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German Pages 314 Year 2018
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Ralf Bohn Camera scriptura Die Bildschriftlichkeit der Fotografie
Szenografie & Szenologie
Band 16
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EDITORIAL
Die Reihe „Szenografie & Szenologie“ versammelt Aufsätze und Monografien zur praktischen und theoretischen Szenografie, zur Inszenierung und Inszenierungskritik im Kontext neuer Medien und Medientechniken. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Ralf Bohn und Prof. Dr. Heiner Wilharm.
Ralf Bohn (Prof. Dr., Dipl.-Des.) lehrt Medienwissenschaften an der FH Dortmund. Er ist Autor zahlreicher Monografien zur philosophischen und historischen Problematisierung von Inszenierung im medialen Kontext und Mitherausgeber der Reihe »Szenografie & Szenologie«.
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Ralf Bohn CAMERA SCRIPTURA Die Bildschriftlichkeit der Fotografie
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung der Copyright-Inhaber urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagfoto: Ralf Bohn Korrektorat: Bernadette Fülscher Satz: Ralf Bohn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4702-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4702-4 https://doi.org/10.14361/9783839447024 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet unter: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
PROVISION 9 DISKURSFRAGMENTE: ZUR BILDSCHRIFTLICHKEIT VON FOTOGRAFIE I.
Die Schrift vor der Schrift
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II.
Schrift als Supplement von Raumzeit
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III.
Das Schweigen der Fotografie
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IV.
Von Medium und Zeichen
46
V.
Spuren legen
53
VI.
Inszenierung von Präsenz
60
VII.
Ursprung: Bild und Begriff, Real und Ideal
66
VIII. Inzest und Todestrieb
74
IX.
Gedächtnisspur mythologisch
81
X.
Medialisierung der Fotografie
87
XI.
Inszenierung und Geschichte
92
XII.
Die Kunst der Legitimation und das Verbrechen
98
XIII.
Von der Grammatologie zur Schriftikonik
103
XIV.
Recht auf Einsicht
110
XV.
Kritik philosophischer Schrift
115
XVI.
Der Tod und das surreale Ereignis
123
XVII. Uhr und Kamera
130
XVIII. Fotografieren als soziale Geste
136
XIX.
Fotografieren als ästhetische Geste
142
XX.
Legitimation durch Kunst
149
XXI.
Materialistische Fotografie
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XXII. Hand, Schrift und die Mechanik der Spur
160
XXIII. Der Augenblick der Fotografie
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XXIV. Auge und Optik
172
XXV. Das Noema der Fotografie
175
XXVI. Provisorische Wirklichkeit
177
XXVII. Literarisches Fotografieren
187
XXVIII. Ein System des Humanismus
193
XXIX. Optik und Ornament – Bilderverbotskultur
202
XXX. Traumbild und Imaginiertes Bild
207
XXXI. Rhetorik des Blicks
215
XXXII. Das Gedächtnis und die ursprüngliche Spur
224
XXXIII. Vom Zeigen: die Natur der Spur
232
NACHGANG: ZUR BILDSCHRIFTLICHKEIT VON FOTOGRAFIE I.
Urschrift
239
II.
Präsenz
250
III.
Allegorie und Schnappschuss
264
IV.
Schriftlichkeit – Don-Quichotterien
273
V.
Vorschrift
285
VI.
Gebrauchsweisen
289
VII.
Gesetz und Szenifikation
293
ZITIERTE QUELLEN
303
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PROVISION
Anlass der vorliegenden medienphilosophischen Arbeit waren historische Überlegungen zur Diskurspraxis über das Fotografische und Infragestellungen des Begriffs „Historie“ im Angesicht der Fotografie. Die fotografische respektive optisch erzeugte Bildkultur ist nämlich – so die These – seit ihren Anfängen ein gedächtnisbildender Ort, welcher der an Zahlen und Ereignissen orientierten Linearität normativer Geschichtsschreibung durch die ereignisbildende Kraft des Fotos ein neues Denken von Zeitlichkeit abverlangt. Das Modell einer unverrückbar passiven Sedimentierung von Erinnerung wurde durch eines der Geschichtlichkeit der Geschichte ersetzbar. Die Perspektiven der Geschichte – zwischen den Extremen „Ereignis“ und „Dauer“ – erfahren ihre Umcodierung durch den augenblickhaften Realismus der Fotografien. Diesem ereignisbildenden Realismus, den die Daguerreotypien begründen, steht auf der Seite der Dauer der Wunsch nach künstlerischem Eingriff in das technisierte Moment der Fotografie gegenüber. Zwischen Dokumentation und Inszenierung kann jedoch nicht ästhetisch, sondern nur ideologisch unterschieden werden. Eine medienphilosophische Aufklärung erinnert sich hier an die Diskurse des 19. Jahrhunderts, deren Widerstreit zwischen Realismus und Idealismus letztlich ein Paradigma der Versöhnung im Begriff „Medium“ feiert. Im Medium respektive Zeichen sind die realen Elemente der Aufzeichnung und die idealen, imaginierenden des Lesens arrangiert. Auf welche Weise dieses Arrangement sich im Medium der Fotografie wirkungsmächtig durchsetzt, verspricht ein Rückgang auf das „Fotografische“ als Schriftspur eben jenes Widerstreits. Zwischen einer scheinbaren technischen Objektivität und einer gestalterischen Vor-, Zuund Nachbereitung eben dieses technisch-ästhetischen Prozesses, der aus der Hundertstelsekunde der Belichtung immer schon eine Praxis gemacht hat, ist zu unterscheiden. Das Foto ist nicht das Fotografische. Gerade aber ihre Differenz macht sich als Schrift lesbar; als Vollzug einer Praxis, die in der fotografischen Aufnahme medialisiert wurde und herausgelesen werden kann. Die Frage, warum die Praxis der Fotografie so erfolgreich war und immer noch ist, verlangt eine Aufarbeitung der Diskurse über das Fotografische. Dieser Diskursraum, der traditionell der Schrift, dem Text, dem Buch und
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somit der Formation alter historischer Ordnung angehört, wird seinerseits von den fotografischen Momenten irritiert. Die Bildschriftlichkeit wird asymmetrisch beständig durch die Schriftbildlichkeit – die Not, mit Bildern nur sprachlich diskutieren zu können – unterminiert. Diese Konkurrenz zwischen Bild und Schrift, ist medial durch die unterschiedlichen Raumstrategien bedingt und wird von der barocken Allegorie über den surrealistischen Umgang mit Bild und Schrift bis zur gegenwärtigen Kommunikationsgestaltung thematisiert. Untersucht man aber die ikonoscripturalen Vorbedingungen der medialen Unterscheidung von Bild und Schrift hinsichtlich der speziellen Zeitbildtechnik der Fotografie, wird offensichtlich, dass in der ästhetischen Argumentation stets die historische schon eingeschrieben ist und dass hier Realität des Werks, Authentizität von Erinnerung (Dokumentarität) und Imaginarität nicht nur, wie in der Malerei und Zeichnung, ineinanderfließen, sondern sich im Augenblick der Aufnahme konfrontativ gegenüberstehen. Die Fotografie macht offensichtlich, dass der chronometrische Aspekt des Bildens von Geschichte immer noch allzu sehr am funktionellen Modell der geschriebenen Schrift, dem Wunsch nach Lineatur und Linearität fixiert ist. Aber warum sollte eine Biografie nicht auch in Momenten der Biopiktografie darstellbar sein? Warum diese Faszination für die Fotos, die wir von unserer Vergangenheit haben und das Erschrecken darüber, dass die Kontinuität unserer Selbstbeziehung tatsächlich brüchig, ereignishaft, traumatisch ist und dass wir also von uns selbst nur eine fragmentarische Vorstellung haben? Offensichtlich drohen mit dem Erscheinen der Fotografie als Grenzdarstellung von Ereignis die Ableitungsketten gesprengt zu werden. Das Aufkommen des Fotografischen führt demnach in einen Diskurs über anthropologische Konstanten im Spannungsfeld zwischen Angst und Freiheit des Selbstbildes von Subjektivität. Offensichtlich gerät nicht nur das Geschichtsbild, sondern auch der Betrachter desselben ins Wanken. Umso mehr muss er sich an die Illusion des Realismus halten: die Fotografie. Die vorliegende Problematisierung hat nicht zur Absicht, die ästhetischen oder künstlerischen fotografischen Techniken und Sujets zu untersuchen, sondern die Voraussetzungen und Folgen zu befragen, die mit der Realismusnormierung der Fotografie, die Kontinuitätsvorstellungen von Leben und Zeitfluss disparieren und dekonstruieren; eine Dekonstruktion deren Unheimlichkeit sofort durch filmische Techniken kompensiert wird, durch welche das Leben wieder eine literarisch-narrative Qualität mythischen Ausmaßes gewinnen darf.
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Die Fotografie schafft ein indexikalisches Bild, das auf physische Weise mit dem verbunden ist, was es darstellt. Die physische Vermittlung leistet das Licht. Dass das Licht selbst nicht sichtbar ist, bezieht sich das Schreiben mit Licht auf eine anthropologisch unhintergehbare Funktion von Schrift, also dem Resultat der Verräumlichung und Verdopplung, der Repräsentation menschlicher Hinterlassenschaft. Erst in der Verdopplung/Repräsentation eines „ersten“ Ereignisses (Schreiben) im zweiten (Lesen) wird der zeitliche Abstand gedächtnisbildend und invertierbar. Die Spur ist hier also tatsächlich eine Verräumlichung und eine Repräsentation von Zeitschnitten, wie sie die Gedächtnisfunktion und – als deren ausgezeichneter Initiant – die Fotografie leistet. In der Fotografie ist die Mimetik mit den Dingen, die sie abbildet, außerordentlich stark, in der alphanumerisch codierten Schrift dagegen gar nicht vorhanden. Es bleibt jedoch der gleiche hermeneutische Vorgang der Sinnbildung, eine Differenz und Überbrückung von imaginärem und realem Gedächtnisort, oder, traditionell, von Wahrnehmung und Erkenntnis. Nur, in der Schriftlichkeit der Fotografie fällt die Erkenntnis mit der Wahrnehmung zusammen. Erst in den Repräsentationsbrüchen, in ihrer Selbstpräsentifikation – sei diese surrealistisch, allegorisch oder technisch inszeniert – wird der Schriftaspekt von Präsentation (Foto) und Repräsentation (das auf dem Foto Dargestellte) wieder deutlich. Es gilt deswegen, den Identifikationszwang der Fotografie mit dem Fotografierten eigens als Differenz, als das Fotografische, Produkt der Verschriftung, zu lesen. Das bedingt auch eine Abwendung von rein ästhetischer Betrachtung, denn diese kombiniert ihre semantische Werthaltigkeit vornehmlich durch die Indifferenzierung von realen und imaginären Positionen. In den Kunstwissenschaften kommt das durch eine gewisse Technikabwehr zum Ausdruck, die durch eine medienwissenschaftliche Umcodierung der sozialen, anthropologischen und optischen Funktionen der Fotografie, wie wir sie hier vorschlagen, suspendiert werden kann. Die Probleme der Darstellung von Zeitverläufen betreffen die Normverschiebung, die wir heute den beiden Grundmedien Raum und Zeit und ihrer scheinbar absoluten Darstellung von kausaler Geschichte entgegenbringen. Nicht vom Ende, sondern von einer Denormierung, einer Vielfalt ist angesichts der Modelle der Inszenierung von Geschichte in ihrer Darstellung zu sprechen – und von einem medialen Grundzug, der die Schrift in ihrer klassischen Linearität aufzulösen beginnt. Nicht Anfang und Ende, sondern die Grenzverschiebungen, der Extremismus der Fotografie und ihre zugleich ubiquitäre synthetisierende Kraft bestimmen den Raum der Freiheit, ihre
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wirkliche Ausdifferenzierung und ihre „bildliche“, in den Proberäumen der Ästhetisierung und Medialisierung veranstaltete, inszenatorische Indifferenzierung, die ja zugleich das spezifische Arrangement zwischen Bild und Schrift, zwischen Erscheinung und Ereignis ausmachen soll. Man muss sich vergegenwärtigen, dass zu allererst die Schrift als „Aufschreibesystem“ es ermöglicht hat, Raum und Zeit normativ zu bemessen. Am Anfang der Schrift steht ein Umgang mit Zahlen, genauer: mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Ihre Kombination – gemäß der Funktionsweise eines Chronometers, der den Zeitlauf misst –, und des Chronographen, der die Zeitabschnitte misst und sie aus dem Verlauf heraushebt –, erzeugt erst die Rhythmik von Bewegung und Stillstand die von Imagination und Bildlichkeit. Die Substituierung des Kontinuierlichen unter das Diskontinuierliche erzeugt als Spur dieser unhintergehbaren horizontalen Operation eine Art Urschrift, die sich von der menschlichen Stimme radikal entfernt, weil sie die Freiheit bietet, Präsenz zu wahren, ohne dass der menschliche Körper anwesend ist. Der Ursprung dieser Befreiung, so die These von Derrida, ist Schrift. Damit ist überhaupt erst Geschichtlichkeit und Dokumentarität über die persönliche Präsenz hinaus möglich, aber auch notwendig. Erst aus diesem ursprünglichen medialen Schriftverständnis heraus ergibt sich die Möglichkeit der Frage nach der Besonderheit der Dokumentarität und der individuellen und kollektiven Gedächtnisbildung der Fotografie. Erst jetzt kann die Frage gestellt werden, welche Veränderung die Fotografie in ihrer 180-jährigen Geschichte, die im Grunde bis zur Entdeckung der Camera obscura zurückreicht, dem Bild der Geschichte angetan hat, das durch die Schrift beherrscht war. Ist es die Rückkehr des Körpers – seiner stimmlichen Präsenz, jetzt jedoch in Form der ständig begleitenden Prothese der Kamera – oder ist es das Erschrecken vor der unwiderruflichen Einmaligkeit eines jeden Augenblicks, der schockhaft im Gedächtnis sich fixiert, den das Foto hervorruft? Soll das Foto retten, was die Fotografie zerstört? Gemäß der Funktionsbreite der Fotografie und ihrer Möglichkeit der Denormierung und Renormierung der narrativen Phantasmen muss ausgeschlossen sein, dass es ein Wesen der Fotografie jenseits der Varianz subjektiver Zeitlichkeit gibt. Unter dieser Prämisse wird es beinahe unhaltbar, von der Fotografie zu sprechen, noch dazu, wenn man heutige Visualisierungsund Bildgebungsverfahren hinzuzieht oder wenn man das Fotografieren als gesellschaftliche Geste deutet, der kaum noch die Betrachtung des Fotos folgt. Fotografieren wird als Symptom einer Verkörperlichung des Gedächtnisses zur Kenntnis genommen. Die mediale Externalisierung von Gedächt-
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nis erfüllt aber eben jene Funktion der Urschrift, der Ablösung der Stimme vom Körper, die ein Mittel war, über die persönliche Anwesenheit, den eigenen Tod hinaus Präsenz zu schaffen. Dieses Fotografieren ist den Graffiti und den Kritzeleien an öffentlichen Objekten näher als der Raumsimulation von Bildern und Bildnissen. Es geht hier auch um die Kompetenz, sich gegenüber anderen in einer privilegierten Stellung zu befinden. Es geht um jene Vorgeschichte der Normierung, der Macht, der Herrschaft durch Schrift, die sich in der Komplexität der Inszenierung, des Fotografierens, der fotografischen Fixierung und ritualisierten Betrachtung in der Entwicklung der Fotografie herausgebildet hat und teilweise auch wieder verschwunden ist. Vorüberlegungen zur Gedächtnisbildung individueller und kollektiver Art, zu Imagination und Realisation, führen uns zu einer episodischen Beschreibung der Entwicklung des fotografischen Bildes seit seiner Fixierung zurück: – Beginnend mit der chemischen Fixierung von optisch erzeugten Bildern durch Niépce 1839 gilt das fotografische Verfahren nicht als Methode zur Abbildung, sondern als eine zur Erweiterung des Bestands des Visuellen. Niépce sah die Bildgebung, nicht die Nachbildung als Hauptaufgabe der Fotografie. Die Hervorbringung von Bildern, so Niépce, bedarf einer gleich komplizierten Prozedur der Ver- und Entschlüsselung (Aufnahme und Entwicklung) wie die von Schrift. Dem technischen Umstand mangelnder Abbildungsgenauigkeit sowie den langen Belichtungszeiten war geschuldet, dass zunächst die Frage der technischen Möglichkeiten der Fotografie, nicht die ihrer semantischen Verfeinerung, gestellt wird. Der Schlüssel lag im Bereich der Technik, nicht der Ästhetik. – Im Zuge der Daguerre’schen Optimierung ab 1839, der extremen Detailtreue des Unikats, gilt das als fotografierbar, was ohne künstlerische Auswahl der Elemente gleichberechtigt vom neutralen Auge der Kamera abgebildet werden kann. Der technische Aspekt verliert sich mit der Verkürzung der Belichtungszeit und der hohen Identifizierbarkeit der fotografierten Objekte. Das Foto gerät in den Sog einer Darstellungsfunktion, was die Manipulierbarkeit des Fotos im fotografischen Arrangement oder im fotografischen Prozess (Retusche) legitimiert. Das Objekt wird für das Foto inszeniert. Das Interesse am Fotografischen wird in den Diskurs um kunstwürdige Ästhetik verlagert. Die Frage, ob ein gutes Foto ein fotogenes Objekt benötigt oder ob eine fotogene Fotografie jedes Objekt ästhetisiert, entfesselt den Kanon wertästhetischer Diskurse. – Die Annahme eines sich auf ein Gegenwartsabbild verkürzenden Realitätsbegriffs durch die Ubiquität fotografischer Abbildungen (Einführung
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des Negativs durch Fox Talbot um 1860, Vereinfachung der Aufnahme und chemischen Vorgänge um 1890) führt zu einer Gleichsetzung von Bild und Abbild. Das Phantasma eines „Flusses der Zeit“ wird – analog einer performativen Schriftidee – in eine hybride allegorische Fotografie (Piktoralismus, Inszenierte Fotografie) abgeschoben, die den Fotografen als Künstler, nicht mehr als experimentellen Wissenschaftler profiliert. Das „Schreiben mit Licht“, die Fotografie als „Pencil of Nature“, macht einer realistischen Sichtweise nach Vorbild der Fotografie Platz. Das bevorzugte Motiv: die familiale Versammlung – die Totalisierung der Genealogie auf einem Bild. Die Trennung von Schriftlesung und Präsenzereignis führt zu einer antagonistischen Diskursausformung: Das Foto wird rubriziert unter dem Begriffspaar „Ähnlichkeit/Gleichheit“, das Fotografische unter dem von „Schrift/Textur“, Bildlichkeit unter dem von „Unähnlichkeit/Konventionalität“. Diese Differenzierung sucht in der kunstwissenschaftlichen Unterscheidung von Dargestelltem und Stil der Darstellung eine Versöhnung. Wie in der Allegorie des Barocks gilt es, im Foto die Details und Fragmente kompositorisch zu interpretieren und mit dem Wissen des Fotografischen abzugleichen. Ziel ist es, die Amateurfotografie aus dem fotografischen Diskurs auszublenden und dem professionellen Fotografen eine umfängliche praktische Kompetenz und theoretische Legitimation zuzugestehen. – Im Zuge eines Kunstanspruchs bildender Fotografie – mit der juristischen Zuschreibung des Eigentumsrechts an der Bilderfindung sowie der Autorisierung des Bildes unter dem Namen des Fotografen – versucht die Fotografie, den technisch-maschinellen Abbildungsaspekt zugunsten des Ästhetischen in den Hintergrund zu rücken. Damit entzieht sie dem Foto den Wert eines indexikalischen, dokumentarischen Zeugen einer jedoch durch sie rückvermittelten Wirklichkeitsauffassung. Die Doppelgesichtigkeit des fotografischen Verfahrens – Abbildung (objektiv) und Bildgebung (subjektiv) – zu identifizieren, ohne Produktionsopfer zu offenbaren, diskreditiert jeden absolut dokumentarischen Wert der Fotografie. Ihre Geschichtlichkeit wird erkannt. – Der Kunstanspruch der Fotografie verlagert sich schließlich von der Inszenierung vor der Kamera in eine Inszenierung durch die Kamera: einerseits in der Fixierung des glücklichen Moments durch Zufall oder Genialität, andererseits in der Extravaganz des Umgangs mit den fotografischen Verfahren, Stilen und Manieren. – Mit der Digitalisierung der Aufnahme und der Befreiung der Fotografie vom Negativ sowie mit der journalistischen und werblichen Trennung von
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Abbildungsaufgaben des Fotos konturiert sich die Grenze zwischen Bild und Schrift erneut als Membran von Zeigen und Lesen, Wahrnehmen und Wissen. Bezugsgröße ist jetzt nicht mehr die Fotografie, sondern die Erstellung und Kombination visuellen Materials in allen Medien. Die Überschreitung und Befreiung betrifft temporale (Foto, Film, Video) wie räumliche (Fernrohr, Mikroskop, Satellit) und substanzielle Varianten (Röntgen, Laser). Für einen gemeinsamen medialen Ursprung von Überschreitung (Transzendierung von Abwesenheit und Anwesenheit) argumentiert in den 1960er Jahren Jacques Derrida mit einer medialen Logik der Spur. Im Sinne der Spur sind alle „Aufzeichnungssysteme“ (Kittler, um 1980), die die unmittelbare Körperlichkeit und mittelbare Leiblichkeit verlassen, Schriftspuren. Die Stimme, die sich vom Körper nicht trennen lässt, ist davon ausgenommen. Relevant für die Befreiung des Schriftbegriffs vom Paradigma „Abbildungsfunktion der Stimme“ wird die Ablösung von Sinnenpräsenz und somit die Ermöglichung von Imagination für einen anderen als Sinnkontingentierung. Dort, wo Sinne nicht hinreichen (Personen und Sachen sich nur in Spuren hinterlassen), tritt Sinn in Form narrativer „historisierender“ Imagination auf. Gerade weil das Foto stets fragmentarisch ist, erweckt es eine Kontinuierung als Geschichte. Dafür muss aber der Begriff der Totalität einer Aufnahme (etwa im Sinne des Stilwillens von Cartier-Bresson) aufgegeben werden. Das Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit wird auf eine anthropologische Grundlage gestellt; derart, dass auch Anthropologie und Genalogie der Aufzeichnungssysteme nicht mehr nur durch den Machtdiskurs von Historie und Technik, sondern in Abhängigkeit des gesamten Fotografiediskurses gelesen werden müssen. Das Foto als optisches Ergebnis nimmt dabei die äußerste chronographische Grenze einer in Präsenz erstarrten Aufzeichnung ein. Im Vergleich zur Schrift hat das Foto die Funktion der Zahl, eines Datums – wie auch immer serielle Fotografie, Fotoessays etc. beschaffen sein mögen. Im Prozess der Auflösung technischer Einzelmedien in Medienübergänge spielt der Schrift-Bild-Übergang eine zentrale Rolle. Wie er realisiert wird, wie Wahrnehmbarkeit oder Nichtwahrnehmbarkeit als „Fluss“ oder „Element“ kombiniert ist, lässt sich in einer Grammatologie erfassen. Physiologisch ist diese Erfassung an die Choreografie von imaginierendem Lesen oder präsentischer Wahrnehmung gebunden: In der Präsenzfixierung und Erinnerungsbildung der Fotografie haben beide grammatologischen Vollzugsformen der Zeitlichkeit ihren widerstreitenden Anteil: unmögliche Dauer und
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unmögliche Präsenz. Auf der einen Seite steht die Fotografie als Markierung eines szenischen Sehens, in dem Raum und Zeit künstlich einer Hemmung unterzogen werden; auf der anderen Seite hintertreibt der Prozess der Wahrnehmung einer Fotografie – alle Wahrnehmung ist dynamisch – eben jene Situativität der Fotokamera und fordert von der Fotografie, im Prozess ständiger Selbstüberschreitung, ihrer Todessimulation, ein lebendiges Bild abzugeben, das der statischen Aufnahmesituation widerspricht. Hier kann eine szenologische Analyse der Fotografie zeigen, dass diese nicht nur die Widersprüchlichkeit simuliert, sondern zum Symptomausweis einer Gesellschaft wird, die bis heute die Pflicht aufmerksamer Selbstpräsenz (Memoria) mit dem hypnotischen Druck illusionärer Selbstauflösung in „Gesellschaft“ und „Vergemeinschaftung“ balancieren muss und grammatologisch und szenologisch moderiert. Das Verhältnis von Bild- und Schriftlektüre in der Pädagogik seit Comenius‘ Orbis sensualium pictus bietet ein auch historisch eindrucksvolles Beispiel dieses Widerstreits. Ihr Selbstdementi verfolgt die Fotografie durch ihre beständige rauschhafte Überschreitung im nächsten und übernächsten Foto, im seriellen und automatischen Fotografieren als unerlöste Form des Schreibens über Fotografien. Aufmerksamkeit und Zerstreuung, so Benjamin, beziehen sich weniger dialektisch als ökonomisch – in der Medienkonkurrenz – aufeinander. Der Film, der der Fotografie eine Dynamik verschaffen könnte, erweist sich nur als Rückschritt in die narrativen Erzählmuster, die schon die romantische Literatur vor Entdeckung der Fotografie zu visionieren wusste. Nach einer notwendigerweise selektiven Lektüre der Diskurse über Fotografie und das Fotografische in Bezug auf eine gemeinsame Schriftgenealogie gilt es, auf den medienphänomenologischen Ausgangspunkt zu schließen, der die Besonderheit der Fotografie im Medienverbund abgrenzt und gleichzeitig ihre Geschichtlichkeit und – wie diagnostiziert wird – ihre Vergänglichkeit aufklärt. Der Aufklärungsgehalt findet sich in einer genealogischen Betrachtung der Fotografie als Bildgebung, Herstellung von synchroner Präsenz, sowie der Prädisposition eines konkreten Raums und einer konkreten Datierung. Es soll erfasst werden, dass Fotografie die Abbildung einer Wahrnehmung sein soll, die durch sie einerseits normiert wird, andererseits selbst einem diskursiven, technischen, ästhetischen und sozialem Wandel unterworfen ist. Schon Schopenhausers 1819 in seiner Kantkritik (Die Welt als Wille und Vorstellung) geäußerte Diagnose, dass Raum, Zeit und Kausalität nicht a priori gegeben, und der geschichtliche Weg nicht vorgezeichnet sei,
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diskreditiert die Vorstellung, man könne jedem Datum ein Ereignis zuordnen. Es ist geradezu der Streit um diese Zuordnung, der die identifizierende Lesung eines Fotos interessant macht, ohne dass jeweils das Apriori hinterfragt werden muss. Die vorliegende Diskursanalyse zeigt kein Interesse an innerbildlichen, typografischen, sprach- oder schriftsystematischen Darstellungen, die immer schon von einer empirisch überprüfbaren Präsenz ausgehen, von der die Schrift das Negat – begriffliche Idealisierung – ist. Historische Untersuchungen dieser Art machen aus den Problemen der Ikonoscripturalität eine Fahndung nach Indizien, ohne den Unterschied von Indiz und Spur zu würdigen. Die Spur im Derrida’schen Sinne ist der notwendige irreversible Opfervollzug einer menschlichen Hinterlassenschaft, während das Indiz in der Kette der Realdokumente einen möglichen Platz beansprucht. Indizien lassen sich vermeiden und inszenieren, Spuren nicht. Der Ursprung von Verschriftung ist nicht in den Schriftensystemen zu suchen. So kann der Untersuchungsgegenstand auch nicht die einzelne fotografische Aufzeichnung oder die konkrete Form des Schreibens, sondern nur das „Fotografische“ (nach Rosalind Krauss) oder, wie Roland Barthes in phänomenologischer Methodenrücksicht sagt, „das Noema der Fotografie“ herausarbeiten. Das Spezifische des fotografischen Schreibens – unerachtet aller fotografischen Verfahren und Techniken – ist dem Begriff nach dreiphasig: a. das Aufschreiben einer synchron versammelten Gegenständlichkeit, b. seine Realisierung, Präsentifizierung durch ein optisches System (ob perspektivisch, anamorphotisch oder planaffin) und c. seine Inbesitznahme und Archivierung. Alle anderen Aufzeichnungssysteme (Film, Malerei, Plastik etc.) sind mehr oder weniger an Darstellungs- und Rezeptionsformen von zeitlicher Veränderung geknüpft. Wird das Fotografische auf „Vergegenwärtigung“ von „vergangenem Gegenwärtigen“ (Barthes) festgelegt, muss man das Paradoxon der Zeitanschauung von „Fluss“ und „Augenblick“ als fotografische Differenz ebenso entzaubern wie die Unabänderlichkeit der Medien (chronometrische) Zeit, (cartesianischer) Raum und (normative) Herrschaftsgeschichte. Selbst die Langzeitbelichtung in den frühen Jahren der Fotografie erfordert mehr oder weniger die „Totstellung“ ihrer Objekte, im Ideal also die vollständige Verwandlung der Zeit in einen fotografischen Raum, d.h. die Simulation der ewigen Dauer, die zugleich die Mimikry des Todes ist. Die Frage, inwiefern und unter welchen Bedingungen es „artifizielle Präsenz“ im Gegensatz zum Paradigma des „Fließens der Zeit“ gibt, zielt auf die präscripturale Konstitution der Medien von Raum (Simultaneität) und
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Zeit (Datierbarkeit). Sind „Raum-“ (Aufzeichnungsfläche) und „Zeitvorstellungen“ (Spurenlegung) nicht rekursive Effekte von Schriftspur? Schafft nicht jede Spur zugleich ihre Ermöglichungsbedingungen: einen spurenlosen Raum (die substituierte, leere Aufzeichungsfläche) und eine Zeit der Anwesenheit und der Abwesenheit (den performativen Schreib- bzw. Lesevollzug) in ihrer signifikanten Verkettung? Die Erschaffung artifizieller Präsenz war noch nie an den Gegensatz von Bild und Schrift, sondern an den einer handlungspraktischen Zurüstung gebunden: an den von Ritual und Konvention. Die Instrumentalisierung der Zeit in ihrer schriftlichen Darstellung (Geschichte, Erzählung) beginnt im Übergang von nomadischen (relativ besitzlosen) zu agrarischen (sesshaften) Kulturen, mit der Aufzeichnung von Besitz und Arbeitskraft in Quantität (Zahl) und Qualität (Buchstabe). Der Besitz erweist sich als Realabstraktion der Zeit, als dauerhaft und vererbbar, darf aber die Umwelt- und Sozialveränderungen in der Zeit nicht blockieren. Die Qualität seiner Dauer wird mit der archivalischen und rechtlichen Funktion der Schrift gleichgesetzt. Die Urschrift (Vorschrift) ist das Gesetz. Das Paradigma vom unaufhaltsamen „Fluss der Zeit“, das sich als Metapher früher Uhrensysteme (Wasseruhr, Sanduhr, Kerzen) in der Antike etabliert, entspricht keinem adäquaten Begriff der Präsenz, sondern ist Supplement des Besitzes: d.h. der relativen Begrenztheit der Lebenszeit und seines in Arbeitseinheiten gemessenen Sinns. Noch dem idealistischen Begriff des Bewusstseinsflusses ist die Quelle eines historisierenden Denkens anzusehen, dem das instantane, plötzliche Bild, wie das der Idee, immer als Einbruch der Maske des Todes, als epiphaner Schrecken auch von Enteignung vorgekommen war. Noch die Allegorie spricht mit ihrer Verknüpfung von Wissen und Wahrnehmen die Melancholie der Vergänglichkeit und damit das in Unordnung geratene Tauschverhältnis von Sinnlichkeit und Sinn an. Präsenz wird ein Temporalmodus zu spät kommender Vergegenwärtigung: ein Subjekt, das im Rückgriff auf Wahrnehmung nur reflexiv im Bilde sein kann, das sich selbst – anders als fotografierbare Objekte – nicht in Besitz nehmen kann. Was nicht im Bilde ist, ist medialisiert bzw. unbewusst, determiniert durch den anderen oder durch situative Praxis. Jedes fotografische Porträt verkündet die Vergänglichkeit des Menschen. Sie zu sublimieren ist die Aufgabe inszenierender Medien, die – objektabbildend – an den Körper herantreten. Die Exklusivität der Stimme in der Psychoanalyse ist das genaue Gegenstück der Möglichkeit sich ablösender Selbstverdinglichung. Das Symptom bleibt am Körper haften.
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An Anfang der Genealogie der Fotografie steht so die Problematisierung von konventionalisiertem Raum und Zeitlichkeit, in die hinein sich die Spur als Unterschied von Individualität und gesellschaftlicher Konvention einprägt. Der fotografische Diskurs lebt von diesem Streit, verkürzt ihn jedoch allzu oft auf ein ästhetisches Problem, statt den genuinen Medienschriftcharakter zu bemerken: Die fotografierende Person schreibt sich auf doppelte Weise in die Welt ein. Präsent und apräsent zugleich, muss die unendliche Kette der Fotografien die Illusion jener Dauer evozieren, die der Film künstlich erzeugt. Die Provision des Fotografen in dieser Ökonomie der Inbesitznahme besteht – im Unterschied zum Film – darin, jederzeit anhalten und reflektierend verweilen zu können. Reflexion heißt, auf zwei Weisen – nicht: verdoppelt – in der Welt zu sein. Niépce hatte von der Genealogie, der komplexen, komplizierten und tastend optimierten Entwicklung und Fixierung des Bildgebens und -nehmens wohl noch eine Ahnung. Er wusste: bevor ein Foto gemacht werden kann, muss der Raum des Fotos, das Fotopapier, einer sorgfältigen chemischen Behandlung unterzogen werden. Aus dieser Raumreinigung ergab sich dann der Prozess der mehrstündigen Belichtung, der Reinigung der Zeit. Zugleich mit den experimentell ermittelten Licht- und Belichtungsbedingungen der Aufnahme wurden Raum (Ort) und Zeit (Datum) bestimmbar und konnten im fixierten Foto an den Gegenständen der Abbildung identifiziert und in eine Geschichte eingebettet werden. Medialisierung und Elementarisierung entsprangen beinahe noch ein und derselben Technik: Die Kamera war eine Uhr mit Ortsangabe, ein Zeitbildwerk. Gemäß dem Anspruch, die Geschichte der Ereignisse medial zu demokratisieren, ist die Konzeption des Buches dreigliedrig. Der erste, diskursanalytische Abschnitt besteht aus Fragmenten, Zitaten autorisierten Stimmen zum fotografischen Komplex und seinem Raumzeitbezug. Den Referenzkern bilden Ausführungen von Derrida (Spur), Barthes (Noema), Heidegger (Zeitlichkeit), Baudrillard (Inszenierung) und Benjamin (Rezeption). Von letzterem stammt die im Passagen-Werk gefasst Idee, ein Buch ganz aus Zitaten zu schreiben, gleichsam das fragmentarische Bild des Jahrhunderts der Fotografie als Schriftbild dem Leser zur Kontinuierung anzubieten. Da die Quellen methodisch und inhaltlich sehr heterogen sind, die Aussagen sich mitunter widersprechen, kann vom Leser entweder erwartet werden, sich nur dem jeweiligen Fragment allegorisch zu widmen oder die fragenden Kommentare, Hinweise, Interpretationen als spurenlegend
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zu betrachten und die Widersprüche nachzuvollziehen. Dabei ist durchaus auch eine andere als die avisierte Ordnung und Titelgebung der Abschnitte möglich. Der einfacheren Lesung geschuldet sind die Auslassungen und Verbindung der Fragmente entgegen der wissenschaftlichen Routine nur durch drei Punkte gekennzeichnet – auch wenn es sich um Auslassungen ganzer Abschnitte handelt. An ganz wenigen Stellen ist deshalb auch die Wortreihenfolge sinngerecht geändert worden. Auf eine Vereinheitlichung der historischen und nationalsprachlichen Schreibweisen von „Fotografie“ wurde verzichtet. Die durch gekennzeichneten Kommentare sind ungeduldige Vorgriffe des Autors auf eine argumentative Narration, dienen einer historischen, systematischen Zuordnung oder Infragestellung. Der zweite Teil „Nachgang zur Bildschriftlichkeit der Fotografie“ gibt eine Orientierung vor, wie das Forschungsfeld der „Ikonoscripturalität“, auf Fotografie angewandt werden könnte. In einer essayistischen Form gilt es, eine auf mehrere Perspektiven ausgelegte Erzählung zu arrangieren, die gemäß der Form den Anspruch auf Universalisierung zu hintertreiben hat. Diese „Erzählung“ ergibt sich aus den vorangehenden diskursanalytischen Fragmenten, hinter denen wiederum eine selektive Lektüre als Ganzheit ausgelegter Texte steht. Ausgespart sind weitestgehend ästhetische, fotografiehistorische und technische, nicht aber soziologische und philosophische Bezüge. Der dritte Teil der Darstellung besteht in den eingebundenen fotografischen Vignetten. Ihre beiläufige allegorische Funktion liegt darin, die durch Abstraktion herausgeforderte Imagination zu entlasten. Ihre Sinnenperspektive ist performativ, weitestgehend zufällig und versucht das Fotografieren gegen das Foto in Stellung zu nehmen. Denn soziologisch und philosophisch gesehen produziert sich das Fotografieren als praktische öffentliche Handlung. Nicht mehr so sehr als Foto, sondern in der Szene und Inszenierung des Fotografierens selbst, der performativen Einschreibung von Datensätzen und Programmvorschriften, von Codes und Konventionen, resultiert das Fotografieren. Die Handlung kommentiert eine für den Augenblick versicherte und sofort überschrittene und somit in Bezug zur Vergänglichkeit und Ewigkeit gesetzte ängstlich verdrängte Wirklichkeit. Meerbusch/Biel, Herbst 2018
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DISKURSFRAGMENTE: ZUR BILDSCHRIFTLICHKEIT VON FOTOGRAFIE
I. DIE SCHRIFT VOR DER SCHRIFT In Anspielung auf eine Wissenschaft von der Schrift, die noch an die Metapher, die Metaphysik und die Theologie gefesselt ist, soll die Devise mehr als nur ankündigen, daß die Wissenschaft von der Schrift – die Grammatologie – dank entschiedener Anstrengungen weltweit die Zeichen zu ihrer Befreiung setzt. Jacques Derrida, Grammatologie, 13f
Eine gewagte Irritation: das „Wesen der Fotografie“ von seiner Schriftlichkeit aus zu erkennen – ohne zu wissen, was das Wesen der Fotografie ist. Und das Wesen der Schrift? Wir sollten voraussetzen, dass Bild und Schrift zuerst Aufschreibesysteme (Friedrich Kittler)
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sind: konventionalisierte Verbünde von Aufzeichnungs-, Speicherund Abspieltechniken zum Zwecke der Körperdispensierung. Zu diesen gehört die Stimme nicht. Derridas früher Schriftbegriff meint nicht die Spezifik einer analogen oder abstrakten Schrift, sondern die anthropogene Fähigkeit, sich unabhängig von der Präsenz zu manifestieren. Gegen die Linguistik seiner Zeit setzt er seine unabhängige Untersuchunge einer Schriftgenealogie. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können. Jacques Derrida, Grammatologie, 18
Gemeint ist Spiel der Medienübergänge und Präsenzen. Deren Schrift ist Programm, deren Visualität heute der Leuchtschirm. Wenn Derrida Mitte der 1960er Jahre die Frage nach der Dominanz und zugleich nach der Transparenz der Schrift stellt, dann meint er die beiden im Buch vereinten Codierungen: Schrift und Bild. Gerade weil „die Medien“ noch nicht gedacht sind, wird der Begriff „Schrift“ für ikonische wie arbiträre Zeichensysteme synonym verwendet. Nicht aber die Zeichen selbst, sondern ihr Spiel in der Zeit, die Grammatologie ist, was Derrida hervorkehrt und gegen die Vorstellung eines punktuellen Ereignisses (Zeichen) neu ins Licht setzt. Technik im Dienst der Sprache … Wir sind im Gegenteil davon überzeugt, daß eine bestimmte Art der Frage nach dem Sinn und dem Ursprung der Schrift einer bestimmten Art der Frage nach dem Sinn und dem Ursprung der Technik vorangeht oder daß beide zumindest ineinander übergehen. Niemals wird deshalb der Begriff der Technik ohne weiteres den Begriff der Schrift erhellen können. Jacques Derrida, Grammatologie, 19
Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich … ein Bereich der Schrift sein. Jacques Derrida, Grammatologie, 21
Die relativ späten Differenzierungen der Buchstabenschrift ist nicht jene Schrift, von der Derrida spricht: Er betrachtet eine Schrift,
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die eine Verräumlichung der Zeit als Rhythmisierung erschafft. Insofern ist die Musik das Analogat seines Schriftinteresses. Wenn beim Klopfen der Steine oder beim Gehen im Sand Spuren zum Zwecke des Deutens hinterlassen werden, so ist das Schrift – in völliger Unabhängigkeit von der Stimme. Schrift ist ein Raum und Zeit erst bildendes Gewebe; Urszene, in der das Subjekt, anders als im Sprechen, seine körperliche Anwesenheit suspendieren kann. Deswegen gilt jede Verschriftung als Akt der Befreiung und als Voraussetzung für Selbstdistanzierung. – Die eigene Abwesenheit aushalten können, den Tod lernen, die primäre Genese von Raum und Zeit – darin sind nun Derridas Schriftbegriff und die Fotografie verwandt. Das Projekt der Schriftikonik unternimmt den Versuch, die Lücke zwischen den Parallelansätzen zu schließen, d. h. Grammatologie und Ikonologie, Schriftwissenschaft und Bildwissenschaft nicht nur konvergieren zu lassen, sondern unmittelbar zu verbinden. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 16
Das Bild geht ebensowenig wie die Schrift in der Sprache auf. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 17
Auch hier gilt es, eine Hierarchisierung aufzubrechen. Bild, Schrift und (gesprochene) Sprache gelten als gleichursprünglich, insofern Bild, Schrift und Sprache strukturelle Differenzen, d.h. raumzeitliche Unterscheidungen erst realisieren. Die Einebnung einer Fläche als Mittel/Medium der Einschreibung ist selbst schon einen Spur – aber eine, die sich der Einschreibung unterwirft/substituiert/opfert. Das kantische Apriori von Raum und Zeit weicht also einem Ursprung, der sich synchron vollzieht; einer Teilung, deren „Vereinigungswille“ unendlich, medial-zeitopfernd sich aufschiebt/differiert. Deshalb erschließt sich das Wesen des intentionalen Bewußtseins … einzig im Medium der Reduktion der Totalität der existierenden Welt überhaupt. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 74
Die Schrift ist also das Medium der Selbstdistanzierung. Der Derrida’sche Jargon ist philosophisch. Wir können das Ereignis der Medialisierung als Datum Verwirklichung oder Wirklichkeit nen-
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nen, ein Ereignis, das in der medialen Kette sich jedoch sofort auslöscht. Das effektive Ereignis, sein Ursprung, teilt sich – im wörtlichen Sinne – mit. Der Sinn der Schrift liegt ja nicht in den Zeichen, sondern in deren Verkettung, z. B. dem Satz (nach Austin). Der Satz ist eine grammatologische Einheit. Das Substitutions- oder Auslöschungsverhältnis eignet nach Husserl auch dem „Bewusstsein“. Bewusstsein kann kein leeres Medium sein, in dem sich etwas einprägt. Bewusstsein ist ein Sich-Ereignen-der-Differenz, das im Außen zum Stehen kommt: in der Schrift als Bild und somit auch als Ding. Die Arten der Rückbeziehung auf eine temporalräumliche Einheit nennt Derrida „différance“ (Aufschub). Denn mit jeder Sinnentwicklung schiebt sich die Differenz wieder in die Einheit und füllt die Bibliotheken. Der Effekt ist also Archivierung, Gedächtnisbildung und wiederum Konventionalisierung eines gesellschaftlichen Gedächtnisses in Schrift. Die Fotografie bildet primär jenes Medium, dass die Zeit der Präsenzen in die Dauer stellt. Das, was der Fotograf aufnimmt, wird zur (vergangenen) Präsenz. Die chronologische und chronographische Logik der Präsenz- und Erinnerungsbildung ist, was uns interessiert. … Schriftikonik untersucht Bildphänomene der Schrift in kultur- und medienkomparativer Perspektive. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 18
Fraglich ist der Fetischismus gegenseitiger Übersetzbarkeit, als müsse sich die eine Seite jeweils in der anderen metaphorisch sichern und archivieren. Bild und Schrift als Spur, jenes ursprünglichen Seinrisses (Sartre) von Form und Medium, von Elementarität und Kontinuität, von System und Umwelt, werden wie zwei Steine aneinander geschlagen, deren Funken neues Wissen hervorzubringen versprechen. Der Profit des Funkens überstrahlt das Opfer der Übersetzung. Das Objekt ist dagewesen, nun aber abwesend im Foto präsent. Das ist die Urszene der Befreiung der körperlichen Anwesenheit durch Schriftlichkeit der Fotografie, und ihre Bannung im Foto. … Gramma – oder Graphem – der Name für das Element. Dieses Element wäre kein einfaches. Jacques Derrida, Grammatologie, 21f
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„Gramma“ (griech.): Spur, Linie, Ritzung. Die Spur ist eine Verräumlichung des anwesend Gewesenen. Ihre Deutung imaginiert den/ das Abwesende(n). Zeitlich gesehen ist von einem Sog der Leere zu sprechen, die zur Imagination und zur Interpretation zwingt, denn das Abwesende gibt immer ein Rätsel auf – auch in der Fotografie, die per se eine fragmentarische, zitathafte Totalität in den Blick nimmt. „Gramma“ ist also stets eine Relation oder Funktion der Aufmerksamkeit; eine Frage, kein Ding und kein Zeichen. Die Spur ist Spur für sich, sie schafft performativ durch sich selbst ihren Kontext. Man könnte eine Fotografie auch als Zitat bezeichnen und dementsprechend einen Fotoband als Zitatenschatz. Und es wird tatsächlich immer gebräuchlicher, Bildbände zu veröffentlichen, in denen jedem Foto ein Zitat beigegeben wird. Susan Sontag, Über Fotografie, 73
Realität ist – Wirklichkeit geschieht … Wirklichkeit ist ein dynamischer Ereignisbegriff, zu dessen Aktualisierung es menschlicher Teilnahme bedarf, und zwar sinnlicher, lebendiger Tätigkeit – eben jener „Praxis“, die Karl Marx in der ersten Feuerbachthese formuliert hat. Andreas Haus, Fotografie und Wirklichkeit, 89
Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus {den Feuerbachschen mit eingerechnet} ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 5
Wir nennen real im besonderen Sinne an einem Realen im weiteren Sinne all das, was seinem Sinn „ all das, was seinem Sinne nach wesensmäßig durch die Raum-Zeitstelle individuiert ist, irreal aber jede Bestimmung, die zwar ihrem raumzeitlichen Auftreten nach in spezifisch Realem fundiert ist, aber an verschiedenen Realitäten als identische – nicht bloß gleiche – auftreten kann.“ Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, §65 Zitiert nach: Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 121
Das Reale der Fotografie ist die Bestimmung einer Zeitstelle, die Datierung und die Lokalisierung eines Präsenzereignisses.
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Fotos – und Zitate – werden, da sie als Teile der Realität gelten, für authentischer gehalten als umfangreiche Erzählwerke. … Man kann das Zitatensammeln als bloße ironische Nachahmung – als Sammelleidenschaft, bei der es keine Opfer gibt – betrachten … Aber die alte Welt kann nicht erneuert werden – schon gar nicht durch Zitate; und dies ist der beklagenswerte, donquichotteske Aspekt der Fotografie. Susan Sontag, Über Fotografie, 76-78
Sontag rekurriert auf Benjamins Begriff des Fragments und auf dessen Versuch, mit dem „Passagen-Werk“ ein Buch zu konzipieren, das wesentlich aus Zitaten besteht – Bildzitaten inbegriffen. Der Versuch, die Gegenwart zweimal zu erleben – einmal wirklich und einmal in der Erinnerung –, muss fragmentarisch bleiben. Der Barock half sich mit einem Trick: Ludwig XIV. erklärt die Inszenierung seiner selbst zur Staatsraison, indem er sich in Versailles zum Herrscher über den Blick aufgeschwungen hat. Es ging nicht um die Inszenierung als Verdopplung, sondern um Inszenierung als Realitätsmacht. Zitat und Wirklichkeit sind in der Inszenierung des Barocks identisch: Ludwig XIV. ist und spielt Ludwig XIV. Da jede Fotografie ein Fragment ist, hängt ihr moralisches und emotionales Gewicht von der Umgebung ab, in die sie gestellt ist. … Weil das Foto immer in einem Kontext steht, bleibt seine Aussage dem Augenblick verhaftet. Susan Sonntag, Über Fotografie, 104f
Die Geschichte und das Wissen, historia und episteme waren schon immer … Umwege im Hinblick auf die Wiederaneignung der Präsenz. Jacques Derrida, Grammatologie, 23
Die „différance“, so der Neologismus Derridas, besagt: Wenn es Sprache und Schrift gibt, muss etwas als Ort der Aufzeichnung in Szene gesetzt werden: der flache Sand, auf dem sich der Fussabdruck abzeichnet; das Blatt Papier, rein und weiß etc.; all dies geht der Schrift als Vorschrift (Medialisierung) voraus. Es muss „Vorschriften“ darüber geben, wie und wo Schrift als differentielle Struktur wahrgenommen wird. In dieser Vorstufe (Provisorium) ist der Unterschied von Bild und Schrift noch nicht relevant. Raum und Zeit sind selbst Medienproduktionen des Menschen und kein göttliches Apriori. Der
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Aufschub konstituiert sich als Sinn und substituiert das Opfer des fehlenden, weil nie stattgehabten Ursprungs nur in einer Nachträglichkeit. Es interessiert uns nicht Schrift (Typographie) im Foto, sondern das Vor-Schriftliche der Fotografie, d.h., wie sich in ihr spezifisch Zeit als Raum spationiert und texturiert, wie sich in ihr gleichsam das ursprüngliche Ereignis in einem augenblickhaften Bild simuliert. Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge. Jacques Derrida, Grammatologie, 29
Derridas dekonstruktivistische Kritik am abendländischen Phonozentrismus schließt sich mit einer Kritik am westlichen Okularzentrismus kurz. Brigitte Mersmann, Schriftikonik,14f
Der Schrift wird nun erstmals das Primat über die Lautsprache zuerkannt. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 23
Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem. Auf der anderen Seite aber wird die Schrift im metaphorischen Sinn, die natürliche, göttliche und lebendige Schrift verehrt; sie kommt an Würde dem Ursprung des Wertes, der Stimme des Gewissens als göttlichem Gesetz, dem Herzen, dem Gefühl usw. gleich. Jacques Derrida, Grammatologie, 33
Die natürliche Schrift ist unmittelbar an die Stimme und deny Atem gebunden. Ihr Wesen ist nicht grammatologisch, es ist pneumatologisch. Jacques Derrida, Grammatologie, 33
„Natürliche Schrift“ – das ist die Unmittelbarkeit der körperlichen Präsenz als Stimme. Keine Verschiebung im Raum, keine Verschiebung in der Zeit. Die Schrift ist nicht das Hilfsorgan der Stimme. Die Schrift ist jene Selbstvergessenheit, jene Entäußerung, das Gegenteil des verinnerlichenden Gedächtnisses, der Erinnerung, welche die Geschichte des Geistes eröffnet. Jacques Derrida, Grammatologie, 45
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Die nicht-phonetische Schrift zerbricht den Namen. Sie beschreibt Relationen, nicht Benennungen. Jacques Derrida, Grammatologie, 47
Was anwesend ist, braucht sich nicht auf Erinnerung zu verlassen. Schrift dient der Veräußerlichung des Innen, aber sie dient auch der Selbstdarstellung der Ritualität, d.h. der Wiederholungs-/Gedächtnisformen die eine Gruppe von Menschen synchronisiert. Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Linguistik; sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt. Ferdinand des Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 28 Zitiert nach: Jacques Derrida, Grammatologie, 55
Das Gegebensein der Sprache im Sprechen ist durch und durch im Fluß. Das gilt für die kontinuierliche Veränderung des Sprachsystems in Raum und Zeit, und das gilt erst recht für die Flüchtigkeit des Wortes. Die sprachwissenschaftliche Untersuchung kann also erst einsetzen, wenn diese Fluidität des Sprechens gebannt ist, wenn das kontinuierliche Verschwinden des Wortes im Fluß der Mitteilungen aufgehalten wird. Aufzeichnungstechniken kommen damit unvermeidlich ins Spiel: Erst durch die Schrift kann Sprache als ein Gegenstand fest„gestellt“ und dar„gestellt“ werden. Das Medium der Schrift wird so zur Bedingung der Möglichkeit von Sprachwissenschaft. Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 81f
Alle Arten der Verlautung und des Äußerungsvollzugs werden derzeit unter dem Begriff „performative Sprachhandlung“ wieder verflüssigt und zugleich in die Ökonomie einer Produktion verlagert. Das gilt auch für die Fotografie, die in extremer Weise die Gegenwart des Menschen „stellt“, in ein „Gestell“ bannt – um den Begriff Heideggers aufzunehmen, der die Bannung der Zeit und ihre Vergegenständlichung als Merkmale der Gesellschaft des (fotografischen) Bildes konstatiert. Das Wesen des Fotografischen ist nicht in seinem Vermögen, die Raumsituation wiederzugeben zu suchen, sondern Raum als Objektivation einer Zeit zu markieren. Nicht die Detailtreue eines Porträts, sondern die Veränderung, die am Porträtierten festgestellt werden kann, prämiert das Wesen der Fotografie. Der Ext-
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remismus der Fotografie etabliert den Gegensatz von Ereignis und Dauer zugleich mit dem paradoxen Wunsch nach ihrer Vereinigung. Dieser Widerstreit etabliert sich in der Aufmerksamkeit, die dem Foto in seiner Frühzeit entgegenschlägt. Wenn aber alles fotografiert wird, erlahmt diese Aufmerksamkeit: Das Foto wird zum reminiszierenden Protokoll. Balzacs fantasievolle Theorie, daß sich der Körper aus zahllosen „geisterhaftunkörperlichen Bildern“ zusammensetzt, wie er sie Nadar anvertraute, hat ihre Entsprechung in der vermeintlich realistischen Theorie, die in seinen Romanen zum Ausdruck kommt … Das Begreifen der Wirklichkeit als eine endlose Kette von Situationen, die einander gegenseitig spiegeln, die Aufdeckung von Analogien in den verschiedensten Dingen ist eine Vorwegnahme jener Wahrnehmungsform, die durch das fotografische Bild stimuliert wird. Man beginnt, die Wirklichkeit selbst als eine Art Schrift zu begreifen, die es zu entschlüsseln gilt – genau wie fotografische Bilder selbst zunächst mit der Schrift verglichen wurden. (Niépces Name für den Vorgang, durch den das Bild auf die Platte gebracht wird, war Heliographie, Sonnenschrift; Fox Talbot nannte die Kamera den „Schreibstift der Natur“.) Susan Sontag, Über Fotografie, 152
Der realistische Roman entsteht zeitgleich mit der zeichnerischen Anwendung der Projektionen der Camera obscura und nimmt den Film vorweg. Der Roman ist, so Kittler, seiner Natur nach schon „Drehbuch“. Muss ein Foto mehrere Minuten, gar Stunden belichtet werden, tritt der Schreibaspekt hervor. Wird das Foto „geschossen“, tritt der Bildaspekt hervor. Die Fotografie im Medienverbund des 19. Jahrhunderts wird ikonoscriptural, die Romanliteratur scripturalikonisch aufgefasst. Von beiden Seiten nähert man sich dem Anlass des Widerstreits: der Entdeckung einer detailfreudigen normativen Wirklichkeit durch Techniken. In Büchern finden sich Stiche, die wie Fotografien wirken. Wie in alten Manuskripten erobert das Bild das Buch zurück. Das Malen von Buchstaben und das Malen von Bildern geschah im Scriptorium noch von gleicher Hand: Camera scriptura. Erst Comenius empfahl um 1630 den Eleven, die Schrift nicht über das Sprechen, sondern über im Buch abgebildete Dinge zu lernen, und protegierte damit die zukünftige Trennung von Empirie und Geisteswissenschaften.
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Wenn ich dagegen richtig tippe, liegt der Unterschied zwischen Unverfilmbarkeit und Filmbarkeit, vorromantischen und romantischen Texten zur Gänze im Medienbilderkrieg, den die romantische Literatur eine Zeit lang – gegen langsam abtretende Gegner wie die Kirche – für sich entschieden hat. Im Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben siegte, wie in aller Geschichte, die Wiederkehr des Gleichen. Mit anderen Worten: die Bücherproduktion alias Aufklärung wurde selber zur Bildertechnologie. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und aus der optischen Halluzinierbarkeit, die die Literatur um 1800 erworben hat, Rückschlüsse auf eine historisch veränderte Wahrnehmungsweise im Alltag ziehen. … Mit dem Unterricht im leisen Lesen wären Europäer und Amerikaner auch schon potentielle Untertanen des Kinos geworden. Friedrich Kittler, Optische Medien, 140f
Einbildung wird durch Darstellung angeregt. Wer ist Autor, wer ist Leser? Sie brauchen einander, denn die „Wiederkehr des Gleichen“ versinkt in blinder Praxis. Beide sind einer künstlichen Stimulierung der Wahrnehmungslenkung durch Inszenierung der Aufmerksamkeit unterworfen: ein opferloses Fest der Arbeit und der Produktion. Balzac, dessen Romane am meisten zur Popularisierung dieses neuen bürgerlichen Realismus getan haben, schrieb im Vorwort zur Comédie humaine, sein ganzer Romanzyklus wolle eine Daguerreotypie der zeitgenössischen französischen Gesellschaft sein. Die Literatur, wie im Jahrhundert der Wissenschaften üblich, besorgte sich ihre Garantie also erstmals von einem technischen Medium, was sie um so leichter tun konnte, als das Medium in ihrem Kontext nur metaphorisch und nicht als realer Konkurrenzdruck wie bei der Malerei auftrat. Friedrich Kittler, Optische Medien, 186f
Metaphorisch, als Sprachbild: schreiben, wie man fotografiert. Vielleicht erklärt das Balzacs industrielle Romanproduktion. Nur so kam er der Geschwindigkeit, mit der die Fotografie Bilder macht, nach.
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II. SCHRIFT ALS SUPPLEMENT VON RAUMZEIT Interessanterweise ist diese Bedeutungsgeschichte im lateinischen medium auch enthalten, denn es bezieht sich nicht bloß auf das Vermittelnde, das Werkzeug, sondern es meint auch die Mitte, den öffentlichen Raum, das Gemeinwohl. Genau das ist das Bild, das ich mit dem Begriff der Inschrift vor Augen hatte: daß man sich in der Schrift bewegt, so wie man sich in einem Raum bewegt. Das, was hier erzeugt wird, ist also ein spezifischer medialer Raum. Martin Burckhardt, Unter Strom, 41
In diesem Sinne ist „Raumzeit“ nur ein anderer Name für „Gemeinschaft“. Schrift ist und überschreitet zugleich die gemeinschaftstiftende Funktion, indem sie vom Individuum abstrahiert. Sie ist Szene, Agora und zugleich Partei, Rhetorik, Ideologie. Burckhardt legt Wert auf die Tatsache, dass damit das Medienkonzept des Autors den Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft kontrastiert und hierarchisiert, denn das Schreiben wird nicht wie das Sprechen gelernt. … es gibt solange keine Schrift, wie die Schreibweise das Verhältnis einer natürlichen Darstellung oder irgendwelcher Ähnlichkeit zu dem bewahrt, was folglich nicht bezeichnet, sondern repräsentiert, gezeichnet usw. wird.
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Piktographische oder natürliche Schrift wären demnach für Saussure kontradiktorische Begriffe. Jacques Derrida, Grammatologie, 58
Da aber das im Foto Dargestellte der Sache ähnlich ist, sie repräsentiert, gilt: Das Foto ist keine Schrift. Dagegen ist die Fotografie selbst mit keiner Sache ähnlich, die sie darstellt. Also stellt der Akt des Fotografierens einen Akt der Verschriftung dar, nämlich eine bestimmte Technik, mit dem Raum der Dauer in der Zeit umzugehen. Es ist also das Zeitgedächtnis, das das spezifisch Fotografische ausmacht, nicht eine zur Perspektive gestaltende Optik. Jede Medialisierung ist zunächst einmal Verschriftung, bevor sie in den Sog der Illusion einer „natürlichen Sprache“ kommt. Der Naturalismus des Fotos macht uns blind für das Fotografische. Das aber genau ist ja die Vorschrift, die Logik der Fotografie. Die Fotografie zwingt uns eine Aufmerksamkeit für eine Gegenständlichkeit, eine gestellte Präsenz auf. Sie verdinglicht. Das Bewußtsein, sich vor demselben Ding als dem wahrgenommenen Gegenstand als solchem zu befinden, ist das Bewußtsein eines reinen und präkulturellen wir. Die Rückkehr zu Prä-Kultur meint hier nicht Rückgang zu kultureller Primitivität, sondern ist als Reduktion einer bestimmten Kultur eine theoretische Operation, die zu den höchsten Formen der Kultur überhaupt gehört. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 107f
Derrida zielt in der Phase der Vorbereitung der Grammatologie mit Husserl zunächst auf die Vor-Schrift (Konvention) einer mathematisch objektiven Sprache: die Geometrie. In ihr ist die Idee der perspektivischen Optik schon vorgedacht, insofern in dem präkulturellen „Wir“ der gemeinsame Horizont nicht die „Natur“, sondern die Elementarität des Landbesitzes, der Vermessung etc. und der Dinge zu Zwecken der gerechten Tauschbarkeit ist. Dass Dinge nach Maß getauscht werden, setzt aber ihre Einheitlichkeit, ihren Warencharakter schon voraus, d.h. eine Diskretion/Abgrenzung der Güter und Ländereien, die als „ursprungslose“ die Ursprungskämpfe ihrer Eroberung – den Opferanteil der Ökonomie – verdecken, indem sie ihn konventionalisieren.
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Erst wenn Gegenstände auftauchen, gibt es also Sprache, Tradition und Geschichte. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 109
Die Gegenständlichkeit setzt in einem Reduktionsschritt die Dimension von Raum (der Erde) und Zeit (eines Datums) voraus. Husserls phänomenologische Reduktion kommt zu jenem Punkt, an dem die durch die Dinge verschüttete Abstraktion von Raum und Zeit als Objektive des gemeinsamen Horizonts von Verständigung an die Oberfläche gelangen: Kriegslisten, die die Gemeinsamkeit beschwören; Gesetze, die sie pazifisieren. Die letzte Stufe dieser Phänomenologie einer Inbesitznahme der Präsenz ist die Fotografie. Der fotografierte Eiffelturm gehört allen, ist zu Zwecken der Allsichtbarkeit gebaut. Vergegenständlichung ist heute nicht mehr an den Ding-, sondern an den Zeichencharakter gebunden; daran, dass Dinge als Zeichenwerte getauscht und fotografisch besitzt werden können – gleich, wessen Eigentums sie sind. … so wie man auch das Abbild aus dem System der Wirklichkeit schadlos muß ausschließen können. Jacques Derrida, Grammatologie, 59
Was, wenn Wirklichkeit heute das Abbild ihrer selbst wäre? Fotografie als Schrift aufzufassen, hieße, an ihr zu bemerken, dass Vorbild und Nachbild eine Art Membran darstellen. Für das Lesen von Schriften ist diese Unterscheidung kein sonderliches Problem. Schriften haben mit nichts von dem, was sie beschreiben, eine Ähnlichkeit; man sieht durch sie hindurch; aber die Fotografie, die sich doch wie kein anderes Medium ganz und gar dem Sichtbaren verschrieben hat? Man soll also durch die Fotos hindurchsehen? Nicht das Sicht-bare, sondern ein präkultureller, archäologischer Blick ist entscheidend. Die erste Ordnung der präkulturellen Schrift war die des Raumes, die erste der kulturellen Schrift des Rechnungswesens.Die Ordnung der Fotografie schafft eine artifizielle Wirklichkeit: die der Präsenz. Immer kommt man auf die letzte Instanz zurück: auf die einzigartige und wesentliche Form der Verzeitlichung. Durch die ihr eigene Dialektik erlaubt es die absolute Ursprünglichkeit der lebendigen Gegenwart, jede Andersheit
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ohne Negation zu reduzieren; sie konstituiert das Andere als Anderes in sich und das Selbe als Selbes im Anderen. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 114
Lesen wir also nicht die Fotografie, die die Zeit stillstellt, sondern lesen wir das Fotografische durch diesen Fixpunkt als eine ursprüngliche Bewegung: die der Genese von Gedächtnis. Das Reale dieser Bewegung tritt hervor, wenn wir das Fotografische als präkulturelle Schrift umdeuten. Diese Umkehrung ist auch für Derridas Husserlkommentar entscheidend. Denn die Schrift löst sich – im Gegensatz zur gesprochenen Sprache – vom Hier und Jetzt des Körpers. Schriftlichkeit erst ermöglicht die Disponibilität der Medien „Zeit“ und „Raum“ und befreit von der Präsenz – einer Präsenz, wie sie die Fotografie im Verhältnis zur Dauer wieder hervorkehrt. Der späte Derrida wird sich mehr und mehr den Medien und der Fotografie widmen. Nur die Möglichkeit der Schrift sichert die absolute Überlieferungsfähigkeit des Gegenstandes, seine absolute ideale Objektivität und damit die Reinheit seines Bezuges auf eine universale transzendentale Subjektivität. Sie tut dies, indem sie den Sinn von seiner aktuellen Evidenz für ein wirkliches Subjekt und von seiner aktuellen Zirkulation innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft emanzipiert. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 116
Die Freiheit des Körpers von der Stimme muss keine Befreiung des Körpers bedeuten, sondern leitet auch sein Verschwinden ein. Ein Großteil dessen, was ein Bereich des Visuellen zu sein scheint, ist lediglich der Effekt von andersartigen Kräften und Machtverhältnissen. Zugleich droht der Begriff der „Visualität“ im Sinn eines Wahrnehmungs- und Subjektivitätsmodells verstanden zu werden, das von dem inhaltsreicheren und historischeren Begriff der „Verkörperung“, in dem ein leibliches Subjekt den Ort für die Operationen der Macht und zugleich das Potential des Widerstandes bildet, abgeschnitten ist. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 14
Die These von der Historizität des Sehens, die sich in der Produktion, der Wahrnehmung oder Lesung von Bildern als diese selbst syn-
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thetisiert, hat ihren Ausgangspunkt in der Notwendigkeit des Bildes, die Verkörperung zu isolieren und Macht über den Blick zu gewinnen. Vom manischen Seher, der eine religiöse Funktion hat, wird verlangt, den Raum und die Zeit, also die Manifestationen der Körperlichkeit aufheben zu können. In dieser Hinsicht verstand Benjamin das Lesen als magische Fähigkeit. Erst von diesem Moment an wurde das jüdische Volk zu einer wirklichen „textual community“, weil das geschriebene Wort – und nicht die Auslegung durch den Propheten oder die Priesterkaste – zum „Gesetz“ wurde. Das heißt, die Schrift ist zwar zentral für die Entstehung der Volksgemeinschaft, doch die hebräische Schriftform (die der Mündlichkeit bedarf ) vermittelt nicht das Phantasma eines vom sprechenden Körper abgelösten Zeichens. Christina von Braun, Das ein-gebildete Geschlecht, 158
Erinnern wir uns daran, dass Mose in erster Linie die Stimme des Herrn hört und sie bis zum Erhalt der Gesetzestafel auch nur mündlich weitergibt. Derridas These der Befreiung des Körpers von der Stimme bindet den Körper dialektisch an das Gesetz. Ohne Ansehung der Person soll das Gesetz disziplinierend und strafend auf den Körper zurückwirken, der die Schrift inkorporiert, wo sie zur Stimme eines Gewissens mutiert. Daß die Wahrheit so, ohne aktuell oder tatsächlich gedacht zu werden, fortdauern kann, eben das emanzipiert sie … radikal von jeder empirischen Subjektivität, von jedem faktischen Leben, von jeder realen Welt. Gleichzeitig „wird … die Vergemeinschaftung der Menschheit auf eine neue Stufe erhoben“: sie kann als transzendentale Gemeinschaft auftreten. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 123 Zitat: Edmund Husserl, Der Ursprung der Geometrie, 371
Das heißt, jede Wahrheit ist geschichtlich vermittelt. Sie kann durch die mediale Darstellung hindurch auf ihren Realgehalt (ihre Transponierbarkeit) überprüft werden. Für die Logik genügt der Beweis. Für die Fotografie gibt es keine Beweisform. Entweder reduziert man den Wahrheitswert des Fotos auf ein Dokument der Realität oder man erklärt das Foto zu einem Gegenstand hermeneutischer Analyse: Dann behandelt man es aber als literarisches Objekt, mit der
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Besonderheit der Synchronizität (nicht Linearität) der Struktur der Differenzen. So drückt sich die Fotografie gerade nicht im Foto aus, sondern im Diskurs der Deutungen, in dem, was das Foto mit mir macht, also im Spiel der Inszenierung wechselnder Akteure, Situationen und Kontexte. Weit entfernt, eine Wahrheit, die man gerade über sie erworben hat, von neuem in eine Realgeschichte fallen zu lassen, vollendet und bestätigt die schriftliche Raum-Zeitlichkeit – deren Ursprünglichkeit noch zu bestimmen wäre – die Existenz einer reinen transzendentalen Historizität. Ohne die endgültige Objektivierung, die die Schrift erlaubt, bliebe jede Rede in der faktischen und aktuellen Intentionalität eines sprechenden Subjekts oder einer Sprechergemeinschaft gefangen. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 117
Husserl denkt nur an wissenschaftliche Literatur und mathematische (logische) Verschriftung. Es ist aber offensichtlich, dass diese Trennung der „Literaturen“ nicht haltbar ist. Denn die Transzendierung des Subjekts der Stimme durch die Schrift in der Schrift ist nach Graden der Abstraktion universell, weil es gerade die Möglichkeit dieses Vergessens – der gereinigte Raum – ist, welche die Erinnerung gegen Imagination absetzt. Denn eine Aufhebung der Raum-Zeitlichkeit in fiktive, virtuelle oder objektive Welten setzt eine schon erlebte Raum-Zeitlichkeit (Wirklichkeit) voraus. Die Historizität einer jeden „Literatur“, die am Foto schnell ablesbar ist, enthüllt sich aber, so Derrida in seiner Grammatologie, nur in einer ursprünglichen Hervorbringung, nämlich im Wechselverhältnis von individueller und kollektiver Geschichte, die beständig die Realität der Identität in die Idee der Zukunft aufschiebt. Die Kernfrage Husserls lautet deswegen: Ist die Geometrie (Logik) ewig oder ist sie, weil sie schriftlich formalisiert werden muss, historisch? Indem sie den Dialog völlig virtualisiert, erschafft die Schrift eine Art autonomes transzendentales Feld, aus dem jedes aktuelle Subjekt verschwinden kann. … Aber all dies gilt nur für eine intentionale Analyse, die die Schrift nur in ihrem Bezug auf ein sie begründendes Bewußtsein betrachtet und nicht in ihrer Faktizität, die an sich selbst völlig unbedeutend ist. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 117
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Es geht nicht um Typografie oder Fotos; es geht um die genealogische Aufklärung des Urschriftphänomens; der Befreiung des Körpers und seine gleichzeitige Locierung in Zeit und Raum, welche durch Spurung in widerstreitender Spannung gehalten wird. Das Provisorium wird ständig durch ein anderes Provisorium ersetzt. Es geht um die Körpersterblichkeitsaufhebung, die im Foto Dauer und Ewigkeit verspricht, aber ihm das lebendig Widerstreitende entzieht. Deswegen muss Foto auf Foto folgen. Das Fotobuch ist ein konventionalisierter Zwang ebenso wie – in einer anderen Grammatik – der Film. Aufhebung von Arbeit und Opfer, von Zeit und Substanz, besitzt in der Schrift ihr ökologisches Moment. Die ursprüngliche Schrift kalkuliert den provisorischen Tod – wider die vorgeblich unsterblichen Dinge. … ganz ähnlich etwa wie die Klasse der Früchte erst aus dem Überblick über Äpfel, Birnen und Zwetschgen etc. „entsteht“. Damit aber wird klar, daß es sich bei der „Schaffung“ von Zeit und Raum durch Ereignisse nicht um Kausalbeziehungen, sondern um eine Implikation handelt. … Sowohl Raum wie Zeit sind also, wie Piaget weiter sagt, eine mit der Erfahrung eng verbundene „Logik“. Sie sind gleich allen anderen kognitiven Begriffen zunächst und vor allen Dingen ein System konkreter Operationen, bevor sie nach und nach als geistige Begriffe internalisiert, abstrahiert und formalisiert werden. Luc Ciompi, Außenwelt – Innenwelt, 112 u. 216
Für Derrida ist die Verräumlichung nun keine Äußerlichkeit, die diese auswärtigen Grenzen der Bedeutung anzeigt: daß ein Signifikat endet, bevor ein anderes antritt. Verräumlichung wird von ihm vielmehr als radikale Bedingung von Bedeutung als solcher aufgefaßt, und die Außenseitigkeit der Verräumlichung wird noch als dasjenige erwiesen, das die Bedingungen des „Innen“ konstituiert. Rosalind Krauss, Das Photographische, 114
Dieses Gefühl des Aufschubs, des Öffnens von Realität für das Intervall eines Atemzugs, haben wir (im Anschluß an Derrida) Verräumlichung genannt. Neben der Umwandlung der Präsenz in eine Abfolge bewirkt die Verdopplung aber noch etwas anderes. Sie markiert den Ersten in der Kette als signifizierendes Element. Rosalind Krauss, Das Photographische, 114
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„Verdopplung“ wendet Krauss hier auf die Lautsilbenbildung in der Sprache des Kindes an, in der z. B. in „Pa-pa“ die erste Silbe durch die zweite signifiziert und somit als absichtsvoll erscheint. Die „Distanz“ der Silben kann auch auf die fotografische Reproduktion bezogen werden, nämlich als Spur respektive Verräumlichung, die Zeit als Gedächtnis erfahrbar macht. Insofern erscheint der Signifikant nur in einer Wiederholung der ersten Silbe, die jedoch gleichzeitig die Wiederholung aufhebt und der ersten das Primat über die zweite zusichert und somit die Wiederholung als illusionär oder bloß ideal erscheinen lässt. Genau dieses Prinzip der Inversion der Reflexion (der Rückbezüglichkeit) galt den Frühromantikern, insbesondere Schelling, als Konstitutionsbedingung von Selbst-Bewusstsein: Bewusstsein (Bild) von sich selbst. Angesichts des speziellen Status der Photographie im Verhältnis zum Realen (sie ist der Niederschlag des Realen selbst), sind die von den surrealistischen Photographen ausgeklügelten Verfahren – die Verräumlichung und die Verdopplung – dazu bestimmt, die Verräumlichung und die Verdopplung eben der Realität aufzuzeichnen, von der diese Photographie bloß die glaubhafte Spur ist. … Meine These ist, daß das, was der Surrealismus dieser Realität vor allem hinzufügte, ihre Sicht als Repräsentation oder Zeichen war. Die Realität wurde ausgedehnt und zugleich ersetzt oder ausgestochen durch das überlegene Supplement der Schrift: die paradoxe Schrift der Photographie. Rosalind Krauss, Das Photographische, 116 u. 123
Obwohl Krauss ihre Analysen vor allem an surrealistischen Produktionen vornimmt, beharrt sie auf einem indexikalischen Bezug der Fotografie zur Realität, in dem Sinn, dem Peirce dem Begriff „Index“ gibt: als Bild, das auf physische Weise mit dem verbunden ist, was es darstellt. Die physische Vermittlung ist hier aber nicht nur durch das Licht gegeben, sondern vor allen Dingen eine anthropologisch unhintergehbare Funktion der Schrift, also der Verräumlichung und Verdopplung. Erst in der Verdopplung/Repräsentation des „ersten“ Ereignisses im zweiten (Reflexion) kann das erste signifiziert (invertiert) werden. Die Spur ist – gemäß Derrida – eine verräumlichende Bewegung, die eine Invertierbarkeit der Zeit, der „Zeit vor der Zeit“, ermöglicht, wie sie die Gedächtnisfunktion und – als deren Initiant – die Fotografie leistet. In der Fotografie ist die Mimetik mit
II. SCHRIFT ALS SUPPLEMENT VON RAUMZEIT 41
dem, was sie abbildet, jedoch außerordentlich stark, in der alphanumerisch codierten Schrift hingegen gar nicht vorhanden. Deswegen fällt in der Schriftlichkeit der Fotografie die Initiation mit der Duplikation, das Imaginäre mit dem Realen zusammen. Die beiden Bewegungen (Reduplikation, Inversion) fallen gleichsam zusammen. Erst in den Repräsentationsbrüchen – in ihrer Selbstpräsentifikation, sei sie surrealistisch, allegorisch oder technisch inszeniert – wird die Schriftspur als Differenz von Präsentation und Repräsentation deutlich. Das Kunstprinzip des Surrealismus, die Dekontextualisierung, kehrt die Differenzen wieder hervor, die zur Einheit drängen. Es gilt – nach Krauss –, deswegen den Identifikationszwang der Fotografie mit dem Fotografierten eigens als das Fotografische herauszustellen; Fotografie als Schrift zu lesen.
