten jenseits allen Vergleichs. Dieser Tanz ist Ausdruck der Liebe vom Beginn bis zur Erfüllung, vom Seufzer der Begierde bis zur Lust des Genusses. Mir

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schien es, dass nach einem solchen Tanz kein Mädchen sich seinem Partner versagen kann.11

Alle Gefühle, die sich über das Medium Tanz ausdrücken lassen, sind geschlechterübergreifend. Der Kampf und Tanz der Geschlechter wird ausschließlich über die Tanzelemente ausgelebt, Flamenco ist eine einsame Zwiesprache mit dem Leben, der Liebe und dem Tod.12 Der Flamenco fordert eine virtuose Beherrschung des Körpers, eine absolute Hingabe, wenn ein Tänzer die Technik meistern will.13 Flamenco ist immer eine Solointerpretation. In dem Film von Carlos Saura erleben die Zuschauer/innen, dass es unweigerlich zum Kampf kommt, sobald man diesen Augenblick der Solointerpretation teilen muss. Der Kampf der Geschlechter um Liebe und Macht geschieht geschlechterübergreifend und bleibt der treibende Motor in der Geschichte zwischen Antonio und Carmen, aber auch zwischen Christina und Carmen. Ebenso befinden sich die Männer in einer Konkurrenz zueinander, sobald sie zusammen tanzen müssen. Die Körper umkreisen sich, stoßen sich ab, nähern sich wieder an, prallen aufeinander. Es gibt keine raumgreifenden Schritte oder Sprünge, da dieser Tanz früher hinter verschlossenen Türen auf kleinstem Raum stattgefunden hat. Dafür kommt den Bewegungen des Oberkörpers, der Arme und Hände überragende Bedeutung zu. Der Tanz der Männer ist strenger, langsamer und lebt von der beherrschten Armbewegung. Die eigentliche Kraft liegt hier in der Fußarbeit. Angelehnt an traditionelle Formen der spanischen Kultur, nutzt Carlos Saura auch andere Medienformen wie die klassische Opernmusik von Georges Bizet,14 die bisweilen in Gitarrenklänge übersetzt erklingt. Diese musikalische Untermalung wird dann von reinem Flamencogesang abgelöst. Immer wieder werden literarische Originalzitate Prosper Mérimées eingeflochten, bis die Bühnendiegese mit der Filmrealität verschmilzt. Dadurch entsteht ein mehrdimensionales und doppeldeutiges Spiel. Es ist eine Theater-auf-dem-Theater-Geschichte, die den Mythos Weiblichkeit, Leidenschaft, Eifersucht und Tod im Medium Tanz thematisiert. Der Flamencotanz wird zu einem Stilmittel, um Emotionen zu zeigen und zu bändigen, in eine andere Form zu bringen.15 Den Film strukturieren dabei verschiedene Erzählebenen. Die Geschichte wird nicht in einem Handlungsstrang wiedergegeben, sondern neben den Proben der Compania läuft die private Liebesge-

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Abb. 9: Antonio tanzt die Farruca. In dieser Pose kommt das Anlocken des Stieres durch den Matador zum Ausdruck. Abb. 10: In dieser Pose symbolisiert der Tänzer die Drehung der Capa. Abb. 11: Hier wirft der Tänzer wie der Matador die Capa zur Seite.

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schichte zwischen Antonio und Carmen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen den Figuren und ihren Rollen. Was zuerst wie ein dokumentarischer Ansatz wirkt, wenn die Kamera aus der Distanz mit dem subjektiven Blick des Choreografen die Proben beobachtet, steigert sich zu einer selbstreflexiven Meditation über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. Der Film ist ein Wechselspiel zwischen Strenge und scheinbarer Improvisation, untermalt durch den filmischen Dokumentationscharakter.16 Viele Elemente des Flamencotanzes sind typische Bewegungsabfolgen aus dem Stierkampf, symbolisieren die Gegensätze zwischen Kraft und Geist und verdeutlichen das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau, zeigen den Kampf um Leben und Tod.

Die Corrida Die Corrida ist so alt wie die Kultur Europas. In der griechischen Mythologie war es Zeus selbst, der in Gestalt eines weißen, herrlichen Stieres die begehrte Europa in ein anderes, fernes Land trug. Auf griechischen Mittelmeerinseln lassen sich die ältesten Spuren eines Stierkultes finden.17 Flamenco und Stierkampf sind eng miteinander verbunden, beide kreisen um die zentralen Motive Leben und Tod. In beiden Fällen wird von „arte“ (Kunst) gesprochen; beide haben dasselbe Vaterland: Andalusien. Beide erlebten ihren Aufschwung im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert, in dem die ‚Zigeuner‘ allmählich mehr Rechte bekamen und sich mit ihrer Kunst und Tradition in der Öffentlichkeit zeigen durften.18 Während des Stierkampfes tänzelt der Torero mit seinem Capo, dem großen Tuch, das er in spiralförmigen Drehungen um den eigenen Körper deckt, vor dem Stier, um ihn zu reizen. Jeder dieser Schritte in der Arena ist eine gut einstudierte Choreografie. Besonders die Männer nutzen die sparsamen und doch exakten Bewegungen im Flamencotanz, der den Bewegungsabläufen im Stierkampf nachgebildet ist. Ähnlich eines Stierkampfes geht es auch bei ihrer Tanzdarbietung tatsächlich um Eroberung, die besonders in der Farruca zum Ausdruck kommt. Das ist der Tanz, mit dem Antonio Carmen für sich gewinnen kann. Sobald diese aber die Bühne betritt und in diesen Solotanz eingreift, beginnt der Tanz eines ungleichen Paares, ein Tanz um Leben und Tod, wie in der Corrida, wo der Stier in den „Capo-Tanz“ des Matadors eindringt. Wie der Stier die Arena als Toter verlassen wird, so ist auch Carmens Ende mit dem Betreten

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der Bühne vorgezeichnet. Wie der Flamenco war und ist auch heute noch der Stierkampf für viele ,Gitanos‘ die einzige Möglichkeit, Anerkennung und Geld zu verdienen. Der Regisseur Salvador Távora meint: Das enge Verhältnis zwischen Cante Flamenco und Stierkampf ist nur allzu verständlich, weil beides Kinder des tragischen Andalusien sind, denn historisch gehen sie wie Geschwister mal Hand in Hand mit Leben und Tod, mal spielen sie damit.19

In der Corrida, die sich nach festen Regeln abspielt, geht es um den Kampf zwischen Geist und Körper, zwischen Mensch und Tier. Wie ein klassisches Drama ist auch die Corrida in drei Akte eingeteilt. Bis zu seinem Eintritt in die Arena lebt der Stier in ‚paradiesischen Zuständen‘. Er muss nicht wie Millionen seiner Artgenossen sein Leben im dunklen Stall fristen, sondern weilt mit seiner Herde im Freien. Bis zu dem Moment, in dem er in die Arena stürmt, hat er sich noch nie gegen Mensch oder Tier wehren und kämpfen müssen, war ein Teil der Herde. Er beginnt in der Arena seine Artgenossen zu suchen, will nicht alleine bleiben. In dieser ersten Viertelstunde der Corrida lernt das Tier mehr als in seinem ganzen bisherigen Leben. Auch wenn die animalischen Instinkte vorherrschen, so ist der Stier im klassischen Sinne kein ‚dummes‘ Tier.20 Nur mit psychologischem Geschick und Tricks kann der Matador siegen. Das Tier versucht zunächst unter Aufbietung aller Kräfte aus der Arena zu entkommen, um wieder bei seiner Herde zu sein. Die Bewegungen des Matadors – das Locken und Antänzeln – bringen den Stier jedoch durcheinander. Jeder Angriff des Stiers erfolgt aus einem anderen Winkel, nie würde das Tier den gleichen Angriff wiederholen, da dieser nicht zum Erfolg führte, das sich bewegende Tuch, die Capa, nicht zum Stillstand gebracht wurde. Das erste Tuch ist rosa und gelb, es sieht wie ein Manton aus, das Tuch, das die Flamenco-Tänzerin in vielen Tänzen einsetzt. Die Farbe an sich hat für das Tier keine Bedeutung, da der Stier farbenblind ist. Es ist allein die Bewegung des Tuches, die ihn reizt. Nach exakt fünfzehn Minuten bleibt der Stier frontal vor dem Matador stehen. In diesem Moment, dem letzten Akt, hat der Stier begriffen, dass nicht das Tuch die Gefahr ist, sondern der Mensch dahinter. Der Matador tauscht jetzt die Capo gegen die Muleta, ein rotes Tuch, aus, und tritt dem Stier Aug’ in Aug’ gegenüber. Nun muss der Matador dem Tier den Todesstoß versetzen, sonst würde beim nächsten Angriff der Stier gewinnen, da er frontal auf den Menschen zurasen würde. Um diese Erfahrungen des Kampfes reicher,

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Abb. 12: Während des Tanzes wird Antonio vorerst von Carmen überwältigt.

ließe der Stier überhaupt keinen Menschen lebend vom Platze. Um selbst zu überleben, muss der Torero das Tier töten, denn von nun an lässt sich der Stier nicht mehr bändigen. Setzt man die Geschichte von Antonio und Carmen in Beziehung zum Ablauf der Corrida, muss Antonio, wie der Matador, Carmen am Ende töten, sonst würde sie ihn, wie ein wilder Stier, töten. Aber eigentlich ist der Mord an Carmen auch eine Form des Selbstmords, da das ‚Genie‘ mit der Ermordung seiner Muse sich auch selbst auslöscht. Das enge Verhältnis zwischen Cante Flamenco und Stierkampf ist nur allzu verständlich, weil beides Kinder des tragischen Andalusien sind, denn historisch gehen sie wie Geschwister mal Hand in Hand mit Leben und Tod, mal spielen sie damit.21

Der Farruca-Auftritt von Antonio Gades folgt den Abläufen der Corrida bis ins Detail, mit einer Ausnahme: Antonio besiegt nicht sofort sein Gegenüber, sondern wird zunächst von Carmen überwältigt, bevor er ihr im letzten Akt den Todesstoß versetzen kann.

Carmen und Antonio: Tanz der Geschlechter In der besagten Farruca-Szene betritt Antonio allein die Bühne, er ist der Matador, der sich seinem Stier stellt, in diesem Fall ist es Carmen. Wie beim Stierkampf beginnt nun das Anlocken, indem er die Ausfallschritte zur Seite immer wiederholt, die die Bewegung der Capa symbolisieren. Das Schnipsen der Finger und der Blick, mit dem er

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Abb. 13: Auf der Bühne leben die Frauen Christina und Carmen ihre Feindschaft aus.

Carmen fixiert, verdeutlichen die Anspannung, die dem Tänzer und Matador ins Gesicht geschrieben steht. Jede Sekunde ist exakt choreografiert, jede Geste und jeder Schritt haben ihre Bedeutung, folgen einem festgelegten Ritual. Die stark akzentuierten Bewegungen der Hände stellen die Bewegungen der Capa nach, die in der Arena den Stier nervös machen. Auch in dieser Tanzszene erfüllt die Capa ihre Wirkung. Carmen hält die Anspannung nicht aus, es reißt sie förmlich aus dem Sitz: eingeschnürt und mit provokativ vorgeschobenem Mieder betritt sie ‚seine‘ Bühne. In der Sprache des Flamencos stehen die Brüste einer Frau für die Hörner des Stieres. Mit dieser Waffe stürmt sie nach vorne und bedroht Antonio mit ihrer Körperpräsenz. Es ist übrigens die einzige Szene, in der sie als Privatperson einen Rock trägt, in der sie also auch optisch die klassische Frauenrolle einnimmt. Sobald sie sich aber auf den Kampf einlässt, findet ein Rollentausch statt. Für einen Moment wird sie zum Matador, weil sie jetzt die traditionellen Farruca-Schritte des Männertanzes übernimmt. Sie beginnt Antonio gleichsam zu jagen. Sie unterbricht seinen Solotanz, es muss unweigerlich zur Katastrophe kommen. Wie ein Stier stürzt sich Antonio nun auf ,seine‘ Carmen. In dieser Szene besitzt er noch keinen tödlichen Dolch, und so endet der Kampf in einer Liebesnacht. Am Schluss des Filmes übernimmt er jedoch die Rolle des Matadors, zieht seinen Dolch und tötet Carmen. Der Kampf der Geschlechter wird auch zwischen Christina und Carmen über den Flamencotanz metaphorisch dargestellt. Hier vermischt sich ebenfalls die Filmrealität mit der Bühnendiegese. Die Feindschaft zwischen den Frauen auf privater Ebene setzt sich in der

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Abb. 14: Tanz der Männer, um ihren Solitär zu verteidigen.

klassischen Rollenverteilung innerhalb der Compania fort. Die ältere, erfahrene Christina Hoyos hat bis dato die Carmen getanzt und wird nun von der jüngeren Frau abgelöst. Das ‚Genie‘ wechselt seine Muse aus, findet in der jüngeren Carmen seine neue Inspirationsquelle. Die Feindschaft beider Frauen wird bei jeder Tanzprobe offensichtlich, und auf der Bühne wird über die „Buleria“, einen typischen ,Zigeunertanz‘, diese Feindschaft im wahrsten Sinne des Wortes ,ausgetanzt‘. Auch hier sind wieder Elemente aus dem Stierkampf zu erkennen, wie das Umkreisen der Körper, die engen spiralförmigen Drehungen des Oberkörpers. Am Ende übernimmt Carmen die Rolle des Matadors, zieht ihren Dolch und tötet ihre Rivalin. Auch bei den Männern wird die Rivalität durch den klassischen Flamenco dargestellt. Mit stark akzentuierten Bewegungen und einem aggressiven Habitus drücken die Rivalen ihre tödliche Feindschaft aus. Mit den Stöcken schlagen sie ihren Rhythmus und knüpfen damit an eine uralte Tradition aus einer Zeit an, als die Gitarre noch kein Begleitinstrument war. Hier wird die archaische Form genutzt, um das alte Spiel von Macht und Eifersucht zwischen den Männern darzustellen. Der Kampf um die Frau kann auch hier nur mit dem Tod enden, der Solotanz wird verteidigt. Abschließend lässt sich sagen, dass der Flamenco als Solotanz von Carlos Saura gezielt eingesetzt wird, um Liebe, Hass und Verrat in eine Narration zu übersetzen, in der sich spanische Traditionen mit solchen der Roma mischen. Diese Hybridisierung verschiedener Mittel kann als postmodernes filmisches Verfahren gelesen werden. Die enge Verbindung zum Stierkampf wird in den unterschiedlichen

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Tanzelementen offenbart und suggeriert einen ständigen Kampf auf Leben und Tod. Über beide Kunstformen verschmilzt die Filmrealität mit der Bühnendiegese. Durch die großen Spiegel ergibt sich eine Codierung der Spiegelwelt, die immer wieder eine Verdopplung hervorruft, die auf einer möglichen Täuschung beruht und damit das Medium Film selbstreflexiv thematisiert: Wer sieht eigentlich was und wen im Spiegel? Die abgeschlossene Welt der Compania wird auch metaphorisch über die enge Eingrenzung der Bühne symbolisiert, auf der Antonio seine selbst erschaffene Welt choreografiert. Immer wieder bricht Carmen aus. Sie ist und bleibt die nach Freiheit dürstende Frau, die die Enge der Compania nicht aushält. Denn die bis in den letzten Takt inszenierte Exaktheit der Bewegungen ist auch eine Form der Unfreiheit. Nicht Carmen nimmt den Männern die Luft zum Atmen, sondern diese schränken sie in ihrer Freiheit ein. Nur im Tod kann sie ihre Unabhängigkeit erlangen. Damit aber partizipiert der Film an einem Carmen-Mythos, den er auf der anderen Seite durch die Figur des Antonio, der ebendiesen Mythos im Tanztheater auferstehen lassen will, durchaus kritisch reflektiert. Carlos Saura erzählt nicht nur die Geschichte von Antonios gescheitertem CarmenTanztheater-Projekt, sondern deckt – ganz postmodern – auch die verschiedenen Facetten der Entstehungsgeschichte des CarmenDramas zwischen Literatur, Oper, Theater und Film auf.

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Marsha Kinder: „Spanien nach Franco“. In: Geoffrey Nowell-Smith (Hrsg.): Geschichte des internationalen Films. Oxford/Stuttgart 2003, S. 549. Jürgen Felix: „Carmen“. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Reclam Filmklassiker in fünf Bänden. Bd. 4, Stuttgart 2006, S. 210. Das Amor de Dios ist bis heute die professionellste und weltweit angesehenste Flamencoschule Spaniens. Felix (wie Anm. 2), S. 208. Thomas Elsaesser, Malte Hagener: Filmtheorie. Spiegel und Gesicht, Hamburg 2007, S. 75. Die von Jacques Lacan entwickelte Theorie des sogenannten Spiegelstadiums war grundlegend entscheidend für die Filmtheorie. Den Blick in den Spiegel betrachtet Lacan als Eintritt in die gesellschaftliche Struktur, da das Kind sein eigenes Bild im Spiegel erkennt. Es kann selbst die Bewegung im Spiegel bestimmen, besitzt dadurch ein Maß an Kontrolle. Dadurch entsteht nach Lacans Theorie das „Ideal-Ich“. Meines Erachtens sucht Antonio im Spiegel wieder sein Ideal-Ich, das ihm abhandengekommen ist, da er noch in einer alten Welt mit alten Strukturen lebt. Mechthild Zeul: „Carmen und die falschen Träume. Eine psychoanalytische Interpretation der deutschen Rezeption des Films von Carlos Saura“. In: dies.: Carmen und Co. Weiblichkeit und Sexualität im Film, Stuttgart 1997, S. 33. Prosper Mérimée: Carmen (1845). Novelle, Übersetzung von Wilhelm Geist, revidiert und mit einem Nachwort versehen von Günter Metken, Stuttgart 2005. Auf Seite 21 berichtet der Icherzähler, dass nach einer spanischen Redensart die ‚Zigeuneraugen‘ ähnlich wie die eines Wolfes seien. Und eben diese Augen habe auch die Figur Carmen. Barbara Thiel-Cramér: Flamenco. München 1988, S. 20. Zit. nach: Peter A. Thomas, Renate Wagner: Flamenco. Andalusiens Seele im Tanz, Wels/München 1988, S. 29. Ebd., S. 30. Ebd., S. 29. Antonio Gades: „Unsere ‚Carmen‘ und die Bedeutung des Tanzes in meinem Leben“. In: ders., Carlos Saura: Carmen. Ein Traum von bedingungsloser Liebe, mit der Novelle von Prosper Mérimée, Hamburg 1988, S. 52. Carmen von Georges Bizet. Carlos Saura hat für seinen Film die Version des Orchesters de la Suisse Romande unter der Leitung von Thomas Schipers verwendet. Regine Resnik singt darin die Carmen. Thomas, Wagner (wie Anm. 10), S. 34. Felix (wie Anm. 2), S. 212. Reiner Tetzner, Uwe Wittmeyer: „Zeus verführt Europa“. In: Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt von Reiner Tetzner und Uwe Wittmeyer, Stuttgart 2003, S. 96-97.

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Oliver Farke: Faszination Stierkampf. In: Anda. Zeitschrift für Flamenco (1999), H. 23, S. 8-11, hier S. 9. Ebd. Ebd., S. 10f. Ebd.

Zwischen Mythos und Moderne Carmen/Elektra in Jean-Luc Godards Prénom Carmen (1983) von Julia Freytag Jean-Luc Godards Prénom Carmen aus dem Jahr 1983 ist eine filmische Destruktion von Carmen als Mythos der Moderne, als weiblicher Ikone und als Männerfantasie. In einem komplexen selbstreflexiven und metafilmischen Spiel werden Versatzstücke der Carmen-Geschichte in das Paris der Gegenwart versetzt. Godards Carmen ist eine junge Terroristin, die mit ihrer Clique eine Entführungsaktion plant. Bei einem Banküberfall entstehen aus einem Kampf Umarmungen und Küsse mit dem jungen Polizisten Joseph, der als Don José figuriert und sie schließlich während des Showdowns in einem Pariser Grand Hotel erschießt. Es sind letztlich […] Mitglieder einer Außenseiterbande, die hier ohne rechtes Ziel und ohne rechten Sinn agieren. So wird denn auch nicht weiter ersichtlich, wofür sie das Geld benötigen, und was sie mit dem Industriellen, falls dessen Entführung gelingen sollte, anstellen wollen. […] Es sind wohl eher Kinder, die hier ihre unüberlegten Spiele treiben, denen hilflose und wenig überlegene Erwachsene gegenüberstehen, die bereits mit der Welt abgeschlossen zu haben scheinen.1

Godards Film ist ein intermediales Spiel mit dem Carmen-Mythos, in dem er die Elemente Text, Bild und Musik häufig überlagernd gegeneinander montiert. Seine Inszenierung der nur noch fragmentarischen Carmen-Geschichte wird in mehrere Fiktionsebenen aufgebrochen. So spielt Godard selbst als Filmemacher und Onkel von Carmen mit – laut Drehbuch: JLG, Godards bekanntes öffentliches Kürzel. Prénom Carmen changiert zwischen burlesker Komödie und Tragödie, poetischer Bildsprache und filmischem Essay. Die Szenen zwischen den Liebenden sind stilisiert wie ein Ballett, die räuberischen Überfälle von absurder Komik mit gleichgültig zeitungslesenden Zuschauern, geduldig rechnenden Managern und gewissenhaften Putzfrauen, die ihrer Aufgabe auch in einer von Leichen übersäten Schalterhalle nachkommen. Onkel Jean, das Alter Ego von Godard, ist ein Weiser in Narrengestalt […].2

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Prénom Carmen entsteht innerhalb des filmischen Carmen-Booms der frühen achtziger Jahre.3 Dabei löst Sauras Flamenco-Ballett-Version nicht nur eine Carmen-Begeisterung, sondern zudem eine höchst kontroverse feministische Debatte aus.4 Carmen wird in den Diskursen, insbesondere ausgehend von Sauras Film, in ihrer aktiven, selbstbestimmten und ungebundenen Sexualität sowie in ihrem Freiheitsdrang als weibliche Figur zelebriert, die die patriarchalen gesellschaftlichen und familiären Strukturen zu sprengen vermag. Beispielhaft für diese Carmen-Rezeption sei die Filmemacherin Jutta Brückner zitiert, die das emanzipatorische Potenzial der Carmen-Figur akzentuiert: Es ist eine völlig narzisstische Leidenschaft, die sich selbst Objekt genug ist, aber gerade deshalb ihr eine Kraft und Konsistenz gibt, die man nur mit einem beschreiben kann: die Fähigkeit zur Freiheit. […] Freiheit wird uns vorgeführt als Aufbruch aus der Starre, Sprengen von Grenzen […] Die ungraziösen und oft gewaltsamen Tanzschritte des Flamenco zeigen Frauen die Bewegungen ihrer eigenen Emanzipation.5

Carmen entspricht sowohl dem feministischen Wunschbild der weiblichen Autonomie und Unabhängigkeit als auch der Männerfantasie von der dämonisch-verführerischen Frau, die nur durch den Tod zu bändigen ist. Diese Ambivalenz vertiefen Godard und Anne-Marie Miéville, Autorin des Drehbuchs zu Prénom Carmen, indem ihre Carmen weder eine Identifikationsfigur für weibliche Emanzipation noch eine Projektionsfigur für männliche Fantasien ist. „Godards Version der Carmen-Geschichte […] schwelgt nicht im Mythos neuer Weiblichkeit. Seine Annäherung an die Carmen-Figur ist gebrochen und brüchig.“6 Prénom Carmen entwirft keine Carmen, die unbekümmert „lacht, singt und tanzt, wie es sich keine andere Frau zutraut“7 und die sich nimmt, was sie will, sondern eine beschädigte, melancholische, aber auch eine wütende junge Frau. Das Buch zum Film, die Bearbeitung der Novelle Prosper Mérimées, ist von Anne-Marie Miéville. Sie versucht der Wahrheit hinter Carmen auf den Grund zu kommen, indem sie sie mit einer anderen Frauenfigur kombiniert. Daß für sie Carmen eine reine Männerphantasie ist, wird deutlich, wenn sie ihr [die folgenden] Sätze in den Mund legt […] Carmen, von ihrem kleinen Polizisten befragt, wonach es sie verlange: den Leuten zeigen, was eine Frau mit einem Mann anzustellen fähig ist. Wenn das nicht eine Männerphantasie ist! […] Aber Miéville findet dafür noch eine weibliche Erklärung, indem sie ihrer Carmen Züge von Elektra beigibt.8

Carmen als Männerfantasie sowie als Bild weiblicher Autonomie stellen Godard und Miéville infrage, indem sie den populären CarmenMythos mit dem antiken Elektra-Mythos überschreiben.

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Text, Ton und Bild – Godard pfeift auf die Habanera9 In Godards Filmen wie auch in Prénom Carmen ist die filmische Markierung der Trennung von Ton und Bild konstitutives filmisches Verfahren. Der Carmen-Mythos wird über das bewusste Spiel mit den einzelnen filmischen Elementen Text, Ton, Bild, Montage, Körper, die Differenz von Rolle und Schauspieler dekonstruiert.10 Godards filmische Reflexion des Verhältnisses von Text, Ton, Musik und Bild verweist auch auf die spezifische intermediale Transformation des Carmen-Mythos selbst. Denn rezeptionsgeschichtlich ist Carmen zunächst eine literarische Figur von Prosper Mérimée (1847), die mit Georges Bizets Carmen (1875) zu einer der prominenten weiblichen Opernfiguren wird. Im 20. Jahrhundert ist sie außer auf der Opernbühne vor allem auf der Filmleinwand präsent. Davon zeugen seit Beginn der Filmgeschichte ca. 80 Carmen-Verfilmungen.11 Carmen ist über Bizets Oper, in der sie im Unterschied zur Novelle als eigenständige Figur unmittelbar die Bühne betritt, zu einem Mythos geworden.12 Dagegen löst Godard gerade über die Musik das figurative und stereotype Bild von Carmen auf. Die Habanera aus Bizets Oper kommt in Prénom Carmen nur noch fragmentarisch und en passant vor, und zwar als kurze Melodie gesungen, rhythmisch geklopft und gepfiffen. In einer der ersten Einstellungen sitzt Onkel Jean auf einer Bank in den Fluren einer Psychiatrie, als ein weiterer Patient im Vorbeilaufen die Melodie der Habanera singt und pfeift. Bizets Oper, deren Habanera an einer späteren Stelle des Films nur noch aus dem Off gepfiffen wird, wird bei Godard stattdessen von Ludwig van Beethovens späten Streichquartetten ersetzt.13 Dabei binden die Einstellungen eines Beethoven probenden Streichquartetts, die wiederholt montiert werden, die Musiker als aktive Mitspieler ein. Die musikalisch hochkomplexen Quartette Beethovens bilden einen Kontrapunkt und abstrakten musikalischen Hör-Raum gegenüber den Konnotationen, Bildern, Stereotypen, die mit dem Carmen-Mythos verbunden sind. „Gerade diese Konstruktivität des Musikeinsatzes, die musikalische Durcharbeitung des Films, rückt ihn von der Oper weg, weil dadurch die Handlung entmythologisiert wird, das Formale, Gemachte der Handlung betont wird.“14 Anstatt von einer kohärenten narrativen Struktur ist Prénom Carmen von der strukturellen Bewegung der Musik geprägt. Auch über das spezifisch neuartige In-Beziehung-Setzen von Bild, Text, Sprache und Musik wird Carmen entmythologisiert. Bereits der Filmtitel Prénom Carmen, der Carmen als Vorname akzentuiert, ver-

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weist auf die Bedeutung des Namens. Der Film wirft die Frage danach auf, inwiefern die Bilder durch die Benennung und durch die Sprache markiert werden. Können die Bilder über Töne, Klänge oder Musik dem Namen und ihrer Markierung durch diesen vorausgehen? Inwiefern lässt der Name Carmen die Bilder in einem anderen Licht erscheinen? Annoncer Prénom Carmen, c’est se situer en deçà du nom, c’est ne pas dire le nom. Le pré-nom, c’est ce qui vient avant le nom, avant le langage, la connaissance. On ne connaît pas celle qui a pour prénom Carmen, puisque nous ne connaissons pas son nom. Avant de nommer les choses, les êtres, avant de parler, d’ordonner des images, et des sons, avant de faire du cinéma, qu’estce qu’il y a? Telle est la question.15

Einerseits ruft der Titel Prénom Carmen die ikonischen und stereotypen Bilder des Mythos auf. Andererseits zeigt er aber auch an, dass die Frau auf der Leinwand, gespielt von Maruschka Detmers, lediglich diesen Figurennamen trägt.

Carmen-Bild und Elektra-Text In Prénom Carmen inszeniert sich Godard selbst als Filmemacher, der verrücktspielt, um sich vor dem Leben und dem Filmemachen in ein psychiatrisches Krankenhaus zu flüchten. Damit spielt Godard in besonderer Weise auf das Mittel der Rahmung in der Novelle von Mérimée an sowie auf den männlichen Blick auf Carmen.16 Carmen verwickelt ihren Onkel Jean in ein angebliches Filmprojekt, das aber lediglich die Tarnung der geplanten terroristischen Entführung eines Großindustriellen und dessen Tochter ist. „The framing of Carmen’s story by the narrator in Mérimée is echoed by Godard’s Oncle Jean. Just as Mérimée’s narrator smokes with Carmen, […] so too do the uncle and Carmen.“17 Jedoch verkomplizieren und verkehren die mehrdimensionalen Spiel- und Fiktionsebenen, die zugleich mit Godard ‚as himself‘ die Filmhandlung, das Filmemachen und diesen, jetzt zu sehenden, Film ineinander schieben, das Verhältnis von männlichem Erzähler und Carmen-Figur. Was der Film fordert, ist kein einfaches Zusehen, sondern Seharbeit, eine Distanz zum Wahrgenommenen. Die Identifikation mit den Figuren wird aufgebrochen, ihre Theatralität nicht versteckt, sondern aufgezeigt. Der Raubüberfall zu Beginn wird wie ein Film inszeniert. Der geplante Film, bei dem Godard Regie führen soll, dient zur Tarnung einer Entführung […] Wie im Theater sprechen die Darsteller ihren Text. […] Zu keiner Zeit lässt Godard

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den Zuschauer im Unklaren darüber, dass es sich hier um einen Film handelt.18

Prénom Carmen zergliedert den Carmen-Mythos nicht nur in einem selbstreflexiven Spiel mit der filmischen Fiktion, sondern verfremdet ihn über den Elektra-Mythos. In den ersten Szenen des Films erhält Onkel Jean Besuch von seiner Nichte Carmen, die er offenbar als Dreizehn- oder Vierzehnjährige sexuell missbraucht hat: JLG […] Qui, est-ce? CARMEN (entrant dans le champ) Tu te souviens pas de moi? … Carmen. (Elle l’embrasse sur les joues.) JLG Tu es la fille de … d’Elisabeth. CARMEN Oui. (Silence. JLG tire une bouffée de son cigare. Carmen fait le tour du lit et sort du champ. Off sur JLG.) Tu demandes pour-quoi je suis là? JLG Ah oui, ça peut faire du dialogue. […] CARMEN (tirant une cigarette de son paquet) On peut fumer? […] (Gros plan de Carmen de profil. La main de JLG en amorce vient allumer sa cigarette avec un briquet. Léger recadrage sur Carmen qui souffle la fumée.) […] Il faudrait que tu m’aides, oncle Jean. JLG (en rentrant dans le champ) Il y a longtemps. Les dernières vacances, c’ était … longtemps. (Il lui caresse le cou et les lèvres.) CARMEN (repoussant sa main) Oui.19

In dieser Szene wird die Blick-Konstellation zwischen männlicher Erzähler-Figur (JLG) und Carmen verkehrt: Carmen ist hier nicht die verführerische femme fatale, sondern Onkel Jean richtet sein inzestuöses Begehren auf die adoleszente Nichte, die sich ihm aber entzieht. Ihr in sich gekehrter Blick zeigt in vielen Szenen, wie auch in der hier beschriebenen beim Rauchen einer Zigarette, ihren Rückzug und ihre Verweigerung. Sie vollzieht kein verführerisches Spiel mit Blicken oder Körpersprache. Vielmehr verwickelt sie ihren Onkel als Filmregisseur in ein bewusstes Spiel mit Fiktion und Realität. CARMEN (à la fenêtre) Il est toujours à toi, l’appartement de Trouville? JLG Absolument. CARMEN Est-ce que je pourrai m’en servir? JLG Oui, oui … Pour quoi faire? (Il essaie de la caresser, elle se dégage et sort du champ.) CARMEN Tu sais, on fait un film avec des amis. (Un temps. Elle s’approche de lui.) […] l’histoire se passe au bord de la mer. […] (en gros plan) regarde par la fenêtre. Tout au long du plan elle oscillera entre des regards vers l’intérieur ou l’extérieur. JLG (off) Tu a toujours des histoires avec elle. CARMEN (regardant JLG hors champ): Avec qui ça? JLG (off) Le bord de la mer, avec ta mère, comme la petite Electre. C’est toi qui te souviens pas. Je t’ai toujours dit que tu étais douée pour le malheur.