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III. DAS SCHWEIGEN DER FOTOGRAFIE Diese Selbst-Affektion ist das, was man Subjektivität oder Für-sich nennt. … Diese Universalität bedingt, daß struktural begründet kein Bewußtsein ohne die Stimme möglich ist. … Die Stimme ist das Bewußtsein. … Wenn die Schrift die Konstitution idealer Gegenstände vollendet, so leistet sie dies als phonetische Schrift: sie fixiert, inscribiert, verzeichnet und inkarniert bloß eine bereits vorliegende Rede. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 136-138
… so die gängige Diskussion der Linguistik mit ihrem logozentrischen Schriftbegriff, der Schrift immer nur als Fixierung von Rede verstand. Die andere Richtung vertraten die Philosophien in der Aufklärung: Hier verschränkte sich das Bewusstsein als Einbildungskraft und betonte durch leises Lesen geübt den Bildcharakter. Die Stimme gehörte deswegen – bis zur Erfindung der Edisonwalze – nie zu den Phänomenen, die man technisch revolutionieren wollte. Aber diese reine Differenz, die die Selbstpräsenz des lebendigen Präsens konstituiert, zersetzt diese erneut mit all der ursprünglichen Unreinheit, die man ausschließen zu können glaubte. Das lebendige Präsens entspringt aus einer Nicht-Identität mit sich aus der Möglichkeit der retentionalen Spur.
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Es ist allemal eine Spur. Diese Spur ist von einem Präsens her undenkbar, dessen Leben sich selbst innerlich wäre. Das „Sich“ des lebendigen Präsens ist ursprünglich eine Spur. Die Spur aber ist kein Attribut, von dem sich sagen ließe, daß sich das „Sich“ des lebendigen Präsens „originär ist“. Denn die Ursprünglichkeit muß von der Spur her und nicht umgekehrt gedacht werden. Diese Ur-Schrift ist am Ursprung des Sinns am Werk. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 142
Notwendigerweise muss die Selbstbeziehung unrein sein, da das Selbst sich zu sich als ein Stück der Außenwelt verhalten muss. Der Inzest der Selbstidentität muss beständig gefordert, aber prinzipiell unerreichbar sein. Er muss sich aufschieben. Der Aufschub ist die temporale und räumlich gedachte Komposition dieser Generativität. Da die Spur die Beziehung der Vertrautheit des lebendigen Präsens mit seinem Äußeren, die Öffnung zur Äußerlichkeit überhaupt, zum NichtEigenen etc. ist, kommt mit der „Zeitigung“ des Sinns die „Verräumlichung“ ins Spiel. Sobald man die Verräumlichung als „Intervall“ oder Differenz und zugleich als Öffnung zum Außen erkannt hat, gibt es keine absolute Innerlichkeit mehr und ist das „Außen“ in die Bewegung eingelassen, durch die das Innen des Nicht-Räumlichen, das sich unter dem Namen „Zeit“ erscheint, sich konstituiert und sich „präsentiert“. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 143
Es gibt keine Verwirrung, wenn man zwischen äußerem, dimensionalem Raum und innerem Zeitraum, „Intervall“ oder Präsenzeinheit in einer „fließenden“ Präsenz unterscheidet. „Zeitraum“ ist nur ein bildlicher Ausdruck; Zeit ist nur eine metaphorische Einheit, die nicht anders als räumlich, als Bewegung, als Stimmfolge mit ihren Tempi, Melodiken und Ligaturen veranschaulicht werden kann. Die Fotografie bildet die Metapher für einen „Zeitraum“, der auf eine affektive Präsenz, ein Bei-sich-selbst-Sein reduziert ist, auf das Nu der Hunderstelsekunde, die des Todes und das Ideal des Bewusstseins ist. Die Äußerlichkeit des Raums, die Äußerlichkeit als Raum, kommt nicht der Zeit hinzu, sondern eröffnet sich vielmehr als reines „Außen“ „in“ der Bewegung der „Zeitigung“. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 143
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In Abwendung vom Logozentrismus (der Linguistik) bleibt Derridas Medium die Schrift – Monopol der Philosophie, über Vorgänge der Erhellung, Veräußerlichung und Äußerung zu reflektieren. Die Fotografie, insbesondere dort, wo sie sich reflexiv gibt, verbannt diese Prozessualität im ästhetischen Diskurs geradezu inzestuös. Der Widerstreit, nicht die Harmonisierung steht am genealogischen Anfang der Fotografie: als Wunsch, die Präsenz als Präsens zu bewahren. Das Sich-sprechen-Hören meint nicht die in sich selbst verschlossene Innerlichkeit eines Innen, sondern vielmehr die in diesem Innen geschehende Öffnung, das Auge und die Welt im Medium der Rede. Die phänomenologische Rede ist ein Schauplatz (scène). Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 144
Die Urschrift, Planierung des Terrains, Tableau des Bildes, Medienschirm, primäre Struktur, Raum-Zeit – alles ließe sich auf den Begriff „Szene“ reduzieren, auf der das Subjekt seine Individualität gegen und mit der Gemeinschaft der anderen platziert. Denn die Szene ist kein Ort, sondern eine provisorische Ordnung der Einschreibung, in der das Wechselverhältnis der Agonistik der „Medien“ sich abspielt. Das Kunstwerk macht sich, zusammenfassend gesagt, beobachtbar als eine Serie von ineinander verschlungenen Unterscheidungen, wobei die jeweils andere Seite der Unterscheidung zu weiteren Unterscheidungen auffordert. Also als eine Serie von Verschiebungen (différances im Sinne Derridas), die zugleich dazu dient, die ständig verschobene Differenz zum unmarked space der Welt zu „objektivieren“, das heißt: als Differenz unsichtbar zu machen. Und mit all dem zeigt sich (zeigt sich? für wen?), daß ein Kunstwerk nur zustande kommt, wenn respektiert wird, daß die Welt unsichtbar bleibt. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 123
Nach Derrida sind die systemtheoretischen Überlegungen bezüglich des „Aufschubs“ bei einem Medium namens „Gesellschaft“ angekommen, das sich in Diskursen erzeugt und reflektiert. Programme ersetzen Vor-Schriften, Technikgehorsam ersetzt Metaphysik. Gesellschaften (ebenfalls Medien- oder Systemtypen) ändern sich und ebenso ändert sich die Art, wie sich aus ihren Mustern, Konventionen und Automatismen eine selbstvergessene Praxis (Evidenz) entwickelt.
III. DAS SCHWEIGEN DER FOTOGRAFIE 45
Niemals hat es Wahrnehmung gegeben und die „Präsentation“ ist eine Repräsentation der Repräsentation, die deren Geburt oder Tod zu sein begehrt. Wahrscheinlich hat alles so begonnen: „Ein vor uns ausgesprochener Name läßt uns an die Dresdner Gemäldegalerie denken. … Wir durchqueren die Säle. … Ein Bild von Teniers … zeigt eine Bildergalerie. … Die Bilder dieser Galerie zeigen ihrerseits Bilder, die Aufschriften … tragen, die sich dechiffrieren lassen etc.“ Dieser Situation ist sicher nichts voraufgegangen. Und gewiß vermag nichts, sie zu suspendieren. … Die Galerie ist das Labyrinth, das alle seine Ausgänge vereinnahmt … So bliebe denn übrig, zu sprechen und die Stimme in den Gängen widerhallen zu lassen, um den Mangel an Präsenz zu supplementieren. Das Phonem, der Laut ist das Phänomen des Labyrinths. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 165
Ist das, was in der Fotografie Realität gewinnt, nicht schon einige Jahrhunderte lang dem perspektivischen und optischen Blick unterworfen; einem Blick, der entgegen der Idee des Tafelbildes niemals stillsteht, der kein Anfang und kein Ende hat, der selbst in unaufhörlicher Hast die Bilder erzeugt und negiert; – nun in Lichtgeschwindigkeit? Segen und Fluch der Fotografie, d. h. die Tatsache, daß die Fotografie – ob sie will oder nicht – allein durch ihr technisches Dispositiv abbildlich strukturiert ist, bilden jeweils den paradoxen Ausgangspunkt der Diskussion. Paradox erscheint dieser Ausgangspunkt deshalb, weil eben die Tatsache der Abbildlichkeit der Fotografie für die philosophisch geprägte Bildwissenschaft stets nur der erste Hinweis auf die mittlerweile fast unisono vertretene Einsicht ist, daß Abbildlichkeit/Ähnlichkeit keine hinreichende Bedingung für Bildlichkeit darstellt, womit der philosophische Reiz einer Auseinandersetzung mit der Fotografie jedoch gerade nicht erledigt, sondern allererst offenbar, ja drängend wird. Martina Dobbe, Fotografie als theoretisches Objekt, 234
Sollte Bildlichkeit aber nicht an Ähnlichkeit geknüpft sein, wäre fotografische Spur (arbiträrer) Schriftkonvention unterworfen. Aufschreibung, die nicht über etwas referiert, sondern sich selbst als äußerste Grenze einer sich selbst aufschiebenden Realisierung, einer Spur notiert: Als gemeinsame Membran von Bildund Schrift ist die Fotografie ein obszöner Skandal.
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IV. VON MEDIUM UND ZEICHEN Beobachtet im Schema von Medium und Form erscheinen mithin alle Formen als akzidentiell; anders gesagt: keine von ihnen drückt das „Wesen“ des Mediums aus. Das ist nur eine andere Fassung für die Einsicht, daß es auf die Unterscheidung von Medium und Form ankommt; daß es sich also um zwei Seiten handelt, die nicht voneinander gelöst, nicht gegeneinander isoliert gedacht werden können. Und das führt auf die Einsicht, daß die Unterscheidung von Medium und Form selbst eine Form ist – eine Form mit zwei Seiten, die auf der einen Seite, auf der Form-Seite, sich selbst enthält. Die Unterscheidung von Medium und Form ist somit eine Unterscheidung, die insofern paradox konstruiert ist, als sie vorsieht, daß die Unterscheidung in sich selbst wieder eintritt, in sich selbst auf einer ihrer Seiten wieder vorkommt. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 168f
Luhmann verdeutlich das von Derrida als Urschrift charakterisierte Phänomen des Aufschubs als „Beobachtung“, Entfaltung von Raum und Ordnung von Zeit. Die Form der Form als Medium ist das, was Derrida differánce nennt. Auf die Fotografie angewandt, ist diese Denkfigur schwierig: Zwar lässt sich mit Schrift über Schrift sprechen (und schreiben), mit Fotos aber nicht über Fotos. Das Foto ist zu akzidentiell; ein Negat dessen, was es abbildet.
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Als freie, wohlvertraute Bedeutungswährung, die von den Menschen, unter denen sie zirkuliert, weitgehend unbemerkt und unbefragt hingenommen wird, weisen Fotografien eine Gemeinsamkeit mit der Sprache auf. Schon lange spricht man von einer „Sprache der Fotografie“, aber erst in den sechziger Jahren hat man begonnen, außerhalb der natürlichen Sprache liegende Kommunikationsformen vom Standpunkt der Linguistik aus systematisch zu erforschen; diese frühen „semiotischen“ Studien und ihre Nachwirkungen haben in der Fototheorie zu einer radikalen Neuorientierung geführt. … Fotografien sind Texte, die, wie man sagen könnte, in einem „fotografischen Diskurs“ niedergeschrieben sind, aber dieser Diskurs knüpft, wie jeder andere auch, an weitere Diskurse an; der „fotografische Text“ ist Ort einer komplexen „Intertextualität“. … Indem die „klassische“ Semiotik die Fotografie als einen Objekt-Text behandelt, konnte sie zeigen, daß die Vorstellung von einem „rein visuellen“ Bild eine bloße Fiktion ist. Victor Burgin, „Fotografien betrachten“, 251-253
Burgins „Sprache der Fotografie“ hat keine Mühe, sich in einem kunstwissenschaftlichen Diskurs zu behaupten. Im Hinblick auf Scripturalität muss jedoch jeder bedeutsame Text des Fotos, sein semantischer Gehalt, im und als fotografischen Akt erst negiert werden. Ein semiotischer Textbegriff berührt nur die Abbildfunktion des Fotos, nicht das Phänomen der Fotografie. Fotografie als Sprache zu beschreiben, verschiebt bloß den Akzent der Aufklärung gerade einer linguistisch begründeten Semiotik und negiert somit auch den fundamentalen Unterschied zwischen Schrift und Sprache. Soziale Praktiken sind wie eine Sprache strukturiert. Victor Burgin, „Fotografien betrachten“, 253
Die Photographie wird zur Spur der Vergangenheit, aber zu einer Spur, die, wie in der Typologie von Charles Sanders Peirce, einem der wenigen Philosophen, die sich theoretisch der Photographie zugewendet haben, als Index lesbar wird. Peirce vereinigt unter diesem Begriff dann auch die Photographie und die Spur eines Tieres im Schnee oder in der feuchten Erde. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 218
Stieglers Spur-Begriff entspricht gerade nicht jenem von Derrida. ist eben nicht der Spur-Begriff von Derrida. Die Spuren der Tiere
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sind Indizien, sie setzen die Struktur eines zu ergänzenden Textes schon voraus. Die Spur bei Derrida besteht in dem aufschiebenden/ sperrenden Moment der Selbstobjektivierung, der Produktion von Umwelt – eines Dispositivs, hinter dem das Subjekt seine raum-zeitlich gebundene Präsenz befreien kann, indem es sich von sich selbst distanziert. Diese Distanz, weit davon entfernt, räumlich zu sein, schafft den Raum des Imaginären und umfängt ihn zugleich in einer Begrenzung als Sinneinheit. Als mnemotechnisches Mittel ist die Schrift Supplement für das gute Gedächtnis, das spontane Gedächtnis; sie bezeichnet das Vergessen. Jacques Derrida, Grammatologie, 65
Das in der Schrift Vergessene ist die alltägliche Praxis im Umgang mit Dingen, Bildern und Bedeutungen: mit Konventionen. Der historische Blick, den einige Photographen aus der Frühzeit, wie das herrliche St. Cloud 1871, zeigen, scheint erloschen. Ich meine nicht nur die Auswahl der Objekte, obwohl ich auch die meine, sondern vor allem jenen Ausdruck von Einmaligkeit, Besonderheit in der Zeit, den Künstler ihren Bildern verleihen können, die wissen, was ein Dokument ist. Aber dazu gehört Interesse für die Dinge und genügt nicht Interesse für die Beleuchtung. Bertolt Brecht, Über Photographie, 270
Perverser Kult des Buchstaben-Bildes … Jacques Derrida, Grammatologie, 68
Derrida verweist auf die Geschichte der Linguistik, die die Schrift als Vehikel der Stimme ansieht, ohne ihr eine eigenständige Dimension zuzugestehen. Die Linguistik (Saussure) sieht die Sprache vom Buchstaben bedrängt. Man beginnt, buchstäblich/literarisch zu sprechen. Was, wenn man beginnen würde, fotografisch zu sprechen, also realistisch, in einer Sprache der Fotografie? Notwendigerweise ist die Schrift der Fotografie gebunden an die Inszenierung – die Weise, wie das Foto etwas zeigt, wie die Leseweise eines Fotos in einem Kontext zu arrangieren ist. Diese Vorschriften können aus der Tradition des Gebrauchs der Fotografie selbst stammen. Die Fotografie codiert dann das Sehen der Dinge neu.
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Die Idee der Vereinbarung selbst, also der Arbitrarität des Zeichens, kann vor der Möglichkeit der Schrift und außerhalb ihres Horizonts nicht gedacht werden. Jacques Derrida, Grammatologie, 78
Derridas Anweisung ist genetisch und historisch. Bevor es Zeichen gibt, muss es Gesellschaft als Regelform von Verweisung geben. Verweisung aber ist nur dort notwendig, wo etwas sich nicht von selbst versteht. Das ist in jeder Spur, in jeder Geste der Fall. Denn die Spur muss selbst die Spur davon enthalten, ob sie als Spur zufällig oder absichtlich hinterlassen wurde, ob sie Schrift ist oder nicht. Sie muss die Verdopplung zugleich als Moment einer Substitution befördern. Von daher sind Riten, Feste, Tabus präscripturale Formen der vergemeinschaftung und die Verdopplung, die niemals gelingt, ist ein Indiz der in ihr wirksamen Verzeitlichung. Einen sehr starken Kontext der Reproduktion veranstalten die Techniken unter der Normierung von Kausalität. Es ist die Eigentümlichkeit des Zeichens, nicht Abbild zu sein. Jacques Derrida, Grammatologie, 79
Noch bevor er mit der Einkerbung der Gravur, der Zeichnung oder dem Buchstaben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird, der im allgemeinen auf einen von ihm bezeichneten Signifikanten verweist, impliziert der Begriff der Schrift(graphie) – als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur. Jacques Derrida, Grammatologie, 81
Für die ideale Objektivität ist die Möglichkeit oder Notwendigkeit graphischer Verleiblichung nicht äußerlich und faktisch: sie ist conditio sine qua non ihrer inneren Vollendung. … Höchste Möglichkeit aller „Konstitution“ ist somit der Akt der Schrift. Daran läßt sich die transzendentale Tiefe ihrer Historizität ermessen. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 118
Die Bewegung ist unendlich, spiralförmig, und verfehlt stets den Ausgangspunkt: Die raumzeitliche Disponibilität des Subjektkörpers verlangt die Voraussetzung von Raum und Zeit; diese sind aber in
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ihrer Gegenständlichkeit indisponibel (weder die Erde noch die Sonne lassen sich „disponieren“). Folglich muss der Körper der Schrift die Disponibilität verweigern: Er soll Gesetz, Norm, Moral sein. Paradoxerweise erlaubt gerade die graphische Möglichkeit / die letzte Befreiung der Idealität … gerade die sprachliche Verkörperbarkeit macht den Sinn un-räumlich und un-zeitlich. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 120
Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann. Die Gegenwärtigung des Anderen als solchem, das heißt die Verstellung seines „als solches“ hat immer schon begonnen, und keine Struktur des Seienden vermag sich dem zu entziehen. Jacques Derrida, Grammatologie, 82f
Das Soziale bringt notwendigerweise die Schrift (Vorschriften) hervor. Der Aufstand gegen die Vorschriften beginnt: Autonomie und Autarkie setzen ein illusionäres Ich an die Stelle des Sozialen. Auch im Fotografieren: Ich will Ursprung dessen sein, was da immer schon ist und meinen Blick bestimmt. Ich kann den Blick bestätigen (Schnappschuss) oder ich kann ihn beherrschen: durch die Inszenierung des Blicks – wie Ludwig XIV., der in den Gärten von Versailles Blickachsen entwirft; wie Baron Haussmann, der Paris zu einer Stadt der Fotografie macht; wie Foucault, der von der Blickherrschaft in den Gefängnissen berichtet; wie Atget, der den unbekümmerten, melancholischen Blick dessen, was bald schon nicht mehr da sein wird, rettet. Der psychologische Ursprung der Schrift ist also die Urszene der Bewusstwerdung, der Selbstdistanzierung, der Selbstverräumlichung, des Besitzes, aber auch der Besessenheit. Wir wollen vielmehr zu bedenken geben, daß die vorgebliche Derivation der Schrift, so reell und massiv sie auch sei, nur unter der Bedingung möglich war, daß die „ursprüngliche“, „natürliche“ usw. Sprache nie existiert hat, daß sie nie unversehrt, nie unberührt von der Schrift war; daß sie selbst schon immer eine Schrift gewesen ist. Eine Ur-Schrift. Jacques Derrida, Grammatologie, 99
IV. VON MEDIUM UND ZEICHEN 51
Anders gesagt, der Aufstand gegen die Eltern unterstellt diesen, im Ursprung im Besitz der Ur-Schrift zu sein. Aber es gibt keinen Ursprung und keinen Urheber: Jeder ist schon immer des anderen Szene und Vorschrift. Derrida setzt – wie Nietzsche – das historische Denken zu Gunsten des genealogischen aus. Fünfzig Jahre nach Derrida ist es Gewohnheit geworden, alles, was über die Sprache und die Schrift gedacht ist, auch für alle anderen Medien in Geltung zu bringen. D.h., das Mediale und das Soziale werden reziprok. Zur Idee der Ur-Schrift gehört unbedingt die der menschlichen Produktion (nomadisch – agrarisch – industriell), also die Verwandlung von Vorstellung in Vorgestelltes, in das, was vor die Linse der Kamera zu stehen kommt: Das ist nicht Stimme oder Schrift oder Medien, sondern es ist die Inbesitznahme der Dinge unter Umgehung des Geldtauschs. Gerade die „Ähnlichkeit“ einer Fotografie mit der Zeichenhaftigkeit der Dinge als Warenkörper lässt vergessen, dass das Soziale und das Ding zwei Seiten der gleichen Beziehung zum Anderen sind. So ist die Werbefotografie nichts anderes als die invertierte Seite der Zeit, das Versprechen zukünftiger Inbesitznahme. Es ist fraglich, ob sich ohne das geschriebene Wort das gesprochene Wort jemals über das tierische Stadium hinaus entwickelt haben würde. Das geschriebene Wort ist der entscheidende Auslöser für die menschliche Sprache gewesen. W. S. Burroughs, The Electronic Revolution, 4 Zitiert nach: Friedrich Kittler, Im Kielwasser der Odyssee, 371
Wir haben es hier mit einer graphischen „Substanz“ zu tun, die sich ausschließlich an das Auge wendet und die nicht in eine Lautsubstanz“ transponiert zu werden braucht, um erfaßt oder verstanden zu werden. Und diese graphische „Substanz“ kann, gerade vom Gesichtspunkt der Substanz aus, ganz verschiedener Art sein. Louis Hjelmslev, Omkring sprogteoriens grundlaeggelse, 91-93 Übersetzt und zitiert nach: Jacques Derrida, Grammatologie, 101
Die Urschrift, Bewegung der Differenz [différance, Anm. d. Autors], irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliche System darstellt, nicht selbst ein
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Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden. (Was jedoch nicht heißt, daß sie nicht anderswo einen wirklichen Ort oder eine andere, benennbare Lage haben könnte.) Jacques Derrida, Grammatologie, 105
Der wirkliche Ort der fotografischen Schrift ist die gelingende ubiquitäre Praxis der Fotografie als Einverleibung und Entkörperlichung einer unhaltbaren, unvermittelten Präsenz: Die Identitätsillusion als Ursynthese? Es gibt immer nur Differenz und Aufschub des Begehrens der im Imaginären angepeilten Identität. Die Art der Annäherung an eine (tödliche) Identität und die Modalität der Differenz – Nähe und Ferne – hier liegt der Agon der Urschrift. „Anderswo einen wirklichen Ort …“: das Provisorium der Identität; die Inszenierung des fotografischen Gestus. Eine … der möglichen Folien, die mit der Photographie auf die Objekte der Erfahrung gelegt werden können, ist der sogenannte „Index“. Insofern die Photographie jener Klasse von Zeichen angehört, deren Beziehung zum Referenten vermittels einer physischen Verbindung hergestellt wird, gehört sie zum selben System wie Drucke, Symptome, Spuren, Anhaltspunkte. In diesem Sinne differiert die Photographie in grundlegender Weise von den semiologischen Bedingungen anderer Formen des Bildermachens, denen man die Bezeichnung „Ikon“ gegeben hat. Rosalind Krauss, Das Photographische, 13
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V. SPUREN LEGEN In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. … Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 485
Die Fotografie ist uns auf den Leib gerückt: Nah, präsent, allgegenwärtig zeigen sich die Veränderungen der fotografischen Technik in der Veränderung der Gestik des Fotografierens. Man muss den historischen, sozialen und chronotopologischen Veränderungen nachspüren, um zu verifizieren, dass die Fotografie nicht nur ein Ausdruck des Fotos war. Als präkulturelle Geste ist das Fotografieren ein Spiel der Rückbesinnung auf die Aufhebung und Repräsentanz des Körpers. So muß beispielsweise der Wert der transzendentalen „arche“ seine ganze Notwendigkeit offenbaren, ehe er durchstrichen werden kann- Der Begriff der Ur-Spur muß sowohl dieser Notwendigkeit als auch dieser Durchstreichung gerecht werden. Nach den Gesetzen der Identitätslogik ist er widersprüchlich und unzulässig. Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs,
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sondern besagt hier …, daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät. Folglich muß man, um den Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus seiner Präsenz oder einer ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von einer ursprünglichen Spur oder Ur-Spur sprechen. Jacques Derrida, Grammatologie, 107f
Die Spur kann weder Datum noch Präsenz sein. Sie bezeichnet ein Intervall, das durch Diskretion in Abschnitte zerfällt, gemäß der benjaminschen Idee, dass der Ursprung eine Ur-Teilung ist. Das Intervall bestimmt sich zuweilen an den Rändern weich wie im Legato, zuweilen hart in der Korrespondenz gegenständlicher Faktizität. … mit recht weist B. Russell uns darauf hin, daß uns für die Entscheidung, ob die Schrift oder das gesprochene Wort die älteste menschliche Ausdrucksform ist, die Kriterien fehlen. Louis Hjelmslev, An Outline of Philosophy, 47 Übersetzt und zitiert nach: Jacques Derrida, Grammatologie, 102
Die Fotografie ist eine kleine Geste, keine große Tat. Deswegen die großen Gesten der Inszenierung der frühen Studiofotografen, die sich als technische, künstlerische und magische Handlungen maskieren. Das Hantieren unter schwarzen Tüchern, in dunklen Kammern, mit alchemistischen Tinkturen, umgeben vom Wunder sichtbarer Lichteffekte: So inszeniert der Fotograf sich und seine Arbeit, um vergessen zu lassen, dass dem einsamen fotografischen Akt selbst Zeit, Arbeit und Bewusstsein fehlt und seine ökonomische Verwertung deshalb der Selbstinszenierung der ästhetischen Wertsetzungskompetenz bedarf. Die Photographie ihrerseits dehnt seit der [vorletzten, Anm. d. Autors] Jahrhundertmitte den Kreis der Warenwirtschaft gewaltig aus, indem sie Figuren, Landschaften, Ereignisse, die entweder überhaupt nicht oder nur als Bild für einen Kunden verwertbar waren, in unbeschränkter Menge auf dem Markt ausbot. Um den Umsatz zu steigern erneuerte sie ihre Objekte durch modische Veränderungen der Aufnahmetechnik, die die spätere Geschichte der Photographie bestimmen. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, 49
V. SPUREN LEGEN 55
In dieser Hinsicht ist die Fotografie kein Teil fürs Ganze, sondern die Vorderseite der Ware, deren Rückseite die Produktionsopfer darstellen. Schon durch die fotografische Reduktion, als Bild, zeigt sich dialektisch die Strategie der Opferverbergung in der Inversion eines zukünftigen Heilsversprechens: nicht des Eigentums, sondern vornehmlich der Besitzaneignung. So zeigt das fotografische Bild die Realität einer Strategie der Vermeidung der Verdinglichung, des Aufschubs im Abdruck der Erscheinung. Die (reine) Spur ist die différance. … Wäre die Sprache nicht schon in diesem Sinne Schrift, dann wäre auch keine abgeleitete „Notation“ möglich, und das klassische Problem des Verhältnisses zwischen gesprochenem Wort und Schrift könnte sich nicht aufdrängen. … Somit erweist sich die différance als die Formation der Form. Aber sie ist andererseits das Eingedrückt-Sein des Abdrucks (empreinte). Jacques Derrida, Grammatologie, 109f
Die Differenz (différance; Aufschub) meint die Unterscheidung gemäß der systemtheoretischen Prämisse „Mache eine Unterscheidung!“ Man kann nicht nicht unterscheiden/differenzieren – die Identität/der Tod muss sich unendlich aufschieben, da jede Unterscheidung nur auf einen Teil des Unterschiedenen visiert; der andere bleibt für das System der Unterscheidungen „Umwelt“. … Temporalisation eines Erlebten … Texte, Ketten und Systeme von Spuren … Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen (zwischen der „Welt“ und dem „Erlebten“) ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie ist selbst schon Spur. Jacques Derrida, Grammatologie, 113
In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die différance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen. Jacques Derrida, Grammatologie, 114
Als Ursprung der Erfahrung des Raumes und der Zeit macht es die Schrift, das Gewebe der Spur, möglich, daß sich die Differenz zwischen Raum und
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Zeit artikuliert … Diese Artikulation erlaubt es also einer graphischen („visuellen“ oder „taktilen“, „räumlichen“) Kette, sich – unter Umständen linear – einer gesprochenen („lautlichen“, „zeitlichen“) Kette anzugleichen. Jacques Derrida, Grammatologie, 114f
Wie ist die zeitliche Kette der Fotografie? Sie besteht nicht aus einer Reihe von Fotos (Foto-Roman, Foto-Essay), sondern gliedert sich in die Kette der Erinnerungsbilder ein – Erinnerungsbilder im manifesten Sinne (Bilder) und in Form von Phantasiegestalten (Imaginationen). Zudem gliedert sich das Foto in alle Fotografien der Welt ein. Die Fotografie ist die „ausgesetzte“ Spur und zugleich ihre zeugende Spur. Statt einer Geschichte der Fotografie ist ihre Genealogie zu schreiben. Man schreibt, was sich nicht zu sehen gibt. Die Urschrift als Verräumlichung kann sich in der phänomenologischen Erfahrung einer Präsenz nicht als solche geben. Sie bestimmt die tote Zeit in der Präsenz des lebendigen Präsens, in der allgemeinen Form jeder Präsenz. Jacques Derrida, Grammatologie, 119
Die festgehaltene, tote Zeit der Fotografie ist Verräumlichung der Präsenz. Der Belichtungszeitraum, der zu Beginn (um 1840) noch Stunden dauern konnte, verbaut den Blick auf den Momentcharakter der Fotografie. Das schnelle Foto – ab 1850 – entsteht spontan. So gelangt man zu der Vorstellung, dass der Fluß der Zeit aus einzelnen Momenten zusammengesetzt sei, ja, dass es in den Sprüngen des Blicks gar keinen Fluss gebe. Wenn es sich aber um diskrete Momente oder Sequenzen handelt, müssen diese auch in einer anderen Zeitreihenfolge montierbar sein. Die Montage der Sequenzen wird die Ausdrucksform des Films. Für die Fotografie bleibt der Eindruck eines einzigartigen Augenblicks, der – der Geschichte entzogen – gerettet wurde und sich mit anderen Momenten arrangieren können lassen muss. Doch nach welcher Logik sind die Diskretionen zu verknüpfen? Hier fehlt sozusagen eine Alphabetisierung der Fotografie. Vielleicht wird nun besser verständlich, warum Freud von der Traumarbeit sagt, sie sei eher mit einer Schrift als mit einer Sprache und eher mit einer hieroglyphischen als mit einer phonetischen Schrift vergleichbar. Jacques Derrida, Grammatologie, 119
V. SPUREN LEGEN 57
Traumschrift: Freud nennt sie dem Rebus vergleichbar. Unterschiedslos versammeln sich hier, im Traum wie im Unbewussten, die diskreten Präsenzen – unfähig sich an die Logik der Zeit anzuschmiegen; Kombinationen heterogenster Elemente – wie im Surrealismus –, denen der Bezug zur Normalzeit verloren gegangen ist. Eine ursprüngliche, funktionale Zeit gewinnt die Oberhand: Die (denormierte) Sinnbildung wird aggressiv und drängt sich aus dem Unbewussten hervor. Die Fotografie übersetzt vortrefflich: um sie zu übertreffen, muß man übersetzen und interpretieren können. Francis Wey, Über den Einfluß der Heliographie auf die Schönen Künste, 87
Die Verräumlichung als Schrift ist das Abwesend- und Unbewußt-Werden des Subjekts. Durch die Bewegung ihres Abweichens begründet die Emanzipation des Zeichens rückwirkend den Wunsch nach der Präsenz. … Als Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Tod ist dieses Werden gerade die Begründung der Subjektivität – auf allen Organisationsstufen des Lebens, das heißt der Ökonomie des Todes. Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch. Jacques Derrida, Grammatologie, 120
Der Tod in der Schrift und die Reanimation in der Fotografie sind von der gleichen Ökonomie der Dialektik der Freiheit und Befreiung vom Hier und Jetzt des Körpers begleitet. In der Schriftspur sind zudem die Gegenstände von ihrer Präsenz befreit. In der Fotografie sind sie zwar präsent, von ihrem alltäglichen Gebrauch, der Praxis des Unbewussten, befreit. Auch in dieser Hinsicht gilt also, daß Medien Abwesenheitsprobleme konterkarieren – und das gravierendste, verstörenste unter allen Absenzproblemen ist der Tod. Die Toten schweigen, aber man kann die Gestorbenen in effigie festhalten. Bis zur Erfindung des Tonfilms schweigen ja auch die Bilder, selbst die bewegten scheinbar lebenden Bilder. Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne, 48
Die Spur – Urphänomen des „Gedächtnisses“. Jacques Derrida, Grammatologie, 123
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DISKURSFRAGMENTE
Wo und wann beginnt? Ursprungsfrage. Daß es aber keinen Ursprung, das heißt keinen einfachen Ursprung gibt, daß die Ursprungsfragen mit einer Metaphysik der Präsenz beladen sind, das dürften wir zweifellos erfahren, wenn wir über die Spur nachdenken. Jacques Derrida, Grammatologie, 130
Der Versuch, die originäre und prä- oder metaphonetische Schrift zu denken, führt zu nichts Geringerem als zu einer „Überwindung“ des gesprochenen Wortes durch die Maschine. Jacques Derrida, Grammatologie, 140
Der Fotoapparat: metaphysische Maschine der Präsenz. Die Produktion des Ursprungs als Präsenz. Was man fotografiert, ist ein scheinbar unwiederholbares Event, das Einmalige. Das Alltägliche wird nicht fotografiert. Der Moment existiert nur durch die Fotografie. Die Fotografie macht die Gegenwärtigkeit messbar, sie kontrolliert sie. Die größte Schwierigkeit lag bereits darin, in zugleich historischer und systematischer Weise das organisierte Nebeneinander von figurativen, symbolischen, abstrakten und phonetischen Elementen in ein und demselben graphischen Code zu erfassen. Jacques Derrida, Grammatologie, 144
In Wahrheit aber fehlt den sogenannten „schriftlosen“ Völkern immer nur ein ganz bestimmter Schrifttypus. Jacques Derrida, Grammatologie, 148
Das rätselhafte Modell der Linie ist also gerade das, was die Philosophie, als sie ihren Blick auf das Innere ihrer eigenen Geschichte gerichtet hielt, nicht sehen konnte. Diese Nacht hellt sich in dem Augenblick ein wenig auf, wo die Linearität – die nicht der Verlust noch die Abwesenheit, sondern die Verdrängung des mehrdimensionalen symbolischen Denkens ist – ihre Unterdrückung lockert, weil sie allmählich die lange Zeit von ihr begünstigte technische und wissenschaftliche Ökonomie zu sterilisieren beginnt. Jacques Derrida, Grammatologie, 153
Der Fotografie ist eine Aufdeckung der Tiefe des Geschichtsraums zu konzedieren: Es gibt keine Linie der Fotografie – es gibt nur Fotos.
V. SPUREN LEGEN 59
Denn die Erinnerung und ihre Materialisierung im Foto bedeuten auch immer eine Auslagerung und Abwehr des Gedächtnisses, dessen Aufgabe die Sicherung der Kontinuität des Ichs ist. Die Entstehung der Städte geht nicht nur mit dem Aufkommen der Beherrschung des Feuers einher, sondern … gleichzeitig mit der Metallurgie entsteht auch die Schrift. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 252 Zitiert nach: Jacques Derrida, Grammatologie 153f
Das Programm der Metallurgie wird durch die Technik der „verlorenen Form“, einem Abdruck/Abgussverfahren serialisierbar. Von dem Augenblick an, wo das Zeichen in Erscheinung tritt, das heißt seit je, besteht keine Möglichkeit, die reine „Wirklichkeit“, „Einzigartigkeit“ und „Besonderheit“ ausfindig zu machen. Jacques Derrida, Grammatologie, 165
Die inversive Struktur des Zeichens, Medium und Form zugleich zu sein, verlangt nach der Frage, wie die Substitution organisiert sei. Ritus, Gewohnheit, Regel – diese Ordnungen entstehen aus der Möglichkeit und dem Scheitern der Wiederholung. Gegen das Scheitern steht nun die Beweiskraft der Fotografie, die einer Wirklichkeit erst ihre Signifikanz (Realität) verleiht, d.h., sie tauschbar und transponierbar macht. Und muß man nicht auf jene heliozentrische Vorstellung vom gesprochenen Wort reflektieren? Und auf die Ähnlichkeit des Logos mit der Sonne …, mit dem König oder dem Vater …? Und wenn es irgendeine innere Notwendigkeit für diese Verfinsterung [in der Schrift, Anm. d. Autors] gibt, muß dann nicht das Verhältnis zwischen dem Schatten und dem Licht, der Schrift und dem gesprochenen Wort eine andere Gestalt annehmen? Jacques Derrida, Grammatologie, 166
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VI. INSZENIERUNG VON PRÄSENZ Das Bedrohliche ist also die Schrift. Jacques Derrida, Grammatologie, 175
Die Fotografie von der Urschrift her zu denken, heißt, die Präsenz als fortschreitende Gewalt, als das „Sich-ereignen“ des Schicksals zu denken, das freilich den glücklichen Augenblick einschließt. Fragen der zwanghaften Ästhetisierung sind berührt. Sie betreffen einen Agon der Kritik, der den eigentlichen Kern des Fotografischen – den der Gewalt der Präsenz und der Identität und ihrer Moderierung im szenischen Vollzug der Lesung des Fotos – betrifft. Die Gewalt des Augenblicks lauert nicht nur im Foto, sondern auch in der Schrift als Gesetz. Ästhetisierung heißt auch immer Verräumlichung, szenische Dekompression des schicksalhaften Augenblicks. Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. … Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen „wie es eigentlich gewesen ist“. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 695.
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… die Geste der Ur-Schrift: Ur-Gewalt, Verlust des Eigentlichen, der absoluten Nähe, der Selbstpräsenz, in Wahrheit aber Verlust dessen, was nie stattgehabt hat, einer Selbstpräsenz, die nie gegeben war, sondern erträumt und immer schon entzweit, wiederholt, unfähig, anders als in ihrem eigenen Verschwinden in Erscheinung zu treten. Jacques Derrida, Grammatologie, 197
Der Fetisch der Fotografie besteht in der unverbrüchlichen Treue zum Augenblick, den sie bewahrt. Ist es richtig, von einer Illusion zu sprechen, wenn man diesem Augenblick nicht entgehen kann? Denn die Illusion muss immer ein Spiel bleiben. Hier kommen dann Fragen der Ästhetik, der Inszenierung von Wert ins Spiel, d.h. ein diskursiver Bereich der Schrift, also des Aufschubs und der Abwehr der Unmöglichkeit der Identität als Wiederholung. Wenn die Identität/ der Inzest auch unmöglich ist, so gibt es doch Strategien der Näherung und der Verschleierung. Die Ökonomie, das sei hier kurz festgehalten, zeichnet sich vielleicht durch folgende Züge aus: mit der Ersetzung der Rede durch die Schrift tritt zugleich der Wert an die Stelle der Präsenz. Jacques Derrida, Grammatologie, 246
Das Selbstbildnis, Selfie. Nicht mehr Befragung der Selbstpräsenz im Raum, sondern Objektivierung der Präsenz. Dem Zweifel, den jede Wiederholung gegenüber der Originalität bekundet, wird stattgegeben in ästhetischer Konkurrenz. Mit dem Zweifel an der die Zeitlogik unterminierenden Wiederholung (das Paradox der Wiederholung des Einmaligen) wächst der Preis für Originalität ins Unermessliche – so, wie der Preis für die ökonomische Verwertung als Reproduktion. Die Selbst-Affektion ist die Bedingung einer Erfahrung schlechthin. Diese Möglichkeit – ein anderer Name für das „Leben“ – ist eine allgemeine, durch die Geschichte des Lebens gegliederte Struktur … Von diesem Schema aus muß also die Stimme verstanden werden. Jacques Derrida, Grammatologie, 284
Derrida argumentiert gegen den Standpunkt Rousseaus. Selbstaffektion: mich vom Ding animieren lassen, das ich selbst bin. Kör-
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perkult und Fotografie; die Vorliebe für Abbildung und Inszenierung der menschlichen Gestalt usw. Das Ich, das Objekt meiner selbst sein kann, hat jedoch eher mit der psychoanalytischen Erfahrung zu tun, dass die Abwehr des Todes, aber auch die von ihm ausgehende Faszination („ewiges Leben“, „Perfektion der Dinge“) in der gelingenden Praxis einer Gesellschaft mediatisiert werden können muss. Niemals wird die Fotografie mit der Wirklichkeit verwechselt, die sie abbildet, doch erschafft sie für einen Augenblick die fixierte Mitte zwischen lebendiger Präsenz und totem Abbild. Sämtliche andere Bildgebungsverfahren gruppieren sich um diese Mitte herum. Die Schrift ist ein Repräsentant der Spur im allgemeinen, sie ist nicht die Spur selbst. Die Spur selbst existiert nicht. Jacques Derrida, Grammatologie, 287
Die Präsenz ist selbst eine Illusion der Spur. Sie existiert nicht. Die Sprache ist eine Struktur – ein System der Gegensätze von Orten und Werten … Man könnte sie eine Polarisierung nennen. Jacques Derrida, Grammatologie, 372
Desgleichen entsteht die Schrift zusammen mit der Agrikultur, die ihrerseits an die Seßhaftigkeit gebunden ist. Wie geht nun der Ackermann vor? Ökonomisch. Am Ende der Furche angelangt, kehrt er nicht zu seinem Ausgangspunkt zurück, sondern wendet Pflug und Ochse. Dann fängt er in umgekehrter Richtung wieder von vorne an. Zeit-, Raum- und Energiegewinn. … Die visuelle Ökonomie des Lesens gehorcht einem der Agrikultur analogen Gesetz. Gleiches gilt nicht für die manuelle Ökonomie des Schreibens, welche ja in einem bestimmten Bereich und während einer bestimmten Periode der großen phonographisch-linearen Epoche vorherrschend war. Jacques Derrida, Grammatologie, 494f
Man unterscheide: die Inszenierung, die Aufnahme, das Zeigen und das Lesen des Fotos. Sie sind einer technikökonomischen Prozedur und Entwicklung unterworfen. Das Fotografieren entwickelt sich vom chemischen Spezialistentum zur nichtigen Geste, das Zeigen folgt älteren Gewohnheiten der Geltungssucht und das Lesen einer
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Fotografie biedert sich einem akademischen Diskurstyp an, dessen Wandlungsfähigkeit gering ist und der die Schrift vor jeder Art Bild liebt. Aber wie „liest“ man eigentlich eine Fotografie? Wir betonen Inschrift überhaupt: damit soll festgestellt werden, daß es sich nicht nur um die Notation einer bereits gefertigten Rede handelt, die sich selbst repräsentiert, sondern um die Inschrift im gesprochenen Wort und die Inschrift als seit je situierte Behausung. Jacques Derrida, Grammatologie, 498
Derrida knüpft an eine Bemerkung Heideggers an: „Sprache ist das Haus des Seins“. Für unseren Gegenstand liegt die Bedeutung des Wortes „Inschrift“ eher in der Nähe des Begriffs „Aufschreibesystem“. Medien, sofern sie die Spur und Spaltung von (Ur-)Schrift sind und repräsentieren, sind Programme einer Differenz-Indifferenzökonomie. Wenn es ansteht, die Realität als Präsentation der Präsenz zu behandeln, würde neben „Inschrift“, „Aufschrift“ auch der Begriff „Vorschrift“ – im doppelten Wortsinne von „Gesetzeskraft“ und „Vereinbarung, wie zu lesen sei“ – lanciert, wobei man den inszenatorischen Vorgaben folgen kann oder nicht. Jedenfalls geschieht das Inszenieren im Vorgriff auf eine Handlungsort, das Erobern eines Terrains/ Tableaus (Provisorium) und einer Zeitökonomie (Provision), auf denen die regelhaften und nichtregelhaften Handlungen stattfinden können. Inszenierung ist ein spezifisches Programm der Organisation von Ereigniswiederholung unter der Einplanung des Risikos und der In-Geltung-Setzung einer möglichen Abweichung: Artistik zumal. Derridas Kritik am Phonologismus, der die Schrift als Dienstboten der gesprochenen Sprache versteht, geschieht noch auf dem Terrain der Geschichts- und Sozialkritik des Strukturalismus, der der Artistik enge Grenzen setzt. „Der Buchstabe tötet“ … Aber im Theater ist selbst das tiefe Übel der Repräsentation wirksam. Es ist die Korruption schlechthin. Denn die [lebendige] Szene wird von nichts anderem als sich selbst bedroht. Die theatralische Repräsentation wird in der Zurschaustellung, der Exposition, der Inszenierung dessen, was dargestellt wird, von der supplementären Re-präsentation infiziert. Jacques Derrida, Grammatologie, 522
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„Der Buchstabe tötet.“ – Das Zitat aus Rousseaus Emile dient Derrida zur Metaphorisierung der Probleme mit einer immer schon durch die Vorschriften und Institutionen inszenierten Realität, sinnbildlich dem Tableau der Scena. Ein nur spontanes Theater („Theater der Situation“, Commedia dell’Arte) kann es ebenso wenig geben wie eine nur spontane Fotografie. Das Fotografieren ist stets ein Akt, der sich einer vorhandenen ausgebildeten Struktur und Technik unterwirft. Auch wenn sie sich als ausgesprochen praktisch und unkompliziert erweist, substituiert sie sich den Programmvorschriften eines bereits kultivierten Blicks. Der Signifikant ist der Tod des Festes. Die Unschuld des öffentlichen Schauspiels, das gute Fest, der Tanz um die Wasserstelle eröffneten gewissermaßen ein Theater ohne Darstellung. Oder vielmehr eine Szene ohne Schauspiel: ohne Theater, ohne Sichtbares. … Was aber ist eine Szene, auf der es nichts zu sehen gibt? Es ist der Ort, wo der Zuschauer, indem er selbst spektakulär, Spektakel wird, nicht mehr Sehender, noch Gesehener sein wird, wo er in sich die Differenz zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer, dem Dargestellten und dem Darsteller, dem betrachteten Objekt und dem betrachtenden Subjekt auslöschen wird. … Dieses Fest ohne Objekt [Schrift, Anm. d. Autors] ist zugleich – das sei hier festgehalten – ein Fest ohne Opfer, ohne Verausgabung und ohne Spiel. Vor allem ohne Masken. Jacques Derrida, Grammatologie, 524-526
Der spontan Fotografierende: die Illusion einer opferlosen Identität, die ihre eigene Pro-Vision zum Verschwinden bringt und sie am Ort des anderen hervorzaubert. Das Zeigen, Intervention des fotografierten Augenblicks, gehört zur Fotografie. Das Zeigen als Teilnahme des Anderen ist die Gabengeste. Meine These ist, daß die spektakuläre Kultur nicht auf der Notwendigkeit aufbaut, ein Subjekt sehen zu machen, sondern auf Strategien, die Individuen isolieren und separieren und sie Zeit in einem Zustand der Ohnmacht erleben lassen. Dementsprechend sind Gegenformen der Aufmerksamkeit weder ausschließlich noch wesentlich visuell, sondern vielmehr als andersartige Temporalität, als andersartiger kognitiver Zustand konstituiert – so in Trance oder im Wachtraum. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 15
VI. INSZENIERUNG VON PRÄSENZ 65
Die neutralisierte Analyse einer spektakulären Kultur unter dem Leitbegriff „Wahrnehmung“ ersetzt Crary durch den bivalenten Begriff der „Aufmerksamkeit“. Er gewinnt dadurch die Möglichkeit, eine Ökonomie des Sehens am Parameter der Zeit festzumachen: Der Augenblick des Spektakels und die Dauer der Versenkung bilden die Bildrezeptiven Referenzen. So ist das Sehen im Kino kollektiv und einer unausgesetzten Aufmerksamkeit gewiss, während die Versenkung in ein Bild oder einer Fotografie singulär und flüchtig ist. Eine ganze Palette der Bildvisualisierungsapparate, die Crary für das ausgehende 19. Jahrhundert untersucht, konditionieren die Aufmerksamkeit je nach Profession und sozialer Funktion des Betrachters. Ich behaupte jedoch, daß die Aufmerksamkeit nur aufgrund der historischen Tilgung der Möglichkeit, die Idee der Präsenz in der Wahrnehmung zu denken, zu einem spezifisch modernen Problem wird; erst im Gefolge dieser Tilgung wird die Aufmerksamkeit zu einer Simulation von Präsenz und zugleich zu einem Notbehelf, zu einem pragmatischen Ersatz angesichts von deren Unmöglichkeit. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 15f
Der Zusammenhang von Aufmerksamkeitsmessung, konzentrierter Arbeit und Freizeitbeschäftigung markiert eine Spielebene der Konkurrenz der menschlichen Sinne mit denen der Maschinen. Auch der instantane Augenblick der fotografischen Aufnahme bedarf der Zeitmessung entweder durch den schnellen Blick oder der sorgfältigen inszenatorischen Vorarbeit. Auch hier erweist sich die Fotokamera als Zeitmaschine und Präsenzsimulator.
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VII. URSPRUNG: BILD UND BEGRIFF, REAL UND IDEAL Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 222
Kants Grundlegung der Metaphysik führt auf die transzendentale Einbildungskraft. Diese ist die Wurzel der beiden Stämme Sinnlichkeit und Verstand. … Diese Wurzel aber ist in der ursprünglichen Zeit verwurzelt. Der in der Grundlegung offenbar werdende ursprüngliche Grund ist die Zeit. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 196
Folgender Gedanke Heideggers ist darzulegen: Erstens, die Nichtbegündbarkeit von Zeitlichkeit, der Sinnlichkeit und Verstand entspringen, heißt metaphysisch. Zweitens, die Grundlegung erfolgt als Synthese/Schema eines „Bildes“: in der Sinnlichkeit als Einbildungs-
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kraft; als Begriff im Verstand. Drittens, die Synthesen („Bilder“) zeigen einen Symmetriebruch zwischen Imagination und Realisation. Die Vermittlung ist nicht opferlos: „Zeit“ ist der Ausdruck für das, was in einer Logik des Ursprungs nicht dauert, sondern sich im Zerfall der Einheit zeigt. Zeitlichkeit ist Bewusstsein von Endlichkeit. Die Illusion der Ewigkeit schöpft sich aus der Gabe der Einbildungskraft, die dem Subjekt immer schon vorweg ist und deren Herr es nicht ist. Man unterscheide: Zeitlichkeit ist der unaufhebbare Rest im Sprung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Bild und Begriff. Zeit ist die sinnliche Anschauung dieses Sprungs, dieser Spaltung selbst. Das reine endliche Selbst hat in sich Zeitcharakter. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 185
Der Ausdruck „Bild“ ist hier in dem ursprünglichsten Sinne zu nehmen, gemäß dem wir sagen, die Landschaft bietet ein schönes „Bild“ (Anblick), oder die Versammlung bot ein trauriges „Bild“ (Anblick). Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 87
Statt „Bild“ sagen wir „Szene“. Kant sagt „Schematismus“ und meint damit die Regel der Bild-Bildung. Wenn wir sagen: „Szene“, dann soll damit gemeint sein, dass Raum und Zeit keine absoluten (messbaren) Bedingungen, sondern metaphysische Produkte im Kantischen Begriff sind: ein Schwerefeld der Ereignisse und der Aufmerksamkeiten. Nur dort, wo die „Einbildungskraft“ sich vor dem transzendierenden Sprung zu stauen, zu verharren, zu „stellen“ beginnt, bildet sich ein „Bild“. Das Bild ist gleichsam die Vorstufe zum Ding. Die reine Versinnlichung geschieht als ein „Schematismus“. Die reine Einbildungskraft gibt schema-bildend im vorhinein den Anblick („Bild“) des Horizonts der Transzendenz. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 88
Hinsichtlich des Ursprungs von Medium/Schrift bei Derrida gibt es bei Heidegger eine doppelte Bewegung: erstens, die Einbildungskraft, die die jeweiligen Bilder „gibt“, verflüssigt; zweitens die Verdichtungskraft, die die jeweiligen Bilder konkretisiert, abbindet und vergegen-
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ständlicht. Analog dazu die Illusion der Schrift: einerseits die flüssige Schrift, die sich in Bedeutung und Sinn konkretisiert, andererseits die elementaren Buchstaben, die gegenständliche, unveränderliche „Einzelbilder“ sind. Kant nennt diese beiden Verdichtungen „Schematismen“. Nur als Verräumlichung, als Verendlichung ist Zeit für ein Subjekt disponibel, d.h. ein Produkt der Arbeit. Das Foto stellt die Zeit als verräumlichte Präsenz dar: Bildgabe ohne Arbeit. Dieses reine Beschaffen des reinen Anblickens von Gegenwart überhaupt ist aber doch das Wesen der Zeit selbst als reiner Anschauung. Das „stehende und bleibende“ Ich bedeutet soviel wie: das Ich im ursprünglichen Bilden der Zeit, d. i. als ursprüngliche Zeit, bildet das Gegenstehenlassen von … und dessen Horizont. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 187
Bild kann zunächst heißen: der Anblick eines bestimmten Seienden, sofern es als Vorhandenes offenbar ist. Es bietet den Anblick. In der Ableitung von dieser Bedeutung kann Bild weiterhin heißen: abbildender Anblick eines Vorhandenen (Abbild) bzw. nachbildender Anblick eines nicht mehr Vorhandenen oder aber vorbildlicher Anblick eines erst herzustellenden Seienden. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 89
„Bild“ ist der gemeinsame Ausdruck für die Stasen der Zeitlichkeit. Sodann kann aber „Bild“ die ganz weite Bedeutung von Anblick überhaupt haben, wobei nicht gesagt wird, ob in diesem Anblick ein Seiendes oder ein Nicht-seiendes anschaubar wird. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 89
Kürzen wir Heideggers detaillierte Argumentation ab. In diesem letzteren Fall meint „Bild“ das mehrfache, wiederholenden, überzeitliche Schema des Bildanblicks, also den idealen Gegenstand stillgestellter, ästhetisierter Zeit. Der Anblick eines Nicht-Seienden, Idealen ist nicht mehr im Bild, sondern im Begriff gegeben. Der Begriff ist also die Synthese/das Schema der Bilder oder andersherum, das transzendierte Subjekt, das die Begriffe aus empirischen Bildern in einen ihnen gemeinsamen Ursprung zurückführt. Insofern ist die Spur der Schrift ein relativ Nicht-Seiendes.
VII. URSPRUNG: BILD UND BEGRIFF, REAL UND IDEAL 69
Das Bild ist daher immer ein anschaubares Dies-da. Und deshalb bleibt jedes Abbild, z. B. eine Photographie, nur eine Abschreibung dessen, was sich unmittelbar als „Bild“ zeigt. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 89f
Fotografie als Abschreibung, Kopistenartistik. Sie ist die einfachste Form des Bildschemas. Die Schemabildung wird als „Abschreiben“ bezeichnet, sofern sie nicht auf ein Ideales, einen Begriff aus ist. Andererseits hat auch die Fotografie am zweiphasigen Ursprung teil: Sie ist bildbildend und sie ist im Schematismus der Technik, einer idealisierten Hervorbringungsform, „Schrift“ respektive Schrifteinheit: nämlich einer normierenden idealen, dokumentarischen Wirklichkeit verpflichtet. Die Fotografie soll nicht Wirklichkeit abbilden, sondern sie im Bild (den ubiquitären Bildern) hervorbringen. Der Ausdruck „Bild“ wird nun ebenso häufig in diesem zweiten Sinne von Abbild gebraucht. Dieses Ding da, diese vorhandene Photographie, bietet als dieses Ding unmittelbar einen Anblick; es ist Bild in dem ersten und weiten Sinne. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 90
Das Fotografische ist seine Realität als Begriff: das Unsichtbare im Sichtbaren, oder: das Ideale im Realen. Zu den idealisierenden Techniken gehört nicht nur der apparative Aufbau, sondern auch der soziale Umgang mit den Techniken und den Produkten. [Bilder] zeigen aber jetzt die „Anblicke“ … Sie zeigen, wie etwas „im allgemeinen“ aussieht, in dem Einem, was für viele gilt. Diese Einheit für mehrere aber ist das, was die Vorstellung in der Weise des Begriffes vorstellt. Diese Anblicke sollen jetzt der Versinnlichung von Begriffen dienen. … Eben deshalb ist aber der Begriff auch wesensmäßig nicht abbildbar. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 90f
Aber es ist zu bedenken, dass nun die Einbildungskraft entweder vom Imaginären (bzgl. des Begriffs) oder vom Realen, Sinnlichen aus (bzgl. des Bildes) für ein Subjekt dessen eigene Negation bilden muss. Denn das Subjekt ist ein Äquivalent für die Rhythmik des Übergangs, nicht für einen unterstellten ununterbrochenen (bewusstlosen), leeren
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Fluss einer abstrakten Zeit. Insofern sind also Bild und Begriff gleichursprüngliche Phänomene einer aufgeschobenen Endlichkeit. Es gibt keinen einfachen Ursprung. Deswegen unterliegt alles, was zeitlich ist, der Interpretation, d.h. der erneuten Vermittlung durch Bild und Begriff. Schrift ist der Sonderfall der Darstellung von Begriffen – im Extrem nicht als Bild, sondern als abstrahierte Lineatur. Die differierenden Schriftsysteme belegen aber die mannigfaltigen Übergänge zwischen den Techniken der Darstellung des Bildes und des Begriffs. Die begriffliche Einheit ist, was sie als einigende sein kann und soll, nur als die regelnde. Die Einheit wird nicht erfaßt, sondern sie steht nur dann gerade als wesenhaft die Regelung bestimmende im Blick, wenn von ihr weggesehen wird auf ihr Bestimmen der Regel. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 92
Wir sprechen mit Derrida weniger von „Regel“ als von „VorSchrift“. Im Begriff ist der Gebrauch des Wortes, der Grammatik etc. das Regelbildende. Die Regel muss man wissen: Wenn die Buchstabenfolge H-A-U-S gebraucht wird, ist damit ein ideales Haus vorgestellt. Wenn ein Dreieck über ein Viereck gemalt wird, ist damit ein ideales Bild des Hauses vorgestellt. Die erste Regel lernt man in der Schule, die zweite über die Wahrnehmung von Häusern, zu denen der Sprechende „Haus“ sagt. Die erste Regel muss man wissen, die zweite kann man sinnlich erfahren. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriff. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A140, B179f Zitiert nach: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 93
… der darstellbare Anblick, dessen Darstellungsregel im Schema der Notion vorgestellt wird, kann nie aus dem Umkreis des empirisch Anschaulichen genommen werden. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 99
Das Schema verdankt sich einer Gewohnheit. Die Schematisierung als „Bild-Bildung“ folgt dabei einem menschlichen Maß. Die Größe
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und Schärfe der Bilder, die Länge der Worte und Sätze, die Grammatik, die Perspektivität etc. sind Intervalle, Ligaturen der Bewegung, weit besser im Film als im Foto zu demonstrieren. Die Zeit aber ist als reine Anschauung solches, was vor aller Erfahrung einen Anblick verschafft. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 99
Der Riss/Aufschub zwischen dem Realen und dem Imaginären muss nicht eigens gelernt werden. Er ist die Gabe des Menschen. „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln“ oder kurz „transzendentale Zeitbestimmungen“. Als solche sind sie „ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft“. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A145/138/142, B184/177/181 Zitiert nach: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 101
Barthes untersucht die „Präsenz“ der Abwesenheit seiner toten Mutter. Die Konkretion ist stets Interpretation, da der Ursprung –der Sinn – kein einfacher und kein „scharfer“ ist. Barthes sucht nach einem Begriff und erhält zwei Zeitbegriffe: Studium und Punctum – die Anschauung einer Dauer und das Ereignis. Ihr gemeinsamer Ursprung ist die mütterliche Gabe. Denn vor allem und in erster Linie verbietet dieser offensichtliche Gegensatz (studium/punctum) nicht, sondern begünstigt im Gegenteil eine gewisse Komposition der beiden Begriffe. Was ist unter Komposition zu verstehen? Zwei Dinge, die noch etwas Gemeinsames bilden, die Zusammen etwas Gemeinsames komponieren. Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, 16
Vom Bild zur Musik, von der Metapher zur Metonymie: Derrida untersucht das Problem der fixierten Zeit innerhalb einer „tonalen“ Abfolge. Doch führt der Rückgang auf Musik nicht zur Stimme, sondern zur Schrift, Melodie, Intonation – zur Performanz. Phantome: der Begriff des Anderen im Selben, das punctum im studium, der ganz andere Tote lebendig in mir. Dieser Begriff der Photographie
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photographiert jede begriffliche Gegenüberstellung, er entdeckt dabei ein Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung, das vielleicht für jede „Logik“ konstitutiv ist. Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, 17
Diese Darstellungsfunktion wird aber erst recht deutlich, wenn, was Kant hier unterläßt, der volle Gehalt der Notion „Substanz“ beachtet wird. Substanz ist eine Kategorie der „Relation“ (zwischen Subsistenz und Inhärenz). Sie meint das Zugrundeliegen für ein „Anhängendes“. Die Zeit ist also nur dann reines Bild der Notion Substanz, wenn sie gerade diese Relation im reinen Bilde darstellt. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 103
Notion: Wir sagen einfacher: Verschriftung, und meinen das Ausfließen einer Subsistenz (Tinte) für eine Form (Buchstaben) respektive das formbildende Ausfließen der Zeit als Narration, heute verkürzt: Medialisierung. Wie die Mönche das Gebet, die Wasser- oder Sanduhr zur Zeitmessung gebrauchen, so kann man auch das Schreiben als Chronographen verstehen. Tatsächlich wurden in den Scriptorien die Arbeiten der Schreiber nach Zeilenzahl bewertet. Statt der „Arbeit“ des Schreibens, Fließens, Rinnens wird die „Ein-Bildungs-Kraft“ selbst immer der arbeitsenthobenen Plötzlichkeit, dem Entwurf, der Idee zugeschoben, die nicht quantifizierbar sind. Arbeit ist Widerstand gegen die verrinnende Gabe der Zeit. Die Zeit also ist es, die als a priori gebende von vornherein dem Horizont der Transzendenz den Charakter des vernehmbaren Angebotes verleiht. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 104
Aber Vorsicht! „A priori“ meint nicht „zuerst“ oder „ursprünglich“, sondern „immer schon“, „jedes Mal“. Die Einheit ist das Differential aus Einigen und Teilen. Systemtheoretisch: die eine Unterscheidung, die die eine Seite sieht und die andere ausschließt. Dieses Bilden einer ursprünglichen Einheit ist aber nur so möglich, daß das Einigende seinem Wesen nach das zu Einigende entspringen läßt. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 135
VII. URSPRUNG: BILD UND BEGRIFF, REAL UND IDEAL 73
Sinn bedeutet endliche Anschauung. … Die Zeit und das „ich denke“ stehen sich nicht mehr unvereinbar und ungleichartig gegenüber, sie sind dasselbe. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 185
Heideggers Darstellung der Kantischen Bestimmung der Einbildungskraft endet hier. Das Bewusstsein ist die Zeit, das Zeitempfinden des Subjekts ist die Zeit in ihrer anschaulichen Form. Die Termini „Bild“ und „Schrift“ verweisen in ihrer Gespaltenheit auf diese Einheit zurück. Die Fotografie als Medium, als „einheitbildende Kraft“, ist bildgebend und in dezidiert visuellem Sinne wirklichkeitsbildend. Aber die Kantisch-Heidegger’sche (zweifellos auch Husserl’sche) Analyse, auf die ich augenblicklich angespielt habe, betrifft die Zeitlichkeit als reine autoaffektive Synthese, in der die Aktivität selbst Passivität ist. … die Verbindung mit der Besonderheit des Fotografischen kommt vielleicht besser … in der Tatsache zum Ausdruck, daß diese Vermittlung über die Auto-Affektion als Zeitlichkeit, über den Schematismus der transzendentalen Einbildungskraft verläuft. Es geht um das Bild, die Produktion des Phantastischen, um eine produktive Einbildungskraft in der Konstitution selbst der Zeit und in der ursprünglichen Zeitlichkeit. Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv, Signatur, 286
Die Formel, wie sie Heidegger ableitet, lautet: Zeit ist Einbildungskraft. Das, was sich mir einbildet, ist zugleich aktiv und passiv. Die „Dichte und Dauer“ der Zeit wird von der Dichte und Dauer der Einbildungen (Imprimaturen oder Signaturen) bestimmt. Die Zeitigung ist ein Ereignis des real-imaginären Übergangs. Zeit ist als Medium verstanden, das sich gemäß der Aufzeichnung selbst hervorbringt; einer taumelnden Bewegung, die um der Erfüllung willen (der Verwandlung des Wunsches in Wirklichkeit und der Verfügung der Wirklichkeit als Besitz) sich selbst kontinuierlich aber gehemmt vorantreibt – wie eine Uhrenfeder die Uhr. Die Gabe der Zeit verbraucht sich in dem, was dauert. Jedes fotografische Portrait ist die erschreckende Ansicht davon.
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VIII. INZEST UND TODESTRIEB „Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.“ Dieser grammatologische Imperativ gilt auch für Bilder … Zum anderen betrifft die Frage der Bildgebung die Szene der Ins-Bild-Setzung. … Es geht also um Bilder, die keine Abbilder sind, keine Nachahmungen sichtbarer Dinge, Körper oder Szenen. Wenn ich von Bildgebung spreche und nicht von Visualisierung, dann deshalb, weil der Begriff der Visualisierung suggeriert, dass dabei etwas, das in nichtsichtbarer Weise bereits im Verborgenen existiert, nur mehr sichtbar gemacht zu werden bräuchte. … In Analogie zur Figur des Mise-en-scène könnte man hier von Mise-en-apparition sprechen. Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, 9-11 Zitat: Jacques Derrida, Grammatologie, 82
Die mise en scène ist nicht mehr ein Mittel zur bloßen Illustration oder Präsentation einer Szene, sondern eine wirkliche Schreibweise [écriture]. Der
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Autor schreibt mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit seinem Federhalter. … Es bedeutet, daß der Film sich nach und nach aus der Tyrannei des Visuellen befreien wird, des Bildes um des Bildes willen …, der unmittelbaren Fabel, des Konkreten, um zu einem Mittel der Schrift zu werden, das ebenso ausdrucksfähig und ebenso subtil ist, wie das der geschriebenen Sprache. Alexandre Astruc, Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter, 112 u. 114 Zitiert nach: Simon Frisch, Mythos Nouvelle Vague, 139
Die Freiheit des Autors geht seit der Nouvelle Vague auf die Regie über. Der Dialog wird improvisiert, die Handlung übernimmt Sprechaktfunktion. Die Wende zum performativen Ausdrucksgeschehen, zur bildgebenden Handlung, verwandelt die Medienkultur. Geschuldet ist diese Wandlung neuer Technik: Lichtstarke mobile Kamerasysteme erweitern die Raumzeitverortung der Szene. Eine von den Konventionen des „Kinos der Perfektion“ befreite Montage der Szenen wird experimenteller und zufälliger, um der bloßen Linearität der Narration zu entgehen. Der Film wird dadurch fotografischer. Die Wechselwirkung von Mise-en-scène und Mise-en-apparition spiegelt sich in den Inhalten. Außer Atem (1960), Peeping Tom (1960) und Blow up (1966) werden zu Kultfilmen des vordigitalen Technisierungsschubs und beschleunigen den Auszug aus den Studios und den Einzug der Postproduktion. Die Kadrierung des Fotografischen gehört zu den neuen Sinnelementen: Zufälligkeit, Realismus und Authentizität des Auges – dem Konkurrenzdruck des Fernsehens geschuldet. … die Photographie als Schattentheater der Technik. Allerdings … hält doch das Lichtbild auch Details fest, die dem Auge des Photographen entgangen sind, enthält es doch auch Momente unwillkürlicher Aufzeichnung. Damit wird die Photographie zu einem Bild, bei dem die intendierte Ablichtung – als trace instituée (Derrida) – durch unbeabsichtigte Spuren ergänzt oder auch gestört wird. … Aufgrund der Ablichtung des Objekts, der Aufzeichnung von Licht- und Schattenspuren zur Herstellung eines ähnlichen Bildes, ist die Photographie, die manchmal sogar als Spur des Realen betrachtet wird, zum vielleicht beliebtesten und zugleich umstrittensten Fall bildtheoretischer Indexikalität geworden. Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, 156f
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Weigel verweist darauf, dass dieser problematische Bildbezug zwischen „Realität“ und „Bildwirklichkeit“ im Zuge der Digitalisierung der Aufzeichnungsapparate neu gedacht werden muss. In der elektronischen Umwandlung wird das Bild zugunsten algorithmischer Codes aufgelöst und in einer illudierenden Form (Pixel) sichtbar gemacht. Es gilt, das Auge in der richtigen Weise zu täuschen. Der Inzest der digitalen Reproduktion – es gibt kein Original mehr – ist für das Auge unhintergehbar. Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, 567f Zitiert Nach: Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, 408
Der Text verhält sich zum aufblitzenden Bild wie das materielle Bild zur Spur. Ähnlich wie die nicht fixierte Spur sind diese Art Bilder immer vom Verschwinden bedroht … Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, 440
Was jeweils als Medium oder Form bestimmt wird, ist durch die psychologische und kulturelle Dimension der menschlichen Sinne prädisponiert. Die Spur ist die Schwelle des Verschwindens. Ihre Dimension ist psychologisch. Das gramma ist alsdann der allgemeinste Begriff der Semiologie – die auf diese Weise zur Grammatologie wird … Das Gramma als différance ist demnach eine Struktur oder eine Bewegung, die sich nicht mehr von dem Gegensatzpaar Anwesenheit/Abwesenheit her denken läßt. Die différance ist das systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen. … Die Differenzen sind das Ergebnis von Transformationen … Man muß daher vor jeder Trennung von Sprache und Sprechen, von Code und Botschaft usw. … eine systematische Produktion von Differenzen, Produktion eines Systems von Differenzen – eine différance – annehmen … Das a der différance bringt daher auch zum Ausdruck, daß die Zwischenräume Verzeitlichung, Umweg, Aufschub sind, mittels derer die Intuition, die Wahrnehmung, der Konsum,
VIII. INZEST UND TODESTRIEB 77
mit einem Wort der Bezug zur Gegenwart, zu einer gegenwärtigen Realität, zu einem Seienden, immer differiert … werden. Jacques Derrida, Semiologie und Grammatologie 67-70
Derridas Erklärungen, 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Grammatologie von 1966, müssen heute im Licht einer systemtheoretischen und medienwissenschaftlichen Episode neu bewertet werden. Der Vorarbeit Derridas mangelt aus Gründen seiner Zeitgenossenschaft erstens die Idee einer allgemeinen „Medienwissenschaft“ und die Möglichkeit, „Schrift“ als „Aufschreibesystem“ unter anderen zu verstehen; zweitens begreift er über die späteren Medientechnikdifferenzierungen hinweg zwar sofort die sozialen und anthropogenetischen Implikationen seiner dekonstruktiven Differenzsystematik – da er, wie Foucault, von der stetigen Wechselwirkung zwischen dem „Humanen“ und seinen historischen Gegenständen überzeugt ist. Er führt sie zuerst nur auf der Bühne der Philosophie und der Literatur aus, wendet sich dann auch rasch und intensiv den szenischen Künsten und insbesondere der Fotografie zu. Derrida wählt den Begriff „Schrift“ missverständlicherweise zugleich für das „Terrain“, die Aufzeichnungsfläche und -zeit, als auch für die geschriebene Schrift, um anzuzeigen, dass die Zubereitung eines Einschreibungsortes und -datums eine sowohl historische wie genealogische Epoche der Einschreibung ist. Denn das Medium ist nicht vor der Form, sondern gleichursprünglich mit ihr. Das Medium der Fotografie ist vielleicht deswegen so anschaulich, weil es im strikten Gegensatz zur (geschriebenen) Schrift seinen Gegenstand punktuell und nicht linear setzt, und weil seine historische Entwicklung außerordentlich kurz und präzise zu beschreiben ist. Die Fotografie hat sozusagen Symptomcharakter für eine Zeit der Effekte und Affekte. Auf den „Todestrieb“, einen bestimmten Dualismus und einen bestimmten Begriff der Wiederholung und auch auf die beiden erwähnten Texte [Freuds: Jenseits des Lustprinzips und Das Unheimliche, Anm. d. Autors] habe ich mich oft bezogen, vor allem in Die différance und in La double séance. Jacques Derrida, Positionen, 170
In der Tat ist die dritte Bezugnahme Derridas – neben der Philosophie und den Medien – die auf die Gedächtniskonstruktion Freuds
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DISKURSFRAGMENTE
und auf dessen späte Uminterpretation des „Triebes“ als Widerstreit von Sog und Anziehung des Todesphantasmas, das Derrida in gewisser Weise als progressive Abwehr, als Aufschub versteht – als Verhältnis oder Relation zum Tode. Dieser Aufschub zum Tode ist in der Schrift – insofern sie die Abwesenheit des Körpers ermöglicht – konstitutiv. Abdruck der Spur ist immer auch Druck und Widerstand. Freud hat den Prozess der Gedächtnisbildung schon früh als Form einer ambivalenten Aufzeichnung angesehen. Die Notiz über den Wunderblock (1925) ist der Referenztext zur Darstellung einer sich selbst transzendierenden Gedächtnisinstanz. Es ist die Bewegung selbst der Spur: Sie [die Bewegung] ist a priori fotografisch. Jacques Derrida, Fotografie als Kopie, Archiv, Signatur, 288
Die aktuelle Ansicht erschafft die Präsenz und setzt sie ins Verhältnis zu einer vergangenen Präsenz. Die Fotografie ist die reine Bewegung des Gedächtnisses, als solche aber transzendiert: Das Gedächtnis kann sich gleichsam nicht bei der Arbeit zusehen. Die Medien sind die Avantgarde des objektiven Todestriebs. Christoph Weismüller, Philosophie der Medien, 83
Die primäre Medialisierung/Konvention von „ich“ und „anderem“ ist der Grundzug der Ödipalisierung, des von Freud benannten Todestriebs, der Aneignung dessen, was mir historisch und genealogisch immer schon so vorweg ist, wie Vater, Mutter und die Dinge und der Ablösung davon hin zur Authentizitätillusion eines Ichs: Erste Stufe: Autarkie von dem mich bestimmenden und hervorgebrachten Anderen qua Bewusstwerdung. Aneignung eines „Selbstbewusstseins“. Das Paradox der fremdbestimmten Selbstheit pflanzt sich in allen kulturellen Systemen fort als Widerstand gegen die drohend gelingende inzestuöse Selbsthervorbringung – Autarkie bezieht sich schließlich auf die Rückkehr in den Schoß der mütterliche Erde (Einschreibung, Pflügung), Löschung der alten Schrift auf dem Palimpsest der Kultur. Doch die Löschung/Abschabung hinterlässt selbst Spuren für andere. Zweite Stufe: Autonomie ist die Möglichkeit zwischen der gesellschaftlichen Konvention und dem individuellen Ausdruck, eine
VIII. INZEST UND TODESTRIEB 79
Wahl zu treffen, ohne an der Unmöglichkeit der Selbsthervorbringung (creatio ex nihilo) zu verzweifeln. Denn der Name, den ich in den Stein ritze, könnte morgen schon entfernt werden, so wie ich den Namen des Vaters entfernen ließ und den Mutterkörper beschrieb. Der Name setzt mich in die Vaterrolle, die ich auszulöschen vorhabe. Erst diese doppelte Funktion des Mißlingens hält den Todestrieb in der Mitte einer gelingenden, freilich opfervollen Praxis lebendig. In dieser Hinsicht gelingt es der Fotografie, eine Membran von Tod und Leben, von Vergangenheit und Zukunft in einer medialen Mitte zu halten und den Inzest der reinen Verdopplung abzuwehren. Formal wie inhaltlich vermitteln die Medien im ästhetisierten Propagandastil den Weg zum Tod in der Gestalt der Fiktion, welche diejenige ist, den Tod überlebt, ihn überwunden zu haben: Die Medien sind isolierte und von der Erfahrung isolierende Todesvermittlungen. Christoph Weismüller, Philosophie der Medien, 84
„Fiktionalisierung“ meint hier eine Umkehrung der Steigerungen und Verdichtungen, Todesmimetik als Abwehr. Ästhetisierung, Medialisierung, Verdinglichung – Abwehr schafft Raum: Inszenierung eines Refugiums der permanenten opferreduzierten Einspruchsmöglichkeit – einem System gleitender Wertsetzung ohne Vernichtung oder körperbedrohende Gewalt: Spielfeld statt Schlachtfeld. Die Verdinglichung bildet den Versuch der Aussetzung des Nichts und das Bemühen um dessen Disposition; sie geriert und generiert sich dergestalt als die Absolutheitsbildung des Nichts: Das ist der Todestrieb in einem auf die dingliche Objektivität hin fortgeschriebenen Sinne. Im Gegensatz zu den von Sigmund Freud her bekannten Todestrieb im engeren Sinne, begehrt dieser Todestrieb im weiteren Sinne nicht den Tod, sondern dessen Disposition, die Herrschaft über den Tod, das heißt schließlich: die Unsterblichkeit. Die Unsterblichkeit aber findet sich im Tod. Christoph Weismüller, Philosophie der Medien, 68f
Das heißt: Die Differenz wird verleugnet dadurch, dass eine technische Überbrückung statt der Differenz Platz gewinnt. Daraus ergibt sich die Urformel der Menschheit; diese heißt: Inzest statt Differenz. Christoph Weismüller, Philosophie der Medien, 66
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DISKURSFRAGMENTE
Zur fotografischen Todesstellung wider den digitalen Inzest: Der Peter auf dem Foto ist vom wirklichen Peter differiert, aber der wirkliche Peter ist stets inzestuös auch das Bild (Anblick) Peters – zunächst und zuerst seine visuelle Erscheinung. Peter kann mit seinem Bild identisch sein, er kann aber auch „Peter-sein“ spielen. Der Inzest zwischen dem „idealen“, dem „realen“ und dem „inszenierten“ Peter stört die Inzestschranke der Indifferenz von Wahrnehmung und Erkennen: den Umstand, dass Peter immer nur Peter ist. Das kann er aber nur dem Begriff nach, also im Ideal seines Namens sein. In Wirklichkeit aber vermittelt er mir ein Ensemble von Ansichten, Stimmungen und nicht erfüllten Hoffnungen. Derrida sieht seine Differenzierungsarbeit darin, den medialen Inzest in die ursprüngliche Differenz hinein aufzuklären. Der Inzest der Medien kann immer nur dem Schein nach gelingen. Würde er es tatsächlich, wäre der Tod oder der Wahnsinn die Folge. Der Extremismus der Medien ist das Schlachtfeld. Medientechniken sind Kriegstechniken, so Kittler.
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IX. GEDÄCHTNISSPUR MYTHOLOGISCH Alles vergessen, wenn Erinnerung einsetzt. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 15
Zur Konstitution der Grenze der Präsenz, des fotografischen Augenblicks: Wenn alles fotografiert wird, kann alles vergessen werden. Im Augenblick des Fotografierens existiert die Realität nicht. Schrift, Fuß, Hand. Der alte blinde Ödipus, von Antigone geführt, erscheint somit als Inbegriff der Aufzeichnung, der ja als Inzestform der Geschwisterinzest eh entspricht; es bedürfte der Präzisierung, wie die inzestuöse Duplikation des einzelnen die entsprechenden Gedächtniskonstitutiva hergibt: der „dreibeinige“ Ödipus als der von Antigone geführte Griffel. Erdinskription, Landnahme, Katasteramt … Ödipus und Antigone, die nicht lesen, sich vielmehr in ihr Graffiti hinein restlos schließlich opfern. Allemal steht fest, daß der Ursprung der Schrift nicht in der Schrift selber sich darstellen darf, weil sonst ja die Lektüre unterbrochen wäre … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 16f
… die Urschrift macht der Füßeabdruck beim Gehen, die Spur. … Allemal aber ist der Wanderer eh auch der Flüchtige … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 17f, 19
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Ödipus, der „Schwellfuß“, tötet auf der Suche nach seinem Ursprung den Vater und heiratet die Mutter. Er hinterlässt Opferspuren beim Versuch der Autarkisierung und Autonomisierung. Der Weg zu sich selbst, so Freuds Interesse an diesem Mythos, ist immer an das Opfer des Ursprungs gebunden – jener Urszene der Selbstspaltung, die sich im Ding als dem Abgespaltenen präsentiert und im Bild als dessen Abspaltung zu rekonstituieren sucht. Opfern heißt reinigen – Palimpsest, Vorarbeit zur Einschreibung. Der Ödipus-Mythos als Allegorie der Schriftgenealogie: Ödipus besteigt den Thron des Vaters; Sesshaftigkeit und Gesetz liegen jetzt im Schriftmedium. Wann kommt der Flüchtende an seine Grenze, zum Stillstand, zum Gesetz? Auszug der Israeliten, Initiation als Gemeinschaft (der Sprache der Schrift, aber nicht der Bilder), Übergabe der Gesetzestafeln. Der stotternde Moses und der eloquente, bildermächtige Aaron. Szenen über Szenen, ganz nahe an der Urschrift, unteilbar, monotheistisch. Der Ursprung der Sehleistung und damit die Fähigkeit zur Bildgestaltung liegt in der Spur der sich vorantastenden, Striche ziehenden Hand. Das gezeichnete/gemalte Bild ist daher gleichursprünglich mit der Schrift als Spur. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 15
Auf dieses Phänomen der Spur im Unterschied zum Zeichen kommt es hier an. Auch Spuren werden interpretiert, doch sie gelten als ein prädiskursives, ein vorsemantisches Phänomen: Spuren sagen uns nichts, sondern sie zeigen uns etwas. Vor allem aber: das, was sie zeigen, muß beiläufig, also unbeabsichtigt entstanden sein – andernfalls handelte es sich nicht um eine Spur, sondern um ein bewußt als Spur inszeniertes Zeichen. Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 79
Wobei die Inszenierung selbst einer Vorgeschichte der Spuren, der Verräumlichung, angehört, einem prädiskursiven Feld der RaumZeitorganisation (Szenifikation). Für die Fotografie gibt es beide Möglichkeiten nur scheinbar, das Absichtliche ist stets mit dem Unabsichtlichen – der Technisierung der Reproduktion, verwoben. Der Parthenon, der Eiffelturm, die Familie – die Realität zeigt sich immer schon als Inszenierung für die sie bestätigende Fotografie, in Kenntnis der Unbestechlichkeit des fotografischen Apparats.
IX. GEDÄCHTNISSPUR MYTHOLOGISCH 83
Ganz ähnlich hatten Nicéphore Niépce und Daguerre bereits 1829, also zehn Jahre vor der Veröffentlichung ihres fotografischen Verfahrens, dieses als „von selbst vor sich gehende Reproduktion der in der Camera obscura aufgefangenen Bilder“ bezeichnet. Fotografie als automatische Aufzeichnung musste in den Zeiten der sich etablierenden exakten Wissenschaften, des Empirismus und des Realismus als unbedingter Vorteil gelten. Wolfgang Kemp, Geschichte der Fotografie, 14
Was die ersten Photographien so unvergleichlich macht, ist vielleicht dies: daß sie das erste Bild der Begegnung von Maschine und Mensch darstellen. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, 832
Das Camera-obscura-Modell des Sehens beschrieb im achtzehnten Jahrhundert eine ideale, zwischen Betrachter und Welt bestehende Relation der Selbstpräsenz. Die Aufmerksamkeit verstand jedoch als Selektionsprozess die Wahrnehmung notwendig als eine Aktivität der Ausschließung, als teilweises Außerachtlassen eines Wahrnehmungsfelds. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 30
Wenn das klassische Camera-obscura-Modell des Sehens und verwandte Formen des Empirismus kulturell dominant geblieben wären, wäre die Aufmerksamkeit niemals zu einem zentralen Problem geworden. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 252
Lektüre, Lesen, Auflesen, Ernten, Verzehren ist nämlich nichts anderes als die Vernichtung des Sichtlichkeitskriteriums an Schrift zugunsten der (Wieder)Entnahme des Sprechens/Hörens darin als des die Unsichtbarkeit besetzenden Ursprungs der Sicht. Lektüre eo ipso demnach Stimmenhören, Transit des Terrors der Unsichtbarkeit ins Sprechen/Hören hinein … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 31
Illusion der Opferlosigkeit der heutigen Fotografie: Ursprung und Genealogie des Gedächtnisses ad hoc und zugleich. Diese Farce macht alle Tauschökonomie der Sinne zunichte und die Legitimität – sei es als Kunstdeklaration oder als Reproduktionsgeschäft – prekär, da die Illusion der Opferlosigkeit auf die Hundertstelsekunde reduziert wird. Das Problem liegt im Verschwinden der Arbeit, des nur noch Gabencharakters göttlicher Welt: „Inzest statt Differenz“.
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DISKURSFRAGMENTE
Offensichtlich muß dann das Sehen, apriori unfähig, die Täuschung aufzuheben, gleichwohl in diesen verheerenden Verifikations-Falsifikationskrieg geschickt werden … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 36
Der Krieg ist die Grenze der Wahrheit … dessen, was nicht zu verhandeln ist. Die Wahrheit der Fotografie ist zugleich ihr Krieg, denn jeder Krieg ist Säuberung, radikale Indifferenzierung. Die Diskussion über den dokumentarischen oder wissenschaftlichen Beweiswert eines Fotos muss von dieser inzestuösen Fluchtstelle aus gedacht werden. Wahrheit als Inzestwunsch. Das zu Ende geführte Phantasma der sprachäquivalenten Unsichtbarkeit geht auf das sich-selber-sehen-Sehen aus. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 37
… in einem Kommentar zu Freud (Der Mann Moses) erklärt J.J. Goux, das Judentum habe das Bild abgelehnt, um sich vor der Gefahr zu schützen, die Mutter zu verehren; und das Christentum habe, indem es die Darstellung des Weiblich-Mütterlichen ermöglichte, die Strenge des Gesetzes zugunsten des Imaginären überwunden. Roland Barthes, Die helle Kammer, 84f
Ödipus, der mit seinem Schwellfuß Opferspuren hinterlässt, der, auf der Suche nach seiner Vor-Schrift, den Vater tötet und die Mutter heiratet. So auf Autonomie und Autarkie fixiert, proliferiert sich das Gesetz in aller Strenge. Das Gesetz trifft den Gesetzgeber: Ödipus sticht sich die Augen aus. Es wird nicht mehr gesehen: Imaginierung des Mediums/der Mutter; es wird gehorcht: dem Gesetz des Vaters, der blinden Justitia. Blind ist Ödipus ganz bei sich. Unsichtbare Gesetze. Allegorische Ästhetisierung ist das Moment ihrer Blendung. … das Ding, das sich unausgesetzt entzieht/der Blick, der nicht zu dauern vermag. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 63
Nièpces Verfahren gilt nicht der optischen Präzisierung einer Gegenwart, sondern der magischen Fixierung des Blicks. Die Foto-
IX. GEDÄCHTNISSPUR MYTHOLOGISCH 85
grafie kann von der Spur der Dauer, d.h. vom Gedächtnisvorgang, der Entwertung, der Erfindung und der Wiederholbarkeit von der Präsenz her gedacht werden. … sichtbar ist immer bloß die Entropiedifferenz zwischen Hingabe und Vorbehalt … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 69
Sichtbar: die „Lichtung“ der Szene, die Öffnung des Übergangs zwischen dem Imaginären und Realen. Versteht sich dann, daß der Ton mit den „Strömen“ und das Bild mit den „Partialobjekten“ koinzidiert, so daß sich das Kittlersche Risiko, jene Dimension als das „Reale“ zu bezeichnen, so etwas wie das Allsubstrat des „organlosen Körpers“, und dies um den Preis des „Imaginären“ als des eo ipso zerstückelten Körpers – Orpheus‘ singender Kopf auf dem Wasser schwimmend for ever –, durchaus plausibilisierte. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 81
Ohne Differenz – den Kopf über den Medienwassern, lässt weder Simulation noch Allmedialität sich denken: Stets bleibt eine Lücke im System, die die Spur der Selbstreferenz als Fremdreferenz eröffnet. Buchstäblich der Tod, die Stille, das Schweigen – als deren Allegorie: das blendende Blitzlicht der Belichtung, zu viel Licht. … Krankheit, das wäre der berüchtigte Aufstand des Teils wider das Ganze … Rudolf Heinz, Oedipus complex, 82
Monströs ist die Medialität der Schrift, so Heinz, Sphinx, halb Mensch, halb Tier. Sichtbar: Das, was nicht zusammenpasst. Der allegorische Charakter des Films. Das Lebendige einer anderen Wirklichkeit; einer Inszenierung, die sich zeigt, indem sie sich verbirgt. Das Rätselhafte der Schrift: halb Bild, halb geometrische Form. Die Genealogie des Gedächtnisses oder, wenn man es so hören will, des Sprachvermögens umfaßt thematisch die gesamte Re-präsentativität von der geringsten gewußten Empfindung bis hin zur Dingproduktion. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 131
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Ich, das in seiner Einschnittsproduktivität den Preis der Ignoranz zu zahlen hat: die Glätte des Gebrauchs. … Paradox gesagt, das Mehrwert-Medium der „Strom“ und die Eingabe-Rückgabe der „Einschnitt“, so als seien die Ohren doch zu öffnen und zu schließen. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 133f
Alles, was fotografiert wird, das Gegenständliche, ist schon einmal durch die Opferökonomie hindurchgegangen. Und das Sehen? Sehen mit Fortbewegung stellt sich anfänglichzuletzt als eine Art von Alltransmitter, in dem sich der apostrophierte Leichentransport der Stimme zum Gehör mittels der niederen Sinne zusammenzufassen scheint, her. Genauer noch bildet die Sicht die Selbstdarstellung des Opferstoffs zumal post festum als Opferbestätigung aus. Lebendleichenreflexion. Rudolf Heinz, Oedipus complex, 135
Mit der entfesselten Kamera (Vertov) und der befreiten Kamera (Leica) erobert die Fotografie – seit den 1920er Jahren – die aus der horizontalen Blickachse gewanderte Aufnahme. Ein Gestus der Befreiung vom Auge, voller Verzweiflung. Es gibt kein bewegtes Foto, man kann die Ohren nicht verschließen, der Blick lässt sich nicht fixieren: Geburt der Artistik und des Schnappschusses in der Fotografie. … Sexualität … Rhythmus … Die Beziehung zur Schrift – das ist die Beziehung zum Körper. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 141
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X. MEDIALISIERUNG DER FOTOGRAFIE Die Fotografie ist zum Ort des philosophischen Zweifels geworden. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 12
Betrachtet man die Zeitspanne [1980-1995], so steht für die Theorie der Fotografie zweifellos die Medienreflexion im Vordergrund, allerdings nicht im inner-ästhetischen Bereich, sondern bezogen auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995,14
Die Fotografie hat eine ihr „natürlich“ gegebene, erzählerische Funktion eingenommen, die zuvor literarisch und religiös kanonisch besetzt war. Als Medium, das in das historische Kontinuum einbricht und in seiner Natur jedes historische, ideologische wie ökonomische Modell linearen oder gar exponentiellen Fortschreitens untergräbt, übt die Fotografie von jeher eine allegorische Funktion nicht so sehr in ihrem bildnerischen Vokabular als in ihrer wesenhaften Referentialität aus. … Wie vermittelt das Medium Fotografie zwischen dem Abbild der Welt und einer Wahrnehmung, deren Glaube an die realen Bezüge des fotografischen Abbildes zunehmend schwindet? Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 14f
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DISKURSFRAGMENTE
Wenn die fotografischen Medien zu Leitbildern der Wirklichkeit werden, wie kann dann eine schriftliche Referenz ihr Wirklichkeitsdefizit ausgleichen? Wird die Sprache/Schrift, indem sie sich der Fotografie nähert, selbst „fotografischer“? Die Fotografie steht im Zentrum der Intermedialität. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 16
Mehr als die Musik ist die Fotografie interkulturelle und intuitive Praxis. Und sie ist realistisch – im gleichen Moment wie die Literatur. Denn in medienästhetischer Hinsicht richtet sich die zentrale Frage nicht auf die ontologisch behauptete oder anti-platonisch preisgegebene Beziehung von Realität und Abbild, sondern auf die Frage nach dem Verhältnis von Abbild und Bild. Martina Dobbe, Die Fotografie als theoretisches Objekt, 146
So steht im Vordergrund die Erzeugung von Realität, etwa die Sichtbarmachung durch Satellitenbilder, die in der Tat Bilder und keine Abbilder sind. Aber die Indexierung der Bildlichkeit gilt schon für das allererste Foto, das dem Motto der Daguerre’schen Panoramen entstammen könnte: Hier sehen Sie etwas, was Sie noch nie gesehen haben! Die Logik dieser Verhältnisbestimmung ist die der Erscheinung in Form der „Sensation“: Angriff der Bilder nicht auf das Auge, sondern auf die Aufmerksamkeit. Denn die Frage der Bildlichkeit ist primär eine Frage der Performanz. Martina Dobbe, Die Fotografie als theoretisches Objekt, 176
Der Prozess der Bildbildung – tableau vivant, Making Off der Inszenierung – wird selbst zum Bild. Der Panoramafotografie hat, wie der Stereofotografie, allerdings rasch der Film den Rang abgelaufen. Die Suche nach Neuinszenierung „statischer Fotografien“ verfängt museal im Großformat à la Gursky, Ruff und Richter. Der Betrachter wird zur Filmkamera. Allen Bestrebungen, mimetisch einer aus dem raumzeitlichen Kontinuum isolierten Blickkonstellation habhaft zu werden, geht die gewöhnliche Ein-
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sicht voraus, daß die Sprache das, war wir Ähnlichkeit nennen, ausschließt und in Symbole bannt, die Fotografie hingegen in betörendem Maße im Netz der Ähnlichkeit verstrickt ist. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 16
Die Schriften von Roland Barthes, Jacques Derrida und Vilém Flusser haben wesentlichen Anteil an der Entwicklung einer kritischen Theorie der Fotografie. Indem sie die Fotografie in einem erweiterten Schrift- und Textbegriff fassen, haben sie explizit oder implizit der Fotografie Wege gebahnt, die ihr Zugang zu allen menschlichen und gesellschaftlichen Bedeutungssystemen eröffnet haben. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 18
Nur bezieht sich der frühe Derrida nicht auf die geschriebene Schrift, sondern auf die jeder Vermittlung vorhergehende, irreduzible Urspaltung oder Urszene zwischen dem Ich und dem Anderem, der Aufschreibung. Für das Studium einer Fotografie müssen wir also vor allem durch Wissen befähigt sein, d. h. durch die Beherrschung des ideologischen wie kulturellen Codes. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 19
Die Rhetorik, der Stil, der „Name“ einer Fotografie, gehört dann im engeren Sinn zu dem, was man wissend lesen kann. Nicht die Referenz auf das Reale verschwindet, vielmehr hat uns das medientechnische Dispositiv der Fotografie dazu aufgefordert, die Paradoxien in der Bezeugung des Realen zu bedenken. Darin liegt das Bizarre des Mediums Fotografie, seine halluzinatorische Wirkung (Barthes), daß etwas falsch auf der Ebene der Wahrnehmung ist, aber wahr auf der Ebene der Zeit. … Die Aufgabe der Theorie liegt in der Übersetzung der fotografischen Repräsentation in unsere Zeit: Diesem Entsetzen, das dem Gewesenen entspringt, ist in der Kritik zu entsprechen. Hubertus von Amelunxen, Von der Theorie der Fotografie 1980-1995, 20
Die „offensichtliche Bedeutung“ wird das studium, die „stumpfe“ das punctum – die Übersetzung in eine ruhende Sprache, eine tote Sprache, signali-
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siert, daß wir an einer Endstation angekommen sind. Der Prozeß der Veränderung wird hier arretiert (angehalten auch im Sinne von „verhaftet“ – Latein ist auch eine Sprache des Gesetzes) im Namen einer erfahrenen Gewißheit. Victor Burgin, Beim Wiederlesen der Hellen Kammer, 31
Die Unterscheidung von Barthes bezieht sich auf das, was gesellschaftlich gewußt werden muss (studium) und was eine private Empirie (Erinnerung) ausmacht, um eine Fotografie zu decodieren, d.h. als individuelles Allgemeines rückanzueignen. Das Wissen aber ist nicht die Wahrheit der Fotografie. Es gibt nach Barthes jedoch in der privaten Fotografie immer ein Element, dass aus der Realität in das Wissen hineinragt. Dieses zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen, denn punctum, das meint auch Stich, kleines Loch, kleiner Fleck. Roland Barthes, Die helle Kammer, 36
Wir können das auch den blinden Fleck einer jeden Struktur nennen. Das an seinem Platz fehlende Element, das die Beweglichkeit aller anderen Elemente garantiert, während das studium nach Vervollkommnung strebt. … der Akt der Einbildungskraft … ist ein magischer. Er ist ein ritueller Gesang mit dem Ziel, den Gegenstand, an den man denkt, die Sache, die man wünscht, erst hervorzubringen, und zwar in einer Weise, die die Inbesitznahme erlaubt. In diesem Akt liegt stets etwas Herrschsüchtiges und etwas Kindliches … Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 205 Zitiert nach: Victor Burgin, Beim Wiederlesen der Hellen Kammer, 33
Damit die Magie erscheint, müssen die Bedingungen ihres Erscheinens inszeniert werden – Inszenierung ist ein Rückgang auf eine Urschrift, provisorische Autorisierung. Die helle Kammer ist also, bei aller Bezugnahme auf Lacan, auf eine Untersuchungsmethode gegründet – die Phänomenologie –, die das Konzept des Unbewußten verwirft. Solch eine Zurückweisung hat erhebliche Konse-
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quenzen, indem sie der Theorie der Fotografie einen Corpus der Forschung verweigert, der, wie ich glaube, von entscheidender Bedeutung für ihre Entwicklung ist. Victor Burgin, Beim Wiederlesen der Hellen Kammer, 35
Denken wir daran, dass die fotografierbare, sichtbare Welt schon mit Gegenständen bevölkert ist, in denen das Begehren arretiert ist. Besitz und Präsenz wachsen zusammen. Es geht in der Fotografie darum, ein zweites Mal in medial transportabler und reproduzierbarer Weise Präsenz als Besitz anzuzeigen. Ziel dieses Agierens ist es, Dinge unmittelbar durch die Kamera unter Umgehung von Arbeit zu reproduzieren. Der 3-D-Modellierer ist der neue Fotograf. Claude Settele, Der 3-D-Modellierer ist der neue Fotograf
Kristevas Gebrauch dieses Wortes [das Semiotische] ist sehr eigenwillig … Das Semiotische ist jener Bereich der Bedeutung, der im Verlauf des Sozialisationsprozesses des „sprechenden Subjekts“ verdrängt werden muß, es ist der Sprache vorgängig und eng an Rhythmus und Puls des Körpers gebunden … Victor Burgin, Beim Wiederlesen der Hellen Kammer, 36
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XI. INSZENIERUNG UND GESCHICHTE Wenn Wiederholbarkeit eine notwendige Bedingung derjenigen Einheiten ist, aus denen heraus die Sprache Sinn konstruiert, dann ist die Reduplikation, ganz fundamental gesehen, das Zeichen schlechthin für diese Wiederholbarkeit. Es bedeutet, daß eine Äußerung nicht einfach ein „wilder Laut“ ist, sondern gemäß einem Code geäußert worden ist, und somit vermittelt Reduplikation die Absicht, zu bezeichnen. Obwohl Wiederholung die Semiosis nicht garantiert, verweist sie auf ihre Anwesenheit und wird somit – zumindest für Lévi-Strauss – der „Signifikant der Signifikation“. Craig Owens, Fotografie en abyme, 74
Lévi-Strauss bezog sich auf die Lautverdopplung („pa-pa“). In dem Moment, in dem eine Handlung wiederholbar wird, gilt sie durch Vorschrift als signifiziert und – auf die Vorschrift zurückgewendet – als inszeniert. Inszenierung ist der Versuch einer Revision von etwas, das sich als Ereignis aufgrund der Progression der Zeit entzieht. Diese Zeit wird in der Inszenierung gleichsam eingeklammert, ist Zeit des Spiels. Die Inszenierung ist provisorisch.
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Das „Fotografische“ ist keine Duplikation der Realität, sondern die Verkörperung der gänzlichen Unmöglichkeit ihrer Duplikation. Massimo Cacciari, Das „Fotografische“ und das Problem der Repräsentation, 324
Die Fotografie, zumindest wie Roland Barthes sie von anderen semiotischen Systemen unterscheidet, scheint dem rein imitierten Laut zu entsprechen. Craig Owens, Fotografie en abyme, 75
Die Daguerreotypie kennt noch nicht die Möglichkeit der Vervielfältigung. Sie ist Unikat. Doch nicht die Möglichkeit der Inbesitznahme als Kopie verrät den neurotischen Charakter der Fotografie, sondern ihr sofortiges hysterisches Auftreten allerorten. In den zeitgenössischen Beschreibungen figuriert Talbots Papier als ein Schauplatz der großräumigen Strukturen, ein guter Träger für alle Bilder, bei denen es aufs Detail so genau nicht ankommt. Die Daguerreotypie hingegen, … blieb dem Porträt reserviert und damit den Nuancen, den Feinheiten in Haut, Haaren, Textilien. Kein fotografisches Bild wird später eine ähnlich hohe Auflösung erreichen wie die frühen Exemplare aus den Werkstätten von Daguerre & Co. Stefanie Diekmann, Mythologien der Fotografie, 41f
In gewissem Maße rekapituliert Smithson diejenige Passage aus Fox Talbots Pencil of Nature, in der der Pionier der Fotografie von seiner Erkenntnis berichtet, daß … „das ,Bild‘, das er zu machen versucht hatte, bereits da war.“ … Was bedeutet es also, eine Fotografie von einer Fotografie zu machen? … Mit diesen Fotografien enttäuscht Smithson den Mythos, Fotografien seien ein Mittel, Herrschaft und Kontrolle über Objekte zu erlangen und diese dem Bewußtsein zugänglicher zu machen. Craig Owens, Fotografie en abyme, 78f
Fox Talbot hat schon einen fotografischen Blick, bevor es die Fotografie gibt, geschult auch durch das Sehmodell der Camera obscura, die optischen Geräte und den Realismus der Malerei. Niépce und Daguerre haben der Fixierung des schon durch die Zentralperspektive geschulten Blicks eigentlich nur die chemische Grundlage gegeben.
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Als Instrument der Aufzeichnung ist dem Sammler hier wie dort die Fotografie empfohlen, in ihrer späteren Geschichte mal als „Licht-Schrift“, mal als „Sonnen-Schrift“ apostrophiert und von Talbot wiederholt mit anderen Schriften in Verbindung gebracht. Mal bezieht er sich dabei auf die Inventarliste und die Kunst der Beschreibung, mal auf Inschriften (Mauerwerk), Aufschriften (die Schilder) und anfangs, in jenem Facsimile of an Old Printed Page, die Schriften des Buchdrucks. Stefanie Diekmann, Mythologien der Fotografie, 59
In den Tafeln von Pencil of Nature fehlt das Motiv der Handschrift, dennoch fehlt die Handschrift nicht völlig auf den Oberflächen seiner Fotos, die bekanntlich auf Schreibpapier von bester Qualität abgezogen wurden. Und was hätte den Fotografen und Erfinder hindern sollen, sich des Papiers denn auch zum Schreiben zu bedienen? Stefanie Diekmann, Mythologien der Fotografie, 61
Schreibhemmungen, von denen in literarischen Kreisen berichtet wird: Medial betrachtet, handelt es sich beim Schreiben wie beim Fotoabzug um die Zerstörung einer vorher gereinigten Fläche. Die Arbeit dieser Reinigung und deren ökonomische Verstrickung sind unhintergehbar. Man kann diesem Opfer niemals entgegen, so neurotisch man auch dagegen anrennt. Deswegen die Heiligung des Einmaligen, Authentischen. Einschreibung heißt immer auch: Besetzungen, Besitzung, Gesetz, Herrschaft und Supplementierung. Kann man nicht sagen, daß es bereits in der Fotografie im klassischen Sinne ebensoviel Produktion wie Aufzeichnung von Bildern, Akt wie Blick, performatives Ereignis wie passive Archivierung gab? Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur, 282
Das Foto ist leblos und starr, aber der Gegenstand ist – wie auch immer – dynamisch und lebendig aktuell. Andreas Haus, Fotografie und Wirklichkeit, 90
Eine Chronologie des Augenblicks, die Logik des punktuellen stigmé beherrscht die barthesianische und im übrigen geläufige Interpretation des unauslöschlichen Referenten, von dem, was nur einmal stattgefunden hat. Diese Einmaligkeit setzt jenseits aller Analyse eine unauflösliche Einfachheit
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einer Zeit des Augenblicks voraus: den Augenblick der Aufnahme. Aber wenn das „eine einzige Mal“, wenn das einzige, erste und letzte Mal der Aufnahme schon eine heterogene Zeit einnimmt, setzt dies eine aufschiebende und unterschiedene Dauer voraus: in irgendeinem Fragment von Sekunden kann das Licht changieren, man hat es hier mit einer Teilbarkeit des ersten Mal zu tun. … sobald man die Zeit nicht als eine Folge von irreduziblen und atomistischen Augenblicken betrachtet, sondern als eine mehr oder weniger berechenbare differentielle Dauer, eine Dauer, die korrelativ zu einer Technik ist, kompliziert sich die Frage der Referenz und folglich auch die Frage der Kunst, der Fotografie als techné. … Man muß mit einem Wort zwischen der Kunst und dem Tod wählen. Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur, 283f
Die Urszene auf ein Argument gebracht, heißt, man kann die Zeit nicht anhalten, auf den Punkt bringen, gerade auch im fotografischen Moment nicht. Die Produktion ist zugleich die Spaltung. Barthes’ Traurigkeit beim Verlust seiner Mutter hat mit der uneingestandenen Einsicht in den Verlust der Einmaligkeit und des Grundes der Hervorbringung zu tun. Die Mutter war immer auch ein Medium des Einschreibungsortes. Die Fotografie ist immer auch eine Fotografie. Ihre symptomatische Reproduktionswut wird durch die gleiche Wut immer neuer Events, Sensationen und Einmaligkeiten neutralisiert. Muss man sich nicht schon vor der Ankunft der Fotografie an den still gestellten Blick gewöhnt haben? Offensichtlich nicht. Die Architektur und die Plastik werden in Bewegung erfasst und auch die Malerei verlangt ein unruhig suchendes Auge. Die kritische Lage der Fotografie hat ihre Ursache nicht in einer „Krise des Mediums“, sondern in einer ideologischen Krise der Menschen, die dieses Medium benutzen. … Sobald die Schranke zwischen Schrift und Bild einmal aufgehoben ist, hört die Fotografie auf, keinem anderen geistigen Bedürfnis als dem Wiedererkennungstrieb und der Schaulust zu dienen. Herbert Molderings, Argumente für eine konstruierende Fotografie, 112f
Sie glauben, eine bestimmte Szene zum Vergnügen zu photographieren – tatsächlich ist sie es, die photographiert werden will! Sie sind nur Komparsen in ihrer Inszenierung. Das Subjekt ist nur das Agens des ironischen Auftre-
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tens der Dinge. Das Bild ist das Medium par excellence jener gigantischen Publizität, die sich die Welt macht, die sich die Objekte machen … Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 263
Es gilt die gleiche Substitution wie in der Vorstellung, die man sich von einem scheinbar authentischen Imaginären macht: Es sind die sublimierten dinglichen Vorgängigkeiten in Relation zum Körper, die Imaginationen als eigene auszugeben. Freuds Diktum, dass das Subjektive in den Anordnungen, den Ligaturen und Sentenzen – gleich der surrealen Logik des Rebus – aufgehoben ist, veranlasst Freud – gegen Jung – eine symbolische Analyse ins Recht zu stellen. Nicht die Lexikologie, sondern die Grammatologie ist beim Neurotiker verfehlt. Wenn eine Sache photographiert werden will, so ausgerechnet deswegen, weil sie ihren Sinn nicht preisgeben will, weil sie sich nicht reflektieren will. Sie will nämlich direkt eingefangen werden, an Ort und Stelle vergewaltigt, bis ins Detail ausgeleuchtet. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 263
Durch das Bild erzwingt die Welt ihre Diskontinuität, ihre Zerstückelung, ihre künstliche Augenblicklichkeit. In diesem Sinne ist das photographische Bild das reinste, weil es weder Zeit noch Bewegung simuliert … Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 263
Die Empirie der Zahl lehrt, dass vier Dinge noch als einzelne wahrgenommen werden, mehr als vier müssen sich einer neuen Einheit fügen. Sie versammeln sich zur Szene, deren erste Ordnung die Entwicklung einer linearen Geschichte ist. Das gilt wohl auch für fotografische Serien, obwohl, Baudrillard deutet es an, die Fotografie die Geschichte auf den Augenblick reduziert, auf die Episode der Geschichte, die dem Ding und dem Augenblick die volle Aufmerksamkeit widmet. Allerdings ist die Betrachtung der Fotografie einer üblichen Bildlogik, dem wandernden Blick unterworfen. Hier arbeitet die Technik ohne Anstrengung. Das ist möglicherweise eine Falle. … Jedes photographierte Objekt ist nur die Spur, die das Verschwinden von allem anderen hinterläßt. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 264
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Das photographische Bild ist dramatisch durch den Kampf zwischen dem Willen des Subjekts, eine Ordnung, eine Sicht, durchzusetzen, und dem Willen des Objekts, sich in seiner Diskontinuität und seiner Augenblicklichkeit durchzusetzen. Im besten Fall gewinnt das Objekt, und das PhotoBild ist eines einer fraktalen Welt, von der es weder eine Gleichung noch eine Summierung ist – nirgends. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 265
Fraktale Dimension: Die Singularität der Fotografie bedarf, weil sie ein strenges Datum produziert, umso mehr der Geschichte und der Schrift, um in die Dimension der Erinnerung überzugehen. Das „Es war einmal“ ist eben kein Bild, sondern eine vorübergehende Szene. Offensichtlich ist für Baudrillard das Foto unwesentlicher als die Beobachtung des Augenblicks des Fotografierens, das Motiv der Motivwahl. Obwohl also die Fotografie die Geschichte negiert, hinterlässt sie uns zunehmend eine uns überwältigende Vergangenheit.
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XII. DIE KUNST DER LEGITIMATION UND DAS VERBRECHEN Als ich 1988 einem kalifornischen Justizbeamten die Grundlage der Computermanipulation von Fotografien erläuterte, war seine spontane Reaktion: „Das wäre das Ende der Fotografie als Beweismittel.“ Martha Rosler, Bildsimulationen, Computersimulationen, 135
Waren Fotografien je als Beweismittel zulässig? Man könnte das natürlich über jede Art von Spuren fragen: zufällig oder motiviert? Die Beamten der Stasi sollen in der Lage gewesen sein, jede Schreibmaschine ihres Landes zu identifizieren. Heißt nicht „kriminell sein“ die Beweiskraft der Gesetze in Zweifel ziehen, ihre Auslegung herausfordern, das Allgemeine der Begriffe wieder auf den individuellen Fall zurückführen? Tatsächlich könnte man das Gerichtssystem … eher als ein Theater verstehen, in dem die Gegner Requisiten und auf verschiedene Weise verschlüsselte Argumente verwenden. … Vielleicht ist es hier leichter einzusehen, daß das „Dokument“ in Wirklichkeit ein Text oder ein Argument ist. Martha Rosler, Bildsimulationen, Computersimulationen, 152
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Die Qualität der Wahrhaftigkeit ist nicht aus dem Gesetz ableitbar, sofern es der abstrakte Gehalt von Empirie darstellt. Es anzuwenden heißt, es auszulegen, auf den Fall zu beziehen. So ist nicht die Fotografie „wahr“, sondern stets nur das einzelne Foto, wenn es in einer bestimmten Situation der Überprüfung stand hält, also Anlass bietet, als Text oder Argument aufzutreten, in einen situativen Kontext eingebettet zu werden. In diesem Fall ist das Foto keine Spur, sondern ein Indiz. Die Spur ist etwas, was sich notwendig ereignet; das Indiz ist etwas, das Bedeutung erhält. Allerdings arbeitet die Kriminologie mit beiden Erscheinungen. Derjenige Bereich unserer Kultur, der für die Rollen, die wir spielen, am durchgängigsten manipulativ ist, ist natürlich die Massenreklame, deren fotografische Strategie es ist, die Inszenierung als eine Form des Dokumentarischen auszugeben. Douglas Crimp, Die fotografische Aktivität der Postmoderne, 248
Dabei wird übersehen: Niemand fasst Werbung als Medium der Dokumentarität auf. Sie wird auch durch Fotografie nicht glaubwürdig. Tauscht man den Informationsansatz des Dokumentarischen mit dem Sozialisationsansatz des Kommunikativen („Unternehmenskommunikation“), wird Werbung zum kulturell legitimierten Spielort fiktionaler Überschreitung. Sie konstituiert, wie das Märchen, eine akzeptierte Möglichkeitswelt. Allerdings verführt die Werbefotografie – die immer inszenierte Fotografie ist – zur animistischen Reformulierung des Wunsches, die zeichenhafte Fiktion des Fotos wieder in ein Ding des Besitzes zurückzuverwandeln. Die Fotografie ist ein gut geölter Transmitter zwischen Wunsch und Wirklichkeit und ersetzt damit per se das Opfer körperlicher Arbeit genau zu jenem historischem Zeitpunkt, in dem nicht mehr das Werk, sondern das Zeichen die Geltungsansprüche des Bürgers befriedigt. Es geht nicht um das Produzieren (eines Textes, eines Bildes). Alles liegt in der Kunst des Verschwindens. Allerdings muß dieses Verschwinden auch Spuren hinterlassen, muß es der Ort des Erscheinens des Anderen, der Welt, des Gegenstands sein. … Jeder fotografierte Gegenstand ist nur die Spur, die das Verschwinden alles übrigen hinterlassen hat. … Alle Ausbesserungs- und
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Retouchierbarkeit des Fotos ist von einer ästhetisch abscheulichen Natur wie im übrigen auch jede dem Foto vorausgehende Inszenierung. … Das Foto bewahrt das Moment des Verschwindens, während im synthetischen Bild, wie es auch immer sei, das Reale bereits verschwunden ist. … Die Fotografie, neben anderen Formen der „Verfremdung“, kann helfen, dieses Massaker, diesen Prozeß der Auslöschung der eigenen Andersheit durch das Subjekt zu bannen – Selbstentfremdung –, also der Enteignung und der Vernichtung des Selbst im gleichen Zug. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1994], 258f
Inszenierungen sind – wie Simulationen – niemals symmetrisch zur Welt, sie lassen zwischen Welt und Umwelt stets eine wie auch immer identifizierbare Marge, einen Aufschub der Zeit als Rest zu – Provision auf einen weiteren Aufschub. Die Fotografie minimiert zwischen dem Verschwinden und dem Erscheinen diesen Rest. D.h., der Fotografie haftet keinerlei Produktionsdarstellung inne – sie erscheint wie von Geisterhand. Das Schweigen des Fotos. … Das ist die einzige Weise, in der man im Schweigen durch die Welt gehen kann. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1994], 259f
Wie kann man sich ein unmittelbares Archiv vorstellen, gewissermaßen eine Gegenwart, die aus ihrem eigenen Gedächtnis oder ihrer eigenen Reproduktion bestünde? Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur. 280
Die Fotografie scheint mit einem Wort zu sagen und sich diktieren zu lassen: Dies hat stattgefunden und nur einmal stattgefunden. Dies ist die Reproduktion von dem, was nur einmal stattgefunden hat. Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur, 281
Street-Fotografie. Cartier-Bresson, der das Kontingente archiviert, den glücklichen Augenblick als göttliche Gabe. Aber das ist nur eine Art der Geste der Fotografie: „Das ist es!“ – Nicht: „Das ist es gewesen!“ Umgekehrt hat er [Rodin] eine Art von choreografischer Schrift vorgeschlagen, die mit der statischen Linie der Momentaufnahmen bricht. Von daher
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versteht sich die Entgegensetzung zwischen Malerei und Skulptur als Medien einer intensiven, animierten Zeitlichkeit und der Fotografie, die vielleicht als chronologisches Medium mißverstanden wurde. Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur, 289
Und – noch einmal ein Echo Derridas – wir können „die Rekonstitution eines neues Archivismus oder eines neuen Dokumentalismus“ nur vermeiden, wenn wir uns mit „der Problematik der Grenze und des Rahmens“ auseinandersetzen.“ John Tagg, Der Zeichenstift der Geschichte, 317
Die Szene des Fotos, die Szene des Fotografiertwerdens und die des Zeigens – es sind diese Gesten, die den Rahmen der fotografischen Genese bilden. Sie sind Rahmung der Zeit: Ironisierung, Inszenierung. Das Ritual, das Fest, die Szenifikation: Es gilt, die Zeit zu rahmen, sie wiederholbar zu machen und zu konventionalisieren. Eine Sache bleibt dabei übrigens erstaunlich: Man weiß, daß ein Film aus Fotografien zusammengesetzt ist, aber man sieht keine davon. Christian Metz, Foto, Fetisch, 347
Und dennoch kann man einen Film nicht berühren (man berührt nur den Filmstreifen), während das Foto sich in die Hand nehmen läßt. Das Kino zeichnet sich durch fetischistische Umtriebe aus, aber die Fotografie ist wesentlich geeigneter, selbst zum Fetisch zu werden. Christian Metz, Foto, Fetisch, 353
Es ist festgestellt worden, daß der Schautrieb der einzige Trieb ist, der seine Objekte auf Distanz halten muß. Victor Burgin, Beim Wiederlesen der Hellen Kammer, 373
Wo immer die Fotografie als Kunst auftritt, handelt es sich um verquere Verwendungen, um Bildmanipulation, um Inszenierungen. Fast nie handelt es sich um Abbildungen dessen, was ist. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, 108
Innerhalb der Vermitteltheit der Wahrnehmungen gibt es Kunst als Sonderfall der Konstruktivität von Bildern. Kunst ist dann nicht überhaupt
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das Medium der Inszenierung dieser Vermittlung, sondern ein besonderes Medium für besondere Codes oder spezifische Arten der inszenatorischen Vermittlung. Jede visuelle Präsenz und jedes Bild bedürfen der Vermitteltheit und Vermittlung durch eine In-Szenierung, einen Bildschirm, ein Medium, einen Rahmen, kurzum, der Wirkung eines Dazwischen, das nicht Synthese ist, sondern von dem aus alles bestimmt wird, was an Wirklichem bezeichnet werden kann. Hans Ulrich Reck, Bild als Medium – Zeichen der Kunst, 188
Jedes Foto zeigte: „dieses-ist-gewesen – „cela-a-été“. Diese Auffassung ist ebenso unabweisbar und bestechend wie auch vereinfachend und irreführend. Irreführend ist sie vor allem deswegen, weil sie eine Vorstellung nährt, die J.-F. Lyotard „die metaphysische Illusion“ genannt hat; die Vorstellung nämlich, dass objektive Fakten ihren Abbildungen in Sprache und Bild vorangingen. Eva Schürmann, Erscheinen als Ereignis, 18
In dieser Weise muss das diskursive Ereignis tatsächlich auf der Ebene provisorischer Stellstellungen – Momente des Aufschubs – zwischen Bild und Schrift ausgehandelt werden. Realität ist keine Vorausetzung der Fotografie, sondern deren Ergebnis: ein Dispositiv dessen, wie Fotografien zu lesen seien, nämlich realistisch – so, als würde der Aufschub, das hermeneutische Feld, durch die Gesetze der Optik auf einen Brennpunkt reduziert. Sicher gibt es andere Realitäten, wohl aber keine, die so aggressiv normieren wie die Fotografie. Im Grunde ist das fotografische Bild damit eine besonders zugespitzte Variante der Problematik eines fehlenden „Ding an sich“, also des metaphysischen und logischen Problems, dass etwas jedem Sprechen, Sehen oder Darstellen vorausgehen muss, von dem die Darstellung Darstellung sein kann, die Sprache Ausdruck und das Zeichen Zeichen, obwohl das Verkörperte, Ausgedrückte oder Bezeichnete zugleich nur qua Ausdruck überhaupt darstellbar wird. Eva Schürmann, Erscheinen als Ereignis, 37
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XIII. VON DER GRAMMATOLOGIE ZUR SCHRIFTIKONIK Als transdiziplinäre Schriftwissenschaft soll die Grammatologie daher auch lautsprachenunabhängige Notationsformen und Darstellungsweisen von Schrift wie Kinematographie, Photographie, Choreographie, Bildschrift, musikalische Notenschrift, Zahlschrift und Programmierschrift erfassen können. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 14
Prinzipiell ist es die ideographische Fundierung der universalen Charaktere, durch die das Schriftbildzeichen als eigene operationale Kategorie zum Vorschein kommt und sich damit im Gesamtdiskurs um die Schrift ein dritter medialer Parameter – das Bild – als neue Vermittlungskategorie zwischen Sprache und Schrift schiebt. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 25
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Diese Funktion wird allerdings schon durch Comenius (Orbis sensualium pictus, 1658) mit Verweis auf die allegorische Funktion in die Didaktik der Lesetechniken eingeführt. Das Bild verliert seine autonome, referentielle Funktion und wird zur pädagogischen Brücke der aus den Buchstaben kombinierten Sprech- und Sinneinheiten. Bevor die Schrift wissend gelesen werden kann, ist das Bild der Referent seines eigenen Namens und löst letzteren vom Laut. Zum Lesen von Buchstaben aber bedarf es einer Unterweisung des Sprechens, die vor dem Schreiben geschieht und deswegen zum Glauben verführt, dass die Sprache vor der Schrift erschienen ist. Historisch steht dagegen die These, dass erst die Schrift (z. B. Luthers Bibel) die gesprochene Sprache so vereinheitlicht, dass man die Lauteinheiten nach dem Geschriebenen spricht. Seltsamkeit des Schweizerdeutsch: eine eigene Sprache, die, um aufgeschrieben zu werden, sich auf das Hochdeutsche beschränkt. Die grammatologische Wende der Gedächtniskunst macht sich primär am Übergang von einer ars memorativa zu einer ars cognitiva, das heißt von einer erinnernden Gedächtniskunst zu einer entwerfenden Denkkunst bemerkbar. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 30
Sprachverwirrung beinhaltet zugleich Religions- und Weltverwirrung. Abhilfe schaffen kann daher nur eine Universalschriftsprache, die, unabhängig von allen bestehenden Einzelsprachen und -schriften, als ein eigenständiges Kunst- und Denksystem konzipiert ist. Ausschließlich Realcharaktere als primär sprachenunabhängige, rein begriffliche Notationszeichen zeigen einen Ausweg aus dem Dilemma des babylonischen Fluches. … Da die Universalschrift die Ordnung der Welt – und nicht die der Sprache – widerspiegeln soll, muss sie aus einer Klassifizierung der Erscheinungs- und Anschauungsformen von Welt gewonnen oder abgeleitet werden. … Da eine Universalschrift nur als Kunstschrift funktionieren kann, muss sie aus institutionalisierten Charakteren, das heißt artifiziell entworfenen, künstlich vereinbarten graphischen Zeichen zusammengesetzt sein. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 35-37
Weil es sich um eine Vereinbarung auf Grundlage kultureller, entsubjektivierter Differenzen handelt, ist die Universalsprache Schriftsprache. Das Programm einer Universalschrift verlangt nach einer
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Vor-Schrift, die das Programm der Universalisierung festlegt. Diese Universalschrift gibt es bereits: die Boole’sche Algebra. Die Frage der Identität bleibt für Boole dieselbe wie für Aristoteles, und sie lautet natürlich: Was bleibt sich gleich? Booles Antwort lautet: Nur die Null und die Eins lassen sich mit sich selbst multiplizieren, ohne sich dabei zu verändern. … Nur diese beiden Zahlen entsprechen der Formel, die das digitale Universum kennzeichnet: und diese Formel lautet x = x². … Vor dieser Formel ist die Idee eines Originals faktisch sinnlos, denn jeder Körper aus gemeiner Materie, der digitalisiert wird, und das heißt: der zur verflüssigten Materie wird, läßt sich nach Belieben kopieren. Martin Burckhardt, Unter Strom, 45
Die Vor-Schrift der Programmierer, Informatiker und Fototechniker kann lauten: Das Raumzeitfeld der „verflüssigten Materie“ ist in Realität unendlich gebrochene Materie (Elektronen), deren Elementarität (Schwingungen) sich den menschlichen Sinnen entzieht. Das unsichtbare Element, das Silberkorn, ist von gleicher Substanz wie die Pixel der Digitalfotografie. Allerdings lassen sich erst in letzterer die Elemente einzeln als identische manipulieren. Nehmen wir nun, probeweise, die Identitäts-Formel des George Boole, die da besagt x = x² – so ergibt sich, daß das ich sich sozusagen nur in der Transgression, in der Überschreitung seiner selbst finden kann. Was das Programm des Entwicklungsromans ist … Martin Burckhardt, Unter Strom, 47
Ich muss also stets eine der beiden „flüssigen“ Relate „Ich“ oder „Historie“ festhalten können, um die Identität des Anderen als „Fürmich“ zu klären. „Festhalten“ heißt in diesem Fall, die scheindiskreten Elemente technisch unter die Schwelle der sinnlichen Wahrnehmung zu bringen. Fotografie stellt nicht nur dem Ich eine dauerhafte Ansicht seiner beständigen Veränderung zur Verfügung, sondern auch den Ereignissen und Gegenständlichkeiten der historischen Realität. Man könnte also die Geschichte des Autors in der Moderne als einen progredienten Autoritätsverlust auffassen. … Man könnte sagen, daß der Autor
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der Moderne sich zunehmend zu einer abgeschriebenen Gestalt verwandelt – ja daß das Maß seines Bedeutungsverlustes mit dem Erblühen eines allgemeinen Kreativitätsverdachts zusammengeht. … Vielleicht ist das Ende des Originalgenies, des Künstlergottes ein großer Segen – erlaubt es uns doch, die Schrift in Augenschein zu nehmen, mit der wir uns mitteilen. Martin Burckhardt, Unter Strom, 49f u. 52
Diese Entwicklung betrifft die Künste insgesamt: Wenn eine Vergemeinschaftung im Medium ihrer Produktion selbst stattfindet, artikuliert sich schärfer der Wunsch nach Negation der Produktion in der Kunst: Hier etabliert sich das Genie. Es bleibt nicht ausgeschlossen, dass das Individuum von dem geschrieben wird, was es glaubt zu schreiben; von dem bestimmt wird, wann und wie es fotografiert, nicht, was es fotografiert. Als Supplement seiner Produktion ist es Sub-jektum. Es ist dieser Kunst- und Konstruktcharakter, der für Leibniz’ Universalsprach-, genauer Universalschriftprojekt von Bedeutsamkeit ist … Erfunden werden soll also eine Schrift, die nicht das Wort, sondern die Gedanken abbildet, die direkt zu den Augen spricht und dadurch unabhängig von Nationalsprachen lesbar ist. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 54f
Diese Möglichkeit, in Daten ideale Figuren zu sehen, taucht in wissenschaftlicher Hinsicht zum ersten Mal bei der Formulierung der drei Kepler’schen Gesetze in den Jahren 1609-1620 auf. Nicht von ungefähr gilt Kepler als derjenige, der für die Optik die Grundlagen der Lichtbrechung erkennt, d.h. Daten in Bildern erscheinen lassen und in Gesetze zurückverwandeln kann. Die Leibniz’sche Algebra universalisiert dann rechnerisch die Übertragung von Daten auf anschauliche Körper. Allerdings muss erfasst werden, dass im logarithmischen Denken die exakte Mathematik zu Gunsten einer Logik der Näherung, der Endlichkeit und Bezugnahme auf die Sinne abgespalten wird: als Rechentechnik. Die Universalisierung muss nur so weit berechnet werden, wie die Sinne von dem Resultat hinreichend getäuscht werden. Mandelbrot hat diesen Bezug in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seiner fraktalen Logik der Approximation am Beispiel der Umrisslinie der Küste Englands veranschaulicht.
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Je genauer man die Strände Sandkorn um Sandkorn vermisst, umso mehr nähert sich die Länge der Küstenlinie der Unendlichkeit an. Es geht um eine „Genauigkeit“ in Bezug auf ein bestehendes System, nicht um eine Beweiskraft. Mit den Daguerreotypien hat die Fotografie die Genauigkeit der Aufzeichnung des Sehsinns technisch schon überbieten können. Sind, so Leibniz, „die charakteristischen Zahlen einmal für die meisten Begriffe festgesetzt, so wird das Menschengeschlecht gleichsam ein neues Instrument besitzen, welches das Leistungsvermögen des Geistes weit mehr erhöhen wird als optische Gläser die Sehschärfe der Augen fördern, und das die Mikroskope und Teleskope in dem gleichen Maße übertreffen wird, wie die Vernunft dem Gesichtssinn überlegen ist.“ Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 56f Zitat: Gottfried Wilhelm Leibniz, Anfangsgründe einer allgemeinen Charakteristik, 53
Für das logarithmische Rechnen ist es gleichgültig, mit wie vielen Stellen gerechnet wird. Bedeutsam ist, dass die Fehlermarge unterhalb der Darstellungsschwelle bleibt. Es macht auch keinen Sinn, die Entfernung zum Mond in Millimetern zu messen. … Schrift als ein Programm zu entwerfen … Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 61
Programm (Vor-Spur) ist ein Euphemismus für die Vor-Schrift des Gesetzes, der Regeln und Normen, mit denen gerechnet wird. Wenn ich den Maschinencharakter des Alphabets ins Spiel bringe, so deshalb, weil ich den Gedanken, daß erst der Computer die Schrift ins technische Zeitalter hineinzuhieven vermocht hat, für die typische Gegenwartsüberschätzung halte. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, denn es ist die Schrift, die die Maschine erzeugt – und das ist eine Entwicklung, die weit, weit in unsere Kulturgeschichte zurückreicht. Martin Burckhardt, Unter Strom, 31
Ein Reflektieren über Sprache/n kann erst im Darstellungsmedium der Schrift erfolgen. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 76
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Ein Reflektieren über Wirklichkeit kann erst im Darstellungsmedium der Fotografie erfolgen? Reflexion von Wirklichkeit im Spiegel der Realität: Das ist doch die schon in der Dingwelt fixierte Dynamik der Wirklichkeit. Der frühe Erfolg der Fotografie ist der Standesdünkel der Vernunft des konservierenden Bürgertums: das Sich-selbst-zum Objekt-Werden. Ein Bild kann überdauern, um die Standhaftigkeit der Dinge zu bezeugen. Aber die Fotografien von Atget zeigen, wie schnell sich auch das verändert, was man in Stein gemeißelt für ewig hielt. Die Bauten von Paris werden zur Kulisse in den Aufzügen der Geschichte – ein tableau vivant – in nichts unterschieden von den Ansichten der Schaufenster, die Atget ablichtet und in denen noch sein Spiegelbild den eigenen Verfall dokumentiert. Verblüffenderweise werden mit diesem [Vokal-]Alphabet in Griechenland jedoch nicht nur Sprache und Musik, sondern auch Mathematik und Geometrie angeschrieben. Der medienarchäologisch interessante Befund liegt darin, daß von Beginn an das griechische Alphabet sowohl für Laut- als auch für Zahl- und Tonzeichen eingesetzt wird, also „alphanumerisch“ avant la lettre. Nicht länger gilt damit die linguistische Trennung von phonozentrischer Schrift und Kalkül (Liste). Friedrich Kittler, Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie, 9 Zitiert nach: Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 99
So hypothetisch dieser Rekonstruktionsversuch auch ist, er weist darauf hin, dass Schrift als Ordnungssystem immer auch Abbild einer Gesellschafts- und Lebensordnung ist – und nicht nur einer Sprachordnung. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 103
Was ja die Definition der Urschrift nach Derrida ist: die Trennung und Überwindung des Anderen als Anderen durch Konventionen, Regeln, Gesetze in einer gemeinsam geteilten Disziplinierung und Objektivierung von Raum und Zeit, die die Äquivalente der Abwesenheit des Anderen verorten. Die Eigengesetzlichkeit der Schrift kommt in dem Moment zum Vorschein, wo sie in neuer Weise an der Eigengesetzlichkeit des Bildes – der Photographie, Kinematographie, Videographie, Choreographie – teil hat und eben nicht mehr allein der Sprachabbildung dient. In diesem Sinne ist die Ent-
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stehung einer neuen Schriftkritik gemeinsam mit dem Auftauchen neuer Bildmedien gerade kein Zufall, sondern eine logische Konsequenz. Derridas Schriftkritik steht symptomatisch für diesen bildmediologischen Paradigmenwechsel ein, ohne dass die schriftbildlichen Implikationen bereits in vollem bildkritischen Bewusstsein reflektiert würden. Vom heutigen Stand der Schriftbildforschung aus betrachtet, liest sich seine Grammatologie wie eine erste Bahnung in Richtung einer Bildkritik der Schrift. Brigitte Mersmann, Schriftikonik, 138
... und einer Schriftkritik des Bildes! Dabei sind die Etappen, die Derrida durcharbeitet, entscheidend: von der Sprach/Schrift-Spaltung unter der Kritik der Semiologie (gramme) einerseits und einer Phonologie (phoné) andererseits hin zu einer systemisch angelehnten Kritik der Differenzialität aller Medienerscheinungen, zuletzt auch intensiv denen von Malerei und Fotografie. Von etwa 1965 bis 1990 nähert er sich damit der Entwicklung einer Medienphilosophie an, die von einer zunehmenden Differenzproduktion durch Kommunikation ausgeht, die den Identitätszwang der kommunizierenden „Systeme“ aufhebt. Kommunikation muss sich um der Erhaltung ihrer selbst willen strukturell verfehlen, ohne jedoch die informationelle Identität (das Medium) zu verlassen. So hat die Fotografie immer auch etwas der Kommunikation Hinderliches oder Militantes in die Medienökonomie einzubringen, weil sie nur vordergründig informativ oder argumentativ in Erscheinung tritt, fragmentarisch ihre Ableitungen kappt und in Bezug auf Detailschärfe immer noch eine weitere Dimension der Genauigkeit verspricht. Neben der Politik der Schlagworte und Schlagbilder verstummt eine Durchdringung der materialistischen Ökonomie, zumal da Fotografie in sich die Materie aufzuheben scheint, den asymmetrischen Rest zwischen Opfer und Gabe negiert: ein Fetisch, ein heiliges Objekt, das sich der Ökonomisierung entzieht, scheinbar ohne Arbeit erscheint.
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XIV. RECHT AUF EINSICHT … photographien, die dazu da sind, angeschaut zu werden, und damit basta. Und Photographien von Photographien, und so weiter, der Möglichkeit nach ins Unendliche. – Aber genau dieser unergründliche Einschluß unterschlägt dem Blick etwas, er appelliert an den Diskurs, er erfordert die Lektüre. … an die Stelle des Voyeurismus tritt die Exegese. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, V
Das Gespenstische, das ist das Wesen der Photographie. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, VI
So diskret er auch sei, der Unterzeichner des Diskurses verfügt gänzlich darüber, er zwingt Sie, die Dinge so anzuschauen, wie er sie versteht. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, VII
Wo eine Fotografie anfängt, weiß man; wo eine Inszenierung beginnt, ist oft nicht gewiß. Performationen wie das Theater neigen deswegen zu Rahmenhandlungen und Konventionalisierungen (das Treppenhaus des Barock, das Entrée der Oper). Die Rahmen der Fotografie sind aus der Mode gekommen. Die formellen und ästhetischen Gesetze sind zur Überschreitung freigegeben. Der Redakteur
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dominiert den Fotografen. Das Foto wird zerschnitten und im Layout neu montiert. Die Fotografie ist mächtig, der Fotograf ohnmächtig. Was sagt das Gesetz? Wer hat das Recht, die Szene zu sehen, die Bilder einzufangen, sie zu interpretieren, zu rahmen, zu beschneiden? Wer hat das Recht, Geschichten zu folgern? Und glauben zu lassen? Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, VIIf
Hier – im juridischen Raum – und nur hier – nicht im ästhetischen – ist die Frage der Einschmeichlung der Fotografie in die Legitimitäten von Kunstproduktion anzusiedeln. Also eine Urszene vor und nach dem Fall. Sie gehörte auf jeden Fall mit zur Zeit einer Lichtschrift, d.h. zur Geschichte der Photographie. Lichterzeugung [photogénie]: es werde Licht, die Geschichte des Falls, das Negativ, Lucifer, die weißen oder schwarzen Engel, nichts fehlt, nicht mehr und nicht weniger. … Umgekehrte Schöpfungen: Es ward Licht! Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XIVf
Derrida spielt in „Recht auf Einsicht“ auf die juristische Unterscheidung zwischen Gesetz (das Allgemeine) und dem Fall (das Individuelle) an, die prägend ist für eine Vor-Schrift ebenso wie für eine Vorschrift, für soziale Übereinkunft und deren Verfehlung. In dieser These werden aber nicht nur die Sozialtechniken, sondern auch die der Medieninversionen formulierbar. Jedes Medium kann zum „Inhalt“ eines anderen werden, sofern die abgeschlossene Vergangenheit eine Elementeinheit im Schema der Zeit darstellt. In der Fotografie ist dieses Element fragmentarisch, zitathaft – ein Foto –, in der Uhr ein Taktschlag, in der Literatur ein Satz. Die Zwischenzeit wird jeweils durch eine luciferische Schwärze, Leere, Rahmung ausgefüllt, die nicht das Recht hat zu existieren und doch immer als Spur des Seins das Legato des Daseins begleitet. Der Fotoroman, auf den sich Derrida bezieht, wird indes gänzlich von einem Schweigen durchzogen, sodass der Sog, ihn durch eine Geschichte zum Reden zu zwingen, zu beleben, zugleich den Sog einer verbotenen Handlung darstellt. Deswegen wird der Fotoroman heute fast gänzlich durch die Graphic Novel kompensiert, in der die Stimme und das Bild, nicht aber ein Text sich aufeinander beziehen.
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Um welche Anordnung es sich auch immer handelt, eines ist immer anwesend: das Licht. „Photo-Graphie“: Schrift des Lichts, Licht-Schrift. … Im Photo ist die „Schrift des Lichts“ das Medium dieser Ellipse des Sinns und dieses beinahe experimentellen Abklärvorgangs. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 191 u. 193
Aber Benjamin unterstreicht gerade bezüglich des Details, daß die Erfindung der Photographie und das Erscheinen der Psychoanalyse parallel laufen. Durch eine einzigartige Konkurrenz im technischen Dispositiv, beinahe zum gleichen Zeitpunkt, sehen Sie Ps. und Ph. sich verbinden: die Lektüre des bedeutsamen „Details“ in einem blow up, im Verlauf eines Vergrößerungs-, Schneide- oder Montagevorgangs, Wiedereinschreibung der Metonymien, Verschiebung, Ersetzung, Reinszenierung, Analyse der figurativen Funktion der Wörter in der stummen Darstellbarkeit, etc. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XXI
Antonioni, ein Meister der Darstellung des „stillen Bildes“, zeigt in „Blow up“ (1966) einen Fotografen, der einem Mord auf der Spur ist, den er unabsichtlich in einem Park fotografiert zu haben glaubt. Er vergrößert seine Fotos, bis auf ihnen nur noch die Körnung des Films zu sehen ist. Weder der Mord, noch der Mörder noch das Opfer werden erkennbar. Endlich glaubt er selbst, einer Täuschung aufgesessen zu sein. Zwischen den Sekunden ist keine Zeit, zwischen den Fotos keine Leere. Die fotografische Schärfe ist einer fraktalen Dimensionierung unterworfen. Die Verflüssigung der Medien verhindern jede Ansicht einer Ruptur, eines Mordes. Medien sind Agenten der Verdrängung sinnlicher Differenz, Inzestgebärden. Der Zoom ins Detail spielt bei Benjamin die Rolle einer verbotenen Frucht. Sich mit dem Medium opferlos identisch zu machen, heißt zugleich, selbst zum Opfer zu werden. Das ist die Idee der Neurosenlehre der Psychoanalyse. Das Medium des Unbewussten: Grammatik der Sinnendifferenz in Konkurrenz der Medien. Nichts entgeht dem Magnifizieren, da es nur Details gibt. Der Ganzheiteffekt sieht sich ständig in einem Teil wiedereingesetzt, das, ja es, immer nur es, ein- oder mehrmals geteilt, sich über das Ganze hinaus vergrößert. Es gibt kein Recht auf totale Einsicht, das Gegenteil des Panoptikums. … Das Ganze zieht sich zurück und hinterläßt auf seinem Rückzug nur Spuren in Form
XIV. RECHT AUF EINSICHT 113
von Fragmenten. … Das Wort „Fragment“ ist nicht mehr angemessen, auch nicht das des „Details“, sie spielen auf eine ehemalige oder noch kommende Totalität an. Nun hinsichtlich der photographischen Perspektive und ihres Dispositivs gibt es sie nicht … Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XXIf
Nennen wir es Provisorium. Wir können in der Sprache nur denken, weil diese nicht unsere Stimme ist … Deshalb sind wir gezwungen zu denken, wenn wir sprechen, d. h. die Worte in der Schwebe zu halten. Das Denken ist das Leiden der Stimme in der Sprache. Giorgio Agamben: La fine del Pensiero Zitiert nach: Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XXIII
Sie sollten über diese Photographien wie über das Denken sprechen, eine Nachdenklichkeit ohne Stimme, ohne eine andere als eine schwebende Stimme. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XXIII
Der Marktwert der Photographie wird wie der der Malerei durch den Diskurs garantiert. Was wir so schreiben … ist es nicht der am meisten pornographische Moment oder Akt der Angelegenheit? Buchstäblich: Zum Verkauf anbieten. Jacques Derrida, Recht auf Einsicht, XXVIII
Mit den Worten Benjamins: Im Kino „unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art“, „kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung.“ Das Ergebnis ist eine neue Sehweise, die er mit Baudelaire und Heidegger affin als ein Sehen ohne Blick bezeichnet, die verblendet dem vermeintlich Sichtbaren zugewendet und in ihrem Reagieren dem Tempo der Großstadt angepaßt, das Vermögen verloren hat, den Blick aufzuschlagen. Michael Wetzel, „Ein Auge zuviel“, in Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, 153 Zitat: Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, 645
Der „Chock“ ist nicht so sehr physiologischer Natur, sofern die Fotografie stärker als jede andere Bildproduktion zeigt, dass das Sehen,
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physiologisch betrachtet, in disparate Momente zerfällt und damit die Wahrheit des Blicks im dynamischen Bild eröffnet. Denn das Sehen springt (Saccade), protegiert sich aber als kontinuierliches Erlebnis. Die Fotografie seit Marey enttäuscht unsere Täuschung und zwingt uns, dem schweigenden Foto (dem Produkt des technischen Schocks) eine kontinuierliche Erzählung zu unterlegen. Freilich muss dazu die Belichtungszeit mindestens auf den Moment der Saccade reduziert, d.h. selbst nicht erfahrbar werden. Unter einer Minute ist die Belichtung durch die Einführung lichtempfindlicheren Filmmaterials und der Voigtländer Objektive ab 1840 möglich, unter einer Sekunde ab 1850, unter einer Hundertstelsekunde ab 1870.
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XV. KRITIK PHILOSOPHISCHER SCHRIFT Weil Derrida beides verleugnet, kann er beliebige Diskurse nach dem Muster der poetischen Sprache analysieren und so tun, als sei Sprache überhaupt durch den poetischen, auf Welterschließung spezialisierten Sprachgebrauch determiniert. Aus dieser Sicht konvergiert Sprache als solche mit Literatur oder eben mit „Schreiben“. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 240
Unterscheidet nicht schon der frühe Derrida Stimme, Sprache und Schrift – Schrift freilich verstanden nicht als der gewöhnliche performative Akt des Einschreibens, sondern das auf Konvention und vorgängige Akzeptanz zum Anderen hinzielende Verstehensangebot? Ist diese Geste des Angebots und der Körperdispensierung nicht fundamental, weil auf Zukunft hin lanciert – immer poetisch, fiktional und kreditierend und deswegen weder moralisch noch unmoralisch? Weil Derrida diese eine, eben die „poetische“ Sprachfunktion überverallgemeinert, hat er keinen Blick mehr für das komplexe Verhältnis einer normalsprachlichen Alltagspraxis zu den beiden, gleichsam in entgegengesetzten Richtungen ausdifferenzierten außeralltäglichen Sphären. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 243
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Nun hat der späte Derrida seine These der Urschrift, der ursprünglichen Differenz (Aufschub), später auf alle Medientechniken übertragen. Habermas jedoch scheint dem Glauben anzuhängen, dass eine vernunftabgeleitete Form der abstrakten „Alltäglichkeit“ ohne mediale Opfer ablaufen könnte, so dass die Extreme – Todesflucht und Todessucht – auf einer einzigen absoluten Medialität namens „bürgerlich-demokratische Welt“ aufruhen könnten. Das schlägt natürlich alle „unvernünftigen“ Handlungsformen mit dem Bannstrahl. Von welcher absoluten Position aus? Von der des Gesetzes? Von der der Wahrheit der Sprache? (Und die Schrift, der Text?) Habermas geht es vordringlich darum, die Philosophie von der Literatur zu reinigen. Es passiert, was Heidegger vorhersah: Die Kybernetik übernimmt die Funktion der Philosophie, weil letztere den Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben nicht mehr kennt. … wird klar, was die Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur, und was die … behauptete Angleichung von Philosophie an Literatur, von Literatur an Philosophie bedeutet. Sie bringt die Konstellationen durcheinander, in denen die rhetorischen Elemente der Sprache ganz verschiedene Rollen übernehmen. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 245
Platon: Vom Sprechen zum Schreiben. Alle eigenständige Philosophie ist auch Literatur. Die Angst vor der Angleichung hat andere Gründe. Sie hängen mit der Auflösung der akademischen Philosophie in den Kultur- und Medienwissenschaften zusammen. Wer also weist hier wem die Rollen zu? Wer inszeniert, wer behauptet die Macht, wer macht die Vorschriften und entgeht der Vor-Schrift? Gleichwohl nimmt Habermas die politische und historische Rolle der Philosophie als Statthalter der Verschriftung argumentativer Rede ernst, sofern sie sich ihrer Darstellung in Schrift unterordnet. Rhetorik ist ein Thema der Philosophie, nicht aber Mediendifferenzierung. Selten hat Philosophie sich auf ein unartikuliertes Sprechen bezogen, da es nicht der Logik des Arguments gehorcht. Und unglücklicherweise scheinen auch noch Heidegger, Adorno und Derrida die in der Philosophie beibehaltenen universalistischen Fragestellungen mit jenen längst preisgegebenen Statusansprüchen zu verwechseln, die die
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Philosophie für ihre Antworten einmal reklamiert hat. Heute liegt es aber auf der Hand, daß sich die Reichweite universalistischer Fragen – beispielsweise der Frage nach den notwendigen Bedingungen der Rationalität von Äußerungen, nach den allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns und der Argumentation – zwar in der grammatischen Form universeller Aussagen spiegeln muß, nicht aber in der Unbedingtheit der Geltung oder der „Letztbegründung“, die für sie und ihren theoretischen Rahmen beansprucht würde. Das fallibilistische Bewußtsein der Wissenschaften hat längst auch die Philosophie ereilt. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 247
Nun ist der Anspruch von Logik und der Zwang zur Kommunikation selbst schon als universell unterstellt. Es wäre aber zwischen einer wissenschaftlichen und sozialen Praxis zu unterscheiden. Habermas trifft mit seiner Kritik nicht den relevanten Punkt der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Philosophie, sondern zielt auf den Makel der frühen Konzeption Derridas. Erstens, weil Derrida in seiner Analyse den Umbruch der Öffnung der Universitäten und der Linguistik (nach 1968) diagnostiziert; Habermas hat 1984 den späteren Derrida noch gar nicht zur Kenntnis nehmen können. Zweitens ist die Frage nach der Geltung universalistischer Problemlösung, also der von tödlicher Gewalt als dem Kern philosophischer Anstrengungen tatsächlich in ihrer Aporie unlösbar. Die inzestuöse Lösung wäre zugleich der Tod des Begehrens. Insofern plädiert Habermas nicht für eine kommunikative Einsicht auf Unlösbarkeit, sondern auf Moderierung. Genau damit spielt er das Spiel der Medialisierung und kann Philosophie nicht davon ausnehmen. Drittens ist das von Derrida prolongierte Spiel der Dekonstruktion und eines Rückgangs auf eine Urschrift ein Dialog von Fragen ohne Antwort, der die anökonomische Geste der Philosophie (oder was an „nicht-wissenschaftlichem“, „metaphysischem“ Rest noch existiert) nicht universalistisch, sondern genalogisch betrachtet. Allein: ein Appell auf kommunikative Einsicht kann so lange nicht funktionieren, wie gewusst werden kann, dass die Beherrschung der Kommunikation an – so Benjamin – „waltende Gewalten“ gebunden ist, die prinzipiell nicht beherrschbar, sondern nur fallweise moderierbar sind. Der soziale Status von philosophischer Rede, wie ihn Bourdieu analysiert, ist dabei noch gar nicht angesprochen.