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Julia Freytag Comment ça finissait quand il y avait, tu sais, tous les coupables dans un coin, et puis, et puis, les innocents dans un autre? (24)

Godard entwirft hier die Doppelfigur Carmen/Elektra. Dabei rahmt Elektra buchstäblich den ganzen Film. Denn bereits am Anfang fantasiert Onkel Jean seine Nichte Carmen als Elektra. Seine Frage „tous les coupables dans un coin, et puis, […] les innocents dans un autre?“ (s. o.), an die sich Carmen im Lauf des Films mehrmals erinnert, führt sodann zu den letzten Sätzen aus Giraudoux’ Elektra, die auch Godards Film beschließen. Bei Godard ist nicht Carmen eine Projektionsfigur, sondern der antike Elektra-Mythos wird auf den modernen Carmen-Mythos projiziert. Damit überschreibt der Elektra-Mythos die populären ikonischen Carmen-Bilder, die bereits durch den Titel und den Namen der Protagonistin aufgerufen werden, und erzeugt beunruhigende Brüche, Irritationen und Verschiebungen. In dieser Form der Überlagerung eines antiken und eines modernen Mythos reflektiert der Film auch das Verhältnis von Mythos, Bild und Text.20 Denn Carmen ist in erster Linie eine ikonische Figur, die vor allem im visuellen Medium des Films und der bildgewaltigen Operninszenierung rezipiert wird und oftmals durch stereotype Bilder, Körperund Blickinszenierungen dargestellt wird. Elektra hingegen ist eine mythologische Figur, die eher literarisch als bildlich verarbeitet wird, weshalb es konsequenterweise beinahe keine Elektra-Verfilmungen gibt. Auch Godards Film führt den Elektra-Mythos zunächst als Text ein – als intertextuelles Zitat aus Giraudoux’ gleichnamigem Theaterstück. Die antike Elektra ist eine Tochter-Figur, die familiär zwischen Vater und Mutter verstrickt ist. Sie trauert um ihren toten Vater (Agamemnon), der von ihrer Mutter (Klytämnestra) getötet wurde und fordert als Rache den Muttermord – den sie aber schließlich nur mit der Hilfe ihres Bruders Orestes vollziehen kann. Als Tochter der fluchbeladenen Atriden-Familie ist sie ebenfalls in eine intergenerationelle Verkettung von Rache und Gewalt verwickelt.21 Auch Carmen wird von Godard als Tochter eingeführt: „JLG: Tu es la fille de … d’Elisabeth.“ (s. o.). Ferner kennzeichnet ihre inzestuöse Beziehung zu ihrem Onkel, zu einer Vater-Figur also, sie als Elektra. Mit der Doppelfigur Carmen/Elektra deckt Godards Film die ‚Rückseite‘ der CarmenFantasie auf, indem er Carmens Verführungsmacht, der die Männer erliegen, umkehrt. Durch Carmens sexuelle Verführung durch eine väterliche Figur thematisiert Godards Film Gewaltverhältnisse, die

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von den gängigen Darstellungen Carmens mit ihrer vermeintlich ungebrochenen Leidenschaft und Lust oftmals verdeckt werden. Elektra ist eine Figur der melancholischen Trauer, aber auch der weiblichen Wut und Rache, durch die sie sich aus der familiären und genealogischen Gewalt zu lösen versucht. Carmen, die gemäß dem Mythos als Zigeunerin nomadisch und herkunftslos ist, ihre Freiheit einfordert und selbstbewusst ihr Begehren artikuliert, wurde aus feministischer Sicht, gerade in den achtziger Jahren, als moderne emanzipierte Frau wahrgenommen, die sich aus Fesseln der Liebe und der Gesellschaft bereits befreit hat. Diesen gegenwärtigen Carmen-Mythos stellt Godard mit Elektra in Frage, indem er den Zusammenhang von Gewalt, Geschlecht und dem Wissen um die eigenen autonomen Handlungsmöglichkeiten wesentlich komplexer fasst.

Das Dreieck Carmen/Elektra – Joseph – JLG Durch die Elektra-Konstellation problematisiert Godards Film Carmen als Männerfantasie. Denn Carmens/Elektras amour fou mit dem Polizisten Joseph ist zugleich ihre inzestuöse Beziehung zu ihrem Onkel Jean eingeschrieben, wie die entsprechenden Szenen in dessen Appartement am Meer zeigen.22 Dieses Dreieck zwischen Carmen/ Elektra, Joseph und JLG wird durch die sich vervielfachenden Fiktionsebenen, indem die Figur JLG auf Godard als Autor des Films unmittelbar verweist,23 erweitert. Denn die Liebesgeschichte zwischen Carmen und Joseph wird so nicht nur als Fantasie des verrückten Onkel Jean wahrnehmbar, der sich als verjüngter Liebhaber von Carmen imaginiert, sondern sie werden als filmische Fantasie, als Filmszenen aus dem Blick des männlichen Autors Godard ausgestellt. Allerdings zeigt Godard anstatt einer dramatisch-leidenschaftlichen Liebesgeschichte zwischen Carmen und Don José, wie sich Carmen und Joseph auf destruktiv-aggressive Weise begegnen, sich verfehlen und letztlich einsam bleiben. About the title, I wanted to add that I feel that everybody knows the story of Carmen but nobody knows what really happened between Don José and Carmen or between Joseph and Carmen […] The big difference between Carmen films made by Rosi or Saura is that theirs are illustrations of a classical theme, whereas we tried to find what a man and a woman have said to each other, dominated by that image of love which weighs upon them, the name which is given to their love […] If they are in a kitchen, what did they say?24

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Des Weiteren zeigen diese Szenen, wie sich Carmen/Elektra zugleich der (inzestuösen) männlichen Fantasie entzieht, auch wenn ihr Körper vielfach in seiner Nacktheit inszeniert wird: „Carmen ist eine Frau von der Männerseite. Godard macht das selbst noch mit ihrem nackten Körper klar.“25 Denn Carmens/Elektras Begehren scheint auf etwas Abwesendes ausgerichtet zu sein. Dessen Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zeigt sich über die leitmotivisch wiederkehrenden Einstellungen des Meeres – verbunden mit Möwenschreien, dem Geräusch brandender Wellen und der Beethoven-Musik auf der Tonspur. Diese Einstellungen, die mehrfach zwischen die Szenen mit Carmen und Joseph montiert werden, unterbrechen das „what a man and a woman have said to each other“ (s. o.) mit poetischen vielfach konnotierten Bildern: So ist das Meer sexualisierte Naturdarstellung, Ausdruck des Verlangens nach Verschmelzung und Auflösung, aber auch der Sehnsucht nach dem mütterlichen Ort und einer symbiotischen Harmonie, was weniger durch das Bild als vielmehr durch die Homophonie von la mer (Meer) und la mère (Mutter) deutlich wird. Jene letztgenannte Konnotation wird bereits in der anfänglichen Szene zwischen Carmen und JLG aufgerufen: „JLG: Le bord de la mer, avec ta mère, comme la petite Electre“ (s. o.). So ruft das leitmotivische Bild des Meeres auch wiederholt die Elektra-Figur in Erinnerung. In Miévilles Version, die Godard ausspricht, heißt es, daß Männer ohne Spuren zu hinterlassen durch ihr Leben gehen, weil sie mit ihrer Mutter nie ins Reine gekommen ist. […] Aber das ist eine Geschichte, Carmens Vorgeschichte, die sich den Bildern entzieht, die allenfalls über die Töne verständlich wird.26

In einer Szene ist Carmen in seitlicher Nahaufnahme vor dem Fenster zu sehen, während Joseph im Off ist oder nur im Anschnitt zu erkennen ist. Diese Einstellung ähnelt derjenigen in der anfänglichen Szene mit JLG, als dieser sie mit Elektra vergleicht. Carmen und Joseph sprechen miteinander, aber auf der Tonspur ist nur die Beethoven-Musik zu hören: Die Kamera bleibt auf Carmen gerichtet, als Joseph sich ihr nähert. Sie stößt seine Hand zurück. Mit aufmerksamem, abwartendem Blick schaut sie ihn an, ruft ihm etwas zu; seine Hand legt sich auf ihre Schulter, und sie folgt seiner Hand mit ihrem Blick. Schnitt auf das Meer. Die darauffolgende Einstellung zeigt wieder Carmen in Nahaufnahme, wie sie vor dem Fenster steht und mit von der Kamera abgewandtem Blick aus dem Fenster schaut: CARMEN (off) J’ai […] habité ici. C’est chez un de mes oncles. Je devrais avoir treize ou quatorze ans (elle rit tendrement puis se tourne vers la gauche). Là-

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bas c’était le salon (elle indique la droite). Ici c’était sa chambre (elle prend un air grave: Joseph revient vers la fenêtre)… sa chambre. (Un temps) On va faire un film avec des copains. (31)

Carmens Rede in dieser Szene schließt an JLG’s frühere Rede von den Ferien an, die lange her sind. Mit in sich gekehrtem und ernsthaftem Blick, als würde sie von unangenehmen Erinnerungen eingeholt, erzählt Carmen/Elektra nur in Andeutungen von ihrer Verbindung zu diesem Appartement am Meer und unterbricht sich schließlich selbst jäh mit dem Satz „On va faire un film avec des copains“ (s. o.). Im Anschluss daran ist die vorherige stumme Szene diesmal mit Ton noch einmal zu sehen, in der sie sich, wie oben bereits beschrieben, körperlich näherkommen: CARMEN Et si je vous disais de vous tirer maintenant. JOSEPH (off) Non. CARMEN Je vous attire? JOSEPH (off, reposant la main sur son épaule) Oui. CARMEN Peut-être … (31)

Durch diese zeitlich versetzte Erzählweise sowie die Trennung von Ton und Bild wird ihre Erinnerung an sich selbst als Dreizehn- oder Vierzehnjährige der Annäherungsszene zwischen ihr und Joseph nicht nur nachträglich hinzugefügt, sondern ausdrücklich als bedeutsame Vorgeschichte gekennzeichnet. Mit der Überblendung von Carmen und Elektra zeigt Godard weniger Carmens Verführungsspiel und Josephs Überwältigung, sondern ihre sexuellen Beschädigungen durch den Inzest. Im weiteren Verlauf betont diese Sequenz die aggressiv-lustvolle, von Verachtung geprägte Anziehung zwischen den Geschlechtern: Carmen steht vor dem Fenster und blickt starr auf das Meer hinaus, während Joseph mit nacktem Oberkörper vor ihr steht und ihr Kleid aufzuknöpfen beginnt. „Carmen: Allez-y idiot. […] Doucement.“ (31) Daraufhin reißt er ihr Kleid auseinander. Sie wiederum reißt ihn an den Haaren und hält seinen Kopf fest umklammert, so dass er sich nicht mehr bewegen kann und blickt wieder aus dem Fenster. „Joseph: Pour-quoi est-ce que les femmes?“ (31). Schnitt auf das Meer. In den kommenden Einstellungen liegen Carmen und Joseph nackt auf dem Boden, im Abendlicht vor dem geöffneten Fenster zum Meer. Mit in sich versunkenen, melancholischen Blicken und gleichzeitig lustvollen, aber vorsichtigen Berührungen wird vielmehr die Fremdheit und Einsamkeit zwischen den Geschlechtern offenbar als jene stereotype Leidenschaftlichkeit, die der Carmen-Mythos gemein-

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hin aufruft. Eine der folgenden Sequenzen zeigt Carmen und Joseph am nächsten Morgen in der Küche: Joseph sitzt mit nacktem Oberkörper auf einem Stuhl, während Carmen vor ihm mit nacktem Unterkörper am Küchentisch lehnt: JOSEPH (lui caressant les hanches et le haut des cuisses) T’as vraiment un derrière de jeune fille. (La musique reprend. Gros plan de Carmen.) … et de femme aussi. […] CARMEN Je te le dis clairement: si je t’aime, t’es fichu. JOSEPH Oui. Carmen. (33)

Mit dieser Äußerung zitiert Godard den Carmen-Satz „If I love you, that’s the end of you“ aus Otto Premingers Carmen Jones von 1954. Unmittelbar im Anschluss wird diese explizite Referenz auf eine filmische Carmen mit Elektra überblendet. Denn Carmen versucht sich an den Elektra-Text zu erinnern, nach dem ihr Onkel sie bereits am Anfang fragt (s. o.), den sie aber erst am Ende des Films sprechen wird. CARMEN Comment ça s’appelle? JOSEPH (off) Quoi? CARMEN Il y a quelque chose avec les innocents, là … et puis les coupables, là … et puis … et puis, je sais pas. (33)

Die Erinnerung an Elektra Zurück in Paris wird JLG als Regisseur des angeblichen Filmdrehs für die geplante terroristische Entführungsaktion funktionalisiert, während Joseph durch Carmen und Jacques, den Anführer der Clique, nicht nur aus den Vorbereitungen der Aktion ausgeschlossen, sondern auch zunehmend von Carmen abgewiesen wird. Seine Wut und Eifersucht darüber steigern sich immer mehr. Nachdem Carmen sich endgültig von ihm getrennt hat, überwältigt Joseph Carmen unter der Dusche, drückt sie mit einer Hand an die Wand und masturbiert mit der anderen. Carmen lässt sich auf den Boden fallen, Joseph bedeckt sein Geschlecht mit beiden Händen, und sie legt sich flach auf die Fliesen des Badezimmerbodens. Als Joseph sich auf sie legt, sagt sie: CARMEN Tu me dégoûtes. JOSEPH Moi aussi. Carmen se redresse. Cut. Plan rapproché de Carmen (de dos) et de Joseph (de face) assis sur un lit.

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CARMEN Je ne me console jamais (gros plan de Carmen la tête penchée) de rien. (Elle relève la tête.) Pourquoi les hommes existent? (60)

Diese Szene, die analog zu der vorherigen zu sehen ist, in der Joseph sagt „Pour-quoi est-ce que les femmes?“ (31), akzentuiert erneut die destruktive Dynamik zwischen Carmen und Joseph, die am Ende des Films dazu führt, dass Joseph gemäß dem Mythos Carmen tötet. Während des großen Showdowns kämpfen Joseph und Carmen, die die Industriellen-Tochter zu entführen versucht, miteinander. Schließlich stehen sich Carmen und Joseph mit aufeinander gerichteten Waffen gegenüber. Joseph schießt zuerst, Carmen sinkt zu Boden, und Joseph wird abgeführt. Der Schlussdialog, der von der sterbenden Carmen und dem Hotelpagen gesprochen wird, zitiert fast wörtlich die letzten Sätze aus Giraudoux’ Elektra:27 Die Frage, die Onkel Jean zu Beginn aufgerufen hat, beantwortet Carmen nun mit Giraudoux‘ Elektra, so als erinnere sie sich erst jetzt an den vollständigen Elektra-Text oder als komme sie soeben zu einer Erkenntnis, die ihr zuvor verborgen gewesen ist: CARMEN […] Comment ça s’appelle quand il y a les innocents dans un coin et les coupables dans l’autre? VALET Je ne sais pas, mademoiselle. […] CARMEN Mais si quand tout le monde a tout gâché, que tout est perdu, mais que le jour se lève, et que l’air quand même se respire. VALET (après un temps de réflexion) Cela s’appelle l’aurore. (Plan d’une mer calme et ensoleillée. Léger bruit de mer.) Mademoiselle. (63f.)

Während Elektra in der antiken Tragödie von Sophokles die Rache aufgrund ihres Wissens um die familiäre Situation anstrebt, kommt sie bei Giraudoux erst am Ende zur erweckenden Erkenntnis. Am Schluss von Godards Film wird mit Carmens Erschießung noch einmal der ikonische Carmen-Mythos aufgerufen, wenn auch verfremdet über die Terroristin Carmen. Mit dem Intertext von Giraudoux wird Carmen regelrecht mit Elektra überschrieben und endgültig verabschiedet. Godards Prénom Carmen setzt stattdessen Elektra als Figur des 20. Jahrhunderts, die mit generationsübergreifender und familiärer Gewalt, Schuld und Tod konfrontiert ist.28 Dabei erfolgt die Entmythologisierung und Deskonstruktion der populären Carmen-Figur gerade durch die Behauptung und Setzung des klassischen antiken Elektra-Mythos. Godards Film destruiert nicht nur den populären Carmen-Mythos und Carmen als ‚Traumfrau‘ der Männer, sondern lässt auch die fe-

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ministischen Träume von einer autonomen Weiblichkeit und Sexualität platzen, die der Carmen-Boom der achtziger Jahre geweckt hat. Die Verabschiedung des Carmen-Mythos durch dessen Überschreibung mit Elektra betont dagegen die Notwendigkeit des Wissens um die eigenen Verwicklungen und Zwänge, seien sie gesellschaftlichkultureller, politischer oder familiärer Art.

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Volker Baer: „Lebendiger Mythos. Jean-Luc Godards Film ‚Vorname Carmen‘“. In: Tagesspiegel, 12.07.1984. Josef Schnelle: „Vorname Carmen. Prénom Carmen.“ In: Film-Dienst, 37. Jg., 15.05.1984, S. 338-339, hier S. 339. Innerhalb von zwei Jahren sind vier Carmen-Verfilmungen ins Kino gekommen: Francesco Rosis Opernverfilmung Carmen, Peter Brooks Theaterverfilmung La Tragèdie de Carmen, Carlos Sauras und Antonio Gades’ Flamenco-Ballett-Version Carmen und Jean-Luc Godards Prénom Carmen. Vgl. Wulf Konold: „Ein Opern-Mythos als Film? Viermal ‚Carmen‘“. In: Hans-Klaus Jungheinrich (Hrsg.): Oper – Film – Rockmusik. Veränderungen in der Alltagskultur, Musikalische Zeitfragen 19, Kassel/Basel u. a. 1986, S. 39-45. „The distribution of films suggests that Carmen adaptations occur at critical moments of the twentieth century. The two most important clusters in quantitative terms occur 1909-1918, and 1983-1984. […] We have already suggested that the Carmen films are closely linked to the state of woman’s social and political freedoms. […] World War I brought women into the job market more intensively; and the 1980s saw the acceptance of 1970s Second Wave feminism in developed countries.“ Phil Powrie et al. (Hrsg.): Carmen on Film. A Cultural History, Bloomington 2007, S. 30. Jutta Brückner: „Carmen und die Macht der Gefühle.“ In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 53/54: Gefühle, Jg. 14 (1983), S. 227-232, hier S. 228. Trotz dieser emphatischen Einschätzung Carmens als Emanzipationsfigur liegt weder von Jutta Brückner noch von einer anderen der Autorinnen des Frauenfilms der siebziger Jahre eine Carmen-Verfilmung vor. Generell gibt es kaum Auseinandersetzungen mit Carmen von weiblichen Filmemacherinnen. „Die vielen (männlichen) Filmemacher, die sich bis zum heutigen Tag an den Stoff herangetraut haben, […] wollten wohl auch aus der Sichtweise der eigenen Zeit heraus Reflexionen darüber anstellen, welche Rolle sie selbst im Rahmen des Freiheitskampfes der Frauen spielten.“ Diego Galán: „,Carmen‘ – die lange Reise durch die Welt des Films.“ In: Carlos Saura, Antonio Gades: Carmen. Ein Traum von bedingungsloser Liebe, mit der Novelle von Prosper Mérimée, München/Hamburg 1985, S. 34-45, hier S. 34. Schnelle (wie Anm. 2), S. 338. Galán (wie Anm. 5), S. 35. Frieda Grafe: „Spiel mir das Lied vom Tod. Nach ‚Passion‘ die Leidenschaft: ‚Vorname Carmen‘ von Jean-Luc Godard.“ In: Süddeutsche Zeitung, 20.07. 1984. Einfügung in eckigen Klammern J.F. Vgl. Karsten Witte: „Er pfeift auf Bizet. Jean-Luc Godards Film ‚Vorname Carmen‘“. In: Die Zeit, 20.07.1984. „Das Thematisieren der Musik, und auch der Bilder und der Sprache hat zur Folge […], daß die einzelnen Elemente selbstständiger gegeneinander stehen, als das die normale Spielfilm-Gewohnheit zuläßt. Es bleiben Lücken, Teile stehen über; die Wahrnehmung kann sich über den Einsatz einer Musik, eines Texts, eines Bilds oder Zwischentitels bewußt werden. Die Elemente werden gegeneinander verschoben und verrückt, so daß immer wieder das

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Baugerüst des Films sichtbar wird.“ Dietrich Stern: „Film als Anti-Oper. Die Erweiterung der filmischen Handlung durch Musik bei Jean-Luc Godard“. In: Hans-Klaus Jungheinrich (Hrsg.): Oper – Film – Rockmusik, S. 46-57, hier S. 56. Vgl. u. a. Powrie (wie Anm. 4); Chris Perriam, Ann Davies (Hrsg.): Carmen. From Silent Film to MTV, Amsterdam/New York 2005. „The term ‚myth‘ is often used in relation to the Carmen narrative […]. This is no doubt because of the sheer number of manifestations […], as well as the assumption that Carmen represents an archetype, that of the femme fatale, comprising independence and immorality.“ Powrie (wie Anm. 4), S. 17. „Insbesondere die Opernbearbeitung [ist] […] für ihre Popularität als moderner Mythos von eminenter Bedeutung. […] Die Oper präsentiert eine Frau, wo Mérimée sie evoziert.“ Kirsten von Hagen: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009, S. 125, S. 129. Zur Bedeutung der Musik in Godards Prénom Carmen vgl. u. a. Stern (wie Anm. 10); Miriam Sheer: „The Godard/Beethoven Connection. On the Use of Beethoven’s Quartets in Godards Films.“ In: The Journal of Musicology, vol. 18, no. 1 (2001), S. 170-188. Stern (wie Anm. 10), S. 51. Guy Baudon: „L’horreur et la beauté du monde.“ In: Avant-scène cinéma. Spécial Godard, Nr. 323/324 (1984), S. 13-16, hier S. 13. In einem Interview sagt Godard über seinen Film (in der englischen Übersetzung der Filmzeitschrift Film Quarterly): „Thus the real title of the film could be Before the name. Before language, in other words, Before Language (Children playing Carmen).“ Gideon Bachmann: „The Carrots Are Cooked. A Conversation with JeanLuc Godard.“ In: Film Quarterly, Spring (1984), S. 13-19, hier S. 14. In Bezug auf Mérimées Novelle schreibt von Hagen: „Vorherrschend ist der durch die Rahmungen jeweils inszeniert männliche Blick auf die Frau. Carmen selbst bleibt, was nicht unerheblich zur Faszination der Figur bis auf den heutigen Tag beiträgt, ein Rätsel, eine Leerstelle und Einschreibungsfläche“. Von Hagen (wie Anm. 12), S. 118. Vgl. auch den Beitrag zum Rahmen von Alexandra Tacke in diesem Band. Powrie (wie Anm. 4), S. 124. Von Hagen (wie Anm. 12), S. 170. Das Drehbuch von Prénom Carmen ist abgedruckt in: Avant-scène cinéma. Spécial Godard, S. 20-64, hier S. 23f. Im Folgenden werden die Zitate mit Seitenzahlen direkt im Haupttext nachgewiesen. Das inzestuöse Verhältnis von JLG und Carmen wird u. a. an dieser Stelle deutlich: JLG (kommt ins Bild): Es ist lange her. Die letzten Ferien, es ist … lange her. (Er streichelt ihren Nacken und ihre Lippen.) Carmen (schiebt seine Hand weg): Ja. Übersetzung J. F. Vgl. Sophie Bagur: „Carmen, prénom Electre“. In: Avant-scène cinéma. Spécial Godard, S. 16f. Bagurs kurzer Text ist eine der wenigen Auseinandersetzungen in der Rezeption von Prénom Carmen, der der Frage nach der Bedeutung der Elektra-Figur in Bezug auf Carmen nachgeht: „La Carmen de Godard porte-t-elle le prénom Carmen ou Electre? […] Electre serait-elle le personnage central? Et comme le suggèrent avec insistance les images de Godard,

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de même qu’un métro peut en cacher un autre, un mythe en masque-t-il un second?“ Ebd., S. 17. Der antike Elektra-Mythos ist in den Elektra-Tragödien von Sophokles und von Euripides ausgestaltet. In der Orestie von Aischylos, die den AtridenMythos verarbeitet, ist Elektra nur eine Nebenfigur. Mit Jean Giraudoux‘ Elektra (1937) bezieht sich Godard auf die Elektra-Rezeption im 20. Jahrhundert, die im Kontext der Psychoanalyse um 1900 mit Hofmannsthals dramatischer Auseinandersetzung mit dem Elektra-Mythos beginnt. JLG: Es ist lange her. Die letzten Ferien, es ist … lange her. Siehe oben. „Like the musicians, whom you actually see in the film, so the one who invents the story is also part of the story.” Bachmann/Godard (wie Anm. 15), S. 15. Ebd. Grafe (wie Anm. 8). Ebd. Dabei spricht Carmen nicht Elektras Text, sondern den zwischen dem Bettler und der Bettlerin. „Die Frau des Narses: […] Wo sind wir jetzt, meine arme Elektra, wo sind wir? Elektra: Wo wir sind? Die Frau des Narses: Ja. Kannst du es mir nicht erklären. Ich habe niemals schnell aufgefaßt. Ich fühle sehr wohl, daß etwas vorgeht, aber begreifen kann ich es nicht. Wie nennt man das, wenn der Tag anbricht wie heute, und alles ist verpfuscht, durcheinandergebracht, aber man atmet trotzdem, hat alles verloren, die Stadt brennt, die Unschuldigen töten einander, aber auch die Schuldigen ringen schon mit dem Tod, in einem Winkel des Tags, der da anbricht? Elektra: Frage den Bettler. Er weiß es. Der Bettler: Dafür gibt es ein sehr schönes Wort, Frau des Narses. Das nennt man die Morgenröte.“ Jean Giraudoux. Elektra. Stück in zwei Akten, Deutsch von Hans Rothe, München 1964, S. 138f. Vgl. Heiner Müllers Formulierung zur Bedeutung der Elektra-Figur im 20. Jahrhundert: „Im Jahrhundert des Orest und der Elektra, das heraufkommt, wird Ödipus eine Komödie sein.“ Heiner Müller: „Projektion 1975“. In: ders.: Ende der Handschrift. Frankfurt a. M. 2000, S. 37.

III. Carmen medial Anna Sutter – Carmen Alain Claude Sulzers Novelle Annas Maske als Montage des Schicksals von Almut Hille Der Schicksalsbrunnen in Stuttgart, 1914 nach Plänen des Bildhauers Karl Donndorf errichtet, erinnert, wie ein Grabmal auf dem Pragfriedhof der Stadt, noch heute an Anna Sutter, eine Sängerin, die am Königlichen Hoftheater Stuttgart zwischen 1893 und 1910 außerordentliche Erfolge feierte. Sie sang, sie verkörperte die Salome und die Misé Brun in den gleichnamigen Opern von Richard Strauss und Pierre Maurice, die Hanna Glawari in der Operette Die lustige Witwe von Franz Lehar und vor allen Dingen verkörperte sie – Carmen! Seit 1899 trat sie in der Titelrolle der Oper von George Bizet auf, 1908 wurde Carmen zum hundertsten Mal in Stuttgart gezeigt. Am 29. Juni 1910 starb Anna Sutter – wie Carmen durch die Hand eines verschmähten Liebhabers. Der frühere Kapellmeister des Stuttgarter Hoftheaters, Dr. Aloys Obrist, erschoss in deren Wohnung zuerst die Sängerin und anschließend sich selbst. Den Mord – eine Verquickung von Oper und Alltag, Kunst und Leben – setzt Alain Claude Sulzer in seiner Novelle Annas Maske (2001) anhand des ‚letzten Gesichts‘1 von Anna Sutter, ihrer Totenmaske, in Szene. Die Maske wird nach ihrem Tod zum Bild des außergewöhnlich Vitalen, des lustvoll Lebendigen, das Anna Sutter für ihr Publikum weiterhin verkörpern soll: Aus einer Totenmaske spricht alles und – so grotesk es klingen mag – mehr als alles. Denn wenn wir die Gesamtheit dieser irdischen Welt, wie sie unseren Sinnen erscheint, das ‚All‘ nennen, so gibt uns eine Totenmaske deutliche Kunde von Dingen, die dieses All nicht mehr umfaßt. Sie lehrt uns die Paradoxie, daß die Toten leben: eine Wahrheit, an der ja im Grunde nie ernstlich gezweifelt worden ist. Die Menschheit als Ganzes, das Kollektivbewußtsein, hat sie immer gewußt.2

Auch der Student Fritz Kroll, in dem ‚historischen Fall‘ Assistent des Bildhauers Walther Weitbrecht bei der Abnahme der Totenmaske

Anna Sutter – Carmen

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Abb. 1: Anna Sutter als Carmen um 1899

Anna Sutters und Figur in der Novelle Alain Claude Sulzers, ist fasziniert von der Sängerin. Obwohl er sie nie auf der Bühne sah, ihr nie persönlich begegnete, spürt er ihre Nähe: In einem Wachtraum, an der Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem, sieht er die Gestalt der Frau, erleuchtet vom „Licht auf der anderen Seite“3. Ein Teil ihres Wesens schien zugegen, als er das Gesicht der von der Erde verbannten Schläferin [betrachtete], die ihm nun, da er sich endlich über sie beugte, nichts anderes zu sagen wußte, als daß ihr nichts zu sagen übrigblieb. Es war alles getan und alles gesprochen. Ihre aufgeworfenen Lippen, auf denen sich nicht der leiseste Vorwurf erhob, blieben geschlossen, und auch ihre niedergeschlagenen Augen öffneten sich nicht; es waren die einer Träumenden, die das Erwachen nicht fürchtete.4

Die Maske wurde nach dem 25. Juli 1910 im Kunstsalon Widensohler an der Stuttgarter Königstraße ausgestellt und hundertfach verkauft.5 Sie ist nach dem Tod Anna Sutters Objekt des Begehrens, der Bildhauer und sein Assistent werden neben dem letzten Liebhaber der Sängerin zu den Männern, „die sie […] jeder auf seine Weise zum letzten Mal berührt hatten“ (S. 112). Dabei hatte die Tote selbst den

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Abb. 2: Die Totenmaske Anna Sutters

Bildhauer Weitbrecht, der sie in der Rolle der Carmen sah, nicht an Anna Sutter erinnert. Lediglich die rote Rose, die zwischen ihre Hände gelegt wurde, lässt ihn wieder „an die schnelle, zuckende Handbewegung, mit der sie Don José, dem glücklosen Liebhaber, jene Blume zugeworfen hatte, die für den weiteren Verlauf seines Lebens eine geradezu sinnbildliche Bedeutung haben sollte“ (S. 11), denken. Anna Sutter ist Carmen, sie soll sie sein, auch für einen „‚Kopfabschneider‘, wie man die Vertreter dieses Berufsstands in Wien einst nannte“ (S. 9). Die rote Blume Carmens erst, durch ein eingefügtes Zitat aus der Novelle Carmen von Prosper Mérimée vielleicht fast zu stark verdeutlicht,6 macht Anna Sutter ‚erkennbar‘ während der ansonsten völlig unbeteiligt durchgeführten, mit technischer Akribie geschilderten Abnahme der Maske: Die unbehaarte Haut, zumal die einer Frau, enthält soviel Fett, daß sie weder mit Öl noch mit Modellierton überpinselt werden muß, die Gefahr, daß der Gips auf der Haut haften bleibt, ist also äußerst gering. Was nicht zur Maske gehört, der untere Teil des Halses etwa, die Stellen hinter den Ohren etc., wird mit hauchdünnem Papier umlegt. Dann wird eine große Schale Gips angemacht und die Flüssigkeit ganz dünn, nur wenige Millimeter dick, über das Gesicht gelöffelt. Dann wird ein Faden von der Stirnmitte über den Nasenrücken zum Mund und bis zum Kinn gelegt. Dann wird weiterer, stärkerer Gips von breiiger Konsistenz angemacht und auf die erste Schicht aufgetragen (wie eine Kappe). Bevor diese bindet, wird der Faden gezogen, wodurch sich das Ganze in zwei Hälften teilt. Nach Erhärtung der Kappe wird die zweigeteilte Form gesprengt und vorsichtig vom Kopf gelöst. Das ist der schwierigste Teil der Arbeit.

Anna Sutter – Carmen

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Die abgenommenen Hälften werden sofort wieder zusammengepaßt und verklammert, das Negativ gereinigt und wieder mit Gips ausgegossen. Und schon haben wir das Positiv, die fertige Maske. Man rühre nicht mehr daran, denn so ist sie gut. (S. 16)

Den Assistenten Kroll allerdings, „der nie versucht gewesen war, sich zu verlieben“ (S. 33), lässt das Gesicht der Frau lange nicht los. Er spürt nachträglich „Annas eiskalte Haut unter seinen empfänglichen Fingerspitzen“ (S. 34) und begegnet ihr des Nachts wie er auch dem letzten Liebhaber Anna Sutters im Kunstsalon Widensohler begegnet.7 Aus Totenmasken könne man, so Egon Friedell, mühelos „ganze Biographien und Monographien herauslesen“8. Alain Claude Sulzer liest mehr als eine Biografie aus Anna Sutters Maske, die in jeweils unterschiedlichen Perspektiven auch auf den Umschlägen der Auflagen der Novelle in der Edition Epoca 2001 und im Suhrkamp Verlag 2006 abgebildet ist. Aus Zeitungsmeldungen, Musik- und Theaterkritiken, Briefen, Lexikonartikeln, Nachrufen, Spielplänen, wissenschaftlichen Publikationen, Teilen des Librettos der Oper und der Novelle Carmen von Prosper Mérimée montiert Sulzer das Leben der Künstlerin und des ihr verfallenen Mannes, Aloys Obrist. Das unbeteiligte, nicht wertende, fast sezierende Aufrollen des ‚Falles Sutter – Obrist‘ prägt die Novelle. Der Autor wird zum Chronisten,9 als der er sich explizit präsentiert, wenn er eigene Materialrecherchen, zum Beispiel im Nachlass Aloys Obrists und im Archiv des Stuttgarter Theaters, skizziert.10 Die Textmontage Alain Claude Sulzers ist ein wie eine Totenmaske immer wieder von einem Faden zerschnittenes Muster, das sich dennoch zusammenfügt. Ihr wohnt auch, und damit geht sie über die Chronik hinaus, ein spannendes, kriminalistisches Element inne, entstehend durch die ‚Fiktion‘, die dem ‚Faktischen‘ hinzugefügt wird, insbesondere in der Gestaltung der Figur von Anna Sutters Zofe Pauline. Sie schreibt am 4. Juli 1910 einen Brief an ihre Mutter, in dem sie – immer wieder unterbrochen, sodass Teile des Briefes über die gesamte Novelle verstreut sind – von den Geschehnissen berichtet und von ihrer mit den Ermittlungen beginnenden Beziehung zu Kriminalkommissar Heid (so auch der Name des Kommissars, der den historischen Fall untersuchte). Durch die Unterbrechungen, durch das Schwebende in den Äußerungen Paulines – „Heid [hatte] das Gefühl, sie verschweige ihm etwas“ (S. 95) – werden nach und nach mögliche Enthüllungen angedeutet. Ein Jahr nach dem Mord wird Pauline sie inszenieren – „Heid [hatte] das Gefühl, endlich am Ziel angelangt zu sein“ (S. 107). Sie liefert dem Kriminalkommissar,

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inzwischen ihr Ehemann, ein wichtiges Detail – der Aloys Obrist nach Zeugenaussagen stark erregende Telefonanruf am Nachmittag vor dem Mord kam von Anna Sutters Tochter Thilde – und fügt der Rekonstruktion des Tathergangs eine ‚Pikanterie‘ hinzu: Im Schrank oder im angrenzenden Zimmer war während der Mordszene Anna Sutters neuer Liebhaber versteckt. Fast typisch für eine deutsche Kriminalgeschichte begibt sich, obwohl der Täter und das Tatmotiv feststehen, der Kommissar (wie der Autor) an die Rekonstruktion der Umstände der Tat. Im Unterschied etwa zu den berühmten angelsächsischen Kriminalgeschichten stehen in ihren deutschen Pendants „nicht das Rätsel des Tathergangs und auch nicht das Raffinement bei der Überführung des Täters im Vordergrund, sondern die Einsicht in die Kontingenz der Verhältnisse: So kann es kommen“11. Ein Blick in die ‚Seele des Täters‘ soll versuchen den Mord, der der Stuttgarter Öffentlichkeit 1910 so unfassbar schien und der schnell auf ein ‚Carmen‘-Muster reduziert wurde, etwas heller zu beleuchten. Doch bei aller chronistischen Detailarbeit und literarischen Finesse steht auch am Ende der Novelle das schillernde Fazit: Anna Sutter ‚war‘ Carmen und starb als Carmen, in ihrer Paraderolle, mit der sie sich identifizierte und die, so ‚dokumentiert‘ es Annas Maske, auch in ihrer eigenen Vorstellung immer mehr zur ‚Vorsehung‘ wurde. Schon früh „überraschte und verwirrte sie ihre Umgebung mit der Feststellung, sie werde wohl einst von einem Carmen-Schicksal ereilt werden“ (S. 40). Anna Sutter und Carmen verschmelzen in ihrem außerordentlichen, außerhalb der ‚Ordnung‘ stehenden Leben und Tod miteinander. Ihre fortschreitende Symbiose wird durch den Einschub von Zitaten aus dem Libretto der Oper und einzelnen Passagen aus Mérimées Novelle evident; ein Verfahren, das auch Jochen Schimmang für seine Novelle Carmen (1992) wählt: Zitate aus Mérimées Novelle dienen als Kapitelüberschriften. Sulzers Text zitiert Carmen in Äußerungen der Figur Anna Sutter: Carmen kennt nur die Antwort. Für Fragen hat sie keine Zeit und keinen Sinn. Was du verlangst, es ist unmöglich, fern von mir ist Heuchelei, es bleibt mein Herz unbeweglich, und zwischen uns ist es vorbei. Und was mein Los auch sei, zwischen uns ist es vorbei. – Klavier, Klavier, Klavier; erneuter Einsatz Carmen: Nein, all dein Flehen ist vergebens, mag mir Tod auch künden dein Blick, und wär’s das Ende meines Lebens, nein, nein, ich weiche keinen Schritt zurück. (S. 70)

Auch die Zofe Pauline wird zur Zeugin eines Symbioseprozesses angerufen, den sie als im Mord vollendet wahrnimmt; Anna Sutter und

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Abb. 3: Anna Sutter als Carmen um 1905/1906

Carmen sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, die Sängerin ‚spielt‘ ihr Leben in der Figur der stolzen, die Freiheit über alles stellenden ‚Zigeunerin‘: Pauline sagte, und es war ihr Ernst, obwohl sie keinerlei Beweise dafür hatte: Ich glaube sie hielt sich in diesem Augenblick für Carmen. Und nach einer kurzen Pause fügte sie fast ungläubig hinzu: Und er, wer weiß, vielleicht für Don José. […] Carmen ist eigensinnig und das Sutterle war es auch. Aber daß sie so mitleidlos sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Sie war doch nicht Carmen. Sie spielte sie nur. Aber jetzt, jetzt war sie’s wohl doch. Jetzt wußte sie nicht mehr, wer sie war. (S. 68-69)

Ihr ‚Bühnentod‘ macht Anna Sutter anderen medialen Figuren vergleichbar. In Wilhelm Hauffs Novelle Die Sängerin (1826) zum Beispiel stirbt die Künstlerin Giuseppa Fiametti fast auf ähnliche Weise wie die Figur Desdemona, von ihr offensichtlich in einer Inszenierung der Oper Othello von Gioacchino Rossini ‚verkörpert’; in dem Spielfilm The Piano Tuner of Earthquakes (2005) der Brüder Stephen und Timothy Quay tötet der Nervenarzt Dr. Emmanuel Droz in einer Mischung aus Obsession und Wahn die Opernsängerin Malvina,

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um sie anschließend wieder zum Leben zu erwecken und zur Idealbesetzung seiner Traumoper zu stilisieren. Wie Giuseppa Fiamettis Tod als Desdemona – geradeso lag sie noch letzten Sonntag vor acht Tagen in der Oper ‚Othello‘ da, als sie die Desdemona spielte. Schon damals war der Effekt so grausam wahr und wahrhaft gräulich, daß man meinte, der Mohr habe sie in der Tat erdolcht; und jetzt ist es wirklich so weit mit ihr gekommen12

– ist auch Anna Sutters Tod als Carmen vorauszusehen. Allerdings stirbt Giuseppa Fiametti nur fast: Sie kann ihrem Mörder entgehen und, unterstützt von ihrer Kammerzofe Babette, die insgeheim Details vom Abend der Tat verrät, dem Berliner Polizeidirektor behilflich sein, den Täter zu überführen und sich damit auch vom Albdruck ihres früheren Lebens befreien, in dem sie schon einmal fast gestorben wäre: in den Wassern der Seine wie jene L’Inconnue de la Seine, deren Totenmaske Egon Friedell in seine Sammlung Das letzte Gesicht aufnahm.13 Anna Sutter ist das Überleben nicht vergönnt: „Niemals wird Carmen weichen / Frei wurde sie geboren und frei wird sie sterben!“ (S. 69). Tatsächlich versuchte Anna Sutter – wie auch andere Künstlerinnen um 1900, etwa die Autorin Franziska zu Reventlow – ein selbstbestimmtes Leben zu führen, indem sie sich über Konventionen hinwegsetzte. Sie erarbeitete sich eine Karriere, die sie nicht für eine Eheschließung aufgeben wollte, feierte Erfolge, brachte ihre beiden Kinder unverheiratet zur Welt, wurde 1906 vom Württembergischen König zur Königlichen Kammersängerin ernannt. Wie gering die Möglichkeiten für sie gewesen wären, Beruf und Ehe miteinander zu verbinden, mag ein Blick in den Arbeitsvertrag Anna Sutters mit dem Königlichen Hoftheater Stuttgart verdeutlichen, der zu der Zeit durchaus übliche Bedingungen enthielt. In Paragraf 11 der Allgemeinen, für jeden Vertrag gleichlautenden und giltigen Bestimmungen heißt es: Wenn ein weibliches Mitglied während der Dauer des Vertrages sich verheiraten will, so hat es seinen Vorsatz der Bühnenleitung spätestens vierzehn Tage vor Abschließung der Ehe schriftlich anzuzeigen. Die Bühnenleitung hat in solchem Falle das Recht, den Vertrag zu kündigen und vom Tage der Hochzeit an zu lösen, und bleibt nur bis zu diesem Tage zur Zahlung von Gage und Spielgeld verpflichtet.14

Diese Bestimmungen griffen in hohem Maße in die Privatsphäre von Künstlerinnen ein.15 Ein verheiratetes weibliches Ensemblemitglied war grundsätzlich nicht vorgesehen, ebenso wenig wie außereheliche

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Schwangerschaften. In Paragraf 11 des Arbeitsvertrages steht weiterhin: Bei Dienstunfähigkeit, welche bei verheiratheten Damen während des Bestandes ihrer Ehe oder in der gesetzlichen Zeit darüber hinaus in Folge von Schwangerschaft eintritt, fällt für sie der Anspruch auf Gage und garantirtes Spielhonorar von dem Tage ab fort, an welchem die Intendanz nach gerechtfertigtem Ermessen deren weiteres Auftreten für unzulässig erklärt. Bei verheiratheten Chorsängerinnen tritt desfalls nur Minderung der Gage auf die Hälfte ein. Doch darf die Störung durch Schwangerschaft und Wochenbett nicht über 2½ Monate dauern.16

Anna Sutters Karriere als Solistin erscheint vor diesem Hintergrund umso außergewöhnlicher. Im Gegensatz etwa zu Aloys Obrists Frau, der erfolgreichen Weimarer Hofschauspielerin Hildegard Jenicke, die ihre Bühnenlaufbahn mit der Eheschließung 1893 beendet hatte und sie später, auch nach dem Tod ihres Mannes, nicht wieder aufnehmen konnte, gab Anna Sutter ihren Beruf, ihre Leidenschaft: das Singen, Tanzen und Schauspielern nicht auf. Sie setzte sich auf der Bühne immer wieder von Neuem durch, sie wurde vom Stuttgarter Publikum geliebt, das in ihr (s)eine Idealbesetzung vieler Rollen, nicht nur der Rolle Carmens, sah. Wie groß der Verlust war, den das Hoftheater durch den jähen Tod der vielseitigen Künstlerin erlitt, veranschaulicht ein kurzer Blick auf den Spielplan vom 1. Juni bis zum 6. Juli. Danach sollte Anna Sutter an 35 Spieltagen insgesamt 18mal auftreten. In fast allen Fällen hatte sie dabei Hauptrollen inne, nämlich 5mal in der ‚Zigeunerliebe‘, je 3mal in der ‚Fledermaus‘ und im ‚Fidelen Bauer‘, je 2mal in der ‚Lustigen Witwe‘ und in ‚Mamzell Nitouche‘, sowie je einmal im ‚Walzertraum‘, im ‚Glöckchen des Eremiten‘ und in der ‚Zauberflöte‘. Allein in den Tagen vom 27. Juni bis zum 6. Juli sollte die Verstorbene nicht weniger als 8mal auftreten, und zwar jedes Mal in einer Hauptrolle. (S. 94)

Die Nachricht vom Tod Anna Sutters bestimmte am 29. Juni 1910 die Mittags- und Abendblätter in Stuttgart. Extraausgaben erschienen, alle berichteten über den Mord, andere Nachrichten des Tages waren aus den Zeitungen verdrängt.17 Vor dem Haus Anna Sutters versammelten sich Menschenmengen, die – historisches Geschehen und Fiktion oszillieren in der Novelle Sulzers – nach den Polizisten nur dem Bildhauer Weitbrecht und seinem Assistenten Kroll Durchlass gewährten.18 Wie selbstverständlich, aber nicht uneigennützig und von begehrlichen Blicken begleitet, erhalten die beiden Männer Zutritt zum Haus – irgendjemand muss, was jetzt noch von der Künstlerin besessen werden kann, schließlich herstellen: „Angestrebt wurde

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Abb. 4: Der Schicksalsbrunnen in Stuttgart

ein letztes Porträt, ein Bild endgültiger Sammlung. Getanes und Gedachtes, Erlebtes und Gefühltes zu einem Ideal verschmolzen, zu einem Vorbild erstarrt“ (S. 10). Anna Sutters Persönlichkeit ist in der Ikonografie Carmens aufgehoben, für die Betrachtenden vielleicht auch ein wenig in der Figur der Schicksalsgöttin, die, im Zentrum des Stuttgarter Schicksalsbrunnens befindlich, starr geradeaus blickt, ungeachtet der in Lust und Leid vereinten Liebespaare zu ihren Seiten. Als Inschrift läuft im Halbrund des Brunnens die Zeile: „Aus des Schicksals dunkler Quelle, rinnt das wechselvolle Los, heute stehst du fest und groß, morgen wankst du auf der Welle.“ Der Tod Anna Sutters war ein ,Schicksal‘ Carmens.

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Vgl. Egon Friedell: Das letzte Gesicht. Zürich 1984. Ebd., S. 11-12. Ebd., S. 11. Alain Claude Sulzer: Annas Maske. Frankfurt a. M. 2006, S. 81. Im Folgenden werden die Zitate unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Vgl. ebd., S. 110. Auch in der Ausstellung Carmen – letzter Akt. Die Künstlertragödie Sutter – Obrist von 1910 und die Stuttgarter Oper um 1900 im Staatsarchiv Ludwigsburg 2001 war die Totenmaske Anna Sutters eines der zentralen Ausstellungsstücke. Vgl. Sulzer (wie Anm. 4), S. 23. Ebd., S. 111-112. Friedell (wie Anm. 1), S. 17-18. Vgl. auch Erich Hackl: „Geschichte erzählen? Anmerkungen zur Arbeit des Chronisten“. In: Literatur und Kritik, Februar 1995, S. 25-43. Vgl. Sulzer (wie Anm. 4), S. 86 und 94. Hans Richard Brittnacher: „Gewalt und Geheimnis. Über den Ursprung der Kriminalliteratur – worin sich deutsche und britische Geschichten unterscheiden“. In: Der Tagesspiegel, 07.02.2009. Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Textredaktion und Anmerkungen von Sibylle von Steinsdorf, Bd. 2, München 1970, S. 539-583, hier S. 543. Vgl. Friedell (wie Anm. 1), Tafel 69. Zit. nach: Georg Günther: „Der junge Mann ist nichts und hat nichts – Ein ‚Herr Diet[e]rich’, Sohn eines Druckereibesitzers“. In: Carmen – letzter Akt. Die Künstlertragödie Sutter – Obrist von 1910 und die Stuttgarter Oper um 1900, Begleitband und Katalog zur Ausstellung, hrsg. v. Staatsarchiv Ludwigsburg in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Stuttgart, Ludwigsburg 2001, S. 65-67, hier S. 65. Vgl. ebd. Ebd., S. 67. Vgl. Georg Günther: „Wenn mir was Menschliches passieren sollte. Die Stuttgarter Künstlertragödie vom 29. Juni 1910“. In: Carmen – letzter Akt (wie Anm. 14), S. 12-20, hier S. 17. Vgl. Sulzer (wie Anm. 4), S. 7.

Keine Kinderkrankheit Ana Castillos Chicago-Chicana und ihre CarmenNummer Peel my Love like an Onion (1999) von Rike Bolte 1. Latina-Literaturen: (post-)koloniale Deterritorialisierungen und gender Die Entstehung lateinamerikanischer (vor allem mexikanischer wie zentralamerikanischer) und karibischer Diaspora ist eng mit der Erfahrung gewaltsamer US-amerikanischer Vormachtstellung verbunden. Die Hegemonialmacht sucht die aus der Kolonialisierung durch die Europäer in den genannten Regionen entstandenen Nationalterritorien verstärkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch militärische und ökonomische Annexionen ‚heim‘. Allem voran die Besetzung der nördlichen Gebiete Mexikos ab 1846 sowie jene Puerto Ricos 1898 haben Migrationen aus diesen Gegenden in die USA zur Folge, die wiederum starke Auswirkungen auf die Kulturproduktion bzw. -zirkulation haben. Es entstehen Literaturen ‚am Rand‘ bzw. in den Zwischenräumen eines angloamerikanischen Kanons, die sich sowohl um den clash of cultures als auch um sprachliches Nebeneinander oder sprachliche Hybridisierung und hieraus resultierende Identitätsdebatten drehen. Unter den stärksten Strömungen der sogenannten US-Latino-Literaturen finden sich die der Nuyoricans, jene der Chicanos bzw. Chicanas und weiterhin jene der Dominican-Americans, das sind: 1. Puertoriqueños und Puertoriqueñas, 2. Mexikaner und Mexikanerinnen sowie 3. Dominikaner und Dominikanerinnen, die in den USA leben, dort teilweise geboren sind und auf die angloamerikanische Kultur in einer Weise antworten, in der sich Bewahrung einer ursprünglichen kulturellen Identität mit der Wahrnehmung einer durch die Migration erlebten Differenz vermengen. In der Folge entstehen unterschiedlich ausgeprägte Strategien und Situationen der Integration. Im Laufe der Annexion der kalifornischen Gebiete Mexikos geben bereits erste mexikanisch-amerikanische Romane Ende des 19. Jahrhunderts Zeugnis davon, was neue koloniale Erfahrungen und mit ihnen einhergehende Gewalt sowie nicht nur metaphorische Deterritorialisierung1 (nämlich Landenteignung und Vertreibung) mei-

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nen.2 Parallel dazu bildet sich ein Diskurs bezüglich neuer – bikultureller – Subjektivität aus. Diese schließt Ambiguität und Instabilität ein und stellt Parameter des Nationalen wie Konzepte politischer, kultureller und linguistischer Kontinuität infrage,3 die auf programmatische und ertragreiche Weise erst im Zuge postmoderner Theorieproduktion ins Auge gefasst werden (und bis dahin an Komplexität erheblich zunehmen). So ist es die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich, ab den sechziger Jahren, Minderheitenbewegungen in den USA zu formieren beginnen, die im Zuge ihres Kampfes um entsprechende civil rights gleichermaßen eine Wende in der Identitätspolitik anzielen. Latinos und Latinas reklamieren oder beharren dabei innerhalb eines indigenista-movement auf einem indigenen amerikanischen Erbe; gleichzeitig bezieht sich ihr Diskurs um identitäre Selbstbestimmung auf das ‚Projekt‘ des mestizaje.4 Das Desiderat einer Entledigung von kolonialen Erfahrungen führt somit dazu, dass man sich auf vorkolumbische Wurzeln besinnt, doch ebenso hybriden Identitätskonstrukten eine Bedeutung zuschreibt. In den siebziger Jahren unterdessen wird stärker der Aspekt subalternen Sprechens betont, womit auch das biografische, Zeugnis gebende (testimoniale) Schreiben ins Zentrum rückt. Bevor es in den achtziger und neunziger Jahren zu einem regelrechten Boom der US-amerikanischen Latino- und auch Latina-Literaturen sowie zu einer Kanonisierung deren literatur- und kulturwissenschaftlicher Rezeption kommt, wird noch deutlich, dass die gestellten identitätspolitischen Forderungen unter dem label zwar ‚entwurzelter‘, doch innerhalb der Diaspora weiterhin hegemonial wirkender Männlichkeit stehen. Das heißt: die von einer sozialen, kulturellen und ethnischen Minderheit in den USA ausgehandelten agendas, die der angloamerikanische Kultur etwas entgegenzusetzen suchen, werden von einer Homogenisierung und Konsolidierung des sozialen Gefüges der diasporischen Gemeinschaft begleitet, die vor allem auf der Perpetuierung machistischer Männlichkeit basiert und damit vielfache Einschränkungen weiblicher Subjektivität impliziert. Weiblichkeit wird in diesem Zusammenhang, ganz im Sinne bell hooks’ oder Angela Davis’,5 neben race- und class-bedingten Marginalisierungen einerseits zu einem weiteren Faktor, um den es im Kampf um Gleichheit zu gehen hat. Andererseits ist feminine Subjektivität ein aparter Aspekt, der sich nicht ohne Weiteres in die Minderheitenbewegung einfügt, weil diese eben unter maskuliner Ägide stattfindet; ebenso wenig jedoch sind die Belange feministischer Frauen aus der ‚Dritten Welt‘ mit jenen weißer bzw. angloamerikanischer Aktivistinnen zu vergleichen.6

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Der folgende Artikel, der einen der letzten Romane der in Chicago lebenden Chicana-Autorin Ana Castillo zum Thema hat, berücksichtigt diesen Kontext der Entstehung jener postmoderner Literaturen, die nicht nur kulturell und größtenteils sprachlich wie formal hybrid verfasst sind, sondern sich neben ihren Diskursen zur sozialen und ethnischen Emanzipation auch noch dem borderland gegenderter Subjektivität nähern. Das Pikante an Castillos im Jahr 1999 publiziertem Roman Peel my Love like an Onion7 ist, dass zu dem nomadischen Standort einer nicht mehr mexikanischen, noch jemals angloamerikanischen Welt die des Universalexils der gitanos oder gypsies8 hinzukommt. Hiermit verpasst die Autorin dem auf Englisch geschriebenen, mit spanischen Einsprengseln versetzten Text noch einige weitere Codes, zu denen ihre Protagonistin – eine chicanische Flamencotänzerin – als postmoderne Carmen Stellung bezieht.

2. Neue Labyrinthe: Chicana-(Re)Naissance Der Begriff Chicano oder Chicana leitet sich mit größter Wahrscheinlichkeit von dem stimmlos frikativ gesprochenen Wort ,Mexicano/a‘ ab9 und steht – wenn er auch in Mexiko selbst einmal für die Bezeichnung von Angehörigen der unteren sozialen Schichten verwendet wurde10 – für eine in den USA ansässige Person, in deren ethnischer wie kultureller Abstammung sich spanische, indigene (und hierin mexikanische) sowie angloamerikanische Anteile vermengen. Dabei bedeutet der Terminus, wie Gloria Anzaldúa 1987 in Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza betont,11 weniger eine ‚Mexikanität‘ als eine aus dem Mix europäischer und angloamerikanischer sowie einer oder mehrerer Varianten prähispanischer Identität (etwa Aztekisch oder Maya) hervorgehende ‚Mestizität’. Ein essentialistisch und nationalistisch gefärbter Flügel des chicano movement verspürt unter solchem cross-culturalism jedoch eher das Bedürfnis, eine „Nation of Aztlán“12 auszurufen und die Rückeroberung einstmals mexikanischer Gebiete der USA einzufordern; dann wiederum wird – seit der Jahrhundertwende und mit einem Hauptaugenmerk auf dem ‚neuen‘ Kulturzentrum Tijuana – gerade der Grenzraum zwischen den USA und Mexiko starkgemacht. Er wird teilweise als ein paradigmatisches ‚Labor‘ aufgefasst, in dem kreative (chicanische) Zwischenidentitäten entstünden. So wie (in Grenzräumen angesiedelte) Hybridisierungsprozesse gleichermaßen differenziert betrachtet werden sollten, verlangen die

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im ‚Zeitalter der Migration‘13 nicht nur multiplizierten, sondern immer stärker diversifizierten migrantischen Bewegungen aus Lateinamerika in die USA und die aus ihnen hervorgehenden Kulturproduktionen spezifische Betrachtungsweisen. Das Gleiche gilt für die thematischen wie konditionalen ‚Motoren‘, die sie antreiben. So nimmt innerhalb der chicanischen Literatur die gender-Thematik einen besonderen Stellenwert ein. Nicht umsonst hat Anzaldúa als lesbische Mestizin ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die mythologische wie historiografische Herleitung der chicanischen Identität reformuliert wurde. Octavio Paz hatte in seinem Laberinto de la soledad (Das Labyrinth der Einsamkeit) im Jahr 1950 mexikanische Identität auf die Erfahrung einer genuinen Vergewaltigung zurückgeführt, bei der die Sklavin und spätere Geliebte des Eroberers Hernán Cortés, La Malinche, eine wichtige Rolle spielt.14 Die eigentlich auf den (Nahuatl-)Namen Malintzin hörende, von den Spaniern Doña Marina getaufte Aztekin fungierte als Dolmetscherin der Spanier und wurde sogar als ‚Werkzeug‘ zur Durchführung der Eroberungszüge eingesetzt.15 Die späterhin im 19. Jahrhundert (als Volksverräterin) Diffamierte wird im 20. Jahrhundert wiederum als das passive Pendant einer machistischen violencia identifiziert – so bei Paz. Dass La Malinche von Cortés verlassen wurde, nachdem sie ihm im Jahr 1522 einen Sohn gebar, steht nun für eine existentielle Verlassenheit oder Ausgesetztheit aller Mexikaner. Paz spricht von „Los hijos de la Malinche“, den ‚Söhnen der Malinche‘, und lässt die Aztekin als ambivalente Mutter des mestizaje bzw. des modernen mestizischen Mexikos erscheinen, während malinchismo für eine Anbändelei mit dem Fremden steht. Doch das historische Trauma, das die Malinche figuriert, ist, nach Debra Castillo, ebenso eine Ausflucht für die Anwendung von (sexueller) Gewalt gegen Frauen, wie sie den mexikanischen Machismus u. a. prägt.16 In ebendiese binäre Vorstellung, in deren Zuge seit Paz essentialisierende Passivitäts- und Aggressivitätszuschreibungen entstehen, greift Anzaldúa ein: ihr Anliegen ist es, von either-or-Modellen abzurücken und die „new mestiza“ für die chicana theory und queer theory als auch für die postkoloniale Theoriebildung fruchtbar zu machen. Ähnlich wie Donna Haraway tritt sie damit für ‚machtvolle Fusionen‘17 oder regelrechte ‚Aufmischungen‘ ein. In den von Autorinnen wie Ana Castillo, Sandra Cisneros, Cherríe Moraga, Alma Luz Villanueva, Helena María Viramontes u. a. vollführten Revisionen chicanischer gender-Rollen lassen sich die zentralen Vorstellungen Anzaldúas nachvollziehen, darunter etwa jene, dass das chicanische ‚Volk‘ („la

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gente Chicana“) drei Mütter besäße, die gleichzeitig die Funktion von Mediatorinnen innehätten. Das wäre einmal die ‚treue‘ Virgen de Guadalupe, dann La Chingada,18 die gleichbedeutend mit der Malinche ist, und schließlich die mythologische Gestalt der Llorona.19 Diese Figuren vermengen sich bereits in diversen mythologischen re-écritures; umso mehr tun sie es in den literarischen Anverwandlungen der Chicana-Autorinnen, in denen zudem weitere prominente Frauengestalten der Kulturgeschichte Modell für ‚machtvolle‘, neue Rollen stehen. Das bis in die achtziger Jahre hinein männlich dominierte chicano movement, das Mitte der sechziger Jahre die sogenannte chicano renaissance in der Literaturproduktion erlebt, wird durch diese Autorinnen um eine explizite ‚chicana-(re)naissance’ bereichert, die mit patriarchalen Werten und literarischen Kanonisierungen gleichermaßen aufräumt, Geschichte reinterpretiert sowie neue (mestizische) Symbole und Mythologien schafft.20 In dieses kreative, innovative ‚Labyrinth der Vielfalt‘ passt schließlich auch eine chicanische Carmen.

3. „Potent Fusion“: Chicago-Chicana, gypsies und die CarmenNummer – Ana Castillos Peel my Love like an Onion Ana Castillo ist 1953 in Chicago als Tochter mexikanischer Migranten geboren und aufgewachsen, hat sich u. a. als Dozentin an Colleges und Universitäten in den USA betätigt und im Jahr 1991 an der Universität Bremen in ,American Studies‘ promoviert. Auf ihre frühen poetischen und essayistischen Publikationen folgen Romane und Erzählungen.21 Vor allem aber auch als Herausgeberin – etwa des Literaturmagazins Third Woman – macht sich Castillo einen Namen; dabei setzt sie sich programmatisch für die Diffusion der ChicanaLiteratur ein. Ihr Essayband Massacre of the Dreamers von 199422 begründet, was die Autorin als „Mexic Amerindian Feminism“ bzw. „Xicanisma“ bezeichnet: eine Version des Feminismus, der Diskriminierung mestizischer Frauen auf beiden Seiten der nördlichen Grenze Mexikos ins Visier nimmt. Die mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnete Castillo steht u. a. in der Tradition des sogenannten Magischen Realismus, unter dessen Markenzeichen der Boom der lateinamerikanischen (quasi ausschließlich von Männern verfassten) Literatur in den sechziger und siebziger Jahren zu einem großen Teil vonstattengegangen ist. Doch ebenso charakterisieren ihr Werk eine ausgeprägt ironische Schreibweise sowie die Zentrierung politischer Themen. So sehen sich Castillos Protagonistinnen, darun-

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ter oftmals lesbische Frauen, mit Diskursen zur Sexualität, der täglichen Erfahrung von Rassismus und dem Erbe des Katholizismus konfrontiert und entwickeln hiergegen ihre Überlebensstrategien. Der Roman So far from God von 1993 macht regelrecht Furore. Von Kollegin Sandra Cisneros als „Chicana telenovela“ bezeichnet und mit dem Prädikat „Wacky, wild, y bien funny“23 apostrophiert, verleiht dieser Text Ana Castillo eine Aura, die Dominican-American-Autorin Julia Álvarez wiederum wie folgt umschreibt: „Ana Castillo is una storyteller de primera… able to hold our attention from the first to the last page of this packed picaresque novel“24. An beiden Stellungnahmen wird eines deutlich: dass eine innerhalb der Verkauf-Slogans des Buchmarktes gewinnbringende Benennung von Trans- bzw. Bikulturalität im sprachlichen switching angesiedelt ist, ohne die Komponenten dieser Kulturalität als identifizierende Indikatoren beiseitelassen zu können. Will heißen: die „storyteller“-Frau, die dabei auch als pícara (‚Schelmin‘) daherkommt, liefert eine literarische telenovela, die angloamerikanischen Spaß garantiert. Dieser jedoch verspricht erst durch eine lateinamerikanische bzw. chicanische Herkunft so ‚richtig gut‘ zu sein… Anstatt diesem sprachlichen mapping des Verkaufsweges weiter nachzuspüren, soll es im Folgenden darum gehen, welches third space25 sich in Castillos Werk öffnet. Eine zentrale Überlegung ist dabei, ob in Peel my Love like an Onion überhaupt noch ein Aufbruchsund Ankunftsort auszumachen ist oder ob sich nicht ein permanenter Zwischenraum ergibt, der jedoch auch beängstigend ist, sodass ihn nur der Einbruch eines (wenngleich stereotypenverdächtigen) ‚Feuers‘ – nämlich das des Flamenco – erträglich machen kann. Denn in Peel my Love like an Onion bewohnt eine chicanische Tänzerin auch deswegen einen ‚dritten Raum‘, weil zwei gypsie-Männer um sie konkurrieren und ihr Leben zu prägen beginnen. Castillos re-écriture des Carmen-Mythos baut somit darauf, dass eine Diaspora aus der alten Welt die Diaspora der Neuen Welt aufmischt, wobei auch die jeweils darin tradierten Geschlechterrollen tangiert werden.

3.1 Zwiebeln schälen…: Im Transit liegt die Leidenschaft Peel my Love like an Onion erzählt die Geschichte von Carmen La Coja, einer in Chicago lebenden Chicana, die aufgrund einer PolioErkrankung in Kinderjahren ein gelähmtes Bein hat („La Coja“ bedeutet ‚die Hinkende‘). Eine Mut machende Flamenco-Lehrerin unterweist sie jedoch schon in Schulzeiten darin, dass ihre ‚Behinde-

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rung‘ sie keineswegs an der Lust und auch nicht an der Tanzlust zu hindern hat: „Carmen… Carmen! Do as I say, please! Just try it once, will you?“ (S. 15). Von Miss Dorotea weiterhin unter die Fittiche genommen und in die Flamenco-Gemeinde Chicagos eingeführt, wird Carmen bald als eine aparte, charakterstarke Tänzerin erkannt und erlebt, was sie in ihrer chicanischen Familie nicht beigebracht bekommen hat: Selbstbewusstsein. Auf dem Weg zum lokalen Ruhm auf den Bohème-Bühnen ihrer Stadt lernt sie den in Spanien verheirateten, aber in Cleveland geborenen Bailaor Agustín lernen und lieben und geht ein über siebzehn Jahre währendes Verhältnis mit ihm ein. Bis dessen Patensohn und Tanzkollege Manolo auf sie aufmerksam wird. Der attraktive, ‚an einen Jasminbusch erinnernde‘ junge Mann verwickelt Carmen in eine leidenschaftliche Affäre, ohne dass dies wiederum Agustíns Ansprüche an sie in irgendeiner Weise schmälerte. Gleichzeitig ruft der Altmeister Manolo zur Loyalität. Der Konflikt zwischen den beiden Männern ist evident und im gypsie-Milieu besonders ernst zu nehmen; beider Tribut an die Geliebte indes besteht darin, dass sie sich für eine Weile nach Spanien absetzen und Carmen zurücklassen. Die mittlerweile vom Alter Heimgesuchte erleidet einen Polio-Rückfall und zieht aus ihrer desolaten Wohnung zu ihrer dominanten und hypochondrischen Mutter zurück. All dies ereignet sich in einem dystopischen urbanen Raum, der keinerlei Stabilität oder Sicherheit gewährt und jedes Gefühl von Geborgenheit nur zu einem transitorischen Moment macht. So ist auch der Erfolg, der Carmen professionell beschert ist, als sie nach der Rückkehr der Krankheit das Tanzen gegen den Gesang eintauscht und von einer Plattenfirma unter Vertrag genommen wird, nur ein Transit. Doch genau dieser passagere Zustand steht in Castillos Roman für einen Aufbruch in die Freiheit, die zwar relativ ist, aber vorerst nicht mit dem Tod endet.