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Die Fotografie? Sie wird, wie der Film, zur Primärquelle philosophischer Dissertationen, weil sie als ursprüngliche Schrift von der Unabschließbarkeit des philosophischen Anspruchs nach Präsentifikation des Präsens – Inzest von Medium und Form – kündet. Die Moderation reicht also nur noch bis zu den medialen Vorschriften, nicht bis in die Wirklichkeit „freier Subjekte“. Jene transzendental-empirische Verdopplung des Selbstbezuges [Derridas’ ursprüngliche Differenz, „Ur-Schrift“] ist nur solange unausweichlich, wie es keine Alternative zu dieser Beobachterperspektive gibt: nur dann muß sich das Subjekt als das beherrschende Gegenüber zur Welt im ganzen betrachten – oder als eine in ihr vorkommende Entität. Zwischen der extramundanen Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich ist eine Vermittlung nicht möglich. Diese Alternative entfällt, sobald die sprachlich erzeugte Intersubjektivität den Vorrang erhält. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 347
Wir haben aber gesehen, dass die différance die inzestuöse Verdopplung aufschiebt. Ausdrücklich hat Derrida jede metaphysische Verdopplung ausgeschlossen. Aber im Resultat trifft Habermas den Kern; denn Derridas These ist die, dass die ursprüngliche Differenz unabhängig von den sprachlich oder sonstwie erzeugten Intersubjektivitäten stets in einer notwendigen Spur mitgedacht werden muss. Sie ist die Intersubjektivität individueller und nicht identischer Subjekte. Die Überschreitung ist deswegen keine Verdopplung, weil die Welt auch Form, nicht aber die Form Welt ist. Man kann auch keine Münze mit nur einer Seite herstellen: Eine Münze bedingt stets eine Form mit zwei Seiten. Gewiß, die Interaktionsteilnehmer erscheinen dann nicht länger als die Urheber, die mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewältigen, sondern als die Produkte der Überlieferungen in denen sie stehen, der solidarischen Gruppen, denen sie angehören, und der Sozialisationsprozesse, in denen sie heranwachsen. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 349
Die Fotografie, noch mehr der Film in allen seinen Formen, prägt hier die Gesten des Körpers. Sind es die Gesten oder die Argumente,
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die den Stammtisch und den Schnappschuss beherrschen? Fotografiert der Fotograf eine Wirklichkeit oder ist sein Blick fotografisch – oder sind die Dinge in ihrer Stellung für die Fotografie zugerichtet? Seltsamerweise lässt die Fotografie beides zu: Man kann als Amateur das Opfer des zugerichteten Blicks sein und man kann als Profi den Blick auf das Fotografische hin trainieren. – Man kann aber auch die Realität solange inszenatorisch arrangieren, bis sie der Kamera ein fotografisches Bild liefert. Der „Urheber“ muss also nicht der Fotograf sein. Die Gesellschaft wird als Praxis vorgestellt, in der sich Vernunft verkörpert. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 354
Horkheimer und Adorno haben den Prozeß der sich selbst überfordernden und verdinglichenden Subjektivität ähnlich wie Foucault als einen weltgeschichtlichen Vorgang beschrieben. Beide Seiten verkennen aber die tiefere Ironie dieses Vorgangs, die darin besteht, daß das kommunikative Vernunftpotential in den Gestalten moderner Lebenswelten erst einmal entbunden werden mußte, damit die entfesselten Imperative wirtschaftlicher und administrativer Teilsysteme auf die verletzbare Alltagspraxis zurückwirken, und dabei dem Kognitiv-Instrumentellen zur Herrschaft über die unterdrückten Momente praktischer Vernunft verhelfen konnten. Das kommunikative Vernunftpotential wird im Verlaufe der kapitalistischen Modernisierung gleichzeitig entfaltet und entstellt. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 367
Die Linie von Habermas ist historisch und beginnt allzuspät mit der Aufklärung, als wäre nicht jede Form der Schrift schon vernünftig. Halten wir uns an die Fotografie: Die Realität, die sie abbildet, wird von ihr entstellt, bildet aber die Vorlage für eine erneute Verwirklichung. Athen, Rom, Versailles, Las Vegas, Venedig, Disneyland: Man baute schon immer für die Organisation des freien Blicks. Behaupten wir doch einfach: der Blick ist eine soziale Konstruktion, eine „Schrift“. Realität und Fotografie stabilisieren sich wechselseitig provisorisch, da Fotos in gleichem Maße produziert wie rezipiert werden. Der fotografische Akt umfasst: fotografieren, archivieren, zeigen. Das Abbild wird zum Vorbild.
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Dann muß man freilich das strukturalistische, auf die logisch-semantische Dimension beschränkte Sprachkonzept erweitern und Sprache als das Medium begreifen, das jeden Interaktionsteilnehmer zugleich als Angehörigen in eine Kommunikationsgemeinschaft hineinzieht und dabei einem unnachsichtigen Individuierungszwang unterwirft. Zu den pragmatischen Voraussetzungen der regelrechten Verwendung von grammatischen Sätzen in Sprechhandlungen gehört nämlich die Integration von Sprecher-, Hörerund Beoachterperspektiven … Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 388
Phonetisch durchartikulierte Sprache, Rhetorik, ist hier insofern privilegiert, als der deutsche Professor seit je her die Gehirne seiner Studenten durch das Ohr befruchtet, vorgeblich durch Jungfrauenzeugung, also opferlos, wie Nietzsche sagt. Wir nehmen die Sprachbilder, die Bildsprache und die hybriden Formen gestischer Kommunikation unter der Rubrik „Medium“ mit auf, wissend, dass das Medium nach Kittler eine Selbstreferenzunterbrechung darstellt, also eine Uhr, die mit jedem „Tic“ ihr „Tac“ herausfordert, also auch noch über den Seinsriss hinweg an ihre Vorschrift anknüpfen kann. Diese Uhr (Sprache vs. Schrift?) ist die Grundmedialität der automatisierten Rechenmaschine, die CPU (Central Processing Unit) des Computers – Heidegger mit Turing. … unter Bedingungen eines immer weiter und immer feiner gesponnenen Netzes sprachlich erzeugter Intersubjektivität. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 400
Kopplung von Rechner und Fotografie, detailversessen, überwach und überwachend, der instrumentellen Vernunft ausgeliefert: so die Militarisierung der Gesellschaft auch durch den Fotografen. Der Paparazzi ist seine Satire. Die Reproduktionsmittel sind die Hilfstruppen der Demokratie schlechthin. Léon de Laborde, Die Revolution der Reproduktionsmittel, 97
Philosophie wird zu einem integralen Produkt, das aus dem Namen, den Schriften und den technisch erzeugten Bildern, die die Denker zeigen, gleichermaßen besteht und so in Umlauf gebracht wird. Das metaphysische Tier
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sitzt plötzlich im Käfig der technischen Bannung seiner Anwesenheit. Damit ist die magische Strahlkraft der Schrift entscheidend geschwächt. Mit dem Einsatz der neuen Medien technischer Bilder, die – Schellings Lichtbild legt das fast nahe – gegen die Spezies der schreibenden Denker eingesetzt werden, beginnt eine mediale Revolution innerhalb der europäische Kultur. … Wiederkehr der Bilder – das ist der Inbegriff des Grauens für eine Spezies, die seit ihren Anfängen gegen den Mythos und seine Bilderwut angetreten ist. Christian Schärf, Schellings Lichtbild, 353
Schopenhauers zentrale Stellung im 19. Jahrhundert zeigt den Niedergang philosophischer Systeme als geschriebener Weltbildentwürfe. Im Bewusstsein der Geschichtlichkeit des Denkens und der Körperlichkeit der Philosophen wird neu verhandelt. Aber, wenn die Philosophie eine Vergangenheit hat, wieso sollte sie dann nicht auch eine Zukunft haben? Es ist, als würde die aufwändige und weit ausschwingende Bewegung des europäischen Denkens zu einem plötzlichen Stillstand kommen, als würde sie technisch paralysiert, als würde im Fatalismus des Deiktischen, den jede Fotografie aufweist – aufzuweisen scheint, suggeriert –, der Philosophie seiner Philosophie beraubt, ohne dass er das Geringste dagegen tun kann. Beraubt werden die Magie des flüchtigen Gedankens, der in Gestalt seines realen Subjekts hier und jetzt entzaubert wird. Christian Schärf, Schellings Lichtbild, 353
War die Schrift – seit Platon – nicht gerade gegen die Stimme des Sokrates ein Mittel, die Flüchtigkeit der Gedanken zu bewahren? Wer die Philosophie zum Gesetz erhebt, verkennt ihre ästhetische Wahrheit – das war eine Einsicht des frühen Schelling, der uns aus einer der frühesten Fotografien entgegenblickt. Alle Philosophie ist also doch letztlich Literatur, Empörung des Körpers gegen sein Verschwinden? Das platonisch-sokratische Kippspiel zerbricht. Die Unentscheidbarkeit des Ursprungs weicht dem deiktischen Dauerverweis des „Dort, dieser da“, ohne damit einen Ursprung von irgendwas zu benennen. Das ist das neue Geheimnis, das mit dem Aufkommen der technischen Bilder entstanden ist.
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… Am Ende des 20. Jahrhunderts werden weniger die Systeme der Philosophen als ihre Biographien interessieren. Christian Schärf, Schellings Lichtbild, 354
Was Schrift werden sollte, will ins Bild zurück. Denken büßt seinen Logenplatz ein, den es in der Behauptung dieser Haltung besetzt gehalten hatte. Deren Psychologie bestand in der Inszenierung der Abwesenheit, und eben diese Inszenierung wird durch die Fotografie durchbrochen. Die Aura der Abwesenheit zerfällt, die technische Reproduzierbarkeit des Bildes sorgt für die Allgegenwärtigkeit des Abwesenden. Damit verliert die Philosophie ihre alte Heimstatt, die die Autorität der Denker erschuf: das Abwesenheitspostulat der Schrift. Christian Schärf, Schellings Lichtbild, 354
Der reine Geist bekommt seinen Körper zurück und wird in den Bann der aktuellen Medienvielfalt neutralisiert. Jetzt soll der Philosoph zeitnah, aktuell, politisch und telegen seine Motive erstellen und gerade nicht die verunbewusstete Praxis eines sich selbst reproduzierenden Alltags aufklären. Die Weltdeutung fällt in die Statistik. So ist die Verbitterung, die aus Schellings Blick spricht, zu begreifen. Das Ich bin Ich, jener von Fichte ins Zentrum der idealistischen Philosophie gehobene Satz der Identität und logischer Ausgangspunkt aller Philosophie als Wissenschaft, verkommt auf dem Lichtbild zur reinen Banalität. Seht her, das bin ich! – Schaut nur, das ist er! Hinter der Fotografie des Philosophen bricht seine Philosophie lautlos zusammen. … Der Körper des Denkers, der zuvor in der Abwesenheit der Schrift lag und wie ein Phantom durch die Zeilen zog, tritt ins Medium der technischen Reproduktion und wird da zu ihrem Knecht. Christian Schärf, Schellings Lichtbild, 353
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XVI. DER TOD UND DAS SURREALE EREIGNIS Jene geisterhaften Spuren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten Angehörigen. Susan Sontag, Über Fotografie, 14f
So wird Erfahrung in eine feste Form gebracht: stehenbleiben, knipsen, weitergehen. Susan Sontag, Über Fotografie, 15f
Obwohl heute genau das als Ereignis gilt, was fotografierenswert ist, bestimmt doch nach wie vor die Ideologie (im weitesten Sinne), was ein Ereignis ist. Susan Sontag, Über Fotografie, 24
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Es scheint, daß ästhetische Distanz ein Bestandteil der Erfahrung ist, die man beim Betrachten von Fotos macht, wenn nicht von Anfang an, so doch im Laufe der Zeit. Die Zeit erhebt die meisten Fotografien, auch die dilettantischsten, auf die Ebene der Kunst. Susan Sontag, Über Fotografie, 27
Ohne Gedächtniserfahrung keine Erfahrung des Urszenencharakters der Fotografie: die Zeit herstellen, die hergestellte Zeit anhalten und sie bewahrend der Zeitlichkeit aussetzen. Sich dem Tod anschmiegen, ihn durch Identifikation überwinden. Freuds Diktum: Identifikation mit dem Aggressor, wenn an der Fotografie selbst erkannt wird, dass die Aporie der Herrschaft über die Zeit unlösbar dem entgegenläuft, dem sie zu entkommen sucht. So war aber je schon Kunst als das bestimmt, was die Zeiten zu überdauern hat. Jedem Zücken der Kamera wohnt Aggressivität inne. Susan Sontag, Über Fotografie, 13
Die Kamera atomisiert die Realität … Die „Realität“ der Welt liegt nicht in ihren Abbildern, sondern in ihren Funktionen. Funktionen sind zeitliche Abläufe und müssen im zeitlichen Kontext erklärt werden. Nur was fortlaufend geschildert wird, kann von uns verstanden werden. Susan Sontag, Über Fotografie, 28f
Hier meint Sontag „atomisiert (die) Wirklichkeit“ in eine fassbare Realität. Verstehen als Dekonstruieren des Sinns ist dort zwanghaft, wo die Sinne nicht hinreichen. Sinngenese ist eine Hin- und Herbewegung der aktiven Passivität und der passiven Aktivität; ein hermeneutischer Akt „progressiver Regression“, eine Überschreitung des gegenwärtigen Ich zu einem vorausliegenden Entwurf: Reflexion, Inversion. Jedes Foto ist ein Relikt der Vergangenheit, das in der Gegenwart für das Versprechen einer Zukunft sich erfüllt. Die Fotografie ist die Realität … Susan Sontag, Über Fotografie, 142
Fotografieren heißt Bedeutung verleihen. Susan Sontag, Über Fotografie, 32
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So befriedigte sie [die Einbalsamierung] ein fundamentales Bedürfnis der menschlichen Psyche: nach Schutz vor der Zeit. Denn der Tod ist nichts anderes als ein Sieg der Zeit. André Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, 33
Fotografieren heißt die Sterblichkeit inventarisieren. Susan Sontag, Über Fotografie, 72
… eine Art kleines Götzenbild … die Wiederkehr des Toten Roland Barthes, Die helle Kammer, 17
Die Dimension der Bedeutung in Aufschreibesystemen ist fundamental – „ideologisch“ oder „sozialisiert“ sind jedoch auch die Zeichen und Anzeichen der Sterblichkeit. Der Aufschub zerrinnender Zeit, der das gesamte strukturale Konzept der Schriftphilosophie durchzieht, entstammt einer kulturellen Grammatologie vorweggenommenen und aufgeschobenen Todeszeitpunkts. Sinn ist eine Erfindung (Divination) des Individuellen, eine Bemächtigung der Zeit in der Notation des Aufhaltens. Der Tod als Augenblick ist sinnlos. Die Fotografie ist auch hier extremistisch: Dem Motiv (Sujet) wird durch den fotografischen Akt Bedeutung verliehen. Der Akt wird, wie es noch bei Hegel heißt, „Eräugnis“. Dem Foto wird Sinn zugeschrieben insofern es eine individuell Bedeutung für mich hat. Das gilt insbesondere für die Familienfotos der Amateurfotografie, von denen Sontag spricht. „Bedeutung verleihen“ meint: die Dinge festhalten und sie in eine Genese einbetten. Was könnte surrealer sein als ein Objekt, das sich praktisch selbst hervorbringt, und zwar mit minimaler Anstrengung? Susan Sontag, Über Fotografie, 55
Man denke an Apollinaire, von dessen „Bildgedichten“ und „Gedichtbildern“ aus der Surrealismus seinen Anfang nahm. Sofern durch die Buchstaben hindurch Bedeutung vermittelt wird, sind sie Form. Diese Form erhebt Apollinaire zur Bedeutung. Die zweite Ebene der Form ist der Anordnung der Buchstaben geschuldet. „Minimale Anstrengung“ meint in der konkreten Poesie die Inversion der Fläche als Signifikant, ein Vexierspiel.
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Woher kommt die objektive Magie des Photos: daher, daß das Objekt die gesamte Arbeit erledigt. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 138
Im Prinzip führt die Fotografie den Auftrag des Surrealismus aus, alle Sujets als absolut gleichwertig zu betrachten. (Alles ist „real“.) Susan Sontag, Über Fotografie, 79
Denn für den Surrealismus ist der ästhetische Zweck unlöslich an die mechanische Einwirkung des Bildes auf unseren Geist gebunden. Die logische Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Realen verschwindet mehr und mehr. Jedes Bild muß als Gegenstand und jeder Gegenstand als Bild empfunden werden. Die Photographie …: eine Halluzination, die zugleich wahr ist. André Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, 40
Etwas durch etwas anderes ausdrücken, um sich von sich selbst zu dispensieren: Genau das heißt zitieren: der Anspruch des Anderen als Autorität. Zitieren heißt, die eigenen Spuren verwischen. Das Gegenstück davon: die Signatur. Die Fotografie ist ein Zitat, das gerne Signatur sein möchte. Die Kunstform davon: die Allegorie – den Begriff im Bild und das Bild im Text ausdrücken. Fotografen, die im Sinne des surrealistischen Lebensgefühls arbeiten, weisen lediglich darauf hin, daß es vergeblich ist, die Welt verstehen zu wollen, und schlagen uns statt dessen vor, sie zu sammeln. Susan Sontag, Über Fotografie, 83
Die zeitgenössische Malerei und Bildhauerkunst hat eine durch die Photographie bewirkte Travestie der Ideen von Originalität, subjektiver Expressivität oder formaler Singularität erfahren müssen, nicht insofern diese an solchen Werten gescheitert wäre, sondern weil sie das ganze System der Differenz bestritten hat, mit dem diese Werte gedacht werden können. Rosalind Krauss, Das Photographische, 217
Es wird deutlich, ... daß es einen Diskurs gibt, der der Photographie eigen ist. Allerdings müssen wir ergänzen: Es handelt sich dabei um keinen ästhe-
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tischen Diskurs. Es geht um ein Projekt der Dekonstruktion, bei dem die Kunst von sich selbst entfernt und getrennt wird. Rosalind Krauss, Das Photographische, 221
Krauss bezieht sich insbesondere auf die Fotomontagen und -collagen des Surrealismus, die eine Art Travestie der künstlerischen Werkvorstellungen und damit Entschlüsselung der ästhetischen Wertbildung anstreben, um den Effekt des Realen gegen den Effekt des Künstlerischen auszuspielen. Der Surrealismus zeigt die Konstitutionsbedingungen wechselseitiger Simulationen, er löst sie aufgrund des technischen Bezugs seiner Materialien und Medien jedoch nicht in Beliebigkeit auf. Der Effekt des Realen ersetzt das Reale selbst. Rosalind Krauss, Das Photographische, 222
… nur die Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den Gegenstand von den Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden … André Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, 39
Alle Künste gründen auf der Anwesenheit des Menschen; nur in der Photographie genießen wir seine Abwesenheit. So wirkt die Photographie auf uns wie ein „natürliches“ Phänomen, wie eine Blume oder eine Schneeflocke. André Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, 37
So war Benjamin der Ansicht, der richtige Titel unter dem Bild könne es vor den Verheerungen des Modischen retten und ihm einen revolutionären Gebrauchswert verleihen. Er beschwört die Schriftsteller, sich ans Fotografieren zu machen, um den Weg zu weisen. Susan Sontag, Über Fotografie, 105
Die Literatur steht – mit Ausnahmen – nicht in einem Kontext; sie führt diesen vielmehr sukzessive ein. Anders gesagt, der Roman besteht nur aus Kontext, er konstituiert keine fragmentarische, sondern eine abgeschlossene Welt. Die Rahmung ist eine implizite.
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Die Moralisten verlangen von einer Fotografie etwas, was keine Fotografie jemals leisten kann: daß sie spricht. Die Bildunterschrift ist die fehlende Stimme … Susan Sontag, Über Fotografie, 106
Denken wird als Trübung des Bewußtseins des Fotografen betrachtet … die meisten Fotografen [setzen] – mit gutem Grund – von jeher ein fast abergläubisches Vertrauen in den glücklichen Zufall … Was angestrebt wird, ist eine aggressive Beziehung zu allen Gegenständen. Bewaffnet mit ihren Maschinen, sollen die Fotografen die Wirklichkeit attackieren – eine Wirklichkeit, die als widerspenstig, als nur scheinbar vorhanden, als Unwirklichkeit empfunden wird. Susan Sontag, Über Fotografie, 112f u. 117
Diese Aggression ist ein Ausdruck des Problems, dass Wirklichkeit einer zeitlichen Dynamik unterworfen ist und man die Zeit weder anhalten, noch zurückdrehen kann. Man kann sie teilen, proportionieren, dehnen, komprimieren, aber auch das Spiel der Provisorien, der Inszenierungen, Rituale und Konventionalisierungen anregen, um Dauer und Disponibilität der Kausalitäten zu manipulieren. Das Foto soll uns beweisen, dass wir die unerbittliche, göttliche Zeit anhalten und in Besitz bringen können. Fotografie, das ist die getötete Wirklichkeit in sichtbarer Münze. Zum Wesen der Fotografie gehört, daß ihre Beziehung zum Fotografen als auteur nicht eindeutig ist … Susan Sontag, Über Fotografie, 130
Gerade das zeigt ihren Urschriftcharakter. Nicht der Autor, sondern das Licht soll am Foto schreiben. Der Schnappschuss: Nicht das Fotografierte, sondern das Datum ist das Entscheidende. Von der Urschrift aus betrachtet, fotografiert man kein Objekt, sondern die Zeit. Die Kamera ist eine Zeitmaschine. Um sich als Kunst zu legitimieren, muß die Fotografie den Begriff des Fotografen als auteur kultivieren … Susan Sontag, Über Fotografie, 133
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Hier beginnt die Rückbesinnung auf eine Nachschrift, die Erfindung des Autors, die Signatur des Fotografen. Die Sprache, in der Fotografien im allgemeinen bewertet werden, ist überaus ärmlich. Susan Sontag, Über Fotografie, 134
… die Kamera [ist] ein Medium der ästhetischen Sicht der Welt … ein Medium der instrumentalen Sicht der Realität. Susan Sontag, Über Fotografie, 168
Man muß sich immer wieder klar machen, wieviel wahrscheinlich unbeabsichtigtes Recht Manfred Frank auf seiner Seite hat, wenn er den Menschen – frei nach Schleiermacher und Sartre – als individuelles Allgemeines feiert. Im Zeitalter des Schriftmonopols konnte Goethe ja erklären, daß es gar keine Individuen gibt, sondern nur Genera, also Arten. Friedrich Kittler, Optische Medien, 191
Die Fotografie der „Berufstypen“ der Menschen des 20. Jahrhunderts im ideologischen Blick von August Sander: Ein glücklicher Rückfall in die alte Zeit der Genera? Bilder kann man an die Wand hängen, Ereignisse nicht. … Doch was bleibt vom Ereignis übrig, wenn es bleibt und sich im Bild verstetigt? Dem Bild fehlt … die Zeit und damit die nötige Lebendigkeit. Emmanuel Alloa, Erscheinung und Ereignis, 7
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XVII. UHR UND KAMERA Denn die Photographie ist das Auftreten meiner selbst als eines anderen … Roland Barthes, Die helle Kammer, 21
Für mich hat der Klang der Zeit nichts Trauriges: ich liebe die Glocken, die großen wie die kleinen Uhren – und mir fällt ein, daß ursprünglich das photographische Material den Techniken der Kunstschreinerei und der Feinmechanik zugehörig war: die Apparate waren im Grunde Uhren zum Ansehen. Roland Barthes, Die helle Kammer, 24
Die Organisation von Wirklichkeit beginnt nicht nur mit der Ordnung des Raums diesseits des Nomadischen. Entfällt die Wanderung mit den Jahreszeiten durch Hortung und Speicherung, muss die Arbeit anders rhythmisiert werden. Zuerst die Stimme; dann die
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Glocken; schließlich die Uhr, die – anders als die Glocken – nicht den Raum durchdringt. Als Folge davon wird die Uhr mobil, Taschenuhr, Armbanduhr. Der Blick auf die Uhr ist wie der Druck auf den Auslöser: Momentaufnahme, Orientierung, Nullpunkt. Und welche Entdeckung könnte für die Fotografie treffender sein als ein mit der von Talbot empfohlenen Lupe im Bild zu entdeckendes Detail: „manchmal erkennt man das entfernte Zifferblatt einer Uhr auf ihr – unbewußt festgehalten – die Uhrzeit, zu der die Aufnahme gemacht wurde“. Bernd Busch, Belichtete Welt, 205 Zitat: Henry Fox Talbot, The pencil of nature, 1844
Da das Fotografische von seinem Verhältnis zur Zeit – der physikalischen und der sozialen, dem Tod und dem Fest – erfasst werden kann, spielt der Vergleich mit der Uhr eine fundamentale Rolle: Die Fotografie hält die Zeit fest, die Uhr macht sie berechenbar. Aber die Analogie zur Uhrenmechanik kommt eher dem Filmprojektor zu. Die Fotokamera ist kein Chronometer, sondern ein Chronograph. Sie misst Zeiteinheiten, nicht Zeitverläufe. Das Foto gleicht dabei einem Kalenderblatt: Ansicht der datierbaren Zeit als Zeit des Festes, des ritualisierten Moments des Außer-sich-Seins: Blackout. Die Gliederung der Zeit, und ganz besonders die der Tageszeit, war auch nach mittelalterlicher Auffassung nichts schlicht Gegebenes, Unbezweifeltes oder Unveränderliches. Sie wurde vielmehr verstanden als teils von natürlichen Rhythmen, teils von sozialen Konventionen oder „politischen“ Entscheidungen bestimmt und historischem Wandel unterworfen. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde, 48
Schon in römischer Zeit hat der Rhythmus der Glocken oder der rufenden Stimme die Zeit artifizialisiert, zerteilt und verschiebbar gemacht. In diesem Sinne waren die Zeit wie der Raum immer schon verfügbare Medien gegenüber der unverfügbaren Präsenz und dem Schicksal, denen sie sich aufprägten. Allerdings gab die Zeit keine Bilder, sondern Handlungen, Szenen, Rhythmen vor. Mit der Erfindung der mechanischen Uhr (Ende des 13. Jahrhunderts), bei der der Zeiger die Zeit in Raumeinheiten auf dem Zifferblatt übersetzte, trat
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endgültig an die Stelle der organischen, wachsenden, nicht umkehrbaren Zeit, wie sie jeder erlebt, die abstrakte mathematische Zeit der Einheiten auf einer Skala, die der Welt der Wissenschaften angehört. A.C. Crombie, Von Augustus bis Galilei, 208f Zitiert nach: Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde, 261
Etwa zu der Zeit der Einführung der mechanischen Hemmung – zunächst wohl in Wasseruhren – beginnt auch die Camera obscura den Raum in einen normierten, wissenschaftlich berechenbaren Perspektivraum zu gestalten. Alhazen beschreibt die Camera obscura um 980 mit Hinweis auf Aristoteles. Roger Bacon verwendet sie als astronomisches Instrument um 1250. Die Schrift der Zeit wird dann zum Programm. Noch im klösterlichen Mittelalter war der Gesang auch eine Art, die Zeit zu messen. … nach der Erfindung der mechanischen Uhrwerkhemmung [sei, gemäß Daniel C. Boorstin] die Zeit nicht mehr „im Fluß“ gewesen, sondern zu einer „Akkumulation diskreter Augenblicke“ geworden. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde, 261
Als Ursprungsbehauptung taugt dieThese nur, wenn man sie keinem Datum unterwirft. In Analogie zur Erfindung der Fotografie, die 1839 auch nicht erfunden, sondern mit der Fixierungsfähigkeit des zentralperspektivischen Bildes vollendet wird, darf man die Popularisierung diskreter Augenblicke vielleicht erst um das Jahr 1700 annehmen, als sich Taschenuhren durchsetzten. In beiden Fällen geht es um die urschriftliche Rückeroberung einer sich als „natürlich“ und somit zufällig gegebenden Raum- und Zeitordnung. Erst die objektive Messbarkeit, d.h. die sukzessive Durchsetzung eines elementaren Metrums erlaubt die wissenschaftliche Diskursivität eines objektiven Zeitmoments, das Einstein jedoch als Verhältnis der Geschwindigkeit der Transformation von Energie entzauberte. … denn die camera obscura der Maler ist nur einer der Ursprünge der Phoentscheidend war wohl die chemische Entdeckung … Gleichwohl berührt die Photographie sich (wie mir scheint) nicht über die Malerei mit der Kunst, sondern über das Theater. … Die camera obscura hat, im ganzen gesehen, die perspektivische Malerei ebenso wie die Photographie tographie;
XVII. UHR UND KAMERA 133
wie auch das Diorama hervorgebracht, und alle drei sind Künste der Bühne; wenn ich aber die Photographie in engerem Zusammenhang mit dem Theater sehe, so aufgrund einer eigentümlichen Vermittlung …: der des Todes. Die ursprüngliche Beziehung zwischen Theater und Totenkult ist bekannt: die ersten Schauspieler sonderten sich von der Gemeinschaft ab, indem sie die Rolle des Toten spielten … Roland Barthes, Die helle Kammer, 40
Die Einführung der szenischen Künste bedeutete für die frühe Fotografie: den Tod arrangieren. Aufgrund der Belichtungsdauer ließen sich nur tote oder totgestellte Objekte ablichten. Heute ist der Akt des Knipsens selbst einer der Tötung, der Durchstreichung/Heiligung der Opferspur. Sich als Medium aufzuheben, nicht mehr Zeichen, sondern die Sache selbst zu sein? Roland Barthes, Die helle Kammer, 55
Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der Photographie ansehen. Roland Barthes, Die helle Kammer, 86
Die Photographie sagt (zwangsläufig) nichts über das, was nicht mehr ist, sondern nur und mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist. Diese feine Unterscheidung ist ausschlaggebend. Roland Barthes, Die helle Kammer, 95
Der Blicktausch mit Bildern wiederholt den Blicktausch im Leben. In der Fotografie und im Film ändert sich dann die Erfahrung des Herausblickens: im Foto, weil man hier immer weiß, dass der Blick eigentlich einer Kamera gilt, und im Film, weil dort der Blick aus dem Bild die Fiktion der Filmhandlung stört. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 101
Jegliche Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz. … Das Auftreten der Photographie – und nicht, wie gesagt worden ist, das des Films – schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet. Roland Barthes, Die helle Kammer, 97
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Eine Spaltung nach der Spaltung. Es gilt nicht, die Uhr, den Kalender, die Geschichte einzuführen. Es geht darum, der Vergangenheit eine Gewissheit zu verschaffen, sei sie nun dokumentarisch oder inszeniert abgebildet: Sie war da! Sie wird zum Objekt. Die Archive der Schrift dagegen sind immer von dem Makel befleckt, nicht von einer objektiven Maschine, sondern von menschlichen Instanzen beglaubigt worden zu sein. Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der Photographie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe. Roland Barthes, Die helle Kammer, 99
Doch Geschichte ist ein nach positiven Regeln konstruiertes Gedächtnis, ein rein intellektueller Diskurs, der die mythische Zeit auslöscht; und die Photographie ist ein sicheres, jedoch vergängliches Zeugnis … Roland Barthes, Die helle Kammer, 104
Rituelle Geste des Fotografierens: mythische Zeit. Das Foto: historisches Datum. Die Fotografie steht zwischen der Geschichte und den Geschichten. Riss im Sein, Riss in der Zeit. Die Geste oder Gebärde ist die unbestimmte und unerschöpfliche Summe der Gründe, Triebe, Faulheiten, die den Akt mit einer Atmosphäre … umgeben. Unterscheiden wir also die Botschaft, die eine Information erzeugen will, das Zeichen, das eine Einsicht hervorbringen will, und die Gebärde, die den ganzen Rest (die „Zugabe“) produziert, ohne eigentlich etwas produzieren zu wollen. … In der Geste hebt sich somit die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, Motiv und Ziel, Ausdruck und Appell auf. Roland Barthes, Cy Twombly, 11f
Die Veränderung, welche das Hornsilber im erwähnten Versuch erlitt, ist eine chemische. Das Hornsilber selbst besteht aus Salzsäure und Silberoxyd, dieses aus Silber und Oxygen. Beim Schwarzwerden dieser Substanz wird dem Silber sein Oxygen entzogen und kehrt, da es so mit der Säure nicht
XVII. UHR UND KAMERA 135
mehr in Verbindung bleiben kann, zum freien regulinischen Zustand zurück, indem es sich, der äußerst feinen Zerteilung wegen, schwarz ausnimmt. Johann Wilhelm Ritter, Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie (1798-1809), 121
Es wird das Resultat einer größeren faktischen Untersuchung, die Polarität der Chemie, der Elektrizität, des Magnetismus, der Wärme usw. ihren Prinzipien nach aufzuzeigen als eine und dieselbe in allen. Dies eins und alles in seiner reinsten freiesten Erscheinung ist das Licht; ein Satz, der bald den Namen einer bloßen Meinung nicht mehr dulden wird. Erlanger Literatur-Zeitung 1801, No. 16, S.121-123 Johann Wilhelm Ritter, Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie, 127
Ritters – von den Romantikern und deutschen Idealisten hochangesehene – bahnbrechende Entdeckungen zur Erweiterung des elektromagnetischen Spektrums und zu den photochemischen Eigenschaften der Silbersalze bezeugen ein umfängliches Naturverständnis, in der die Beschäftigung mit der Vereinheitlichung der Grundkräfte weit vor Einstein ihren Anfang nimmt. Die Schwärzung der Salze ist nicht magisch, sondern „der feinen Zerteilung“ wegen, ein Unterlaufen der Sinnesleistung, zu deren Kompensation nicht mehr der metaphorische Sinn, sondern die technische Verfeinerung der Sinne (wissenschaftliche Instrumentalisierung, Mikroskopie) eingesetzt wird. Insofern ist das Prinzip „Licht“ schon als das Transformationsagens aller Kräfte erkannt. Die Fotografie ist angewandtes Modell der Lichtgeschwindigkeit.
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XVIII. FOTOGRAFIEREN ALS SOZIALE GESTE Gewöhnlich wird der Amateur als unausgereifter Künstler definiert: als jemand, der zur Meisterschaft in seiner Profession nicht aufsteigen kann – oder will. Auf dem Felde der photographischen Praxis dagegen überflügelt der Amateur den Professionellen: er kommt dem Noema der Photographie am nächsten. Roland Barthes, Die helle Kammer, 109
Professionelle Fotografie: Auch in der Kunstszene findet die digitale Malerei zunehmend Beachtung. Die Paint Box ersetzt die Kamera. Die Medientechniken werden hybrid, sobald das Foto in subliminale Quadrate zerlegt wird. Die Großfotos der Künstler sind keine Fotoabzüge mehr, sondern Druckwerke. Eine Kamera dient nur noch der Erzeugung visuellen Ausgangsmaterials, Spuren werden verwischt. Die Bildwerdung hat Vorrang vor den Techniken. Weil sie eine Wahl ist, die lobt, weil sie der Absicht folgt, festzuhalten, d.h. zu feiern und zu verewigen, darf die Photographie nicht den Zufälligkeiten der individuellen Phantasie ausgeliefert werden. Pierre Bourdieu, Eine illegitime Kunst, 17
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Eine Idee, die umso mehr die Technikbegeisterung an der apparativen Fertigkeit lobt, als die Technik im 19. Jahrhundert mythische Funktionen übernimmt. Zauberer, Alchimist, Chemiker, Photogaph: Eine ungebrochene Genealogie der Bewunderung von Genauigkeit und Detailtreue sorgt vor 1900 für einen neuen Glauben an Magier und Gespenster. Licht, Elektrizität, Magnetismus – Strahlen aller Art konkurrieren mit wundersamen technischen Übertragungen. Die Normen, welche die photographische Aneignung der Welt entsprechend dem Gegensatz zwischen Photographierbarem und Nicht-Photographierbarem organisiert, sind untrennbar mit dem System impliziter Werte verknüpft … Pierre Bourdieu, Eine illegitime Kunst, 18
Das gilt so auch für die Literatur, die aber bereits in unterschiedliche Textgattungen aufgespalten ist. Die Fotografie muss sich diese Normen erst durch die technischen Möglichkeiten (Negativ, Rollfilm, Kleinbildkamera, Fotodruck etc.) erobern. Heute kann und darf alles fotografiert werden. Die Klassengegensätze (Bourdieu bezieht sich hauptsächlich auf das provinzielle Frankreich Mitte des 20. Jahrhunderts) existieren für den Fotografen nicht. [So] operiert diese Art Psychologie, die angeblich der Erforschung der Tiefenschichten der Person dienen soll, mit Kategorien, in denen die dünnen Reflexe der Freudschen Konzepte des Voyeurismus, des Narzißmus und des Exhibitionismus aufscheinen. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 27
Eine Kritik, möglicherweise gegen Sartre, der diese Themen unter dem Begriff des „Blicks“ in Das Sein und das Nichts behandelt. Allerdings kann heute kein Zweifel darüber bestehen, dass das Unbewusste in den Dingen – ganz im Bereich der Oberflächen, der selbstvergessenen Praktiken – zu Hause ist. Die Dinge sind zu Bildern und Zeichen geworden. Der fotografische Blick geht dem fotografischen Akt historisch voraus. Aber vergessen wir nicht: Die Arbeit Bourdieus beschreibt die Jahre vor 1965. Es gibt die Fotografie, aber es gibt noch nicht ein Denken der Medialität. Insbesondere ist auch der
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späte Freud gegen den frühen der Technikadaption (Nervenleitung vs. Elektrizität) zu verteidigen. Meist gibt die Erstkommunion den Müttern eine erste Gelegenheit, ihre Kinder photographieren zu lassen. Daran wird erneut deutlich, daß Bedeutung und Rolle der Photographie eine Funktion der sozialen Bedeutung eines Festes sind … weil das Fest etwas ist, was man aus nichts oder mit Nichtigkeiten macht oder schafft, vom Augenblick der Entscheidung an, in festlicher Stimmung zu sein. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 33 u. 39
Aber was ist ein Fest? Eine aufgeschobene, eine aufgebobene Zeit. Saturnalien: Die Zeit, in der die Planeten scheinbar rückwärts laufen, eine verrückte, karnevaleske, dionysische Zeit. Die Kamera ist also eine verrückte Zeitmaschine. Sie heiligt die Verrückung und zeigt sie zugleich an; sie macht sie, wie in einer Prozession, transponierbar. Das Photo … das die Kinder den Verwandten und Nachbarn als Gegengabe für ein Geschenk überreichten. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 33
Bedenken wir die Gruppe der Kleinbürger, die Bourdieu avisiert. Daneben gibt es andere Gruppen – und heute: vom Fest zum Event, Inszenierung für die Fotografie und durch die Fotografie. Doch was steht hinter dem Fest? Der Agon des ursprungslosen Ursprungs, dessen ästhetisierte, neurotisch-rituelle Nachspielung. Und da [die Fotografie] … die Gebrauchsbestimmung, aus der sie hervorgeht, nicht abzustreifen vermag, kann sie ihre Zwecke nicht selbst setzen und die spezifischen Intentionen einer autonomen Ästhetik verwirklichen. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 43
Was man täglich vor Augen hat, photographiert man nicht. … Die vertraute Umgebung ist das, was man immer gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 45f
XVIII. FOTOGRAFIEREN ALS SOZIALE GESTE 139
Das Unbewußte der Dinge; der Urschriftcharakter der Medien: Verdeckung, Aufklärung, Todesdisposition im gleichen Moment. Urschrift als Bildlichkeit: Spur, Tableau, Territorium, Szene oder Zeitlichkeit; Fest, Rausch, Weg, Inszenierungsprogramm. Aufmerksamkeit für eine an ästhetischen Zielen orientierte [photographische] Praxis … findet [man] vielmehr bei denen, die aufgrund ihres Alters, ihres Familienstandes oder ihres Berufs weniger nachhaltig in die Gesellschaft integriert sind. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 51
… die Photographie [ist] kein Bestandteil eines institutionalisierten Unterrichtssystems … Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 54
… nichts ist weniger esoterisch als das Photographieren … Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 58
So gesehen wäre die Photographie „einfach“ ein Analogon der Gegenwart. Doch im selben Grade, wie die Photographie das Objekt reproduziert, kann sie es verdrängen und sich an dessen Stelle setzen … da die photographische Handlung eine bestimmte reale Szene fixiert, die durch die anderen Verfahren lediglich reproduziert wird … Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder, 237 u. 243
Durch einen der Halluzination verwandten Mechanismus … könnte die Photografie zum Ersatz für die Wirklichkeit werden und diese im Grenzfall verdrängen, indem sie sie ausschaltet. … Die Pathologie der Phantasie [ist] dadurch charakterisiert, daß die Vergangenheit von ihren chronologischen Orientierungen und ihrem Zusammenhang mit der Gegenwart abgeschnitten ist … Realitätsverlust und Störung des Zeitempfindens … Fetischismus … [so scheint] die Photographie den kürzesten Weg zu weisen, um sich von der Realität zu befreien. Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder, 248f
Wiederholungszwang meint hier ein Suchtverhalten an fotografischen Bildern. Der Bildfetischismus kann, weil er die Zeit durch-
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einanderbringt (ein genereller Zug der Echtzeitmedien), die kontinuierlichen Verknüpfungen des narrativen Ichs durchtrennen. In der Folge pervertieren die sozialen und sexuellen Konnektivitäten. Prousts Diktum erfüllt nicht die Fotografie: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, lässt er sich vielmehr vom Duft und vom Gerücht leiten. Nur, es gibt keinen wirklichen photographischen Fetischismus. Robert Castrel, Bilder und Phantasiebilder, 252
Wie sollte man hinter einer ubiquitären Neurose einen Fetischismus entdecken? Das neurotische Fotografieren (nicht das Foto) wohnt so nah an der Urschrift, dass das Machen eines Bildes – „Dies da, das ist es!“ – mit dem Bewusstwerden gleichgestellt wird, von dem Freud sagt, es sei kein stiller, ruhiger Fluss, sondern ein der Dauer ausgesetztes Kaleidoskop von Schocks. Die neurotische Wiederholung sucht die Zeit und den Tod zu leugnen. Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder, 259
Für den Soziologen liegt das wahrhaft Unbewußte anderswo. Es liegt in der normalen, banalen Tätigkeit des ungenannten Individuums, das photographiert und in seiner Entscheidung, welche Gegenstände es wert sind, der Bedeutungslosigkeit und der Vernichtung durch Vergessen entrissen zu werden, „unbewußt“ das übernimmt, was die Gruppe als ihre fundamentalen Werte anerkennt, und es gibt diese Werte für eine ebenso bedeutungsvolle wie objektive Lektüre frei. Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder, 266
Die Fotografie taugt nicht zur kollektiven Praxis wie der Film. Die Übereinstimmung zwischen einer stark individualisierten Praxis und deren objektiver Anerkennung kann nicht vollkommen sein. Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder, 266
Debord betont nicht so sehr die Wirkung der Massenmedien und ihrer Bildwelt, als daß er … darauf insistiert, daß sich im Spektakel die Entwicklung einer Technologie der Trennung manifestiert, welche wiederum die unvermeidliche Folge der durch den Kapitalismus geschehenden „Neustrukturie-
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rung ohne Gemeinschaftlichkeit“ ist. Debords Auffassung, daß das Spektakel aus vielfachen Strategien der Isolation besteht, entspricht der von Foucault in Überwachen und Strafen: es geht um die Produktion fügsamer Subjekte, oder genauer um die Zurückdrängung des Körpers als politischer Kraft. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 65
Im Machtdiskurs der späten 1960er Jahre wird mit dem Begriff „Spektakel“ auf die Dominanz des Sehens verwiesen, derart aber, das die kritische Gegenbewegung – Inszenierung als Rekonstruktion von Öffentlichkeit – durchaus anerkannt wird: Die Reduktion auf den Blick wird auf die Gesamtheitlichkeit eines Körperbezugs zurückgebogen, in der die Rollen von Akteur und Betrachter in einer theatralischen Simulation neu ausgetestet werden sollen. Auch das passive und das aktive Fotografieren durchdringen sich. Der Passant ist Fotograf, Betrachter und Motiv zugleich, vor und hinter der Kamera. Das Selbstinszenierungsfeld wird entscheidend, nicht mehr das fotografische Objekt.
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XIX. FOTOGRAFIEREN ALS ÄSTHETISCHE GESTE Das Atelier des 19. Jahrhunderts war geradezu der soziale Ort, an dem die bürgerliche Gesellschaft die Welt nach ihren Wünschen bestimmte. An seiner Geschichte läßt sich exemplarisch das Zusammenspiel von Technik und „Sinngebungsökonomie“ (Julia Kristeva) beobachten, der vielschichtige Aufdeckungs- und Verdeckungsprozeß in der Kooperation zwischen Medium, Fotograf und Fotografiertem – so wie er in der Aufnahmesituation Gestalt annahm. Bernd Busch, Belichtete Welt, 307
Der Wert, der der Photographie beigemessen wird, gründet darin, daß sie den Forderungen nach Realismus und Lesbarkeit genügt und besser als die Malerei (jedenfalls die moderne) den ästhetischen Erwartungen entspricht. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 69
Vorurteile sind beständiger als Vorschriften: Ein Foto hat scharf zu sein; Profifotografen machen Kunst ohne Anstrengung; jeder kann ein Künstler in diesem Metier werden – also bleiben die meisten auf der Strecke und verstecken sich hinter den Techniken; die Fotografie ist die liederlichste unter den Künsten: ein wenig Inszenierung, Federboa und Palme, Hochzeitsfotografie. Inszenierungen aus zweiter Hand.
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– Diese Fotografie ist seit der Jahrtausendwende vom Aussterben bedroht. Sie geht in den allgemeinen Medienmaschinen auf und wird wahllos distribuiert. Schon das kamerabestückte Smartphone ergänzt die Stimme durch das Stimmungsbild. Da das Sichtbare stets nur das Lesbare ist, suchen die Subjekte immer wieder Zuflucht bei Leseschablonen, deren gebräuchlichste nichts anderes ist als das System von Regeln der Reproduktion der Wirklichkeit, von denen die übliche photographische Praxis sich leiten läßt. Pierre Bourdieu, Die gesellschaftliche Definition der Photographie, 87
In Wirklichkeit setzt die „Szenerie“ in aller Regel eine Inszenierung voraus. Und wenn mancher Amateurphotograph nach Art des Malers seine Modell zu eingeübten und umständlichen Posen und Körperhaltungen drängt, so liegt das daran, daß das „Natürliche“ hier wie auch sonst ein kulturelles Ideal ist, das man erst herstellen muß, bevor es festgehalten werden kann. Außer dem Schnappschuß, der Verwirklichung einer Ästhetik des Natürlichen, gibt es nichts, was nicht kulturellen Modellen folgte: Das Ideal bleibt allemal, „natürlich“ zu sein … Pierre Bourdieu, Die gesellschaftliche Definition der Photographie, 92f
Wie könnte unter solchen Bedingungen die Darstellung der Gesellschaft etwas anderes sein als die Darstellung einer Gesellschaft, die sich selbst darstellt? Pierre Bourdieu, Die gesellschaftliche Definition der Photographie, 95
Daß die „Gesellschaft der Gesellschaft“ keine Tautologie ist, z. B. sich Klassengesellschaften von klassenlosen und Nomaden von Städtern unterscheiden, hat aber nichts mit der Weise zu tun, wie sie ein falsches Bild von sich selber beschwören; denn das Bild selbst stellt ein Objekt der Abwehr dar. Was könnte daraus für die Gesellschaft der ubiquitären fotografischen Produktion und des (Selbst-)Konsums folgern? Sind wir der Magie des Realismus verfallen, weil er die Zeit in kleine Warenpakete, Ereignisse, künstliche Präsenzen verpackt? Die Arbeit des „Chemikers“ oder des „Mechanikers“ [am Foto] wird verabscheut, während man zugleich mit Achtung davon spricht, daß „der Maler Zeit darauf verwendet, das, was er sieht, künstlerisch umzusetzen“. Robert Castel/Dominique Schnapper, Ästhetische Ambitionen und gesellschaftliche Ansprüche, 121
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Der Werbefotograf ist Fachmann für die Schönheiten des Lebens. Seine wichtigste Qualifikation ist, die Wirklichkeit nicht zu sehen. Sein Job, eine neue Wirklichkeit zu inszenieren. Dieter Hacker, Profis und Amateure, 193f
Der Werbephotograph steht vor dem Problem, aus einem phantastischen ein reales Bild zu machen. Gérard Lagneau, Optische Tricks und Gaukelspiel, 173
Noch heute wird dem Fotografen ein gezeichneter oder aus dem Fundus montierter Entwurf vorgesetzt, nach denen er sein Sujet aufbaut und seine Kamera einrichtet. Meist millimetergenau überträgt er die Umrisse auf seiner Mattscheibe (oder dem Bildschirm), um die Anforderungen der Artdirectoren zu erfüllen und einer Beschriftung und dem Logo den vorgesehenen Raum zu lassen. Die Denunziation dieses handwerklichen Könnens ist eine ideologische. Die Werbung feiert nur den, der sein Werk aus dem Nichts erschafft: deus ex machina. Das Produkt selbst erfüllt den Standard der Allegorie: eine aus Motto, pictura und subscriptio zusammengesetzte Inszenierung einer idealen Welt, die nach provisorischer Realisierbarkeit drängt. Es genügt, die beiden Bedeutungen des Worts „Illustration“ zusammenzudenken – Äquivalent und Wertsteigerung zugleich –, um zu erkennen, daß die Werbephotographie in höchstem Maße eine allegorische Rolle verkörpert. Die Allegorie findet ihren vollen Sinn erst in der sprachlichen Aussage, die zu ihr den Schlüssel liefert. Gérard Lagneau, Optische Tricks und Gaukelspiel, 183
Da die Werbung stets eine Heiligung des Gebrauchs „neuer“ Waren beansprucht, darf die Werbeanzeige nicht nur bestätigen: Im Wechselspiel zwischen Text und Bild, oft in der ikonoscripturalen Verschmelzung, ist der Schlüssel keinem Wissen, sondern einer Lesart zugeordnet. Die ästhetische Raffinesse ist das Rätselhafte, nicht der abgebildete Gegenstand. Dank der drucktechnischen und medienelektronischen Möglichkeiten kann man heute auf den expliziten Text verzichten. Das Logo und der Slogan als „Zauberspruch“ genügen. Die Fotografie vereint die Realität des Wunsches mit der Idealität der Ware.
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Man spricht von Obszönität, wenn Gleiches sich mit Gleichem vereint. … Sichtbarer als das Sichtbare, das ist das Obszöne. … Das Obszöne ist das Ende jeglicher Szene. … Forcierte Ansprache (Werbung), Reklame, Information, Sättigung des Raumes, Anschluß, Zielbestimmung, Kontakt, Verbindung – diese gesamte Terminologie und Realität sind von einer blanken Obszönität … Jean Baudrillard, Die Szene und das Obszöne, 287, 291 u. 294
Fotoreportage und Werbung drohen heute in der gesellschaftlichen Annäherung eines Inszenierungsgebarens, welches das fotografische In-SzeneSetzen überholt und adaptiert. Angesichts dieses Zerfalls der Fundamente der fotografischen Produktion von Bedeutungen erhebt sich noch einmal die Frage nach der Bedeutsamkeit der Aufnahme … Vielleicht bleibt die einzige Chance, auf die Fiktionalisierung der Wirklichkeit zu reagieren, das Eingeständnis der Fiktion fotografischer Wahrhaftigkeit. Bernd Busch, Belichtete Welt, 327
Wer die Photographie als Kunst betreiben will, der verurteilt sich zu einer Praxis, die sich ihrer Legitimität nicht sicher ist, reflexiv und angstvoll, stets auf der Suche nach Rechtfertigungen. Jean-Claude Chamboredon, Mechanische, unkultivierte Kunst, 185
Sie sucht Zuflucht in Fotobände, thematisch flankiert von Einleitungen und kleinen Essays, die dürftig nicht über das Fotografieren, sondern über die Sujets Auskunft geben. Bezeichnenderweise werden die Graphic Novels, obwohl die Zeichnungen oft nach Fotovorlagen gefertigt werden, den Fotoromanen vorgezogen, die es heute kaum mehr gibt. Vielleicht weil dem Fotoroman noch immer der Makel des Analphabetismus’ anhängt? Unüberschaubar aber die Sammlung der kommerzialisierten Fotoalben. Auf den Normen dieser Ästhetik liegt der lange Schatten der verbreiteten Vorstellung vom Automaten. Eine der schöpferischen Intentionen undurchsichtige Maschine, ausgestattet mit einer bestimmten Autonomie, wirkt das Werkzeug paradoxerweise als eine Art Rivale des Schöpfers. Jean-Claude Chamboredon, Mechanische, unkultivierte Kunst, 192
Ödipus erster Teil. Natürlich soll der Automat die Arbeitsopfer übernehmen, allerdings verwischt er auch die Spuren der menschli-
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chen Signatur und lässt das Subjekt mit dem Mutterkörper der Produktion fusionieren. Medienarbeiter. Autonomie und Autarkie als „Kunstanspruch“ zu behaupten, ist ein infantiler Wunsch der Absorption des Anderen in mir. So sichern die Medien paradoxerweise ihren Erfolg in einer Gesellschaft, in der jeder gerne etwas mit Medien produzieren will: sauber, schnell, widerstandslos. Der Künstler jedoch ist der, der den Widerstand genießt. Die Drohung der Nachbildung ist deshalb nur eine Variante der Furcht vor Enteignung, die den Ästheten aufgrund der gesellschaftlichen Definition seiner Praxis niemals verläßt. Wie anders wäre es zu verstehen, daß von keinem Photographen eine Ästhetik des objektiven Zufalls vertreten wird, nicht einmal von denen, die sich auf den Surrealismus berufen? Jean-Claude Chamboredon, Mechanische, unkultivierte Kunst, 193
Das ist’s ja eben, was den kunstsinnigen Photographen von dem blossen Abschreiber unterscheidet, dass bei ersterem jedes Werk den Stempel seiner individuellen Auffassung trägt, so dass seine Bilder ein ganz bestimmtes Gepräge besitzen, aus dem man ohne weiteres die Signatur des Erzeugers herausfindet. Ludwig Schrank, Charakteristik im Porträt, 27
Der Vorstellung von der Einzigartigkeit der Photographie entsprechend sind Häufung und Antithese die bevorzugten Figuren der photographischen Rhetorik. Jean-Claude Chamboredon, Mechanische, unkultivierte Kunst, 197
Lassen sich die divergierenden Milieus der Photographen in Verbindung mit der Beliebigkeit der Qualifikation nicht aus der Entwicklung eines Berufs erklären, der von Jahr zu Jahr geringere Kenntnisse voraussetzt? Luc Boltanski/Jean-Claude Chamboredon, Fachwissen oder Begabung?, 206
Das Photo ist von Natur aus besessen, eigensinnig, ekstatisch und narzißtisch. Es ist eine einsame Tätigkeit. Das photographische Bild ist diskontinuierlich, punktuell, unvorhersehbar und irreparabel wie der Stand der Dinge in einem bestimmten Augenblick. Jede Retouche, jede Reue, jede Inszenierung nimmt einen unerträglichen ästhetischen Aspekt an. Die Einsamkeit
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des photographischen Subjekts in Raum und Zeit korreliert mit der Einsamkeit des Objekts und mit seinem eigensinnigen Schweigen. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 266
Als einsam ließe sich auch das Schreiben bezeichnen. Der Aphorismus ist die Fotografie der Literatur. Barthes’ Vorliebe für das Haiku teilt die Obsession für die monadische Form. Das Objekt muß fixiert, intensiv betrachtet und vom Blick gelähmt werden. Es ist nicht das Objekt, das posieren muß, sondern der Photograph muß seinen Atem anhalten, um zeitlich und körperlich innezuhalten. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 266
„Januskopf der Medien“ soll also heißen: in der „Ästhetisierung der Wirklichkeit“ vollzieht sich unerwartet eine „Entrüstung der Sinne“, die noch einmal die Frage nach dem Menschen aufwirft, nun allerdings in Form einer Anthropologie, die Geschichte und Ästhetik auf neuartige Weise kombinieren muß. Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart, 85
Geschichte ist als einbildend zeitliche, Ästhetik als die einbildend räumliche Form gedacht. In dieser Hinsicht muss immer auch von einer historischen Anthropologie und einer anthropologischen Historie gesprochen werden, in der das Weltbild des Subjekts sich je verortet. So sind auch das Sehen, der Blick, die Aufmerksamkeit geschichtlich, und die Kombination von Geschichte und Ästhetik als „Performanz“ ist nur ein anderer Ausdruck für den Januskopf der Medien und deren innerer Technologie: Form und Vollzug zugleich zu sein. Formloser Vollzug ist das, was die automatische Kamera protegiert. Das Erfassen eines Bildes geschieht in der Zeit und nicht als Teil eines punktuellen oder fixierten Ensembles von Beziehungen. Die Wahrnehmung als Prozeß, der aus distinkten physikalischen Ereignissen besteht und den als „Dauer“ anzuerkennen einer impliziten Leugnung der stabilen Identität sowohl des Bildes als auch des Betrachters gleichkommt. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 128f
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Es war eines der zentralen Anliegen der Phänomenologie, „objektive Erkenntnis“ nicht mehr als Identität einer Präsenz, sondern als Vollzug eines zeitlichen Schematismus, einer Synthesis der Sequenz, vormals eines „Willens“ (Schopenhauer) oder eines „Triebes“ (Freud) zu isolieren – angesichts der Erkenntnis, dass „Präsenz“ ein idealer Begriff ist, der keiner Realitätserfahrung entspricht. Von dieser Spur und der Erkenntnis einer nicht optischen, sondern interpretativen Erfassung der Brüche und Ligaturen ausgehend, ist die „Konditionierung durch Inszenierung“ – die jetzt Aufmerksamkeit heißt und an Intensitäten gebunden wird – auf der einen Seite an die Augenblickshaftigkeit der Fotografie als Tachystoskop, auf der anderen Seite an die szenischen Begriffe von Geste, Sequenz, Rhythmus, Episode, Choreografie und Tempus etc. gebunden. Die Uhr und die Musik flankieren die Fotografie. Die Möglichkeit selbst und der Wert eines anhaltenden Blickens, eines „fixierten“ Sehens waren in den späten achtzehnundertneunziger Jahren [des 19. Jahrhunderts, Anm. d. Autors] von den Effekten der dynamischen, kinetischen und rhythmischen Modalitäten von Erfahrung und Form untrennbar geworden. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, 226
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XX. LEGITIMATION DURCH KUNST Eigentum kann Kunst nur als Produktion eines Subjekts sein, das weder konventionellen Verfahren noch vorgegebenen Wirklichkeiten, die für das Recht „Gemeingut“ wären, verpflichtet ist. Das „eigentümliche Werk“ ist nur als Werk des Subjekts juristisch kodifizierbar. Ist das photographische Abbild der Welt aber ein Werk? Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 13
Nicht so sehr die Frage, ob Photographie Kunst sein könne oder nicht, war daher ausschlaggebend … sondern die Bindung der Kontrahenten an die „Evidenz“ des vorausgesetzten Kunstbegriffs, der damit selbst nicht zur Disposition stand, ja nicht einmal in seinen Prämissen zum Problem wurde. … Die Frage, ob Photographie „Kunst“ sein könne, hat ihr Apriori in der Evidenz des vorausgesetzten ästhetischen Konzepts. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 14 u. 16
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Demungeachtet ist es dieser fetischistische, von Grund auf antitechnische Begriff von Kunst, mit dem die Theoretiker der Photographie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung suchten, natürlich ohne zum geringsten Ergebnis zu kommen. Denn sie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor eben jenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 369
Die Diskussion um den Kunststatus von fotografischen Werken zeichnet bis heute den intellektuellen Mangel aus, sich auf den konventionalisierten Werkbegriff in der Produktion zu beziehen, nicht aber zugleich mit dem Erscheinen der neuen Bildproduktion auch den Kunstbegriff zu ändern, der lange eine sozialkonservative Konstruktion und eine imperialistische Diskurshoheit sicherte. Die Hinweise, die Plumpe gibt, beziehen sich auf einen Legitimationskrieg, der schon zur Zeit der Impressionisten hätte ausgestanden sein können. Vielmehr musste das photographische Verfahren selbst ästhetisiert werden. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 49
Das kann gerade deswegen geschehen, weil der technische Widerstreit konventionalisiert, normiert und somit als befriedet gelten muss. Die Ursprungswiederholung kann also nur auf dem Feld der nichtreproduzierbaren Kunstwerkproduktion, d.h., ästhetisch geschehen. Kurz, die Photographie kann als Kunst gelten, und sie ist niemals mehr als eine Kunst zweiter Ordnung. … Angesichts ihres minderen Ranges in der Hierarchie der Künste scheint die Photographie weder Anstrengung noch Opfer zu lohnen. Pierre Bourdieu: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, 76 u. 83
In den computergenerierten Bildern ist das Reale schon verschwunden. Aus diesem Grund sind sie keine Bilder im eigentlichen Sinn mehr. Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 266
Ist digitale Malerei noch Fotografie? Genügt das Vorhandensein eines Linsensystems zur Aufnahme visuellen Materials? Warum ist der Film auch ein Film, wenn er auf Zeichentrick beruht? – Mit
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ästhetischen Debatten gewinnt man zwar Legitimation, aber nicht Antworten auf die Frage, warum die Fotografie eine ubiquitäre gesellschaftliche Handlung geworden ist, die, gerade weil sie ubiquitär ist, als Letztrettung ihrer sozialen Wertigkeit sich auf den ästhetischen Diskurs zurückzieht. Mit anderen Worten: der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein, ist gleichzeitig mit ihrem Auftreten als Ware. Walter Benjamin, Pariser Brief (2), 501
[Disderi als erster] benutzte das photographische Verfahren, um Güter, welche dem Zirkulationsprozeß mehr oder weniger entzogen gewesen waren, in denselben hinein zu reißen. So in erster Linie die Kunstwerke. Walter Benjamin, Pariser Brief (2), 502
Folglich fand die Ästhetisierung der Fotografie ihren Ausdruck in der Reproduktion, der Inszenierung und der Nachbearbeitung gemäß den etablierten Werken statt, nicht in der fotografischen Fixierung des Zeitverlaufs, die als automatisiert galt. Diese Bearbeitung nähert sich der Malerei an. Der fotografische Pictoralismus war ein Ergebnis. Benjamin war einer der wenigen, die sich vom ästhetischen Diskurs ab und den technischen und ökonomischen Fragen zuwandte. Eine gediegene Originalaufnahme erfordert ein künstlerisches Verständnis, ein richtiges Urteil mit feinem Takt bei Aufstellung des Apparats; sie erfordert bei menschlichen Figuren und Portraits eine künstlerische Anordnung der Stellung, Gruppierung, Drapierung und dergleichen …; bei Aufnahmen von nicht direkt photographierbaren Gegenständen … eine künstlerische Nachhilfe der zeichnenden Künste. Oskar Wächter, Das Recht der Briefe und Photographien, 185 u. 196 Zitiert nach: Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 71
Sobald der Aufnahmezeitraum minimiert wurde, die Inszenierung als bloßes Genrearrangement erkannt war und die Retusche nur Beseitigung technischer Makel wurde, fehlte der Legitimationsanspruch, den die Daguerreotypie noch besaß: Detailversessenheit. Der erneuerte Legitimationsanspruch bestand darin, von optisch-chemischer Technik auf Medialität umzuschwenken. Während die Technik
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den Gebrauch vorgibt, lässt das Medium infolge seiner differentiellen Struktur individuellen Gebrauch zu. Die Photographie sei [nach Johann Schenk] vielmehr ein zunächst indifferentes Medium, das – künstlerisch benutzt – die Individualität des Photographen artikulieren könne und dann entsprechend geschützt werden müsse. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 91
So die fortschrittliche Seite der Argumentation. Die Wiener „Photographische Gesellschaft“ vertrat wiederholt und mit Nachdruck den Standpunkt, daß das photographische Verfahren ebenso wie etwa die Schrift lediglich ein „Darstellungsmittel“ sei, das ein Künstler einsetzen könne, um seiner Intention zu äußerlicher Gestalt zu verhelfen. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 93
So die Argumentation der etablierten Kunstinstanzen. Tatsächlich ist die Fotografie natürlich beides: erlernbare Technik und Darstellungsmittel; allgemein codiert, kontingent oder künstlerisch in der Kombinatorik des Codes. Gerade weil der Vorgang der Belichtung verbindlich ist, kann seine nicht selbstreferentielle Kombinatorik (analog der Wörter, Sätze, Figuren und Tropen der Rhetorik) unendlich und in der Rezeption individuell sein. Der Kunstaspekt liegt darin, eine kalkulierte Überschreitung oder Inversion beider Ebenen so zu stabilisieren (und zu verwerten), dass über das System „Kunst“ die Legitimation durch ein externes Werturteil erfolgen kann, letztlich also durch einen Richterspruch (Kritik) im Namen eines Gesetzes (Kunstnorm), durch Sprache. Sachhaltig und nicht werthaltig kann jedoch nicht die Ästhetik, sondern nur der der Fotografie eigene Anspruch der Gegenwartsfixierung im Progress der Zeit sein. Nur als „Kunst“ konnte die Photographie „Eigentum“ im Sinne des urheberrechtlichen Denkens werden. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 94
Plumpes Studie folgt der Logik des Eigentums nicht nur, um dem Warencharakters des Fotos nachzuspüren, sondern weil an der Frage der Reproduktion (Abzüge bzw. Fotografieren einer Fotografie) spä-
XX. LEGITIMATION DURCH KUNST 153
testens mit Einführung des Negativs (durch Fox Talbot um 1850) der Begriff der Originalität problematisch wird, der in den gedruckten Serigrafien durch Nummerierung und Signatur – Urschrift im Namen des Vaters – noch gesichert schien. Diese konstruktive, sowohl wissenseröffnende wie reglementierende Kraft des juristischen Diskurses hat die Rahmenbedingungen für die Ausbildung einer „photographischen Ästhetik“ im 19. Jahrhundert entscheidend bestimmt. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 95
Der juristische Diskurs setzt in einer Produktionsgesellschaft demnach die Voraussetzungen für einen ästhetisch fundierten Eigentumsbegriff. Die Vor-Schrift der Gesetzesordnung, nicht zuletzt die technische Gebrauchsvorschrift, erweist sich auch im Paradigma der neuen Medien als Voraussetzung für Geltung. Allerdings hat der juristische Schriftbezug ein ideales, technisches Programm; es beruht auf der Datierung jeder Patentschrift. Insoweit der Diskurs der Photographen die Weltgebundenheit des Mediums grundsätzlich anerkannte, sich also an die Prämisse hielt, daß das photographische Bild nichts enthalten könne, was in der Welt nicht vorkomme, konnte er die Instanz der „Schöpfung“ nur durch Auswahl und Arrangement substituieren. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 106
… bis Duchamps Ready-mades Arrangement und Signatur zur Bedingung einer szenisch-kontextuellen Kunst und eines konzeptuellen Kunstbegriffs machten. Am Ende ging es nur noch um den „Eigennamen“ zur Selbstrepräsentation. Die offenkundig technischen Assoziationen des Namens „Photographie“ motivierten die Suche nach neuen Selbstbezeichnungen wie „Lichtbildkunst“ oder „Lichtmalerei“. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 127
Im Bildprodukt den Urheber wiedererkennen zu können – das war das Ideal des photographischen Diskurses. Wenn Ludwig Schrank 1888 von der „Signatur des Erzeugers“ spricht, die jede künstlerische Photographie ausweise,
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so entspricht dieses Konzept dem juristisch-ästhetischen Eigentümlichkeitsgebot vollkommen. Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 135
Eine Photographie kann kein Kunstwerk sein, wenn man nicht den Begriff dessen was Kunst ist, vollständig verschiebt. Hans Thoma, in: Das Kunstwerk der Photographie nach dem Urteile moderner Meister der Malerei, 133 Zitiert nach: Gerhard Plumpe, Der tote Blick, 153
Fotografie ist keine Kunst, aber Fotografien können Kunst sein. Marius de Zayas, Fotografie und künstlerische Fotografie, 47
… wie im theoretischen Teil gezeigt, führt das Interface namens Menschenauge mit seiner Fähigkeit, Gestalten noch dort zu erkennen, wo der gesehene Weltausschnitt von Zufall und Rauschen durchsetzt ist, immer auch Imaginäres in die Bilder ein. Statt empirische Zufallsverteilungen von Licht und Schatten zu speichern, stellte die neuzeitliche Malerei ganz wie die gleichzeitige Literatur ihrem Publikum die Vorstellung eines Subjekts, also eines Künstlers vor. … Deswegen wäre keine Perfektionierung der Malerei imstande gewesen, den Übergang von optischen Künsten zu optischen Medien zu machen. Friedrich Kittler, Optische Medien, 156
1973 beschließt Cartier-Bresson, zum Erstaunen der meisten seiner Freunde, den entscheidenden Schritt zu tun, den Photoapparat, dem er seinen Ruhm verdankt, beiseite zu legen und zu seiner ursprünglichen Berufung zurückzukehren. … Er empfindet seine Neuorientierung nicht als Bruch, denn er hat seinen Photoapparat immer als Skizzenblock besonderer Art bezeichnet, er spricht vom photographischen Schuß, der wie eine beschleunigt ausgeführte Zeichnung zu denken sei. Die Photographie entsteht als Momentaufnahme, die Zeichnung hingegen nicht – sie bezieht während ihrer Entstehung mit ein, was dem auf mechanischem Wege entstandenen Bild fehlt, die Einwirkung der Hand, die Spur der Handschrift. Cartier-Bresson lehnt eine Hierarchie ab und wendet sich gegen eine Vermischung dieser beiden parallelen Aktivitäten, deren Eigenart er so zusammenfaßt: „Das Photo ist eine unmittelbare Handlung, die Zeichnung ist eine Meditation.“ Jean Leymarie, Anspruch und Herausforderung, 325
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XXI. MATERIALISTISCHE FOTOGRAFIE Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht … Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt [der Mensch] erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 371
Die Vorgeschichte der Psychoanalyse des Neurologen Freud – Analogie von Nervensystem und den damals aktuellen elektrischen Medien Telephon und Telegraphie – ist in den Frühschriften gut belegt. Benjamins Anliegen gilt eben der falschen Analogisierung von technischer und gesellschaftlicher Produktion. Statt einer bloßen Analogie besteht ein Zwangscharakter: Zwang der Narration, Zwang der Kausalität. Benjamin darf unterstellt werden, dass er den Begriff des Unbewussten gemäß der Vorgabe des Instituts für Sozialforschung für die gesellschaftliche Produktion reserviert, um deren Automatismen – Verdinglichung und Verbildlichung zugleich – aufzudecken. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der
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Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 508
… die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 371
Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 378
Diese Formel Benjamins führt zu Derridas Interpretation des Begriffs „Chora“. Damit ist das der altgriechischen Stadt vorgelagert Gebiet, „Glacis“, dessen Besitzverhältnisse ungeklärt sind und das als allgemeines Eigentum (Allmende) genutzt wird, gemeint. Die Gegenüberstellung von Aura und Chora avisiert einen illusorisch-atopischen Standort vor der Schrift – Szena, Opferstätte ,Revokation der Toten. Weder die Erscheinung der Nähe noch die Erscheinung der Ferne können füreinander Paßform sein. Begriff (als Absicht des Denkens) und Ergriffenheit (als Wirkung des Wahrnehmens) arbeiten nicht Hand in Hand. Unter dem Übergewicht der Spur verlöscht die Aura, unter dem Übergewicht der Aura verschwindet jegliche Spur. Dennoch ist das Verhältnis nicht symmetrisch. Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart, 17
Aufgrund der Asymmetrie ergibt sich der Schein einer Differenz von Wahrnehmung und Erkennen, Verräumlichung, kristalline Zeit. Der Mensch – als Abstraktum verstanden – gibt durch eine grenzenlose Humanisierung der Welt seine Menschlichkeit auf. … Denn die Träume der Vernunft enden alle im Spiegel des Selben. Das Andere kommt über die Wahrnehmung oder gar nicht. Wer derart für die Ästhetik Partei nimmt, nimmt gegen Selbstverteidigung Partei, denkt also notwendigerweise gegen das Denken. … Dagegen steht eine Ästhetik als „performance“, die, um anfangen zu können, zu einer letzten Alternative greift: entweder der Geist oder der Buchstabe, entweder der Sinn oder die Sinne. Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart, 20f
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Die Aura unserer Welt ist nicht mehr heilig. Sie ist nicht mehr der heilige Horizont des Scheins, sondern jener der absoluten Ware. Ihre Quintessenz ist die Werbung. Im Zentrum unseres Zeichenuniversums gibt es einen Bösen Geist Werbung, einen Trickster, der die Possenhaftigkeit der Ware und ihrer Inszenierung integriert hat. Ein genialer Drehbuchautor (das Kapital selbst?) hat die Welt in eine Phantasmagorie manövriert, deren faszinierte Opfer wir alle sind. Jean Baudrillard, Das absolute Verbrechen [1996], 116f
Baudrillard nimmt die Allegorie auf. Die Inszenierung ist nicht nur die Verheißung einer anderen Welt, sie ist es im provisorischen Vollzug selbst: Provision und Profit, Todesaufschub. [Bilder], deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift … „Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.“ … Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden? Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 315
Der Irrtum der kunstgewerblichen Photographen … war auch der der [Surrealisten]. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir am besten bei Heartfield sehen). Walter Benjamin, Pariser Brief (2), 504f
Wenn nur die Photographie ihnen Dauer schenkte, erhielten sie sich also gar nicht über die bloße Zeit hinaus, vielmehr – die Zeit schüfe aus ihnen sich Bilder. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 23
Die Fotografie gibt der Philosophie der Zeit ein Bild. Die Photographie bietet ein Raumkontinuum dar; der Historismus möchte das Zeitkontinuum erfüllen. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 24
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Die Fotografie illusioniert eine Zeit der Vergegenwärtigung der Präsenz. Das Gedächtnis bezieht weder die totale Raumerscheinung noch den totalen zeitlichen Verlauf eines Tatbestandes ein. … Gleichviel, welcher Szenen sich ein Mensch erinnert: sie meinen etwas, das sich auf ihn bezieht, ohne daß er wissen müßte, was sie meinen. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 24f
Wenn das Gedächtnis in gleichem Maße „springt“ wie der Blick, muss er als Grenze seine eigene Szene erzeugen. Es muss also ein „Element“ des Gedächtnisses geben, das selbst vorsprachlicher Struktur ist und nur präreflexiv erkannt werden kann. Dieses Elementare – Schrift – skandiert den gleitenden Bezug zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen. Die Photographie erfaßt das Gegebene als eine räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint. Da das Gemeinte in dem nur-räumlichen Zusammenhang so wenig aufgeht wie in dem nur-zeitlichen, stehen sie windschief zur photographischen Wiedergabe. Erscheinen sie von dieser aus als Fragment – als Fragment aber, weil die Photographie den Sinn nicht einbegreift, auf den sie bezogen sind und auf den hingerichtet sie aufhören, Fragment zu sein –, so erscheint die Photographie von ihnen aus als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 25
Einschreibung als Gedächtnis: das ist doch der Schrift-Bilder gemeinsamer Ursprung. Ursprung als Different (Aufschub) und Differenz. – Der Begriff „Fragment“ meint hier wohl nicht „fragmentarisch“ im Sinne einer verfehlten Ganzheit, sondern „elementar“ im Sinne einer genealogischen Epoche, die ihren Ausgangspunkt ständig verfehlt und somit immer wieder neu ansetzt. Der historische Abstand, der dem Gedächtnisbild einen zukünftigen Platz zuweist, lässt sich – ohne Datierung – nicht rekonstruieren. Die Photographie ist der aus dem Monogramm herabgesunkene Bodensatz,
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und von Jahr zu Jahr verringert sich ihr Zeichenwert. … Der Zeitgebundenheit der Photographie entspricht genau die der Mode. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 30
Die Fotografie hat eine technische, soziale und ästhetische Geschichte. Diese Geschichte ist kontingent. Es gibt nicht „die Fotografie“. Es gibt Diskurse über Fotografie und Fotos, und es gibt Vorbilder, Vorschriften und Leitbilder. Die Fotografie ist im Wesentlichen schriftlich archiviert. Erst mit der zunehmenden Beherrschung der Natur verliert das Bild seine symbolische Kraft. … [Die] symbolische Darstellung wird zur Allegorie. … Der Schematismus ist grob. Genug, wenn er den Wandel der Darstellung veranschaulicht, der das Zeichen für den Auszug des Bewußtseins aus seiner Naturbefangenheit ist. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, 36
Die Allegorie verweist dem Begriff nach auf ein „anderes Sagen“, eine „andere Darstellung“ – etwa in der Wechselwirkung von Bild und Schrift, Person und Funktion. Sie wird im Barock zur Vorform der Medientransformation. Während das Symbol aufs Gemeinte verweist, sagt die Allegorie, dass man das Sagen auch anders medial ausdrücken oder zeigen kann: Die Symbiose von Schrift und Bild in der Allegorie ist die Symbiose alternierender Textur. Ihr materieller Zustand zeigt das reziproke Schuld-Gaben-Verhältnis, das die gesellschaftliche Zeit strukturiert. Mittels des elektromagnetischen Codes können alle Darstellungsformen untereinander ausgetauscht werden – was den Paragone der Künste des Barock fortschreibt.