3.2 Choreografie der Minoritäten: der gypsie-Clan und die Chicana in Chicago Ohne in dem begrenzten Raum dieses Artikels den Ausführungen über Mestizität und chicanische Identität bzw. Differenz größere Überlegungen zu einer ebenso komplexen wie sensiblen Verortung der gitano-Identität im Zwischenraum Mexiko-USA hinzufügen zu können, sei in Kürze formuliert, dass die literarischen Figuren Agustín und Manolo einer nomadischen Kultur angehören, die sich, aus Asien kommend, u. a. in Europa angesiedelt hat und vor allem in

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Spanien bzw. Andalusien auf prominente Weise die Kulturproduktion geprägt hat. Die Präsenz der gitanos bzw. gypsies in den Amerikas ereignet sich mit der Moderne; in Lateinamerika sind es primär die Länder Argentinien, Chile, Kolumbien und Mexiko, in denen sich zwei- oder mischsprachige communities aufhalten und sich jeweils auch stark voneinander abgrenzen. In Mexiko ist zuvörderst die Ethnie der Roma zu finden; diese spricht meist ein vom Romani bzw. dessen iberischer Variante caló abstammendes caló mexicano. In Ana Castillos Roman werden die äußerst dynamischen und komplexen Zusammenhänge der Geschichte der gitanos zu einer Matrix, auf die die chicanische Carmen die Geschichte der Ortslosigkeit bzw. Migration ihrer eigenen Familie projiziert. Wenn von der Forschung auch angemerkt worden ist, dass der gitanische Nomadismus teilweise Objekt von Mythologisierungen ist, die schließlich die Geschichte erzwungener Deterritorialisierungen sowie zur Migration führende professionelle Restriktionen überdecken,26 erlangt Carmens Geliebter Manolo in deren Augen gerade durch seine diasporische calorro27-Identität seinen Sex-Appeal. In ihrer Verliebtheit assimiliert Castillos Protagonistin dieses ‚belonging to the entire world‘ (S. 84) des Anderen gleichsam sprachlich: Loving Manolo – Manol’io – was thrusting both hands out into the darkness to clutch onto / something more than numinous air but also hoping that whatever it was won’t bite you. Mi / Manol’io was dark, even in winter, his skin savory and sweet like Mexican chocolate […]. / Manolo’s bato was a violinist from Yugoslavia. His mother danced. She was born in Mexico, / he said, but her family came from Spain. Manolo himself came into the world in New York / […]. So are you Spanish or Mexican? […] Were his roasted pecan eyes Serbian or Sevillan? (S. 83)

Die hier zur Hervorhebung kursiv gesetzten Elemente der Passage illustrieren den Grad der kulturellen und sprachlichen Vermengung, von denen das Beispiel „bato“, gleich nach dem mexikanischen Erbstück „chocolate“ rangierend und wahrscheinlich aus dem caló-Wort „chibato“ abgeleitet, für den (unumstößlichen) Roma-Vater28 Manolos steht. Diesem kann Carmens matriarchale Mutter Amá gegenübergestellt werden, die wiederum über den Umgang, den ihre Tochter pflegt, pikiert ist: „What are you doing with that gypsy then?“ (ebd.). Für Carmen ist Manolos Multikulturalität jedoch gleichbedeutend mit totaler Attraktivität: „I / wanted all of him“ (S. 30). Ana Castillo verfolgt seit ihrem Roman Sapagonia die Frage nach den Bedingungen ‚weiblicher Individuation‘.29 Diese hallt hier in einer symbiotischen oder kompensierenden Aneignungsstrategie Carmens

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wider. Der aufgrund seiner heterogenen Herkunft also ‚vollkommene‘ Manolo, der u. a. sogar zur ‚byzantinischen Gazelle‘ (S. 84) wird, lässt schließlich auch Carmen – wenngleich diese eigentlich zu den ‚idiotischen‘ payos oder gajes gehört (ebd.)30 – an dieser Vollkommenheit partizipieren. Zumindest gilt das in der Weise, als sie sich innerhalb der schwierigen amourösen Triade nicht das Recht verwehrt, der cross-kulturellen ‚Heiligkeit‘ als einer Art Leckerbissen habhaft zu werden. Dass das Possessivpronomen in dem zitierten pidgin-Satz „Mi Manol’io was dark“ spanisch markiert ist, macht ihre Besessenheit, aber auch ihr besitzergreifendes Handeln letztlich ‚eigen‘. Und ganz beiläufig wird in Carmens Rede über Manolo die Geschichte einer ‚Schar‘ von In-Bewegung-Geratenen nachgezeichnet, die unterschiedliche (und dabei gegenderte) Erfahrungen als Minderheiten in den USA machen,31 jedoch einen quasi subversiven gemeinsamen Nenner finden. Denn sie eignen sich ihre heimatlose Bewegtheit durch das Tanzen ostentativ an.

3.3 Keine Kinderkrankheit: Von der telenovela zur Carmen-re-écriture Peel my Love like an Onion hat Züge einer soap opera oder telenovela bzw. ist allein aufgrund des transkulturellen backgrounds eine Mischung aus diesen massenmedialen Dispositiven. Da die Seifenoper eher ein Endlos-Format besitzt, die telenovela jedoch endlich ist, in der Übersetzung ‚Fernseh-Roman‘ bedeutet, und zudem die storyline-Struktur des Textes von Castillo nicht allzu verwirrend ist, scheint die Abgleichung mit der telenovela geeigneter. Ist das ein Pluspunkt? In der lateinamerikanischen telenovela mit ihren märchenhaften Figurationen, die vor allem die oftmals weibliche Hauptfigur in hoch stereotypisierte gender-Einbahnstraßen schickt (auch wenn diese in der letzten Zeit von der Option kapitalistischer Emanzipation systemaffin alterniert werden), firmieren Themen wie Tod, Krankheit und Sex als Salz in der Suppe, weil sie in den Bereich der Tabus fallen und entsprechend zum Spektakel frisiert werden können. Dennoch antworten telenovelas auf die Komplexität der Postmoderne und die sich in ihr ereignenden Prozesse von Entwurzelung und kultureller Migration. So erzählt eine mexikanische telenovela mit dem Titel Gitanas32 tatsächlich die Geschichte einer gitana, die sich in einen gayó verliebt und gegen die (u. a. rassistischen) Gesetze ihres Clans angehen muss. Die archetypischen Anlagen der Figuren aus diesem Fernsehroman können ansatzweise auch bei Castillo ausgemacht werden. Neben der – wenngleich teil-

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weise am Kitsch entlangschrammenden – poetischen Aufarbeitung der für Zündstoff sorgenden Kulturbegegnung, die in Peel my Love like an Onion umgekehrt gegendert ist als in der telenovela, weil das gypsyMilieu männlich vertreten ist, gelingt Castillo die Kreation eines differenzierten, auch widersprüchlichen Raumes bzw. mehrerer ‚dritter Räume‘, zwischen denen Carmen in Chicago migriert. Diese spaces werden symbolisch darüber konstruiert, dass die Protagonistin wie in einem Rollen-switching entsprechend unterschiedliche soziale Funktionen übernimmt, von denen eine paradoxerweise besonders von der Gefahr der Immobilität affiziert ist. Die über Carmen wie ein Damokles-Schwert schwebende Krankheit ist demnach nicht zufällig Poliomyelitis. Denn eines der substantiellen Probleme bei der Emanzipation chicanischer Frauen ist der Weggang aus einem zwar patriarchalen, doch ebenso von einer dominanten Mutter geprägten familiären System. Während in Carmens Familie ein omipräsenter Haushund namens Macho die Stellung hält, glänzt der Vater der Protagonistin durch Abwesenheit. Die Mutter, auch la jefita (‚die kleine Chefin‘) genannt, markiert indes den häuslichen Raum auf einnehmende Weise und kann den Auszug Carmens („For years and years I live alone, preciously alone“, S. 37) nur als ‚Llorona‘ verarbeiten, nämlich darauf beharren, dass für die Loslösung der Tochter Buße getan werden muss, weil diese eigentlich sesshaft sein müsste. Folglich wird in dem Kapitel „Dos: On Saturdays I’m forced to make tortillas“ (S. 32-37) das Tortillamachen als systemstabilisierendes Ritual begangen, ja stellt sich als chicanische Variante des „Women get to make bread“ (S. 32) dar. Carmen wird daran gemahnt, dass sie weder verheiratet ist noch einen Sohn hat, dem sie eines Tages Tortillas zubereiten wird. Im Zuge Carmens scharfsinniger Darstellung solchen Szenarios wird jedoch überdies manifest, dass der mütterliche ‚Teig‘ im Text auch deswegen angesetzt wird, damit Frauenbilder der gitanischen und der chicanischen Welt miteinander verglichen werden können. Denn die calloras oder gypsy women, die Carmen seit ihrer Kindheit untergekommen sind, sind das Gegenteil der mexikanischen Amá: They sat on crooked kitchen chairs out on the sidewalk in summer heat, wearing low-cut blouses where they had easy access to money stuck in cleavage, and wore high-heeled open-toed, open-back shoes that showed off their longish painted toenails. Sin vergüenzas! is what I heard one of my uncles call them once, women without shame. (S. 34)

Carmen, die von Agustín hören wird, dass sie keine aztekische Prinzessin, sondern ein waschechte „gypsy queen“ (S. 33) sei, hat die gita-

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nas sogar als vielversprechende Wunderheilerinnen in Erinnerung, deren unverstellter Körper-Diskurs magisch wirkt: „Hey, what’s wrong with your leg? You want me to do something about it? Come ‘ere. I can help you“ (S. 34). Bei Amá unterdessen ist der (zudem kranke) Körper in erster Linie ein Medium, das in die katholische Logik von Schuld und Sünde fällt: „While Amá is in the hospital I commit a mortal sin“ (S. 105). Wenn dieses Sentenz auch ironisch aufgelöst wird, weil es sich bei der begangenen Sünde um das Auswaschen des mütterlichen Kühlschrankes handelt, der ‚seit Neil Armstrongs Mondlandung keinen feuchten Lappen mehr gesehen hat’, steht die Episode dennoch dafür, dass der häusliche Raum im chicanischen Kosmos wie der Kühlschrank oder die telenovela zuzuschnappen droht („Oh my God, I don’t want to be here when Amá get’s home“, ebd.), wenn Carmen ihren eigenen Lügen aufsitzt und behauptet: „Amá, […] I don’t need to be on my own“ (S. 199). Castillos Roman variiert das Carmen-Motiv in der Weise, dass in dem kontradiktorischen Raum, den die Protagonistin bewohnt, auch die Option zur Regression angelegt ist und dies vor dem postmodernen Hintergrund, dass Freiheit mitunter kapitalistische Vogelfreiheit (nämlich prekäres Auskommen bei unmenschlicher Arbeit) bedeutet, schließlich auch als Trost oder Utopie aufgefasst werden kann. Ana Castillos Carmen-Adaptation endet weder absolut noch wird einer der (weiblichen wie männlichen) Individuations-Diskurse kategorisch gesetzt. Während die Lesbe Vicky eben noch vorschlägt, aus dem Hin und Her zwischen Manolo und Agustín ein ménage à trois zu machen, rät Amá am Ende des Textes: „Settle down, hija!“(S. 212). Der Tod wiederum bleibt Carmen noch erspart, weil erst einmal die Mutter mit ihm händeln muss. Carmens Polio, die einen neuen Krankheitsschub bringt, der zum Tod führen kann, ist dennoch keine Kinderkrankheit, sondern eine paradoxe Option, erwachsen zu sein. Dieser und andere Kunstgriffe des Romans von Castillo sprengen ohne Zweifel das telenovela-Format.

3.4 Carmens Lebens-Tanz: Chicana-Fusion bei subversivem Zusehen und erhobener Stimme Was Castillos Roman schließlich zu einem schillernden Stück Literatur macht, ist der unheimliche Bodensatz, vermittels dessen Bizets sevillanisch-schmugglerhafte Atmosphäre in das eisige Chicago des 20. Jahrhunderts transponiert wird, über dem jedoch Carmens starke Stimme schwebt, die in der Ich-Erzählung zudem besonders zentriert

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wird. Diese Stimme ist zwar nicht empowered, da sie einer Subalternen gehört;33 doch ist die flüssige Sprache, die Castillos Schreiben charakterisiert und auch Carmen in den Mund gelegt wird bzw. deren autobiographisches Narrativ prägt, in einer solchen Weise light, ja beinahe buchstäblich durchscheinend wie die Haut einer Zwiebel, dass die Dreier-Konstellation, in der sich die postmoderne Carmen befindet, tragisch nur auf der maskulinen Seite des gender trouble zu sein scheint: I don’t think I cared much that Manolo’s effect on me was so obvious to my long-time / lover. Then Manolo broke the tension and turning to Agustín, he asked, Hombre, can one / dance with her? (S. 71)

Dies ließe sich auf die ‚machtvolle‘ Chicana-Fusion zurückführen, die sich in Carmen repräsentiert und auf deren Grundlage diese in äußerster Vertrautheit mit den Regeln eines patriarchalen Systems auf die Welt der gitanos reagieren kann. Dazu kommt, dass sich Carmen aufgrund ihrer Randlage in der angloamerikanischen Gesellschaft, in der sie kaum ein Auskommen findet, besonders agil zeigen muss. Für Kategorien wie Stolz darf sie sich kaum interessieren. Bei ihren am Codex der gypsies wie an einer Nabelschnur hängenden Liebhabern sieht dies anders aus, und Carmen rekurriert in ihrer Analyse dieser Sachlage auf ihr eigenes mythologisches Legat: Just like Moctezuma when at last confronted by the man whom he did not think was a god, / but a rival who believed the rumors of his own omnipotence, Agustín eyed Manolo like he knew that Manolo would not be stopped by anything. (S. 71)

Agustín und Manolo sind in der gender-Matrix sehr viel mehr gefangen und Carmen kann sich angesichts des Rivalitäts-Spektakels, das sich die beiden liefern (müssen), beinahe auf ein ‚subversives Zusehen‘ verlegen: „I looked up. Manolo’s head was titled in my direction. Everyone, including me, looked toward Agustín“ (ebd.). Dass sie – auch wenn ihr der Schatten ihres Vaters und ebenso die Fuchtel ihrer Mutter nachhängen – nicht sprachlos ist, illustriert um ein Weiteres ihre Geburt als Sängerin. Diese ereignet sich zeitgleich mit ihrer Abnabelung von Agustín. Als der Vertrag mit der Plattenfirma publik wird und sich Carmens Erfolg anbahnt, wird der Flamenco-Meister wieder vorstellig. Die Erhebung der Stimme, zu der ihr schließlich sogar ihre Mutter gratuliert, verhilft Carmen zu einem (wenngleich passageren) ökonomischen Status, der sie nicht nur in der chicanischen Familie erstarken lässt, sondern auch in den Augen des gypsieDandys attraktiv macht bzw. dessen Neid weckt: „I’ve outdone him. That’s why he’s called.“ (S. 183). Dieser glückliche Transit, diese aus

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großer Kompromissfähigkeit erwachsende Schrittfolge, mit der Carmen ihr Leben tanzt, hat jedoch eine Funktion. Es handelt sich um eine signifikante Seifenblase, mit der Ana Castillo die Prekarität ihrer Protagonistin gemäß der ‚xikanistischen‘ Koordinaten, die sie bei ihrem Schreiben anlegt, als ein Exempel statuiert, das sich in einem Raum irgendwo zwischen den USA, Mexiko und Spanien verortet. Dieser Raum ist auf heterogene Weise gegendert und ruft zu Transgressionen vor allem im Umgang mit dem eigenen weiblichen Körper auf, führt vom Polio-befallenen Terrain zur Stimme und steht damit in der Logik des Namens ‚Carmen‘, der, vom Lateinischen abgeleitet, Lied, Gesang oder Gedicht bedeutet.

4. Carmens Strategie: Der utopische Körper im ,rauchenden Spiegel‘ Peel my Love like an Onion ist ein Stück über Haben und Sein: „I once had two loves and together there was nothing to add and nothing to take away“ (S. 33). Indes ist es dem Text vor allem um das Dazwischen sowie die Destabilisierung eines fest gefügten Liebes- und damit Besitzbegriffes sowie um eine Irritation des gender-Begriffes zu tun. Dabei beweist sich der postnationale Raum der angloamerikanischen Metropole weder Carmen noch ihren calorro-Liebhabern als archetypische ‚Heimstätte‘, da er sich noch als Spielstätte der Angst und des Todes darbieten wird, wenn etwa Vickys Bruder an Aids erkrankt, eine Schwangerschaft beendet wird oder Carmens transvestitische Nachbarin verschwindet. Und doch ist die große kalte Stadt ein Denk- und Passions-Raum, in dem Carmens vitales Narrativ stets eine weitere listige Wendung für dunkle Phänomene in Reserve hält. Gleichwohl Castillos Protagonistin von ihren Liebhabern und deren Ehrenkodex sowie von manchem Diktum ihrer Mutter unterjocht wird, findet sie in Chicago so einen heterotopischen Lebens-Raum. Denn Carmens Existenz ist ein Widerlager,34 eine am ‚leeren Strand‘35 Chicagos angesiedelte Erzählung. Aber auch sie selbst, ihr Körper, stellt ein Medium dar, von dem aus weitergedacht und weitergeträumt wird: Als ihr die zunehmende Erkrankung einen FlughafenPizza-Job versagt („[T]he pizza gig ist out“, S. 110), stellt sie fest, dass ihr die Invaliden-Rente genauso viel bzw. wenig einbringt. Die Transit-Stätte des airport ist in dem Sinne ‚wirksam‘, als Carmen angesichts dieses prototypischen Nicht-Orts des postmodernen Nomadismus

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pünktlich zu ihrem vierzigsten Geburtstag sogar noch eine buddhistische Inspiration hat: I’m a big lotus blossom […]. In our own skin we can be reincarnated. You don’t have to have a baby, reproduce you for a new and improved you. You don’t have to die first. You don’t have to die at all. (S. 197)

Wie endet Ana Castillos chicanische Carmen-Vision? Manolo wird ‚in die Nacht zurückkehren‘ (S. 212); Agustín Carmen wieder oder weiterhin lieben; Amás Rat, eine Frau müsse sich niederlassen und Kinder bekommen, auf ‚xicanistische‘ Weise variiert. Wenn auch augenfällig ist, dass Peel my love like an Onion ein muttersprachliches Substrat enthält, das äußerst strukturgebend ist,36 ist es ein ganz besonderes, im Schlafzimmer der Mutter situiertes, meta-visuelles Medium, das Carmens Lotusblüten-Fantasie entstehen lässt: ein Spiegel. Während das neue Leben der Bizet-Carmen mit dem Tod bezahlt wird, liegt es bei Castillo im utopischen Körper, der sich in diesem Medium reflektiert, neben dem aber jederzeit auch noch der Körper oder Blick einer um ihre Tochter weinenden Amá Platz finden wird. Die junge Chicana, die über ihre Anbändelei mit den gypsies in den Augen der Mutter eine Malinche ist, sorgt im Double für ihre eigene Reproduktion, ohne weder aztekische Prinzessin noch ‚gypsy queen’ sein zu müssen. Das nach einem Zitat von Simone de Beauvoir dem Roman vorangestellte Gedicht „Peel my love like an onion…“ evoziert nicht nur die Transparenz der Zwiebel, die zur Metonymie der Vielschichtigkeit von Verlangen und Erinnerung wird, sondern gleichsam den toltekisch-aztekischen Gott Tezcatlipoca. Der überdies als ‚Rauchender Spiegel‘ bezeichnete Gott der Nacht gab den Blick in die Zukunft frei – die sich in seinem Spiegel reflektierte. Dem Norden und der Kälte zugeordnet, ist Tezcatlipoca außerdem Repräsentant der Versuchung und der schönen Frauen. Ein transkulturalisierbarer ,Patron‘ Carmens also. Und dennoch schließt Castillos Roman mit einem „And when I don’t want to see anyone I […] put on my own CD on the new stereo with six speakers around and just dance. I dance and dance and dance.“ (S. 212).

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Der von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägte Begriff steht hier im weiteren Sinne für Entgrenzung bzw. Grenzüberschreitung, aber auch für buchstäblichen Territoriumsverlust. Von den französischen Autoren wird er im Zusammenhang der Überlegungen zu einer ‚kleinen Literatur’ und dem Schreiben Kafkas eingeführt. Dieses ist einerseits von zersplittertem nationalem Bewusstsein, andererseits von der Suche nach Rückhalt in einer dennoch nationalsprachlich verfassten Literatur geprägt. Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Für eine kleine Literatur [Pour une littérature mineure. Paris 1975]. Frankfurt a. M. 1976, etwa S. 24f. Darunter befindet sich auch der einer Frau, nämlich María Amparo Ruiz de Burtons The Squatter and the Don von 1885. Die 2004 besorgte Ausgabe ist mit einer Einleitung von Ana Castillo versehen. Vgl. María Amparo Ruiz de Burton: The Squatter and the Don. New York 2004. Vgl. auch Fatima Mujčinovic: Postmodern Cross-Culturalism and Politicization in U.S. Latina Literature. From Ana Castillo to Julia Alvarez, New York u. a. 2004, S. 2. Die Bezeichnungen mestizo oder mestiza (bzw. die port. Entsprechungen mestiço/mestiça) entstanden während der europäischen Kolonialherrschaft in Amerika und beziehen sich bis heute auf Menschen, die europäischer sowie nativ-amerikanischer und/oder afrikanischer Herkunft sind. Mestizaje meint weiterhin auch ein kulturelles Konzept, das sprachliche, religiöse, musikalische u. a. Vermischung innerhalb der Amerikas bedeutet; es wurde 1925 von José Vasconcelos in seinem Essay La raza cósmica definiert. Vgl. José Vasconcelos: La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana: Notas de viaje a la América del Sur, Erstveröffentlichung in Paris, 2. Publikation 1948 in Mexiko. bell hooks: Aint’t I a Woman? Boston 1981; Angela Davis: Women, Race and Class. London 1982. Hierzu auch Deborah L. Madsen: Understanding Contemporary Chicana Literature. Columbia 2000, u. a. S. 2-4. Ana Castillo: Peel my Love like an Onion. New York 1999. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Roman direkt im Text unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. Angesichts der historisch stark belasteten Bezeichnung ‚Zigeuner‘, für die im Rahmen dieses Artikel kein Ersatz gefunden werden kann, werden im Folgenden die spanischen bzw. englischen Begriffe Verwendung finden, die in Castillos Roman u. a. auftauchen und von denen vor allem der spanische zwar nicht durchweg, doch in der Tendenz eher positiv besetzt ist. Vgl. ebenso Madsen (wie Anm. 6), S. 6. Vgl. Richard A. García: The Chicanos in America. 1540-1974. New York 1995, S. vii. Gloria Anzaldúa: Borderlands/La Frontera: The New Mestiza. San Francisco 1987. Vgl. etwa Dieter Ingenschay: „Pepsicoatl, Nation of Aztlán und New World Border. Problematisierung, Hybridisierung und Überwindung der mexicani-

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dad im Lichte der Kultur der chican@s“. In: ders. et al. (Hrsg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt a. M./Madrid 2005, S. 77-102, hier S. 85-87. ‚The Nation of Aztlán’ ist eine nationalistische, teilweise als antisemitisch kritisierte chicanische Organisation, die u. a. die Rückeroberung der einstmals mexikanischen Gebiete der USA imaginiert. Aztlán (Nahuatl: Aztlān) ist der mythologische Herkunftsort der Nahuas bzw. Azteken (=die aus Aztlán Stammenden), deren Wanderung bis in das Tal von Mexiko u. a. in dem zwischen 1530 und 1541 angefertigten Boturini-Codex (oder: Tira de la Peregrinación Azteca) festgehalten wurde. Vgl. Stephen Castles, Mark J. Miller: The age of migration. International population movements in the modern world, New York 1993. Vgl. Octavio Paz: El laberinto de la soledad. Mexiko-Stadt 1950. Siehe vor allem auch Barbara Dröscher, Carlos Rincón (Hrsg.): La Malinche. Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht, Berlin 2001. Hier vgl. die deutsche Ausgabe von Bernal Díaz del Castillo: Geschichte der Eroberung von Mexiko. Frankfurt a. M. 1988. Debra Castillo: „Border Theory and the Canon“. In: Deborah L. Madsen (Hrsg.): Postcolonial Literatures: Expanding the canon, London 1999, S. 193. Vgl. Donna Haraway: „A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminim in the Late Twentieht Century“. In: dies.: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 149-181. Auf die Begriffsgeschichte des Wortes chingar (‚vergewaltigen‘) sowie jener der Ableitungen wie chingón und chingada geht auch Octavio Paz ausführlich ein. Vgl. Anzaldúa (wie Anm. 11), S. 30. La Llorona bedeutet ,Die um ihre Kinder Weinende‘ und wird teilweise mit der Malinche identifiziert. Vgl. auch Madsen (wie Anm. 6), S. 17-19. Madsen bezieht sich hier auf die Ausführungen Anzaldúas zum ,neuen Bewusstsein‘ der „new mestiza“, die teilweise sehr an die utopistische Schreibweise Donna Haraways im CyborgManifest erinnern bzw. diese antizipieren. Als Auswahl – neben Peel my Love like an Onion – siehe Ana Castillo: Loverboys: Stories, New York/London 1996; The Mixquiahuala Letters. New York 1995; So far from God. London 1993; Sapagonia (An Anti-Romance in 3/8 Meter). Tempe/Arizona 1990. Ana Castillo: Massacre of the Dreamers. New Mexico 1994. Sandra Cisneros, hier Zitat auf Buchrücken von Peel my Love like an Onion. Kursivierungen im Original. Julia Álvarez, hier ebenso Zitat auf Buchrücken von Peel my Love like an Onion. Kursivierungen im Original. Der postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha geht davon aus, dass Konzepte von Nation in Narrative eingehen. In postkolonialen Zeiten fallen diese besonders heterogen aus und sind entsprechend zu betrachten, womit Binaritäten wie Zentrum/Peripherie, Erste/Dritte Welt, Wissen/Ignoranz u. Ä. einer Revision unterzogen und in ihrer hierarchischen Anordnung destabilisiert werden sollten. Daraufhin würde Raum für Transgressionen, Interaktionen etc. geschaffen, wie sie hybride und vielstimmige Kulturen gerade in einem Beitrag gegen koloniale Strukturen kennzeichnen könnten. Diese

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Kulturen machen den third space als intermediären, quasi ‚unerkannten‘ (Denk-)Raum möglich, der sich aus dem Transit zwischen subjektiver ‚Heimstätte‘ und einem Ort historischer Herkunft z. B. ergibt. Vgl. Homi K. Bhabha: Nation and Narration. London/New York 1990 sowie The Location of Culture. London/New York 1994. Siehe z. B. Teresa San Román: La diferencia inquietante. Madrid 1997. Hier schließlich die Eigenbezeichnung Manolos und Agustíns, die auch von Carmen übernommen wird. Vgl. Ana Castillo (wie Anm. 7), S. 84: „I myself believed Manolo was calorro through and trough“. Weiterhin etwa S. 30. Calorro ist Romani und stellt ein Diminutiv von gitano dar. „Rom“ bedeutet auf Romani ‚Mensch‘, aber auch ,Mann‘. Vgl. Madsen (wie Anm. 6), S. 88. Payos oder gajes stehen für Nicht-gitanos. Die Minderheit der gitanos und gitanas in den USA ist allein schon zahlenmäßig kaum mit jener der chicanischen zu vergleichen. Die Produktion von Argos Comunicación und Telemundo gründet auf der chilenischen Produktion Romané und wird ab Ende 2004 bis Mitte 2005 ausgestrahlt sowie im Jahr 2007 erneut gezeigt. Siehe hier die Synopse auf Telenovela Garden: http://telenovela.freehostia.com/novelas/Telemundo/Gitanas/ index.html, 29.12.2009. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: „Can the subaltern Speak?“ In: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago 1988. Michel Foucault: „Andere Räume“ [1967]. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1993, S. 39. Michel Foucault: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Zweisprachige Ausgabe, Frankfurt 2005, S. 12. Die Nummerierungen der Kapitel des Buches sind auf Spanisch ausgeschrieben.

Fantasías sobre Flamenco Getanzte Carmenbilder zwischen Körperwissen, Punk & Porno1 von Julia Roth So long as men fear independent women, so long as those with class or ethnic privilege resist claims of the disenfranchised, so long as the art world perceives itself as under siege from popular culture, Carmen will continue to provide a ready template for articulating the anxieties that assail us.2 When asked to picture in their minds the Gypsies, many people, especially those with no or little contact with real Romany people, conjure up images of flamenco dancers, colorful wagons, dark-eyed fortune-tellers, horse traders, tinkers, a panoply of picturesque figures that invoke stereotypes of the Romantic era.3 „Bailaores, bailaoras las que sudan en la pista las que gozan con mi rumba y la bailan con buen compás. A tí, a tí, a tí que rompes los zapatos cuando oyes la rumba Ay! a tí, pa tí, pa tí toma! con los Amaya a gozar Como mi ritmo no hay dos Como mi ritmo no hay dos Porque tú lo vales rumbero…“4

Staatsoper Hamburg, September 2002: Carmen rafft den roten Rock und legt mit den Rhythmus stampfenden Füßen ein Zapateado5 hin. Sie wirft in einer Ballettpose das rechte Bein in die Höhe. Unter den rüschenbesetzten Volantröcken kommen ihre langen, netzbestrumpften Beine zum Vorschein. Jede Bewegung sitzt. Carmen trägt große Ohrringe und eine rote Blume im dunklen Haar, die Augen sind dick im Katzen-Make-up-Look ummalt. Carmen tanzt und Carmen stirbt. Helena Martín hat als Carmen alle Erwartungen erfüllt. Das Hamburger Publikum tobt. Am Ende der Vorstellung gibt es stehenden Applaus, die Künstlerinnen und Künstler des Ensemble Ballet Teatro

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Español betreten minutenlang zur Verbeugung die Bühne und geben schließlich drei tänzerische Zugaben. Das Ballett-Flamenco-Tanztheater Carmen Flamenco in der Choreografie von Rafael Aguilar, die 1992 in Tokio uraufgeführt wurde, ist der derzeit wohl erfolgreichste Exportschlager unter den Labels „Carmen“ und „Flamenco“6. Der Name ist Programm: Der Titel des Tanztheaters markiert eine folgenreiche Symbiose zweier Mythen, mit denen Außenstehende Spanien assoziieren. Spätestens seit Carlos Sauras Filmversion von 1983 finden sich in den meisten Darstellungen Verknüpfungen mit der Figur der spanischen Gitana7, Carmen und den Tanzstilen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als Flamenco bezeichnet werden. In der Musik wie im Tanz spiegelt sich eine kulturelle Grenzüberschreitung und -kombination wider, mit deutlichen Akzenten auf dem ‚Spanischen‘. Die Carmen in Mérimées Novelle und Bizets Oper empfand der Choreograf Aguilar als nicht authentisch spanisch. Für ihn musste Carmen als Gitana dargestellt werden, die Flamenco tanzt.8 Gilt Carmens ‚Zigeunertanz‘ in Bizets Oper und den meisten Film- und Bühnenadaptionen noch als Merkmal ihrer Exotik, wird der Tanz in Carmen Flamenco zum bestimmenden Ausdrucksmedium: Alle Protagonisten sind von (Flamenco-)Tänzerinnen und Tänzern dargestellt. In klassischen Inszenierungen – wie schon in Mérimées Novelle und Bizets Oper – markierte der Tanz Carmens erotisches Othering als Frau und ‚Zigeunerin‘ und damit ihre Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft. In Carmen Flamenco darf Carmen zurückblicken: In der Gefängnisszene (3. Bild) sehen wir Don José im knappen weißen Muskelshirt und eng anliegender schwarzer Hose, in der Liebeszene mit nacktem Oberkörper. Carmenfantasien Pablo de Sarastres ertönen. Der Tanz ist eine Mischung aus klassischem Ballet, klassischem spanischen Tanz, spanischer Folklore und stilisierten Elementen aus Bolero und Flamenco.9 In einer für das Genre mutig ‚queer‘ anmutenden Szene tanzt Carmen mit einem als Frau verkleideten Tänzer eine erotische Einlage. Als die Tarotkarten Carmen und Don José den baldigen Tod prophezeien (6. Bild), ist im Hintergrund ebenfalls aus Carmens Perspektive ein Don-José-Double, der lediglich mit einem weißen StringTanga bekleidet ist, in einen Todestanz mit einem Engel vertieft. Auf der Darstellungsebene – der Plot bleibt gleich: Carmen muss sterben, da sie frei lieben und unabhängig bleiben will – hat Aguilar eine gesamtspanische Aneignung des Carmen-Images als exotisch-morbides Anderes vorgenommen. Aguilars Publikumsschlager fächert implizit die Komplexität von spanischer Dominanzgesellschaft und Gitano-

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Minderheit sowie gängiger Spanien-Klischees am Dreh- und Angelpunkt der Trope des Flamenco auf, die auch in den Carmenmythos hineinspielt.

Spanierin oder Gitana? Die Flamencotänzerin als Trope nationalistischer Überblendungen In Spanien geht es beim Flamenco auch immer um die Vorherrschaft darüber, ‚die‘ spanische Kultur, Identität und Nation zu repräsentieren und akzeptierte Wissenspraktiken festzulegen. Im Rahmen der Flamencoforschung dominieren in Bezug auf den Ursprung ‚des‘ Flamencos drei grundlegende Hypothesen, die sich gegenseitig ausschließen. Vertreter der so genannten hermetischen Phase gehen davon aus, dass der Flamenco-Gesang im Milieu der gesellschaftlich und politisch isolierten Gitanos entstanden ist, die musikalische Traditionen aus Indien und dem arabischen Raum mitbrachten. Nach der politischen Öffnung Spaniens ist er an die breitere spanische Öffentlichkeit gedrungen und hat sich mit anderen folkloristischen Elementen verbunden.10 Die Gegner dieser These behaupten, der Flamenco sei auf der Basis spanischer Folklore in der spanischen Öffentlichkeit entstanden und die Gitanos hätten sich dieser populären Form bemächtigt.11 Problematisch ist an beiden Thesen, dass sie von hermetisch voneinander getrennten Kulturen oder gar ‚Rassen‘ ausgehen. Eine dritte These beschreibt demgegenüber den Flamenco zwar als Ausdruck und Widerstand einer unterdrückten sozialen Klasse, die nicht nur aus Gitanos bestehe. Diese Annahme negiert aber wiederum die rassistische Dimension der Jahrhunderte währenden antiziganistischen Unterdrückung. Unter ‚Flamenco‘ versteht man heute eine breite Palette künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen von Gesang, Gitarre, Palmas12 und Tanz, die bis zu 60 unterschiedliche Stile (Palos) umfassen und die in unterschiedlichen Zeitkontexten unter unterschiedlichen Umständen und Einflüssen entstanden sind. Auf dieser Vielfalt und Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Formen beruht auch der Streit darum, was ‚authentischer(er)‘ Flamenco sei. Neben dem professionellen, perfekt choreografierten13 und auf ein großes Publikum ausgerichteten Massenflamenco leben in Südspanien einige Gitanos – und zum Teil auch Nicht-Gitanos (Payos) – fernab von großen Bühnen eine Alltagsflamencokultur, die ihnen als Ausdruck einer spezifischen kulturellen Identität eines kollektiven Gedächtnisses gilt, das auf be-

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stimmten Erfahrungen begründet ist.14 Im spanischen Sprachgebrauch übertrug man den Begriff ‚Flamenco‘15 für das ‚zigeunerische‘ Künstlermilieu erst im 19. Jahrhundert auf die gesamte Gitano-Bevölkerung. Diese war zuvor über Jahrhunderte als Gitanos stigmatisiert, in Gettos gesteckt, zur Zwangsarbeit in Minen gepfercht und gesellschaftlich ausgegrenzt worden.16 Die frühesten Formen des Flamenco-Gesangs waren Arbeitsgesänge und entstanden meist im Kontext von Armut, physischer Ausbeutung und gesellschaftlicher Marginalisierung.17 Gitanos gehörten von Beginn an zu den wichtigsten Interpreten des populären andalusischen Gesangs, der Musik und des Tanzes. Noch heute kommen die bekanntesten Flamencosänger aus den GitanoGemeinschaften.18 „Durch diese Kunst verschafften sich die Gitanos eine Stimme in der Gesellschaft“.19 Heidelberg vermutet entsprechend – und hier deuten sich hinsichtlich der Funktion des Gesangs Parallelen zum Blues der nordamerikanischen Versklavten an –, dass [d]iese Gesänge nicht für die Öffentlichkeit bestimmt [waren] […], sondern in ihnen wurden das Leid und die Lebensphilosophie in Metaphern ausgedrückt. Es ist zu vermuten, dass sie in Zeiten der Verfolgung auch als Codes benutzt wurden, die von den Autoritäten nicht verstanden werden konnten20.

Auch der Beruf der Tänzerin hat in Spanien eine lange Tradition, besonders als Einnahmequelle für Frauen marginalisierter Gruppen. Offiziell galten diese Tänze als Gefahr für die öffentliche Moral.21 Bald wurde das Klischee der erotisch-verruchten, tanzenden femme fatale mit dem Bild der Gitana verknüpft. Auch das Genre ‚Flamenco‘ wurde aus dieser Perspektive von Beginn an in der Unterschicht bzw. Unterwelt lokalisiert. Adorno betont entsprechend: „Bizet […] kann es noch genügen, gerade eben das Klischee ‚Gesang und Tanz‘ herbeizuzitieren, um das Hohe von dem Niedrigen abzuheben“22. Schon die Gitanilla von Cervantes ist eine Tänzerin. Carmen ist nicht nur eine erotische ‚Gefahr‘, sie verkehrt im kriminellen Schmugglermilieu und ist gemäß dem antiziganistischen Stereotyp auch eine notorische Lügnerin – wie auch schon bei Mérimée: „Sie log, Señor, sie hat immer gelogen“23. Im romantischen Mythos werden die so konstruierten ‚Zigeuner‘ als faul, kriminell und promisk dargestellt, ihre Hauptbeschäftigung besteht im Trinken, Tanzen und Musizieren. Diese Eigenschaften situieren, wie Charnon-Deutsch hervorhebt, „the Gypsy race as slightly outside the range of human norm. A true Gypsy dance is by ‚instinct‘ disconcerting, unpredictable, undefinable, rebellious, and scandalous“24.

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Bizet war nie in Spanien. Für die spanischen Einschläge in der Oper ließ er sich in erster Linie durch Volksmusiksammlungen inspirieren und setzte vor allem spanische Volkstänze ein, um das Lokalkolorit musikalisch zu unterstreichen.25 Offensichtlich bedurfte es einerseits der Außenperspektive und andererseits der „hochkulturellen“ Formen des Romans und der Oper und später massenmedialer Rahmung, um die zuvor strukturell ausgeschlossenen Gitanos überhaupt in der Dominanzkultur sichtbar zu machen. Doch gerade in dieser Sichtbarmachung in Form stereotyper Projektionen lag wiederum eine Ausgrenzung:26 Adorno beschreibt [die] Opernkonvention, die […] sich nicht genug tun kann im Neid auf das farbige Leben derer, welche in der bürgerlichen Welt der Arbeit geächtet, zu Hunger und Lumpen verdammt sind, und bei denen jene doch das Glück vermutet, das sie sich mit der Unvernunft ihrer Vernunft abschneiden muß.27

Diese hochkulturelle Aneignung der Darstellung der Gitana Carmen und der mit ihr assoziierten Flamencomusik und des -tanzes drängte die andalusischen Gitanos selbst einmal mehr aus dem Bereich der Repräsentation. Noch heute benutzen weder Sänger noch Gitarristen des traditionellen Flamenco Noten oder verschriftlichte Texte. Schon bald entstanden nach dem Vorbild der beliebten italienischen Opern Flamenco-Opern als Anpassung an den kommerziellen Geschmack und sogenannte Cafés Cantantes, wo man Gesangswettbewerbe organisierte. Die Tänzerinnen und Tänzer in den Cafés Cantantes professionalisierten den Tanz in Form komplizierter Fußtechniken und Ausdrucksformen, die sich bewusst von der damals stark zelebrierten steifen Hochkultur des Balletts abgrenzten.28 Vor diesem Hintergrund entstand Mérimées Roman und kurz darauf Bizets Oper und somit das Carmenbild, das bald zum Carmen-Mythos werden sollte. Mérimées Novelle verankert sich durch die ethnologisch anmutenden Ausführungen in der Rahmenhandlung zwischen Fakt und Fiktion und trug zum pseudowissenschaftlich rassisierenden Diskurs über die ‚Zigeuner‘ bei. Das romantische ‚Zigeunerbild‘ war eine Projektion vor dem Hintergrund wirkmächtiger biologistischer Rassentheorien, die mit der Lebensrealität der Gitanos nichts zu tun hatte. Wie Charnon-Deutsch betont, trug dieses Bild zur Abspaltung des ‚Zigeunerbilds‘ von der Lebensrealität der Gitanos bei: The history of the European Roma is a history of social exclusion and physical oppression, while the aesthetic landscape of the Gypsy is one of inclusion and privilege. This paradox is key to understanding the long and tragic history of Payo-Roma relations in Europe. […] While the Roma have led a

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largely ghettoized existence, however, in literature the Gypsy milieu is a place of freedom, unboundedness and excitement.29

Die faschistische Franco-Regierung entdeckte ab den 1960er Jahren den Massentourismus als Geldquelle und begann, ein spezifisch ‚spanisches‘ Image zu inszenieren. Dazu gehört(e) neben Stierkampf und Sherry ganz maßgeblich auch die heißblütige Flamencotänzerin. Über die auch aus dem romantischen Carmen-Mythos geprägte Figur exotisierte die spanische Dominanzgesellschaft sich quasi selbst für den wachsenden Tourismusmarkt.30 Diese Tänzerin konnte im nationalistischen Franco-Spanien keine Gitana sein. Der auf die Gitanos zurückgehende Flamenco wurde zur andalusischen Kultur deklariert und die andalusische Kultur als gesamtspanische dargestellt und vermarktet. Franco-Spanien konstruierte somit die Gitanos als vom Regime erfolgreich integriertes oder zu domestizierendes internes Anderes. Während der künstlerischen Aufbruchsbewegung, der Movida, die mit dem Ende des Franco-Regimes einsetzte, entstanden einige sozialkritische Flamencoprojekte31, auch kritische Carmeninterpretationen.32

Getanztes Gedächtnis: Los Farruco und die Juergas in Andalusien Teatro Villamarta, Jerez de la Frontera, 2006: Die Brüder Farruco und El Carpeta geben bei ihrem Auftritt im Rahmen des renommierten Festival de Jerez alles. Die Technik und Geschwindigkeit ihrer Zapateados, Drehungen und Sprünge sind atemberaubend. Der junge Tänzer Farruco, der in der Gitano-Szene wie ein Popstar gefeiert wird, tanzt mit seiner Tante La Farruca. Auf der Bühne sprüht der Schweiß, aus dem Publikum ertönen anfeuernde Jaleos33: „Olé!“, „Eso es gitano!“ Diese Form des Flamenco hat mit den internationalen Bühnenshows wenig gemeinsam. Los Farruco kommunizieren auf der Bühne ständig. Sie betonen den interaktiven Charakter von Flamenco, der auf dem Zusammenspiel von Gesang, Gitarre und Tanz beruht, und inszenieren so in Perfektion den Ritualcharakter und zugleich die Spontaneität des gelebten Flamenco por fiesta.34 Nachts in den Peñas35 von Jerez de la Frontera kann man bei den so genannten Juergas ähnliche Konstellationen beobachten. Gefeiert wird hier keine im klassischen Sinne elegante Schönheit im Volantkleid und mit Blume im Haar. Wenn Gitano-Idole auftreten, finden sich viele Gita-

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Abb. 1: Peña in Jerez de la Frontera, Foto: Tina Heidelberg

nos im Publikum, die sich zumeist in eleganter typischer Kleidung präsentieren und den Künstlerinnen und Künstlern damit und durch Zurufe ihren Respekt zollen.36 Hier wird meist ein traditioneller, puristischer Stil gepflegt, der als Ausdruck der gemeinsamen Erfahrung derer gilt, die in einer feindseligen Dominanzgesellschaft als Gitanos markiert sind. Diese Variante des Flamenco wählen die Künstlerinnen und Künstler nicht als Hobby oder Beruf wie die professionellen Bühnenkünstlerinnen und -künstler, die nicht Gitano-Gemeinschaften entstammen. Alle Künstler der Farruco-Familie sind mit Flamenco aufgewachsen. Noch immer ist die Musik eines der wenigen Gebiete, die Gitanos gesellschaftlichen Aufstieg und Anerkennung bieten. Am Ende der Vorführungen kommt oft der Jüngste der Familie auf die Bühne und zeigt sein Können – beim beschriebenen Konzert in Jerez war dieser etwa fünf Jahre alt.37 Als kulturelles Körperwissen verstanden steht diese Variante von ‚Flamenco‘ nicht in Konkurrenz zu aufwändigen Bühnenchoreografien. Vielmehr ist ‚Flamenco‘ por fiesta, wie man ihn früh morgens in den Peñas oder dem alternativen Jerezianer Festival de Prendi sehen kann, ein spontanes Zusammenkommen und ein interaktives Ritual. Außenstehende, die sich nicht intensiv mit der Kultur und Kunst der Gitanos beschäftigen und persönliche Beziehungen in der Gemeinschaft aufbauen, haben selten Gelegenheit, echte Juergas mitzuerleben. Auf großen Bühnen ist dieses Erlebnis für kein Eintrittsgeld der Welt zu haben. Stars wie Los Farruco oder Manuela Carrasco treten weltweit auf. Und auch in diesem internationalen Bereich des Flamenco fin-

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den sich Gender-Klischees. Lasziven Carmen-Fantasien weißer bürgerlicher Hetero-Männer entspricht aber weder der Tanz von Los Farruco noch die improvisierte Variante der Tänzerinnen und Tänzer in den Peñas. Die Kultur der Gitanos hatte maßgeblichen Einfluss auf den Flamenco. So schlussfolgert Heidelberg: „Bevor die Gitanos auf die andalusische Musik einwirkten, war sie im heutigen Sinne kein Flamenco“38. Von wissenschaftlicher Seite wird als Argument gegen den ‚Ursprung‘ des heutigen Flamenco im Gitano-Milieu oft die fehlende schriftliche Überlieferung und ‚Nachweisbarkeit‘ der frühen Formen herangezogen. Zumeist sprechen nicht-gitano Wissenschaftler – und auffällig oft deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – in diesem Diskurs populäreren Autoren die ‚Objektivität‘ und ‚Belegbarkeit‘ und somit die Seriosität ihrer Quellen und Methodik ab.39 Insbesondere für deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wäre es geboten, den Blick auf den eigenen Kontext zu lenken, wo die Dominanzkultur ungebrochen antiziganistische Diskriminierung ausübt, anstatt den so marginalisierten in anderen Kontexten Separatismus vorzuwerfen. Die Problematik dieser Debatten fußt auf einem unterschiedlichen Verständnis von Wissenskulturen und damit davon, „wie wir wissen, was wir wissen“40. Im nordwesteuropäischen Verständnis wird Tanz zum einen gemäß der höfischen Praxis und später des bürgerlichen Kanons als eine Körperpraxis verstanden, die zunächst dazu diente, die Bürger zu sozialisieren. Diese Formen wurden insbesondere in Frankreich stark ästhetisiert und in Form der Académie royale de danse akademisiert und mit anderen Kulturtechniken verschränkt. So wird Tanz in diesem Kontext (auch) schriftlicht vermittelt und gilt als professionalisierte, körpertechnische Kunstausübung. Zum anderen verstehen neuere tanzwissenschaftliche Ansätze Tanz als Körperwissen und als kulturelle Archive, als eine Art „Museum auf Zeit“. Huschka und Böhme sprechen entsprechend von den „[h]istorische[n] Dimensionen und Kenntnisse[n] über kulturelles Körperwissen im Tanz [, die] […] vergleichsweise wenig erforscht [sind]“41, von Tanz als „Ebene der Wissenspraktiken, die ein verkörpertes, leiblich memoriertes, kinästhetisches Wissen vollziehen, d. i. der Tanz selbst“.42 Bestimmte Formen des Flamencos stellen demnach auch – gerade durch die untrennbare Kombination und Interaktion von Musik, Gesang und Tanz – eine wichtige Erinnerungsstrategie dar.

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Neo/Koloniale Ausblendungen: Weiße deutsche Carmen-Rezeptionen Die derzeit populärsten und finanziell erfolgreichsten Carmen-Adaptionen und Flamenco-Shows setzen auf Exotik und Erotik, die ein externes Publikum der spanischen Kultur zuschreibt. Eine noch stärkere ‚Softpornografisierung‘ als in Aguilars Show bot die Kurzversion Carmen, Carmela beim renommierten Flamenco-Festival 2005 im andalusischen Jerez de la Frontera: Hier war Carmen (Lola Greco) die meiste Zeit in schwarzer Reizwäsche mit Strapsen auf der Bühne zu sehen. In neueren spanischen Tanzinszenierungen wie Carmen Flamenco fällt Carmens explizite optische Markierung als Gitana oder ‚Zigeunerin‘ weg. Zwar ist Carmen meist in den Signal- und Fetischfarben Rot und Schwarz gekleidet und ihr Tanz übertrifft an Energie und Erotik den der anderen Tänzerinnen auf der Bühne. Doch tragen auch die anderen Tänzerinnen Blumen im Haar, große Ohrringe, Fächer, Kastagnetten, Mantillas43 und volantbesetzte Röcke. In Søren Schuhmachers Inszenierung 2009 an der Deutschen Oper Berlin ist Carmen zumindest durch rote Flamencoschuhe und rot-schwarze Kleider markiert. Hinter der Carmenfigur als Flamencotänzerin wie sie in Carmen Flamenco präsentiert wird, steht gleichsam eine Aneignung und eine Unsichtbarmachung: Galt Carmens Tanz und exotisches Äußeres für Bizet noch explizit als Marker ihrer Andersartigkeit als spanische ‚Zigeunerin‘ und zugleich sinnbildlich für das Land Spanien als exotisches, feminisiertes Anderes, blenden zeitgenössische spanische Adaptionen häufig die Bedeutung des Flamencos für die Gitanos und die der Gitanos für den Flamenco(tanz) aus. Das Andere, das in der Hamburger Staatsoper bejubelt wurde, ist das exotisch-spanische Flamenco-Andere, das an der Schnittstelle zwischen der europäischen Konstruktion Spaniens als ‚internes Anderes und der Selbstexotisierung Spaniens über die Trope der heißblütigen Tänzerin steht. Ein Blick in die Rezensionen der Carmen Flamenco-Show in deutschen Zeitungen zeigt exemplarisch, dass Carmen und Flamenco hier einerseits oft noch immer als ungebrochen rezipierte stereotype ‚Zigeunerkultur‘ und andererseits gleichzeitig als ‚authentischer‘ Ausdruck spanischen Temperaments und spezifisch spanischer Kultur gelesen wird.44 Eine derart unbedarfte Rezeption stereotyper Spanien-/Zigeunerbilder ist bedenklich in einem deutschen Kontext, wo eine Auseinandersetzung mit der systematischen Ermordung von Sinti und Roma

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Abb. 2: Sylvin Rubinstein in der Rolle seiner Schwester, der von den Nazis ermordeten Flamencotänzerin Dolores, Foto: Christian Irrgang

durch das Nazi-Regime sowie mit der unheilvollen deutschen antiziganistischen Geschichte und der bis heute wirkmächtigen ‚Zigeuner‘Bilder noch aussteht.45 Darüber hinaus kappt die Reduzierung von ‚Flamenco‘ auf ‚typisch spanische‘ Erotik und Exotik die Traditionslinien des Genres ebenso wie die identitätspolitische Bedeutung von Flamenco als kulturelles Wissensarchiv derjenigen, die seit Jahrhunderten als Gitanos markiert, verfolgt und ermordet wurden (und werden).46 Wie unreflektiert das Image der tanzenden Spanierin im Carmen-Look rezipiert und bejubelt wird, beweist auf traurige, zynischtragische Weise das Beispiel des jüdischen Tänzers Sylvin Rubinstein: Der heute über 90-Jährige trat in seiner Jugend mit seiner Zwillingsschwester als „Imperio und Dolores“ auf. Nach der Machtergreifung der Nazis verschwand seine Schwester und wurde ermordet. Sylvin schlüpfte in ihre Rolle und engagierte sich zunächst häufig getarnt in Frauenkleidern im Widerstand gegen die Nazis. In den 1950er Jahren wurde Sylvin Rubinstein in der Rolle seiner Schwester als Dolores

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zum Flamenco-Star. In der Rolle und als Erinnerung eines Holocaust-Opfers verkörpert ein Flamenco tanzender jüdischer Holocaust-Überlebender abgesehen von seiner queeren Performance als Tänzerin die ungebrochen fortwirkenden exotistisch-antiziganistischen Klischees eines mehrheitsdeutschen Publikums.47

Otra Carmen es posible: Marina „La Canillas“ Abads Neufassung der Gitana als punkige Powerfrau Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2003: Marina „La Canillas“48 Abad betritt die Pop-d’Europe-Bühne auf dem Dach des Hauses der Kulturen der Welt, greift zum Mikrofon und rappt. „La sangre se me revela, cuando me pongo a pensar, que aquí unos tienen de to’ y otros tienen de ná, ay lereleile!’“ („Mir kocht das Blut, wenn ich daran denke, dass hier wenige alles haben und andere haben nichts, ay lereleile!“). Die Sängerin der Band Ojos de Brujo sieht aus wie die Punkversion von Carmen: Zum gepunkteten Kopftuch trägt sie riesige Kreolohrringe und Volantröcke mit mehreren Gürteln. Sie stimmt „Kién engaña no gana“49 an, ein zutiefst sozialkritisches Stück, im Hintergrund erklingen geklatschte Palmas. Zur „Buleriá del Ay“ kommt die bekannte Flamencotänzerin Belén Maya auf die Bühne und legt los. Auf der Bühne tanzt Marina „La Canillas“ nie selbst. Die eingeladenen Tänzerinnen und Tänzer tanzen zumeist improvisierte Pataítas auf die Songs, und das gesamte Publikum tanzt mit. Ojos de Brujo mischen Flamencorhythmen mit Hip-Hop, Rap, Rumba und vielen anderen Elementen zu einem Stil, den sie selbst als „jipjop flamenkillo“ bezeichnen. Die Songtexte enthalten Wörter aus dem Calí (auch Calé), der Sprache der andalusischen Gitanos, so auch sämtliche Titel ihrer Alben.50 Ojos de Brujo gehen davon aus, dass der Flamenco schon immer eine vielfältige und lebendige Kunst- und Ausdrucksform war, die durch unterschiedlichste Einflüsse bereichert worden ist.51 Auf neueren Fotos inszeniert sich Marina oft als Flamenco-Piratin mit Augenklappe oder Piratenhut, im Video zur aktuellen CD ist eine indische Tänzerin zu sehen. Der Gitano-Tradition messen die Musikerinnen und Musiker großen Respekt bei. Schon der Name der Band Ojos de Brujo (Augen des Magiers) spielt auf diese Tradition an. Gleichzeitig bricht der Name ironisch mit den gängigen Klischees der wilden, tierähnlichen ‚Zigeuner‘-Augen, wie sie im spanischen Sprichwort „ojos de gitano, ojos de lobo“ („Zigeuneraugen, Wolfsaugen“) anklingen, das auch in Mérimées Novelle und zahlreichen folgenden

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Abb. 3: „Otra Carmen es possible“ Marina „La Canillas“ Abad, Foto: Julia Montilla. Abb. 4: Spiel mit der Maskerade: die Band Ojos de Brujo, Foto: Thomas Canet

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Carmen-Darstellungen eine zentrale Rolle spielt. Auf der Website der Band wird Marina „La Canillas“ ironisierend beschrieben als „eine dieser Personen mit schönen Augen, nicht aufgrund deren Größe oder Farbe, sondern wegen deren Lebendigkeit“52. Ojos de Brujo zelebrieren den spontanen Flamenco por fiesta, der keiner festen Choreografie unterliegt, aber immer perfekt im Rhythmus ist. Ihre Musik ist längst keine Subkultur mehr: 2004 wurde die Band mit dem BBC Award for World Music ausgezeichnet, es folgte der Grammy Latino für das beste Flamenco-Album und der Deutsche Schallplattenpreis für die Kategorie Weltmusik. Als erfolgreichste Band stehen Ojos de Brujo für eine beeindruckende Diversifizierung des Flamenco beziehungsweise von Flamencoelementen und -kultur in einer Pop-Kultur, die in den späten 1990er Jahren einsetzte und dem Genre seither besonders in politisierten globalisierungskritischen Jugendkulturszenen Auftrieb verschafft. Innerhalb dieser Szenen ist ein Flamenco-Chic weit verbreit, in dem sich diese Umdeutung widerspiegelt, wie sich etwa bei den regelmäßig stattfindenden sogenannten Latino- und Flamenco-Parties in Berlin beobachten lässt, wo viele Frauen anzutreffen sind, die Marina „La Canillas“ Gitana-Look kopieren. Die Berliner Designerin La Volantina entwirft neben traditionellen Bühnenkostümen für Tänzerinnen auch Flamenco Street Wear. Mit alternativen Deutungsangeboten, wie sie die Gruppe Ojos de Brujo anbietet, erfährt sowohl die traditionelle Flamencokultur mit ihren Gitano-Einflüssen als auch der Carmen-Look eine positive Neufassung. Ojos de Brujo zelebrieren ein konstituierendes Moment des Flamenco: als Raum (transkultureller) Kommunikation, als Aushandlungsraum sozialer Normen und der Überprüfung sozialer Institutionen und Rituale. Marina „La Canillas“, die früher mit dem feministischen Kollektiv Agüita Troup Straßentheater machte, entstammt keiner Gitana-Familie. Doch sie performed in ihren Texten und ihrer Kostümierung als Gitana ein Spiel mit positiv gedeuteter Uneindeutigkeit, die sinnbildlich für kulturelle Vielfalt und Selbstbestimmung steht.53 Jenseits sexistischer und exotischer Stereotype verkörpert und stärkt die Frontfrau von Ojos de Brujo so einen Aspekt der Carmen-Figur, der in tradierten Adaptionen mit dem – zumindest symbolischen – Tod bestraft wird, wie bereits schon Adorno kritisch angemerkt hat: Carmen […] zielt […] auf Freiheit, ein Stück wahrer Aufklärung, feind dem Idol des Menschen: um seiner Emanzipation willen. Nicht umsonst findet Freiheit in dem Werk als einzige Idee sich aufgerufen, und in ihrem Namen stirbt die Heldin54.

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Abb. 5: Flamenco-Streetwear der Berliner Designerin Volantina, Foto: Claudia Schöpp

Die Internetseite zum neuesten Album Aocaná zeigt Marina „La Canillas“ in typischer Carmen-Pose im roten Kleid, mit schwarzer Spitzen-Mantilla und Fächer. Die Gitana, die sie verkörpert, widersetzt sich durch performative Wiederholung stereotypen Zuschreibungen. Die Flamenco-Fantasien bürgerlicher weißer Heteros bedient Marina „La Canillas’“ Carmen-Look nicht.

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Für t, der fragte, ob ich diesen Text auch über mich schreibe. Ich hoffe, beim Lesen findest Du eine Antwort – und auch Dich, im „dance of an open mind when it engages another equally open one“ (Toni Morrison). Zit. nach: Susan McClary: „Carmen as Perennial Fusion: From Habanera to Hip-Hop.“ In: Ann Davies, Chris Perriam (Hrsg.). Carmen: From Silent Film to MTV, Critical Studies, Amsterdam/New York 2005, S. 216. Lou Charnon-Deutsch,: „Travels of the Imaginary Spanish Gypsy.“ In: Jo Labanyi (Hrsg.): Constructing Identity in Contemporary Spain. Theoretical Debates and Cultural Practice, Oxford/New York 2002, S. 1. [Tänzer, Tänzerinnen, die auf der Piste schwitzen, meine Rumba genießen und mit viel Rhythmus tanzen. Für Dich, für Dich, für Dich, damit es Dir die Schuhe zerfetzt, wenn Du die Rumba hörst. Ay! An Dich, für Dich, für Dich, - nimm’! -, mit den Amayas (berühmte Flamenco-Familie) zum Tanz! Einen Rhythmus wie den meinen gibt’s nicht noch mal, einen Rhythmus wie den meinen gibt’s nicht noch mal, denn Du bist es wert, Rumbero …] (Ojos de Brujo, „Bailaores“ Techarí, Diquela Records, 2006. Weitere Alben der Band Ojos de Brujo, die im Folgenden zitiert werden. Vengue 2001, Barí 2002, Aocaná 2009. Fußteil im Flamencotanz, bei dem die Tanzenden den Rhythmus vorgeben und das Tempo steigern. Ich beziehe mich auf den Filmmitschnitt vom 07.09.2002 in der Hamburger Staatsoper, veröffentlicht unter dem Titel Ballet Teatro Español, Rafael Aguilar: Carmen Flamenco produziert von Brenner Holding BB Promotion, Warner Music Vision, 2002. [spanische Roma, bzw. (weibliche) Romni (auf Romanes, männlich: Rom, Spanisch: Gitano)]. Ich werde im Folgenden die Selbst-Bezeichnung der andalusischen Gitanos/Gitanas verwenden (dort auch: Calé), die nicht als ethnischer Sammelbegriff zu verstehen ist (vgl. Isidora Randjelovič: „‚Auf vielen Hochzeiten Spielen’: Strategien und Orte widerständiger Geschichte(n) und Gegenwart(en) in Roma Communities.“ In: Nicola Lauré al-Samarai, Kien Nghi Ha, Sheila Mysorekar (Hrsg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007, S. 265-79, hier S. 266). Wenn ich explizit vom von außen auf diese Gruppe projizierten stereotypen Bild oder Image spreche, verwende ich die rassisierende Bezeichnung ‚Zigeuner‘ (in Anführungsstrichen), die im dominierenden kollektiven Gedächtnis mit dieser Gruppe und den ihr zugeschriebenen Eigenschaften und tradierten kulturellen Bildern verknüpft wird. Vgl. das Interview mit der Managerin Carmen Salinas im „Making of“ auf der DVD des Filmmitschnitts. Carmen trägt weiche Ballettschuhe im Flamenco-Look mit genageltem Absatz. Auch wäre im traditionellen Flamenco Carmens Rock niemals so hoch geschlitzt, dass wie hier teilweise ihr Slip zu sehen ist. Diese Hypothese vertreten u. a. Bernard Leblon: Gitanos und Flamenco. Die Entstehung des Flamenco in Andalusien, übersetzt von Maria Papenbok-

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Schramm, Berlin 1997; ders.: Flamenco. Übersetzung von Maximilian Vogel, Heidelberg 2001; Tina Heidelberg: Flamenco und Kulturelle Identität. Die Gitanos von Jerez de la Frontera, Berliner Studien zur Ethnologie und Kulturanthropologie, hrsg. v. Egon Renner, Vol. 1, Ludwigsfelde 2006 und Maria Papapavlou: Der Flamenco als Präsentation von Differenz. Gitanos und Mehrheitsbevölkerung in Westandalusien in ethnologischer Perspektive Göttingen 2000. Vor allem Gerhard Steingress: Über Flamenco und Flamenco-Kunde. Ausgewählte Schriften 1988-1998, Berlin 2006. Rhythmische Begleitung durch Händeklatschen. Der Terminus ‚Choreografie‘ lässt sich (onchorós – lat. Chorus – Tanzplatz) und graphós – lat. graphein – Schreiben, Ritzen, die Schrift) als ‚Raumschrift‘ lesen. Vgl. Sabine Huschka, Hartmut Böhme: „Prolog.“ In: Sabine Huschka (Hrsg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Reihe Tanzscripte, hrsg. v. Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein, Vol. 15, Bielefeld 2009, S. 7-22, hier S. 12. Die hier nicht – wie in einigen (auffällig oft von deutschen Wissenschaftlern vertretenen) wissenschaftlichen Ausführungen behauptet – vgl. z. B. Kirsten Bachmann: Flamenco(Tanz). Zur Instrumentalisierung eines Mythos in der Franco-Ära, Berlin 2009 und Steingress (wie Anm. 11) – biologistisch-naturalisierend verstanden wird, sondern als Ausdruck einer gewachsenen Kultur oder eines gemeinsamen kulturellen (Körper-)Gedächtnisses. Es besteht Uneinigkeit über den Ursprung des Begriffs ‚Flamenco‘. Zunächst wurde darunter alles gefasst, was mit der Kultur der spanischen Gitanos in Verbindung gebracht wurde. Die Bezeichnung wurde erstmals zur Zeit Karl V. von dem spanischen Begriff für ‚Flamen‘ abgeleitet oder als Bezeichnung für die Roma verwand, die während des 16. Jahrhunderts über Deutschland und Flandern nach Spanien kamen und die die Spanier, die Deutschland mit Flandern verwechselten, als „germanos y flamencos“ [Germanen und Flamen] bezeichneten. Eine weitere Behauptung ist, das Wort ‚Flamenco‘ sei eine Ableitung von dem spanischen ‚flameante‘ [flammend, leuchtend, strahlend]. Die Bezeichnung ‚Flamenco‘ wurde zunächst auf den Gesang (Cante Jondo oder Cante Gitano), erst um 1860 auf die Musik und noch später auf den Tanz angewandt. Vgl. hierzu Heidelberg (wie Anm. 10), S. 38. Die Flamenco-Stile Martinetes und Siguiriyas gehen auf die Schmieden zurück, die Mineras entstanden in den Minen, in die die Gitanos zur Zwangsarbeit beordert wurden, und die Carceleras entstanden in den Gefängnissen. Gitano-Künstlern, die die Form als spezifische Ausdrucksform bezeichnen, aus weißer deutscher wissenschaftlicher Perspektive Essentialismus vorzuwerfen (vgl. etwa Bachmann (wie Anm. 14)), bringt problematische Aneignungen mit sich. Vgl. Heidelberg (wie Anm. 10), S. 49. Ebd., S. 50. Vgl. Kersten Knipp: Flamenco. Frankfurt a. M. 2006, S. 179.