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XXII. HAND, SCHRIFT UND DIE MECHANIK DER SPUR „Schreibung“ (der muskuläre Akt des Schreibens, der Prägung der Buchstaben), die mich interessiert: dieser Gestus, mit dem die Hand ein Werkzeug ergreift (Stichel, Schreibrohr, Feder), es auf eine Oberfläche stützt und darauf, eindrückend oder sanft streichend, fortgleitet und regelmäßige, rhythmische, wiederkehrende Formen einprägt (mehr braucht nicht gesagt zu werden: es handelt sich also nicht zwangsläufig um „Zeichen“). Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 7
Was mich interessiert: der Widerstand zwischen der reinen Oberfläche und der verunreinigenden Gravur. Schrift vor dem Schreiben – ist das ein Eindrücken-Ausdrücken oder ein AusfließenAbgeben?
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Während die Piktographie ein einfaches, besonders klares System ist, das in ein schwieriges, komplexes, abstraktes, in zahlreiche Graphik-Register differenziertes System übergeht, das häufig an der Grenze der Entzifferbarkeit (die Keilschrift-Ideographie) steht, ist es gerade die Lesbarkeit, die die sumerischen Schreiber zugunsten einer gewissen graphischen Dunkelheit haben fahren lassen. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 23
Diese „Lesbarkeit“ muss in ein System der Didaktik eingebunden sein. Schrift/Schreiben/Lesen verlangt, wie jede Technik, ein Programm generationssexueller Vergemeinschaftung und Initiationen. Noch heute nimmt jedes Phänomen von Herrschaft, von Sezession und, wenn man so sagen darf, von Klandestinität seinen Weg über den Besitz einer Schrift (Algorithmen der Mathematik, der Chemie, der Botanik; symbolische, astrologische, Noten-Schrift); sobald eine Wissenschaft sich zu konstituieren bestrebt ist, erfinden ihre Initiatoren ihr eine graphische Hermetik … Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 27
Diese Schriften werden nicht von der gesprochenen Sprache aus abgeleitet. Sie dienen überhaupt nicht der Verständigung, sondern der Orientierung in einem eroberten, noch leeren Raum des Wissens. – Zug der Israeliten durch die Wüste, bevor ihnen das Gesetz Regeln auferlegt. Hier haben wir die Umkehrung: Die Schrift gibt ein Gesetz, Moses mündlich die detaillierten Zeremonien der Religion. Die Schrift hat definitiv eine andere Funktion als die Stimme. Nein, es versteht sich nicht von selbst, dass die Schrift der Kommunikation dient; es ist ein Übelstand unseres Ethnozentrismus … In einer Art allegorischer Bewegung durchläuft die chinesische Schrift so drei wichtige Funktionen: die Fürsprache, die Kommunikation, die (soziale) Spaltung. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 31 u. 33
Die „handschriftliche“ Schrift ist von unseren Gelehrten für die ganze moderne Epoche verpönt worden, das heißt: seit ihr in der Maschinenschrift ein Konkurrent erwachsen ist … Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 39
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Schrift wechselt vom kommunikativen zunehmend ins informative Register. Der Realismus auch der Fotografie hat immer eine Vorgeschichte denunzierter Einbildungskraft: Die Handschrift, reserviert für Signatur und Brief, wird jedoch schon seit Gutenberg reguliert – so, wie die Fotografie die Zeichnung, den Kupferdruck und die Lithografie beerbt, die sich in das Reservat der Handwerkskünste flüchten. In Wahrheit ist die Schrift heutzutage nur ein Indiz für: die Realität der Klasse … und heute, da die Krise der humanistischen Werte unbestreitbar ist, wird eine neue Schrift gesucht und erarbeitet: die der Bilder und Töne. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 47 u. 49
Als der Graphismus auftauchte, hat sich ein neues Gleichgewicht zwischen Hand und Gesicht eingestellt … das Gesichtsfeld hat seine eigene Sprache gehabt (die des Gehörs und des Gesprächs), die Hand ihre andere (die der visuellen Wahrnehmung und des gestischen Verlaufs). Roland Barthes, Variations sur l'écriture,51
Wir neigen immer dazu, uns diese Beziehung [von Mündlichkeit und Schrift] in Gestalt eines Ungleichgewichts vorzustellen: bald, denken wir, illustriert das Bild lediglich die Rede, bald liefert die Rede umgekehrt nur Legenden zum Bild. Richtiger wäre es sicherlich zu sagen (aber das muss späteren Analysen überlassen bleiben), dass das Band zwischen Bild (oder seiner Folge, der Schrift) und Rede ein regelgerechtes Band ist: durch diese beiden Sprachen verteilt sich der Körper gleichmäßig … Eben deshalb ist es – vielleicht – wenig vernünftig, von einer künftigen Zivilisation einen Imperialismus der Rede und ein Verschwinden der Schrift zu erwarten: das wäre jedenfalls eine sicherlich barbarische Zukunft. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 55 u. 57
Der Einfluss von Leroi-Gourhans Buch „Hand und Wort“ durchzieht den Aufsatz von Barthes, der Schrift – anders als Derrida – nicht von der sozial-anthrogenetischen Ich-Spaltung (Ich-für-einenAnderen) denkt, sondern von der Sinnendifferentialität des Subjekts. Die Stimme ist zunächst ein Selbstgespräch unter der Voraussetzung der Introjektion eines Anderen; eine Verinnerlichung, so Derrida. Barthes verlagert diese Spaltung in die Körperfunktionen.
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… (Eine exorbitante Vermutung): die Schrift wäre somit der mündlichen Sprache vorausgegangen. Wissenschaftlich ist diese These aus der Luft gegriffen: dennoch lenkt sie die Aufmerksamkeit auf sehr wahrscheinliche Fakten: nämlich den direkten Übergang von der Geste zum Ideogrammm (ohne die Zwischenstufe der phonetischen Sprache) … Leroi-Gourhan unterscheidet sorgfältig zwischen Graphismus und Schrift. … Der Graphismus … Linien … Einkerbungen … hat keinen genauen Sinn: es sind allem Anschein nach rhythmische Äußerungen. … Anders ausgedrückt, der Graphismus beginnt nicht mit der Nachahmung des Realen, sondern mit der Abstraktion. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 59, 61 u. 63
Barthes übersieht das Naheliegende: Die Rhythmisierung ist keine Funktion des Zufalls (Trommeln), sondern eine Ordnung bzw. „Realisierung“ der Zeit, wie der Tanz oder andere rituelle Wiederholungen selbst und gerade auch dann, wenn dieses Trommeln aus Langeweile erfolgt. Es geht darum, zuerst einmal den Raum und die Zeit herzustellen und zu „verräumlichen“. Die bedeutende Schrift ist dann ein Effekt konkretisierter Raum-Zeitorganisation. Der Graphismus sorgt also für eine mediale Zurichtung, um einem „Aufschreibesystem“ Signifikanz zu verleihen. Nur wer Zeit zeitigt, kann der VorSchrift fremdreferentielle Markierungen einschreiben. Der historisch sich höher entwickelnde Abstraktiongrad läuft genealogisch betrachtet synchron. Es scheint so, als ob das Medium primär und natürlich, die Einschreibung sekundär und künstlich wäre. In der Fotografie entsteht dem entgegen mit dem Foto zugleich das Abbild, auch wenn sich dessen Ansicht früher durch den Entwicklungsprozess verzögert hat. Das Aufkommen graphischer Symbole setzt die Einrichtung neuer Beziehungen … voraus … In diesen neuen Beziehungen erhält der Gesichtssinn eine Vorrangstellung in den Paaren Gesicht/Lesen und Hand/Zeichnen. … so gibt es bis zum Erscheinen des homo sapiens nichts dem Zeichnen und Lesen von Symbolen Vergleichbares. So kann man sagen: wenn in Technik und Sprache sämtlicher Anthropinen die Motorik das Ausdrucksverhalten determiniert, so bestimmt in der Bildersprache der jüngsten Anthropinen die Reflexion den Graphismus. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 237f
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Die Rhythmen sind die Schöpfer von Raum und Zeit, zumindest für das Subjekt … Zum rhythmischen Rahmen des Ganges tritt beim Menschen also noch die rhythmische Bewegunge des Armes hinzu; während die Rhythmik des Ganges für die raum-zeitliche Integration sorgt und am Ursprung der Bewegung im sozialen Bereich steht, öffnet die rhythmische Bewegung der Arme einen anderen Weg; die Integration des Individuums in ein Dispositiv der Schöpfung nicht mehr von Raum und Zeit, sondern von Formen. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 384
Der Gang des Ödipus vor der Sphinx: vierbeinig, zweibeinig, dreibeinig. Ethnologie und Genealogie widersprechen sich nicht. Die familiale Ordnung übersetzt nur, daß der Vater nicht der Erzeuger ist und daß die Mutter weiter für das Menschenkind die Frau kontaminiert; das übrige ergibt sich daraus. Jacques Lacan, Radiophonie/Television, 83
Bei Lacan ist der Begriff „Medium“ genealogisch erklärt: Es ist der Vater, der sich mittels der Mutter zum Erzeuger der symbolischen Welt und des Gesetzes aufschwingt. Saussures Substituierung des Bedeutenden über das Bedeutete ist davon die Darstellung. Die Inversion dieser Beziehung ist die, dass sich in der medialen Gesellschaft der männliche Produktionsneid der mütterlichen Produktion bemächtigt, diese vorher aber als Frau in Besitz nimmt. Anders als vor diesem Bild wäre die symbolische Entwicklung des Menschen einfach nur vom Himmel gefallen. Freilich: Leroi-Gourhan gibt eine andere Urszene für die Urspaltung (Vor-Schrift oder Konvention) vor: das Selbstverhältnis als Spaltung der Funktionsbereiche von Hand und Gesichtssinn, deren Einheit performativ zum Ausdruck kommt. Sprechen ist auch ein Handeln. Medialität ist somit immer eine die menschliche Reproduktion invertierende männliche Rückaneignung der Mutterschaft als symbolischer Vaterschaft. Diese Aneignung ist sowohl paranoid wie göttlich und trennt und vermittelt die beiden Produktionsbereiche, die menschliche Produktion der Dinge und die Produktion von Menschen. Eine Kamera löst man von Hand aus, nicht durch den Blick.
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Es sind wir, unsere Kultur, unser Gesetz, die über den Referenzstatus einer Schrift entscheiden. Was soll das heißen? Dass der Signifikant frei ist, souverän. Eine Schrift braucht nicht „lesbar“ zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinne zu sein. … Diese unlesbaren Schriften sagen uns (und nur das), dass es Zeichen gibt, aber keinerlei Sinn. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 79
Der Buchstabe ist genau das, was nichts anderem ähnelt: es macht sogar sein Wesen aus, dass er sich unnachgiebig jeder Ähnlichkeit entzieht: die ganze Anstrengung des Buchstabens ist gegen-analogisch. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 83
Das kann man von der Fotografie gerade nicht sagen. Die Geltung des Fotos rührt von seiner optischen und visuellen Ähnlichkeit, mit dem, was es abbildet. Jedoch sind Fotografie und Schrift darin ähnlich, so Derrida, die ursprüngliche Differenz, die Urschrift, auf idealreale oder real-ideale Weise zu verwahren. Die Schrift ist insgesamt nichts anderes als ein feiner Haarriss. Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 99
Das Bild, sagt Sartre, ist ein „Seinsriss“ – die Fotografie somit das Ideal der Membran, des Risses, der Grenze, der Widerständigkeit. Mehr noch: man hat einen gewissen Parallelismus zwischen der Erfindung des Alphabets und der des einheitlichen Münzgeldes feststellen können … Die Schrift ist also Tausch … In der ganzen Geschichte der Schrift ist eine ökonomische Obsession spürbar: Zeit gewinnen – aber auch Raum gewinnen. … Roland Barthes, Variations sur l'écriture, 107, 109 u. 131
Nicht die Erfindung des Alphabets, sondern die Entwicklung des abstrakten Denkens, das sich aus den Tauschhandlungen der Warendinge ableitet, prägt das Geld als Zeichen dieser Aktivität. Während die Schriftseite der Münze (Zahl oder Buchstabe) den abstrakten Wertbezug anzeigt, wird die naturale Wertbeziehung gemäß dem Naturaltausch durch den Kopf des Herrschers angezeigt, der jeden Tausch auf die gleiche Wertbeziehung festlegt.
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Die Erfinder des Alphabets sahen in Bildermachern und in Mythagogen ihre Feinde, und sie machten mit Recht keinen Unterschied zwischen beiden. Bildermacherei und Bilderanbetungen (Magie) sowie das dunkle, kreisende Raunen (Mythos) sind zwei Seiten derselben Münze. Das Motiv hinter der Erfindung des Alphabets war, das magisch-mythische („prähistorische“) Bewußtsein zu überholen und einem neuen („historischen“) Bewußtsein Raum zu gewähren. Vilém Flusser, Die Schrift, 35
Flussers Darstellung unterteilt die Zeit in eine mythische und eine historische Zeit. Letztere ist durch die Erfindung der Schrift verfasst. Geschichtlichkeit bewährt sich als transkausale Pointe göttlicher Zwecke und Ziele. „Alphabet“ ist hier nur ein Terminus für das Gesetz der Konvention (Ritus und Kultus). Für sie [die wissenschaftliche, nicht historisierende Weltsicht] ist bezeichnend, daß die Welt und wir selbst für sinnlos (absurd) gehalten werden, und daß man die Welt und uns selbst in Körner zerpicken kann, um diese Körner zu etwas Sinnvollem zusammenzusetzen. Das erratende Lesen gibt einem sinnlosen „Urtext“ Sinn. Es handelt sich dabei um die Umkehrung der Bedeutungsvektoren: Der Leser entnimmt dem Gelesenen nicht mehr einen Sinn, sondern er ist es, der dem Gelesenen einen Sinn gibt. Vilém Flusser, Die Schrift, 76
Mit der Auflösung des historischen Denkens in ein digitales erweist sich die Zielfunktion (auch die Ursprungsfunktion Gott) als obsolet. Das Denken wird nicht mehr vektoral, sondern fraktal aufgelöst. Je differenzierter die Operationen, umso fataler die Orientierung auf einen möglichen Endpunkt. Es stellt sich die Frage nach dem Warum der Genauigkeiten, der Detailversessenheit und der unerbittlichen Ausdifferenzierung der Zeit und des Raumes. Das beruht auf dem wissenschaftlichen Glauben, die Wirklichkeit sei wertfrei. Kritisiert man diesen Glauben, dann stellt man fest, daß die Wirklichkeit so ist, wie wir an sie glauben. Und dieser dritte Glaube ist nicht mehr kritisierbar. … Man kann nur auf Grund irgendeines Glaubens lesen. Vilém Flusser, Die Schrift, 75
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Die Grundlegung des medialen Denkens über Zeit und Raum erfolgt somit unter der Vermittlung von Schrift. Das heißt, die Schrift ist das, was die Unmöglichkeit des Glaubens ermöglicht. Ich muss immer schon glauben, dass die Spur sich ihrer Logik nach in Bezug auf Anschlusshandlungen fortsetzt, um ihr lesend nachzufolgen. [Informatische Revolution …] Mindestens zwei Dinge sind für dieses Umlernen des Denkens charakteristisch. Erstens, daß wir nun Bilder und nichts als Bilder denken, denn alles, was wir Wahrnehmungen nennen – seien sie äußere oder innere –, sind nichts als im Gehirn komputierte Bilder. Zweitens, daß Denken kein kontinuierlicher, diskursiver Vorgang ist: Das Denken „quantelt“. Das ist eine Einsicht, die dem die westliche Kultur kennzeichnenden Denkverständnis diametral entgegensteht. Für uns war (und ist noch immer) das Denken ein fortschreitender Prozeß, der sich von Bildern, von Vorstellungen loslöst, sie kritisiert, um immer begrifflicher zu werden. Diesem Denkverständnis haben wir das Alphabet zu verdanken und dem Alphabet (Feedback) dieses Denkverständnis. Aus dem neuen Verständnis des Denkens sind die digitalen Codes entstanden … Vilém Flusser, Die Schrift, 127
Zwischen dem Bild als „Einheit“ und dem Bild als „Fragment“ muss nun auch in der digitalen Fotografie unterschieden werden. Zwar ist das Fotografieren digital, das Foto bleibt weiterhin analog (Foto als Wahrnehmungsgegenstand). Wirklich digitale Fotografie kann nicht als Abbild von etwas gesehen, sondern nur als mathematische Form verstanden werden.
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XXIII. DER AUGENBLICK DER FOTOGRAFIE Ein Gemälde interpretiert die Welt und übersetzt sie in seine eigene Sprache. Aber die Fotografie besitzt keine eigene Sprache. Man lernt, eine Fotografie so zu lesen, wie man Fußspuren oder Kardiogramme entziffert. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 38
Sind diese Erscheinungen, die von der Kamera transportiert werden, eine Gestaltung, ein von Menschen gemachter Artefakt, oder sind sie – wie der Fußabdruck im Sand – eine natürliche Spur, die ein Vorübergehender zurückgelassen hat? Die Antwort ist: beides. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 95
In der Beziehung zwischen einer Fotografie und Worten verlangt die Fotografie nach einer Interpretation, und die Worte liefern sie ihr gewöhnlich. Die Fotografie – als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht – erhält Sinn erst durch Worte. Und die Worte, die für sich allein nur eine allgemeine Aussage sind, erhalten eine spezifische Authentizität durch die Unwiderlegbarkeit der Fotografie. Zusammen sind die beiden sehr machtvoll … John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 94
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Es mag deutlicher machen, was wir unter Spur verstehen, wenn wir uns fragen, inwiefern eine Zeichnung sich von einer Fotografie unterscheidet. Eine Zeichnung ist eine Übersetzung. Das heißt, jedes Zeichen auf dem Papier ist bewusst nicht nur zu dem realen oder vorgestellten „Modell“ in Beziehung gesetzt, sondern zu alle den Zeichen und Zwischenräumen, die bereits auf dem Papier entworfen sind. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 96
Ein Spiel mit Raum und Fläche. Dieses „Spiel“ hat die Fotografie nicht. Ihre Fläche ist – wie die Aufnahme selbst – totalisiert, der Zeitraum der Aufzeichnung unbeweglich. Es gibt noch einen anderen bedeutsamen Unterschied, was die Zeit angeht, die jeweils in den beiden Bildarten enthalten ist. Die Zeit, die in einer Zeichnung existiert, ist nicht durchgehend die gleiche. … In einer Fotografie ist die Zeit gleichbleibend: Jeder Teil des Bildes ist einem chemischen Prozess von gleicher Dauer unterworfen. Auch am Prozess der Entwicklung waren alle Teile gleich beteiligt. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 97
Das gilt nicht für die hybride Kultur der elektronischen Malerei (vormals Retusche) auf der Grundlage einer Fotografie respektive der Einbeziehung anderer visueller Materialien. Die „reine Fotografie“, die es wohl nie gab, ist, wie jede autonome Medialität, Fiktion. Jedes Medium muss, um sich Formen zu öffnen, zugleich anschlussfähig an andere Medien sein. Fotografie besitzt im Gegensatz zur Malerei keine Sprache. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 97
Aber unentwegt wird von der Sprache, der Rhetorik und dem Stil der Fotografien gesprochen? Wie ist hier der Gegensatz von Sprache und Schrift? Egalisiert im Begriff „Medium“? „ … die Fotografie wäre also nicht das letzte (verbesserte) Glied der großen Familie der Bilder, sondern entspräche einer entscheidenden Umwandlung der Informationsökonomie.“ Und diese Mutation besteht darin, dass Foto-
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grafien Informationen liefern, ohne eine eigene Sprache zu besitzen. Fotografien übersetzen Erscheinungen nicht. Sie zitieren aus ihnen. Berger, John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 97f Zitat: Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, 40
Bergers Aussage übersieht, dass die Fotografie in der gesellschaftlichen Funktion einer Bildtradition steht. Etwas, was nur Information ist, wäre den Sinnen nicht zugänglich, nicht medial, sondern waffenförmig aufzufassen. Eine solche Auffassung eines reinen Zitats – Datenverarbeitung codierter Signalen – widerspricht der Kontinuierung jeder Sinnebene. Der magische Charakter der Bilder muß bei ihrer Entzifferung berücksichtigt werden. So ist es falsch, in Bildern „gefrorene Ereignisse“ sehen zu wollen. Vielmehr ersetzen sie Ereignisse durch Sachverhalte und übersetzen sie in Szenen. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, 9
Vor einer Fotografie fragt man danach, was da war. Im Kino wartet man darauf, was als Nächstes folgt. John Berger, Der Augenblick der Fotografie, 134
Ein besonders beeindruckendes Beispiel für die Unvorstellbarkeit der Texte bietet heute der Diskurs der Wissenschaften. … In dieser Krise der Texte wurden die technischen Bilder erfunden: um die Texte wieder vorstellbar zu machen, sie magisch aufzuladen – um die Krise der Geschichte zu überwinden. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, 12
Allerdings hat sich schon die Bewegung der Frühromantik dieser Textkrise (seit Leibniz) entgegenzustellen gewusst. Die vorromantischen bewusstseinsimmanenten „Geisterbilder“ von Laterna magica und Literatur sind, so Kittler, Vorwegnahmen der technischen Bilder, die seit Niépce magisch auf Papier erscheinen. Ihre letzte krisenbewältigende „Versöhnung“ mit dem Subjekt war auf wissenschaftlicher Seite sicher Goethes Farbenlehre, die sich gegenüber Newton und den Frühromantikern zu behaupten wagte.
XXIII. DER AUGENBLICK DER FOTOGRAFIE 171
Der Fotograf ist bemüht, das Fotoprogramm zu erschöpfen, indem er alle seine Möglichkeiten verwirklicht. … Er arbeitet nicht, er will nicht die Welt verändern, sondern er sucht nach Informationen. … Der Fotoapparat ist kein Werkzeug, sondern ein Spielzeug, und der Fotograf kein Arbeiter, sondern ein Spieler. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, 25
Flusser ist einer der Wenigen, die schon Mitte der 1980er Jahre auf die Entwicklung der „automatisierten Kamera“ und des automatisierten Fotografierens hinwiesen, die mit der Kodak-Boxkamera 1888 begann. Wie Bourdieu gezeigt hat, ist das Bewusstsein des Fotografen allenfalls das eines Experimentators. Ohne tieferes theoretisches Wissen und meist ohne akademische Schulung bleibt er ein Spieler der Ästhetik. Wenn heute die Ausbildung auf Hochschulebene reüssiert (Foto-Design), bleibt die Kenntnisvermittlung oft auf eine „intuitive“ Ästhetik des Bildes beschränkt, der man ein Etikett der Stile und eine altertümlich humanistische Moral anhängt. Zwischen Dokumentarität und Inszenierung, zwischen Wahrheit und Realität hat die Fotografie jede gesellschaftliche Wertform besetzt. Es wäre eine Untersuchung der gesellschaftlichen Medienpraktiken wünschenswert, die die Uneinlösbarkeit der menschlichen Aporien in Medien durch Medien aufdeckte.
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XXIV. AUGE UND OPTIK Das ist die Fotografie: eine Kamera im Kopf haben, fotografisch denken. Hans Windisch, Sehen, 221
Da nun Optik die wesentliche Beschaffenheit der materiellen Wirklichkeit, des Erkennens und sogar Gottes selbst aufdecken konnte, ist die Beschäftigung mit der Optik nicht nur berechtigt, sondern sogar zwingend. … Roger Bacon freilich tat es Grosseteste gleich und rechtfertigte seine Untersuchungen zur Optik mit ihrer Nützlichkeit für die Christenheit. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 182f
Ohne die wichtigen Anleihen bei anderen Quellen zu unterschätzen, können wir mit Sicherheit behaupten, daß Bacon Alhazen am meisten verdankte. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 199
Relevant ist nicht die Beschreibung des Auges als Camera obscura, sondern die physikalische Entdeckung der Lichtbrechung und der Linsenwirkung durch arabische Gelehrte, die allerdings aufgrund eines zeitweise strengen Bilderverbots ihre anatomischen Kenntnisse des Auges als Organ – anders als christliche Wissenschaft – nur für medizinische Zwecke weiterentwickelten. Perspektivische Malerei
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oder Abbildung des Menschen waren ihnen verwehrt. Der Islam verlegte sich vermutlich aufgrund eines rigideren Monotheismus stattdessen auf eine geometrisierende Schriftkunst (Arabesken) und Fortentwicklung der Mathematik. Giotto … Das war der Beginn der Suche nach „sichtbarer Wahrheit“, eine „Unternehmung zur Nachahmung der Natur“, die ein Jahrhundert später in der Theorie der linearen Perspektive gipfeln sollte. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 263
In einer bedeutenden Hinsicht jedoch ging Della Porta über seine perspektivischen Vorgänger, auch über Maurolico hinaus. Della Porta, dessen „Magia naturalis“ [1558] dazu beigetragen hatte, die Camera obscura als ein verblüffendes Spielzeug bekanntzumachen, betrachtete das Auge als eine kleine Camera obscura. … [Er war es gewesen], der in seiner „Magia naturalis“ darauf hingewiesen hatte, welche Vorteile es hat, wenn man in die Öffnung einer künstlichen Camera eine Glaslinse einsetzt … David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 321f
Doch musste zuvor erkannt werden, dass der Kristallkörper des Auges tatsächlich eine Linse war, deren Krümmung bei gradliniger Fortpflanzung der Sehstrahlen ein seitenverkehrtes, verzerrtes Bild lieferte. Die mathematische Beschreibung der Lichtbrechung in verschiedenen Medien leistete Kepler in der „Dioptrice“ von 1611. [Kepler] spannte nämlich von einem Punkt der Beleuchtungsquelle oder vielmehr von einem Buch, das die Quelle vorstellen sollte, einen Faden durch eine Öffnung zu der Oberfläche, auf der sich das Bild abzeichnete. Indem er alle so vom Buch aus getroffenen Punkte zu einem Umriß verband, konnte Kepler die Strahlungsgeometrie handgreiflich und dreidimensional vor sich sehen und eine zufriedenstellende Theorie der Strahlung durch Öffnungen formulieren, die unerschütterlich auf dem Prinzip geradliniger Ausstrahlung beruhte. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 326
Es ist bemerkenswert, daß Kepler in seiner Diskussion des auf dem Kopf stehenden Netzhautbildes den Begriff „pictura“ verwendet; denn dies ist das erste Mal in der Geschichte der Sehtheorie, wo von einem wirklichen opti-
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schen Bild im Auge die Rede ist, einem Bilde, das unabhängig vom Beobachter vorhanden ist und das durch das Bündeln aller verfügbarer Strahlen auf einer Oberfläche zustande kommt. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, 349
Keplers Brechungsgesetze bildeten nicht nur einen Endpunkt in der Reihe der Interpreten der Bilderzeugung im Auge. Er schlägt auch die Trennung von Optik (bis zum Netzhautbild) und Korrektur der Bildverzerrungen im Gehirn (neuronale Funktionen) vor. Getrennt wird somit der Vorgang des Sehens von dem der Interpetation des Sichtbaren. Er bereitet damit eine neues Paradigma des virtuellen Sehens vor. So findet er die nach ihm benannten drei Planetengesetze aus der Ordnung der Daten, die Tycho Brahe hinterlassen hat, ohne selbst Jahrzehnte in den Himmel blicken zu müssen. D.h., Kepler liest („imaginiert“) in der Textur der Daten das Bild der elliptischen Bahnbewegung. Damit wird der buchstäbliche Text gegenüber der algebraischen Datierung zweitrangig. Wenn man will, kann man in diesem Vorgang den Beginn der theoretischen Wissenschaften sehen.
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XXV. DAS NOEMA DER FOTOGRAFIE Meine Hypothese … = Das Noema der Photographie ist beim „Es-ist-so-gewesen“ zu finden. … Die Photographie ist sehr selten fiktional; begrenzte Erfahrung: Bernard Faucon: Inszenierungen, tableaux vivants. Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, 128
Entscheidend in der Begründung des Noemas ist die Voraussetzung einer realistischen Wirklichkeitsauffassung und implizit die einer realistischen, in Gegenwartsmomente fixierbaren Zeit. Letzteres kann die Malerei nur als Grenzbedingung leisten. Analog dazu: Entscheidend für die Aufschreibbarkeit der Stimme ist die Voraussetzung ihrer Transposition in phonetische Einheiten. Realismus meint Transponierbarkeit.
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Das „Es ist so gewesen“ der Photographie und des Haiku kann noch unter einem anderen relevanten Gesichtspunkt untersucht werden, nämlich dem der grammatischen Tempus-Kategorie, zu der sie gehören > Ich sage „Tempus-Kategorie“ und nicht „Tempus“, denn es geht nicht um morphologische Marken: Eine Präsensform kann in Wirklichkeit auf eine Vergangenheit hinweisen (historisches Präsens). Roland Barthes, Vorbereitung des Romans, 132
In einem Kapitel des Buches „Die Vorbereitung des Romans“ zeigen die Herausgeber Fotos von Personen, die mit Marcel Proust in Beziehung stehen – fotografiert von Nadar. Barthes zeigt diese Fotografien zur Einführung seines Seminars den Studierenden. Das Seminar, das dieses Buch ankündigt, fand wegen des plötzlichen Todes von Barthes nicht statt. So liest man in den Bildern mehrfach das vergangene Präsens. Die Wahrheit – die vom Wissen abgeschnitten ist – wird ständig als Offenbarung, als Unverborgenheit bestimmt, das heißt notwendigerweise als Präsenz, Präsentation des Präsenten … Jacques Derrida, Positionen, 164
Vergegenwärtigte Vergangenheit oder Vergegenwärtigung der Präsenz: die Wahrheit der Fotografie? Was ist „die Präsenz“ anderes als eine fotografische, buchstäblich gedachte Ereignisform? In einer Fotografie ist die Realität für mich gegenwärtig, während ich in ihr nicht gegenwärtig bin – und eine Welt, die ich kenne und sehe, in der ich aber nicht gegenwärtig bin und dies nicht aus Gründen meiner Subjektivität, das ist eine Welt, die der Vergangenheit angehört. Stanley Cavell, Überlegungen zur Ontologie der Fotografie, 171
Seltsame Definition der Vergangenheit, die ganz ohne narrative Historie in sich selber schwebt: materialisierte Vergangenheit, gegenwärtige Erinnerung. So kann man im Foto dem Zwang der linearen Weltzuweisung entgehen. In der Tat ein Zeitriss, der vor allem auch das gleitende Denken philosophischer Begriffe mit einer Wahrheit kontaminiert, die im Leibniz’schen Sinne einer Logik der Monade die Welt verwaltet, sie nicht verändert.
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XXVI. PROVISORISCHE WIRKLICHKEIT Die erste Fotografen-Generation war von der Tätigkeit und dem Ethos der Naturwissenschaftler geprägt; bei allen künstlerischen Ambitionen wollte sie doch nicht das wissenschaftliche Ideal der Genauigkeit und Korrektheit opfern. Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1839-1912, 17
1875 beklagt dagegen ein Kritiker den Umstand, daß die Fotografie immer mehr an die Stelle der Wirklichkeit trete. Das Problem des Realitätssurrogats deutet sich an. Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1839-1912, 37
Stellen Sie sich jetzt vor, daß der Spiegel die Eindrücke der Objekte bewahrt hat, die sich in ihm spiegeln, und Sie haben eine beinahe komplette Vorstellung des Daguerreotyp. Jules Janin, Der Daguerreotyp, 49
Wer eine Daguerreotypie im Original gesehen hat, der wird verstehen, wie wenig eine gedruckte Reproduktion von dem Spiegelglanz wiedergeben kann, die die silbern schimmernde Anmutung einer solchen Miniatur mit ihrer äußersten Detailschärfe ausmacht. Das
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gedruckte Foto bewahrt davon so wenig wie das am Bildschirm. Es fehlt die schattenhafte Spiegelung des Betrachters, die sich beim Vorbeigang bemerkbar macht. Statt der Spiegelung haben wir heute ein Leuchten. Eigentlich war ja nur die Daguerreotypie die textlose Fotografie gewesen. Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1945-1980, 26
Wir rühren hier offensichtlich an das geheime Zentrum aller fotografischen Bemühungen unseres Zeitraums, an den Punkt, an dem die Theorie und Praxis sich schneiden: es ist die Urangst dieses Mediums, ganz der Kontingenz zu verfallen, eine Angst, die jetzt in dem Maße sich steigert, als das Bewußtsein dafür wächst, die Verfassung der gesellschaftlichen Realität tendiere selbst zur opaken Oberflächlichkeit. Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1912-1945, 35
„Fotografie nach der Fotografie“ und das „Ende der Fotografie“ bedeuten die funktionelle Auflösung des fotografischen Verbundes von Inszenierung, Aufnahme, Belichtung, Abzug, Retusche und Zeigegestus in hybriden elektronischen Apparaten, deren Basis nun wieder Schriftprogramme, Codes sind. Sollen die Programmvorschriften den menschlichen Sinnen zugänglich sein, müssen sie optisch sichtbar werden und zwar in einer Referenz bezüglich der nichtapparativen Welt ,und zwar ganz gleich, ob diese Welt künstlich erzeugt ist (das ist sie weitgehend immer), für das Bild inszeniert als „Fotovorlage“ oder spontan und provisorisch – was eine ganz und gar romantische Funktion ist, die Technik durch Magie und Genie ersetzt. Die Fotografie ist deswegen so ubiquitär, weil ihre Technikanwendung so einfach und medienkompatibel wurde, ja, weil sie den Umgang mit mechanischen und optischen Techniken überhaupt erst popularisiert hatte. Am Ende des fotografischen Zeitalters hat – umgekehrt – die Fotografie als theoretisches Objekt Konjunktur. Rosalind Krauss, die den Blick zuerst auf dieses gegenläufige Phänomen richtete, hat der verborgenen Logik in dieser Gegenläufigkeit nachgefragt und die Vermutung geäußert, daß der Paradigmenwechsel von der Fotografie zur Fotografie als theoretischem Objekt Ausdruck einer grundlegenden historiographischen Problematisierung sei. Martina Dobbe, Die Fotografie als theoretisches Objekt, 11
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In Rücksicht auf eine vergangene Monopolstellung des Abbildens tendiert die Fotografie zur Reflexion auf ihren Eigenwert als Bildgebungsverfahren, Sichtbarmachung, und zwar gerade auch im wissenschaftlichen Bereich. Dass die Problematisierung den Eigenwert auf die Kunstproduktion verschiebt, verdeutlicht, wie sehr die Analyse des Schriftcodes der Fotografie kein Feld der Kunstwissenschaften und ihrer Ästhetiken sein kann, sondern eines der Technikphilosophen und Medienwissenschaftler. Jedoch geht es nicht darum, die zahllosen Theorie(n) der Fotografie, die um Mimesis und Realismus, um Reproduzierbarkeit und Referentialität kreisen, Revue passieren zu lassen und das Fotografische – der Peirce’schen Zeichenkonzeption entsprechend – als ikonisch (Die Fotografie als Spiegel des Wirklichen), als symbolisch (Die Fotografie als Transformation des Wirklichen) oder als indexikalisch (Die Fotografie als Spur des Wirklichen) zu charakterisieren. Vielmehr steht mit der Frage nach dem Topos der Reproduktion im Sinne der Abbildlichkeit die Bildlichkeit des (fotografischen) Bildes selbst je neu zur Diskussion. Martina Dobbe, Die Fotografie als theoretisches Objekt, 17
Das theoretische Objekt der Fotografie, „das Fotografische“, problematisiert das Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination. Wenn diese Wechselwirkung nicht bloß abbildlich geschehen soll, müssen die Asymmetrien, die ökonomischen Opfer und Gewinne, die Provisionen und Gaben angebbar gemacht werden. Das scheint mir als Aufklärung noch der Historizität des theoretischen Objekts „nach“ der Fotografie und „nach“ deren Theoretisierung notwendig. Wobei „Historizität“ nachgerade als phantasmatisches Konstrukt anzusehen ist. Die Psychoanalyse mit ihrem Bezug auf das Semantische könnte in der Methode Vorbild sein – jedoch muss in der Fotografie stets erneut die Frage nach dem Sema gestellt werden. Für die Funktionalisten gibt es neben den Elementen was und wie (die berüchtigten Form und Inhalt) noch ein Hauptelement: warum. Es ist das Element, das ein Werk zu einem Objekt macht, das heißt, zu einem Instrument zielgerichteter Wirkung. Sergej Tretjakow, Für eine funktionale Einstellung zur Fotografie, 91
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Die Fotografie ist nur eine der vielfältigen Formen der breiten naturalistischen Bewegung, die im Barock beginnt und im französischen Impressionismus eine extreme Endform erreicht. Waldemar George, Fotografie – Sicht der Welt, 189
Heute ist man eher bereit die linguistische Orientierung aufzugeben und sich an das Spezifische der bildlichen Aussageform zu halten. Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1945-1980, 27
Die Maschinengewehr-Einstellung zur Fotografie, d.i. die Hoffnung, daß unter vielen Bildern ein gutes sich finden wird, hat fatale Auswirkungen auf die ernsthafte Fotografie. … Wirklich „zufällige“ Fotografie existiert praktisch nicht; dank gewisser Voreinstellungen erkennen wir und werden wir gefangen durch den bedeutenden Augenblick. Die Realisierung des richtigen Augenblicks ist von so vitaler Bedeutung wie die Wahrnehmung von Tonwerten, Formen und anderen Qualitäten. Ansel Adams, Ein persönliches Credo, 45f
Die Subjektivität dieser Wahrnehmungen wird ebenso eingestanden wie ihre Flüchtigkeit. Ein gewisses Quantum Glück und Zufall wird bei dieser Methode in Kauf genommen, ja bewußt ausgenutzt. Fotografen neigen wie Politiker dazu, alle positiven Ereignisse für sich in Anspruch zu nehmen. Allan Douglass Coleman, Inszenierte Fotografie, 241
Ist „Realisierung“ nicht schon ein Blicktypus, der auf das in den Fotografien gelernte reproduzierende Sehen reagiert? Der perspektivische Blick der Renaissance, die Malerei nach der Camera obscura: Der Blick ist, wie Aufmerksamkeit, eine Kulturform. Es ist richtig, daß auf dem Gebiet der Kunst Experimente häufig „ausschließlich aus künstlerischen Gründen“, das heißt ohne eigentlichen sozialen Auftrag unternommen werden, und dann stellt sich mitunter auch heraus, daß sie in Wirklichkeit in asozialem Auftrag unternommen wurden. Bertholt Brecht Zitiert nach: Dieter Hacker, Profis und Amateure, 196
Von entscheidender gesellschaftlicher Bedeutung ist die Tatsache, daß es sich bei der Fotografie um eine Werkstatt handelt, um einen strukturierten und
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strukturierenden Raum, in dem der Leser die ihm vertrauten Codes entfaltet (und von ihnen entfaltet wird), um Sinn zu machen. Victor Burgin, „Fotografien betrachten“, 260
Die Realität wurde aus der Realität vertrieben. Nur die Technologie verbindet die verstreuten Bruchstücke des Realen vielleicht noch miteinander. Doch wohin ist die Konstellation des Sinns verschwunden? Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 15
Baudrillard übertreibt – und er macht deutlich: Die eine Fotografie existiert nicht als Realität, sie existiert als Ideal aller realistisch angesehenen Fotos. Technik des Realismus heißt: nicht die Totalität betrachten, sondern das demokratisierte Detail. Wenn Realität Wirklichkeit zersetzt, wird sie fotografisch. Der fotografische Blick ist fragmentarisch, zitathaft, provisorisch. Wenn Realität selbst zersetzt wird, wird sie inszenatorisch. Der Wirklichkeitsbegriff meint also eine genealogische Endform der Universalisierung des Zeichens, das in seiner Vorform, der Szene, noch körperliche Geste, Präsenz verlangt. Und das Photo ist … eine an die reine Realität gerichtete Frage, eine an den/ das Andere(n) gerichtete Frage, die keine Antwort erwartet. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 194
Wie kann man an die Wahrheit dessen glauben, was weder Ursprung noch Ende hat? Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 23
Die Urschrift: So muss endlos in die Geschichte hinein übersetzt werden, um das Ende im Aufschub abzuwehren. Todesabwehr durch Mimikry im Bild. Dieses gigantische Desillusionierungsunternehmen – wörtlich: die Tötung der Illusion der Welt zugunsten einer absolut realen Welt – genau das ist die Simulation. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 33
Auch hier ein Widerspruch: Die absolute Simulation wäre gar keine, denn sie kann sich dann nicht relativ zu etwas anderem ver-
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halten, von dem man unterstellt, das es „authentisch“ war. Die Illusion, wörtlich: „das Spiel“ spielt mit einer Paranoia der Totalisierung. Die Illusion ist also ein Drittes, zwischen zwei Welten. So kann man das fotografische Spiel auffassen: überall Schrift und ihre Dekonstruktion. Und: Von welcher Position könnte man dann eine Aussage über den Realismus machen, wenn alles Simulation ist? Allaussagen dementieren sich selbst. Nirgends können wir den Beweis unserer Existenz oder ihrer Authentizität leisten. Die Existenz, das Sein, das Reale sind strenggenommen unmöglich. Die einzige Lösung dieser Situation … ist das Verbrechen. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 68
Fotografie als Indiz, als Spur und Voyeurismus. Ein fotografisches Verbrechen ist nicht möglich. Es gibt keine misslungenen Fotos, es gibt eine Geschmeidigkeit der ästhetischen Diskurse. Kann es aber ein provisorisches, ein modellhaftes Verbrechen geben? Statt Verbrechen also Aufschub des Aufschubs und eine Provision auf das misslingende Gelingen … Surrealismus, Écriture automatique. Solange eine Illusion nicht als Irrtum erkannt wird, entspricht ihr Wert voll und ganz dem einer Realität. Wird die Illusion jedoch erst als solche erkannt, dann ist sie keine mehr. Der Begriff der Illusion, und er allein, ist also eine Illusion. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 85
Folglich macht es auch keinen Sinn, von einer fotografischen Illusion zu sprechen, weil das Foto immer schon als solches erkannt ist. Das Material der Fotografie (Papier, Schwärzung des Silberkorns etc.) ist ebenso wirklich wie das Verschwinden des Subjekts in der Schrift. Jedes photographierte Objekt ist nur die Spur, die das Verschwinden des gesamten Restes hinterlassen hat. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 135
Das Photo hält den Moment des Verschwindens fest und damit den Reiz des Realen gleich dem eines vorherigen Lebens. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 136
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Das Photo hat einen obsessiven, narzißtischen, ekstatischen Charakter. Es ist ein einsames Unterfangen. Das photographierte Bild ist unwiederbringlich, genauso unwiederbringlich wie der Zustand der Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt. Alles Retuschieren, alles Bereuen hat, wie jede Inszenierung, einen abscheulich ästhetischen Charakter. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 136
Die Retusche ist das Nicht-Aushalten-Können des Realismus’, seine aktive Ästhetisierung. … um diese „soziale“ Programmierung des Tauschs zu zerstören, die die Schicksale gleichmacht, gibt es nur eins: die Willkür des Zufalls oder einer Spielregel einzuführen. Gegen die Écriture automatique der Welt: die automatische Deprogrammierung der Welt. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 144
Ist jede Fotografie ein Diebstahl, eine Enteignung, ein asozialer Tausch? Hinter der Frage der Kunst stand für den Fotografen vordergründig immer auch die Frage des Eigentums, des Autors, des Unterzeichners. Es wäre hilfreicher, materialistisch zu denken: Die Fotografie ist ein Provisorium der Raumwiedergabe, aber die Realität einer gegebenen Welt: Foto. Auch Kulissen haben Substanz – auch wenn sie nicht auf die Funktion, sondern auf den Blick zielen. Die Götter verkörperten das Spiel, das Chaos, die Illusion der Welt und nicht ihre Wahrheit. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 146
Der Glaube an die Realität gehört zu den elementaren Formen des religiösen Lebens. Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen [1996], 148
Also doch: „Wirklichkeitsauffassung“, das ist der göttliche Blick, vermutlich die Frühform der sozialen Konventionalisierung. Himmelsblick und Blick der Genesis. „Realismus“ im engeren Sinne, der eine Entdeckung des 15. Jahrhunderts ist, hat konkrete Eigenschaften: die Gleichwertigkeit jeden Details, ihre Berechenbarkeit der Wertigkeit gemäß frühkapitalistischer Buchführung (Implementierung der
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arabischen Null, messbare Perspektivität und die Statik des teilbaren Besitzes). Der „Realismus“ ist eine Ansicht der Elementarisierung in Bildern und Zeichen, die durch abstrakten Tausch von Warenkörpern gefördert wird. Der Realismus denkt in quantitativen Äquivalenten – einer berechenbaren Arbeits- und Uhrenzeit. Doch der Wert des Realismus ist nicht absolut – ebensowenig wie die Detailschärfe der Fotografie –, sondern fraktal. Optik und Sehen beziehen sich immer interpretativ aufeinander. Die Gegenbewegung des Realismus ist der Ästhetizismus, der – wie im Fin de siècle – die Ökonomisierung durch qualitative Differenzierung und eine ambivalente Moral verdeckt. Design ist davon selbst noch die ökonomisch-realistische Variante. Die Massenkommunikation schließt Kultur und Wissen aus. Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft, 152
Eben hier liegt die Definition des Konsums, der Effekt des systematischen Konsums auf der Ebene der Massenmedien. Anstatt, durch das Bild vermittelt, auf die Welt zuzugehen, kehrt das Bild auf dem Umweg über die Welt zu sich selbst zurück … Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft, 182
Es werden nicht Dinge, sondern deren gesellschaftlicher Wert als Zeichen konsumiert. Dazu reicht es, sie als Besitz zu zeigen (Kulissen, Szenen, Bilder), so wie man die Fotos von einer Reise zeigt. Das reine Ereignis ist Tausch. Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft, 185
Das Ereignis der Fotografie als Reklame: als Teil vom Ganzen ist die Fotografie die Tauschgarantie. Darum muss sie Anteil an den Tauschrelaten haben. Der Tauschwert des Fotos ist abstrakt: Die Präsenz, das Ereignis. Man kann umgekehrt formulieren: Der abstrakte, durch das Geldmedium verfügte Tausch ist das Ereignis, das durch das Opfer der Urschrift hindurchgegangen ist. Dieses Ereignis zieht eine nie sichtbare Spur der Vergesellschaftung durch Abgrenzung und Hierarchisierung, also dessen, was Luhmann als Medialisierung, „Gesellschaft der Gesellschaft“ beschreibt.
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Es kommt zu einer Komplizenschaft zwischen der technischen Apparatur und der Welt, zu einer Konvergenz zwischen einer „objektiven“ Technik und der Macht des Objekts. Und der Akt des Photographierens ist nur mehr die Kunst, in diese Komplizenschaft hineinzuschlüpfen, nicht um den Prozeß zu beherrschen, sondern um mit ihm zu spielen und die Idee evident zu machen, daß das Spiel noch nicht aus ist. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 189
Dem Lärm, der Sprache, dem Gemurmel durch das Schweigen des Photos widerstehen … der entfesselten Kommunikation und Information durch das Geheimnis des Photos widerstehen – dem moralischen Imperativ des Sinns durch das Schweigen der Bedeutung widerstehen. … Das Bild ist gewissermaßen die materielle Übersetzung der Abwesenheit dieser Realität, die „nur deshalb so evident ist und die wir nur deshalb so leicht akzeptieren, weil wir spüren, daß nichts real ist“ (Borges). Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 190f
Jeder Druck auf den Auslöser setzt gleichzeitig der Realpräsenz des Objekts und der des Subjekts ein Ende, und in diesem wechselseitigen Verschwinden vollzieht sich eine Transfusion der beiden. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 194f
Baudrillards öffentliche Zuneigung zu dieser proletarischen Konsumkunst: Er beginnt selbst zu fotografieren. Seine Fotos werden ausgestellt. Er versucht sich zu legitimieren. Aber er sieht auch: Alles, was fotografiert wird, ist ein fotografierbar sich gebendes Objekt. Die Person, die fotografiert wird, ist automatisch eine „fotografierte Person“, ein Objekt des Blicks. Im Film wird dem Schauspieler der Blick in die Kamera abtrainiert. In der Fotografie ist er erwünscht, um dem Verschwinden einen Widerstand entgegenzusetzen. Nun besteht aber das Ereignis des Photos weiterhin in der Konfrontation des Objekts mit dem Objektiv, sowie in der Gewalt dieser Konfrontation. Der Akt des Photographierens ist ein Duell, das heißt eine Herausforderung des Objekts … All das, was diese Herausforderung ignoriert, kann nur in der Technik oder in der Ästhetik, das heißt in den einfachsten Lösungen, Zuflucht suchen. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 197
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Wir müßten unsere simplifizierenden Zusammenhänge bezüglich der Genese der Technik und der modernen Welt einer erneuten Prüfung unterziehen. Vielleicht stehen nicht die Technik und die Medien am Ursprung dieses berühmten Verschwindens des Realen – im Gegenteil, vermutlich ist es vielmehr die schrittweise Entkräftung der Realität, aus der all unsere Technologien, gleichsam als eine fatale Nachkommenschaft, hervorgehen. Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, 199f
Das Erscheinen des Realen ist die Ankunft des Gesetzes und die Wiederherstellung des funktionellen Körpers. In ihm verflechtet sich das Allgemeine mit dem Individuellen. Wie stets im Verhältnis zu einer Urschrift und einer Urvereinbarung, einer Beurkundung und einer Unterzeichnung, ist der präsentische Körper als totalisierter Leib (Dasein) der Ausgangspunkt: Die Verbindlichkeit, der Glaube an Gabe und Gegengabe als Vertrag für eine gemeinsame Zukunft, ist die uneinlösbare Provision auf die Dauer des Körpers: Zukunft ist die verbindende Gabe der Verbindlichkeit.
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XXVII. LITERARISCHES FOTOGRAFIEREN Goethe hat die Italienische Reise gegen Ende seines Lebens, ausgehend von seinen Tagebuchaufzeichnungen und von den Briefen, die er an seine Freunde geschrieben hatte, neu verfaßt. … es sind die zwei Schreibweisen ein und derselben Textur, derselben photographischen Unmittelbarkeit. Es ist die am wenigsten zurückliegende Spur des Gedächtnisses, ja, von Gedächtnis kann kaum die Rede sein: wie etwas, das auf der Retina noch zu vibrieren scheint, ein Eindruck, beinahe ein Schnappschuß. Es ist eine unbearbeitete Schrift, die keine Retuschen erlaubt und auch nur schwerlich eine Neuschrift akzeptiert: man könnte das Tagebuch fast für eine Art Kontaktabzug halten, eine Aneinanderreihung von Aufnahmen in der Erwartung ihrer Entwicklung … Hervé Guibert, Phantom-Bild, 73f
Goethes „Reisefotografie“. Mit Sprache Bilder machen, so eindeutig und klar, dass sie auch noch nach Jahrzehnten nachwirken. Guibert vergleicht sie mit den Tagebüchern Kafkas: Szenenbeschreibungen, keine Dingbeschreibung. Die Fotografie wird als allegorische Versammlung erfasst, nicht als fragmentierendes Reproduktionsmittel. Der Eindruck der Konstellation ist entscheidend, nicht das Dargestellte. Alles, was gesehen wird, ist schon Schrift.
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In einer Ära der Informationsüberflutung bietet das Foto eine Methode, etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten. Darin gleicht es einem Zitat, einer Maxime, einem Sprichwort. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, 29
Was offensichtlich die Schwierigkeit macht, ist die zeitliche und räumliche Fragmentierung der Realität, an die das fotografische Bild (in einem viel stärkeren Maße als die Malerei etwa) gebunden ist. Herbert Molderings, Argumente für eine konstruierende Fotografie, 110
Weniger perfekte Bilder sind nicht nur wegen ihrer besonderen Art der Authentizität willkommen. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, 35
Es ist immer ein Bild, das jemand gewählt hat; Fotografieren heißt einen Ausschnitt wählen, und einen Ausschnitt wählen heißt Ausschließen. … Fotos konnten den Betrachter schon immer täuschen. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, 56
Die digitale Photographie erscheint wiederum als neue Kulturtechnik, die man wie eine Schrift lernen muß, um sie zu verstehen, aber auch um die Gefahr einer Indoktrination durch die Bilder bannen zu können. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 19
Man soll nicht mehr das Fotografieren als technische Praxis lernen, sondern an der fotografischen Betrachtung der Welt arbeiten, an ihrem Realismus. Der Fotograf wird wieder Typus des geduldigen Flaneurs, der beiläufig seine fotografischen Momente erzeugt und festhält, und dem die Technik seines Schreibzeugs wenig gilt. So wird er mehr geschrieben, als dass er schreibt – geschrieben von der Stadt, der Maschine, ihrem Realismus. Das Konzept der Photographie als automatisches Schreiben erscheint erstmals in Lewis Carrolls Erzählung „Photography Extraordinary“ aus dem Jahr 1855, um sich dann im Surrealismus in ein eigentümliches Doppelbild zu verwandeln: Photographie soll Schrift, Schrift soll Photographie werden. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 81
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Die Photographien sind, so wollen es diese Deutungen, nicht einfach Bilder und auch keine schlichten Zeichen, sondern ein physisches Dokument, eine Haut, die dem Gegenstand abgezogen wurde. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 86
Die Wirklichkeit, die Natur und die Kunst sind eine Art photographisches Album, das man wie Zeichen, wie eine rätselhafte Lichtschrift entziffern muß. Diese Licht-Schrift zeichnet Denkbilder auf … Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 132
Urlaubsbräune, Färbung des Laubs, Rost – nirgendwo findet sich ein Hinweis auf die Foto-Bildlichkeit von Naturprozessen. Ausgerechnet angelaufenes Silber, der erblindende Spiegel, wird für die Fotoalchemisten zum Vorläufer der fotografischen Archivierung. Die Photographie bringt … nicht nur Ordnung in das Chaos der verschiedenen Schriften, sondern bietet auch eine Alternative an: eine Licht-Schrift, die die babylonische Sprachverwirrung aufhebt und Bilder an ihre Stelle setzt. Der Photograph ähnelt dabei dem Schreiber, der Schreibaufgaben entgegennimmt und ausführt. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 196f
War eine Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung nicht der Universalität von Musik zugedacht? Mit Aufkommen der digitalen Photographie verändert sich auch der Status der Schrift. Einerseits wird die Photographie nun gerade aufgrund der codierten Pixelstruktur der Bilder auch theoretisch als Schrift beschrieben, andererseits erfährt diese Schrift eine dissémination der Bedeutung. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 197
Als ubiquitärer Zwischenschritt zwischen „analoger“ und „digitaler“ Fotografie ist der Fotokopierer anzusehen: Abschreiben mittels Fotooptik. Gerade wenn man die Photographie als Sprache versteht, müsse man sie [so Roland Barthes] als historisches, nicht aber als natürliches Phänomen verstehen … Die Sprache der Photographie gibt sich als Sprache der Natur und
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der Kultur zugleich aus und verschafft sich so eine unabweisbare Legitimation. Wenn man jedoch die Sprache der Photographie als kulturell codierte Sprache versteht, erweist sich auch diese Legitimation als programmatischer Gründungsakt einer mythischen Sprache. Bernd Stiegler, Bilder der Photographie, 211 u. 213
Fotografie als Urschrift setzt eine Codierung der Unterscheidung von Natur und Kultur, also des Blicks voraus. Das Aktive wird zum Passiven. Eine Maschinenlogik schleicht sich ein. Heute hat man nicht mehr die Möglichkeit, ein Veto gegen die Zeit einzulegen. Dies Veto ist in den photochemischen Prozessen der Natur noch vorhanden, in den digitalisierten Bildverfahren jedoch aus dem fotografischen Moment in seine Nachbearbeitung gewandert: die Schrift der Malerei. … die Tatsache, daß der Fotograf die Situation manipuliert und das Motiv erschwindelt, bedeutet nicht, daß die Fotografie kein objektives Bild ergeben würde. … Sie bedeutet im Gegenteil, daß eine Situation zu beobachten heißt, sie zu manipulieren, oder anders gesagt, die Beobachtung verändert das beobachtete Phänomen. Vilém Flusser, Die Revolution der Bilder, 111
Jede Beobachtung unterscheidet zwischen Welt und Umwelt; sie macht eine Unterscheidung, der wiederum eine Unterscheidung (Substitution) folgt. Damit ist ihr die Urschrift-Differenz – Aufschub des Aufschubs im Sinn – schon inhärent. Jede Fotografie ist ein Porträt in dem Sinn, daß jede Situation „sich dessen bewußt“ zeigt, fotografiert zu werden. Vilém Flusser, Die Revolution der Bilder, 112f
„Der ächte Beobachter ist Künstler – er ahndet das Bedeutende und weiß aus dem seltsamen, vorüberstreichenden Gemisch von Erscheinungen die wichtigen heraus zu fühlen“, schrieb Novalis. … dies beschreibt der deutsche Dichter: die kinematische Optik jenes Blicks, der in der flüchtigen Bewegung der Erscheinungen das Wesentliche festzuhalten sucht. Die Informatiker bezeichnen das heute als Bildspeicherkapazität. Paul Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, 52f
XXVII. LITERARISCHES FOTOGRAFIEREN 191
Man kann sagen, der Begriff „Spiel“ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – „Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?“ – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 60
Fraktale Dimension der Schärfe – in Relation zur Sehschärfe oder in Bezug auf Intensität und Dauer der Betrachtung, Aufmerksamkeit? „Scharf“ ist ebenfalls ein unscharfer, weil einem Bezugssystem der Sinne unterworfener Begriff. „Begriff“ ist ebenfalls unscharf: in Bezug auf „Bild“. Es ist nämlich die Anschauung aufzugeben, daß, um vom Unmittelbaren zu reden wir von dem Zustand in einem Zeitmoment reden müßten. Diese Anschauung ist darin ausgedrückt, wenn man sagt: „Alles, was uns gegeben ist, ist das Gesichtsbild und die Daten der übrigen Sinne, sowie die Erinnerung, in dem gegenwärtigen Augenblick“. Das ist Unsinn; denn was meint man mit dem „gegenwärtigen Augenblick“? Dieser Vorstellung liegt vielmehr schon ein physikalisches Bild zu Grunde, nämlich das vom Strom der Erlebnisse, den ich nun in einem Punkt/an einer Stelle quer durchschneide. Es liegt hier eine ähnliche Tendenz und ein ähnlicher Fehler vor, wie beim Idealismus. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur Philosophie, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik, 5
Ist der Realismus dann nicht auch eine Illusion – wie Baudrillard meint –, die man simulieren kann? Müssen Fluss und Augenblick nicht als ein reziprokes Widerstandssystem angesehen werden, in dem Form und Medium jederzeit invertiert werden? Ist die Symbolisierung der Zeit in Schrift nicht die Aufklärung des Denkbildes von Augenblick und Fluss? An Stelle dieses Bildes wären die der Membran, des Provisoriums, der Szene, der Provision zu setzen – jedenfalls ökonomische keine mechanistischen Bilder. Der Realismus ist eine notwendige, wenn auch unhaltbare Mediation der Todessuchtabwehr, haltbar allein durch die Konvention gesellschaftlichen Austauschs und durch die Konventionalisierung (Techniken) dieses Tauschs. Pathologischen Extremismus schließt das gerade ein, nicht aus.
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Wir stellen uns das Erleben wie einen Filmstreifen vor, so daß man sagen kann: dieses Bild, und kein anderes, ist in diesem Augenblick vor der Linse. … Aber nur im Film kann man von einem in diesem Moment gegenwärtigen Bild reden; nicht, wenn man aus dem physikalischen Raum und seiner Zeit in den Gesichtsraum und seine Zeit übergeht. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur Philosophie, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik, 6
„Die Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur. So findet sich im Roman dieser zugleich zerstörerische wie zur Auferstehung treibende Apparat, der aller modernen Kunst eigen ist. … Der ROMAN ist ein TOD; er macht aus dem Leben ein Schicksal, aus der Erinnerung einen nützlichen Akt und aus der Dauer eine gelenkte, bedeutungsvolle Zeit.“ Es ist die moderne Möglichkeit der Photographie (ob Kunst oder Technik ist hier unwichtig), die den Tod und den Referenten in einem System miteinander verbindet. Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, 34 Zitat: Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 47
Derrida kommt in seiner kurzen Interpretation von „Die helle Kammer“ auf einen initialen Text von Barthes zu sprechen, der dem „Tod des Referenten“ in einer sich selbst vollziehenden Phantasmatik der Beglaubigung des Lebenszusammenhanges durch Verschriftung nachgeht. Der Roman ist Todesabwehr, insofern er eine ideale Geschichte bildlich vorstellbar macht; er ist realer Tod, insofern er sich durch die arbiträre und diskrete Buchstäblichkeit hindurch verwirklicht; er ist Symptom der Todesbeziehung, Simulakrum.