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Theodor W. Adorno: „Fantasia sopra Carmen.“ In: ders.: Musikalische Schriften I-III. Gesammelte Schriften 16. Frankfurt a. M. 2003, S. 298-308, hier S. 301-302. Prosper Mérimée: Carmen. Novelle, aus dem Französischen von Walter Widmer, mit einem Essay von Marie Luise Kaschnitz, Zürich 2008 (1845), S. 54. Charnon-Deutsch (wie Anm. 3), S. 35. Vgl. auch dies.: The Spanish Gypsy. The History of a European Obsession, University Park/Pennsylvania 2004. Vgl. http://www.kulturfibel.de/Kultur%20Fibel%20Ballett,%20Carmen%20 Flamenco%201.htm, 01.07.2010. McClary bezeichnet Bizets im Zeitkontext als skandalös empfundene und somit avantgardistische Kombination ‚klassischer‘ und popkultureller Elemente als „Bizet’s pseudo-Flamenco“ (McClary (wie Anm. 2), S. 211). McClary erwähnt Bizets Selbstbezeichnung als „German by conviction“ in Bezug auf hohe Kunst und Musik und zitiert Bizet weiter: „but I sometimes get lost in artistic houses of ill repute.“ (ebd., S. 205). Adaptionen der Oper winden sich McClary zufolge „hopelessly between these binary oppositions, as Carmen comes to stand in some instances for classical music with all its prestige, while in other instances it invites the recasting of the entire project in terms of disreputable musical genre“ (McClary (wie Anm. 2), S. 215). Randjelovič konstatiert in dieser Hinsicht für den deutschen Kontext: „Auf eine gewisse Weise bedingt oder bestärkt die Sichtbarkeit der Phantasmen über Roma die Unsichtbarkeit der real existierenden Menschen, die sich als solche bezeichnen“ (Randjelovič (wie Anm. 7), S. 273). Adorno (wie Anm. 22), S. 299. Wie auch in Form des Modern Dance und des Ausdruckstanzes, mittels dessen unter anderem Ästhetiken von Arbeitern als Form der Solidarisierung getanzt wurden. In diesem Zusammenhang kam auch die Gitarrenbegleitung hinzu, um den rauen Gesang einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, sowie die Tanzstile, die heute unter dem Begriff ‚Flamenco‘ subsumiert werden und die mit traditioneller spanischer Folklore, Einflüssen aus den südamerikanischen Kolonien und Volkstänzen verwandt sind. Charnon-Deutsch (wie Anm. 3), S. 239. „Von Laien wird bei Flamencoaufführungen, vor allem weiblicher Tänzerinnen, oft eine vordergründige Erotik erwartet. Schuld daran sind wohl die verkitschten […] Darbietungen der 50er und 60er Jahre, als nach dem Krieg mit Flamenco-Opern versucht wurde, ein enttäuschtes Volk mit weiblichen Reizen aufzumuntern.“ (Heidelberg (wie Anm. 10), S. 78). Etwa von Mario Maya (vgl. Knipp (wie Anm. 21), S. 195) oder das Stück Quejio von Pávova (vgl. ebd., S. 193 ff.). Dazu gehören Carlos Sauras Film Carmen und Pedro Almódovars La flor de mi secreto (1995). Saura und Jean-Luc Godard führten in ihren Filmen (beide 1983) den weißen männlichen Blick, von dem aus der Carmen-Mythos konstruiert ist, vor und verweisen auf dessen Wirkmacht. Allein die Nennung des Vornamens „Carmen“ löst bei den männlichen Protagonisten eine Assoziationskette an Zuschreibungen aus. In Sauras Film kehrt Carmen die Blickund Attraktionsmacht um, indem sie Antonio/Don José auffordert, für sie

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zu tanzen. Neben den choreografierten Tänzen sind im Zusammenhang mit der Geburtstagsfeier auch Szenen zu sehen, in denen die spontanen por-fiestaFormen wie Bulerías und die folkloristischen Sevillanas getanzt werden. Außerhalb Spaniens ist Joaquín Córtes wohl der bekannteste Flamencotänzer, der sich am besten vermarktet und der stark auf eine erotisierende Ästhetik setzt, indem er stets in Designeranzügen von Armani und mit nacktem Oberkörper tanzt. Auf deutschen Opernbühnen dominieren klassisch-traditionelle Inszenierungen wie die erwähnte Carmen an der Deutschen Oper Berlin 2009. Diese Tendenz bringt Claus Spahn im Titel seiner Rezension vom 22.12.2004 in der Zeit zum Ausdruck: „Carmen schreckt die Männer sehr: Was ist aus George Bizets Oper der Emanzipation geworden? Drei neue Inszenierungen in Berlin, Antwerpen und Dresden zeigen mehr Asche als Freiheitsglut.“ Alternative Modelle finden sich in Tanztheaterprojekten, vgl. Kirsten von Hagen: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009, S. 143. Ritualisierte bestärkende oder begeisterte Zurufe. Por fiesta = zum Feiern, zum Spaß, improvisiert; bezieht sich auch auf fröhlichere Stile wie Bulería, Por Tangos. Siehe z. B. ein Konzert von Los Farruco auf youtube: http://www.youtube.com/watch?v=FVYyOKae3Hc und http://www.youtube.com/watch?v=rHkn_csnvoE&feature=related, 01.07.2010. Kleine Clubs, Kneipen, manchmal mit Bühne, wo Flamenco aufgeführt und im Anschluss an die Darbietungen gefeiert und improvisiert wird. Auf youtube ist ein Amateurvideo zu sehen, das mit den einleitenden Worten versehen ist „Dedicado a Los Farruco, orgullo de todos los gitanos, toda lo que representa pureza, coraje y arte. Olé Los Farruco!“ [Los Farruco gewidmet, dem Stolz aller Gitanos, die all die Reinheit, den Mut und die Kunst repräsentieren. Ein olé auf Los Farruco!]. Auf selbst designten Postkarten sind Fotos der Farruco-Brüder unter Titeln wie „bendiga seas“ [gesegnet seist du] und „su majestad Farruquito“ [seine Majestät Farruquito] montiert. Im Hintergrund läuft ein Lied mit dem Refrain „bailan Los Farruco y no paran de bailar“ [Los Farruco sollen tanzen und niemals damit aufhören]. Auf youtube kann man Videos davon ansehen, wie Farruquito im Alter von etwa vier Jahren eine Bulería tanzt. Heidelberg (wie Anm. 10), S. 52. Vgl. v. a. Steingress (wie Anm. 11) und Bachmann (wie Anm. 14). Bachmann spricht zudem vom „Mythos“ des Flamenco, dem auf verklärende Weise eine kathartische und quasi-religiöse Funktionen zugeschrieben werde und den die Gitanos für sich ungerechtfertigter Weise exklusiv beanspruchen, um ihre ‚angeborene’ Kunstfertigkeit zu betonen und um anderen abzusprechen, diese Kunst erlernen zu können und somit ‚Marktführer’ zu bleiben. Gegen dieses Argument spricht vor allem die Tatsache, dass sich in Andalusien neben den vermarkteten Versionen eine aktiv gelebte, nicht-professionelle Flamenco-Kultur erhalten hat, die auf privaten Festen, in Wohnzimmern und Peñas (speziellen Clubs/Vereinsräumen, in denen Flamenco improvisiert wird) praktiziert wird und nicht an ein externes Publikum gerichtet ist. Vgl. Huschka, Böhme (wie Anm. 13), S. 14.

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ansätze, die Tanz als (Körper-)Wissensform lesen, bieten auch Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1995; Yvonne Hardt: Politische Körper. Reihe Tanzwissenschaft, Vol. 1, München 2004; Sabine Gehm, Pirrko Husemann, Katharina von Wilcke (Hrsg): Knowledge in Motion. Perspectives of Artistic and Scientific Research in Dance, Reihe Tanzscripte, hrsg. v. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein, Vol. 9, Bielefeld 2007; besonders Hortensia Völckers: „Prolog.“ In: ebd., S. 9-13; Sabine Sörgel: Dancing Postcolonialism. The National Dance Theatre Company of Jamaica, Reihe Tanzscripte, hrsg. v. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein, Vol. 6, Bielefeld 2007 sowie der Sammelband zum Berliner Tanzkongress 2006: Huschka (wie Anm. 13). Randjelovič bezeichnet in Bezug auf deutsche Roma, was auch auf musikalische und tänzerische Wissensformen und -archive zutrifft, „mündliche Überlieferungen“ als „gute[n] Weg zur Reflexion und Rückaneignung eigener Geschichten. […]. [D]ie Adressat/-innen der Erzählung [sind] von dem/der Erzähler/-in bestimmt, d. h., nicht jede/r ist zum Zuhören eingeladen. Mit Ausnahme von öffentlichen Diskussionen oder Veranstaltungen kann eine Erzählung nicht gekauft werden […]. [D]as Hören einer Erzählung [stellt] üblicherweise keine Konsumhaltung dar“ (Randjelovič (wie Anm. 7), S. 276). Besticktes, für die andalusische Tracht typisches Tuch mit Fransen. Wird häufig in den Tanz eingebunden. „Eines der erotischsten Bühnenwerke des spanischen Tanztheaters“ (Informationen des Veranstalter, http://www.bb-promotion.com/veranstaltungen/ carmen-flamenco/tickets-termine/?0=, 01.10.2009), „der Erotik- und TanzReißer“ (Hamburger Abendblatt, 21.08.2009), „Spaniens schärfstes Musical“, „Erzählt wird die Geschichte einer jungen, treulosen Zigeunerin“ (Bild, 12.08.2008). Kritik: „Den Flamenco in einer bühnentauglichen, ein wenig glatteren Form zum Tanztheater zugerichtet zu haben, ist ein großes Verdienst Aguilars, der 1995 verstarb.“ (FAZ, 14.08.2008) Im gleichen Artikel findet sich auch folgendes Klischee: „Natürlich weiß Carmen, dass die Karten nicht lügen, wenn die Wahrsagerin ihr Übles prophezeit: Auch sie gehört zu jenem Volk, das bei Prosper Mérimée noch ‚Zigeuner‘ genannt wurde und im Programmheft des Ballet Teatro Español auch.“ Deutlich wird dieses Versäumnis etwa anhand des 2006 im renommierten Suhrkamp-Verlag erschienen Bands Flamenco von Kersten Knipp. Unmarkiert verwendet Knipp die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ und reproduziert mehrfach essentialisierende und rassistische Stereotype wie das folgende Zitat des Schriftstellers Alexis de Vallon, das Knipp unkommentiert einfügt, um das romantische Bild zu entkräften: „Ein gutes Dutzend Weiber, so schmutzig wie übelriechend, mit Ziegengesichtern und Händen wie die von Fledermäusen, führte für uns einen ich weiß nicht was für einen schamlosen Tanz auf. Ach, meine Herren Hugo und Mérimée! Sagen Sie uns bitte, dass Carmen und Esmeralda keine Zigeunerinnen aus Granada waren.“ Zit. nach: Kersten Knipp (wie Anm. 21), S. 34.

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Gabriele Dietze erkennt etwa, dass „[a]bgeschnitte Bewegungstraditionslinien […] immer ein Symptom für Entpolitisierung [sind]“ (Gabriele Dietze: „Critical Whiteness und kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion.“ In: Jana Hussmann-Kastein, Daniela Hrzán, Gabriele Dietze (Hrsg.): Weiss – Weissein – Whiteness: Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Stuttgart 2006, S. 232-50, hier S. 224). Vgl. Kuno Kruse Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein (2000) und den Film Er tanzte das Leben (2003) von Marian Czura und Kuno Kruse. Zusätze zu den Namen sind unter Flamencokünstlern üblich, vgl. etwa Paco „de Lucía“, Diego „El Cigala“ oder Camarón „de la Isla“. http://www.youtube.com/watch?v=26Qy3ScpsI8, 01.07.2010. Vengue (1999) [duende haben = etwa: Geist haben, wenn sich etwas gut anfühlt], Barí (2003) [toll, großartig; Juwel], Techarí (2006) [frei], Aocaná (2009) [Jetzt]. Vgl. hierzu McClary (wie Anm. 2) (Unter dem Titel „From Habanera to HipHop“). Schon Bizet schuf mit seiner Oper ein stark kombinatorisches Werk, das beim bürgerlichen Publikum zunächst auf Ablehnung stieß. Im Gegensatz zu vielen klassischen Adaptionen greift ebenso wie Ojos de Brujo – jedoch auf kommerzieller Ebene – die filmische Carmen-Adaption des Musikfernsehsenders MTV, eine „Hip-hopera“, mit der Sängerin Beyoncé Knowles der Band Destiny’s Child als Carmen dieses Charakteristikum des Werks auf. http://www.ojosdebrujo.com/myspace/bio.html, 10.10.2009, als Autor wird der Journalist Luis Hidalgo genannt (Übersetzung: J.R.). In Marinas Biografie auf der Hompage von Ojos de Brujo wird der bewusste Einsatz von Mode und Kleidung als Teil ihrer Performanz von Unabhängigkeit und Grenzüberschreitung betont. Vgl. http://www.ojosdebrujo.com/ home0.html, 10.10.2009. Adorno (wie Anm. 22), S. 306.

„Wunsch, Carmen zu werden“* Katarina Witts Carmen on Ice (1989) von Inge Stephan I Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wenden sich fast zeitgleich vier prominente Regisseure dem Carmen-Mythos zu: Francesco Rosi, Peter Brook, Jean-Luc Godard und Carlos Saura. Auf die Frage „Warum gerade Carmen?“1 hat Saura das emanzipatorische Potenzial der Figur hervorgehoben: „Carmen hat einen bestimmten Frauentyp definiert – natürlich in sehr weitem Sinne –, einen Typ der freien Frau, die nicht von Männern abhängig sein will, die sich ganz allein durchschlägt.“2 Ganz ähnlich hat sich Rosi geäußert, wenn er Carmen als eine „Feministin ante litteram“3 bezeichnet. Von Brook und Godard liegen keine vergleichbaren Äußerungen vor, aber auch deren Arbeiten sind deutlich von den Aufbruchsfantasien nach 1968 geprägt. Brook realisierte drei Filmversionen – mit drei unterschiedlichen Darstellerinnen – seiner La tragédie de Carmen, die als Oper zwischen dem 6. November 1981 und dem 31. Dezember 1982 zweihundert Mal vor vollem Haus gespielt wurde. Godard, der unter dem Eindruck von 1968 einen radikalen Bruch mit seiner bisherigen filmischen Arbeit vollzog, lieferte mit Prénom Carmen (1983) eine Regiearbeit ab, die mit der traditionellen Carmen à la Prosper Mérimée oder Georges Bizet so gut wie nichts zu tun hat. Statt Bizets Musik hören wir Ludwig van Beethovens Streichquartette, auf die berühmte „Habanera“ wird nur dreimal kurz angespielt. In der Rückschau erscheint Godards exzentrischer Film als der interessantere, der erfolgreichere war jedoch zweifellos der von Saura, der vor allem in der ehemaligen BRD enthusiastisch von der Kritik und dem Publikum aufgenommen wurde. Als „Tanz der Sinne“, als „Rückkehr zur Erotik“ und als „Traum der absoluten Liebe“ wurde der Film vom Feuilleton begeistert gefeiert.4 In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit brach ein wahres Carmen-Fieber aus, das Bizets Oper nicht nur im Westen, sondern auch im Osten neuen Auftrieb gab (siehe Abb. 1 und 2), die Absatzzahlen der verkauften Schallplatten sprunghaft hochschnellen ließ und zugleich die Nachfrage nach Flamenco-Kursen bundesweit massiv ankurbelte. Es entstand eine umtriebige Tanzszene, in der Frauen

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Abb. 1: Polnisches Opern-Plakat aus dem Jahr 2001 von Leszek Żebrowski. Abb. 2: Polnisches OpernPlakat aus dem Jahr 1999 von Wiesław Wałkuski

sich in feurige Carmen-Figuren zu verwandeln suchten, um an einer Erotik zu partizipieren, „die alle Vernunft wegbrennt“5. Die Psychoanalytikerin Mechthild Zeul berichtet in ihrem Buch Carmen & Co (1997) von Patienten und Patientinnen, die als Opfer dieser Wunschbilder einer befreiten Sexualität scharenweise Hilfe in ihrer psychoanalytischen Praxis gesucht haben.6 Diese mit der Carmen-Figur verbundenen Vorstellungen einer absoluten Leidenschaft, in denen sich exotistische Spanienklischees und traditionalistische Geschlechterstereotypen vermischen, sind keineswegs auf Westdeutschland beschränkt, wie die Carmen-Performance zeigt, mit der die Eiskunstläuferin Katarina Witt 1988 die Goldmedaille auf der Winterolympiade in Calgary für die DDR geholt hat. Der von Saura angeheizte Carmen-Boom der achtziger Jahre erweist sich in der Rückschau als ein grenzüberschreitendes Phänomen.

II So ist es wohl auch kein Zufall, dass sich in Calgary gleich zwei prominente Eiskunstläuferinnen entschieden hatten, mit Carmen in die Endausscheidung zu gehen: die US-Amerikanerin Debra Thomas und die aus der DDR stammende Katarina Witt. Dieses Duell der beiden Kontrahentinnen wurde in der Presse als „Schlacht der beiden

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Carmen“7 werbewirksam in Szene gesetzt. Aus diesem Kampf ging „Kati“, wie sie in Ost- und Westdeutschland genannt wurde, als strahlende Gewinnerin hervor. In der Rückschau hat sie ihren Sieg implizit auf das eigene Charisma und die überlegene Choreografie zurückgeführt: So verschieden, wie unsere Ausstrahlung auch auf dem Eis ist, so unterschiedlich interpretieren wir unsere „Carmen“. Mein Choreograf Rudi Suchy, Frau Müller und ich orientieren uns klassisch. Ich versuche verführerisch zu sein, zu kokettieren, ihre Geschichte, die von ihrer Liebe, ihrem Schmerz, ihrer Trauer erzählt, choreografisch umzusetzen. Und natürlich muß ich am Ende „sterben“. Debi8 in ihrer ironisch-witzigen Art meint in einem Interview: „Ich hoffe, es ist von großer Bedeutung, daß die Witt am Ende ihrer Kür stirbt und Debi überlebt.“ Debi will in ihrer „Carmen“ die Lebensfreude in den Mittelpunkt stellen und hat sich künstlerisch vom legendären, phantastischen, russischen Ballettvirtuosen Michael Baryschnikow beraten lassen. Ihre Kür ist dynamisch sportlich und tänzerisch sehr anmutig choreografiert.9

Im Vergleich zu Sauras Tanzfilm beeindruckt die Eis-Performance von Kati Witt durch die hybride Mischung von Leidenschaft und Kälte, die sich bis ins kleinste Detail der Choreografie verfolgen lässt. Keimhaft ist diese Mischung bereits in Mérimées Erzählung angelegt, wo Hitze und Kälte in ständigem Kampf miteinander liegen. Im DDR-Kontext weist die Kältemetaphorik eine spezifisch politische Konnotation auf, die in der viel beschworenen Rede vom „Kalten Krieg“ und der „Tauwetterperiode“ im Verhältnis von Ost und West präsent ist.10 Die Filmemacherin Helke Misselwitz greift diese Metaphoriken auf, wenn sie in ihrem Kurzfilm Tangotraum (1985) und ihrem Dokumentarfilm Winter adé (1988) einprägsame meteorologische Bilder für die unerfüllten Träume im Zusammenleben zwischen den Geschlechtern im sozialistischen Alltag findet. Solche widerständigen Wünsche nach einem freien Leben tauchen verdeckt auch in Christoph Heins Roman Der Tangospieler (1989) auf, wo ein „alter, trauriger Tango“11 den Protagonisten für zwei Jahre ins Gefängnis bringt. Im Gegensatz zu dem „staatsgefährdenden Tango“12 in Heins Roman ist die Flamenco-Performance Kati Witts von der politischen Führung als staatstragend begrüßt worden: Witt wurde zum viel umworbenen Star, mit dem sich die politisch Mächtigen gern ablichten ließen (siehe Abb. 3). Warum wird der Tangospieler als gefährlich, die Carmen-Performance von Kati Witt jedoch als systemstabilisierend wahrgenommen? Ohne auf die Unterschiede zwischen Tango und Flamenco hier

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Abb. 3: Katarina Witt gratuliert Erich Honecker zu seinem 75. Geburtstag

im Detail eingehen zu können, seien drei Überlegungen notiert, die sich vor allem auf die Praktiken beziehen, mit der in Witts CarmenPerformance Alterität inszeniert wird. Erstens: Durch die Verlagerung aufs Eis erfährt die feurige Leidenschaft von vornherein eine aparte Verschiebung. Die Bändigung der Leidenschaft, die in Mérimées Novelle ein Effekt der mehrfachen kunstvollen Rahmung durch den Erzähler ist, wird bei Witt durch eine ausgeklügelte Choreografie erreicht, in der Spontaneität und Disziplinierung eine untrennbare Verbindung eingehen. Zweitens: Leidenschaft und Kälte sind in dieser Inszenierung die beiden Pole, die im Gleichgewicht gehalten werden. Als ‚Eisprinzessin‘13 erinnert Katarina Witt nicht nur an das bekannte Märchen von Hans Christian Andersen, sondern auch an die ‚eisige Weiblichkeit‘, die Leni Riefenstahl als Schauspielerin in Die weiße Hölle vom Piz-Palü (1929) und in S.O.S.-Eisberg (1933) verkörpert und mit der sie als Regisseurin in eigenen Produktionen wie Das blaue Licht (1932) und Triumph des Willens (1935) ihre Vision von Männlichkeit und Weiblichkeit filmisch umgesetzt hat. Drittens: Die Performance von Kati Witt hält die Balance zwischen Überschreitung und Bestätigung. „Pflicht“ und „Kür“14 stehen in einem ausgeglichenen Verhältnis, dem auch die Punktrichter ihre Anerkennung am Ende nicht versagen können: Die Goldmedaille ist die Würdigung einer Leistung, in der das Temperament durch die Einhaltung der Regeln gezügelt wird, zugleich aber durch die Inszenierung der

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Abb. 4: Katarina Witt als Carmen, Foto: Wolfgang Thieme

körperlichen Präsenz der Eiskunstläuferin, durch ihre aufreizende Carmen-Kostümierung und ihren gezielt in Szene gesetzten SexAppeal deutlich ausgestellt wird (siehe Abb. 4).15 Bis heute sieht Katarina Witt Carmen als die Rolle ihres Lebens, in die sie immer wieder gern hineinschlüpft, zuletzt bei der Münchner Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2018, wo sie sich mit „Charme, CarmenDutt und Charisma“16 für eine Austragung in Deutschland eingesetzt hat: „Ich habe gedacht, wenn wir da oben sitzen, erinnert sich jeder an die ‚Carmen‘“, sagte die 44-jährige Olympia-Botschafterin in Vancouver nach der Kurz-Präsentation des Münchner Konzepts vor der Weltpresse, „und die Frisur steht mir einfach gut.“ Mit hochgesteckten Haaren siegte sie 1988 in Calgary mit ihrer legendären Darstellung des spanischen Vollweibs zum zweiten Mal nach 1984. Heute versucht das einst „schönste Gesicht des Sozialismus“ die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zu bezirzen, um Stimmen für München zu gewinnen.17

Dass von ihrer Carmen-Performance nicht entsprechende Provokationen ausgegangen sind wie z. B. von den Bohème-Auftritten der alternativen DDR-Mode- und Musikszene,18 ist nicht erstaunlich, weil Witts Rekurs auf gängige exotistische Bilder des Fremden und tradi-

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Abb. 5: Die „Welturaufführung“ von Carmen on Ice ist prominent Thema in der Sächsischen Zeitung, Foto: Matthias Hiekel

tionelle Geschlechtervorstellungen staatsstabilisierend wirkte, auch wenn sie dies anders gesehen hat und von ihren Fans im Einzelfall wohl auch anders erlebt worden ist (siehe Abb. 5). Mit dem 1989 gedrehten Tanzfilm Carmen on Ice, einer aufwendigen Produktion, die Sauras Film von 1983 durchaus zur Seite gestellt werden kann, hat Witt sich einen Traum erfüllt, der in der Umbruchs- und Wendezeit 1989/90 jedoch nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die sich Witt und ihre Geldgeber erhofften. Immerhin hat Witt einen „Emmy-Award“ für herausragende Leistung in der Kategorie „Outstanding Performance in Classical Music/Dance Programming“ 1990 in den USA erhalten.

III Carmen on Ice ist ein kurioser Film. Gedreht wurde in Spanien, also in einer Gegend, die von ‚normalen‘ DDR-Bürgern nicht bereist werden konnte und welche die meisten nur aus dem (West-)Fernsehen oder aus Erzählungen der alten Spanienkämpfer und spanischer Emigranten kannten, die sich aus politischen Gründen in der DDR niedergelassen hatten und dort eine ,unbändige‘ Bohème-Kultur19 verkörperten, die freilich stark nostalgische Züge trug.20 Die Drehzeit fiel in die Zeit der ,Wende‘, der Film selbst ist eine westdeutsche Produktion. Katarina Witt hat die Entstehungsgeschichte folgendermaßen erzählt:

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Durch Zufall begegne ich zum Neujahr 1988/89 einem anderen „Verrückten“. Thomas Bürger hat an der Idee sofort einen Narren gefressen und überzeugt Bernd Eichinger davon, diesen Film zu realisieren. Ich überzeuge die damaligen DDR-Verantwortlichen und bekomme tatsächlich grünes Licht für diese unvergeßliche Eis-Oper-TV-Kino-Produktion. In der Wendezeit 1990 findet der Film seine Premiere im Kino und in den USA seinen Erfolg im TV-Sender HBO, später auch in der ARD. Es wird an originalen Schauplätzen in und um Sevilla gedreht, Eis wird auf die Straße gelegt und ein „Zigeunercamp“ mit Sand wird vereist. Die Spanier denken, wir sind komplett durchgedreht. Das hat es in der Welt des Eiskunstlaufens und der Oper vorher noch nie gegeben.21

Die ‚Vereisung‘ der spanischen Landschaft ist mehr als ein Werbeeinfall, sie ist eine absurde Steigerung eines Exotismus, in welchem Hitze und Kälte als normalerweise weit auseinanderliegende Pole in einem Film gleichsam gewaltsam zusammengepresst werden. Nicht nur die Hauptdarsteller/innen sind prominente Eiskunstläufer/innen, ein großer Teil der Statistenschar, die als ‚Spanier/innen‘ posiert, besteht aus Schlittschuhläufer/innen. Die Kombination aus südlicher Kulisse und aufwendiger Ausstattung ist aus Eisrevuen wie z. B. Holiday on Ice bekannt; im Falle von Carmen on Ice handelt es sich jedoch nicht um eine (abgefilmte) Eisrevue, die üblicherweise aus einem Potpourri unterschiedlicher Showelemente besteht, sondern um einen Tanz- und Musikfilm, der auf einer künstlichen Eisfläche spielt. Interessanterweise ist Witt nach dem Gewinn ihrer zweiten Goldmedaille in Calgary – die erste erkämpfte sie 1984 in Sarajevo – vom November 1988 bis zum März 1989 zu Holiday on Ice übergewechselt und hat dort eine neue Karriere als ‚Eisprinzessin‘ gestartet. Im Nachhinein hat Witt die Dreharbeiten zu Carmen on Ice zu einem Höhepunkt ihrer Karriere erklärt: Die Dreharbeiten gehören zu meiner schönsten Zeit als Eiskunstläuferin. Ein Abenteuer, ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Allerdings ist es auch die anstrengendste und körperlich härteste Herausforderung, die ich jemals als Eiskunstläuferin zu bewältigen habe. Choreografien für vier Wettkampfminuten habe ich normalerweise monatelang geübt. Hier entstehen Choreografien über Nacht bzw. teilweise direkt am Set beim Drehen und es sieht aus, als wären sie monatelang geprobt. Trotzdem, die „Carmen“ in der gesamten Oper darstellen zu können, ihre Geschichte als lebensfrohe, feurige, kokette und doch liebevolle und tragische Seite choreografisch und tänzerisch zeigen zu können, ist für mich als Eiskunstläuferin das wertvollste Geschenk.22

Die vollständige Aufführung von Bizets Oper dauert ca. zweieinhalb Stunden, der Tanzfilm mit Katarina Witt hat dagegen nur eine Länge von 86 Minuten. Kürzungen sind also unvermeidlich und Änderun-

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gen vorhersehbar. Die Handlung ist gestrafft und folgt in groben Zügen – mit einigen Umstellungen – den vier Akten der Oper. Vor und zwischen den einzelnen Teilen wird die Handlung kurz auf Englisch zusammengefasst. Die Zwischentitel und das vollständige Fehlen von Sprache – es gibt nur Geräusche, das Kratzen der Kufen auf dem Eis, Gelächter, Unmutsäußerungen oder Beifall des Publikums – erinnern an einen Stummfilm, der freilich in Farbe gedreht ist. Der Vorspann ist mit einer lodernden Flamme und der Musik von Bizet unterlegt, sodass das Thema ‚Leidenschaft‘ bildlich und musikalisch gleich zu Beginn präsent ist. Carmen wird in den vier Teilen hauptsächlich durch ihre unterschiedliche Garderobe charakterisiert. Im ersten Teil, wo sie José kennenlernt und in dessen Zentrum der „Fesseltanz“ steht, trägt sie ein rotes, relativ schlichtes zweiteiliges Kleidchen, mit dem sie sich jedoch deutlich von den anderen Frauen, vor allem aber von Micaëla abhebt, die in ihrem hellblauen Kleid gegen Carmen recht bieder wirkt. Ihre Haare sind locker zusammengebunden, die streng zurückgekämmte Carmenfrisur mit Knoten trägt sie erst vom zweiten Teil an, wo sie in einem prächtigen gelb gerüschten Kleid auftritt und für das Publikum in der Taverne tanzt. Nach Carmen tritt Escamillo auf, der ihr eindeutig mit seiner Körperakrobatik die Show stiehlt. Im dritten Teil, der im Schmugglermilieu spielt, sind Carmen und José und die anderen Bandenmitglieder einfach gekleidet. Hier ist eine Szene integriert, die aus der Handlung in auffälliger Weise herausfällt. Wir sehen am Lagerfeuer eine ,Zigeunergruppe‘ sitzen: Ein alter Mann mit rauer Stimme singt ein ,Zigeunerlied‘ und eine ältere, stolz und streng wirkende Frau tanzt dazu leidenschaftlich und zugleich kalkuliert in den Bewegungen Flamenco. Die ganze Passage spielt nicht auf dem Eis, sondern bildet einen Fremdkörper in dem Film: Sie ruft ein ,exotisches‘ ‚Zigeunerleben‘ auf, von dem in den Hollywood-on-Ice-Szenen bislang nichts zu spüren war (siehe Abb. 6). Dieser ,authentische‘ Flamenco unterscheidet sich klar von den anderen Tänzen im Film, z. B. Carmens „Totenkopftanz“, der eine Variation zur Kartenlegeszene bei Bizet darstellt, oder dem „Messertanz“, den José und Escamillo vor den Schmugglern und vor Carmen vollführen. Die nächtliche, von Feuer entweder grell erhellte oder von Nebelschwaden ins Unheimliche gerückte Szenerie wechselt mit dem vierten Bild vollständig. Es ist der Tag des Stierkampfes in Sevilla. Soldaten und Toreros ziehen auf Schlittschuhen vorbei an einer begeisterten Menge, welche die – vereisten – Straßen säumt und von den Balkonen Blumen wirft. Am Eingang zur Arena trifft Escamillo auf

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Abb. 6 & 7: Filmstills aus Carmen on Ice

Carmen, die in einem dunkelroten Kleid und mit einer dunkelroten großen Schleife dem Bild Carmens erstmals vollständig entspricht. Durch einen scharfen Schnitt verändert sich die Szene: Wir sehen Escamillo und Carmen – umwogt von Nebelschwaden – einen „Traumtanz“ vollführen: Beide sind ganz in Weiß gekleidet und erinnern in ihren Bewegungen an Pjotr Tschaikowskys Schwanenballett (siehe Abb. 7). Danach kehrt der Film in die fiktive Realität Sevillas zurück: José versucht Carmen zurückzugewinnen, das lange Messer, das in seinem Schuhschaft steckt, lässt aber nichts Gutes ahnen. Vergeblich versucht Carmen zu fliehen. Viermal werden in den „Todestanz“ von Carmen Stierkampfszenen eingeblendet, die jedoch nicht auf dem Eis, sondern in einer typischen Arena spielen. Carmen wird auf diese Weise zum Stier, den José zur Strecke bringt. Der Film en-

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det mit einer Obersicht auf die auf dem Eis hingestreckt liegende Carmen, José kniet erschüttert neben der Leiche. Ein durchschlagender Erfolg ist dieser Eistanzfilm nicht geworden, an die Popularität von Sauras Tanzfilm reicht er nicht heran. Sicher mag dazu beigetragen haben, dass der Film in der schwierigen ,Wende‘-Zeit nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die sich die Hauptdarstellerin wünschte. Zu einem ‚großen‘ Film fehlen der Produktion aber auch verschiedene entscheidende Qualitäten: Schlittschuhläufer sind wie Opernstars selten professionelle Schauspieler und für Großaufnahmen nur bedingt geeignet, auch wenn Kati Witt von ihrer Ausstrahlungskraft bis heute fest überzeugt ist. Der entscheidende Punkt ist aber die unklare Konzeption des Films. Die Handlung ist so angelegt, dass viele eindrucksvolle Bewegungsabläufe entstehen, die für ein eislauf- oder auch ballettbegeistertes Publikum ihre Reize haben mögen, für ein Filmpublikum aber deutlich zu wenig Angebote machen: Die Dreiecksgeschichte José-Carmen-Escamillo reduziert sich auf Tanzszenen, welche eine Leidenschaft illustrieren sollen, deren Dynamik nicht wirklich plausibel wird. Verfällt Carmen Escamillo, weil er der bessere Tänzer ist? Ist er ein bloßer Herzensbrecher und José der eigentlich tragische Liebhaber? Von welchen Motiven wird Carmen angetrieben? Das Freiheitsverlangen, das in der Carmen-Rezeption nach 1968 als wichtiges Moment diskutiert wird, spielt in dieser Version so gut wie gar keine Rolle: Carmen will nicht frei sein, sie will nur in möglichst verführerischen Posen die beiden Liebhaber und das Publikum ,bezirzen‘. Für Kati Witt hat sich eine solche Performance bei den Olympischen Spielen in Calgary ausgezahlt, für einen abendfüllenden Spielfilm reicht das jedoch nicht – zumal Spanien nach 1989 bald auch für Ostdeutsche zum beliebten Reiseland avancierte und eine ‚Zigeunerromantik‘, wie sie durch das ‚Zigeunerlager‘ eingeblendet wurde, nach 1989 durch nach Westen dringende Roma und Sinti gar nicht mehr als ,exotisch‘, sondern vielmehr als recht bedrohlich wahrgenommen wurde.23 Carmen on Ice ist jedoch noch aus einem anderen Grund interessant: Es ist eine frühe gesamtdeutsche Produktion, die zu einer Zeit realisiert wurde, als noch nicht abzusehen war, wie die weitere politische Entwicklung verlaufen würde. In ihrer Autobiografie (1994), in der sich Witt auch mit den Vorwürfen auseinandersetzt, sie habe für die Stasi gearbeitet, erinnert sie sich folgendermaßen an die damalige Zeit:

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Mein größter Traum geht in Erfüllung. Endlich beginnen in Sevilla die Dreharbeiten zu „Carmen“. Für mich beginnt jetzt endgültig die Zukunft, denke ich, und für die DDR auch. Bild hat geschrieben: „Honecker – Mittwoch letzter Arbeitstag.“ Egon Krenz wird Staatsratsvorsitzender, und daß ich filmen darf mit einem Produzenten, der einmal unter der Abscheurubrik Republikflüchtling lief, ist für mich ein sicheres Anzeichen dafür, daß es nicht nur eine neue Regierung gibt, sondern daß die auch wirklich neue Maßstäbe hat. Eines Abends platzt Republikflüchtling Thomas Bürger, der Chef der „Vegas“-Film mitten in die Szene und verkündet ganz aufgeregt: „Eben kommt es in den Nachrichten: Die Mauer ist auf.“24

So sehr Witt erleichtert ist und am liebsten gleich nach Berlin fahren würde, wird sie doch zunächst von den Dreharbeiten in Sevilla festgehalten. Auch durch die abschließenden Dreharbeiten in Berlin, die sie nach eigener Aussage wegen unerträglicher Schmerzen nur mit schweren Betäubungsmitteln zu Ende bringen konnte, ist sie so absorbiert, dass sie von den politischen Entwicklungen kaum etwas mitbekommt. Umso mehr ist sie überrascht, als sie plötzlich in öffentliche Ungnade fällt: Ich bin mit meinen Kräften total am Ende, soll aber auch noch pausenlos Erklärungen zur DDR abgeben, zu den Veränderungen in dem Staat, in dem ich aufgewachsen bin, den ich noch immer und trotz allem als meine Heimat betrachte. Es wird von mir erwartet, daß ich mich jetzt in Abscheu ergehe, alles schlimm finde, was bei uns war. Ich bin dazu nicht bereit, mir fehlen auch noch die Informationen für ein endgültiges Urteil. Plötzlich bin ich nicht mehr „das schönste Gesicht des Sozialismus“, wie vor eineinhalb Jahren, nach Calgary. Ich bin die „SED-Ziege“. Und in Bunte, der Zeitschrift, die mir letztes Jahr den „Bambi“ verliehen hat, tauche ich auf unter den Enttäuschungen des Jahres.25

Demonstrativ gibt Witt den „Bambi“ zurück – später wird sie ihn wieder zurücknehmen26 – und versucht öffentlich, das Bild von sich zu korrigieren, dass sie als Sportlerin zur Stabilisierung des Systems in der DDR beigetragen habe. Auf die Frage „Fühlst du dich von einem Teil der früheren Regierung der DDR auch irgendwo in deiner Gutmütigkeit mißbraucht?“27 antwortet Witt: Ich fühle mich auch total mißbraucht, im Grunde genommen. Ich meine, ich hab’ wirklich, wir haben die Vorzüge als Sportler genießen können, des Sozialismus. So wie das in unserem Land gesagt wurde oder gepredigt wurde. Und dem bin ich auch nach wie vor dankbar. Aber jetzt ist mir auch bewußt geworden, warum der Sportler so gefördert worden ist. Weil wir das einzige Aushängeschild unserer Republik waren, weil ja leider unsere Wirtschaft total am Boden war. Und ich fühle mich schon in einer gewissen Richtung, also in der Richtung auf jeden Fall, na ja, mißbraucht. Weil, ich habe ja auch in jedem Interview zu meinem Land gestanden und gesagt: Ja, also die Politik, die

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wir machen, ist richtig. Wo ich dann von Spanien zurückgekommen bin und gehört habe, was da alles auf den Tisch gekommen ist, ich bin da auch von einer Ohnmacht in die andere gefallen und konnte das einfach nicht fassen.28

Den Misserfolg des Carmen-Films schiebt Witt nicht zuletzt den Anfeindungen durch die westdeutsche Presse zu, denen sie nach 1989 ausgesetzt war. Dazu schreibt sie in ihrer Autobiografie: Ich habe keine gute Presse, als das Jahr 1990 beginnt. „Carmen“ auch nicht. Vielleicht habe ich die Begeisterung für den Eislauf überschätzt, denke ich mir, vielleicht ist es ein typischer Fernsehsport, für den eine nicht kleine Fangemeinde in die Stadien geht – und vielleicht auch noch ins Kino. Aber möglicherweise ist sie, in Deutschland wenigstens, nicht groß genug, daß sich auch ein lohnendes Filmgeschäft machen läßt. Was die Zeitungen über mich schreiben, die Geschichte von der SED-Ziege, sorgt natürlich auch nicht gerade dafür, daß die Menschen die Türen der Kinos einrennen. Bild macht mich mit Genuß nieder. Jemand sagt mir, das wäre Medienpolitik. An der Finanzierung von „Carmen“ ist der Unternehmer Dr. Leo Kirch beteiligt, der zwar auch Aktionär des Springer-Verlages und damit praktisch BildMitinhaber ist, aber von den Mehrheitseignern gerade auf das heftigste bekämpft wird. In diesem Kampf sei ich, so wird mir gesagt, unfreiwillig und unschuldig miteinbezogen.29

Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade Witt mit ihrem Carmen-Projekt in der Wendezeit zwischen die politischen Fronten geriet. Als Projektionsfigur des ‚Anderen‘ ist Carmen zwar vielfältig einsetzbar, verbraucht sich jedoch schnell, wenn das politische Koordinatennetz zusammenbricht, durch welches das ‚Andere‘ als Reizfigur erzeugt und stabil erhalten wird. Die Provokation einer Carmen aus der DDR schmilzt wie das Eis in der Sonne in dem Augenblick, wo das politische System kollabiert, dem Kati Witt als Carmen on Ice ihre Popularität verdankt. Die Titelstory der BZ vom 2. März 2010 „Ich brachte Walter Ulbricht heimlich Eistanzen bei“, in der Olympia-Trainerin Inge Wischnewski anlässlich ihres 80. Geburtstages ihr langjähriges Schweigen bricht und von den heimlichen Trainingsstunden erzählt, die sie dem damaligen Staatschef erteilt hat, ist nur ein peinlichabsurder Nachtrag zu einer Eislaufbegeisterung, die bis in die höchsten Spitzen der Nomenklatura in der DDR gereicht hat.30 In einem Gespräch mit Egon Krenz, in dem Witt sich Aufklärung über ihre Stasi-Akten („27 Aktenordner mit 3103 Seiten“31) zu verschaffen suchte und in Erfahrung bringen wollte, warum sie von der Stasi so intensiv „betreut“32 worden ist, hat Krenz auch Erich Honecker als Fan von Katarina Witt bezeichnet:

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Also, es war nicht so, daß du pausenlos das Zentralkomitee oder das Politbüro beschäftigt hättest. Auch das, was ich nachher gelesen habe, daß du das Lieblingskind von Erich Honecker gewesen wärst, das ist natürlich Quatsch. […] Aber es ist schon richtig, er mochte Eiskunstlauf lieber als Fußball oder Eishockey, und er ist auch mitten in der Nacht aufgestanden, wenn du, wie in Calgary, in Übersee gelaufen bist. Er war insgesamt sportbegeistert. Daß er dich geschätzt hat, das war nichts Ungewöhnliches. Natürlich warst du für uns besonders wichtig. Wir haben doch alle ein wenig unter diesem im Westen verbreiteten Urteil gelitten, die Sportler in der DDR wären alle graue Mäuse, verbissene, planerfüllende Kampfmaschinen, freudlose Sieger. Und dann kamst du und hast all das widerlegt.33

IV Hat das eigentlich noch irgendetwas mit dem Mythos Carmen zu tun, den Mérimée ins Leben gerufen und Bizet als Oper populär gemacht hat? Die zögerliche Antwort ‚ja‘ verweist auf ein grundsätzliches Problem der Mythenbearbeitung,34 das sich im Falle von Carmen in besonderer Schärfe stellt: Als moderner Mythos besitzt Carmen – anders als die mythischen Figuren der Antike, die über Jahrhunderte in verschiedenen Versionen überliefert sind – eine relativ kurze und überschaubare Rezeptionsgeschichte und ist überdies eine klar markierte Figur, deren Entstehungsgeschichte sich sehr genau zurückverfolgen lässt. Dennoch unterscheidet sich Carmen nicht so stark von den antiken Mythen, wie man dies aufgrund der zeitlichen Differenz annehmen möchte. In den knapp einhundertundfünfzig Jahren Rezeptionsgeschichte ist auch Carmen zu einem Mythos geworden, in dem sich – ähnlich wie in antiken Figuren – die jeweiligen zeittypischen Geschlechtervorstellungen artikulieren. Im Vergleich zu Antigone, Iphigenie oder Medea fällt jedoch auf, dass Carmen familiär nicht eingebunden ist und sich daher besonders gut als Projektionsfigur für weibliche Stärke und Freiheit eignet, zugleich aber wegen ihrer Unabhängigkeit massive Ängste hervorruft. Die selbstbestimmte Sexualität, die Carmen repräsentiert, fasziniert und schreckt ebenso, wie ihre ethnische Fremdheit verlockt und abstößt. Katarina Witt greift in ihrer Carmen-Performance – auf der Olympiade in Kanada (1988) und in ihrem Film Carmen on Ice (1989) – auf die nach 1968 in Ost und West kursierenden Carmen-Bilder zurück und macht daraus eine hybride Eislauf-Narration, in der eine ‚starke‘ Weiblichkeit und eine ‚schwache‘ DDR eine merkwürdige Koalition eingehen,35 die nach 1989 sehr rasch kollabiert. Während Witt bei der

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Olympiade 1988 – ungeachtet ihres Todes auf dem Eis – noch als strahlende Siegerin posieren konnte, wirkt ihre Carmen-Performance im Film wie ein unfreiwilliges Satyrspiel auf ihren bereits Legende gewordenen Sieg in Calgary und den sich zeitgleich zu den Dreharbeiten vollziehenden Untergang des Staates, für den sie ihre Siege errungen hatte. Sieg und Untergang gehen in Carmen on Ice eine widersprüchliche Verbindung ein, die auf Mérimée und Bizet zurückverweist, wo Carmen durch ihren gewaltsamen Tod zur unsterblichen Heldin wird. Eine solche heroische Narration der geopferten Weiblichkeit36 hat eine lange Tradition, erweist sich aber auch noch in der Gegenwart als ein vitales Erzähl- und Inszenierungsmuster, das in Witts Carmen-Performance in bizarrer Weise zurückkehrt, wenn Witt sich als Opfer der ‚Wende‘ in ihrer Autobiografie imaginiert: An die Stelle von Escamillo, der den Stier, und Don José, der Carmen tötet, treten im Falle von Witt die ostdeutsche Stasi und die westdeutsche Presse, die sie zur Strecke zu bringen versuchen. In solchen Selbststilisierungen ist Carmen zum Zerrbild eigener Befindlichkeiten geworden. Dass eine solche Form der Instrumentalisierung in Hinsicht auf den Carmen-Mythos nichts Besonderes ist, zeigen zwei Beispiele aus der bundesrepublikanischen Carmen-Rezeptionsgeschichte, auf die Almut Hille – neben anderen – in ihrem Buch Identitätskonstruktionen eingeht: In Wolf Wondratscheks Gedichtzyklus Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre (1986) und Jochen Schimmangs Erzählung Carmen (1992) werden die „Imagines Carmens als Kodifizierung fremder Erotik und rebellierender Weiblichkeit in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs als Strategien der Sicherung männlicher Identität“37 eingesetzt, auch wenn dies den Autoren unbewusst geblieben sein mag. Katarina Witt verfährt in ihrem Carmen-Projekt ganz ähnlich und zeigt damit, dass Carmen ein Mythos ist, der sich weder an die Grenzen der Geschlechter noch an die der Medien hält. Ihr ehrgeiziger ‚Wunsch, Carmen zu werden‘ ist Teil einer weiblichen Selbstermächtigungsstrategie, in der Exotismus, Alterität und Sexualität sowie die Aura von Mythos und Musik gezielt zur eigenen Promotion eingesetzt werden.

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Anspielung auf Kafkas berühmten „Wunsch, Indianer zu werden.“ In: Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hrsg. von Roger Hermes, Frankfurt a. M. 1996, S. 7. Interview der Zeitschrift „Film“ mit Carlos Saura in Madrid (15. Juli 1983). In: Prosper Mérimées Novelle „Carmen“. Die Oper, die Filme, Faszination des Flamenco. Zusammengestellt von Christiane Filius-Jehne, München 1984, S. 126. Ebd., S. 128. Ebd., S. 145. Auszug aus der Pressekonferenz in Carmona im August 1983. Vgl. Mechthild Zeul: Carmen & Co. Weiblichkeit und Sexualität im Film, Stuttgart 1997, S. 28. Der Spiegel, 12.09.1983. Zit. nach: Zeul (wie Anm. 4), S. 41. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. http://www.katarina-witt.de/eiskunstlauf/olympiasiegerin-1988.html, 14. 07.2010. Katarina Witt nennt Debra Thomas stets „Debi“, weil diese ihre Autogramme selbst so unterschrieben habe. Vgl. Katarina Witt: Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür. München 1994, S. 162. Wie Anm. 7. Inge Stephan: Eiskalte DDR-Geschichte. Zur Funktion polarer Metaphern in Kunst und Literatur vor und nach 1989, Vortrag bei der GSA, Washington, Oktober 2009. Christoph Hein: Der Tangospieler. Erzählung, Frankfurt a. M. 2002, S. 126. Die Erzählung wurde 1991 von Roland Gräf verfilmt. Ebd., S. 106. 1994 spielte Witt die Hauptrolle in dem internationalen TV-Film Die Eisprinzessin. Vgl.: Zahlen, Daten und Fakten. In: Gosbert Gottmann: Katarina Witt. Fotografiert von Gosbert Gottmann, Berlin 2002, S. 138. Vgl. Witt (wie Anm. 8). Angeblich erreichte die amerikanische Ausgabe des „Playboy“ (12/1998) durch die Fotostrecke mit Katarina Witt die höchste Auflage seit Bestehen. Vgl.: Zahlen, Fakten und Daten. In: Gottmann (wie Anm. 13). Vgl. http://www.gea.de/sport/mit+carmen+dutt+und+charisma+witt+ bezirzt+ioc.951990.htm, 14.07.2010. Ebd. Vgl. das Filmprojekt Veitstanz/Veixtanz (1988) von Gabriele Stötzer. Siehe: Claudia Petzold, Paul Kaiser: Bohème und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere. 1971 bis 1989 (Katalog der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin), Berlin 1997. Vgl. den Film Unbändiges Spanien (1962) von Jeanne und Kurt Stern. Vgl. z. B. den spanischen Maler und Fotomonteur Josep Renau, dem 2009 eine Ausstellung in Berlin gewidmet war: „Ich hab nicht gewartet. Ich habe gelebt.“ Valencia – Mexiko – Berlin. Vgl. dazu auch Fernando Bellón Perez: Renau. Valencia 2008. Wie Anm. 7.

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Ebd. Vgl. Almut Hille: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2005, S. 227-234. Witt (wie Anm. 8), S. 201. Ebd., S. 203. Vgl. dazu Witts Kommentar in: Gottmann (wie Anm. 13), S. 102: „Der ‚Bambi-Preis‘ gehört sicher zu den begehrtesten Auszeichnungen in Deutschland. Bei mir hat das ‚Rehlein‘ eine ganz besondere Geschichte, eine Ost-WestStory, wenn man so will. Ich erhielt den Preis 1988 nach dem Abschluß meiner Amateurlaufbahn für meine sportlichen Erfolge noch als DDR-Bürgerin von der Illustrierten ‚Bunte‘ in München überreicht. Nach den Briefen und Glückwünschen zu urteilen, saß damals die gesamte DDR-Bevölkerung vor dem TV und schaute ‚Westfernsehen‘. 1990 gab ich das Rehkitz allerdings wieder zurück. Ich hatte mich über Nachwende-Artikel in derselben Illustrierten dermaßen geärgert, daß ich mich nicht länger als Preisträgerin fühlen wollte. Inzwischen ist der Zorn verflogen. Bei einem Gespräch mit Verleger und Bunte-Herausgeber Hubert Burda, bat ich ihn, mir das ‚Bambi‘ wieder zu überlassen. Er tat’s – mit einem Schmunzeln.“ Witt (wie Anm. 8), S. 205. Ebd., S. 205f. Ebd., S. 207. BZ, 02.03.2010: „Er kam zweimal die Woche, begleitet von fünf Bodygards. Niemand durfte wissen, welcher Leidenschaft Staatschef Walter Ulbricht im Sportforum frönte. Erst heute, sechzig Jahre danach, bricht seine Ex-Trainerin Inge Wischnewski ihr Schweigen. Der mächtigste Mann des Unrechtsstaats drehte wirklich heimlich zu Walzermusik Schlittschuh-Runden, übte Pirouetten und Sprünge. Leider ohne Talent.“ Witt (wie Anm. 8), S. 253. Ebd., S. 242. Ebd. Martin Vöhler, Bernd Seidensticker (Hrsg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin 2005. Alison Lewis: Eine schwierige Ehe. Liebe, Geschlecht und die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung im Spiegel der Literatur. Freiburg i. Br. u. a. 2009. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Deutsch von Thomas Lindquist, München 1994. Hille (wie Anm. 23), S. 214.

Der Zauber des unergründlichen Blicks Auf der Suche nach Carmen in der Bildenden Kunst von Lydia Strauß Ihre Augen waren schräg, aber bewundernswürdig geschlitzt, ihre Lippen vielleicht ein wenig voll, aber gut geschnitten; sie ließen Zähne, weißer als geschälte Mandelkerne, sehen. Ihr vielleicht etwas zu starkes Haar war schwarz, lang und glänzend, mit bläulichem Schimmer wie ein Rabenflügel. […] Es war eine seltsame und wilde Schönheit, ein Gesicht, das anfangs erstaunte, das man aber nicht vergessen konnte.1

In Prosper Mérimées Novelle wird ein detailliertes Bild der jungen Carmen gezeichnet. Mit duftenden Jasminblüten im Haar, weißen durchlöcherten Seidenstrümpfen und feuerfarbenen Schleifen an roten Schuhen2 werden die Sinne der männlichen Bewunderer angesprochen, wenn die Titelheldin den Schauplatz betritt. Aufführungen der gleichnamigen Oper Georges Bizets tragen ebenfalls dazu bei, dass wir heute eine Vorstellung von Carmens verführerischer Erscheinung haben. Doch geben auch Werke der Bildenden Kunst Aufschluss über die Gestaltung der Frauenfigur? Und inwiefern haben die Veröffentlichung des Carmentextes und nachfolgende Operninszenierungen die Malerei des 19. Jahrhunderts beeinflusst? Zu Lebzeiten des französischen Autors entstanden insbesondere in Frankreich zahlreiche Frauenporträts und Genrebilder, die als künstlerische Antwort auf die zunehmende Spanienbegeisterung im 19. Jahrhundert verstanden werden können. Das Land im sonnigen Südwesten Europas übte auf Künstler eine besondere Faszination aus. Unabhängig von Mérimées Novelle wurden sie von Reiselektüre3 und Vorstellungen gastierender Tanzgruppen zu spanischen Motiven in Literatur, Musik und Malerei inspiriert. Innerhalb weniger Jahre verzeichnete der Pariser Salon unter den eingereichten Kunstwerken eine steigende Zahl Ölgemälde „à la manière espagnole“4, auf denen traditionelle Themen wie Stierkämpfe und Flamencotänze abgebildet waren. Kirsten von Hagen schreibt über die Rolle Spaniens zu dieser Zeit: „Interessant ist, dass Spanien als Ort der Handlung […] vor allem für Exotismus und Erotik steht“.5 So ist auch unter den Bildern der französischen Salonmaler ein beachtlicher Zuwachs an Porträts

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mit südländischen Modellen nicht zu übersehen. Diese Arbeiten bilden den Ausgangspunkt für die Untersuchung, ob sich Carmen auch als Motiv in der Bildenden Kunst wiederfindet und inwiefern literarische Vorlage und Oper zu entsprechenden Bildthemen anregen konnten. Es wurden bereits Studien über Mérimées Novelle, Bizets Oper und die Verfilmungen von Carlos Saura und Jean-Luc Godard veröffentlicht und Carmen darin zu einem neuen Mythos verklärt,6 doch der Versuch, sich der Titelfigur über das Werk eines Künstlers zu nähern, ist nur selten unternommen worden und stellt eine reizvolle Herausforderung dar. Der Beitrag knüpft an die Idee einer Ausstellung im Grazer Joanneum aus dem Jahr 2005 an.7 Mit dem Titel Blicke auf Carmen luden die Veranstalter zu einer Bilderschau, in der bewegte Stierkampfszenen und Porträts exotisch wirkender Schönheiten vor dem Hintergrund der Carmennovelle präsentiert wurden. Ergänzend zu ausgewählten Bildern der Grazer Ausstellung werden einzelne Arbeiten weiterer Überblicksschauen aus New York, Paris und Madrid vorgestellt, die sich in den vergangenen Jahren der Malerei Spaniens widmeten und dafür die Werke berühmter Nachahmer des spanischen Stils zusammentrugen.8 Bis heute gibt es nur wenige Carmen-Illustrationen, die zudem in großen Zeitabständen zur Novelle erschienen. Hierzu zählen Pablo Picassos Carmen-Radierungen und Georges Pichards erotische Comicversion.9 Für die Analyse wurden deshalb Bilder ausgewählt, die im zeitlichen Umfeld von Mérimées Text entstanden und Frauen abbilden, die der eingangs zitierten Beschreibung Carmens nahe kommen. Ob und inwiefern Künstler für diese Bilder von der fiktiven Gestalt der schönen ,Zigeunerin‘ inspiriert wurden und welchen Platz Carmen als exotische Frauenfigur in der Malerei des 19. Jahrhunderts einnimmt, soll anhand ausgewählter Beispiele überprüft werden.

Carmen entdecken: Porträts von Opernsängerinnen in der Rolle Carmens Beginnt man mit der Suche nach Carmen in der Bildenden Kunst, sind Entstehungsort und -jahr der Novelle wichtige Eckdaten. Weitere Informationen gibt die Beschreibung ihres Äußeren in der literarischen Vorlage. Zur Entwicklung des Carmenbildes trugen auch die Carmen-Aufführungen der großen Opernhäuser bei, in denen die Sängerinnen recht unterschiedliche Rollenauffassungen verkörperten

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Abb. 1: Doucet: Mademoiselle Célestine Galli-Marié in der Rolle der Carmen (1886)

und es nicht nur eine Carmen gab. Über die Verschiedenartigkeit des Carmentypus stellen Saura und Gades fest: [I]hr Alter variiert, und sie verkörpert das eine oder andere Schönheitsideal. Längst ist sie zu einer jener mythischen Frauengestalten geworden, an denen sich die Phantasie vieler Männer entzündet. Im Laufe der Jahre wurde sie immer weiter ausgeschmückt, und wir alle haben mit unseren Träumen ihr jetziges Gesicht geprägt.10

Wie unterschiedlich die Herangehensweise der Künstler war, wird auch in den folgenden Arbeiten deutlich. Die erste Darstellung zeigt ein überlebensgroßes Porträt von Mademoiselle Célestine Galli-Marié in der Rolle der Carmen (Abb. 1)11. Die junge Opernsängerin wurde von dem Maler Henri Lucien Doucet als Ganzfigur abgebildet und präsentiert sich dem Betrachter im spanischen Kostüm. Ihre Kleidung ist reich mit goldenen Stickereien verziert und aus Stoffen in leuchtenden Farben gefertigt. In der rechten Hand hält sie einen zusammengefalteten Fächer, die linke Hand hat sie in die Hüfte gestützt. Die selbstbewusste Haltung und ihr direkter Blick zum Betrachter strahlen Stolz und Entschlossenheit aus. Das lockige schwarze Haar

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Abb. 2: Zuloaga: Lucienne Bréval als Carmen (1908)

ist hochgesteckt und mit roten Blüten und feiner Spitze geschmückt. Ein goldbesetzter weißer Stufenrock wird an der linken Seite ebenfalls von einem Blumenarrangement gerafft. Einzelne Details des Kostüms, wie die roten Schuhe mit Schleifen und der Rock aus Flitterstoff,12 stimmen exakt mit Carmens Gewandung in der Novelle überein und wurden offenbar übernommen. Hier heißt es: „[N]ur Gold und Bänder – geputzt und herausstaffiert […], Blumen und Borten überall“.13 Die kräftigen Weiß- und Rottöne verstärken den Kontrast zu den schwarzen Bildelementen, dem Fächer, dem Bolero, dem Haar, den dunklen Augen, und reizen den Blick des Betrachters. Zu der Bedeutung der Farben in Carmens Kleidung bemerkt Hölz: „Schließlich kennzeichnet die farbliche Gestaltung – hier rot, später gesellt sich noch komplementär das Schwarz ihrer Augen, Haut und Kleidung hinzu – Carmen als diabolisches Monsterwesen“.14 Neben den typischen äußerlichen Erkennungsmerkmalen wie der Kleidung erstaunt die selbstbewusste Pose Galli-Mariés. Ihre Körperhaltung verstärkt die Bildwirkung und erinnert an die stolze Carmenfigur. Dennoch ist der Arbeit Doucets ihr Porträtcharakter anzumerken. Der Bildhintergrund ist einfarbig gehalten und deutet weder durch ein Bühnenbild noch durch eine erfundene Szenerie auf den südlichen Handlungsraum der Oper hin. Auch die individuellen Gesichtszüge Galli-Mariés sind so detailliert wiedergegeben, dass das Bild eindeutig als Porträt der Sängerin und nicht als die Carmenfantasie eines Künstlers einzuordnen ist.

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Dem Gemälde lässt sich eine jüngere Arbeit des spanischen Malers Ignacio Zuloaga gegenüberstellen. Obwohl auch auf diesem Bild eine Opernsängerin, Lucienne Bréval als Carmen (Abb. 2)15, dargestellt ist, war es vermutlich nicht vordergründiges Ziel des Künstlers, ein Porträt zu schaffen. Er wählte einen größeren Bildausschnitt, in dem die Sängerin nur einen kleinen Teil einnimmt, und erzeugte durch Lichtführung, Interieur und zusätzliche Akteure eine geheimnisvolle Grundstimmung. Bréval ist in einem dunklen Raum abgebildet, in den nur wenig Licht durch ein Fenster im Hintergrund dringt. In der linken Bildecke sitzen an einem Holztisch zwei ältere Männer mit Hüten, deren Gesichter von einer schwachen Lichtquelle angestrahlt werden. Von rechts in das Bild schreitend, lächelt die Sängerin mit geneigtem Kopf den Betrachter an. Da beide Männer in Gedanken versunken scheinen, bemerken sie den Blickaustausch nicht. Auch Bréval hat eine auffällige Gewandung, die sich in Material und Farbgebung allerdings stark vom Kostüm Galli-Mariés unterscheidet. Über einem bodenlangen orange-roten Kleid mit weißem Blütenmuster trägt die Sängerin ein graues Tuch mit außergewöhnlicher Musterung und wehenden Fransen. Sie hat es so dicht um den leicht gebeugten Oberkörper geschlungen, dass Arme, Brust und Hals bedeckt sind. Nur das unverhüllte Gesicht gibt den Blick auf ihre blasse Haut frei. Das Tuch hat keine goldenen Stickereien oder Spitzenverzierungen, sondern ist mit verschiedenen asiatischen Motiven wie Holzhäusern, kleinen Blüten und Menschen in Kimonos bedruckt, und verleiht Bréval einen exotischen Charakter. Im schwarzen Haar trägt sie ebenfalls Blütenschmuck, der farblich mit dem geblümten Kleid harmoniert. Trotz der festlichen Gewandung und des angestrahlten Gesichts der Sängerin ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob das Porträt während eines Opernauftritts entstand. Die Szenerie könnte Teil eines aufwendig angelegten Bühnenbildes sein, doch die bewegte Pose Brévals und die Männer im Hintergrund vermitteln den Eindruck, dass Zuloagas Bild die Sängerin in einem Wirtshaus zeigt. Lucienne Bréval, die scheinbar zufällig den Raum betritt, nimmt eine weniger selbstsichere Körperhaltung ein als ihre Kollegin Célestine Galli-Marié. Ihr Lächeln ist jedoch offener und der verführerische Blick wirkt nicht inszeniert. Auch wenn es keine Informationen über den Entstehungshintergrund des Bildes gibt, ist der Porträtcharakter deutlich zurückgenommen, was die Frage aufwirft, ob die Dargestellte ohne Bildtitel überhaupt als Lucienne Bréval in der Rolle Carmens identifiziert werden könnte. Es ist zu vermuten, dass Zuloaga in seiner Arbeit das Bildnis der Sängerin mit den eigenen Vorstellungen einer

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exotischen Frauenfigur zu einer ambivalenten Carmenfantasie verschmelzen ließ. Darauf deuten nicht nur die untypische Kleidung und die Hintergrundszenerie hin, sondern auch der versteckte Blickaustausch zwischen Sängerin und Betrachter.

Carmen erfinden: Spanische Exotinnen auf den Leinwänden französischer Künstler Würde man bei der Suche nach Carmen nur Bilder mit entsprechenden Titeln berücksichtigen, stieße man bald an seine Grenzen. Eine Sichtung der Werke in den Spanienausstellungen der letzten Jahre zeigt, dass Carmen in der Malerei des 19. Jahrhunderts nur selten namentlich in Erscheinung tritt. Die Suchkriterien können aber erweitert werden und die Recherche muss sich nicht auf die überschaubare Zahl der Porträts bekannter Carmendarstellerinnen beschränken. Mithilfe der Beschreibungen in Mérimées Novelle sollte es möglich sein, einen ähnlichen Frauentypus in der französischen Malerei zu entdecken, die in dieser Zeit verstärkt von der spanischen Kultur beeinflusst wurde. Schon vor der Veröffentlichung des Carmentextes begannen französische Künstler, sich für das Werk berühmter Spanier wie Goya und Velázquez zu interessieren, und hatten die Möglichkeit, eine Sammlung des Königs Louis-Philippe in der Galerie Espagnole im Louvre zu besichtigen.16 Édouard Manet, für den Spanien zu einer wichtigen Inspirationsquelle wurde, äußerte sich nach einer Reise beeindruckt: „L’Espagne… est si simple, si grandiose, si dramatique… j’en reviens toujours à Vélasquez et à Goya“.17 Nachdem Künstler sich über viele Jahre an der italienischen Kunst orientiert hatten, setzte mit der Hochzeit von Napoleon III. und der Spanierin Eugénie de Montijo in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine alle Künste erfassende Spanienmode ein. Über das neue Ansehen der spanischen Malerei schreibt Gary Tinterow: No longer was a tour of Italy obligatory; Spain was the source. Yet Spanish art was no longer what it had been one hundred years before, an esteemed but isolated school; it had been transformed by the French taste for Spanish painting into a foundation of modern art.18

Bezieht man Porträts und Genrebilder in spanischer Manier in die weiteren Betrachtungen ein, werden thematische Schwerpunkte deutlich. Hierzu zählen die Bilder kämpfender Toreros und die Darstellungen von Tänzerinnen. Des Weiteren verzeichnen Kataloge zahl-

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reiche Balkonszenen mit spanischen Modellen. Da in den Stierkampfbildern meist männliche Toreros abgebildet sind,19 sollen die Tanz- und Balkonbilder detaillierter betrachtet werden. Beide Themen berufen sich nicht nur auf die berühmten Vorlagen spanischer Künstler, sondern sind gleichzeitig zentrale Momente der Novelle. Abschließend wird ein dritter Schwerpunkt gesetzt, der ebenfalls prominentes Motiv in Mérimées Text ist: der Blick Carmens. Der einprägsame Titel der Grazer Ausstellung wird hierfür erweitert. Es werden nicht nur Blicke auf Carmen, sondern auch Blicke von Carmen genauer untersucht.

Carmenfantasien in den Bildnissen spanischer Tänzerinnen Gut, wenn du willst, dann tanze ich / Jetzt für dich, für dich ganz alleine. / Tanzen will ich zu Eurer Ehr’, / und ihr sollt sehn, mein Herr, / mich selber zu begleiten, / imstande ich bin.20

Ein besonderes Talent Carmens ist es, ihre männlichen Bewunderer mit Tanzeinlagen zu verzaubern. In den Spaniendarstellungen des 19. Jahrhunderts gewann das Tanzmotiv wieder zunehmend an Bedeutung. Künstler und Schriftsteller besuchten in Paris die Vorstellungen berühmter Tänzerinnen wie Lola Melea, Petra Camara und Carmen Dauset und huldigten den Frauen in Texten und Bildern. Eine der dynamischsten Arbeiten stammt von dem französischen Maler Théodore Chassériau und zeigt Petra Camara21, eine junge Spanierin, die ab 1851 mehrmals in einem Pariser Theater auftrat. Zentral in den Vordergrund gestellt, wurde die Tänzerin während einer Vorstellung porträtiert. Kopf und Oberkörper sind dem Betrachter zugewendet, der linke Arm und die Beine sind angespannt und bis an den Bildrand ausgestreckt, sodass der schmale, bewegliche Körper auffällig in Szene gesetzt ist. Camara hat den rechten Arm selbstbewusst in die Hüfte gestützt – diese Geste ist bereits aus dem Porträt Galli-Mariés bekannt – und wirkt als zentrale Gestalt von den Tänzern im Hintergrund isoliert. Den Blick entschlossen auf den Betrachter gerichtet, tritt sie aus der Gruppe heraus und verkörpert damit jene Freiheit und Unabhängigkeit, die Carmen ebenfalls für sich beansprucht. Wie Lola Melea wurde auch Petra Camara von vielen Männern bewundert und verehrt. Ihr berühmtester Maler war Chassériau, dessen skizzenhafte Ausführung flüchtiger Bewegungen zum Inbegriff eines Tanz-

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Abb. 3: Sargent: La Carmencita (1890)

bildes wurde. Trotz heller Farbakzente in Weiß und Gold dominieren dunkle Töne das Bild und schaffen einen spannungsvollen Kontrast zu den roten Farbpartien. In der Drehung wölbt sich der dunkelrote Rock der Tänzerin und gibt den Blick auf ihre nackten Knie frei. Er erinnert an eine lodernde Flamme und unterstreicht das feurige Temperament Camaras, die von Zeitgenossen als leidenschaftlich und unheimlich zugleich beschrieben wurde.22 Trotz der wirbelnden Kleidung wird der Betrachter vom Blick der Tänzerin gefangen genommen. Mit zu Schlitzen verengten schwarzen Augen sieht sie ihren Bewunderer unverwandt an und scheint ihn herausfordern zu wollen. Dabei vollzieht sich mit dem Blickwechsel auch ein Rollentausch, da Camara während ihrer Tanzeinlage selbst zum Betrachter ihrer Zuschauer wird. Der Ausdruck ihrer Augen ähnelt dem Blick Carmens: „[I]hre Augen hatten einen zugleich wollüstigen und wilden Ausdruck, den ich in keines andern Menschen Gesicht wiedergefunden habe“.23 Außerdem werden Assoziationen zu anderen Tanzdarstellungen in der Kunstgeschichte geweckt. Der Anblick Camaras erinnert an den Schleiertanz Salomes, der es damit gelang, Herodes zu verführen. Wie sich im Motiv der tanzenden Frau Anmut und Verderben verbinden können, beschreibt Adelheid Schumann treffend: Der Salome-Mythos eignete sich wie kaum ein anderer dazu, dem FemmeFatale-Bild im 19. Jahrhundert Ausdruck zu verleihen, und insbesondere der Tanz der Salome bot die Möglichkeit, Schönheit mit Dämonie zu vereinen.24

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So kann der Betrachter im Porträt Camaras auch die Figur Carmens erkennen, die es gleich Salome bei Herodes verstand, Don José mit Tanzeinlagen in ihren Bann zu ziehen. Das Porträt der 21-jährigen Tänzerin Carmen Dauset, genannt La Carmencita (Abb. 3)25, zeigt eine ebenso bekannte Flamencotänzerin, die majestätisch die Bühne betritt. Sie trägt ein weit ausgestelltes gelbes Kleid mit silberfarbenen Stickereien und eine Mantilla aus dem gleichen Stoff. Ihr einziger Schmuck ist eine kleine gelbe Blüte im schwarzen Haar. Auch wenn die Tänzerin in der leuchtenden, das Bild ausfüllenden Kostümierung zu verschwinden scheint und durch die leichte Untersicht übernatürlich groß wirkt, sind es vor allem ihr hochmütiger Blick und die selbstsichere Haltung, die den Betrachter verwundern. Beide Hände in die Taille gestützt und den rechten Fuß nach vorn gestellt, blickt sie mit hochgezogenen Brauen und erhobenem Haupt auf ein unsichtbares Publikum herab. Der Amerikaner John Singer Sargent, der zuvor mit El Jaleo eines der eindrucksvollsten Bilder einer Flamencoaufführung geschaffen hatte, wählte für das Porträt Carmencitas offenbar bewusst einen Moment vor der Bühnenschau und erzeugte für den Betrachter, der ungeduldig die Tanzeinlage herbeisehnt, eine besondere Spannung. Der Blick Dausets scheint zu signalisieren, dass sie mit diesen Erwartungen spielt und die Bewunderung auskostet. Im selben Jahr entstand bereits ein Porträt, das die Tänzerin lachend zeigt, während sie mit klappernden Kastagnetten eine schwungvolle Drehung vollführt.26 Eine Darstellung in abwartender Haltung betont zwar die Unnahbarkeit des Modells, fügt sich aber nicht in die Reihe der erotisch aufgeladenen Bilder tanzender ,Zigeunerinnen‘. Durch die Namensdoppelung und den gewählten Künstlertitel wird der Betrachter an die Heldin der Novelle erinnert. Auch Dauset soll die Fähigkeit besessen haben, sich wie Carmen singend im Tanz zu begleiten. Die Flamencoszenen sind wichtige Schlüsselmomente des Textes, die eine Verbindung zwischen der literarischen Vorlage und den Bildnissen beider Tänzerinnen schaffen. Wie die Opernsängerinnen zeigen auch Camara und Dauset in ihrem selbstbewussten Auftritt und den hochmütigen Gebärden Ähnlichkeiten mit Carmen. Gleichzeitig bietet die Wiedergabe einer tänzerischen Darbietung nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Malerei eine Möglichkeit, die erotische Ausstrahlung der Frau in Szene zu setzen.