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XXVIII. EIN SYSTEM DES HUMANISMUS Die Perspektive ermöglichte allerdings auch, Beobachtungsverhältnisse in die Einheit des Bildraums einzuarbeiten, also zu zeigen, was im Bild sichtbare Personen sehen und was sie dank ihrer Stellung im Raum nicht sehen können. Erst durch die durch Perspektive garantierte Einheit des Raums werden Personen im Bild als Beobachter beobachtbar. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 141
Es geht nicht um eine Dekomposition eines „Ganzen“ in „Teile“, und zwar weder im begrifflichen Sinne (divisio) noch im Sinne einer Realteilung (partitio). Das Schema Ganzes/Teil entstammt einer alteuropäischen Tradition … Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch aus den Teilen und den „Beziehungen“ zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 598
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Systemdifferenzierung pflanzt sich demnach fraktal fort: Jedes Foto hat weiterhin Anteil an der „Fotografie“ (dem Medium), jedoch verändert es gemäß seiner Form (und des Sujets) das fotografische System in seiner Gesamtheit, so, wie jeder Sprechakt das System der Sprache und jeder Tauschakt den Wert des Geldes verändern. Luhmann arbeitet mit einer autopoietischen Dynamik von Unterscheidungen im performativen Sinne und gibt damit zu verstehen, dass es – auf unser Thema gerichtet – die Fotografie nur in Beziehung auf andere Teilsysteme (Medien, Bilder) der Kommunikation in ihrem sozialen Gebrauch gibt. Systemtheoretisch gedacht, wird so die Dynamik des Diskurses der Fotografie nachvollziehbar, z. B. ihr Drang, sich von der Malerei zu distanzieren (zu unterscheiden), doch aber dem System der Kunst zuzugehören, oder Professionalität zu schulen, aber die Technikhandhabung immer einfacher zu gestalten und damit die „guten“ Bildergebnisse schon vorzuformen. Was auf der Seite der Ästhetik der semantische Wert ist auf der Seite der Ethik der des Gebrauchs. Es geht jedoch im System nicht um Wertbeziehungen, sondern um Ausdifferenzierung. Für die Fotografie als Kunst ist die Bedingung von Autorschaft und Originalität von ökonomischer Bedeutung – und zwar innerhalb ihres technischen Vermögens, sich ab 1880 als Reproduktionsform zu etablieren. Das „Kunstsystem“ unter Einschluss der Fotografie wird also ein anderes als das, woran man sich anschließen wollte. Das entscheidende Argument hätte die Einführung neuer Techniken in etablierte Kunstformen sein können, so, wie sie der Perspektivismus im 16. und der Impressionismus im 19. Jahrhundert etablierten. Im Begriff „Ingenieur“ deutet sich schon im 16. Jahrhundert ein Umbruch an. Am ergiebigsten dürfte es deshalb sein, die Zeitunterscheidung von Vergangenheit und Zukunft zu analysieren, nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff der Postmoderne ja selbst auf dieser Unterscheidung beruht. Derridas Kritik der ontologischen Metaphysik kann so gelesen werden, daß sie die Überschätzung der Gegenwart als Ort der Anwesenheit des Seins moniert und statt dessen eine stärker zeitbezogene Analyse vorschlägt. Was operativ läuft, ist die Einkerbung einer Differenz in eine Welt, die dies toleriert und ein „recutting“ ermöglicht. Das geschieht durch „Schrift“. Da es aber eine Differenz ist, kann sie nicht von Dauer sein, sondern muß von Moment
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zu Moment verschoben werden. Différence ist différance. Das wiederum impliziert, daß das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft sich laufend verschiebt, ohne daß diese Verschiebung als räumlich-zeitliche Bewegung in einer immer schon vorhandenen Seinswelt begriffen werden könnte. Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, 1146f
In dieser Hinsicht ist die Fotografie nicht das Symptom der Tolerierung einer nicht auf Präsenz fixierbaren Weltsicht, sondern der schriftgemäße Ausdruck einer proliferierenden Unterscheidung: die Illusion, die Welt in einem Augenblick/Fragment zu fixieren, den es eigentlich nicht gibt. Der Fotografie gelingt es, diese Illusion zu realisieren, weil sie jeden Jetztpunkt als szenischen Raum transponiert, Zeitlichkeit verräumlicht. Ähnliche Überlegungen findet man unter dem Stichwort différance bei Jacques Derrida. Nicht nur beim Schreiben, sondern auch beim Reden, ja bei jeder Art von Erfahrung müssen Zeichen gesetzt und in andere Situationen verschoben werden. Also müssen Unterscheidungen (Brüche, ruptures) in der Zeit transportiert werden. Das geht nur, wenn das, worauf das Zeichen sich bezieht …, abwesend ist. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 75
Weil mit der Umstellung vom Subjekt aufs System das „Selbst“ der Selbstbeziehung entfällt, verfügt aber die Systemtheorie über keine Denkfigur, die dem verletzenden und unterdrückenden Akt der Verdinglichung korrespondiert. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Postmoderne, 433
Die Kritik an der Systemtheorie, das „Ganze“ des Subjekts durch Handlungsunterscheidungen zu analysieren, verschiebt die unendlichen Differenzierungen, die in einem Prozess möglich sind. Nicht die Synthese, sondern die Analyse ist die Blickrichtung der Systemtheorie. Verdinglichung ist ja gerade das, was nur im Blick der Dauer möglich ist. Ohne einen dynamischen, ökonomischen Blick wäre die Politik von Marx nicht möglich: Marx betrachtet keine Dinge, sondern Tauschorganisationen, also Transpositionen. Wir als Betrachter sollten uns also möglichst fragen: nicht, wofür ist das Foto, sondern, wofür – und für welche Zeitdauer – ist der fixierte Moment
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auf dem Foto repräsentativ. … Und eine Fotografie, die diese Zeitreflexion nicht besitzt oder aber sie manipuliert, ist entweder schlecht oder aber demagogisch. … Der Parameter, in dem das Begriffspaar „Fotografie und Wirklichkeit“ als Grundfrage der Fotografie zusammenhängt, ist in umfassendem Sinn der Begriff der Zeit, und damit ist immer und zwangsläufig eine historische Betrachtungsweise im Spiel. Andreas Haus, Fotografie und Wirklichkeit, 92f
Die Echtzeit der Telekommunikation steht also nicht allein, wie gemeinhin behauptet wird, im Gegensatz zur Vergangenheit, zur „aufgehobenen Zeit“, sondern auch im Gegensatz zum Gegenwartsgeschehen und seiner Aktualität. Denn „Wirkliches“ und „Bildhaftes“ werden visuell vertauschbar, so daß wir auf den Betrachter zurückverwiesen werden, der hier und jetzt physisch präsent ist: das einzig Beständige in dieser Illusionswelt. Sein Körper wird zum Zeugen, zum einzigen Stabilitätsmoment inmitten einer virtuellen Umgebung. Paul Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, 49
Nach den synthetischen Bildern, Produkte eines infographischen Computers, nach der Verarbeitung numerischer Bilder in einem „computerunterstützten Konzept“, ist nun die Zeit des synthetischen Sehens gekommen, die Zeit der Automatisierung der Wahrnehmung. Paul Virilio, Das öffentliche Bild, 35
Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit Ideen und nicht mehr mit Personen um. Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 87
Luhmanns Systemtheorie vollzieht eine Denkbewegung von der Metaphysik zur Metabiologie. … Anti-Humanismus … Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Postmoderne, 430 u. 436
Der Humanismus steckt in einer Logik der argumentativen Schriftarchivierung und im Andenken eines geschichtslosen Bildes fest. Die Diagnose des Anti-Humanismus folgt einer von Foucault angeregten Diskussion gegen die Behauptung der Unwandelbarkeit des „Humanen“ – ungeachtet einer sich wandelnden Um- und Dingwelt, von Arbeit und Energien. Eine Dynamik des Humanen unter Einbezie-
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hung sich wandelnder Umwelt einzuklagen und zu begleiten, kann doch als vornehmste Aufgabe der Fotografie angesehen werden. Wenn bemerkt wird, dass kein Ding und kein Mensch für die Ewigkeit ist, muss man der ewigen Veränderung mit dynamischen Modellen Rechnung tragen. Nun wird auch das Foto dynamisch und dementiert alles, was man über Präsenz gesagt hat. Den „Menschen“ als „human“ anzusehen, heißt, ihn zu dem Ding zu machen, das er gerade nicht ist. Im Übrigen ist es nicht so sehr der mechanische Akt der Fotografie, als die Dynamik der Aufmerksamkeit gegenüber visuellen Repräsentationen im Verhältnis zum Akt, die Spannung aufbaut. Alle operativ geschlossenen Systeme müssen ihre Realitätsindikatoren auf der Ebene ihrer eigenen Operationen erzeugen; sie verfügen über keine andere Möglichkeit. Intern kann dann Widerstand als ein Konsistenzproblem auftauchen, das zum Beispiel als Gedächtnis interpretiert wird, obwohl es immer nur im Moment auftritt und immer wieder neu aktualisiert werden muß. … „Wertewandel“ … Es gibt im einzelnen also sehr verschieden Möglichkeiten, aber sie alle laufen darauf hinaus, daß die Medien Widerstand gegen sich selbst erzeugen. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 159f
Fotografie: die spezifische Verkörperung des Widerstands der verlorenen Zeit: Die wiedergefundene Zeit – aber nicht in der Wirklichkeit, sondern als medial gleitende Realitätsverdichtung. Gedächtnis ist Widerstand und Abwehr. Warum wird Gravur immer als quantitativer Einschnitt und nicht, wie beim Druck, als qualitative Verdichtung verstanden? Von hier wäre eine andere Phänomenologie der Schrift und des Körpers möglich. Denn Geist heißt Macht, Potenz über das Sein … Das unmittelbare Seinkönnende ist das Zufälligste; und erscheint darum als das Unbegründetste, das den Grund seines Seins nicht findet in dem, was vorhergeht, sondern in dem, was folgt, indem es sich, im Verhältnis zu diesem, zum bloßen … relativ Nichtseienden [macht]. … Dies Erste nimmt die Bedeutung der prima materia alles Seins an, wird aber selbst erst zu einem bestimmten Sein, wenn es sich einem höheren Seinkönnen, als Unterlage hingibt. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, 102 u. 104
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Wir können das Reflexionsprinzip bei Schelling hier nur andeuten. Es markiert den Ursprung der Idee der Signifikanz durch Verdopplung („Pa-pa“). Das Subjekt muss sich schon haben, um von sich als Sich Kenntnis zu erlangen. Dazu muss man entweder systemisch eine Rekursion auf den Spiegel (Reflexion) als Medium zulassen oder die Medialität in einer zweifachen Bewegung, der Inversion und der Reflexion begründen. Man muss den Spiegel sehen, zugleich aber einen Widerstand bezeugen, der vom Spiegel absieht und auf das Spiegelbild zielt. Denn der Spiegel ist etwas anderes als das gespiegelte Ich, dennoch konstituiert er mich. „Ich“ ist ein Produkt des Absehens von Welt. Diese Bewegung von Attraktion und Repulsion ist das Subjekt, das der Bewegung Unterworfene. Die Bewegung hinterlässt eine Spur, denn zwischen der ersten Wahrnehmung und der Erkenntnis tritt ein Zeiterlebnis der Nachträglichkeit/Verspätung/Aufschub ein, dessen Einholung Zukunft kreditiert. In jeder Reflexion – auch in der eines Fotos – ist die Medialität, die „Unterlage“, das Subjektivierte. Die Verspätung des Ichs zu sich – diese Illusion eines Zeitraums ist das, was sich dem Subjekt als seine Geschichte einschreibt. Dies ist das konstitutive Theorem poststrukturaler und hermeneutischer Linguistik wie das der Lacan’schen Psychoanalyse: Das Ich, gefangen in seiner Nachträglichkeit, will Herr (Vater, Insignum) über den Grund werden, von dem es selbst als sich abstossend konstituiert hat (Mutter/Medium). In ebendiesem ambivalenten Zustand von Abwehr und Anziehung konstituiert und stabilisiert sich das Phänomen des Humanen als gelingende Praxis bis hin zur Verdinglichung – im Verhältnis zur materiellen Wirklichkeit, von der es bedingt wird. Das „Ich“ als Zentralphantom der Rekursivität des Erlebens und Handelns lebt immer noch vom Körperbezug aller Wahrnehmung; aber es findet sich zusätzlich angereichert und verunsichert durch das, was es durch die Massenmedien weiß. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 163
Auch hier lehrt Denken mehr als Moral. Die Frage der Schrift, wie die des Bildes, ist zuerst eine solche der möglichen Verdichtung und Vernarbung der Wunde der Selbst-Differenz. Die Fragen der sozialen Verdichtung von Schrift und Ding als „Bedeutungssysteme“, wie sie für die Massenkultur besonders Roland Barthes stellt, führen zur
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Genealogie von Wertbildung insgesamt. Das Festhalten und Bewahren von Sinn in und an Dingen, und im Besonderen der Widerstand noch daran in den verlorenen Dingen der Fotografie, lassen eine Art der Aufhebung, der Aufbewahrung, der Rettung und der Erhebung der profanisierten Welt erkennen: Aufgabe des den Widerstand aufhebenden Widerstands (Besitz versus Tausch). Von den Inszenierungswelten scheiternder Helden und deren falscher Heroisierung wäre zu reden, von Identifikation und Abwehr zugleich im Ästhetischen. Das Wort „Bild“ hat einen schlechten Ruf … Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 18
„Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht, und das Foto, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still.“ … Man spürt jetzt vielleicht besser, was alles jenes kleine Wort „sehen“ in sich trägt. Das Sehen ist kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 39 Zitat: Auguste Rodin, L’art, entretiens réunis par Paul Gsell, 86
Das analytische Denken läßt die Wahrnehmungsübergänge von einem Moment zum anderen, von einem Ort zum anderen, von einer Perspektive zur anderen unbeachtet und sucht schließlich auf seiten des Geistes die Garantie einer Einheit, die es jedoch schon gibt, wenn wir wahrnehmen. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 99
Merleau-Ponty spricht nicht von den fotografischen Serien, er spricht auch nicht von den Plansequenzen des Films. Gibt es eine „Wahrnehmungseinheit“? Ist das der Blick – der Blick, der aufs Ganze geht und der verfehlt, wenn er analytisch wird? Vielleicht ist es ein Merkmal unserer Zeit, den Humanismus und die Idee einer Menschheit mit vollen Recht zu scheiden und das Bewußtsein von den menschlichen Werten und das der Infrastrukturen, der sie die Existenz verdanken, nicht nur miteinander zu versöhnen, sondern für unzertrennlich zu halten. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 117
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Merleau-Ponty versucht in Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge Gedanken über die Veränderung des „Menschen“ insbesondere hinsichtlich der Implementierung des Geistigen in das Körperliche zu artikulieren, um „Humanismus“ als Metapher einer Wandlung zu begreifen, die den Menschen zum Ding gemacht hat, indem sie ihm unveräußerliche und unveränderliche Rechte zuschrieb. Die Politik des 20. Jahrhunderts hat das Scheitern dieses Denkens bestätigt. Umso mehr ist es nun (1960) Zeit, über die Ökologie des Menschen und der Dinge zu sprechen. Als Scharnier des Widerstands gegen die Komprimierung zum Ding behandelt Merleau-Ponty die Malerei. Wie verhält sich die Malerei als Akt zum fotografischen Akt? Ist das Foto ein Ding – ein Rückfall in den alten Humanismus, und deswegen so mit dem Wert der „Moral“, der „Wahrheit“ und der „Aufrichtigkeit“ belastet, die realistisch bewertet werden? Was ist ein echtes Bild? Die Frage wird nicht erst gestellt, seit es die Fotografie gibt. Aber die Fotografie versprach eine Antwort, die durch eine objektive Technik garantiert war. … Der Glaube an das echte Bild verrät sich auch darin, dass er so leicht erschüttert werden kann. … Ist der Glaube an [die Bilder] einmal erschüttert, wenden wir uns dem Zeichen und besonders dem Wort zu. … Zeichen beruhen auf Verabredung und setzen unsere Zustimmung voraus. Hans Belting, Das echte Bild, 7f
Ist die Technik nicht auch eine Verabredung, eine sozialisierte, aber sehr hermetische Form der Hervorbringung allgemein lesbarer Zeichen? Hier liegt die Sozialisierung: in der Handhabung – der Technik, die im Schreiben unterschlagen wird. Es ist natürlich und gut, schreiben zu können. Aber man schreibt und man fotografiert heute mittels der gleichen Maschine. Es ist also die Technologie, an die man glaubt. Und gerade sie sollte in der Fotografie umso mehr in Frage stehen, als man sich ihrer heute mühelos und blind bedienen kann – jenseits von Gut und Böse. Erst eine Realität, die es nur im Bild geben kann, rettet dessen Existenz vor der Vertauschung mit der Realität. Hans Belting, Das echte Bild, 22
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Fotos haben, ähnlich wie vor ihnen der Fuß- oder Handabdruck, eine Beweiskraft, die den Wunsch nach authentischen Bildern besser befriedigte, als es Bilder bis dahin konnten. Die Beweiskraft der Fotografie liegt darin, dass sich hier ein Körper mit Hilfe der modernen Technik gleichsam selbst reproduziert, ohne dass eine Menschenhand dazwischentritt. Hans Belting, Das echte Bild, 47f
Bei Medien fragen wir beständig nach der Echtheit, bei Techniken niemals. Ihr Gegenbild ist Magie und Zauberei, d.h. Sinnestäuschung. Nun ist gerade, wie im Kino, die Verbergung der Technik die höhere Form der Sinnestäuschung. Der Kausalismus der Technik lässt uns wenigstens den Zeitpfeil als unveränderlich erscheinen, da die Technik immer aus der Gegenwart von einer überholten Vergangenheit und einer zu realisierenden Zukunft spricht. Technik ist selbst zu einer patentierten Ware geworden. Daguerre hatte, als er sein Patent der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, zwischen der Ökonomisierung eines Mediums und einer Technik nicht unterschieden. Auch ein Abdruck vom lebenden Gesicht Jesu war deshalb so wichtig, weil er eine sichtbare Körperspur in sich trug. Hans Belting, Das echte Bild, 48
Belting spielt auf das Schweisstuch der Veronika und andere Reliquien an: Körperabdruck, Dingwiderstand und gerade nicht Schrift. Heiligung des Opferrestes. Aber besäße man auch ein schriftliches Zeugnis von Jesu eigener Hand, läse man nicht die Worte, sondern betrachtete sie als Abdruck, Spur der Person. Die Authentizität geht also vom Körper aus – Technik dagegen von Körpersimulation und Überschreitung. Der Glaube an Technik darf nicht in Zweifel gezogen werden, weil Techniken weder wahr noch falsch sind – sondern Funktionen anmahnen, deren Verlässlichkeit über denen des Körpers steht. Ein Gesicht, so können wir folgern, ist ein Bild, ein Abdruck dagegen ein Beweis. … Die Vermutung drängt sich auf, dass man immer schon von einer Fotografie geträumt, aber dafür keine Technik zur Verfügung gehabt hatte. Hans Belting, Das echte Bild, 50 u. 66
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XXIX. OPTIK UND ORNAMENT – BILDERVERBOTSKULTUR Denn wie ist es zu erklären, dass eine arabische Sehtheorie – im Westen … in eine Bildtheorie umgedacht wurde, die einen menschlichen Blick zum Angelpunkt jeder Wahrnehmung macht und ihn in Bilder fasst, also das im Sinne hat, was wir in der Fotografie „analoge Bilder“ nennen? Hans Belting, Florenz und Badgad, 12
Unterschieden werden müssen: das Sehen, dessen Organ das Auge ist und das nach optischen Gesichtspunkten und nach denen einer Organmedizin untersucht wird, und der Blick, der eine Beziehung zwischen „Gesichtern“ stiftet und die Interpretation eines „lebendigen Bildes“ verlangt. Die Interpretation, die Haltung oder der Wert des Blicks sind insofern an metaphysische, transzendente oder kulturelle
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Vorannahmen geknüpft. So beschäftigt sich die arabisch-maurische Medizin zwar mit dem Auge, nicht aber mit dem Blick, der eine Fügung Gottes zwischen den Menschen darstellt. Die Legitimation der Übereinkunft, der Konvention wie der Membranen der Organabschließung (Auge, Glaskörper, Sehstrahlen) kann nicht abgeleitet werden und muss deswegen einer transparenten Göttlichkeit überantwortet werden, deren Blick alles durchdringt und ethisch organisiert. Die Unsichtbarkeit des göttlichen Blicks ist in der Schrift garantiert, durch die man hindurchsieht, um den göttlichen Sinn zu erfassen. Für seine Theorie brauchte Alhazen [965-1040] keinen Fluchtpunkt, den es nur im Blick, aber nicht in der Welt gibt. Dennoch ist der geometrische Punkt, durch welchen sich die Welt in ein Bild verwandelt, nur im Rahmen eines Systems möglich geworden, das sich mathematisch berechnen ließ. … Bilder entstanden bei Alhazen nicht im Auge, sondern in der Imagination. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 19 u. 40
Die arabische Kunst hat die menschliche Gestalt (meistens) zu Gunsten des Schriftbildes in der sakralen Kunst benachteiligt. Ihre visuelle Kultur war von höchstem sinnlichem Reiz, aber sie war an das Wissen der Schrift und der Zahl gebunden und ornamental berechenbar. Man darf nicht vergessen: Die Architektur geht der Kunst voraus und die Geometrie ist, weil sie keine Abwege erlaubt, göttlich. In der Renaissance stritt man über die Bedeutung von Vitruvs Begriff „Szenographie“, in dem man wunschgemäß die eigene Perspektive wiedererkannte. Dem Römer ging es jedoch um das Bühnenbild, in dem man Architektur auf gemalte Flächen hervorzaubern konnte, und also um eine Erzeugung von Illusion. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 27
Im Zeitalter des Barock hat sich das Vertrauen in den menschlichen Blick gewandelt. Er ist einer Welt der Illusionen ausgeliefert, die er nicht mehr selbst kontrollieren kann. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 239
Szenografie stellt sich in einem Kontext ein, der als nichtinszeniert gilt, d.h. dessen Inszenierung zur alltäglichen Praxis feststehender
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Bedeutungshandlungen herabgesunken ist. Kann man sich schon in der Renaissance nur noch perspektivische Bilder vorstellen? Schwieriger wird das Problem der Macht über den Blick im Barock: Ludwig XIV. tritt in Versailles auf die Bühne und spielt Ludwig XIV., das Symbol der Sonne und des Lichts. – Wie weit dringt die Kunst ins Leben, wie weit die Vorschrift ins Bild und die Macht in die Köpfe? Das Licht bewirkt eine Blendung und ein Erstarren der Bevölkerung. So sagte Napoleon: „Befehlen heißt zu den Augen sprechen“. Paul Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, 30
Wir haben es also [in der arabischen Handwerkskunst] nicht mit einem bedeutungsfreien oder gar bedeutungslosen Ornament zu tun, … sondern mit einer ganz anderen Art, Bedeutung auszudrücken. Geometrie wird durch Gleichungen so berechnet, dass sie auf Flächen störungsfrei aufgeht. [Sie] beruht auf einem mathematischen Kalkül, dessen Umsetzung der Blick nur langsam, gleichsam lesend, entziffern kann. … Die Popularität der Mathematik am Hof in Bagdad, die sich bis in die Schriftreform auswirkte, ist Anlass genug, über ihre Rolle als Kulturpraxis nachzudenken. Im Westen dagegen wird Mathematik Bildern unterlegt, um sie noch körperlicher erscheinen zu lassen, als sie ohnehin sind. Hier ist die Mathematik ein Subtext der Bilder, aber nicht ihr Sinn. Dieser Dualimus von Subtext (Mathematik) und Text (Bild) wird im Verlauf der Neuzeit zu einer Spaltung der Bilderwelt führen. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 42f und 53
Belting rührt an den Kern einer Fotografietechnik, die seit etwa dreißig Jahren vom elektronischen Subtext dominiert, von einer hybriden pictogrammatischen Gestaltung überformt und von einem nostalgischen Design aktualisiert wird. Bruchlos geht die Allegorie des Barock in die Wunschwelt der Reklame über. Das islamische Bilderverbot stellt sich gleich in doppelter Hinsicht als Ausdruck der islamischen Religion dar. Zum einen hielt es die Erinnerung daran aufrecht, dass Mohammed über die vor-islamische Stammeskultur im Raum von Mekka siegte, als er deren Kultorte von den Bildern und den Symbolen der lokalen Stämme „reinigte“ und mit dem Monotheismus Ernst machte.
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… Zum anderen spielte das Bilderverbot auch eine Schlüsselrolle in der Auseinandersetzung mit dem Christentum. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 69f
Belting präzisiert die nicht mehr rein monotheistischen Dreifaltigkeitsargumente des Christentums: Ist Jesus Gott oder Mensch? Darf/kann er bildlich dargestellt werden? Wie ist die Heiligenchar darzustellen – wie sind ihre Körperlichkeit und der mittelalterliche Rückfall in ein überwunden geglaubtes Reliquienwesen zu bewerten? Ist der Monotheismus des Christentums gegenüber dem Islam nicht vielerlei Relativitäten und brüchigen Interpretationskünsten unterworfen? – Es kommt zu innerchristlichen Spaltungen: der Platonismus, die West- und die Ostkirche, der Protestantismus, schließlich die Epoche der technischen Reproduktion der Schrift im Buchdruck und der immer noch aufwendigen des Bildes. Alle diese Absetzbewegungen vom „Katholischen“ bedürfen einer differenzierten Praxis und Symbolik der Kulthandlungen. In der arabischen Welt scheint das präziser, aber auch zwanghafter reflektiert, die Gesetze somit reiner und radikaler und Abweichungen gefährlicher. Andererseits kann die Festigkeit in den Prinzipien des Glaubens für eine tolerante Offenheit etwa im maurischen Spanien, der Blütezeit der Wissenschaften des Islam, sorgen. Schrift und Dekor besetzen beide die Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, ohne das eine mit dem anderen zu kontaminieren. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 88
Im Orient, in dieser ideographischen Kultur, ist die Linie das, was zwischen Schrift und Malerei liegt, ohne daß sich das eine auf das andere beziehen ließe; dadurch kann jenes ruchlose Gesetz der Aufeinanderfolge durchkreuzt werden, das unser väterliches, sittliches, geistiges und wissenschaftliches Gesetz ist … Roland Barthes, Der Geist des Buchstabens, 109
[Alhazen] legt es seinen Lesern sogar nahe, die [arabischen] geometrischen Figuren ähnlich schrittweise zu entschlüsseln wie die Schrift. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 127
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„Es ist nicht das Auge, sondern die Seele, die sieht.“ Das war eine unerhörte Kehrtwendung gegenüber der Renaissance mit ihrem Bilderglauben und ihrem Vertrauen in das Auge. … Eine Zeichentheorie tritt an die Stelle der Abbild-Theorie von Ähnlichkeit. So schreibt Descartes, der Kupferstich habe weder als Fläche noch in seinem Druckraster die geringste Ähnlichkeit mit den Bildern, die wir darauf sehen. Hans Belting, Florenz und Bagdad, 141 Zitat: René Descartes, La Dioptrique
Stets aufs Neue verblüffend: Weil wir das Fotografische nicht erkennen, sehen wir das Abbild. Aber welche Gewalt zwingt das eine und nicht das andere zur Dominanz: die Konvention, die Schule, das Gesetz, die situative Inszenierung? Oder gibt es physiologische, ökonomische Gründe? Gibt es in dieser Hinsicht wirklich nur den einen Blick und den einen Menschen? Doch die Möglichkeit, beides invers zu hierarchisieren, erlaubt es, das instantane, spontane Bild auch als eine Erzählung des Kampfes, als Schrift zu lesen, die aus den realistischen Elementen eine funktionale Lesart ermöglicht – miteinander kämpfende Buchstaben wie bei Lewis Carroll oder Sinneinheiten wie bei Kafka. Der Mythos der westlichen Schrift beginnt mit den nomadischen Heldenepen der Illias und der Odyssee: Seereise als Sinnsuche. Im Bild selbst scheint der Kampf entschieden. Es sind alle Sachverhalte gleichzeitig gegeben. Das Lesen des Bildes als Erzählung wird an eine bewusste Inszenierung des Autors, des Malers oder Fotografen gebunden, der die Regeln zu seinem Spiel animiert. Eye-TrackingSysteme. Die Fotografie gibt sich im Alltag selten als Spiel aus. Ihre Automatismen sind neurotisiert. Man entschuldigt sich mit einem Verweis auf die Rettung eines Dokumentarischen. Für den Soziologen werden im fotografischen Gestus widerstreitende Konventionen sichtbar, die unsichtbar sein sollten.
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XXX. TRAUMBILD UND IMAGINIERTES BILD Es ist der Psychoanalyse nicht gelungen, die Bilder zum Sprechen zu bringen. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 20
Mit dem gezielten Bedienen des Geschmacks und der Bedürfnisse eines Massenpublikums in der Porträtphotographie beginnt sich in den [18]50er Jahren die Photographie im Wechselspiel aus Demokratisierung und Stereotypisierung als Massenmedium zu etablieren. Künftig wird das Individuum seine Spuren nicht mehr sprachlich sichern, sondern einen ikonischen Text seines Lebens schreiben. Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien, 272f
Das Sprechen des Traums wird nur in seiner semantischen Funktion analysiert: seine morphologische und syntaktische Struktur wird von der Freu-
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dschen Analyse im dunkeln gelassen. … Die eigentliche Bildhaftigkeit der Sinndarstellung ist völlig übersehen. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 15
Das Bild ist ein Sprechen, das nicht formuliert; es ist ein Reden, das zum Sinn hin nicht so durchlässig ist wie das Wort. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 17
Das Symbol ist [bei Freud] die dünne Kontaktfläche, die eine innere und eine äußere Welt trennt und zugleich verbindet. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 18
Traumfluss: nach welcher Regel finden die Transformationen und Anamorphosen statt? – Eine Frage, die für Freud gleichgültig ist, da er keine Traumbilder, sondern Traumerzählungen analysiert. Nach diesem Paradigma könnte er aber jedes andere Medium heranziehen. Sartre hat daraus zu Recht gefolgert, dass es auch eine Analyse der Sachen geben müsse – nicht insofern sie individuellen Bezug haben, sondern insofern sie die imaginäre menschliche Produktion beglaubigen. Warum also nicht den Film oder die Fotografie nach diesen syntaktischen Strukturen und Grammatiken absuchen? Eine Analyse der Schrift und des Fotografischen ist mit einer Analyse des Geschriebenen und der Fotos nicht vergleichbar. Erst der späte Freud sah im Film Konkurrenz und zugleich eine popularisierte Form der psychoanalytischen Methodik am Werk, lehnte aber eine Beschäftigung mit diesem Medium ab. Sie entsprachen nicht seiner Methode der „Archäologie“. Freuds Vorbehalte sind ein starkes Indiz für die These Derridas, dass die Sprache noch dem Körper verhaftet bleibt, die Schrift- und Schriftmedien jedoch nicht, zumal für diese dann rückbezüglich gilt: Wenn Dinge sich vom Körper ablösen, sind Symptome diejenigen Verdinglichungen, die – konkurrierend – im „Besitz“ des Körpers verbleiben, da jede Form der Ablösung die Gewalt einer Setzung, Differenzierung und Substitution bedingt und die Unhintergehbarkeit eines Opfers bezeugt. Aber worauf beruht ihrerseits die Wesensstruktur, auf der das psychologische und zufällige Moment der Assoziation beruht? Auf einer aktuellen Situation, die existiert oder existieren wird oder existiert hat. Die Spuren
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auf dem Schnee verweisen auf den wirklichen Hasen, der eben geflüchtet ist. … Die Wörter „Hase“ oder „Zorn“ sind bedeutsame Zeichen; die sich überschlagende Stimme oder die in den Schnee gedrückte Spur sind anzeigende Zeichen. Eine Phänomenologie des Träumens müsste die Anzeigeelemente, die für den Analytiker eine objektive Situation abstecken, von den Bedeutungsinhalten unterscheiden, welche die Traum-Erfahrung von innen konstituiert. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 23
Freud sieht um 1900 diesen Unterschied nicht, fügt jedoch ab 1920 die Anzeigefunktion des funktionalen Phänomens in die späteren Auflagen der Traumdeutung ein. Jedes Symbol (etwa ein mathematisches Zeichen), jedes Bild oder jedes Wort, ob ausgesprochen oder niedergeschrieben, ob im strengen Lauf der Rede oder im Träumen der Imagination, es bringt immer eines mit sich: Es taucht etwas Neues ausser uns auf; etwas, was von unserer Erwartung ein bisschen abweicht; und zwar aufgrund der Widerständigkeit des bildlichen, sprachlichen oder symbolischen Materials; auch aufgrund der Implikationen der nunmehr bedeutsamen Sache … Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 26
Widerstand der Ausdruckssubstanz. In zwei Medien ist er minimiert: in der Stimme und in der Fotografie. Die Ausdruckssubstanz des Lichts heute ist ein Leuchten. Der Ausdruck soll Eindruck machen, er wird zu Zwecken des Zeigens und des Sich-Zeigens inszeniert. Der Phänomenologie ist es gelungen, die Bilder zum Sprechen zu bringen; aber sie hat niemandem die Möglichkeit gegeben, ihre Sprache zu verstehen. … Aus der Konfrontation von Husserl und Freud erwuchs eine zweifache Problematik: es galt, eine Methode der Interpretation zu finden, die den Ausdrucksakten gerecht wird. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 29f
Die Biographie von Roland Barthes steht in dieser Spannung: Von der Phänomenologie zur Semiologie, von der allgemeinen zur individuellen Analyse. Stets zeigt die Urspaltung der Schrift ihr inversives Gesicht. Aber bei Foucault ist man auf der Ebene der Choreografie
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und der Grammatologie der Wissenschaft, d.h. der Geltungskraft der Konventionalisierungen angelangt. Der – allerdings analytisch unzureichende – Begriff Foucaults dafür ist „Macht“. Aber eine Analyse der Macht ist immer eine Analyse der Widerständigkeit, der Machttypisierung und der Entmachtungen, also auch eine Analyse der Arbeit. In diesem Sinne macht das Fotografieren heute keine Arbeit. Die christliche Theologie sieht im Traum als einer Erfahrung einer transzendenten Wahrheit gleichsam Telegramme des göttlichen Willens: eine Eilpost, mit der Gott seine Prüfungen, seine Dekrete, seine Warnungen austeilt. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 36
Die Magie, der alchemistische Geist, der noch bei Niépce aber kaum noch bei Daguerre vorhanden war, verschwindet aus der Fotografie. Der Traum allerdings ist magisch – denn er entwindet sich der Autorschaft des Subjekts. Das wird dann zum Problem, wenn das Subjekt sich seiner Autorschaft in den eigenen Werken versichert. Die juristischen Diskurse im Kampf um Autorschaft als Künstlerschaft sind belegt. Hier geht es neben Geltung um Geld – und um Macht über die zukünftig sich zeigende Zeit. Indem [der Traum] mit dieser Objektivität bricht, die das Wachbewusstsein fasziniert, und indem er dem menschlichen Subjekt seine radikale Freiheit restituiert, enthüllt der Traum paradoxerweise die Bewegung der Freiheit auf die Welt hin: den Punkt, von dem aus die Freiheit sich Welt macht. Die Kosmogonie des Träumens ist der Ursprung der Existenz selber. … Es handelt sich vielmehr um die Dialektik des Träumens selber, insofern es ein Aufbrechen des Lebens zur Existenz ist und in diesem Licht das Schicksal seines Todes enthüllt. … Der Traum greift auf den Augenblick der Befreiung voraus. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 47, 55 u. 61
Im Traum bin ich nicht mehr der, den die anderen aus mir gemacht haben (Sartre). Ur-Sprung der Fotografie: Opferlose Disposition von Raum und Zeit – Traum jedes Fotografierenden. Aber die Freiheit ist zugleich die Enteignung vom Besitz des Selbst. Im Traum zeigt sich die Spaltung zu mir selbst an, die in der wachen Entäußerung wieder in Besitz gebracht werden kann.
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Träumen ist folglich nicht eine besonders starke und lebhafte Weise zu imaginieren. Im Gegenteil: Imaginieren heisst: sich im Moment des Träumens anvisieren: sich als träumend träumen. … Die Imagination zielt nicht auf das Anhalten, sondern auf die Totalisierung der Existenzbewegung … Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 82
Foucault folgt zu diesem Zeitpunkt noch einer Richtung, die Sartre in Das Imaginäre vorgegeben hat und an die auch Barthes noch in Die helle Kammer anschließt. Die Fotografie erregt nicht so sehr die Erinnerung, sondern die Erinnerung ist eine Art der Imagination, in der das Subjekt das ist, was es war: das Äußere in das Innere invertierend. Der nostalgische Charakter des Fotografischen betrifft demnach einen Zustand der Ursprünglichkeit der Gedächtnisbildung, Wachtraum. Jede Erinnerung ist notwendigerweise nostalgisch, weil sie das Ursprüngliche verfehlt. Die Fotografie verwirklicht beide Motive: die Erinnerung/Herstellung des ursprünglichen Augenblicks, der auf dem Foto zu sehen ist, und dessen Verlust, der nur gemildert werden kann, indem wir dem Foto selbst den Status einer tröstenden Illusion verleihen. Das Foto ist nur ein Stück Papier, aber in Wirklichkeit lebt die Vergangenheit weiter. Mit dem Aufkommen der neuen leichten Hand-Kameras und dem Entstehen des „Neuen Sehens“ geht eine intensive Erfahrung der Kamera als eines weiteren, mit der Hand zu führenden Werkzeugs einher, das die Vermögen des Körpers auf sehr ähnliche Weise ausdehnt, wie der Bleistift es tut, der, mit Freud gesprochen, wie eine Art künstliches Glied funktioniert. Rosalind Krauss, Das Photographische, 206
Alle komplizierten Maschinerien und Apparate der Träume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in der Regel männliche –, in deren Beschreibung sich die Traumsymbolik so unermüdlich wie die Witzarbeit erweist.
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, GW Bd. II/III, 361 Zitiert nach: Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 348
Produktionsneid des Mannes in Ansehung der Unsicherheit der Vaterschaft. Die Technikhervorbringungen als Mutterkonkurrenz sind ganz und gar von dieser sich legitimierenden Welt, gleich ob
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magisch, empirisch oder kausal – stets geht es um die Begründung eines Ursprungs, um die Frage der Schuld. Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat, oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde. Sigmund Freud, Hemmung, Symptom und Angst, GW Bd. XIV, 116 Zitiert nach: Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 348
Mir scheint auch die Umkehrung möglich: Die sexuelle Handlung wird unterlassen und statt der Imagination als Reflex menschlicher Reproduktion erfolgt die jungfräuliche und geschlechterneutrale symbolische Inbesitznahme. Man bekommt Freud nicht ohne Marx: Komplementarität von Macht, Selbstbemächtigung und Arbeit. So lobt man einerseits die verführerische Ästhetik der Fotografie, andererseits das maschinelle Know-how des Fotografen. Behaupten, daß man dem Leben gegenüber eine ästhetische Haltung „einnimmt“, heißt das Reale und das Imaginäre ständig verwechseln. Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 299
Ebenso, ja noch stärker ist die Macht der Traumwelt … Deshalb gibt sich die Welt des Traumes wie die der Lektüre als völlig magisch; wir werden von den Abenteuern der Traumgestalten wie von denen der Romanhelden behext. Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 268
Deswegen haben Schrift und Traum eine engere Beziehung als Bild und Traum. Denn im Bild bleibt immer ein Rest an tagheller Wahrnehmung, vor allem im fotografischen Bild. Hier liegt die wahre Erklärung des Traumsymbolismus: … nicht, wie Freud glaubt, wegen einer Verdrängung, die [das Bewusstsein] zwingt, sie zu verkleiden: sondern weil es unfähig ist, irgendein Reales in seiner Realitätsform zu erfassen. Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 267
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Man müsste die Schrift zu Gunsten der reinen Rhythmik der Erzählung aufgeben: Tanz, Musik, Fotografie – die Illusionen einer Realitätsform, die ihrerseits den Traum verdrängen. Ballett, die stumme Sprache des Körpers. Per-sonare: Sprechen durch Masken, provisorisches Sprechen aus dem Jenseits. Es gibt kein Bewusstsein, ohne dass Eingeständnis einer immer schon vorhandenen unerlösten Außenwelt, den Traum. Das Imaginäre ist nicht ein Modus der Unwirklichkeit, sondern sehr wohl ein Modus der Wirklichkeit: eine „diagonale“ Erfassung der ursprünglichen Dimensionen des Daseins. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 85
Das Bild steht nicht für den Gipfelpunkt der Imagination, sondern für den Moment ihres Verfalls. … Unrein und unsicher ist also das Bild. … Das Bild ist eine List des Bewusstseins, das nicht mehr imaginieren = bilden mag. Es ist der Augenblick der Entmutigung in der harten Arbeit des Imaginierens = Bildens. Michel Foucault, Einleitung [Ludwig Binswanger, Traum und Existenz], 86f
Nicht also wäre danach das dialektische Bild als Traum ins Bewußtsein zu verlegen, sondern durch die dialektische Konstruktion wäre der Traum zu entäußern und die Bewußtseinsimmanenz selber als eine Konstellation des Wirklichen zu verstehen. Gleichsam als die astronomische Phase, in welcher die Hölle durch die Menschheit hindurchwandert. Erst die Sternkarte solcher Wanderschaft vermöchte, so scheint mir, den Blick auf die Geschichte als Urgeschichte freizugeben. Theodor W. Adorno (2.8.1935) in: Walter Benjamin, Briefe 2, 673
Adorno appelliert an Benjamin auf die materialistische Differenz des Bewusstseins und die „Konfiguration von Mythos und Moderne, von Aktualität und Geschichte“ zu achten. So firmiert der Terminus „Bewusstsein“ für die der Phantasmagorie entkleidete Welt der Arbeit am Ding zum Wachtraum. Eingedenk ihrer Todesproblematisierung und der Ambivalenz ihres Warencharakters wird man die traumatisierenden Dinge auch im Traum nicht los. Die Befreiung besteht also in ihrer dekonstruktiven Verarbeitung. Denn alles, was man imaginiert, hat seinen Ursprung im Realen.
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Die Motive der Passage, des noctambulisme, des Feuilletons, sowie die theoretische Einführung des Begriffs der Phantasmagorie sind dem ersten Abschnitt … vorbehalten. Das Motiv der Spur, des Typs, der Einfühlung in die Warenseele sind dem dritten Abschnitt zugedacht. Der jetzt vorliegende mittlere Abschnitt des zweiten Teils wird erst zusammen mit dessen erstem und dritten Abschnitt die vollständige Figur des „Flaneurs“ stellen. Walter Benjamin, (6.8.1939) Briefe 2, 824.
Die Programmschritte des Passagen-Werks Benjamins sind dialektisch nicht ökonomisch auf Hervorbringung und Verkonsumierung von Medienleistungen, also Wachträumen abgestimmt. Die Ökonomie verspricht Moderation der imaginär-realen Beziehungen, aber kein vollständiges Erwachen, keine Erlösung. Der Flaneur ist der allegorische Typus, dem ein Genuß mit Aufschub genügt. Die anökonomische Wahl des Langsamen und des Exquisiten ist, was Fotografie heute nur noch im System der Kunst zu leisten vermag. Die Fotografie war nur in ihren allerersten Anfängen langsam und musste ihre Motive sorgfältig wählen. In den frühen Studios wurde Bedächtigkeit noch als Inszenierung von Magie verkauft. Bei Benjamin zeigt sich deutlich, dass das Tauschverhältnis von Arbeit und Zeit durch die Lichtgeschwindigkeit der Medien in Unordnung geraten ist. So ist es der Flaneur, der unter völliger Verausgabung seiner Zeit nicht die geringste Arbeit leistet. Man ist an Atget erinnert und dessen wenig erfolgreichen Versuch, die alte Zeit zu bannen und sie im Bilde seiner Fotografien an seine Kundschaft zu verkaufen: vornehmlich an Künstler, die sie als Erinnerungsstütze benötigen.
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XXXI. RHETORIK DES BLICKS Das Kalligramm ist also Tautologie. Aber im Gegensatz zur Rhetorik. Diese spielt mit der Überfülle der Sprache; sie lebt von der Möglichkeit, zweimal dieselben Dinge mit verschiedenen Worten zu sagen; und sie profitiert von dem Bedeutungsreichtum, der es ermöglicht, zwei verschiedene Dinge mit ein und demselben Wort zu sagen. Das Wesen der Rhetorik liegt in der Allegorie. Das Kalligramm macht sich die Besonderheit der Buchstaben zunutze, gleichzeitig als lineare Elemente zu gelten, die man im Raum verteilen kann, und als Zeichen, die in der Reihenfolge der Lautkette stehen können. … So möchte das Kalligramm die ältesten Gegensätze unserer alphabetischen Zivilisation überspielen: zeigen und nennen; abbilden und sagen; reproduzieren und artikulieren, nachahmen und bezeichnen; schauen und lesen. Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, 13
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In Bezug auf Magrittes allegorisch-surreale Ikonoscripturalität zerlegt Foucault den Antagonismus: den der Schrift, die Bild, und des Bildes, das Schrift werden will. Beide erfüllen den Widerstreit einer doppelten Spaltung der Vorschrift, einer Verletzung des Kontextgefüges und des Paratextes. Die allegorische Unterscheidung in der Fotografie ist einfacher: Das Foto und das Fotografierte kommen sich nicht in die Quere. Im Spiel der Zeitlichkeit ist das Foto mit dem Fotografischen verbunden wie das Bild mit der Schrift im Raum der Kalligrafie. Zwei Prinzipien haben, glaube ich, die abendländische Malerei vom 15. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert beherrscht. Das erste setzt die Trennung zwischen figürlicher Darstellung (welche die Ähnlichkeit einschließt) und sprachlicher Referenz (welche die Ähnlichkeit ausschließt) fest. Mittels der Gleichheit wird sichtbar gemacht, durch den Unterschied hindurch wird gesprochen. … Das zweite Prinzip, das die Malerei lange Zeit beherrscht hat, behauptet die Äquivalenz zwischen der Tatsache der Ähnlichkeit und der Affirmation eines Repräsentationsbandes. Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, 25
Das allegorische Moment der Fotografie beruht auf ihrem fragmentarischen Charakter. So scheint eine Fotografie „schlecht“ zu sein, in der Elemente und Spuren zu sehen sind, die sich nicht als „Sachen“ identifizieren lassen. Unschärfen und Verdeckungen sind ebenfalls zu vermeiden. Die Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten soll gewahrt bleiben. Die Fotografie offenbart den Zwangscharakter der Reinheitsneurose. Sie verrät – außer in der Wahl des Motivs – nicht die Individuation einer Handschrift. Die Allegorie und die Freiheit gehören deswegen zusammen, weil die Allegorie nicht auf Identität der rhetorischen Versionen, sondern auf den Profit der Differenz setzt Frage [Interviewer]: Sie sprachen eben von so etwas wie einer Blickfalle, ist damit ihr Photoapparat gemeint? Jacques-Henri Lartigue [Antwort]: Nein, überhaupt nicht, das liegt weiter zurück, es ist etwas, das ich als kleines Kind machte. Ich schloß die Augen halb und ließ nur einen kleinen Schlitz offen, durch ihn betrachtete ich intensiv das, was ich sehen wollte. Dann drehte ich mich dreimal um die eigene Achse und glaubte so das Angeschaute eingefangen zu haben. Ich dachte, es wäre mir in die Falle gegangen und ich könnte es beliebig lange behalten,
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und zwar nicht nur das Gesehene, sondern auch Gerüche und Geräusche. Mit der Zeit merkte ich natürlich, daß das nicht funktionierte, und erst da habe ich technische Hilfsmittel verwendet, um dasselbe zu erreichen… Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, 11 Paraphrasierung eines Interviews mit Jacques-Henri Lartigue
Eine menschlichere Darstellung der Erfindung der Fotografie kann es kaum geben. Sie übertrifft die anthropologische von Leroi-Gourhan in „Kopf und Hand.“ Lartigue macht zwischen der Kamera, der Kopfgeburt und dem Körpergedächtnis keinen Unterschied. Denn, was bleibt, wenn wir die Kamera betrachten: etwas zutiefst Unverstandenes, eine leere Drehung, ein obskurer Vorgang, ein Diskurs wechselseitiger Metaphorisierung. Solange die Allegorese des Wirklichen andauert, der Schwindel funktioniert, solange muss ein Wissen das zweifelnde Gedächtnis ersetzen. Und die Allegorie erarbeitet asymmetrisch ein ikonoscripturales und ein scripturalikonisches Wissen. Noch Lessing läßt in seinem Theaterstück Emilia Galotti den Maler Conti in die Klage darüber ausbrechen, daß er ein Handwerk ausüben muß und nicht gleich „unmittelbar mit den Augen malen“ kann, denn: „Auf dem langen Weg, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!“ Michael Wetzel, „Ein Auge zuviel“, 131
Man müsste also mit den Augen fotografieren können: „automatisches Sehen“. Seit langem haben die jüngeren Generationen Schwierigkeiten zu verstehen, was sie lesen, weil sie nicht in der Lage sind, sich das Gelesene vor-zustellen, sagen die Lehrer… Für sie haben die Worte aufgehört, Bilder hervorzurufen, weil die immer schneller wahrgenommenen Bilder die Worte ersetzen müßten, wie die Photographen, die Stummfilmer, die Propagandisten und die Publizisten zu Anfang des Jahrhunderts gemeint haben. Heute ist nichts mehr da, was sie ersetzen könnten, und die Analphabeten und Dyslexiker des Blickes werden immer mehr. Paul Virilio, Die Sehmaschine, 29
Wenn man sich indessen die ersten „Sonnenschriften“ oder „heliographischen Bilder“ [von Niépce] genauer ansieht, so erkennt man weniger
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die Gegenstände, die farblos und kaum zu unterscheiden sind, sondern vielmehr eine Art von Leuchten, eine Fläche, die eine starke Leuchtkraft ausstrahlt. Paul Virilio, Die Sehmaschine, 53
Wirklichkeit – das ist die Erscheinung als solche. Sie wechselt mit Sichtweisen und Lesarten, ist aber jeweils mit ihnen fest verbunden. Jedes Ding, jedes Stück Realität erscheint auch jeweils und hat damit seine Wirklichkeit … Das Wesen des Bildes spielt in dieser Differenz zwischen Realität und Wirklichkeit. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, 9
In der Formalen und transzendentalen Logik, dann in der Krisis … hat Husserl die sprachliche Objektivierung und die mathematische Symbolisierung als technizistische und objektivistische Veräußerlichung dargestellt, die die Wissenschaft zu einer Kunst oder einem Spiel degradieren. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 130f
„Spiel“ ist hier im Sinne eines „Spielballs“ zu verstehen. Etwas hat Spiel: Es bewegt sich frei in einer Bindung. Da die Verschriftung ein Merkmal der Objektivierung (Absenz des Subjekts) ist, ist die Wissenschaft an die Formalisierung und grammatologische „Sedimentierung“ der je geschichtlichen Schrift, heute der Programmierschriften gebunden. Die Exaktheit mathematischer Beweisbarkeit (Identität) wird in die Freiheit einer rechnerisch hinreichenden Genauigkeit übersetzt. So ist ein Foto auch keine objektive Reproduktion eines Gegenstandes oder Sachverhalts, sondern eine Annäherung, die unter Kenntnis der optischen und physikalischen Gesetzmäßigkeit realistisch bewertet werden kann. Wenn man das alles zusammennimmt, so ist es schon erstaunlich, daß wir, ein Foto betrachtend, davon überzeugt sind, daß es uns die Dinge und die Welt so zeigt, wie wir sie sehen. Da ist es nur ein Schritt bis zur normativen Umkehrung, nämlich der Auffassung, daß die Fotos uns die Welt und die Dinge so zeigen, wie wir sie eigentlich sehen sollten – aber nur aufgrund der Schwäche und des unsteten Wesens und unserer interessegeleiteten Aufmerksamkeit nicht hinreichend zu sehen vermögen. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, 124
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Wenn Äquivozität faktisch nie reduzierbar ist, so weil Wörter und Sprache nie absolute Gegenstände sind und es auch nie sein können. Sie haben keine resistente und … dauerhafte, absolut eigene Identität. Sie verdanken ihr sprachliches Sein einer Intention, die durch sie hindurchgeht. Das „selbe“ Wort ist immer „anders“, gemäß den jeweils verschiedenen intentionalen Akten, die aus ihm ein bedeutendes Wort machen. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 138
Unser Begriff von Identität ist geformt von der Schrift, die wir benutzen. Martin Burckhardt, Unter Strom, 28
Die Äquivozität von Bild/Sprache/Schrift entspricht nicht der Simultaneität der fotografierten Dinge. Die allegorische Differenz geht in der Regel verloren, die Welt wird einfach. Der Augenblick versammelt, der nächste Moment verstreut. Die allegorische Verlebendigung des Abgebildeten widerspricht der Fixierung des fotografisch Stillgestellten. Während die wissenschaftliche Identität mit der Bedeutungsdifferenzierung wächst, nimmt die Wahrheit der Abbildung ab. Aber jedesmal, wenn ich mir das Foto wieder vornehme, verschiebt sich sein Erinnerungswert. Die allegorische Differenz betrifft eine Verwandlung präsentischer Dauer, einem Satz, nicht einer räumlichen Kombinatorik aus Bild und Begriff. Was ein Bild jeweils ist, definiert sich nicht, wie in der klassischen Epoche des Bildes, durch den Referenten, sondern vielmehr durch die Art des Gebrauchs. Damit löst die Bildpragmatik den Vorrang der Semiotik in der Bestimmung und wissenschaftlichen Bearbeitung der Bilder ab. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, 133
Ein Zeichen liegt immer dann vor, wenn eine menschliche Gruppe beschließt, etwas als Vehikel von etwas anderem zu benutzen und anzuerkennen. … Man müsste von hier an klären, was eine Konvention ist. Umberto Eco, Semiotik, 40
Es ist zu klären, wie eine Konvention durch Gebrauch näherungsweise zustande kommt. Verfängt hier das Muster der ödipalen Familiarisierung oder der Clans – oder ist es der Fremde, der den Widerstand bringt und Eindruck macht, jemand – mit dem man
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nicht rechnet und mit dem man nicht sprechen kann? „Gruppe“ ist schon eine Konvention – eine wie auch immer natürliche Einheit der Produktion und der Konsumation in einer gegebenen Situation. Die Urschrift ist also vermutlich, wie Derrida behauptet, an die Organisation des Leibraums der Gruppe, der Konstitution eines wirklichen Raums und einer berechenbaren Zeit gebunden: der Ur-Schrift. Wenn ich Peter auf dem Foto wahrnehme, so bringe ich ihn dorthin. Und wie anders könnte ich ihn dorthin bringen als durch eine besondere Intention? … Man kann sich drei einander folgende Zustände des Erfassens vorstellen: Foto, Foto eines auf einer Treppe stehenden Mannes, Foto von Peter. Es kommt aber auch vor, daß die drei Zustände sich bis zur Deckung nähern; es kommt vor, daß die Fotografie nicht als Objekt fungiert und sich unmittelbar als Bild darbietet. Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 65
Wir werden also die images (Bilder, Vorstellungen) unterscheiden, deren Materie der Welt der Dinge (Illustrationen, Fotos, Karikaturen, Parodien usw.) oder der geistigen Welt (Bewegungsbewußtsein, Gefühle usw.) entliehen ist. Es gibt Zwischenstufen, die uns Synthesen aus äußeren und aus psychischen Elementen präsentieren, so etwa wenn man ein Gesicht in der Flamme sieht, in den Arabesken einer Tapete … Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, 66
Sartres frühe phänomenologische Untersuchung geht noch nicht von einem Kontinuum der medialen Transformation aus. Hier gilt der Imperativ: Die Ästhetik ist der Ort der Nichtunterscheidung von Realem und Imaginären. Umso mehr hängt der differentielle Wert einer Interpretation von einer Verdopplung und Objektivierung der Welt in Diskurse und Handlungen ab. Ich habe darauf hingewiesen, daß ich nicht Objekt für ein Objekt sein kann: es bedarf einer radikalen Verwandlung des Anderen, die ihn aus der Gegenständlichkeit entläßt. Ich kann also den Blick, den der Andere auf mich wirft, nicht als eine der möglichen Bekundungen seines objektiven Seins betrachten … Das „Vom-Anderen-gesehen-werden“ ist die Wahrheit des „den-Anderen-Sehens“. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 343
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Diese Passage aus Sartres berühmter Darstellung des Blicks schließt den Voyeurismus und den Exibitionimus in die Kategorie der Verdinglichung ein. Die Verdinglichung des Anderen ist eine andere Tatsache als die der Objektivierung. Für das fotografische Portrait bedeutet dies: Der Blick des Menschen ist die einzige Wirklichkeit, die der Kamera entgeht; sie ist aber auch genau diejenige, die der Kamera selbst magischen Status des Blicks zugesteht. Denn wer fotografiert, sieht nicht die Kamera, er sieht ihren Blick. … die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Anderen und mich selbst am Ziele dieses Blickes, sie bewirken, daß ich die Situation eines Erblickten erlebe, nicht erkenne. Die Scham aber ist … Scham über sich selbst, sie ist Anerkennung des Tatbestandes, daß ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 348
Sartre referiert darauf, dass er sich bei einer heimlichen Beobachtung (Blick durch ein Schlüsselloch) selbst zum Objekt seiner Begierde gemacht hat und sich bei der Entdeckung als dieses Objekt durch den Anderen erlebt. Das Scham-Symptom des Errötens versucht einen Ausweg aus dem Dilemma der Selbstobjektivierung anzustreben (erhöhter Blutdruck und Puls etc.). Denn diese Selbstobjektivierung der Scham ist – wie jedes Symptom – eine inverse Form der Selbstverdinglichung. Das Symptom ist eine Akzeptanz der zu nichts führenden Abwehrsituation. Denn nichts wird den Anderen davon überzeugen, dass ich nicht wirklich nur das Bild bin, das sich dem Anderen gibt. Niemals kann ich meine Erscheinung von mir isolieren. Oft ist es ein schamhafter Moment, die Kamera auf jemanden zu richten. Gestützt auf die Terminologie der neueren Filmtheorie können wir in der Fotografie vier Grundtypen von Blicken unterscheiden: den Blick der Kamera, die das „prae-fotografische“ Ereignis fotografiert; den Blick des Betrachters, der das Foto anschaut; die intra-diegetischen Blicke, die zwischen den auf der Fotografie abgebildeten Menschen (den Akteuren/Schauspielern) ausgetauscht werden (bzw. die Blicke, die die Akteure auf die Objekte richten); und der Blick des Akteurs in die Kamera. Victor Burgin, „Fotografien betrachten“, 257
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Da der Blick ein soziales Phänomen ist, kann er kulturell exponiert werden. Er geht, wie die Geste, von Körpertechniken aus. Die Wissenschaftsgeschichte … begünstigt die Hypothese, daß „Sehen“ ebensowenig als eine anthropologisch-universelle, transkulturelle Tätigkeit interpretiert werden muß wie Denken oder Sprechen. Sehen kann vielmehr als eine historisch-kulturelle Praxis gedeutet werden, die in zahlreichen Varianten aufzutreten vermag: daraus ergibt sich, daß es keine prinzipiell „richtigen“ oder „falschen“ Sehtheorien gibt, sondern lediglich Sehtheorien, die bestimmte Praktiken und Techniken des Sehens … ermöglichen oder ausschließen. Thomas Macho, „Ist mir bekannt, daß ich sehe?“, 217
Hatten nicht schon da Vinci und Dürer mit allerlei optischen Apparaturen herumgespielt, um sich ihre Arbeit zu erleichtern? Wahrscheinlich hätten sie sich auch ohne Bedenken der Kamera bedient, um sich die Stunden mühseligen Zeichnens zu ersparen. In meinem Fall waren die Werke schon vorhanden; es ging nicht darum, die Kamera innerhalb des Schaffensprozesses einzusetzen, sie war nur ein Mittel, um das Ergebnis festzuhalten. Ich kaufte mir eine Kamera, einen Satz Filter, die wie man mir sagte, notwendig seien, um Farben in Schwarz und Weiß zu übersetzen, und die passenden Fotoplatten. Gemäß den Anleitungen, die dem Material beilagen, brachte ich meine Platten zum Entwickeln und Abziehen in die Stadt. Überraschenderweise waren die Ergebnisse sehr befriedigend. Man Ray, Selbstporträt, 53
Von der Malerei zum Gebrauch der Fotografie. Man Ray 1915, im Alter von 25 Jahren. Die Beiläufigkeit dieses Berichts sagt mehr über die Fotografie als der Diskurs über ihre künstlerische Qualität. Der Eiffelturm ist ein Objekt, das sieht, ein Blick, der gesehen wird, ein vollständiges, gleichzeitig aktives und passives Verb, dem keine Funktion fehlt. Diese Dialektik ist keineswegs banal, sie macht aus dem Eiffelturm ein einzigartiges Monument; denn gewöhnlich bringt die Welt entweder rein funktionelle Organismen hervor (Kamera und Auge), dazu bestimmt, die Dinge zu sehen, nicht aber sie dem Blick darzubieten, weil was sieht, mythisch betrachtet, mit dem verbunden ist, was verborgen bleibt
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(das Thema des Voyeurs), oder aber Schauspiele, die selbst blind sind und in der puren Passivität des Sichtbaren belassen werden. Roland Barthes, Der Eiffelturm, 12
Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt. Als betrachtetes und betrachtendes Schauspiel, nutzloses und unersetzbares Bauwerk, vertraute Welt und heroisches Symbol, Zeuge eines Jahrhunderts und immer wieder neues Monument, unnachahmbares und unablässig reproduziertes Objekt, ist er das reine Zeichen, offen für alle Zeiten, für alle Bilder und alle Bedeutungen, die ungehemmte Metapher. Roland Barthes, Der Eiffelturm, 63
Ventil des Imaginären in der Welt realistischen Funktionierens. Empfänger, Sender, Projektor.
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XXXII. DAS GEDÄCHTNIS UND DIE URSPRÜNGLICHE SPUR Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung werden kann, ist virtuell, wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohr. Die Systeme aber, die selbst nichts Psychisches sind und die unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden, sind wir berechtigt anzunehmen gleich den Linsen des Fernrohrs, die das Bild entwerfen. In der Fortsetzung dieses Gleichnisses entspräche die Zensur zwischen zwei Systemen der Strahlenbrechung beim Übergang in eine neues Medium. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, GW Bd. II/III, 615f Zitiert nach Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 328
Der Freud der „Traumdeutung“ hält sich noch an die Idee einer optischen Maschine und der Erinnerung als eines Bildes. Zunehmend wird er den naturwissenschaftlich-medizinischen Metaphern misstrauen und die Funktion des Schreibens als Gedächtnisaufzeichnung präferieren. Jede Metapher sagt uns, dass es keine unmetaphorische „Eigentlichkeit“ gibt, sondern nur Verschiebungen, Aufschub. Wenn ich meinem Gedächtnis mißtraue, – der Neurotiker tut dies bekanntlich in auffälligem Ausmaße, aber auch der Normale hat allen Grund dazu
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– so kann ich dessen Funktion ergänzen und versichern, indem ich mir eine schriftliche Aufzeichnung mache. Die Fläche, welche diese Aufzeichnung bewahrt, die Schreibtafel oder das Blatt Papier, ist dann gleichsam ein materialisiertes Stück des Erinnerungsapparates, den ich sonst unsichtbar in mir trage. Wenn ich mir nur den Ort merke, an dem die so fixierte „Erinnerung“ untergebracht ist, so kann ich sie jederzeit nach belieben „reproduzieren“ und bin sicher, daß sie unverändert geblieben, also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in meinem Gedächtnis erfahren hätte. Sigmund Freud, Notiz über den „Wunderblock“, 3
Zunächst ist alle Aufzeichnung Urschrift, Gramma, Gravur, Widerstand, Verdichtung. Aber man bemerkt sogleich die Schwierigkeit: Es müsste nun ein Gedächtnis geben, in dem die Gedächtnisdaten selbst gespeichert wären. Aber das Gehirn ist kein Archiv der Erinnerungen. Also müssen die Erinnerungen untereinander eine Struktur wechselseitiger Bindung über ein aktuelles Außen eingehen. Der Index der Erinnerungen ist die Außenwelt im praktischen Rahmen einer geübten Gegenwart (Körpergedächtnis). So wird jede Wahrnehmung durch die Erinnerung (geistige Erkenntnis und körperliche Erfahrung) und jede Erinnerung durch Wahrnehmung skandiert. Wir erhalten ein parallel schwingendes System, einen Schwingkreis. Der Gedächtnisort müsste sich zudem durch seine absolute Reinheit auszeichnen („Blatt Papier“). Er wäre die reine Spur. Der Ort, den ich mir merken müsste, um an die Erinnerungen zu gelangen, wäre also nicht einmal ein Ort, sondern nur die „leere“ Zeit, also die Nachbarschaft der Ereignisse. Die Grenzen der Ereignisse aber sind gemäß der Aufmerksamkeit fließend. Erinnerungen sind an die Motivation durch Wahrnehmung gekoppelt und umgekehrt. Unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren scheinen sich also für die Vorrichtungen, mit denen wir unser Gedächtnis substituieren, auszuschließen, es muß entweder die aufnehmende Fläche erneut oder die Aufzeichnung vernichtet werden. Sigmund Freud, Notiz über den „Wunderblock“, 4
Ein Blatt Papier ist schnell vollgeschrieben, eine Tafel kann immer wieder ausgewischt werden. Die Kapazität des Speichers ist begrenzt
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– wie löst man das Dilemma medientechnisch? Durch Selektion der Differenzialität der Reize, technisch durch Komprimierung; z.B. werden in einem digitalen Bewegungsbild nicht mehr die Einzelbilder, sondern nur noch die Veränderungen der Bilder untereinander übertragen. Ich ließ also die Unterbrechungen, die beim Wunderblock von außen her geschehen, durch die Diskontinuität der Innervationsströmung zustande kommen, und an Stelle einer wirklichen Kontaktaufhebung stand in meiner Annahme die periodisch eintretende Unerregbarkeit des Wahrnehmungssystems. Ich vermutete ferner, daß diese diskontinuierliche Arbeitsweise des Systems Wahrnehmung-Bewußtsein der Entstehung der Zeitvorstellung zugrunde liegt. Sigmund Freud, Notiz über den „Wunderblock“, 8
Es ließe sich leicht denken, dass die Analogie, die Freud vorstellt, in elektronischen Systemen durch eine Amplituden- und eine Frequenzmodulation ausgedrückt werden kann. Die eine Modulation kennzeichnet den Sender (Medium) als solchen, die andere den Inhalt der Sendung in diskontinuierlichen Sinuskurven. Die Trennung von Signal und Differentialität des Signals gab es in der Mediengeschichte schon früher: Das Kommando „Achtung Aufnahme!“ gibt es heute nur noch beim Film. Der Telegraf bedurfte zuerst einer eigenen Klingelleitung, um die Sendung anzukündigen. Ebenso sind Glocken ein besseres Zeitsignal, weil sie den Raum durchdringen, als die Uhr, die Blickkontakt verlangt. Was an der Fotografie imponiert: Jedesmal, wenn man ein altes Foto betrachtet, verändert sich die Zeitvorstellung. Es ist der Erinnerungswert der Erinnerung selbst, der sich wandelt. Denn die Erinnerung ist ein aktuelles Geschehen. In der Differenz der Bahnungen besteht der wirkliche Ursprung des Gedächtnisses und somit des Psychischen. Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 308
Derrida stellt die Frage inwieweit Freud den Begriff der Spur im Sinne seiner Grammatologie vorgedacht hat. Freuds Begriff wandelt sich vom Versuch des naturwissenschaftlichen Nachweises hin zu einer
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linguistischen Problematisierung. Die Lokalisationstheorie, die das Gedächtnis (im Gehirn) verorten will, wird früh vom Neurologen Freud aufgegeben. … es gibt keine Wahrnehmung vor der Möglichkeit der prothetischen Wiederholbarkeit … Es gibt bereits in der Wahrnehmung Verfahren der Auswahl, der Belichtungsdauer, des Filters, der Entwicklung; der psychische Apparat funktioniert auch wie ein fotografischer Einschreibungs- und Archivierungsapparat. Erinnern wir uns an den Wunderblock von Freud. Was ich darüber vor langer Zeit zu sagen versucht habe, und zwar in Bezug auf die Schrift, betraf genauso die Fotografie. … Was man als ein Spiel von Schatten und Licht beschreibt, ist schon eine Schrift. Jacques Derrida, Die Fotografie als Kopie, Archiv, Signatur, 287
Für Freud wird also die Psyche als eine Apparatur projeziert, deren Materialität es erlaubt, Spuren jenseits des Taglebens unseres Bewusstseins aufzubewahren. Und als Modell dieser Materialität dient Freud die sich einritzende Gravur der Schrift … Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 80
Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. … Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 226
Benjamin argumentiert hier in der Nähe dessen, was Sartre „Riss im Sein“ nennt und womit er das Bild charakterisiert. Heidegger argumentiert in gleichem Sinne, wenn er die Zeit von Kant ausgehend als „ursprüngliche (transzendentale) Einbildungskraft“ bezeichnet. Da die Zeit eine Gabe ist, konstituiert sie das, worin sie sich einschreibt als eine Nachträglichkeit. Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen … G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, §258 Zitiert nach: Jacques Derrida, Ousia und Gramme, 70
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Das Leben schützt sich zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs … Die Verspätung also ist ursprünglich. … Die Ursprungslosigkeit ist es, die ursprünglich ist. Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 311f
Erst durch Verspätung ist Zeit erlebbar, so auch beim Foto: Der Zeitpunkt der Aufnahme erscheint als aktuell nur bei der (späteren) ersten Ansicht des entwickelten Fotos, als Erinnerung – selbst im Polaroid. Offensichtlich ist der Terminus „Wahrnehmung“ ein illusionärer: Die reine, aktuelle Wahrnehmung gibt es nur um den Preis eines Traumas. Das Zeiterlebnis ist ein Effekt des Gedächtnisses als ursprungslosen Ursprung. So ist zu verstehen, wie Derrida mit Freud, den Begriff „Urszene“ interpretiert: Für Freud muss die innere Spur eine passive Aktivität sein. Noch in der Schrift Der Wolfsmann (1918) konnotiert Freud die Bewusstwerdung an die erste Beobachtung eines sexuellen Vorgangs, während doch die Bewusstwerdung selbst das Trauma des Erwachens ist, da das Bewusstsein ebenso unverfügbar ist wie der Traum. Wenn die Spur geschieht, reproduziert und dekonstruiert sie unablässig ein Unbewusstes. … es wird – als ob Freud nichts dazugelernt hätte – dieselbe Enttäuschung erlebt angesichts dessen, daß das allerletzte Ereignis, die „Szene“, sich entzieht. Parallel dazu macht es jedoch die Entdeckung des Unbewußten als eines strukturierten Feldes, das einer Rekonstruktion deshalb zugänglich ist, weil es selbst ordnende Aktivität, Dekomposition und Komposition von Elementen nach bestimmten Gesetzen ist, möglich, die Suche nach dem Ursprung in einer neuen Dimension zu entfalten. Jean Laplanche/J.-B. Bertrand Pontalis, Urphantasie, 35
Diese Szene, der Ursprung der „Schriftstruktur“, soll erfahren werden wie eine Fotografie: Das Ansehen des Fotos ist grundsätzlich von der Szene der Aufnahme getrennt. Aber wir können auch sagen: Die wirkliche Szene ist erst das angesehene Foto; denn dieses Erinnerungsbild ist etwas anderes als die wirkliche Präsenz, die wir vielleicht weder wahrgenommen noch in Erinnerung behalten haben. Nur das Foto hält einen rein äußeren Aufnahmemoment fest. Die Malerei/ Zeichnung versammelt ihrer viele, und der Text universalisiert, formalisiert und neutralisiert alle diese Blicke in der Schrift.
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Auch in ihrem Inhalt, in ihrem Thema (Urszene, Kastration, Verführung … ) verweisen die Urphantasien auf dieses rückwirkende Postulieren: sie beziehen sich auf die Ursprünge. … Urphantasien: in der Urszene wird der Ursprung des Individuums bildlich dargestellt … Jean Laplanche/J.-B. Bertrand Pontalis, Urphantasie, 42
Die Urszene ist der Abwehrvorgang der Technisierung selbst. Welt ist immer schon im Rhythmus einer szenischen Folge stabilisiert, die das Imaginäre strukturiert. Und Bewusstwerdung heißt, die Freiheit zu haben, eine Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Realen fällen zu können und das ästhetische Spiel als Aufhebung dieser Trennung zu akzeptieren. Man sagt, das Subjekt lebe seine Träumerei. Umgekehrt ist der Pol der Urphantasie gekennzeichnet durch das Fehlen der Subjektivität, einhergehend mit der Präsenz des Subjekts in der Szene … Jean Laplanche/J.-B. Bertrand Pontalis, Urphantasie, 50
Spiel der Inszenierung: Das Kind lebt in seinem Spiel wie der Schauspieler im Stück. Und auch der im Foto Porträtierte inszeniert sich für die Kamera, um anzuzeigen, dass er mit sich selbst identisch ist, was gerade zum Ausdruck des Unbehagens seiner Selbstspaltung (Bewusstsein von sich als fotografiertem Objekt) führt. Urkonflikt … Die Phantasie ist jedoch nicht das Objekt des Wunsches, sondern sie ist Szene. In der Phantasie richtet sich das Subjekt nämlich nicht auf das Objekt oder auf dessen Zeichen, sondern es kommt darin selbst vor, eingefangen in der Sequenz der Bilder. Jean Laplanche/J.-B. Bertrand Pontalis, Urphantasie, 58
Die Urszene der Psychoanalyse ist die jedesmalige Verkörperung der Trennung von Individuellem und Allgemeinen, deren Objektivierung die Urschrift, also die Vermitteltheit oder Selbstvermittlung aller menschlichen Beziehungen ist. Die Fotografie produziert die Disparatheit von Wirklichkeit in Realitätseinheiten, die Zeitdaten tauschbar machen, und zwar auch entgegen und invers zu einem Zeitstrahl. Die Fotografie ist ein „Es-wirdso-gewesen-sein“. So spielt jeder Fotografierende die Urszene seines
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Urkonflikts nach, um sie sogleich als Realität auf Distanz zu halten – „so nah sie auch sein mag.“ Urschrift, Urszene, Urbild – die Vorsilbe „Ur“ meint, die Ahnung dessen zu haben, was jeglicher Vermittlung als Illusion eines Unvermittelbaren, dem Tod, vorausgeht. „Ur“ ist stets genealogisch zu intendieren, nicht historisch. Und wenn [Freud] die Neurologie und die anatomischen Lokalisierungen aufgeben wird, dann nicht, um von seiner topographischen Beschäftigung abzulassen, sondern um sie neuzugestalten. In diesem Augenblick tritt die Schrift in Szene. Aus der Spur wird das Schriftzeichen (gramme) und aus dem Milieu der Bahnung eine chiffrierte Verräumlichung. Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 315
Die topographische Tendenz ist durchaus eine strukturale. Die Fotografie, die alles auf eine Ebene der Gleichzeitigkeit und der Staffelung der Perspektive rückt, soll ebenso gelesen werden. Tatsächlich gibt es keine Totalisierung: weder der überblickten fotografischen Fläche, noch dem Nu der Zeit nach. Der Blick springt differentiell, er liest und schafft auch unabhängig von der Vor-Schrift seine Freiheit. Der Buchstabe ist im Grunde nur ein paradigmatischer, arbiträrer Brückenkopf, weil der Diskurs beginnen muß (ein Zwang, der noch nicht eingehend untersucht worden ist) … Roland Barthes, Der Geist des Buchstabens, 108
… aber die Schrift ist unteilbar: Das Diskontinuierliche, auf dem sie überall beruht, macht aus allem, was wir schreiben, malen, zeichnen, einen einzigen Text. Roland Barthes, Der Geist des Buchstabens, 109
Die Fotografie bewirkt nicht mehr ein Bewußtsein des Daseins der Sache (das jede Kopie hervorrufen könnte), sondern ein Bewußtsein des Dagewesenseins. … Der Film wäre dann keine bewegte Fotografie; in ihm verschwände das Dagewesensein zugunsten eines Daseins der Sache; das würde erklären, daß es eine Geschichte des Films ohne wirklichen Bruch mit den früheren Künsten der Fiktion geben kann … Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, 39f
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Barthes geht vom Kinofilm einerseits und von der Erinnerungsfotografie andererseits aus. Wie ist aber das Verhältnis von Lifeaufnahme und inszenierender Fotografie? Hier wäre die Rezeptionshaltung anders. Es bleibt stets ein verkürzender Idealismus, von der Fotografie und dem Film zu sprechen. Die Zeitlichkeit als Verräumlichung ist nicht nur die horizontale Diskontinuität in der Kette der Zeichen, sondern die Schrift als Unterbrechung und Wiederherstellung des Kontaktes zwischen den verschiedenen Tiefen der psychischen Schichten, der dergestalt heterogene zeitliche Stoff der psychischen Arbeit selbst. In ihr findet man weder die Kontinuität der Linie noch die Homogenität des Volumens wieder, sondern die differenzierte Dauer und Tiefe einer Szene, ihre Verräumlichung. Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, 342
Lesarten von Zeichengewebe, Texturen. Hier gibt es keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen Bild und Schrift. Die Verweildauer, die Sprünge, die Elementarität und Rhetorik der „Zeiträume“ können variieren und sind medienspezifisch. Wir haben ein Mandelbrot’sches Phänomen: Was immer wir messen – es muss auf das menschliche Maß zurückgeworfen werden. Für die Vokalschrift hat sich als Einheit der Satz ausgebildet, für das Foto vielleicht die Größe eines Briefblattes: Daguerreotypien sind eher Miniaturen (Handybilder!), auch die 6 x 9 Zentimeter Kontaktabzüge der Rollbox sind noch etwas klein. Wenn ich ein Foto lese, dann müsste es etwa die Größe einer kleinen Zeitschrift, eines Buchformats haben. In der Tat sind Fotobücher immer etwas größer als Romane, während die elektronische Malerei der ausgestellten Künstlerformate in Quadratmetern zu messen ist (Gursky und der Witz des Details im Kontext des Großen – eine primitive Form, mit Fotografie umzugehen – eine neue für die Kunstindustrie). Selbst wenn wir ein fünf Meter breites Foto mit der Lupe untersuchen, werden wir heute keine Pixel und kaum Druckspuren erkennen können. Das erinnert an die Stereoanlagen, die Frequenzen über 25 000 Hertz übertragen, die wir gar nicht hören können. Und dennoch glauben wir, dort draußen eine authentische und verbindliche Welt wahrzunehmen.
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XXXIII. VOM ZEIGEN: DIE NATUR DER SPUR Die Szene, die politische, soziale, psychologische Szene, auf der Etwas ein anderes Etwas repräsentierte und dadurch für jemanden einen Sinn hatte (ich verwende absichtlich schwere und lächerliche Begriffe, um das zu verdeutlichen) – und damit einen Sinn bekommt, ist eine Szene nötig, und damit es eine Szene gibt, ist eine Illusion nötig, ein Minimum an Illusion, das heißt an Einsatz, an imaginärer Bewegung, an Herausforderung ans Reale, die einen hinreißt, einen verführt, einen aufbringt … und diese Szene, diese minimale Illusion sind uns entschwunden. Jean Baudrillard, Die Szene und das Obszone, 282
Die Szene der Fotografie, die Szenen des Fotografierens – die Szene des Beharrens auf Nichtinszenierung im Zeitalter der Medienillusionen: Wahrheit, Wirklichkeit, Authentizität als Kampfbegriffe.
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Die szenische Illusion, untrennbar vom Fest, ist darin vollkommen, ist verbunden mit Wasserspielen, Feuerwerken, maschinellen Wunderwerken (hier, in der theatralischen Illusion, und nicht etwa in der Produktion entstehen die großen mechanischen Techniken). Jean Baudrillard, Die Szene und das Obszöne, 285
Von der Camera obscura über das Diorama zur Digitalkamera – was ist der Unterschied zwischen Illusion und Technik? Die Illusion lässt uns mehr sehen als sie zeigt; der apparativen Technik fehlt das Zeigen. Sie verdeckt sich hinter dem Mythos der Form, des Designs, der Oberfläche, der zeichenhaften Werte. Es ist wirklich bemerkenswert: Philosophen, die sich einerseits explizit für eine Gebrauchstheorie des Bildes stark machen, meinen andererseits, dass sich beim fotografischen Bild dann doch von einem Zeigen ohne menschliches Zutun sprechen lässt. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 198f
Das spricht gegen die Fotografie als „natürliches Zeichen“. Das Fotografische und der Aufnahmeapparat (und -vorgang) verschwinden hinter der Dominanz einer Wahl des Fotografierten. Eine Entdeckung der Inszenierung der Wahlmöglichkeiten wäre einzuleiten. Was wäre, wenn man den Eiffelturm nur gebaut hätte, um ihn zu fotografieren? – Wir würden ihm jede Authentizität absprechen müssen. [Natürliche Zeichen] … Es würde bedeuten, dass es in der Welt Dinge gäbe, die automatisch, einzig aufgrund ihrer Genese Zeichen wären … Nicht erst in der Kultur, sondern schon in der Natur gäbe es das Phänomen, dass etwas etwas zeigt. Das Zeigen müsste dann eigentlich auch zu einem Forschungsgegenstand der Physik werden. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 199f
Auch Geschenke existieren wie Zeichen nicht aufgrund des Vorhandenseins von physischen Eigenschaften, sondern weil etwas in einer Gemeinschaft eine soziale Funktion erfüllt – und das gilt auch für Spuren, und zwar aus einem fast trivialen, weil letztlich rein analytischen Grund: Spuren sind Zeichen. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 201
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Sind sie nicht eher präsemiotisch? Spuren, die beim Gehen im Sand hinterlassen werden, sind weder absichtlich noch unabsichtlich, sondern eine irreduzible Notwendigkeit, die nicht auszuschalten ist, wie Träume nicht auszuschalten sind. Wenn alles zum Zeichen wird, macht es keinen Sinn mehr, den Begriff „Zeichen“ zu verwenden, der eine bestimmte Form der Substitution meint, die an die Differenz von Abwesenheit und Anwesenheit und an die Vorstruktur von Räumlichkeit und Gegenwart appelliert: Zeichen sind kreditiert an Zukunft. So müssen wir jedes Zeichen vom Aufschub des Todes her denken. Und der Tod ist bekanntlich kein Zeichen, das auf etwas verweist und das sich ankündigen kann: Der Tod ist notwendig. Über ein qualmendes Lagerfeuer lassen sich zwei kategorial unterschiedliche Sätze behaupten: Einerseits: Der Qualm ist eine Wirkung des Feuers, aber andererseits auch: Der Qualm ist eine Spur des Feuers. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 201
Aber ist nicht die Nutzung des Feuers schon Technik, sodass die Kausaltheorie der Bedeutung ausfällt, ganz gleich, ob ein Feuer Rauch erzeugt? Sofern ich also Raum als etwas Ideelles ansehe, befinde ich mich auf der Ebene der Spuren, nicht auf der der physikalischen Wirkungen. Für die Fotografie gilt das gleiche: Ein Foto zeigt die Spur, weil es gemacht ist, um zu zeigen, dass etwas aus der Natur seines Seins herausgehoben werden kann, dass es die Einheit der Natur nicht gibt. Aber die Konventionalität der Fotografie führt dazu, dass wir das Machen selbst als einen automatischen, physikalisch notwendigen Vorgang ansehen und ihn ganz aus der Fotografie ausblenden. Der Begriff der Spur lässt sich definieren: Ein Ding ist dann und zwar genau dann eine Spur von etwas, wenn dieses Ding erstens eine physikalische Wirkung von diesem Etwas ist und wenn zweitens jemand dieses Ding als Zeichen für die Ursache dieser Wirkung nimmt. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 202
Der Begriff „Ursache“ setzt dann allerdings eine ideologische Form der Wissensgenerierung voraus. Statt der Kausalität der Kräfte könnte ich auch ein Anhänger der mittelalterlichen Impetustheorie oder der Magie sein. Und wieder sind die fraktalen Dimensionen zu beachten:
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Wo ist die letzte Ursache und wie viele Ursachen gibt es, die einem Effekt vorausgehen? Wer entscheidet: das Subjekt, die Situation, die Konvention, der Kontext? Die Idee der Ursache ist eigentlich eine mythische Kategorie, der der genealogische Begriff „Ur-Sprung“ – im Sinne der Entfaltung und Erhellung raumzeitlichen Daseins – vorzuziehen ist. Der Praxis des Zeigens mit Fotografien ist ein unumgänglicher Dezisionismus inhärent: ein Akt der Entscheidung und Festlegung. Man könnte auch sagen: ein Akt des Bedeutungswillens. Denn jede Behauptung, dass irgendetwas eine Spur von irgendetwas ist, ist das Produkt einer Entscheidung oder Auswahl: nämlich der Auswahl einer Ursache als die von der Spur gemeinten Ursache. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 205
Wäre die Auswahl einer Ursache mit der Verleihung der Bedeutung identisch? – eine Vermutung. Wäre der Sinn somit eine in die Zukunft verlagerte Antizipation einer Vergangenheit, da alle Ursache in der Vergangenheit liegt? die Verräumlichung der Ursache in die Vergangenheit somit ein expliziter Widerstand gegen das Vorlaufen zum Tode? Die Deutungstheorien verfahren nach Sartre anders: Retrospektiv und prospektiv müssen die Bedeutungsketten einen gegenwärtigen Sinn ergeben. Anders gesagt: Technisch praktizierte Kausalität hat die geringste Bedeutungsvariabilität und wird somit am natürlichsten (im physikalischen Sinne) gedeutet: Pencil of nature. Das Fotografieren an diesem Ort und zu dieser Zeit kann nur genau dieses Foto ergeben. Ausgenommen seien die Freiheiten und das Spiel, die durch Techniken offeriert werden (Ausschnitt, Blende, Zeit, Brennweite, Emulsion etc.). Wer mit etwas etwas in der Welt zeigen möchte, muss entweder eine Spur von diesem Etwas zum Zeigen verwenden oder etwas so zum Zeigen verwenden, als wäre es eine Spur. Lambert Wiesing, Sehen lassen, 215
„… als wäre es eine Spur.“ – Jetzt erst darf unterschieden werden: einerseits die ursprungslose Konvention, die eine logische, magische oder soziale Wirkung ist, die sich praktisch-empirisch durchsetzt, und andererseits die Kausalität, deren Zeitrichtung kraftlogisch orientiert
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ist und eine Quasinatürlichkeit von Ursache und Wirkung behauptet. Die Fotografie besetzt die Mitte: Sie ist der Künstlichkeit einer Optik und der Natürlichkeit einer Chemie abgerungen. Sie vollzieht sich so, als wäre sie die Aufzeichnung der natürlichen Spur des Lichts, als wäre das Licht der Ursprung des Fotos. Dabei fällt das Licht allein von den Dingen reflektiert in die Öffnung der Kamera. Doch die Konventionen dieser auf eine Geste hin sich vollziehende Reflexion ist einer langen Reihe von vorlaufenden Konventionen abgerungen: Die Technik ist eine informationelle Schrift, deren Grammatik von der Empirie und der Kausalität beherrscht wird. Dichtung als Schrift und Malerei als Mal oder Spur lassen sich auf diesem Schauplatz als eine gemeinsame Struktur betrachten, die man Text nennen kann … das Griechische bedient sich hier des mehrdeutigen Wortes graphé … Michael Wetzel, Die Wahrheit nach der Malerei, 52
Dieser Schauplatz dramatisiert einen wechselseitigen Chiasmus zwischen den Ur-Sprüngen: Nicht Ursache, Mittel, Zweck, sondern deren wechselseitige Verstrickung und Versammlung geben auf der Szene ein Bild ab. Der Grund dieser Verstrickung ist nicht der Vater (Ursprung), sondern der Sohn: Ödipus, Hamlet, Siegfried. [Drucktechniken] … Und nicht nur der Raum ist davon betroffen, auch die Zeit im Bild schrumpft von der gelassenen Ruhe zeitenthobener Posen oder der Ewigkeit von Allegorien zum historischen Augenblick eines Ereignisses. Nicht mehr Realistik oder Stummheit zeichnen die piktographische Darstellung aus, sondern ihre Gedrängtheit auf einen Augenblick der Aufnahme. … Im Grunde genommen ist schon alles für die Photographie bereit, das neue Recht auf Einsicht ist schon auf die Perspektive der Camera obscura eingestellt, es bedarf nur noch der restlichen zwei Jahrhunderte Chemie, um das Bild zu fixieren. Michael Wetzel, Die Wahrheit nach der Malerei, 67f
Denn die Verteilung des Sinns im griechischen diapherein umfaßt eine der beiden Bedeutungen des lateinischen differre nicht, nämlich die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben, sich von der Zeit und den Kräften bei einer Operation Rechenschaft abzulegen … Jacques Derrida, Die différance, 36
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Aufschub der Ur-Schrift, Urszene des Gedächtnisses: etwas für später aufheben, verwahren. Dazu muss man aber erst einmal den Augenblick im Jetzt fixieren; und zwar als Momentum – das ist das Prinzip der Fotografie: etwas als Gestern für morgen verwahren. Damit die Struktur der Differenzen ein Spielmoment bekommt, muss es eine leere Stelle, eine fehlendes Element geben, das die Beweglichkeit aller anderen garantiert: Diese „leere Ort“ ist der Augenblick der fotografischen Aufnahme. Man kann sagen, die Fotografie macht die Gegenwart verhandelbar, die doch anscheinend reine Evidenz ist. Dieser allgemeine Raum ist zunächst die Verräumlichung als Unterbrechung der Anwesenheit im Zeichen (marque), was ich hier Schrift nenne. Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 348
Da es keine „leere Zeit“ gibt, sind die Strukturen des Spiels des Zeichens eine Metapher der Verräumlichung. Die Leere, das ist die gesellschaftliche Praxis als Tat. Denn die Praxis ist etwas, das für sich durchsichtig ist: Automatismen, Konventionen, Rituale. Schon der Verdacht, diesen Handlungen nicht mehr vertrauen, sich selbst nicht mehr dispensieren zu können, lässt die neurotischen Pathologien hervorbrechen, die den ganzen Körper zu einem Ort der Verdichtung, des Gedächtnisses und seiner Ortung machen. Unablässig muss eine Moral die Legitimität des Durchsichtigen diskursiv begleiten; eine Moral, die ihrerseits für sich selbst völlig durchsichtig ist und allein der Geschichte und der Wiederholung vertraut. Das leere Feld der Strukturalisten ist das gesellschaftliche Feld der Praxis, die Gegenwart. Die Grundlage dieser Praxis ist der Anfang der Konvention und also der Schrift, der Camera scriptura. Wieder eine neue Strahlenart entdeckt! … Die Herren Professor Crola an der Königl. Kunstakademie in Düsseldorf und Magnetopath Tormin daselbst setzten photographische Platten in vollständiger Dunkelheit der Einwirkung des nach Reichenbach’s und Mesmer’s Theorien dem menschlichen Körper entströmenden magnetischen oder Od-Fluidums aus und es gelang ihnen damit Bilder zu erzielen, von denen einige im Buche abgebildet sind. Die Sache erregt kolossales Aufsehen; die Gelehrtenkreise, welche bereits Kenntniss davon erhielten, beschäftigen sich lebhaft mit ihr. Redaktionelle Werbenotiz zu Ludwig Tormin: Magische Strahlen, [Düsseldorf 1896, o. S.]