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Carmen und ihre Schwestern in der traditionellen Balkonszene [I]ch hebe den Kopf und sehe Carmen über einen Balkon gelehnt neben einem Offizier […]. Sie war herrlich gekleidet, ganz in Seide, einen Schal um die Schultern, einen goldenen Kamm im Haar; das gute Stück – immer die gleiche! – hielt sich die Seite vor Lachen.27

Nicht lachen, aber doch zumindest lächeln müssen auch die Spanierinnen auf dem Bild des Zeichners Constantin Guys, der als Illustrator für britische und französische Zeitungen mehrmals nach Spanien reiste. Die kleine Zeichnung Zwei Spanierinnen auf dem Balkon28 zeigt zwei in leichter Untersicht abgebildete junge Frauen in spanischer Kleidung, die in dieselbe Richtung über eine Balkonbrüstung blicken. Beide ähneln einander sehr, haben das dunkle Haar zu Knoten zusammengesteckt und mit Blüten geschmückt. Ohren und Hals sind mit großen Schmuckstücken behängt. Der Blick des Betrachters wird schnell auf die hellsten Bildpartien gelenkt: die nackten Schultern der Frauen. Während die eine ein schulterfreies Kleid trägt, ist die bloße Schulterpartie der anderen noch auffälliger inszeniert. Scheinbar zufällig ist ihre Mantilla hinabgerutscht. Die Szene erinnert stark an die Textpassage, in der Don José Carmen das erste Mal erblickt: „Die Mantilla hatte sie zurückgeschoben, um ihre Schultern und einen großen Strauß Akazien zu zeigen“.29 Der verführerische Charakter der Geste ist nicht zu übersehen. Barbara Wittmann spricht davon, dass Guys mit der Wiederaufnahme des Balkonmotivs in Frankreich das Thema der „Dirne am Fenster“30 aktualisiere. Um diese These zu prüfen, soll eine weniger bekannte Balkonszene der Amerikanerin Mary Cassatt zum Vergleich herangezogen werden. Cassatt, die in Paris Malerei studierte, schuf 1872 das Gemälde Auf dem Balkon31, das zwei Mädchen im Vordergrund und einen männlichen Bildakteur dahinter zeigt. Anhand der detailliert wiedergegebenen Kleidung sind alle drei Personen als Spanier zu erkennen. Auf den ersten Blick ähnelt die Position der beiden Mädchen der der Frauen in Guys Zeichnung. Die eine hat die Arme verschränkt auf das Geländer gelegt und blickt lächelnd hinab. Doch während sie eine eher passive, verträumte Haltung einnimmt, ist das Mädchen neben ihr gerade abgelenkt. Den Kopf zur Seite geneigt, lacht sie mit einem Fächer kokettierend den Mann im Bildhintergrund an. Dieser blickt mit gehobenen Brauen und offenem Mund zu

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ihr. Den linken Arm stützt er im Türrahmen ab, sodass der Weg in das Zimmer versperrt ist. Beide weiblichen Figuren tragen farbige Mantillas über ihren Schultern, die sie über der Brust verschlossen haben. Das linke Mädchen in roter Mantilla ist wesentlich schlichter gekleidet als ihre Nachbarin. Sie hält in der rechten Hand einen geschlossenen Fächer, der ihren zurückhaltenden Charakter noch unterstreicht. Das Mädchen auf der rechten Seite hat sich hingegen herausgeputzt, vielleicht um ihren männlichen Verehrer zu beeindrucken. Sie hat eine hellblaue Perlenkette angelegt, trägt ein mit bunten Blüten verziertes Tuch und dazu passend eine rosafarbene Blüte im Haar. Während die eine noch zu warten scheint, hat die andere ihr Glück offenbar gefunden und strahlt ihren Bewunderer an. Cassatt kannte vermutlich die Bilder Mädchen am Fenster von Murillo und Majas auf einem Balkon von Goya, deren erotische Auslegung ihr auch bekannt gewesen sein dürfte.32 Im Vergleich zu der Zeichnung Guys und den spanischen Vorlagen hat Cassatt auf ihrem Gemälde die weiblichen Reize der Dargestellten stark zurückgenommen. Mit ihren bedeckten Schultern und den vom Betrachter abgewendeten Blicken wirken sie wesentlich unschuldiger. Wie die Porträts spanischer Tänzerinnen erfreuten sich auch Darstellungen südländischer Schönheiten auf dem Balkon in der Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Bemerkenswert an dem Motiv ist die bevorzugte Abbildung der Frauen aus einer leichten Untersicht. Der Betrachter entdeckt sie in erhöhter Position auf einem Balkon, so als würde er selbst auf der Straße oder in der Tür eines gegenüberliegenden Hauses stehen. Gleichzeitig wird das Publikum durch die angedeutete Balkonbrüstung auf Distanz gehalten und kann sich den verführerisch lächelnden Bildakteurinnen nur bedingt nähern. Diese Situation ist mit der Position Don Josés in der Balkonszene vergleichbar. Als er Carmen in kostbaren Kleidern neben einem Offizier an der Brüstung eines Balkons entdeckt, brennt er vor Eifersucht, muss sich aber gedulden, bis ihn Carmen, die aus einem erhöhten Standpunkt über ihn lacht, heraufbittet.

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Verborgene Blicke Ihre auffallend schief, aber schön geschlitzten Augen sind von langen, dichten Brauen beschattet; ihren Blick kann man nur mit dem eines wilden Tieres vergleichen. Kühnheit und Furchtsamkeit spiegeln sich zugleich darin.33

Abschließend soll die Aufmerksamkeit auf den Augenausdruck der Bildfiguren gelenkt werden. Dafür ändert sich die Blickrichtung: Im Vordergrund stehen nicht mehr die Blicke auf Carmen, sondern Carmens Blicke. Dass die Gestaltung des Blicks die Wirkung eines Gemäldes verändern kann, wurde bereits angedeutet. Wie die Inszenierung des Blicks ein Bild in den Kontext der Carmendarstellung rücken kann, zeigt die Arbeit des englischen Malers John Phillip. Auf Der böse Blick34 ereignet sich ein spannendes „Blicktheater“35, in dem erstmals keine Spanierin, sondern das Antlitz des Malers im Mittelpunkt steht. Das Gemälde zeigt eine zufällige Begegnung zwischen drei Personen in einem spanischen Dorf. Automatisch wird die Aufmerksamkeit zuerst auf die hellere Bildhälfte gelenkt. Hier steht ein kleiner Junge mit Obstkorb und hat dem Betrachter den Rücken zugekehrt. Der Blickrichtung des Jungen folgend sieht man einen bärtigen Herrn mit einer Zigarre im Mund, der durch seine vornehme, für das Wetter viel zu warme Kleidung auffällt. Mit angewinkelten Armen scheint er etwas in einem Notizblock zu notieren, das den Beteiligten verborgen bleibt. Sein Blick richtet sich auf eine im Schatten eines Zeltdachs kauernde Spanierin, deren Gesicht der Betrachter im Halbprofil sieht. Die Frau mit dunklen Haaren und einem großen Ohrring trägt eine bunte Mantilla über einem weiten gelben Rock. Ein Korb und ein Krug neben ihr sind umgestoßen und vermitteln so den Eindruck, dass sie sich übereilt in das Versteck zurückgezogen hat. Ein schwacher Lichtschein wird auf die rechte Hand der Frau gelenkt, die mit einer Geste den unerwünschten Beobachter abzuwehren versucht. Ihre Hand deutet die Corna an, ein Zeichen mit erhobenem Zeigefinger und kleinem Finger, das eine Person vor Unglück oder bösen Kräften schützen soll. Die Gebärde erinnert an den Aberglauben Carmens, die ihre Zukunft im Kaffeesatz liest, Blei gießt und Zauberlieder singt.36 Im Bild entstehen drei Sichtachsen, die sich auf den Eindringling richten. Sie folgen dem Blick der Spanierin, dem verborgenen Blick des Jungen und dem Außenblick des Betrachters, der am weitesten entfernt steht und von niemandem bemerkt wird. Der Entstehungshintergrund des Bildes ist bekannt. Phillip versuchte

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Abb. 4: Manet: Berthe Morisot mit Fächer (1872)

auf einer Spanienreise eine Einheimische in seinem Zeichenblock festzuhalten, diese interpretierte sein Verhalten fehl und dachte, sie träfe der böse Blick, der Unglück über sie bringen würde. Offene und verborgene Blicke sowie entgegengesetzte Blickrichtungen verleihen dem Bild seine besondere Spannung und wurden titelgebend. Der Blick des englischen Malers auf eine Spanierin ist dabei stark mit dem distanzierten Blick des Erzählers in Mérimées Novelle auf die ihm fremde Kultur der ,Zigeuner‘ vergleichbar. Als winziges Detail weist die Zigarre im Mund des Künstlers auf eine Szene hin, in der Erzähler und Don José Zigarre rauchen. Ein interessantes Blickspiel zwischen Modell und Betrachter vollzieht sich auch auf einem Porträt Édouard Manets, das die französische Impressionistin Berthe Morisot mit Fächer (Abb. 4)37 zeigt. Die Malerin im schwarzen Kleid hält in der linken Hand einen geöffneten Fächer und verdeckt damit ihr Gesicht. Nur durch die halbdurchsichtigen, mit schwarzer Spitze verzierten Fächerstäbe kann der Betrachter die Augen der geheimnisvollen Frau erblicken. Möchte sie ihr Gesicht absichtlich vor ihm verbergen oder neckt sie ihn? In jedem Falle wird durch das Versteckspiel die Neugier des Betrachters geweckt, der hinter den Fächer blicken möchte, um das Gesicht der Dame in Schwarz zu erkennen. Im ersten Moment denkt man an die Bilder schwarz gekleideter Spanierinnen, die Manet im Madrider Prado kennenlernte. Da der Fächer hier aber nicht als typisches Tanzrequisit verwendet wird, überrascht das Motiv.38 Es ist eines der sonderbarsten und faszinierendsten Bildnisse Morisots, in dem das Spiel mit

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dem Fächer die Intimität der Szene verdeutlicht. Laut Wittmann stellte Manet hier eine „Verführung à l’espagnole“39 dar, in der der Fächer auch Morisots Verfassung signalisiert: Wenn Morisot schwieg und gedankenverloren am Betrachter vorbei blickte, blieb der Fächer geschlossen, befand sie sich in angeregter Kommunikation, öffnete sie ihren Fächer oder inszenierte einen Flirt, indem sie sich hinter seinem aufgeschlagenen Blatt versteckte.40

Der Blick Morisots erinnert aber auch an Carmen, die es vermochte, mit ihren großen Augen alle in ihren Bann zu ziehen. Allein durch die Kraft des verborgenen Blicks, dessen Wirkung vermutlich auch Manet spürte, gelang es ihm, den Betrachter gefangen zu nehmen.

Es gibt nicht nur eine Carmen in der Bildenden Kunst Carmen hat bis heute nicht an Faszinationskraft verloren. Anknüpfend an die Klischeevorstellungen des Publikums hat sich die Werbeindustrie im 20. Jahrhundert des Carmenthemas bemächtigt. Die Darstellung der schwarzhaarigen ,Zigeunerin‘ im roten Flamencokleid mit Fächer ist in der Reklame allgegenwärtig. Das Stereotyp erschwert es der Kunst seither in hohem Maße, sich mit der Carmenfigur schöpferisch auseinanderzusetzen. In den neunziger Jahren hat die Künstlerin Aura Rosenberg den Versuch unternommen, den Betrachter mit einem anderen Typus zu konfrontieren. Die Fotografie Mike Kelley/Carmen (Abb. 5)41 zeigt Rosenbergs kindliche Tochter, die ein tief ausgeschnittenes Oberteil trägt und wie eine Erwachsene geschminkt ist. Wangenrouge und schwarze Tusche auf dem weiß gepuderten Gesicht sind jedoch verschmiert und zu einer Clownsmaske verzerrt. Was ist geblieben von der Carmen, deren Bild Manet, Zuloaga oder Sargent geprägt haben? Auf den ersten Blick hat das junge Mädchen wenig mit den Spanienfantasien des 19. Jahrhunderts gemeinsam. Bei näherem Hinsehen erkennt man einzelne Klischees, die hier bedrückend wirken: einen Schmollmund, große schwarze Augen und entblößte Schultern. Durch das ungewöhnliche Erscheinungsbild wird so mancher Betrachter auf Distanz gehalten und hat Schwierigkeiten, sich dem seltsam fremden Mädchen zu nähern. Diese Fremdheit erinnert an die Entstehung der Carmenfigur in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Es scheint, als ob die Künstlerin eine Antwort auf die plakative Carmengestalt in der Produktwerbung gesucht hat und

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Abb. 5: Aura Rosenberg: Mike Kelley/Carmen (1996)

die Schablone einer idealisierten Schönheit in die ursprüngliche Rolle einer zerrissenen Frauenfigur zurückführen wollte. In der Kunst des 19. Jahrhunderts ist die Fremdheit vor allem als Exotismus anzutreffen. Dabei lassen sich die besprochenen Darstellungen in zwei Gruppen teilen. Die erste besteht aus Bildnissen junger Opernsängerinnen und Tänzerinnen, die in der Rolle Carmens porträtiert wurden. Die anderen Arbeiten gehören zu der Gruppe jener Werke, in der Künstler Bilder exotisch wirkender Frauen schufen,

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die ihren eigenen Spanienvorstellungen entsprachen. Hierzu schreibt Ilse Hempel Lipschutz: They searched Goya’s oeuvre for what they considered essentially Spanish characteristics, and in it they found mirrored and confirmed many of their own preconceived images of Spain. There they found the portrait of the Spanish woman that they dreamt of.42

Dieser Traum brachte eine Vielzahl an Bildern hervor, die Klischees von ,Zigeunerinnen‘ in bunten Kleidern bedienten. Gleichzeitig entstanden aber auch sehr eindringliche und individuelle Porträts junger Frauen im spanischen Kostüm. Die Motive überraschen dann, wenn mit den Erwartungen des Betrachters gespielt wird, ihm eine Schauspielerin in der Rolle Carmens mit asiatischem Kostüm begegnet oder das Gesicht der Porträtierten nicht gezeigt wird. Allen besprochenen Bildern ist gemeinsam, dass von ihren Akteurinnen eine besondere Anziehungskraft ausgeht, die den Betrachter innehalten lässt. Was die Künstler fasziniert und ihre Kunst geprägt hat, ist die Fremdheit des Erscheinungsbildes ihrer Modelle – das andere Kolorit ihrer Kleidung, der Klang ihrer Sprache, ihre anmutigen Bewegungen und das Geheimnis ihres Blicks. Hierin ähneln die Bildnisse den literarischen Darstellungen dieser Zeit. So könnten die Anfangszeilen aus Charles Baudelaires Gedicht Einer kreolischen Dame gleichsam als Inschrift der Gemälde gelesen werden: Im Land der Düfte, sonnenüberglutet, / Seh ich in purpurroter Gärten Nacht, / Wo holde Trägheit von den Palmen flutet, / Ein fremdes Weib voll seltsam fremder Pracht. // Das Antlitz bleich, doch klar und warmdurchblutet, / Die schlanke Zauberin, bewusst der Macht, / Geht wie Diana stolz und hochgemutet, / Im sichern Blick ein stilles Lächeln wacht.43

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Prosper Mérimée: Carmen. Novelle, Stuttgart 1963, S. 21. Ebd., S. 18 und 29. Berühmt wurde Richard Fords A handbook for travellers in Spain, das im selben Jahr wie Mérimées Novelle 1845 erschien. Dominique Lobstein beobachtet ab 1845 einen „spanischen Effekt“ und verzeichnet im Pariser Salon eine wachsende Zahl der Gemälde mit spanischem Sujet: 1845 wurden hiervon 22 von insgesamt 2500-3000 Bildern eingereicht, 1848 waren es bereits 76 Gemälde. Dominique Lobstein: „Ein spanischer Traum. Die Spanien-Abbildungen in den Pariser Salons 1845-1865“. In: Peter Pakesch, Verena Formanek (Hrsg.): Blicke auf Carmen. Goya. Courbet. Manet. Nadar. Picasso, Köln 2005, S. 167-199, hier S. 173. Kirsten von Hagen: „À la recherche de Carmen“. In: Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk, Volker Roloff (Hrsg.): Alte Mythen – Neue Medien. Heidelberg 2006, S. 193-261, hier S. 195. Thomas Macho: „Carmen – Variationen“. In: Carmen. Programmheft der deutschen Staatsoper Berlin, Berlin 2004, S. 24-34, hier S. 24. Die Ausstellung Blicke auf Carmen – Goya. Courbet. Manet. Nadar. Picasso fand vom 25.06.2005-04.09.2005 im Landesmuseum Joanneum in Graz statt. Vgl. Manet/Velázquez: The French Taste for Spanish Painting (2002/2003) im Musée d’Orsay in Paris und im Metropolitan Museum of Art in New York, The Spanish Portrait: From El Greco to Picasso (2004/2005) im Museo Nacional del Prado in Madrid und The Discovery of Spain: Goya to Picasso (2009) in Edinburgh. Pablo Picasso: Carmen, zum Text von Prosper Mérimée, 1949, 38 Radierungen, 33 x 26 cm, Sammlung Jacqueline und Manfred Schmidt, Todenmann und Georges Pichard: Carmen. München 1984. Carlos Saura, Antonio Gades: Ein Traum von bedingungsloser Liebe. Mit der Novelle von Prosper Mérimée, Hamburg/München 1985, S. 36. Henri Lucien Doucet: Mademoiselle Célestine Galli-Marié in der Rolle der Carmen, 1886, Öl auf Leinwand, 193 x 83,8 cm, Bibliothèque Nationale de France, Paris. Mérimée (wie Anm. 1), S. 29 und 37. Ebd., S. 37. Hölz ergänzt, dass Rot und Schwarz die Farben des Teufels sind. Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 122. Ignacio Zuloaga y Zabaleta: Lucienne Bréval als Carmen, 1908, Öl auf Leinwand, 206 x 192 cm, The Hispanic Society of America, New York. Bis 1804 waren in den öffentlichen Sammlungen Frankreichs nur eine handvoll spanischer Gemälde ausgestellt. Erst mit der Eröffnung der Galerie Espagnole 1838 waren 400 Bilder spanischer Meister aus der privaten Sammlung Louis-Philippes zu besichtigen. Äußerung Manets von 1875. Berichtet von Charles Toché. In: A. Vollard: Souvenirs d’un marchand de tableaux. Paris 1937, S. 164. Zit. nach: Édouard Manet: Voyage en Espagne. Charente 1988, S. 13.

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Gary Tinterow: Raphael Replaced: „The Triumph of Spanish Painting in France. In: ders., Geneviève Lacambre: Manet/Velázquez: The French Taste for Spanish Painting. Paris/New York 2003, S. 3-66, hier S. 62. Eine Ausnahme bildet Manets Porträt von Mademoiselle V... im Matadorgewand von 1862. Georges Bizet: Carmen. Oper in drei Akten. Entrance. II. Akt, Paris 1875, S. 19. Théodore Chassériau: Petra Camara, 1852, Öl auf Holz, 32,2 x 23,4 cm, Szépmüvészeti Múzeum, Budapest. Vgl. Stéphane Guégan: „From Ziegler to Courbet: Painting, Art Criticism, and the Spanish Trope under Louis-Philippe“. In: Tinterow (wie Anm. 18), S. 191-201, hier S. 197. Mérimée (wie Anm. 1), S. 21. Adelheid Schumann: „,Und Salome tanzt doch!‘ Carlos Sauras filmische Umsetzung des Salome-Mythos“. In: Hoffmann et. al. (wie Anm. 5), S. 251-262, hier S. 256. John Singer Sargent: La Carmencita, 1890, Öl auf Leinwand, 232 x 142 cm, Musée d’Orsay, Paris. William Merritt Chase: Carmencita, 1890, Öl auf Leinwand, 177,5 x 103,8 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York. Mérimée (wie Anm. 1), S. 55f. Constantin Guys: Zwei Spanierinnen auf dem Balkon, um 1845 od. 1847, Zeichnung mit Crayon, schwarzer Tinte, brauner Tuschfarbe und Aquarellfarbe, 22,6 x 17,4 cm, Musée des Arts décoratifs, Paris. Mérimée (wie Anm. 1), S. 29. Barbara Wittmann: Gesichter geben: Édouard Manet und die Poetik des Portraits, München 2004, S. 153. Mary Cassatt: Auf dem Balkon, 1872, Öl auf Leinwand, 101 x 82,5 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia. Da die Frauen den Betrachter direkt anblicken, wurden sie als Prostituierte gedeutet. Mérimée (wie Anm. 1), S. 71. John Phillip: Der böse Blick, 1859, Öl auf Leinwand, 75,5 x 63 cm, Hospitalfield, Arbroath. Kirsten von Hagen: Carmen – Mythos und Mythen-Bricolage. In: dies.: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009, S. 105-174, hier S. 110. Mérimée (wie Anm. 1), S. 61 und 67. Édouard Manet: Berthe Morisot mit Fächer, 1872, Öl auf Leinwand, 60 x 45 cm, Musée d’Orsay, Paris. Ab dem 18. Jahrhundert wurden Fächer bei gesellschaftlichen Veranstaltungen verwendet, um wortlos Nachrichten auszutauschen, hierfür wurden bestimmten Bewegungen konkrete Aussagen zugeordnet und eine Fächersprache entwickelt. Wittmann (wie Anm. 30), S. 155. Ebd., S. 189.

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Aura Rosenberg: Mike Kelley/Carmen, aus der Serie: Who Am I, What Am I, Where Am I? 1996, 61 x 71 cm, Foto, Color Print, Stiftung F.C. Gundlach. Ilse Hempel Lipschutz: „Goya and the French Romantics“. In: Tinterow (wie Anm. 18), S. 161-173, hier S. 173. Charles Baudelaire: „Einer kreolischen Dame“. In: ders.: Die Blumen des Bösen. 1857. Projekt Gutenberg-DE. http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid =155&kapitel=1#gb_found, 01.10.2009.

Abbildungsnachweise Autor/innen und Verlag haben sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Rückmeldung. Alexandra Tacke, S. 25-34 Abb. 1: Olympe Aguado: Bewunderung/Admiration (um 1860), 15,2 x 20,4 cm, Katalog: Blicke auf Carmen/Seeing Carmen (2005 in Graz); Abb. 2-4, 6: Ausschnitte aus Georges Pichard: Carmen. Comic (1981). Patricia Fiebrich, S. 35-48 Abb. 1-4: Notenbeispiele aus Kurt Pahlen: George Bizet. Carmen. Textbuch, Mainz 1979. Florian Kappeler, S. 62-76 Abb. 1: Filmstill aus Cecil B. DeMilles Carmen; Abb. 2: Filmstill aus Charlie Chaplins Burlesque on Carmen; Abb. 3: Filmstill aus Ernst Lubitschs Carmen. Alexandra Vasa, S. 77-91 Abb. 1-7: Filmstills aus Lotte Reinigers Carmen. Mit freundlicher Genehmigung von Christel Strobel, Agentur für Primrose Productions. Jacqueline Roussety, S. 106-124 Abb. 1-14: Filmstills aus Carlos Sauras Carmen. Almut Hille, S. 140-149 Abb. 2: Copyright © by Deutsches Literaturarchiv Marbach; Abb. 4: Copyright © by Verlag Aweka GmbH, Stuttgart. Julia Roth, S. 167-186 Abb. 1: Peña in Jerez de la Frontera, Foto: Tina Heidelberg; Abb. 2: Sylvin Rubinstein als Flamencotänzerin Dolores, Foto: Christian Irrgang, mit freundlicher Genehmigung von Christian Irrgang; Abb. 3: Marina „La Canillas“, Sängerin der Band Ojos de Brujo im punkigen Carmen-Look, Foto: Julia Montilla, mit freundlicher Genehmigung von Ojos de Brujo; Abb. 4: Spiel mit Maskerade die Band Ojos de Brujo, Foto: Thomas Canet, mit freundlicher Genehmigung von Ojos de Bru-

Abbildungsnachweise

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jo; Abb. 5: Flamenco-Streetwear der Berliner Flamenco-Designerin La Volantina, mit freundlicher Genehmigung von Claudia Schöpp. Inge Stephan, S. 187-202 Abb. 1: Florian Żielinski, Poznań, Künstler: Leszek Żebrowski; Abb. 2: Florian Żielinski, Poznań, Künstler: Wiesław Wałkuski; Abb. 3: Bundesarchiv, Bild 183-1988-0105-018, Fotograf: Wolfgang Thieme; Abb. 4: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0122-024, Fotograf: Matthias Hiekel; Abb. 6-7: Filmstills aus Carmen on Ice. Lydia Strauß, S. 203-221 Abb. 1: Copyright © Bibliothèque nationale de France, Paris; Abb. 2: Courtesy of The Hispanic Society of America, New York; Abb. 3: Copyright © bpk / RMN / Gérard Blot; Abb. 4: Copyright © bpk / RMN / Hervé Lewandowski; Abb. 5: Courtesy of Sassa Trüzlsch Gallery, Berlin.

Verfasser/innen RIKE BOLTE ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am LateinamerikaInstitut der Freien Universität Berlin, Übersetzerin und Leiterin des mobilen lateinamerikanischen Poesiefestivals ‚Latinale’. Forschungsschwerpunkte sind u. a.: Erinnerungskulturen, ‚marginale’ Medien (Science Fiction und Comic, u. a.), Visuelle Kulturen, Gender Studies und Übersetzungstheorie. Promotion zum Thema Anti-Depots. Gedächtnis-Recycling einer argentinischen ‚Camada Cadáver’ (1996-2006). JULIA ECKHOFF studiert Neuere deutsche Literatur, Kulturwissenschaft sowie Neuere und Neueste Geschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Ihre akademischen Interessengebiete sind: Auseinandersetzungen mit dem Holocaust in zeitgenössischer Literatur, Film und Kunst; Genderkonstruktionen und Beziehungskonzeptionen in Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Mediale Konstruktionen von Körper und Körperästhetik; Rassismus; Kritische Weißseinsforschung. Sie hat mehrere Filme und Hörspiele produziert und arbeitet als freie Lektorin. PATRICIA FIEBRICH studiert Musikwissenschaft und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie lernte als Jungstudentin des Carl Philipp Emanuel Bach-Gymnasiums klassische Gitarre an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und später bei Prof. Frank Hill. Sie ist Preisträgerin des Echo Klassik in der Kategorie Klassik für Kinder 2005, aktives Mitglied im Chor der Berliner Domkantorei und unterrichtet seit 2006 klassische Gitarre an der Musikschule Viva la Musica in Berlin. JULIA FREYTAG ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Claudia Benthien am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Psychoanalyse; antike Mythen in Literatur und Film (Elektra und Ödipus); kulturwissenschaftliche Gender-Forschung. 2010 hat sie sich mit einer Arbeit zu Die Tochter Elektra. Eine verdeckte Figur in Literatur, Psychoanalyse und Film promoviert. Zuletzt erschienen: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers „Traumnovelle“ und in Kubricks „Eyes Wide Shut“ (2007).

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ALMUT HILLE ist Professorin für Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literarische Konstruktionen des ‚Fremden‘, BerlinLiteratur, Literatur- und Kulturvermittlung im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Zuletzt erschienen: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (2005); Weltfabrik Berlin. Eine Metropole als Sujet der Literatur (2006, Hrsg. zus. mit Matthias Harder). FLORIAN KAPPELER promoviert mit einer Arbeit zu Wissen und Gender bei Robert Musil im Berliner Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“. Zuletzt erschienen: „Die Organisation des Möglichen. Poetologien kapitalistischen Organisationswissens bei Robert Musil“. In: Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hrsg.): Das Mögliche regieren. Gesellschaftsutopien zwischen Möglichkeitssinn und Machtphantasmen, Bielefeld 2010, S. 40-63. KIRSTEN MÖLLER studierte Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Seit 2009 ist sie Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ und schreibt eine Doktorarbeit zu dem Thema Mutter Heimat. Geschlecht und Heimatverlust im Vertreibungsdiskurs in Literatur, Film & Theater nach 1945 (Deutschland & Polen). JULIA ROTH tanzt Flamenco und schreibt eine Doktorarbeit zur okzidentalen Konstruktion südamerikanischer Weiblichkeitsbilder. Ihre Forschungsschwerpunkte sind transkulturelle feministische, postkoloniale und Decolonial Thinking-Ansätze, Ansätze von Critical Whiteness und kritischem Okzidentalismus, Gender und Genre, afroamerikanische und südamerikanische Kulturwissenschaften (vor allem Literatur, Film, Tanz). Zuletzt erschienen: „‚Stumm, bedeutungslos, gefrorenes Weiß’. Toni Morrisons Essays im weißen deutschen Kontext“. In: Maureen Maisha Eggers et al. (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 491-505. JACQUELINE ROUSSETY arbeitet seit 25 Jahren als Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin. Ihre langjährige Erfahrung als Flamencotänzerin in Spanien und Deutschland konnte in ihren Carmen-Beitrag mit einfließen. Zurzeit beendet sie ihr Masterstudium für

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Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Schwerpunkt in der Filmwissenschaft. Veröffentlichungen: Andreas Hoppe: Allein unter Gurken. Mit Jacqueline Roussety, München 2009; ein Beitrag in dem Sammelband „Was damals Recht war…“ (hrsg. v. Professor Wette, Aufbau Verlag, im Erscheinen). INGE STEPHAN hatte bis 2009 den Lehrstuhl Geschlechterproblematik im literarischen Prozess am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin inne und arbeitet derzeit an einer Monographie Eisige Helden. Männlichkeit und Kältekult in der Moderne. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, zur Frauenforschung, feministischen Literaturwissenschaft und Geschlechterstudien. LYDIA STRAUSS studierte Neuere deutsche Literatur und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität. Sie schrieb ihre Magisterarbeit über die Inszenierung fantastischer Welten in den Briefen und Postkarten Else Lasker-Schülers und macht zurzeit ein Praktikum in der Presseabteilung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. ALEXANDRA TACKE hat Philosophie, Neuere deutsche Literatur und ital. Philologie in München, Berlin und Chicago studiert. Sie ist wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Ulrike Vedder. Promotion mit der Arbeit Rebecca Horn. Raumvermessungen & Selbstpositionierungen im kulturellen Diskurs der Gegenwart (Böhlau 2011). Zuletzt erschienen: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Postmoderne (Böhlau 2009) (hrsg. zus. mit B. Weyand). MELANIE UNSELD ist Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender (fmg) an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Zur ihren Forschungsschwerpunkten zählen Musikerinnen der Wiener Klassik, die europäische Musikkultur der Jahrhundertwende, slawische Musikgeschichte, musikwissenschaftliche Gender Studies sowie Biographik und Erinnerungsforschung. 2001 erschien ihre Dissertation „Man töte dieses Weib!“ Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende (Metzler Verlag Stuttgart/Weimar). Sie ist Mitherausgeberin der Reihe „Europäische Komponistinnen“ (Böhlau Verlag Köln/Weimar) sowie Herausgeberin des Reclam Komponisten Lexikon (2009).

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ALEXANDRA VASA studiert Literaturwissenschaft an der HU. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Masterarbeit Reale Krisen in fiktiven Texten, in der sich die Autorin mit der literarischen Ver- und Bearbeitung der aktuellen Finanzkrise auseinandersetzt.