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NACHGANG: ZUR BILDSCHRIFTLICHKEIT VON FOTOGRAFIE
I. URSCHRIFT Das Wagnis, Fotografie unter dem Blickwinkel von Bildschriftlichkeit zu betrachten, scheint einer übermütige Laune des Anspruchs entsprungen zu sein, jedes Medium beliebig in jedes andere übersetzen zu können. Jede Übersetzung hinterlässt Opferspuren. Um sie zu vermeiden, könnte man es bei der Zitation der Diskurse der Fotografie belassen: Das, was über Fotografie geschrieben wird, soll ihre Schriftlichkeit ausmachen. Doch Schriftlichkeit heißt nicht Bildschriftlichkeit und nicht Schrift im Bild. Die Bildschriftlichkeit betrifft den Text des Fotografischen in seiner Universalität. Es geht nicht um den Widerstreit von Schriftdiskurs und Bilddiskurs, sondern um den beider Medien gemeinsamen ursprünglichen Ermöglichungsraum. Es geht um eine spezifische Entdeckung von Ursprünglichkeit als vergangenem, einmaligem Ereignis in der Wiederkehr einer Erscheinung namens Foto – um eine Problematisierung von Zeitlichkeit und Gedächtnis angesichts der Techniken der Fixierung artifizieller Präsenz. Ein Unterschied springt zunächst ins Auge: Schrift verwahrt keinerlei Ähnlichkeitsspuren mit der sichtbaren Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht. Dennoch ist sie nicht rein phonologisch (logozentristisch) orientiert – bloßes Hilfsmittel, um der Stimme Dauer zu verleihen. Schriftursprünge sind vor allem in der Mathematik, der Buchführung, dem Zählen und in der Geometrie verifizierbar und verwahren die Erinnerung an Landmarkierungen und Landnahme zu Beginn des Sesshaftwerdens nomadischer Gesellschaft. Vermutlich entwickelt das Schreiben sich aus einer rhythmischen Ornamentik, die allein schon beim Behauen eines Werkstoffs anfällt. Ihr wesentlicher Aspekt, der der Transponierbarkeit, der Repräsentation eines Menschen bei Abwesenheit, ist sekundär. Primär ist die in Rhythmus oder Textur erzeugte Opferspur Arbeit. Dieses notwendige Opfer erschafft als solches die Zeit und den Zeitraum eines Menschen. Weil die Zeit eine notwendige, begleitende Konstante der „Einschreibung“, der „Einräumung“ ist, fällt ihr eine eigene Ökonomie zu: Aufschub vor dem endgültigen Verschwinden des Menschen;
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die Gabe der Zeit – Näherung zum Tod. Diese Ökonomie zu regulieren, fällt der ursprünglichen Schrift zu. Sogleich gibt es zwei Techniken der Ökonomisierung: a.) Die Begleitung. Hierunter sind das landläufige Schreiben und Lesen, die Ordnung der typografischen Texturen insgesamt zu verstehen, d.h. zeitverbrauchende, sinnkonstituierende Medien. b.) Die Abwehr; das Stocken der Zeit; die Balance, die das Opfer- und Gabenverhältnis neutralisiert. Hierunter sind die Einschnitte, Elementaritäten, Präsenzen und in gewisser Hinsicht alle Bildphänomene zu verstehen, die ihre Elementarität gleichzeitig organisieren. Es ist ausgemacht, dass die Momentaufnahme des Fotos diesem zweiten Typus der Verschriftung zuzurechnen ist. Doch wenn ich ein Foto betrachte, so repräsentiert sich auf ihm eine aktuelle, keine ideale Vergangenheit, die auf Grundlage der Ähnlichkeit mit dem wirklichen „Bild“ der Gegenwart jedoch überdauert hat. Das Foto begleitet mich. Man muss also zwischen dem Fotografischen, der Technik und der Soziologie dieser Schrift sowohl in der Produktion als auch der Rezeption des Fotos unterscheiden. Die Bildschriftlichkeit der Fotografie beruht nun gerade darin, dass, vereinfacht ausgedrückt, die Fotos wie Typen einer Schrift wirken: nicht, indem sie die Welt abstrahiert und idealisiert vorstellbar machen, sondern indem sie den Blick auf die Welt gleichsam texturieren. Texturieren etwa in dem Sinne, den die Einführung der Zentralperspektive für unser neuzeitliches Sehen bedeutet. Ebenso haben ja die Schrift und besonders das literarische Schreiben dafür gesorgt, dass wir unsere Biografien wie Romane lesen: Als gelingende oder scheiternde Existenzen. Anfänglich wird im Zeitbild der Zählung und Rhythmik – der Zahlstriche – der für die Konstitution der Sinneinheiten typische Gegensatz zwischen Elementarität, Substitution einer Kontinuität und mengenlogischer Vereinigung sichtbar. Der Typus ist begrenzt: Punkt oder Linie, Spur. Der Sinn ist es ebenso: Markierung von Präsenz, von Besitz, von Zahleinheiten, eben Buchaltung, einfachste Ökologie. Mehr als vier Typen (die doppelte Paarbildung) zu erfassen, so lehrt die Anthropologie, verlangt schon, Sinneinheiten entweder in Analogie zu Körperteilen (mit den Fingern zählen) oder zu narrativen Vollzügen zu bilden: Vier Striche und ihre Vereinigung durch Durchstreichung machen die Zahl fünf aus (die Hand). Schon bei der kleinen fotografischen Serie wird damit die Singularität des Datums eines Einzelfotos narrativ konzeptualisiert und die Fotostory als Text im gleichen Sinne wie die Linearität der Schrift lesbar. Dass die Fotostory weniger als die abstraktere Graphic Novel literarischen Rang einnimmt und in Bezug zur Schrift thematisiert wird, hat mit dem spezifisch singularisierenden und
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individualisierenden Augenblick des fotografischen Moments zu tun, also einer reduzierten oder nicht vorhandenen Transponierbarkeit, die sich erst dann zur Schrifttextur öffnet, wenn man Typen, Genres, Inszenierungsweisen konventionalisert. So ist die Art, wie Atget das alte Paris fotografiert, durchaus ein bestimmter Stil, eine bestimmte, übrigens sehr einfache Schrift im noch ursprünglichen Sinne einer Verräumlichung der Stadt in ein Archiv. Die wie zufällig wirkenden Momentaufnahmen von Cartier-Bresson sind einem ganz anderen Schriftstil verpflichtet, der nicht der Nostalgie der Dauer, sondern dem Stocken der Zeit gewidmet ist. Dabei ist die Fotografie ist zu keinerlei Abstraktion und Idealismus in der Visualität verpflichtet. Sie ist also eine konkrete Schrift. Das Foto ist eine technische und ästhetische Einheit für sich. Seine narrative Tendenz wird, technisch analog, in ein ganz anderes Medium und eine ganz andere Rezeption übergehen: dem Film. Es genügt also nicht, um eine Schrift zu bilden, den Typus der Verschriftung einfach zu serialisieren. Wenn es einen textuellen Berührungspunkt von Fotografie (Gleichheit) und Schrift (Unähnlichkeit, Arbitrarität, Kontingenz) gibt, dann nur vermittelst der Ähnlichkeit, wie sie der Zeichnung/ Malerei unterliegt. Dazu muss der künstlich oder künstlerisch inszenierte Nachweis gelingen, das der Inzest der Identität oder die Gleichheit eines Fotos mit seinem Gegenstand nur eine relative bestimmte reduzierte Sichtweise (zweidimensional, schwarz-weiß; dem Fokus, der Linse, dem Licht unterstellt) darstellt und einer Illusion entspringt, d.h., dass der gesamte Diskurs und das gesamte Dispositiv der Bildschriftlichkeit der Fotografie einer absolut leicht und intuitiv zu erlernenden Lesart der Schrift von Fotografien unterliegen, die, einmal in die Welt gesetzt, ubiquitär und universell vergessen macht, dass man die Betrachtung eines Fotos ebenso lernen muss wie eine Buchstabenschrift. Die Entfaltung der Bildschriftlichkeit der Fotografie nimmt deswegen einen genealogisch ursprünglichen Blick auf das Foto und das Fotografieren auf. Die Diskursreferenzen haben in dieser Hinsicht den Nachweis zu erbringen, dass das Foto eben nicht eine absolute Gleichheit seines Gegenstandes darstellt, sondern dass erst die Fotografie es erlaubt, Gegenstände „fotografisch“, „realistisch“ zu sehen, sodass wir sie mit der Abbildung auf den Fotos identifizieren. Je professioneller sich die Fotografie gebärdet, umso mehr wird sie darauf dringen, die Gleichheit, die Abbildlichkeit, als niedrigsten Zweck der Fotografie zu diffamieren. Die Fotografie soll keine Kopiermaschine sein. Gleichheit also ist auf Opferabschaffung in der Reproduktion, Ähnlichkeit auf Moderation, Unähnlichkeit, Selbstopferung aus: Die Buchstaben
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substituieren sich dem, was sie bedeuten. Der Affekt ist der gleiche wie bei der Fotografie: Die vier Buchstaben H-A-U-S werden nicht als Buchstaben verräumlicht, sonder als ein mehr oder weniger ideales Haus. Worin besteht demnach die Buchstäblichkeit der Fotografie, und worin ihr transparenter, von sich selbst absehender Charakter? Diese Frage, für deren Beantwortung sich jüngst das Forschungsgebiet der Ikonoscripturalität gebildet hat, sucht eine Antwort naturgemäß auf dem Feld der Kulturentwicklung und setzt dabei ein Medium, die Kontinuität der Geschichtszeit voraus, das jedoch allererst durch die Schrift ermöglicht wird. Das in der Schrift Substituierte, der Träger, das Medium, wird nicht eigens hergestellt, wie die Reinheit eines Papierbogens etwa, es entsteht performativ als Opferspur der Verschriftung, der Einschreibung, der Einkerbung. Zeit und Raum sind nicht, wie noch Kant meinte, a priori gegeben, sondern sie sind Abstraktionen der Erfahrung von Dauer und Präsenz, Erscheinen und Verschwinden. Die transzendierte Opferspur ist zugleich der Raum und die Zeit in ihren jeweiligen normativen Geltungen. Sie erweisen sich in ihrer Abstraktion als die beiden Aggregate, in der alle Moderationen und Medialisierung sich wider die Extreme von Ewigkeit und Todesmoment übertragen. Vom Tod zu reden, wenn man gerade die Reproduktion im Sinn hat, erweist sich als widersprüchlich. So ist der Tod auch jener Extremismusausschluss, der am radikalsten in der Schrift als beiläufiger, unhintergehbarer Spur der Existenz exiliert wird. Soweit etwa in der Höhlenmalerei zwischen Schrift und Bild nicht zu unterscheiden ist, hat man sich eben auf den Terminus der „Spur“ geeinigt. Von einer Spur weiß man nicht zu sagen, ob sie auf etwas anderes als sich selbst verweist (z.B. ein „Pfeil“, der eine Richtung anweist) oder sich selbst meint (ein Pfeil als Bild eines Speers). Symptomatisch dafür stehen die unzähligen Symbole der negativen Handumrisse, die in den Höhlen auftauchen und eine Art Eigenwert des Namens des Malers andeuten. Die Mehrdeutigkeit der Spur setzt voraus, dass etwas überhaupt als Mehrdeutiges, von Menschen Gemachtes aufgefasst werden kann, um auf die eine oder andere Weise sinnvoll interpretiert zu werden. Sinnvoll meint dabei: in Bezug auf andere Spuren und in deren „Satzzusammenhang“ für einen Anderen. Spuren sind Ausdruck persönlicher Präsenz, da sie unhintergehbar sind. Die Füße im Sand hinterlassen unvermeidlich Spuren. Was macht die Spur, die Bild oder Schrift sein kann, zur Spur? Diese Frage lässt sich nicht im Rückgang auf eine Geschichte der menschlichen Kulturen beantworten. Denn hierfür bedürfte es der Voraussetzung einer Konvention über Schrift und Bild, die den Auslegungsspielraum auf eindeutige Abbildlichkeit oder
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eindeutige Unähnlichkeit beschränkte. Das heißt, die Historisierung eines gemeinsamen Ursprungs setzt ein geschichtliches Denken voraus, in dem der Widerstreit zwischen Präsenz und abwesender Präsenz (Dauer) gedacht werden kann. Dieser Widerspruch unterhöhlt die magischen Beziehungen des Menschen mit den Dingen inmitten der praktischen, gelingenden Tätigkeiten. Dem Ursprung entspringt grundlegend zuerst eine Simultaneität raumzeitlicher Orientierung. Nun kann man sich vorstellen, dass im Verlauf der Konkretisierung der Konvention von Lesarten in rituellen Räumen und zu rituellen Zeiten der magische Aspekt sublimiert wird, da die Abfolge der Feste und die Legung und Lesung von Spuren den Effekt der Normierung eines dimensionalen Raumes und einer kontinuierlichen Zeit verstärken, auf deren Unveränderlichkeit man sich bezieht, die wiederum von der Unveränderlichkeit bestimmter Sternkonstellationen oder Jahreszeiten etc. abgeleitet werden, deren Schwankung jedoch gerade im Akt der Ritualisierung und Serialisierung gebannt werden sollen. Die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Bild ist also im Rahmen einer Genealogie der Gegenwart dann von Relevanz, wenn die vorgebliche Beständigkeit von Kontinuitäten – hierzu gehört auch die Dokumentarität der Fotografie im 19. Jahrhundert – sich als zweifelhaft erweisen. Das Spiel der Medienübergänge zielt demnach darauf ab, die Normen nicht nur zu bewahren, sondern die Serialitäten den jeweiligen transdiskursiven Veränderungen anzupassen, Kontinuität und Diskontinuität auch im politischen Sinne zu inszenieren Wirklichkeit glaubhaft zu machen und nur Glaubhaftes in der Abfolge der Ereignisse sicher zu machen. Wenn etwas als Spur aufgefasst werden soll, muss es schon den Charakter von Schrift haben: Es muss eine Struktur von Raum und Zeit konstituieren. Die Deutung „Pfeil als Speer“ kann nur in Gesellschaften auftreten, die einen Speer kennen und benutzen. Es ist aber nicht die Dinglichkeit des Speers, sondern die Idee, die hier von Bedeutung ist. Denn die Spur als „Urschrift“ setzt – idealerweise – voraus, dass der Stein, auf den ich eine Speerspur einritze, nicht selbst bedeutsam ist. Möglicherweise gäbe es ja auch die Interpretation, das der Speer als Pfeil auf den Stein selbst verweist, auf den ich ihn ritze. Der Stein wird jedoch dann nicht gemeint sein, wenn er sich als leere Fläche gibt oder, das ist entscheidend, gewählt oder eigens geglättet wird, damit auf dieser leeren Fläche, einem Medium, die Differenz einer Differenz von Bedeutung weiter verweisen kann. Die Differenz setzt in diesem Fall ein Spiel von Identität und Differenz voraus – einen Spielraum, der als solcher aber leer, nicht bedeutsam ist. Als Urschrift müssen wir die Wahrnehmung
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von etwas wahrnehmen, das nicht gemeint ist, sondern als Ordnung (Struktur, Fläche, Zeitpunkt) die Relationalität, Dynamik, Bewegung transzendiert. Der differentielle Zerfall dieser Ordnung, das transzendierte Ereignis, nennt Jacques Derrida „Spur“ (gramma). Den Aufschub dieses Ereignisses für eine Zukunft belegt er mit dem Neologismus différance. Aufschub für eine Zukunft, Kreditierung und Produktion von Zukunft: Das ist auch die Intention der Fotografie. Das Medium des Fotos ist jedoch nicht das leere Fotopapier, sondern der volle Raum der Wirklichkeit. Das Foto bringt das Medium der Fotografie und somit den Zweifel, ob die Spur natürlich oder menschlich ist, zum Verschwinden. Sie ist apparativ. Die Idee einer grammatologisch und ökonomisch verfassten Präscripturalität (im Sinne einer je genealogisch beginnenden Einschreibung) hat Derrida schon in den 1960er Jahren entwickelt: zeitlich strukturierter Raum konkretisiert sich als szenische Anweisung, in welchem Sinn – und ob überhaupt – Spuren zu lesen sind, also eine Verräumlichung der Zeit transferiert wird. „Verräumlichung als Unterbrechung der Anwesenheit im Zeichen“ nennt Derrida Schrift. Leider macht es der Sprachgebrauch Derridas schwierig zu unterscheiden, ob das Schrift- oder das Urschriftmoment gemeint ist. Das ist kein Fehler Derridas, sondern die Einsicht, dass jede Schrift – die der Ähnlichkeit oder der Unähnlichkeit des Gemeinten – als „Unterbrechung von Anwesenheit“ beides voraussetzt: die konkrete Anwesenheit eines sinnlich substanziellen Moments und das Negat einer konventionalisierten Unterbrechung/leeren Fläche. Es gibt keine signifikante Form ohne die sublimierte Anwesenheit eines Mediums, das gegenüber dieser Form abwesend ist. Form und Medium sind gleichursprünglich. Im „Sprung“ selbst manifestiert sich Zeit. Und es ist unwidersprochen, dass das Schreiben Zeit verbraucht. Unwidersprochen? Was ist mit dem Augenblick der Fotografie? Was es mediengenealogisch zu unterscheiden gilt, ist durch die Frage gekennzeichnet, welche Art der Verräumlichung und der Verzeitlichung, d.h. welche Techniken, die Schriftvorgabe intendiert. Wenn ich die Schrift lese, lese ich nicht das Papier; wenn ich das Foto betrachte, betrachte ich nicht die Schwärzung des Silberjodits. In Zeiten hybrider, fließender Medienübergänge auf Basis des Elektromagnetismus kommt nun nicht mehr diesem Aspekt von Abwesenheit und Anwesenheit, sondern dem der Grammatologie, also der Vorschrift ihres Wechsels entscheidende Bedeutung zu. Warum sollte ich mich nicht gerade der Substituierung des Papiers unter der Schrift, also der Opferreduzierung, der Rauschunterdrückung widmen? Warum nicht gerade bei Niépce den technischen Aufwand der Herstellung eines völlig banalen Blicks aus einem Fens-
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ter herausstellen? Sofern Bild und Schrift sich zunehmend „virtualisieren“, kommt der Inszenierung eines narrativierten Sinns der Differenzierung der Programmvorschriften entscheidende Bedeutung zu. Programme – all das, was informationstechnisch als „Rechenvorschrift“ zur Voraussetzung physiologischer Handlung notwendig ist – sowie Regieanweisungen aller Art haben im konkreten grammatologischen Sinne Urschriftcharakter. Urschrift ist nicht im historischen, sondern im genalogischen Sinne gemeint. Diese Schrift liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; sie geriert sich opferlos, ohne Arbeit, dem Raum und der Zeit enthoben. Auch das Fotografieren wird zur minimalen Geste. Im Zuge der schon früh einsetzenden Popularisierung kommt es bezüglich der Fotografie zu einem Interesse an der Art und Weise des Fotografierens, der professionellen Handlung und der beiläufigen Geste, dem Arrangement des Motivs und dem kontingenten, glücklichen Augenblick, der Art des Zeigens und des Verschwindens eines Fotos oder einer Serie und der Geltung einer sich in medienhybride „Visualisierung“ auflösenden Branche, die sich gerade im Moment technischer Hybridisierung als Kunstform ästhetisch zu inszenieren weiß. Die Anthropologie lehrt auch, dass Opfer nicht verschwinden, sondern nur verschoben werden können: Aufschub, Verräumlichung, Spur. Alles, was um 1839 erfüllt sein muss, damit Nicéphore Niépce die erste fotografische Aufnahme fixieren kann, ist bekannt. Diese Geschichten gehen in die Lesbarkeit der Fotografie als eine aufschiebbare und supplementierte Struktur der kollektiven und persönlichen Erfahrung eines jeden Fotos ein. Für den Aufschub des Vergangenen zu Gunsten der Präsenz und der Präsenz zu Gunsten des Zukünftigen hat Derrida den Begriff différance eingesetzt. Abgeleitet und gleichlautend wie das französische Wort „différence“, das Differenz, Unterschied, aber auch (zeitlichen) Aufschub meint, erlaubt es Derrida, zwischen der einfachen Differenz der Formen (Buchstaben, Fotografien, Hieroglyphen, Phoneme etc.), die positiv gegeben sind, und der Aufschubsbewegung, dem „Willen“ zur Textur und zur Bildung und Gliederungen von Sinnketten, zu unterscheiden. Der Aufschub kann drei Register haben: Erstens kann er transzendent sein, dann bezieht er sich auf die Stellung zum Tod. Zweitens kann er einfach die Abwesenheit vom Hier und Jetzt meinen; dann bezieht er sich auf die Möglichkeit der Suspendierung eines Erscheinens. Drittens kann er sich auf eine praktische oder psychische Verdrängung beziehen. Der Aufschub ist also im Register der Existenz, der Sozialisation und der Gedächtnisbildung konstitutiv. Die Negativität oder Transzendenz der Aufschubsbewegung, das Einräumen eines zuvor nicht
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Anwesenden, der Gabencharakter der Ökonomie, ist nichts anderes als die kontinuierliche Konstitution des Imaginären, der „Einbildungskraft“. Die Präsenz schleppt also in einer paradoxen Bewegung ihre eigene Zukunft hinter sich her. Die Nachträglichkeit ist durch keine List aufzuheben, aufzuschieben oder zu revidieren. Die medienphilosophische Bezugnahme auf den aufgeschobenen Tod ist unausweichlich. Welches Medium eignet sich besser dazu, den Tod zu reflektieren, als die Fotografie? Das Bild eines Menschen, der tot ist oder es bald sein wird, und der in einem Augenblick der Totstellung, der Aufnahme, seinen eigenen Tod simuliert. Daneben aber erlaubt die Fotografie die Annahme, dass es den ersten, ursprünglichen Augenblick nur in der Signifizierung durch eine Reproduktion gibt, die uns en miniature das Sprechen der Kleinkinder verrät: Wenn sie die erste Silbe von „Pa“ verdoppeln („Pa-pa“), kündigen sie in der zweiten an, dass die erste nicht bloß ein unartikulierter Laut, sondern eine sinnvolle Einheit ist. In genau der gleichen Weise wird die unartikulierte Wirklichkeit (Praxis) zu einer präzisen (visuellen) disponierbaren Realität von Zeichen. Auf diese Weise wollen wir das Unternehmen einleiten, das Fotografische mittels des Diskurses über Fotografie (das Geschriebene und Gesagte über Fotos, das Fotografierte und das Fotografieren) zu erhellen. Wir wollen den Aufschub (Diskurs) zum Stehen bringen, ihn im (Ur-)Sprung „fotografieren“, um gleichzeitig in den Blick zu nehmen, in welche Richtung er sich, sein Opfer, verschiebt und was an Blickmöglichkeiten verloren geht. Im Falle der Fotografie scheint die Entfaltung der genalogischen Stadien unmöglich: jedes Foto ist immer plötzlich da. Dabei meine ich weder die Belichtungszeit, noch die Prozedur der chemischen Entwicklung oder des Drucks in einem Buch, die beide Zeit brauchen, sondern den Umstand, dass in jeder Fotografie die Gegenständlichkeit in einem ganz bestimmten Moment datierbar zugeordnet werden kann. Selbst wenn die Belichtung Minuten braucht, verharren die Objekte bewegungslos, also im Nu einer toten Zeit wirklich vor der Kamera. Wenn das nicht der Fall ist, sprechen wir nicht von Fotografie, sondern von Film, Zeichnung oder Malerei – oder einfach von Visualisierung oder Bildgebung. Das Wesen der Fotografie im engsten Sinne enthüllt uns eine Vorstruktur der Zeit, was Roland Barthes „es ist so gewesen“ nennt; eine Präsenz und damit eine zeitliche Elementarisierung des Flusses der Zeit – wobei es fraglich ist, ob dieser „Fluss der Zeit“ nicht eben nur im Kontrast eines stehenden Bildes, also in einer metaphorischen Differenz zur metonymischen Verschiebung zu denken möglich wurde. Offensichtlich ist der ewig wandernde Blick gerade von der Art, dass er sowohl den Fluss der Zeit
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als auch das Präsenzereignis ausschließt; ein unentwegtes Schwanken um die Komprimierung einer Szene, an der die Fotografie unter Hochdruck arbeitet. Jedes Foto produziert seine eigene Vorgeschichte als „Medium der Präsenz“. Produktion und Präsenz verhalten sich jedoch widersprüchlich zueinander. Für die Malerei dürfen wir annehmen, dass Produktion von Präsenz erst im Impressionismus durch die Befreiung von der Optik der Camera obscura gelingt. Die Fotografie als Schrift verlangt in jedem Fall die Analyse einer artifiziellen Zeitlichkeit – des Aufnahmemoments – sowie die Analyse der Wirkung des Fotos gegenüber einer verflossenen, verlorenen und wiedererinnerten Zeit. Die Fotografie, kann man sagen, irritiert oder korrumpiert das Gedächtnis als normative Instanz des Ich. Neben der Zeitlichkeit konstituiert jedes Foto, das im klassischen Sinne über eine Kamera mit Linsensystemen entsteht (optischen, den Brechungsgesetzen unterworfenes System), einen bestimmten perspektivischen, durch die Gesetze der Optik bestimmbaren Raum. Diese Raumansicht ist – seit Brunelleschis Versuchen in Florenz einer mathematischen Konstruktion von Perspektivräumen nach dem Vorbild der Camera obscura als Raum der Zentralperspektive – ein Allgemeingut der Ästhetisierung der Vorstellungen eines entindividualisierten, objektiven Blickraums, der durch die zentrale Stellung eines idealen Subjekts entfaltet wird. Objektive geometrische Raumdarstellung wird nun messbar. Messbarkeit ist immer ein Zeichen für Idealisierung auf Schrift hin. Der Raum der Optik und die Zeit der Uhr abstrahieren von den Bezügen des Körpers und der Dynamik von Natur. Neben dem Raum wird auch die Zeit zu einem manipulierbaren Medium. Allerdings ist die Destruktion der Zeit schon sehr früh durch Glockenschlag und Kalendrierung derart ubiquitär, nachhaltig und gesellschaftlich verbreitet, dass sowohl die durch die Uhr konstruierte artifizielle Zeitordnung als auch der durch die optische Geometrie artifizialisierte Raum für natürlich, demokratisiert gehalten werden. Noch das Kantische Apriori von Raum und Zeit kennt wenig von der kulturspezifischen Veränderung dieser Lebenstexte, die dem Subjekt eingeschrieben werden. Dass gerade diese Elementarmedien physikalisch einer besonderen Relativität – also Bezugnahme durch den Menschen – unterworfen sind, haben allerdings auch Relativitäts- und Quantentheorie nicht bewusst machen können: Zu esoterisch und zu wenig empirisch erfahrbar ist ihre Schrift verfasst. Noch immer tut man so, als ob der sinnliche Leibraum und der Körper die normierenden Instanzen seien: der wandernde Mensch am Ende seines Lebensweges zu sich selbst findet. Doch weder ist die Geschichte linear und datierbar noch kausal und vernünftig. Somit kündigt
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sich eine weitere differenzielle Bewegung an: Sie bestimmt sich durch die Vorschriften, welche die Urschrift der Fotografie auslöst. Die Vorschriften, Regeln, Gesetze, Gebrauchsweisen der Fotografie – also deren Konventionalisierung von Lesarten, ihre optische Detailfreudigkeit und Schärfe und ihre datierbare chronometrische Präzision, die vergleichbar nur mit der Mechanik der Uhr ist – realisieren sich dem Subjekt als Sphäre objektiver Wiederholbarkeit, Reproduktion eines Ereignisses und Erlebnisses. Die Fotografie wird zum Faktor für die Beweiskraft und Dokumentarität, die Reduplikation eines unwiederholbaren, nichtinszenierten Augenblicks. Ereignisse fallen nicht mehr vom Himmel, sie sind gemacht. Wahrheit, Wirklichkeit, Evidenz werden zum Merkmal der Augenzeugenschaft – der Beherrschung eines fotografischen Denkens, das aus der fluiden Wirklichkeit ein statische Realität stellt, so wie man einen fliehenden Gesetzesbrecher stellt. Die kameratechnische Entwicklung lässt ab 1880 keine Zeit zur vorbereitenden Inszenierung. Ihre Programmatik erfolgt aus der unmittelbaren Kontingenz einer Situation, in der freilich der Fotograf den richtigen Augenblick oder Standpunkt einnehmen muss. Wie soll man das aber bei aller Kontingenzbehauptung begründen? Die realistische Literatur, die – vom Blick durch die Camera obscura und von der realistischen Malerei angeregt – die Enthierarchisierung des Details gegenüber der Ganzheit einleitet, findet in der Fotografie ihren Abschluss. Umgekehrt wird das, was in der Fotografie als Realismus erscheint, als Indiz der Wahrhaftigkeit in die juridische Sprache aufgenommen. Derrida unterscheidet aber gerade hier zwischen der Spur als Urschrift und der Spur als Indiz. Nur letztere erlaubt die Rekonstruktion des Fragments zu einem Gesamtzusammenhang und damit die Positivierung des Handlungsnegats, etwa eines Tathergangs. Die ursprüngliche Spur (Vor-Schrift) erlaubt niemals die Rekonstruktion eines Gesamtzusammenhangs als einen realistischen, weil die Tragweite der Spur mit der Unterscheidung einer Differenz zu tun hat, die dem Subjekt ursprünglich ist: der Unterscheidungvon Imagination und Wirklichkeit. Der Realismus ist eben keine interpretative Mischform möglicher Weltwahrnehmung, sondern eine konventionalisierte, technisch-apparative Szenifikation. Der fotografische Blick ist fragmentarisch, zitathaft, provisorisch. Wenn Wirklichkeit sich in Realität zersetzt, wird sie fotografisch. Wenn Realität selbst zersetzt wird, wird sie allegorisch. Alle Übergänge zwischen der Imagination und der Realität müssen, so Sartre, dem Feld des Ästhetischen zugerechnet werden. Auf diesem Feld oder Schauplatz trägt eine populäre Kultur der Geltung ihren Agon aus, um das Individuum wieder in die Objektivität einzuführen und damit nicht nur den Besitz
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der Diskursherrschaft, sondern vor allem das Eigentumsrecht auf ein originales Foto in einer reproduzierbar gewordenen Bilderwelt zu beanspruchen. Uns interessiert diese ästhetische Debatte, die um Kunstanspruch, Werktreue und Fotografenstile kreist, nur in einer einzigen Hinsicht: Auf welche Weise ein juridischer Diskurs sich durchsetzt, der die „leichte“ und „ubiquitäre“ Arbeit der Fotografie, das „automatische“ Fotografieren, in den ökonomischen Diskurs verwertbar einfügt. Die Fotografie adaptiert diesen Diskurs – wie im Falle der industriellen Reproduktion von Güter und Waren – durch einer reproduzierbare Individualisierung des Designs. Design ist eine Protoform von Schrift, derart, dass Individualität selbst zum Anzeichen von Konventionalität, also gesellschaftlicher Anerkennung gelangen kann. Design ist die Konventionalisierung konventionalisierter Zeichen. Ob man nun aber im Design das Imaginäre dem Realen unterstellt oder ob man eine phänomenologische Trennung darzustellen behauptet, kommt auf das Gleiche heraus: Man ist aufgefordert, eine antiästhetische Sicht auf die Fotografie durch eine psychologisierende Ästhetik hindurch zu führen und da kommt das Hybrid der Werbefotografie stets an letzter Stelle, was die ästhetische Moral, und an erster Stelle, was die Ökonomisierung angeht. Der philosophische Diskurs über Fotografie und das Reden über Fotos schließen sich nicht nur bildungsstrategisch, sondern logisch aus. Ein Foto beantwortet kein Foto, aber man kann mit Schrift über Schrift reden. Wenn aber die Dinge als Waren (das Foto gegen Geld) immer schon Wunschrealisierungen sind, was macht dann die Fotografie sekundär mit den Dingen? Denn anderes als Dinge, Häuser, Landschaften lässt sich nicht fotografieren. Sagen wir: Die Fotografie zeigt die Dinge. Aber sie zeigt sie nicht als sie selbst in der Produktions-Konsumationsbewegung, sondern als isolierte, fragmentarische, zitathafte, allegorische Ansichten – als Elemente einer ökonomischen und ökonomisierenden Form der Ware mit dem Anspruch auf Dauer. Dass die Dinge selbst nur im Prozess stehen, veranschaulicht gerade aber die Fotografie, wenn sie über den eigenen Gebrauchswert hinweg den Zeitwert der Dinge verwahrt. Zwischen dem Fotografieren und dem Erinnerungsbild des Fotos liegt also eine Diskrepanz, die die jüngsten Tendenzen der Fotografie dominiert. Fotos werden nicht mehr betrachtet, gerade auch nach Jahren nicht, sie werden nur noch geschossen und als flüchtige Daten distribuiert. Damit verweist die Fotografie auf die Urszene unserer Gesellschaft: Die des Aufschubs der Wunscherfüllung im kreditierten Besitz – Besitz als Anzeigen einer Geltung, eines Klassen- oder Gemeinschaftsbewusstseins, als Sprache in Bildern und Zeichen. Fotografieren hieß früher: in Besitz bringen und
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diesen Besitz anzeigen. Fotografieren heute heißt: tauschen. Der Konsum dominiert den Besitz. Als Universalmedium nimmt die Fotografie seit ihrem Beginn immer differenziertere Formen an, von der Röntgen- zur digitalen Fotografie, vom künstlerischen Fotoprint im Meterformat bis zur detailscharfen Plattenaufnahme, von Daguerre zum Polaroid. Alles wird fotografiert und dem Reich des Fotografierbaren unterstellt. Jeder kann fotografieren. Die fotografischen Apparate werden immer einfacher zu bedienen, aber immer komplexer in der technischen Modulation. Die Technik der Fotografie ist nicht spezifisch fotografisch. Das fotografische Bild ist in ikonoscriptualer Hinsicht kein ästhetisches, sondern ein phänomenologisches Problem.
II. PRÄSENZ Die Wege der Selbstvermittlung von Individuen zur Gesellschaft versucht Derrida seit Mitte der 1960er Jahre unter einer Logik der Spurenlegung, einer Grammatologie zu verstehen. Dabei orientiert er sich anfänglich allein an der Handlung des Schreibens, der er – gegen die linguistische Präferenz, in Schrift lediglich ein Hilfsmittel zur Visualisierung der Stimme zu sehen – ein Recht auf eigene wissenschaftliche Betrachtung verleiht. Schreiben ist für Derrida eine notwendige Hinterlassenschaft, ein Opfer, kein positiver Akt, keine Gabe. Später entwickelt Derrida ein Konzept, das auch andere Medientechniken (von denen als in den 1960er Jahren noch niemand als „Medien“ sprach), insbesondere die Malerei und die Fotografie, in ihrer Epigenese erfasst, und er zeigt, dass die Ökonomie, mit der Raum, Zeit, Geschichte und Sozialisation sich abstrahieren, auf dem Phänomen des in der (Ur-)Schrift abwesend repräsentierten Körpers beruht, der sich damit von der an den Körper gebundenen Stimme emanzipiert. Abstraktion, Medialisierung und Aufschub aller Schriftsysteme in Sinne einer Verräumlichung sind Distanz- und Zeitoperatoren. Allerdings wagt Derrida nicht den Schritt, die Präphänomenalität seiner Darstellung systematisch medientechnisch aufzuklären, wie beispielsweise Kittler. Er beschreibt, dass es eine den Hominiden in einer bestimmten Epoche ihrer Entwicklung zukommende Initiative gibt, die den Gesichtssinn in Differenz zur manuellen Fähigkeit setzt, wenn unter letzterer die Raum-Zeit-Distanzierung vom Körper verstanden wird. In Folge dieser Argumentation – mit Berufung auf LeroiGourhan – knüpft er in verschiedenen Essays an die hier verkürzte These
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Heideggers an, dass die ursprüngliche Zeitlichkeit „Einbildungskraft“ sei: eine allmähliche Abkopplung der Handarbeit von antizipierender Vorstellungskraft im Bilden von Dingen. Raum und Zeit sind noch nicht von der konkreten Szene der Produktion und Konsumation gelöst. Man kann das historisch wie genalogisch als Phase der Präikonoscripturalität bezeichnen. Schriftablösung und Dingablösung unterscheiden sich nur im Grad der normmanifestierenden Wahrnehmung und der gesellschaftlichen Akzeptanz, also im Grad ihrer substanziellen Verdichtung. Benjamins Begriff der Aura, der ja kein geometrischer Begriff ist, gibt eine Ahnung davon. Das Inversionspotential zwischen Medium und Form ist demnach in Dingen geringer als in Medien, und in der Frühzeit der Schrift (im Entwurf, der Skizze, der Spur) labiler als Gegenständen. Übrigens nähert sich die Werbe- und Warendarstellung aufgrund ihres Zeichenspiels eben dieser Frühform wieder an. Heute wird niemand die Rückseite eines Fotos ansehen oder sich für dessen Papier- oder Leuchtform begeistern, da die Differenz der différance allein auf die Schauseite beschränkt bleibt: auf die Bidllichkeit. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung macht sich der Mensch kein Bild von den Opfer- und Reinigungsvorgängen, die er produziert; er ist als Subjekt immer jenseits der Szene der Produktion: Sehen heißt, Bedeutsames identifizieren. Das schließt immer die wünschbare Option ein, Weiteres zu sehen, sodass die szenografische Option der Verweisung im Medien- und Deutungspluralismus die Deutungsarbeit vorwegnimmt. Erst in dem Moment, so Derrida, in dem das Individuum die Möglichkeit gewinnt, sich vollständig von der Leiblichkeit der Stimme zu lösen, also in seinem Aufschub-von-sich „den Tod des Subjekts“ als jenseitigen Raum auszuhalten, und ihn für den Augenblick zu disparieren und aufzuschieben, kann von Urschrift bzw. Schrift im Sinne der différance gesprochen werden. Ausgehalten respektive vorweggenommen wird nämlich als Körperdispensierung das eigene Opfer. Es bedarf des Hinweises nicht, dass beinahe alle großen Fotografen und Theoretiker immer wieder das Schweigen der Fotografie reflektiert haben. Das Foto hat keinen Körper. Im Moment der Körperablösung beginnt auch der reine Opferzustand der Spur (Fußabdruck, Fäkalisation, Schlaf- und Essstelle) für andere einen positiven Wert zu gewinnen und die notwendige Hinterlassenschaft in eine intendierte Einschreibung umzuschlagen: Eindruck, Ausdruck – wieder kann von einer Inversion, einer Ruptur, einer Kontingenzoperation gesprochen werden, die alles andere als fern von dem ist, was man heute mit dem Begriff der Digitalisierung eher verschleiert als aufklärt. Die Überlegungen Derridas sind in dieser Phase
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noch sehr weit entfernt von dem Schriftbegriff, dessen Gebrauch grob um 7000-5000 v. Chr. in Mesopotamien datiert wird. Zwischen der Stimme und der Schrift gibt es demnach eine radikale Unterscheidung, die am Ursprung der Verdopplung, der Artikulation und der Signfikanz steht. Die Stimme ist „nur“ lebendig, während die Schrift die Anerkennung des Todes als etwas Abgespaltenes (Ding und Scham) erfordert. Die Schrift transponiert diese Todes-Lebens-Differenz in die Unendlichkeit der Kombinatorik der Elementaritäten (Struktur oder System der Varianz und Konstanz). Wie gesagt, es handelt sich nicht um einen Akt der Autorschaft, sondern um eine notwendige, unhintergehbare Kontingentierung, deren Rhythmus und Kombinatorik mit den Einheiten/Dauern selbst frei beweglich ist. In den Techniken der Medialisierung (also der Organisation der als Dauer festgelegten Grundlegungen – Techniknormierung) sind die Aufrechterhaltung dieser Spaltung und der Grad der Inversion oder Umkehrung der Substitution das Entscheidende. Auf die Fotografie bezogen: Hier ist die Form (das belichtete Bild) alles, das Papier nichts und die sozialen und technischen Funktionen (heute) im Grundsatz neutralisiert: „Man drückt ab“. Das Erscheinen der Spur der Schrift zielt auf die Nichtpräsenz des Individuums, des Autors, so wie nach Barthes ein Foto die Abwesenheit der fotografierten Person und des Fotografen erlaubt, diese aber in ihrer Individualität – das ist entscheidend – als Abwesende, im Bewusstsein ihrer Abwesenheit und somit im Gabentausch einer Zukunft präsentiert. Umso hartnäckiger stellt die professionelle, reflektierende Fotografie nun gerade das Gegenteil, nämlich die Präsenz und die Subjektivität des Fotografen in den Vordergrund. Gerade in der Beiläufigkeit ubiquitärer Fotografie aber schiebt sich der Kreditierungscharakter, die „Provision“ aufgeschobener Zeit in den Handlungsfokus. Es geht dabei nicht nur um eine Produktion eines (ereigniswürdigen) Spatiums an Zeit, sondern um Zeit, die durch das zukünftige Betrachten eines Fotos als reversibel konstituiert und somit in seiner tödlichen Progression überlistet worden ist. Umgekehrt maßt sich die Vergangenheit an, die Zukunft „provisorisch“ zu strukturieren. Das strukturalistische Konzept, das Derrida mit weiterzuentwickeln half, beruhte ja gerade darauf, die Autorschaft als Effekt, nicht als Bedingung des Schreibens anzuerkennen. Roland Barthes hatte vor Derrida den „Tod des Autors“ als Bedingung für das Verständnis des Schreibprozesses hervorgehoben. Der Strukturalismus formuliert, dass die Leerstelle, also die Möglichkeit der progredierenden Bewegung (Aufschub), durch die Fülle der gesellschaftlichen Texturen, Normierungen und Gebrauchsvorschriften determiniert ist, in der das Individuum der Ein-
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schreibung verschwindet, indem es sich der „Grammatologie einer Praxis“ unterwirft. Im weiteren verlauf der poststrukturalistischen Argumentation zeigt sich aber, dass dieser Aufschub nicht nur seinen Platz erobert und einen anderen (Signifikanten) verdrängt, sondern, dass unablässig neuer, imaginärer Raum geschaffen wird, jedoch mit der Folge einer immer stärkeren Verdichtung der Differenzen, bis diese selbst in einer Schwelle unterhalb der sinnlichen Differenzierung zu Mediengründen verschmolzen werden. An der Waffenförmigkeit dieser Verhältnisse ist aus ökonomischen Gründen nicht zu zweifeln. Allerdings zeigt die Aggressivität der Fotografie, von der Sontag spricht, im Moment der Aufnahme irreduzibel einen Moment der Selektion und einen Standort qua Optik. Diese definitorische Mindestvoraussetzung von Fotografie markiert keine eroberten Individualitäten, sondern Inbesitznahmen, so, wie man ein Heiligenbild in Besitz nimmt. Sie sind vertikale Einschnitte ästhetischer, rhetorischer, semantischer Art. Und auch wenn man Fotografien sammelt, sie in Alben und Bücher zwingt, medialisieren sie sich nicht wie beispielsweise im Film. Man fotografiert, was alle fotografieren – mit den gleichen automatischen Kameras und optischen Systemen – nach deren technologischer Programm- und Programmiervorschrift – vorzüglich Eiffelturm, und Eiffelturm mit Selbstbildnis: Bild und Unterschrift als soziologische Geste doppelter Unterwerfung unter die öffentliche Macht desjenigen Bildes, das für die Bilder der Fotografie geschaffen wurde. In einer perversen Vorwegnahme hatte ja Haussmann in Paris verfügt, am Ende der Blickachsen jeweils ein herausragendes (öffentliches) Gebäude zu platzieren: Architektur als simulierte Fotografie. Nichts desto weniger wird der Kunstanspruch der Fotografie beschworen. Die Frage, ob es Fotografie ohne Fotografen und somit ohne Original gibt, ist auf die Frage zurückzuführen, ob es Spuren ohne menschliches Dasein gibt, ob also neben der Raum-Zeitnormierung nicht auch eine subversive Intention – neben der Motivation einer Autorschaft, einer Besitznahme und damit einer Rückverkörperung – angenommen werden muss. Das Foto ist das phantasmatische Ergebnis einer Enteignung und einer Wiedergewinnung; es trägt die Jubilatorik in sich, dass etwas verloren gehen kann und wiederkehrt. Nur in dieser Jubilatorik findet die Fotografie ihre allgemeine gesellschaftliche Verbreitung. Winnicott hat diesen kindlichen Jubel als Lernmodus der Signifikantenverschiebung, des Aufschubs der Realisierung im Begriff des „Übergangsobjekts“ charakterisiert: Wenn man will, repräsentiert das Übergangsobjekt die erste Einsicht in das Ende einer inzestuösen Dauer und die Ökonomie der Vergänglichkeit des Dings. Die Auszeichnung der Fotografie – neben der
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Ordnungsfunktion von Visualität und Datierbarkeit – liegt in der Fotografie des Menschen, d.h. seiner Individualität, seinem Blick. Jeder, der gegenüber einem Anderen ein Verhältnis von Deutung eingeht, gewährt einen Kredit mit potentieller Rückgabe – soziologisch betrachtet ist Zeit nicht anderes als Reziprozität, wechselseitige Verpflichtung. Kredit ist Aufschub und Hoffnung auf Rückgabe. Jedes Foto wahrt diese Hoffnung – Hoffnung einer Dauer, die stets todesinfiziert ist. Die Zeit der Verbindlichkeit ist an sich sinnvoll, gleich, ob es sich um das Warten auf eine Antwort auf einen Brief oder um eine wissenschaftliche Problemstellung handelt. Die aufeinander verwiesenen Partner konstituieren einen „Zeitraum“, eine „gesellschaftliche“ Konvention, einen Aufschub. Die Wechselseitigkeit der Verpflichtung taucht jedoch als realer Wert in der Fotografie gar nicht auf. Zum einen ist das Verhältnis von Fotograf und Fotografierten heute eine Ausnahmesituation, zum anderen ist das Selfie nicht mehr als Ding externalisiert. Die Bilderspeicher werden kaum noch angesehen. Mag sein, dass sich die digitalisierten Daten auch in einigen Jahren von selbst auflösen oder „unlesbar“ werden. Sind Raum, Zeit und Gesellschaft also noch die richtigen Bezugsgrößen der Vorschrift der Fotografie – das, was sie substituierend substituiert – oder gibt es hier normative Verschiebungen, die nicht der Macht einer großen Fotografenpersönlichkeit oder Agentur zuzuordnen sind, sondern eher den Ingenieuren des Konsums, die Situationen schaffen, in denen das Fotografieren selbst zu einem notwendigen und vielleicht sogar neurotischen Status wird, der mit Bilderstellung einerseits und Bildbetrachtung andererseits nur noch am professionellen und künstlerischen Rande zu tun hat? Wer ist das „Subjekt“ dieser Inszenierungsverschiebung, wer führt Regie, wer erstellt die Vorschriften? Die Emergenz dieses Systems der Fotografie fällt ins Auge, und zwar sowohl dann, wenn man „das Fotografieren“ von außen betrachtet, als eine Art sozialer Verpflichtung, Anwesenheit zu markieren, als auch von innen, wenn man das spezifische Wesen der fotografischen Technik, dieser „Zeitlichtmaschine“, phänomenologisch und phantasmatisch zu markieren versucht – einer Maschine, die die Abwesenheit eines Menschen, einer Situation, eines Ereignisses als vergangene Präsenz zu präsentieren vermag. In dieser Hinsicht ist die Fotografie Schrift und das Fotografieren eine stumme Stimme. Es gibt sie noch: die überlegte, distanzierte, bewusste, einsame Fotografie, und das zu Tränen rührende vergessene Foto im Schuhkarton der verstorbenen Eltern. Aufgrund der Präsenzmarkierung verpflichtet und kreditiert die Fotografie sich für eine spätere Ansicht als Erinnerung an ein konkretes
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Datum, das in der Wirklichkeit so nicht stattgefunden haben mag, sondern eine Realität erzeugt, die von einer Wirklichkeit (unvermittelten Praxis) so weit entfernt ist wie die Schrift. Denn das Foto erschafft den unwiederholbaren Augenblick einer Präsenz. Es gilt in Bezug auf die Fotografie die reziproke Lesart des Satzes: Das Medium, welches die Fotografie erzeugt, ist die Präsenz – die Präsenz ist dasjenige Medium, das von der Fotografie erzeugt wird. Diese synchrone Bewegung von Medialisierung der Zeitlichkeit und elementar differentieller Tauschbarkeit der einzelnen Jetztmomente unterscheidet die Fotografie von allen anderen Bildhervorbringungssystemen. Ich erspare es zu wiederholen, dass wir es in der Analyse auf das allen Fotos gemeinsame Noema der Fotografie, das Fotografische abgesehen haben – unabhängig von den Stilen, Autoren, Genres, Techniken, randständigen „Lichtbildverfahren“ und der Zeit, die ihre Belichtung einnehmen mag. Und auch unabhängig davon, dass wir zwischen einem Foto, einer fotografischen Zeichnung und einer fotorealistischen Malerei oder Inszenierung fallweise nicht unterscheiden können, zumal dann nicht, wenn die verbindende Darstellungsebene der Bildschirm ist. In diesem Fall ist nicht von Fotografie zu sprechen, sondern von der Montage visuellen Materials bzw. von Visualisierung. Die Referenz auf Präsenz meint das Fehlen von Bewegung durch chronographische Fragmentierung eines Zeitverlaufs, jenem Verfahren, das Maybrigde angewandt hat, um den Lauf eines Pferdes in datierbare Phasen zu zerlegen. Dabei ist oft übersehen worden, dass Maybridge die Serienbilder dem Verlauf der Zeit nach cinematographisch ordnete, um nur einen einzigen Moment von Präsenz zu verifizieren: dem, in welchem das Pferd mit allen vier Hufen den Boden verlässt. Das Ergebnis war eine „Quantelung der Zeit“, die aus der unaufhaltsamen Modalität der Einbildungskraft eine mediale, operativ beherrschbare Struktur macht, die schließlich zur Normierung des Films führt. Nun gibt es, wie Husserl hervorgehoben hat, kein leeres Bewusstsein als leeres Medium, in dem dann nachträglich die Inhalte/ Präsenzen hineinmoduliert werden. Das Bewusstsein des Subjekts von sich ist zugleich untrennbar mit seinen Intentionen gegeben wie die zwei Seiten einer Münze. Es gibt keine Präsenzaufnahme/Fotografie, die zugleich ein Bewegungsbild ist; es gibt aber auch kein Bild, das nicht mit Augenbewegung angeschaut wird – das beweisen physiologisch die Inversions- oder Vexierbilder, die ein beliebtes Instrumentarium der Physiologen und Psychologen („Psychotechniker“) Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sind. Die von der Fotografie markierte Präsenz, die die Niépce’sche Fixierung in eine archivierbare Dauer verwandelt, ist einen Erfindung der Fotografie. Die Fotogra-
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fie schafft die Grenze einer spezifischen Form der Realität als Zeitbewusstsein in einer Wirklichkeit, die sich auch in anderen Medien nach ihrem Vorbild realistisch gibt. Die Kolportage des Kalauers, wie die Leute wohl geträumt haben, bevor es den Film gab, passt genau in die Problematisierung der Kulturleistung des Diskurses der Fotografie. Die Schrift ebenso wie die Fotografie und die Bildschriftlichkeit der Fotografie ist – gerade weil sie sich auf ihr soziales Zeitlichkeitsmoment beziehen lässt – vom Tode, also von der Endlichkeit und der Ewigkeit einer Grundverfassung in die Zange genommen, innerhalb derer sie die unendliche Variation der Schriftelemente (Motive) kursieren lassen: Diese Mitte hält sie dem Wortsinn nach in „Medien“. Technisch betrachtet ist Fixierung und Fixierbarkeit von Präsenz das, was die Erfindung von Niépce und Daguerre im Kern ausmacht. Von daher kann man der These Derridas beipflichten, dass erst die Schrift die Idee des Humanen generiert, die Anerkennung der Grenzen der Sterblichkeit unter dem Blick des Anderen. Ohne die Rückbesinnung auf diesen zentralen Punkt der Argumentation bleibt die unbillige Unterstellung, Derrida hättet behauptet, die Schrift sei vor der Sprache entstanden, polemisch. Derrida spricht von einer genealogischen Gleichursprünglichkeit, in der allerdings die Vollendung der Sprachstruktur, also ihre Körperablösung mit dem Gebrauch einer wie auch immer rudimentären, ikonoscripturalen Differentialität, zusammenhängt. Um voreilige Unterstellungen abzuwehren, haben wir uns damit beholfen, die Begriffe „Vor-Schrift“, „Urschrift“ und fallweise „Urszene“ (mit Rücksicht auf den Freudschen Begriff des Todestriebes) dem Derrida’schen Begriff der Schrift und der différance beizustellen. Vielleicht ist die im Deutschen mehrfache Bedeutung von „Vorschrift“ (frühe Schrift und Vorschrift: Regel, Gesetz, Konvention) geeignet, um die Idee „präscripturaler“ wie „präreflexiver“ (Sartre) Autonomisierung des Subjekts aus der Präsenz des Anderen und dessen kreditierender Anerkennung zu präzisieren. Gerade hier dient ja die fotografische Präsenz der Anerkennung eines Moments, in dem die Konstitution einer Zukunft und die Initiative einer Vergangenheit in einer Ökonomie beobachtet werden können. „Beobachtet“ heißt: Es tut auch nichts zur Sache, ob das Foto in einer Dreißigstel- oder Tausendstelsekunde aufgenommen wird, ob es sich sofort entwickelt oder der Film erst nach Wochen entwickelt wird. Empirisch ist das Foto stets eine Momentaufnahme, deren Belichtung man nicht ereignishaft differenzieren kann. Wir müssen entschieden medienphilosophische Begriffe bemühen, deren Einführung nach vorläufiger Lektüre der fotografischen Diskurse notwendig ist, um einer vorschnellen Argumentation im Sinne von „die digitale Fotografie ist heute
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ein Medium unter vielen“ die Spitze zu nehmen. Wenn es so einfach wäre, bräuchte man sich schriftphilosophisch nicht an der Frage abzuarbeiten, was denn eine Bool’sche Algebra für ein besonderes Schriftphänomen ist und welche Programmierschrift unter welcher Grammatologie es erlaubt, in die Konstanz eines Elektronenspiels die Varianz aller Medienfundierungen einzuschreiben und in eine sinnliche greifbare Dimension zu rücken: überall ein Prozess von Macht, Normierung, Subversion, Substituierung, dessen politische Dimension in das unabänderliche Reich neutralisierter Techniken abgeschoben wird. Gerade heute, so schreibt Hubert von Amelunxen im Vorwort seiner Sammlung neuerer Theorietexte zur Fotografie, ist die in den 1960er Jahren von Derrida und Foucault angeregte Frage der Durchsetzungsmacht der Schriftdeutung dringlicher zu beantworten, als in der Nähe einer noch auf die Leitmedien Buch, Schrift und Sprache fixierten Philosopheme. Bergson sei da einmal ausgenommen. Gerade weil Derrida gesprochene Sprache von Schrift radikal unterscheidet, kann zwanzig Jahre später in der historischen und genealogischen Entwicklung der Fotografie ein Beispiel für die Problematisierung des Zeitbegriffs aller Medien gesehen werden. Denn die Fotografie ist nun nicht mehr eine Kunstform, sondern ein Medium unter anderen, dass sich durch eine spezifische Präsenzsignifizierung auszeichnet. Die elektronische Transformationsfähigkeit von Informationen macht sich die Schrift der Bool’schen Algebra zunutze, nach der die einzigen Elemente, die, mit sich selbst reproduziert, gleich bleiben, die 0 und die 1 sind. Vom Moment des Einsatzes der Digitalisierung unter der Boolschen Algebra an, wird die singuläre Präsenz, die Einmaligkeit einer Autorschaft und das, was die Fotografie über hundertfünfzig Jahre lang konstituiert hat, zum Verschwinden gebracht. Die elektronischen Medien hinterlassen keine Spuren mehr. Sie funktionieren in einem den Sinnen entzogenen Raum der Echtzeit. Nun war das Ideal der Fotografie seit Fox Talbots Einführung des Positiv-Negativ-Verfahrens nicht das Unikat (wie die Daguerreotypie), sondern das ihrer beliebigen Reproduzierbarkeit. Gibt es aber in der analogen Fotografie noch ein Negativ, das als Original gelten kann, so verfügt die digitale Fotografie nur noch über positive Datensätze, d.h. Schrift, nicht Bild. Solche Ursprungslosigkeit wird in der wissenschaftlichen Tradition stets mit dem Moment der kausalen Ableitung zu maskieren versucht: Es gibt ein erstes Foto und alle anderen nachträglich visualisierten Erscheinungen dieses Fotos gelten nicht mehr als Original. Die Originalität ist somit unmittelbar an ein Datum und, insofern wir von Fotografie sprechen, durch einen Ort gekennzeichnet. Die Fotografie verführt im Kurzschluss dieser Ableitung dazu,
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den fotografierten Gegenstand unmittelbar als Wahrnehmungsgegenstand zu identifizieren, sodass sich die reine und ideale Wiederholung allein dem Phänomen der Wahrnehmung zuschreibt und nicht einer imaginativen oder manipulativen Formgebung. Doch ist die elektronische Reproduktion nur als Präsenz eines Präsens denkbar. Der Ausdruck „Präsenz“ meint ja gerade eine Wiederholbarkeit oder Reproduzierbarkeit eines Wahrnehmungsmoments. Wie die Zahlenreihe aus Daten besteht, so besteht der Zeitfluss aus Präsenzen. Der Begriff „Fluss“ ist nur noch der einer medialen Metapher. Gerade Daten zeichnen sich im Effekt durch ihre Diskretheit aus (nehmen wir das Wellenphänomen des Lichts einmal aus). Wir haben es in der digitalen Welt also nur mit unterschiedlich dimensionierten, tauschbaren Präsenzen zu tun, deren gemeinsame Organisation durch ein Uhrendatum synchronisiert wird. Die Wiederholung ist zeitlich und gegenständlich zu denken. Reine Zeit, also Kontinuität, kann nicht opferlos wiederholt werden, sondern nur Zeit als Präsenz eines Ereignisses, eines Gegenstandes oder einer anderen Form vor dem Hintergrund einer Diskretion (Szenifikation), die jedoch viel subtiler sein muss, als die in ihr eingezeichneten Formen. Ein Foto aus einem Pixel macht nicht viel Sinn. Definiert man das Fotografische von seiner Wiederholungskraft her, so ist es völlig gleichgültig, ob das Foto künstlich, inszenatorisch oder dokumentarisch zu dem Gegenstand Bezug nimmt, den es abbildet. Ob digital oder analog aufgenommen wird, spielt ebenso keine Rolle, da der Aufnahmemoment, nicht die Aufnahmetechnik von der Präsenz künden. Das von Barthes favorisierte Noema des „es ist so gewesen“ wird aber im Lichte einer anderen als der kausalen Ursprungslogik zweifelhaft. Denn das „es-ist-so-gewesen“, könnte heißen: „es-ist-erst-durch das-Foto das „es-ist-so-gewesen“ geworden“. Von Anfang an ist der fotografische Moment also nur illusionshalber „authentisch“ – das beweist sich dann in den digitalen Fotografien. D.h., der ursprünglich vorbildliche Moment der Fotografie war in Wirklichkeit nie erfassbar, sondern wird allein durch den fotografischen Apparat, die Entwicklung und die Präsentation des Fotos präsent. Der Ursprung ist, wie Derrida sagt, nicht einfach. Hier schließen sich einige philosophische Überlegungen an die These, dass die Fotografie allererst Präsenz artifiziell und nachträglich entstehen lässt. Präsenz immer nur als nachträglich, verspätet, im Aufschub zu erleben, scheint ja ein Widerspruch zu sein, der an eine Analyse der Zeitlichkeit des Bewusstseins anknüpfen muß. Die Frage des Ursprungs, die auf eine Logik der Kausalität antwortet, ist philosophisch schon immer mit einem originären Bewusstsein verbunden worden. Der dem Bewusstsein gegebene Gegen-
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stand wird nicht als real aufgefasst, sondern das originäre Bewusstsein soll zugleich Bewusstsein der Sache wie begleitendes Bewusstsein meiner selbst sein. Das geht aber nur, wenn Ich und Gegenstand im gleichen Moment als getrennt erfasst werden. Sonst müsste das Ichbewusstsein im Gegenstandsbewusstsein selbst lokalisiert werden. Diesen Weg hat Husserl beschritten, indem er das Ichbewusstsein als intentionales, d.h. gerichtetes Bewusstsein respektive als „Handlung“ auffasste, mit dem Ziel, das Ich und den Gegenstand phänomenologisch getrennt also rein auffassen zu können. Anders kann man nur von einem nichtsynchronen Bewusstsein ausgehen, dessen Differenz „Zeit“ selbst ist. Nach dieser Auffassung, die im deutschen Idealismus von Schelling vertreten worden ist, sind „Zeit“ und „Bewusstsein“ als „Dasein“ (Heidegger) zwar identisch. Allerdings handelt es sich hier um die Unterscheidung zwischen einem sukzessiv differentiellen Zeitbegriff (Dasein als Gegenwärtig-, d.h. Präsentsein – was ja dem Terminus „Bewusstsein“ entspricht) und Dasein im Sinne von Vorhanden-, Anwesendsein, was dann die Kette zum dinglichen Besitz und zu einem Besitz von Dasein in der Schriftphänomenalität und der Fotografie erschließt. Die mögliche Abwesenheit in der Schrift kann die mögliche (spätere) Anwesenheit voraussetzen: Ich anstelle des Anderen. Dasein als Verschriftlichung, Lesen als deren Mimesis. Schelling geht es um die von Kant initiierte Lösung eines tiefgreifenden Problems, dessen Urbild in der Bildsprache der fließenden Zeit der Uhr ihr Dilemma hat. Zwar lässt sich Zeit im alphanumerischen Code datieren, aber physikalisch nicht anhalten. So muss auch Präsenz als Abfolge zweier Ereignisse verstanden werden, von denen das zweite das Spatium zum ersten erst signifiziert, sodass die Reproduktion in Wirklichkeit das Produkt bestimmt. Erst in der zweiten Belichtung wird gleichsam aus dem virtuellen Ereignis ein reales – weswegen sich die Erkentnis gegenüber der Wahrnehmung immer verspätet und der Begriff „authentische Wahrnehmung“ einen Widerspruch formuliert. Die Begriffe „Ereignis“ und „Bewusstsein“ formulieren als Metaphern eines Sprachbildes den lebendigen Widerspruch zwischen einer Realität der Sache und der Wirklichkeit, machen die konstitutive Illusion einer subjektiven Anschauung in einer objektiv vermittelbaren Realität möglich. D.h., der Widerspruch selbst, nicht die Sachen werden vermittelt. Das Bewusstsein von einer Sache ist nicht die „gestellte“ Sache selbst, sie ist nur im Bilde der Uhr wie im Bilde des stillgestellten Bildes (Foto) vorstellbar. Es sei denn, und das ist für die Fotografie konstitutiv, entweder wird das Motiv stillgestellt, inszeniert (so wie man Gruppenfotos inszeniert) oder die Belichtungszeit wird auf den Moment annähernder Bewegungslosigkeit verkürzt.
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Das wird insbesondere im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Mechanik und Geschwindigkeit, so lange zum Problem, wie die Lichtgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit der Dateneinschnitte, nicht annähernd erreicht ist. Die Fotografie erfordert und erfindet die Unbeweglichkeit bewegter Momente. Maybridge ist die Symptomgestalt solcher Erfordernisse. Im Uhrwerk selbst ist dieses Dilemma durch eine Komplikation schon im 13. Jahrhundert gelöst worden. Eine Hemmung verwandelt die kontinuierliche Bewegung in eine diskrete, gleichmäßig teilbare und messbare Bewegung, wenngleich die Zeiger der Uhr den Eindruck erwecken sollen, die Bewegung erfolge so kontinuierlich wie der Fluß der Wasser- oder Sanduhren. Für das Bewusstsein muss diese Hemmung als widerstreitender Aufschub/différance neu ausgelegt werden. Die inzestuöse Selbstbespiegelung muss durch ein Moment der Verschiebung oder Verspätung des Bewusstseins zu sich selbst gebrochen sein, sonst wäre zwar Selbstbewusstsein, nicht aber das Bewusstseinsmoment von Dinglichkeit, Situativität etc. möglich. Schelling, dessen auratischer Blick uns in einem Foto von 1848 (vermutlich von Herrmann Biows) erhalten ist – Benjamin zeigt das Foto in seiner Kleinen Geschichte der Photographie nicht ohne Grund und Hinweis auf Schellings Philosophie –, erklärt, dass die Reflexion immer schon wissen muss, dass ich es bin, der sich im Spiegel reflektiert. Er konnte sich aber nicht erklären, wie das Ich von sich vor aller Identifikation wissen kann. Möglicherweise ist das Ich demnach keine Identifikation mit sich selbst, sondern Effekt einer differentiellen Bewegung, Abwehr und Lust einer agonalen Szene der Identifikation, die nie gelingt und nie gelingen soll. Schelling schlägt, wie sehr viel später Sartre, vor, dass es ein präreflexives Bewusstsein von sich selbst gibt, das invers, vor der Reflexion, die Selbstobjektivität immer schon im Gegenstand vollzogen haben muss, um die Verdopplung nicht als reine zeitlose (also nicht Auto-Bio-Grafische) Wiederholung erscheinen zu lassen. Wenn man so will, begründet sich hier ein transzendentales oder phantasmatisches Subjekt, das sich in seiner Selbstbewegung, in seinem Zweifel begründet. Damit wird der Inzest der Selbstbegegnung in der Suspendierung des Subjekts beim ersten Mal verhindert, verschoben, oder hinterlässt, wie Derrida sagt, eine verräumlichende Spur. Die gewollte Selbstidentität mit sich wird gebrochen, also reflektiert und (lebenslang) aufgeschoben. Schopenhauers antiidealistischen Folgerungen in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellungen sind ein wirkungsmächtiger Beleg für das Einverständnis mit die Täuschungsobjektivität des Subjekts. Nun heißt „Subjekt“ nichts anderes als das dem Objektiven Unterlegte. Dieses Objek-
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tive oder Reale ist das Bild, das wir von der Welt haben: eine konstitutive Arrondierung möglicher Widersprüchlichkeit. Schellings späte Einsicht präsentiert wie Schopenhauer und gleichzeitig mit der Erfindung der Fotografie, die Idee, dass die Signifizierung eines Erstenmals erst durch ein zweites, duplizierendes Ereignis wirklich wird, also seine indexikalische Bedeutung erhält und somit erinnerbar wird. Aber das zweite Ereignis erscheint nun dem Subjekt als aktives erstes. Nur die Spur der Differenz, des aufgeschobenen Ursprungs verrät inversionslogisch – nicht reflexionslogisch, so Schellings bedeutungsvolle Entdeckung – den sich nicht selbst präsenten Autor jener Bewegung, die sich scheinbar von selbst vollzieht – und zwar in der Fotografie und so, dass zwischen dem ersten und dem zweiten Ereignis, zwischen der Wahrnehmung der Fotografie als solcher und der Wahrnehmung dessen, was sie abbildet, nicht unterschieden wird. Objektiv ist allein die Spur, also die Distanz/Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Mal. „Dies ist keine Pfeife“ – so warnt Magritte schon vor den gemalten Indices. Nur der Blick auf das Fotografische macht signifikant, was an der Fotografie Schrift ist: Er besteht in der Verräumlichung der substituierenden Kette der Inversionen von Form und Medium. Und wieder ist zu fragen: Was ist an der Fotografie, die an sich nur eine Relation, Distanz, Lichtspur ist, Substanz? – Eine Frage die unweigerlich die Gespensterfotografie der vorletzten Jahrhundertwende herbeiruft. Es war wiederum Schopenhauer – um ihn als Protagonisten gegen idealistische Authentizitätsansprüche ins Licht zu setzen –, der angesichts der Verräumlichung der Zeit positiv den Zwang diagnostiziert hat, dass die logische Unmöglichkeit der Selbstidentität (die in jeder Fotografie aufleuchtet) als Aufschub, Begehren oder als „Wille“ zu interpretieren sei. Bewusstsein und Zeitlichkeit des Menschen seien also in ihrer mimetischen Identitätssucht philosophiegerecht vor allem in der Schriftfunktion aufhebbar, während das (fotografische) Bild die unvermitteltete Identitätssucht befriedigt. Folgen wir dieser These, so ist beinahe evident, dass das volle Bewusstsein des Aufschubs der Selbstidentität, so sie in diskreten Momenten erfolgt, nur als Bildlichkeit von sich selbst zu haben ist: als Präsenzbild, idealerweise als Selbstbild eines technischen Simulakrums, des Fotos, denn die Malerei liefert ja stets viele totalisierte Momente unterschiedlicher Präsenzen in einem Bild. Sie idealisiert und abstrahiert. Unerwähnt darf nicht bleiben, dass der Mensch gerade in der vollständigen Präsenz narzisstisch erstarrt, selbst zum Bild werden muss – so auch der Anspruch des Narziss-Mythos. Der Mensch will aber nicht auf sein visuelles Erscheinungsbild reduzierbar sein, denn
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es gibt ein Negat seiner Visualität, und das ist der Blick, also der repräsentierte Wille, den Fotos zu erfassen vermögen: den Blick des Fotografen und den Blick des Fotografierten. Um den menschlichen Blick zu erfassen, ist es nicht notwendig, den Menschen abzubilden – was ja die Geste des ubiquitären „bildlosen“ Fotografierens bestätigt. Der Blick, der die Identität sucht, unterbindet sie zugleich, indem er sich an ein Innen des Anderen, an dessen Selbstverfehlung wendet. „Ich“ ist demnach eine reminiszierende Synthese aller unerreichbarer, metaphorisierender Jetztpunkte oder Bildaugenblicke. Kant hält für dies synthetisierende Illusion das Wort „Einbildungskraft“ bereit. Die Zeitillusion der Fotografie steht in dieser agonalen Szene: ein Jetzt, das im Moment der fotografischen Aufnahme sich ereignet, im Foto aber nur als Vergangenheit lebendig wird, jedoch Vergangenheit als Zukunft kreditiert. Tiefer als Schelling (und parallel zur Genese des „Willens“ oder „Triebs“ von Schopenhauer über Freud bis zu Lacan) hat sich Heidegger dieses Geschehen des asynchronen „Daseins“ angeschaut. Es ist in aller Kürze folgender Gedanke, den Heideggers mit Kant und über Kant hinaus vorschlägt und den Derrida, wenn auch nicht explizit auf Heideggers Grundlegung der Metaphysik bezogen, mit dem Begriff différance wieder aufnimmt. Erstens: Die Nichtbegründbarkeit von Zeitlichkeit, der Sinnlichkeit und Verstand als Synthesen folgen, ist metaphysisch. Metaphysik ist durch Empirie nicht einholbar. Man kann sich den Menschen weder ohne Urschrift noch ohne Bewusstsein vorstellen. Beides impliziert eine Entgegensetzung von Zeit und Raum, Leere und Fülle eines zeitlich aufgefassten Daseins. Zweitens: Die Grundlegung erfolgt als Synthese des „Bildes“: in der Sinnlichkeit (Imagination) als Einbildungskraft, im Verstand als Begriff. In dieser Auffassung sind Bild und Begriff schon aneinander vermittelt. Drittens: Die Synthesen sind nichts anderes als eine relative Verdichtung/Stauung/Aufschiebung respektive ein Symmetriebruch zwischen Imagination und Realisation. Nur weil die Vermittlung nicht opferlos, d.h. ohne Rückstand (im temporären wie materiellen Sinne) erfolgt, ist man legitimiert, von einer Kraft zu sprechen, die einbildet, sequentielle Strukturen in die Kette der Zeitmomente einschreibt. „Zeit“ ist quasi der Ausdruck für das, was in der Übertragung niemals aufgeht, sondern sich je im Anderen immer wieder aufhebt, distanziert und reminisziert. Die Kombination/Rhythmik/Temporalität dieser Aufschubsmomente, also Bildlichkeit und Sprachlichkeit, bildet Subjektivität respektive Ichbewusstsein als Bio-Grafie (individuell) oder Historie (kollektiv). Bewusstsein der Zeitlichkeit des Menschen, seine Endlichkeit, liegt in der Unverfügbar-
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keit einer in sich widerstreitenden Einbildungskraft, die dem Bewusstsein immer schon voraus, sich aus der Vergangenheit (der realen Dokumentarität im Jetzt, in dem, was die Menschen in ihrer Arbeit hervorgebracht haben) speist. Die ästhetische Phänomenausprägung von Bild und Schrift erhält erst durch diese – bei Heidegger ontologische, bei Adorno/Benjamin dialektische und bei Derrida grammatologische Auslegung der konstitutiven Verfehlung/ Verspätung/Verschiebung der Bewusstseinspräsenz eine Aufklärung – einer Präsenz, die wider bessere Einsicht die Fotografie noch illudiert. Mir scheint in der identifizierenden Verfehlung (Wirklichkeit, aber nur fotografische) ein Ausweis der phänomenologischen Reduktion des Schriftphänomens der Fotografie zu liegen: Sie situiert sich als Kontrast zu den kontinuierlichen Folien der Zeit in weit ausgeprägterer Weise als z.B. der Film, der in der Montage ebenfalls die Veränderung der Zeitverläufe zulässt. Aber der Film schafft wie der Roman seine eigene Kontextualisierung mit: Er ist zu sehr der präscripturalen Szene verhaftet und zu sehr technisches Kollektivprodukt, als dass er die Problematisierung eines authentischen Ichs aufkommen lassen würde. Nehmen wir auch hier die Tendenzen des autheur in der Nouvelle Vague aus. Im Gegensatz zur Fotografie verschleiert die ununterbrochene Kontinuität des Films den fragmentarischen Charakter jeden Bildes. Die ursprüngliche Ganzheit kann es allein als einen sich selbst differenzierenden Quellpunkt, der stetigen Verwandlung eines Datums der Präsenz (Aufnahmezeitpunkt) in einen Raum der Dauer des Bildes und des sich sukzessiv verändernden Erinnerungswertes geben. So wie die Lichtgeschwindigkeit nicht überboten werden kann, so kann auch das Nu der Präsenz nicht überboten werden. Das sichert der Fotografie als solcher den Status einer Evidenz, einer absoluten Metapher zu. Es wird überall und jederzeit von jedem fotografiert. Die Fotografie ist die ideale Repräsentanz eines Außen – einer Räumlichkeit, der der Effekt der dreidimensionalen Wiederholung der Welt als solcher fehlt. Aber eben dieses Fehlen verhindert, dass wir die Fotografie bloß als eine Wiederholung, eine Simulation betrachten. Die Konstitutivität dieser Fehlstelle, „Bildlichkeit“ schlechthin, zeigt sich im Gegensatz zu anderen Bildern in der Bestimmung/Datierung einer Präsenz in einem dauernden Präsens des Fotos. Wie gehören nun das wirkliche Präsens – das, was man Husserl und Derrida zufolge „Innerlichkeit“ oder „Subjektivität“, „Vergegenwärtigung“ nennen kann – und die Präsenz eines räumlichen Außen zusammen? Derrida geht an dieser Stelle zum Phänomen der Stimme zurück, die eine Selbstaffektion als Differenz eines inneren Zwiegesprächs anzeigt, also eine
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Differenz, die im Innen-Außen zunächst erkannt sein muss, aber nicht räumlich ist. Selbstpräsenz markiert einen Aufschub zu sich selbst, Selbstverfehlung oder -verspätung, die uneinholbar Vorstellungen, Erinnerungen und Selbstreflexionen als Präsens (Einbildung) ausfließen läßt, zu denen es keine Präsenz gibt außer der Stimme, die ihr inneres Reich nie vollständig verlässt, um zu einem Außen abgespalten zu werden. Die Imagination ist innen unaufhaltsam, nicht diskret. Das heißt, die Autarkie und Autonomiebestrebungen eines jeden Subjekts müssen als von außen gegeben, dem sichtbaren Bereich entnommen erkannt werden, um vom Subjekt als seine innere Dialogizität verifiziert werden zu können. Ohne Außen kein Innen. Das Wahrnehmen des Erkennens einer Fotografie z.B. verlangt die Bewusstwerdung einer Spaltung, deren primärer Teil sich mir entzieht – der mir entgeht, weil er vom Anderen meines Selbsts konstituiert wird. Die Welt ist ja immer schon voller Zeichen, Fotos und anderer sich selbst verfehlender Subjekte. An diesem Punkt fließen die psychoanalytischen Grundkategorien der Autonomisierung und der Autarkisierung in das Schriftphänomen ein. Die Fotografie ist nicht reine Reproduktion im räumlichen Sinne, sondern sie erschließt sich zugleich ihr zeitliches Sein in einem verschobenen, inszenierten Präsens, in der jeder in der nachträglichen Betrachtung eines Fotos begreift, dass die Präsenz des Fotos, wie die der Subjektivität immer schon vorgebildet und somit verspätet ist: ein „es-wird-so-gewesen-sein“ ist. Erst die protomediale Genealogie der Schrift als Körperablösung, so haben wir mit Derrida gesehen, erklärt die radikale Differenz zwischen phoné und techné einer der Abstraktion möglichen, durch arbiträrer Schrift konstruierbaren Gemeinschaft, die ganz und gar das kulturell erlernbare artifizielle Produkt Schrift in seinen vielfältigen Abstraktionsgraden ausmacht.
III. ALLEGORIE UND SCHNAPPSCHUSS Das fotografische Bild ist ein Einzelbild. Es steht für sich als Ganzheit; Fragment ist es bezüglich der Wirklichkeit, Fragment als Realität. Der Realismus als Darstellungsweise beginnt in der Literatur als Bezugssystem gleichwertiger sachlicher (journalistischer)Beschreibung. Diese Literatur hat ihren ersten Ort in Zeitungen. Der Fortsetzungsroman dimensioniert eine monadische Abrundung einzelner Szenenblöcke und eine Öffnung, Problematisierung, die zum Weiterlesen animiert: Spurensuche, Kriminalgeschichte, Biografie. Dies Grundstruktur finden wir in den Beschreibungen auch der Fotografie
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bei Roland Barthes: das Studium als kontinuierliche Lesung des Bildes, der Erfahrung, dem Wissen, dem Diskurs der Fotografie verpflichtet; das Punctum, dem nur individuell zugänglichen lancierten Detail, das sich aus der Verbindung mit einer persönlichen Erinnerung nährt. Es ist wie bei den Bildern von Atget: Obwohl wir das alte Paris vor der Haussmannisierung nicht gekannt haben, ist uns durch das Studium klar: Hier handelt es sich um ein nicht mehr existierendes Paris: Kutschen, Gaslaternen, Professionen, die es nicht mehr gibt. Seither überlagern sich vielerlei Paris-Ansichten, die sich sedimentieren und eine wirkliche Geschichte erzählen, genährt von all den Fotos und Filmen, Postkarten und Erzählungen über diese Stadt, die Haussmann selbst nach den Kriterien der Perspektive und des Point-de-vue für den fotografischen Blick realisierte, als handelte es sich blickpolitisch um eine architekturale Aufnahme des Konzepts der Gärten von Versailles. Haussmann erfindet nicht nur Bilder, sondern auch Blicke. Er gibt nicht nur den Gebäuden, sondern auch den Räumen ihren Platz, so wie die Fotografie den zeitlichen Distanzen ihren Platz schafft. Die Überlegungen der Schreibenden über Fotografie – Benjamin, Sartre, Derrida, Barthes, Sontag, Baudrillard –, die das Aufzeichnen von Schrift blicktheoretisch zu verbinden suchen, kommen in den Diskursfragmenten zu Wort. Sie kommen in einer Manier zu Wort, die fotografisch, nicht literarisch ist: als Fragment, Zitat und szenische Stichwortgeber, als Lieferanten eines Gedankens, der, sobald er mit anderen in Zusammenhang gebracht wird, eine andere Aufnahme und eine andere Differenzrelation bildet. Jede Zitatmontage ist Verfremdung, die aus dem Zusammenhang reißt und in anderer Weise belichtet. Die Darstellung, die daraus entsteht, ist exzessiv allegorisch: Sie sagt etwas Ideales, das das Abbild nur zeigen kann. Das Ideale, Begriffliche der Allegorie experimentiert mit der Konstruktion des Gesamtzusammenhangs der Details: Spurensuche. Wie jede Fotografie, die etwas auf sich hält, wird im Zitat nicht nur das gesagt und gezeigt, was offensichtlich ist, sondern auch das, was durch seine Verstellung, durch seine Inszenierung und Platzierung zustandekommt. Die Fotografie befriedigt den Hang zur Erzählung durch Entzug. Das Figurative, Körperliche, Sinnliche, medial Hybride, die Plastizität kennzeichnen das Wesen der Allegorie. Das Zitat erregt immer den Anschein von Objektivität: Die Kompetenz eines Anderen wird herbeizitiert und in Anspruch genommen. Dabei verknüpft sich das Netz der Kompetenzen, des alten und des neuen Wissens. Belegstellen neutralisieren, differenzieren und normieren einen Verbund der Stimmen. So kann die Allegorie des gegenwärtigen Barock als Versuch einer ständigen Renormierung der Weltsicht verstanden
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werden, als Vorzustand einer neuen Konventionalisierung. Die Kunst des Zitierens liegt darin, den Blickpunkt des Anderen einzunehmen und zu vervielfältigen und zu brechen. Die Bild/Begriff-Kombination ist allegorisch im eigentlichen Sinne: Das Menschliche wird idealisiert und bleibt doch konkret an den Namen, das Werk gebunden. Totalisierung, Universalität wird zu Gunsten einer ursprünglichen Schriftdifferenz abgewehrt, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit verhaftet, jedoch nicht, wie in der Fotografie, auf der Ebene der Realitätsabbildung, sondern verteilt auf den Schultern der Imagination und der symbolischen Realität. Die Allegorie verlangt ein Wissen; aber das Wissen ist niemals abstrakt, da die Allegorie den Schlüssel zu sich selbst enthält. In der Allegorie ist szenische Schrift. Die Allegorie hat einen zweifelhaften Zugang zur Macht: Theologisch-mystisch und wissenschaftlich infiziert, bereitet sie die Möglichkeit der fotografischen Weltsicht vor. Der zitathafte, allegorische, szenische Blick müssen wir in jedem Foto als singulären und präsentischen Standpunkt des Fotografen lesen. Aufgabe der Fotografie es einerseits die Kontextualität und Inszenierung zu verstellen, andererseits die Wahrnehmung des Gewohnten und spontan Erkannten zu zeigen. Zwei verschiedene Ansätze: Einerseits das Punctum der Aufnahmen von Cartier-Bresson – scheinbar ganz der Kontingenz der Wirklichkeit ausgesetzt –, so wird der Schnappschuss zum Meisterwerk innerbildlicher Komposition. Präsenz geschieht. Und andererseits das Studium von Atget oder Steichen. Fotos, deren Analyse sofort auf das Wissen anderer Bereiche überquillt, die die Aufnahme sprengen und eigentlich nur Anlass sind, den Mythos hinter der Inszenierung, die der geschulte Blick initiiert, zu entdecken: Was hat mich (oder den Fotografen) veranlasst, diesen Blick zu wählen und keinen anderen? Wo Bild und Schrift nicht allegorisch aneinander geraten, gilt es, in die Extreme zu gehen. Diese sind das kalte, dokumentarische Foto und die Schrift als Gesetz. In diesen Extremen verbirgt sich die Ordnung des Realismus, die Entwertung des Individuellen, die Wachsamkeit regulierender Öffentlichkeit. Jedes Wertesystem besitzt seine ihm eigene Tiefenschärfe. So ist beispielsweise die Die helle Kammer, in der Barthes das Studium und das Punctum entfaltet, nicht zu kontextualisieren, wenn man nicht ständig seinen Diskurs über die Schrift, die Fragmentarik des Romans, der Liebe usw. erinnert, oder wenn man die Funktion der Mutter in der Psychoanalyse, ihre „Medialität“ innerhalb der „Produktivkräfte“ bedenkt. Wie weit will man in der Kontextualisierung des Textes von Barthes, seiner philologischen und wissenschaftlichen Genauigkeit gehen? Die Schärfe, Tiefenschärfe und
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Detaillierung werden hier zum Problem des Instrumentariums, d.h. der Leseprogrammatik. Die Zeit- und Sachanalytik wird bei Barthes zugunsten einer Analytik des Begehrens, der „Lust am Bild“ aufgehoben. Wir werden sehen, dass es dieser ambivalente „Wert der Zeit“ im Begehren des Subjekts ist, der für eine Analyse der fotografischen Schrift als fruchtbar sich erweist und die Denktraditionen, die sich aus dem Barock entwickeln, mitschleift. Das Blow up eines Fotos lässt sich, wie Antonioni im gleichnamigen Film von 1966 gezeigt hat, nicht beliebig durchführen. Das Ende der medialen Dimension wird durch das Silberkorn/Pixel bestimmt, der Signifikant fällt aus, es bleibt nur ein sinnloses Rauschen des Bildes. Antonioni zeigt dieses Rauschen als geheimnisvolle Rauschen des Windes in den stillen Londoner Parks, indem der Protagonist des Films sich Aufklärung über ein Verbrechen durch fotografische Analyse erhofft: eine Auflösung, die in Imagination überzugehen droht. Das Rauschen des Windes und das Rauschen des Fotos – hier haben wir die allegorische Dimension der Verlautung und des Graphismus. Wenn es nicht die Genauigkeit und Schärfe ist, die im Foto zählt, dann müssen es andere Einheiten sein. Die Dinge? Was heißt das: Fotografien zu studieren oder Diskurse in philologischen Details zu sezieren? Dort, im Foto kann ich mich auf meine Erfahrung im Umgang mit dem verlassen, was mir eine Praxis immer schon zu sehen gibt, hier in der Schrift muss ich wissen und Techniken beherrschen, die man mir beigebracht hat, Konventionen, Gesetze, Regeln, die sich nicht von selbst verstehen und Abwehr erzeugen. Das Foto (nicht aber die Fotografie) ist demokratisch, die Schrift klassenspezifisch. Aber auch der Diskurs der Fotografien selber schließt ein, dass es etwas an der Fotografie zu wissen gibt, das im Foto nicht ausgedrückt werden kann – so wie Antonioni dem Wind die Auflösung der Schärfe überlässt, als hätten wir es hier mit einer gereinigten, leeren Dimension zu tun, dem genauen Gegenteil der Suche nach den feinsten Details. So ist die dunkelste Seite des Diskurswillens über Fotografie sicher die Auflösung des Blicks im Schnappschuss, dem nicht das Detail gilt und der den Blick kontingent macht. Der Schnappschuss ist der scheinbar automatische, spontane, aber auch genialisierte Ausdruck des Fotografierens, der am tiefsten den Zwang und den Widerstand mitteilt, in einem Medium keine Opferspuren zu hinterlassen: Selbstausdruck, Autografie oder Autoimprimatur. Der Schnappschuss bewahrt das Fotografische, ohne dass man Fotos betrachten muss. Der Schnappschuss ist das Fotografieren auf seiner einfachsten und höchsten Stufe, er widersetzt sich der allegorischen Konstellationen. In der ästhetischen Bewertung des Schnappschusses erweist sich die Meisterschaft
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und die Legitimität des fotografischen Diskurses. Der Schnappschuss ist heute der unmittelbarste, vollständige und ubiquitäre Modus des Fotografierens. Seine Geste, eher unbewusste Tat als intentionale Handlung, offenbart den innersten Ausweg der Fotografie aus dem Dilemma der Vergänglichkeit, der Bildung von Opferstoff als Erinnerung – dessen, was die Götter abweisen. Der Schnappschuss ist der Ausdruck einer Verzweiflung über die Unnahbarkeit von Mensch und Ding, das Ungeschehenmachen des Opfers ihrer totgestellten Präsenz und die Hoffnung auf ein Pantheon der Blicke. Schnappschüsse sind auf magische Objekte gerichtet, auf das Brandenburger Tor, auf das Kolosseum, auf den Eiffelturm – so als würden diese Götzen in sich die Kraft der Vergebung ausstrahlen, das Opfer in Heldentum verwandeln können. Diese Objekte sind magische Fragmente einer Markierung erster Ordnung: Raum, Zeit, Stadt, Schrift. Der Mythos der Religion verlegt den nomadischen Götterhimmel von den Dingen auf die Schrift. Es ist der Krieg der Religionsgründung selbst, der sich hier artifizialisiert und ästhetisiert: die Erinnerung, die, insofern sie das Opfergedenken nicht löscht, traumatisiert und nomadisiert. Der Schnappschuss kann nichts verdrängen. Er ist die Anerkennung und die Dementierung des Opfers der Verdinglichung. Benjamin hat diese Idee in seinem Passagen-Werk und den Arbeiten zu Baudelaire virtuos aufgenommen. Er spricht vom Somnambulismus des 19. Jahrhunderts, vom Wahn des Auf- und Abbruchs und dem Traum einer Stadt, die die Vision militärischer Vernunft mit der Dialektik der Opferaltäre verbindet. Als ginge es einzig darum, ein Monstrum wegrationalisierter Arbeit für die Fotografie erstehen zu lassen. Das Konzept Haussmanns sah auch vor, am Ende der Blickachsen jeweils ein Erinnerungsmal der Kultur und ein Kenotaph der Helden zu platzieren. Hinter die Banlieue reicht dieser Blick nicht. Der Lumpensammler, der – so Benjamin – zwischen Kloake und Katakombe das dialektische Bild von Paradies und Hölle der Stadt manifestiert, ist heute der phantasmagorierte Tourist, der die Heldentaten des 19. Jahrhunderts fotografiert, in aller Verblendung aber nicht die Zerrissenheit des 21. Jahrhunderts zur Kenntnis nimmt. Die Transformation des Realismus verklärt den Tod, nicht das Leben. Noch die Nonchalance der Pariser Friedhöfe zeugen davon. Die trauernden Mütter und Witwen landen im Armengrab. Selbst für Atget sind sie bloß reminiszierende Dekoration. Phantasmagorien sind die Postkarten einer somnambule Seele, die an den Absender verschickt werden. Aus diesem Kreislauf erlöst kein Blitzlicht des fotografischen Moments mehr, der früher noch mit den zwölf Aufnahmen der Box oder mit den sechsunddreißig des Kleinbildfilmes geizig kal-
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kulierte. Heute wird alles fotografiert. So gehören der Tourismus und der Schnappschuss zu ein und demselben System der Neutralisierung durch Medialisierung. Der Flaneur, von dem Benjamin sich die zeitraubende Aufklärung seiner „Urgeschichte des Warenjahrhunderts“ im materialistischen, nicht im historischen Sinne erhoffte, ist dem nomadischen Pauschaltouristen gewichen. So, wie man den touristischen Ort rasch wieder verlässt, so verschwinden auch die digitalisierten Bildermassen, ohne je gezeigt, aus dem Trauma erlöst worden zu sein. Sie landen blind in den bildlosen Gedächtnisapparaturen, als würde die Büchse der Pandora hinter den eigenen Erinnerungen lauern. Die Fotografie ist hier gegen die Intention des bewahrenden Abbildens eine versichernde Flucht in die Zukunft ohne Vergegenwärtigung. Eines Abends, so stellen wir uns vor, werden wir wie unsere Großmütter den Schuhkarton hervorziehen und uns unserer Lebendigkeit versichern. Wir werden bemerken, dass die Schrift der digitalen Bilder unlesbar geworden ist und dass dem Sammeln nie das Nachdenken folgte. Man kann sein Leben nicht zweimal leben. Fotografie und Fluchtgeschwindigkeit – das ist seit Marey das Thema technischer Bilderstellung. Virilio hat diese Auffassung bis in die Aktualität hinein seziert. Seiner Diagnose, dem Verschwinden der Bilder im kinematografischen Wahn, also der Identität von Traumbild und Wirklichkeitsinszenierung, ist dennoch nicht recht zu geben. Sie unterschlägt im Verschwinden das, was an seiner Stelle erscheint: nicht die Leere, sondern die Überfülle und deren instantane Vernichtung, also den Krieg. Virilio spricht von einem Bilderkrieg, den gerade auch der Kriegsfotograf befeuere. In der Rede über die Bilderflut wird vergessen, dass die Handhabung einer Kamera nicht mit dem Betrachten eines Bildes, sondern mit der Versicherung eines Blicks zu tun hat: mit Präsentifikation, Einschreibung in ihrer entmaterialisiertesten Form. So wie die Gebetsmühlen für mich beten, sieht die Fotokamera für mich, versichere ich mich meines Sehens als genau dem kollektiven Blick, den alle Anderen mit mir in gleicher technischer Form leisten. Das Fotografieren wird hier allein aus sozialen Gründen betrieben. Wenn Derrida selbst nicht so vehement versucht hätte, die Schrift vor der Stimme zu retten, um ihr eine Eigenständigkeit und ein Primat zuzuerkennen – wenn er vielleicht zwei Jahrzehnte später in der Diskursgeschichte seine Spuren hinterlassen hätte –: er hätte die semiologische Dominanz der sechziger Jahre wohl gerne der performativen Wende der achtziger geopfert, sofern man die subtile Gleichzeitigkeit von Form und Handlung nicht nur im Sprechen und Schreiben, sondern auch im Fotografieren verifiziert. Das Fotografieren ist selbst schon
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ein Produkt. Es ist dank der Technisierung zu einer intentionalen Geste geworden, die gerade deswegen verfängt, weil sie kein Opfer, keine Verdinglichung, kein Bild mehr zu hinterlassen braucht. Man fotografiert, wie man früher geraucht oder gespuckt hat. Das Fotografieren ist ein performativer Akt eigener Prägung, dessen Sinn darin besteht, die Sinne zu unterbrechen, eine Art Millisekundentraum in die Wirklichkeit einzufügen, die, sofern sie sich immer schon fotografierbar gibt, als Blickevent genau dies protegiert: die Identität von Traum und Wirklichkeit, wie sie Benjamins Begriff der Phantasmagorie beschreibt; die Erschaffung einer nur ästhetischen Weltsicht. Der optisch perspektivische Blick realisiert sich genau die Lebenswelt, die er abzubilden beabsichtigt: geradlinig, rechtwinklig, störungsfrei auf Augenhöhe – und: tauschbar wie eine Ware. Man fotografiert die Museumsbauten. Die Fotoausstellungen in ihnen besucht man nicht. Um so mehr bemüht sich eine andere Fotografie hilflos mit Argumenten der ästhetischen Meisterschaft nicht mehr nur im Gefolge, sondern als Avantgarde der Kunst und des Eventmarketings; den Traum in der Wirklichkeit dauern zu lassen. Aber sind all die allegorischen, symbolischen, technischen und konzeptuellen Montagen, Druck-, Farb-, Retuschenuancierungen wirklich noch einem Wesen der Fotografie angemessen? Gilt es nicht, endlich zu verstehen, dass diese Fotografie sich in die Ubiquität der technischen Visualisierung aufgelöst hat? Die Bilder von Cartier-Bresson, so spontan sie erscheinen, sind alles andere als Schnappschüsse. Wenn wir historisch argumentieren und die Fotografie von ihrer technischen Entwicklung abhängig machen: Was hindert uns daran, nicht auch den Begriff der Präsenz, des Augenblicks, des fotografischen Moments, d.h. des Realismus selbst mit historischem Maß zu messen? Wir sollten eine Geschichte der „Vergegenwärtigung“ schreiben, eine Geschichte des Gedächtnisses und der Erinnerung. Was wir stattdessen wählen und was in den zitierten Quellen zum Ausdruck kommt, ist immer noch eine Geschichte normativer Zeitlichkeit. Denn wenn wir eine Geschichte schreiben, übersehen wir das, wogegen die aktuelle Fotografie schon einen Widerstand bildet – ich sage bewusst nicht eine „Geschichte des Widerstands“, sondern: einen lebendigen Widerstand, einen Widerstand und einen Ursprung, die sich unentwegt mit jedem noch so marginalen Schnappschuss ereignen. Diese Fotografie ist eine Abwehr der Geschichte, die sie als universelle Realität der Präsenz abzuschaffen antritt. Tatsächlich ist die von John Austin 1955 dargelegte Simultaneität des sprachlichen Aktes als szenische Handlung und Ausdrucksform ein Hinweis darauf, dass alles, was Medien als Tauschmöglichkeit anbieten, immer im
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Bewusstsein des Körpers, seiner inneren Widerständigkeit und Sterblichkeit, vorgeformt sein muss: Widerstand als Projektionsfläche zwischen Mensch und Ding, aus dem plastischer, knetbarer Humanismus folgt. Die „widerstandslose Automatik“ der digitalen Fotografie kann einen Hinweis darauf geben, dass die Ablösung des Bildes vom Körper des Menschen unvollständig ist und die Tat des Fotografierens in den regressiven Rang eines Sprechens, Plapperns gerät. Erst ihr Verständnis als Schrifthandlung – das reproduzierende, regressive Signifizieren, das Lesen – erlöst die Gegenwart von sich selbst und hat die Befreiung vom Körper ermöglicht, so die Kernthese von Derrida. Die fotografische Geste bleibt eine Art, „Übergangsobjekt“, das die Einsicht in die Unmöglichkeit der Autarkisierung des Subjekts kalibriert; Todessog und Todesabwehr haben hier ihren sich selbst erhaltenden Schauplatz. Der Schauplatz ist Szene und Projektionsfläche zugleich: das Fotografieren als öffentliche Geste und das Fotografieren zu Zwecken der bildlichen Darstellung. Performativ sind beide Lesarten im fotografischen Bild angeboten. Wie werden die beiden antinomischen Bewegungen linear dargestellt? Man zeigt nicht mehr Fotos, sondern – in Selfies – sich selbst und andere fotografierende Menschen. Und wenn letztere nicht gerade fotografieren, präsentieren sie ihre Gegenwärtigkeit. Verfolgungswahn und Blickkontrolle, Exhibitionismus und Voyeurismus gründen im funktional widerstreitenden Phänomen des fotografischen Augenblicks. Man darf die Behauptung teilen – sie wird unter anderem von Paul Virilio und, in Bezug auf die Struktur der Medientechniken, von Friedrich Kittler vertreten –, dass alle Fotografie letztlich Kriegsfotografie und alle Medien letztlich zivilisiertes Kriegsgerät seien. Was sich daran auf Dauer hält, ist Konsum als Produkt der bürgerlichen Mitte: Theatralik, schlechte Allegorie. Die Waffenförmigkeit der Dinge ist im Akt ihrer medialen Verlebendigung durch Design verborgen. Nirgendwo wird so häufig gestorben wie in der Dramatik des Fotos. Susan Sontag hat mit ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten zu sehr historisch und zu wenig genealogisch das Problem auch der kleinsten Tode markiert. Der große Krieg erzeugt größere Bilder, der kleine ist das Foto nicht wert. Von der Theatralik her, so Pierre Bourdieu, war die Fotografie immer eine bürgerliche Beschäftigung, eine Bestätigung der Verhältnisse, praktisches Handwerk, das gelegentlich künstlerischen Anspruch anmeldete – des Geldes und der Geltung, nicht der inszenatorischen Meisterschaft wegen. Dass das Fotografieren heute eine ubiquitäre Geste ist, zeigt, wie sehr das Klassenbewusstsein – das Bourdieu noch für die französische Fotografie der fünfziger Jahre habilitiert – sich egalisiert hat. Die Opfer finden woanders statt,
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niemals aber durch die Inszenierungen der Medien. Weil das so sein soll, die Medien die Guten sind und die Fotografie kritisch und demokratisch zu sein hat, konnte Sontag ohne Sarkasmus von dem Betrachten der Leiden anderer insbesondere in den Kriegsfotografien berichten, ohne das Leiden der Fotografen selbst zu thematisieren. Ich denke hier an Robert Capa, der nur allzu gern Regie in Hollywood führen wollte und doch, wie Hemingway, den einen Extremismus der Bürgerlichkeit, die Gemütlichkeit des Stilllebens, gegen den anderen, den Krieg, eintauschte – blind gegen die Form der Vermittlung, die allein nicht Rettung, sondern nur Aufklärung der Verhältnisse verspricht: die Fotografie und die Literatur. Der Fotograf „schießt“ zwar nur metaphorisch und sühnt die Opfer in einem bildlichen Sinne. Aber die Aufklärung kann wirklich geschehen, wenn die Zeit für das Lesen geopfert wird, wenn die Medien nicht das, was sie aufdecken, sofort wieder verdecken und wenn man das Foto als Form einer Aufschreibung respektiert. Dabei spielt es keine Rolle, dass nun ausgerechnet eine Ikone der Kriegsfotografie, Robert Capas Foto, das einen in diesem Moment beschossenen Widerstandskämpfer der republikanischen Garden im Spanischen Bürgerkrieg zeigt, jüngst in den Verdacht geraten ist, inszenierte Fotografie zu sein; das überhaupt mehr inszeniert wird, als zufällig geschossen wird, und das, was der Schnappschuss aufnimmt, ja gerade das für ihn Inszenierte ist. Die Verfemung des Inszenierens zeigt ja gerade die Angst vor der Unmöglichkeit des Authentischen in den medialen Vermittlungen. Unabhängig davon ob, während, für oder in der Aufnahme: die Inszenierung der Fotografie verweist ungebrochen auf die Funktionalität von Dauer und Augenblick, von der Desimultaneisierung des performativen Aktes in seiner narrativen Form: Das Foto, das eine Geschichte eröffnet, ist jenseits aller Ästhetik ein Foto zum Zeigen. Die Frage ist nicht, ob das Foto in einem guten Moment geschossen worden ist, sondern, ob es in einem guten Moment gezeigt wird, d.h., ob das Zeigen selbst inszeniert werden kann. Für den Schnappschuss gilt in dieser Hinsicht: Für das Zeigen ist keinerlei Zeit. Man müsste sein Leben doppelt leben – einmal in der Wirklichkeit und einmal in der Erinnerung. Auch der Schulterblick, über den Diskurs der Schrift die fotografische Manier anzuvisieren, ist selbstverständlich Inszenierung, Zitat als Schnappschuss. Also muss man eine Geschichte erfinden. So fragt die Epigenese nicht nach der Kausalität und dem historischen Ursprung der Fotografie, sondern nach dem Moment, der die vom Opfer der Arbeit erlöste Dingwelt auffordert, von ihr ein Abbild zu machen. Den Eiffelturm muss man als Tourist, als deterritorialisierter Stadtnomade, einfach fotografieren, weil er einen Halt bietet, die Spur einer
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Orientierung, ein Leuchtturm (Allegorie der Fotografie) in der Zeichenwüste der Stadt. Die Pariser nehmen ihn gar nicht zur Kenntnis und kokettieren mit dem Bonmot, dass man, solange man ihn nicht besteigt, immer wieder in die Stadt zurückkehren wird. Sobald man ihn fotografiert hat, so scheint es, erübrigt es sich, ihn anzusehen. Aber auch dazu gibt es eine konträre Ansicht, die Roland Barthes in seinem Text über den Eiffelturm persifliert: Maupassant aß häufig im Restaurant des Eiffelturms, weil es seiner Meinung nach der einzige Ort von Paris war, wo man in nicht sehen musste. So zeigt auch die allsehende Fotografie im „Bilderfraß“, so Benjamin, den einzigen Ort, den man nicht ansehen muss: das Foto. Der Tourist verwandelt sich in einen Dieb, der eine Münze auf der Straße entdeckt hat, sie aufhebt, rasch in die Tasche steckt und dabei nicht bemerkt, dass es sich um Falschgeld handelt.
IV. SCHRIFTLICHKEIT – DON-QUICHOTTERIEN Die Leser des vor ihm liegenden Buches hätten es wohl gerne gesehen, wenn die ikonoscripturale Epigenese anhand von Erzählung scripturalikonisch ausgewiesen worden wäre und sich nicht von der Benjamin’schen Vision des Passagen-Werks hätte anstecken lassen, ein Buch ganz aus Zitaten zu schreiben – ein Album zu erstellen. Von dieser Idee des Albums ist jedoch der Essayismus grundlegend infiziert. Für Benjamin schien die kristalline Struktur nicht nur aus ökonomischen Gründen wünschenswert, um eine materialistische Geschichte des 19. Jahrhunderts schreiben zu können, das ein Jahrhundert der gesellschaftlichen Widersprüche war. Der Essay ist ein Diskurs im Duktus des Sprachbildes – einer über die Nähe und Ferne, über die Abhängigkeit und Emanzipation von Schrift. Der Essay hebt immer wieder neu an und bleibt doch fragmentarisch. Er erlöst von dem Wunsch nach Ganzheit. Die Fotografie braucht die Schrift, die Schrift braucht nicht die Fotografie – das ist wohl der maßgebliche Unterschied zum sprechenden Film: Sprache, Montage und Cadrierung verschmelzen zur Simulation. Doch im Film laufen wir einem vergehenden Präsens hinterher. Wir können es nicht als Präsenz stellen. Der reflektierende Einspruch bleibt während der Betrachtung verwehrt. Der Film in seiner Vorform ist eine Medientransformation des Romans, nicht der Fotografie, mit der er die Technik teilt. In den alten, mit Stichen bebilderten Ausgaben der Werke von Jules Verne wird er vorweggenommen: Die Kombination von Phantastik und Realis-
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mus – von Technik und Vision, wie sie in den Stichen des 19. Jahrhunderts zur Vollendung gelangt – sind eine fotografische Vorform des Films als dessen vorweggenommener Rettung. Verne selbst sah in der Antizipation einer Zukunft, die in Weltausstellungen und Periodika aller Orten zugänglich war, auch ein Mittel beherrschender Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen. Phantastik ist hier nicht Flucht, sondern Realismus: Es wird so gewesen sein werden. Die Literatur kann im Genre des Science-Fiction dies leisten, schon aus dem Grund, da eine Erzählung stets die Fiktion einer kontinuierlichen Handlung, einer Plausibilität nach Maßgabe narrativer Techniken einhalten muss, ihren eigenen Kredit verzehrt. Genau das und nicht die wissenschaftliche Genauigkeit waren die Stärken von Verne. Für den Realismus boten die Illustrationen jedoch einen zusätzlichen Raum, der durch Fotografien den fiktionalen Wert ungesicherter Zukunft zunichte gemacht hätte. Jules Vernes Romane lassen sich nicht fotografisch interpretieren. Die Fotografie verfügt nicht über die Fähigkeit, von einer zukünftigen Präsenz auf eine mangelhafte gegenwärtige zu zielen. Sie ist eingemauert in dem „Es-ist-so-gewesen“. Diese Diagnose beraubt sie der kritischen Distanz ihrer selbst und macht die Idee der dialektischen Fotografie – nach dem Benjamin’schen Werk – unmöglich. Benjamins Bildbegriff bleibt essayistisch, sein Darstellungsbegriff allegorisch, der der Fotografie historisch. Übrigens sind auch die Werke Kafkas in dieser Hinsicht auszeichnet. Nicht, dass sie sich allein kritisch zum Wahn des urbanen Lebens verhielten, nein, sie verhalten sich auch kritisch zur halluzinativen Droge des Lesens selbst. Schrift, die ihre eigene scripturale Funktionalität paraphrasiert, die stets im Endlichen den Mythos des unendlichen Sinns als antinomisch und agonisch zubereitet und den Körper verdrängt. Dem Gesetz der Schrift, ihrer babylonische Gefangenschaft in der Textur, gilt Kafkas Aufmerksamkeit: Übertretung des Gesetzes, Übertretung der Vorschrift, ohne auf dem Drahtseil der linearen Narration in das Netz der poetischen Freiheit zu stürzen. Wie sehr Kafkas Werk fotografisch dem Detail verpflichtet ist, wie sehr die Kongruenz von Form, Funktion und Sinn auf einer Linie liegen, ist vor allem an den kürzesten Sentenzen augenfällig. Oder betrachten wir den Realismus von Zola, der die Fiktion durch das intime Wissen und die detaillierte Beobachtung ersetzt und seine Lehre bei Balzac nicht verleugnet. Aber bei Zola geht die Neutralisierung des Lebens so weit, dass er sich darin verrennt, ein Nullsummenspiel zwischen Opfer und Gabe zu konstatieren. Das ist nicht dialektisch und schon gar nicht materialistisch gedacht, sondern ein regressiver Naturalismus, in der der Mensch des Menschen Beute ist, sodass es nicht einmal lohnt, moralisch zu urteilen.
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Auch die Fotografie sollte ihren moralischen Anspruch vergessen. Er ist faustisch, solange die Momentaufnahme nicht selbst die Illusion der Präsenz negiert: Die Präsenz selbst ist die Phantasmagorie eines Erwachens, in der die Dialektik des Bildes zum Stillstand kommt. Das von Barthes beschworene Noema der Fotografie impliziert immer schon die Hoffnung einer Zukunft, die einmal wird sagen können: „Es ist so gewesen“. In Wirklichkeit gilt ihr die Vergegenwärtigung als Unfall auf der Reise in die Zeit. Gerade damit, so hätte Barthes folgern müssen, zeigt sich die Unerträglichkeit, sich der Gegenwart kritisch zu stellen. Folgt man der Argumentation, so muss man von der prinzipiellen Unfähigkeit der Fotografie zur Kritik ausgehen, derart, dass sie um Erlösung in und als Schrift bittet. Man kann, so übrigens eine spätere Erkenntnis Derridas, einen Roman auch fotografieren. Aber dem liegt die Einsicht zugrunde, dass ein Foto oder die allegorische Versammlung vieler Fotografien sich gegenseitig so wenig befruchtet, wie die Gegenstände auf dem Bild der Melancholie von Dürer. Wie die Melancholie oder die moderne Depression immer schon die stumme Mimikry eines vorweggenommenen Todes inszeniert, so inszeniert sich der fotografische Komplex als Versuch der Belebung des toten Fotos in Gesellschaft von Fotografien: als Fotobuch, z.B. garnierend vorweg oder als „Nachspeise“ mit einem Essay. Bei Zola also wird die Camera scriptura zur Reproduktionsform nicht von Realität, sondern von menschlicher Naturalität; sie wird der geschichtlichen Situation entzogen, schicksalhaft noch bis in die entfernteste Generation. Das große und das kleine Drama spielen im Naturalismus die Rolle, die die Fotografie vorbereitet und der Film in die Extreme führt. Ihre ökonomische Basis ist das Symptom der Romanketten als Zeitungsbeilage von Balzac bis Zola, die Reproduzierbarkeit. Vor diesem Hintergrund sind alle künstlerischen, artistischen und journalistischen Ambitionen der Fotografie ökonomisiert. Ein zweiter Band einer Camera scriptura hätte zum Thema, wie die Verwirrung der Sinne – das Sehen von Buchstaben und das Hören von Stimme in ihnen – in Literatur dramatisiert wird. Während die Fotografie stets auf die materialistische Opferökonomie der Dinge verweist und sie ästhetisch neutralisiert, zeigen Beispiele der Literatur, wie die Ökonomie des Lesens selbst Drogenqualität annehmen kann. Ich brauche diesen zweiten Band der Camera scriptura nicht zu schreiben, denn er ist längst geschrieben worden. Kafka wurde schon genannt, auf Manns Zauberberg, der dezidiert ein Gegenentwurf einer Präsenzgeschichte des progressiven Bildes ist, wäre minutiös einzugehen. Gemeint ist die Lektüre des Don Quichotte, des ersten, großen barocken Romans der Selbstreflexion von Bild und Schrift, von
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Realität und Imagination. In Cervantes Schlüsselroman, der das Vorbild von Biografie überhaupt ist, befreit sich nämlich früh das Tauschverhältnis von Imagination und Realität im Schrift- und Lektürevollzug um. Don Quichotte lebt, wie man liest – eine Forderungs Musils im Mann ohne Eigenschaften: Der Don Quichotte ist buchstäblich zu lesen. Schriften erzeugen Visionen, an deren Ende niemand mehr weiß, was Realität und was Imagination ist: Diese Sinnenperversion muss langwierig von den Menschenjungen eingeübt werden. Von Comenius’ Äquivalenz von Bild und Begriff bis zu den Disziplinarmaßnamen, die Kellers Grüner Heinrich die Gerechtigkeit Gottes bezweifeln lässt und den naiven Heinrich dann doch lieber zum Malerpinsel greifen lässt, finden sich allenthalben Spuren, in denen Autoren sich über die Neurosen der Scriptorien und Scriptoren (Umberto Eco in Der Name der Rose) spekulieren und eine verlorene Sinnennatur oder – siehe Verne – die mangelnde Perfektion der Sinnentransformation beklagen. Erst die Fotografie sorgt hier für Ordnung. Ästhetisierung, Literarisierung ist im Diskurs der Fotografie schon lange geschehen: kein Foto mehr ohne Titel, keine Ausstellung mehr ohne Autorschaft, kein Fotoband ohne kritische Würdigung seiner Gegenständlichkeit. Abschließend widmet man sich den ästhetischen Problemen des Fotos. Welchen Symmetriezwang kann man da noch zwischen Ikonoscripturalität und Scriptoikonizität herstellen, der nicht lächerlich wirkt? Zu behaupten, das Bild ginge in Schrift und die Schrift im Bild auf, heißt, die Grenze zwischen dem Imaginären und dem Realen rein ästhetisch zu überschreiten. Das Bild ist Schrift. Aufgeklärt wird hier nichts. Die Szene öffnet sich nicht. Das Gerede von der Virtualität der Medien, das dieser Ästhetisierung Vorschub leistet, entlarvt sich als heimlicher Idealismus einer unscharfen und körperlosen, also schriftbasierten Bestimmung von Realität als sinnlicher Gewissheit. Es ist aber nicht diese Gewissheit, gegen die die Wolken des Virtuellen ziehen, sondern die Logik der Unterscheidung sinnlicher Begrenzung, deren sichtbarste Überforderung der cinetoskopische Effekt der Akkumulation der Filmbilder ist. Da aber, wo die Sinne ihre wechselseitige Opfermarge ins Spiel bringen, setzen die dramatischen Geschichten ein. Im Don Quichotte ist das evident. Diese Episoden oder Abenteuer sind nicht Fiktionen, sondern einer exakten Logik der unverarbeiteten Problematik der Vertauschung von Sehen und Hören respektive Lesen unterworfen. Die unbegrenzte Lektüre von Ritterromanen schafft die Voraussetzung – wie Lesen überhaupt –, dass die Sichtbarkeit des Phonetischen und die Interpretation des Wahrnehmbaren nach dem Muster jener verkehrten Fiktionen erfolgt: durch Buchstaben hindurch sehen, Imaginati-
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onen bilden. Denn gerade die Reziprozität von Imagination und Realität lässt das Bewusstsein Negat des jeweils anderen als Kompetenz von Individualität als Differenz aufleuchten: Imagination wird als meine Vorstellung ausgegeben; Realität wird als das Werk meiner Erkenntnis, einer kollektiven Teilhabe, deklariert. Es waren Benjamin und später Adorno, die nicht müde wurden hervorzuheben, dass dieses „falsche Bewusstsein“ nicht deshalb falsch sei, weil seine „Inhalte“ nicht der faktischen Realität entsprechen. Die Falschheit betreffe vielmehr das Bewusstsein selbst: Dass das Bewusstsein mir gehört, kann nur behaupten, wer den Traum der bürgerlichen Autonomie und Autarkie, also den Traum der Individualität, nicht mit jenen Eigentums- und Besitzverhältnissen identifiziert, die die Waren- und Eventgesellschaft vorgibt. Diesen Traum gibt letztere klug alphabetisiert als individuelle Lesart vor. Und dieser Traum ist es, der zur Fotografie greifen lässt. Dabei lesen wir doch – Kafka hat das eingängig in seinen Paradoxien ausgeführt – alle auf die gleiche Weise: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Zeile für Zeile, magisch Halluziniertes für räumlich organisierte Schrift. Wenn es gilt, die Fotografie oder schon die arabische Ornamentik zu lesen, sind wir aufgeschmissen. Bildwissenschaftler klagen nicht ohne Grund, es müsse nun auch endlich eine Alphabetisierung des Sehens eingeübt werden. In dieser Hinsicht vertritt Don Quichotte den wirklichen und deswegen pathologischen Individualisten in einer von magischen (christlich religiösen) Selbstverständlichkeiten bevölkerten Welt unterwürfiger Subjekte. Der pathologische Effekt an seiner Weltsicht ist aber nicht der, das Reale oder das Imaginäre zu verwechseln, sondern er besteht im agonalen Versuch, aus dieser Logik der Sinnenkompensation und -transformation durch Handlungen heraustreten zu können, Semantik durch Pragmatik zu ersetzen. So gelingt gerade die nicht schreibbare, weil simultane Performanz einer Bio-Grafie, eines gelebten Lebens: der Auszug aus der Camera scriptura seiner Ritterbücherwelt. Nicht die Gesetze, sondern die Wirklichkeiten empfahlen sich ihm der Veränderung. Wenn das Sein das Bewusstsein hervorbringt, dann muss eben das Sein verändert werden. Die Aufklärung kann nur im Bewusstsein einer Praxis liegen, die die Gesetze des Gebrauchs pervertiert. So handelt Don Quichotte im Geiste jener ersten Besucher, die bei Lumières Film eines einfahrenden Zuges fluchtartig das Kino verlassen haben. Ob die Geschichte verbürgt ist, ist dabei gar nicht so wichtig. Sie drückt jedenfalls die Angst aus, seinem Sehsinn ebenso wenig trauen zu können wie den Ritterromanen. Dass es nebenbei um Frauen und also Medieneroberungen geht, versteht sich von selbst. Die Eroberung bleibt jedoch fiktiv, denn sie ist im Abenteuer
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der Schrift selbst schon am Ziel – was in Literatur akzeptiert ist, in der Fotografie – wie die Insistenz auf ihren dokumentarischen Wert bezeugt – jedoch bis heute nicht. Aber die Furcht taucht auch andernorts auf, etwa in der Kritik von Habermas an der angeblichen Egalisierung von (fiktionaler) Literatur und (argumentierender) Philosophie. Es muss Habermas in seiner Kritik an Derrida recht gegeben werden, wenn er unter diesen Umständen die Literatur von Philosophie getrennt halten will. Aber er müsste nicht hier, sondern zwischen Form und Medium per se unterscheiden. Narration bedingt beides: Ideal und lückenlos ist sie auf Seiten der mathematischen Kausalitäts- und Beweisbrücken, sprunghaft und gebrochen, aber durch Interpretation auffüllbar, sind die Fragmente, die Metaphern, die Fotos auf Seiten der Imagination, die sich im Falle der Fotografie ja auch in der Regel Erinnertem und nicht Phantasiertem assimiliert – die surrealen Montagen der Werbeinszenierung dementieren das nicht. Derridas Stil und seiner auf Schrift konzentrierten Analyse darf mit Recht unterstellt werden, dass sie ihre Logik zu eng gefasst hat. Dennoch: Was sie differenziert, ist eine Entfaltung dessen, was im Begriff „Medium“ inflationär immaterialisiert wird, obwohl wir doch genau wissen, dass wir in all den Pixeln und materialen Visualisierungen immer auch etwas tatsächlich sehen – allerdings in einer Dimension, die, statt sie autistisch zu verifizieren, zu einem Bild arrondiert wird. Dokumentarität hat immer mit realer Dauer zu tun gleich welchen Grad der Verdinglichung sie annimmt. Heidegger hat wohl den passenden Begriff dafür gefunden, indem er die Zeitdimension dieser Verdinglichung als ein Stellen, Dauern, als „Gestell“ bezeichnet. In diesem Sinne sind Fotografien, wie man sagt, „gestellt“, gesellschaftlichen Bildvorgaben unterlegt, Inszenierungen. Pathologie und Halluzination des Lesens sind in diesem Sinne vollständig legitimiert und gesellschaftlich codiert. Das geschieht selbst beim Lesen eines Textes so programmiert wie in automatischen Kameras. Wer jedoch buchstäblich liest, also die Inszenierung als Spiel ernst nimmt, dem kann, wie dem oben genannten Grünen Heinrich in Gottfried Kellers gleichnamigen Roman, das Hören und Sehen vergehen. Der kleine Heinrich, mit der alphabetisierenden Obrigkeit konfrontiert, sucht seine Leseschwäche nicht systematisch gemäß einer Konventionalisierung des realidealen Übergangs zu disziplinieren, sondern wendet sich an Gott, mit der flehendlichen Bitte, doch die alten Verhältnisse wieder herzustellen. Ein anderer böser Gott, ein „verständnisloser Schulmeister“, kann da nur Unverständnis äußern: Warum sollten, wie Heinrich missversteht, Buchstaben Bilder sein und nicht Elemente des Sinns, denen jeder Bildcharakter abzuspre-
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chen ist, gleichwohl man sie doch so sieht, wie Heinrich den Buchstaben „P“ und ihn in der Tradition von Comenius mit einem „Pumpernickel“ identifiziert. Das Beharren auf eine Natürlichkeit der Sinne als den Witz eines Debilen aufzufassen, also in Gottes alter Manier die Natur Natur und die Sinne Sinne sein zu lassen, erinnert eben umgekehrt an jenen Versuch des Quichotte, in den Windmühlen die Riesen zu sehen, die er in den Buchstaben seiner Ritterbücher identifiziert hat. Denn das Sehen ist in der Alphabetisierung nichts anderes mehr als das Einüben der Herrschaftsformen von Visionen; Konstitution keines falschen, sondern eines pervertierten Bewusstseins. Und natürlich sind Buchstaben Bilder und vermitteln eine spezifische Bildlichkeit, jeder Typograf weiß das. Doch im schulischen Gang sichert – heute zunehmend bildliche – Kommunikation selbst den narrativen Zusammenhang des Lebens, das biographischen Charakter bekommt. Die Gewalttätigkeit des Umbruchs im Gebrauch der Sinne lässt sich allenfalls an der Reduktion auf monotheistische Göttlichkeit und an der Einursächlichkeit der Vorschrift des Gesetzes erkennen. Nicht mehr durch Magie, Ritual, Fest und Rausch werden die Grenzbestimmungen gesellschaftlichen Verhaltens konventionalisiert, sondern aus dem disziplinierten Umgang mit Schrift gemäß der Gesetzmäßigkeit einer Codierung. Erst die steigenden Alphabetisierungsraten im Barock lassen ein Vergnügen an Sinnestäuschungen, Zaubereien und Spiegeltricks wieder aufkommen und die Dimension der Sinnesüberbietung zum Metier der Ingenieurskunst werden, wie sie Ludwig XIV. protegiert. Anstelle der Kriege gelang die Verzauberung der Sinne in Versailles. Was früher noch Vorsicht und Kollektivierung in politpädagogischer Rücksicht war, ist im Medienumgang heute getrennt. Fotografieren kann auch Arbeit und sogar zunehmend brotlose sein. 1973 legt Cartier-Bresson seine Leica zur Seite und beginnt mit einer frühen Leidenschaft, der Malerei und der Zeichnung, da die zunehmende Beschneidung seines Berufs (und seiner Bilder) durch die allpräsenten Werbeaufnahmen seine Weltsicht kompensieren. Dass man in der Frühzeit der Fotografie wieder sieht, was man wahrnimmt, und glaubt, was man sieht, erleichtert zunächst den Wirklichkeitsglauben – und die Lesbarmachung der Biografik im Gesicht des Individuums. Das 19. Jahrhundert wurde ein mechanisches, realistisches und funktionelles. Gerade das Erscheinen der Fotografie, welche physikalische Optik, Chemie und Ingenieurskunst miteinander verbindet, trennt heimlich die Kontinuitäten in fragmentarische Diskontinuitäten und enttäuscht die Täuschung eines Bewusstseinsflusses, der immer sinnenspezifisch
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aufgegliedert war, solange die Schrift nicht davon erlöste. Prompt erscheint als Gegenbewegung so etwas wie Gespensterfotografie. Die optische Tätigkeit des Auges und die interpretative Verarbeitung im Gehirn sind strikt zu trennen. Diese Entdeckung des Astronomen Kepler um das Jahr 1611 gliederte die Arbeitsschritte von wahrnehmendem Sehen und interpretierendem Erkennen und entzauberte die Funktion des Auges als göttliches Organ. Die Funktionstrennung geschieht nicht um der zeitlichen Ökonomie Willen, sondern, weil das Organ seine eigene Abschließung ständig aufschiebt, Imagination nichts als ein Abwehrvorgang für die tödlichen Schocks der Außenwelt darstellt. Das Foto als Schockbild (Benjamin) animiert geradezu zur erzählerischen oder historisierenden Abwehr und aktiviert die Erinnerungswelten – anders als Literatur, Theater und Journalistik, die die Bildgebungsanweisung immer schon idealisieren und moderieren. Fragment und Ganzheit kämpfen wider einer gleitender Totalisierung unter der Logik der Differenz und des Aufschubs als Medialisierung. Erlösung von Körperpräsenz ist auch immer die Illusion, von der Sterblichkeit entlastet zu sein. Nichts weniger als die Aufhebung dieser Illusion ist auch das Ansinnen des Don Quichotte. Aber er weiß, dass es eine Alternative zum Wahn des Realismus geben kann. Wer den Roman schon nur oberflächig liest, bemerkt, dass der Mann aus der Mancha alles andere als verrückt ist, sondern seine Abenteuer mit der Experimentierfreude eines Forschers im Selbstversuch betreibt, der seine Theorien nach dem Prinzip der negativen Selektion überprüft. Was wäre legitimer als diese Versuche dem Rausch der ewigen Liebe zu widmen, die vergänglich ist, sobald sie sich realisiert. Dabei hat die Lektüre nicht nur des Don Quichotte anfangs leichtes Spiel, weiß doch der dümmste Bauer, nämlich Sancho Pancha zwischen Diesseits und Jenseits, also zwischen der Arbeit hier und der Herrschaft auf einer ihm von Don Quichotte zugesprochenen Insel zu unterscheiden. Das Paradies ist aber bloß ein anderer Name für die Aufhebung der geistigen Verwirrung, die alle Schriftgläubigen ereilt. Von Sancho Pansa kann Kafka in Die Wahrheit über Sancho Pansa deshalb sagen, er sei der einzige Realist in dem gigantischen Romanwerk, der zwischen dem unterscheiden kann, was man hat, und dem, was man sich zu wünschen erhofft. Das Bewusstsein ist eine transzendierte Form des Besitzes. Zu diesem Zweck, so Kafka, externalisiert Sancha seinen Teufel Don Quichotte und die sinnenverkehrende Schrift, die haltlose Faxen macht, aber „niemandem Schaden“ zufügt. Nur klingt diese Opferverkehrung bei Sancho stets so, als ob die Verwandlung seines Wunsches in Realität (der abenteuerliche Gewinn einer Insel, der er als Gouverneur vorstehen soll,
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ist das Erwachen des Bewusstseins) in Realität gar nicht so wünschenswert ist – würde der Gouverneurstitel nämlich sein wirkliches abenteuerliches Verhältnis mit seinem Herrn beenden und ihn wieder auf ein kleines Dorf in der Mancha, seiner Insel, beschränken. In Sancho Pansa ist die ursprüngliche Idee vom Schreiben als nomadischem Wandern wieder lebendig gemacht: Der sich entwickelnde Gegensatz von Biografik und Biologik wird auflösbar. Cervantes Meisterwerk ist immer auch als Philosophie über Literatur zu lesen. Kafkas Idee, im Roman den Versuch einer Grenzbestimmung von Imagination und Realität durch denjenigen enträtseln zu lassen, der nicht schreibt, sondern erlebt, beschreibt wiederum den Geist Don Quichottes in der Vorstellung des weltreisenden Militärs Cervantes als Wunsch, das Imaginäre solle imaginär, das Reale real sein und bleiben. Wünsche zu materialisieren, auch nur mittels Zeichen, ist so abwegig, wie den Eiffelturm im Foto in Besitz nehmen zu wollen; denn jeder Wunsch ist schon die in Zeichen und Bilder rückverwandelte Dingwelt. Was sollte man sich demnach anderes wünschen als das, was es vermittels der Zeichen schon gibt, aber außer Reichweite meines Besitzes, meiner Verfügung ist? Die Fotografie bleibt genau auf dieser Ebene: Das, was es real gibt, wird als Wunschtraum mein Besitz; ein Besitz, der freilich auch als Ware tauschbar bleibt. Die Urszene der Fotografie, die auf Präsenz zielt, macht einsichtig, dass es nicht um das fotografierte Ding, sondern in der Fotografie um den fotografischen Akt, um Besitz bei gleichzeitiger Veräußerung geht, um die Verwandlung der Dinge in tauschbare Einheiten. Damit schließt sich die ökonomische Lücke zwischen Produktion und Aneignung, zwischen den Sinnendifferenzen und dem Sinn. Im Gegensatz zur abenteuerlichen Wanderung der Gestalten von La Mancha (die Reisefotografie ist noch ein Teil davon) ist aber der Fotoapparat kein Wanderführer wie die Ritterromane, die den wünschenswerten Zeichenhaushalt deklinieren, sondern ein Stellungsführer. Besitz und Vergabe von Pacht und Eigentum verpflichtet zur Sesshaftigkeit, der dialektisch das Reisen entspricht. Da dieser Antagonismus ökonomisch verwertbar ist, schleppt sich durch die Geschichte der Fotografie ein unheimlicher ästhetischer Diskurs von quichottereskem Ausmaß, der eine Selbstverkennung im „System der Kunst“ zu feiern wünscht und doch nur die Fotografie als Ware prostituiert, deren signifikante Form die Sehnsucht ist. Das eigentlich Fotografische bleibt davon meist unberührt und endet in einem dilettantischen Ontologismus: Die Fotografie ist … Die Fotografie als Kunstform ist ein Kind der Romantik. Die ausgedehnten Expeditionen, die Daguerre, die Lumières und Albert Kahn initiierten,
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haben den Daheimgebliebenen immer die große Welt im kleinen Foto nahe bringen wollen. Bourdieus Soziologie geht noch in den sechziger Jahren davon aus, dass das Gewohnte nicht fotografiert wird, es sei denn, es befindet sich im Zustand des Festes, einer inszenierten Zeit außerhalb der Zeit. Das System der Kunst, das ist das Ergebnis meiner diskursive Erfahrung, die noch dem dämlichsten Bild eine außergewöhnliche Existenz anbietet, betreibt Abenteuerreisen im Land der Zeichen, hat aber vergessen, welche Vorgeschichte sie antreibt. Von Baudrillard bis Luhmann wird die fotografische Arbeit zu Unrecht als proletarische Teilhabe abgestempelt. Die Fotografie hat das Klassenbewusstsein aufgelöst – der Tourismus auch. Sie ist eine Leidenschaft, deren Symptome ernst genommen werden wollen. Dieser Ernst ist der Realismus, von dem der Vielleser und Vielschreiber, aber Wenigritter Don Quichotte träumt, weil er die unhaltbare Meinung vertritt, Leidenschaft ist nichts, was man erleidet, sondern etwas, was man tut. Es kommt darauf an zu bemerken, dass der Eiffelturm das Foto macht, dass man von ihm zu machen glaubt. Das Foto selbst gleicht dem Millionen anderer. Ein geborgter Fetischismus ist Realismus der Verzauberung in kontinuierliche Dauer. So gibt es im Don Quichotte, der nichts anderes intendiert als die erste intellektuelle Generaldebatte um Schrift, Schreiben, Lesen und dem realistischen Bild einer sich allegorisch differenzierenden Welt, zwei antagonistische Realismen: einerseits einen komödiantischen, der den Widerstand sublimiert (Sancho Pansa), andererseits den dramatischen, der ihn heldenhaft bekämpft. Der fotografische Realismus hat gerade heute diese antagonistische Stellung inne: Indiz und Ikone. Es ist eine Auszeichnung der Medieninflation, dass unter der Teilhabe aller der gemeinsame Glaube sich festigt, in Abenteuer einzutreten sei ohne Opfer garantiert. Dass der ubiquitäre Gabencharakter stets mit dem Bild der Ware einhergeht, die die Fotografie so pedantisch herbeizitiert, als wäre das Bild schon die Erfüllung und Abwehr, mag nicht einleuchten, und zwar aus evidentem Grund: Das Ritual der Bezahlung, der Vergemeinschaftungsakt selbst, bleibt völlig abstrakt; Schriftverkehr der Zahl ist ohne Zusammenhang mit Arbeit und Bildlichkeit, reine Verschiebung, reine Metonymie. In Bezug auf die inflationäre Arbeit des Fotografierens hat das Foto heute jeden Tauschwert verloren. Seine Heimat ist das Archiv geworden. Statt Einbildungskraft als Zeit zu thematisieren, die man als gottgegeben kreditiert, müssten wir Arbeit als ihr Äquivalent wieder anerkennen und das hieße, die Endlichkeit des Körpers in einer artifizialisierten Gegenwart identifizieren. Da aber Geld und Arbeit immer weniger miteinander korre-
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spondieren, macht sich ihr Zusammenhang nur dann störend bemerkbar, wenn die Fotografie und alle anderen Medien offenlegen, dass die Gegenstände, die sie ästhetisieren und exponieren, immer schon realisierte, wenn auch verwunschene Bilder und Leichen eines Begehrens sind. Nicht nur die Erinnerung ist an die Weltlichkeit gebunden, die Imagination ist es nicht weniger. Auch das Foto, das vom Bildschirm leuchtet, ist ein Ding: flüchtiger zwar als eine Wolke, aber etwas, was sich dem Widerstand aussetzt, um im Licht eines Opfers zu erscheinen. Für einen Moment gibt es einen Riss in der Ökonomie von Wunsch und Erfüllung: Ich sehe, ich fixiere, ich drücke ab: Ich habe, so hört man vom kleinen Lartigue, das Bild in meinem Kopf gefangen. Damit aber die Welt nicht stehenbleibt, das Bild sich traumatisch einbrennt, gehe ich über zur nächsten Aufnahme. Es gab in der Frühzeit der Fotografie, als man noch von Lichtschrift sprach, durchaus das Gefühl für den materiellen Charakter von Licht und seinen geisterhaften Erscheinungen. Nur, wenn man das Foto liest – und man muss lesen, um die Ruine des Fragments vor dem inneren Auge zu komplettieren –, verflüchtigt sich der materielle Anteil, das an sich schon blütenreine Fotopapier. In diesem Papier als medialen Träger stecken schon Arbeit und Opfer, allerdings in substituierter Form. Es fehlt zur Verifizierung dieser Substituierung, dieser abstrakten Vergesellschaftung, ein taktiler Sinn für die Erscheinungen auch der Fotografie. „Verkörperung“ ist das Stichwort. Benjamins Kritik setzt hier an. Nicht von ungefähr sind die Kollisionen von Geld, Arbeit, Fotografie verantwortlich für ein Bewusstsein der Ästhetisierung als Inszenierung: Nähe und Ferne, Schärfe und Unschärfe, Detail und Szenerie sind Ersatzgrößen für das, was in der Fotografie zum Greifen vor uns liegt und doch weder ergriffen noch begriffen werden kann, gerade weil das Foto stumm, ohne Möglichkeit auf Flucht vor uns zu liegen kommt, als wäre es tot. Was verloren geht, ist das Vertrauen in die Kraft, die normierten sinnlichen Erscheinungen in einer anderen Erzählung des Humanen zu vereinen. In einer ökonomisierten Welt des Tauschs der Realien und der Imaginationen – das „Karussell“ ist deren Allegorie – stehen kein Ding und keine Sache jemals still. Zeitlupe und Zeitraffung sind gegenüber der Messung der Tauschfrequenz Anachronismen. Ist die Fotografie, so Rodin, tatsächlich eine Lüge, ein Bluff – derart, dass sie den Glauben bezeugt, es gäbe wirklich eine Präsenz und man müsste diese Präsenz nur zum Event erweitern, um sie wirklich werden zu lassen? Die „Kunstfotografie“ spielt in ihren Großformaten mit der anachronistischen Zeit, unterwirft sich in der elektronischen Montage wieder einer erneuerten Schlachtenmalerei (Gursky) – und den
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Programmiercodes, Programmen, Features und Filter ihrer Rechenmaschinen. Dennoch gab und gibt es eine an den Unterzeichner gebundene Stilistik fotografischer Authentizität – Cartier-Bresson, der sich einer reinen Fotografie des Augenblicks verschreibt und den Idealismus des einzigartigen Augenblicks, den er für alle Welt rettet, zur Schau trägt. Vom Prinzip her müsste man ein doppeltes Leben führen: eines, das die einzigartigen Augenblicke erspäht – die Logik sagt einem, dass es nur einzigartige Augenblicke geben kann, sonst gäbe es keine datierbare Zeit –, und eines, dass die Bilder dieser einzigartigen Augenblicke betrachtet. So oder so muss man opfern. Das Einzigartige ist also gerade nicht einzigartig, sondern erfüllt die Vorgaben der Phantasmen. Vergessen wir also – Barthes, der Literat der Fotografie, mag es entschuldigen – den Erinnerungswert der Fotografie. Es bleibt das Wertgesetz des ökonomisierten Wunsches. Es gibt durch die Fotografie die Einsicht in ein fragmentarisches Leben, dessen Bewusstsein in der Alltagspraxis nichts so sehr fürchtet wie den Moment des Erwachens in eine unlösbare Antinomie – dass das Leben eben nicht einzigartig, sondern gewöhnlich und nicht würdig ist, fotografiert zu werden. Das Erwachen aus dieser Phantasmagorie – Benjamin zufolge mehr als eine Metapher für das Umschlagen des dialektischen Bildes – besorgt der ungekünstelte Schnappschuss in dem Moment, in dem er sich als verzauberter Blick aller identifiziert. In diesem Moment aber verliert das Foto seinen ganzen Wert im Diesseits. Es ist nur noch Erinnerung ans Kollektive. Erst diese militante Form der Fotografie zeigt das neurotische Leiden einer Fotomanie, wie sie übrigens schon in der frühesten Zeit beobachtet worden ist. Militanz heißt hier: Produktion zur sofortigen Vernichtung. Vernichtung heißt jedoch nicht die Ablagerung des Fotos in ein Album, sondern die Bestätigung der Inbesitznahme der Existenz. Bewusstsein als Eigentum ist das Rätsel der Verunbewusstung. Dieses Vorgehen, das reine Fotografieren ohne Beachtung des Fotografierten (das reine Telefonieren ohne Beachtung des Inhalts), erinnert an die Geschichte von Poes Der verlorene Brief. Gerade der Nahbereich, die eigene Brille, fällt aus dem Gesichtsfeld heraus. So soll man durch die Fotografie hindurch das fotografische Sehen lernen, genau so, wie man durch die Buchstaben hindurch den Sinn der Schrift halluziniert. Das Offensichtlichste, die fotografische Handlung, die zumal das Wesentliche ist, bleibt unbemerkt, gerade auch bei Barthes. Der Schnappschussfotograf ist, indem er den ästhetischen Wert eines zu fotografierenden Objekts blitzschnell, aber oft auch verschämt erfasst, zu einem Kritiker der Bildgebung geworden. Hier ist Rettung wirklich nah. Denn hinter der Fotografie und dem Vordergründigen – dessen,
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was in der Fotografie zur Erscheinung gebracht wird – ist eigentlich kein Verweisungsbezug auszumachen. Das Fotografieren zeigt nicht irgendetwas als Zeichen, sondern es zeigt sich als performativer Akt. Nochmals: Die Geste des Zeigens eines Fotos ist die Negation des Fotografierens als deren Vorgeschichte. Heute kann man mit einem Fingerwischen gleich dutzende Fotos vorbeigleiten lassen, was mehr dem Blick aus einem fahrenden Karussell gleicht als einer Betrachtung des Bildes. Selbst hier liegt mehr Reiz im surrealen Rausch der Tauschfrequenz als in der Stillstellung. Sich ins Bild zu versenken, verhält sich dazu wie die Rhythmik des Traums zum Rausch. Dieser Rausch ist der einer unvermittelbaren Differenz des Einzelbildes, der nicht in den Filmtraum und damit in die phantasmagorische Kategorie des Narrativen übergehen soll: das sich selbst bewahrende Bildliche.
V. VORSCHRIFT Kommen wir noch einmal auf die Idee Derridas einer Wiederbelebung der Grammatologie zu sprechen. In einem Kommentar zur Krisis-Schrift, die 1962 unter dem Titel Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie Derridas spätere Thesen zur Spur, différance und Methode der Dekonstruktion vorbereitet, wird die Frage Husserls aufgenommen, wie sich eine objektive Wissenschaft, die Logik der Philosophie insbesondere, eine mediale Instanz, die Mathematik hat schaffen können, das sie vom Hier und Jetzt der körperlichen Präsenz befreite und über ideale Gegenstände handeln ließ. Die Frage, die Derrida daraus ableitet, hat den Nachweis von Objektivität aus dem Übergang von Sprache zu Schrift zum Gegenstand: Ist die Wissenschaft, weil sie sich abstrakter schriftlicher Symbole bedient, nicht ebenso an einen Raum der Vorverständigung gebunden, der jedoch im Zuge der Abstraktion – etwa einer überall und immer gleichen physikalischen Messung – verschwunden ist wie der Körperbezug? Das heißt, kann es überhaupt so etwas wie eine reine Logik geben oder ist diese nicht ebenso prinzipiell unrein, „unscharf“, wie Heisenberg es von den Quanteneigenschaften zeigt? Derrida zielt nun mit seinem Husserl-Kommentar – wie wir bereits gesagt haben – auf eine Überlegung, die eine mögliche völlige Unabhängigkeit der Schrift – Befreiung von der Präsenz gesprochener Sprache – analysiert. Nur diese wäre zur objektiven Beschreibung fähig. Er stellt mit Husserl fest, dass nicht mit dem sprechenden Subjekt, sondern erst mit der Formierung des Schriftphänomens eine Befreiung der Gegenständlichkeit vom Körper in
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einem Quasileib – sichtbare Materie und substituierte Materie (respektive Wahrnehmung) –, also Schrift möglich ist. Nur die so festgelegte Schrift sichert die absolute, reine und ideale Überlieferungsfähigkeit, wie sie die Grundlage von Wissenschaften und Phänomenologie ausmachen soll. Der subjektive und individuelle Faktor soll aus dem Übertragungssystem herausgehalten werden. Husserl sieht allerdings nicht, dass es sich um zwei Erscheinungsweisen einer Substanz handelt, wobei die eine der anderen substituiert ist und also kein Verhältnis von Geist und Materie darstellt. Sprache dagegen bleibt in der je aktuellen Situation zweier Sprechersubjekte auf präsentische Verständigung und somit auf Physis angewiesen. Die (logisch-mathematische) Schrift soll somit ein autonomes und anonymes transzendentales Feld der Darstellung von Objektivität sein. Derrida wie Husserl halten sich nicht damit auf, ein konkretes Datum der Schrifterfindung zu benennen, obwohl der Zusammenhang der alphanumerischen Schriften zunächst wohl an die Zählbarkeit gebunden ist – wie beispielsweise die Knotenschrift (Quipu) der Inkas zeigt. Gleich, auf welcher Stufe der Kultur man epigenetisch Schriftlichkeit ansiedelt, es geht in der Schrift um die gleichzeitige Erzeugung und sofortige Nichtung eines Raum-Zeit-Terrains, vereinfacht gesagt, um die Einschreibung einer Spur auf einer idealerweise spurenlosen undifferenzierten Fläche. Diese Fläche aber wird in der Regel erst hergestellt: sie verlangt eine Arbeit vor der Schrift – sie ist in Antizipation des Schreibens zugleich selbst eine Einschreibung als Löschung. Fläche wird so zu einem Opfer- und Gabensystem, das eine Zukunft (künftige Aufschreibung) kreditiert. Das Medium der Einschreibung (Raum und Zeit im Abstrakten) konstituiert sich also mit der Fokussierung auf das Eingeschriebene. Die Art der Säuberung, von der Durchstreichung bis zum Krieg, ist nicht hintergehbar. Derrida argumentiert mit einem genalogischen Rückgang auf die Ursprünge der Geometrie, die in der Vermessung der Land- und Eigentumsverhältnisse ihren räumlichen und in der Beobachtung der Regularitäten und Irregularititäten ihren zeitlichen Anfang („die Zukunft vorhersagen heißt, sich ihrer bemächtigen“) nehmen. Ihre soziale Grundlage ist eine wie auch immer rudimentäre Sesshaftigkeit, d.h. Dauer – respektive temporale und/ oder nomadische Ritualität – als soziale Medialität, die zu immer abstrakteren Strukturen der Verständigung führt. Vorverständigung über die Konstitution eines präscripturalen Ereignisses der Fotografie, der Vorgang des Erscheinens und Verschwindens im Verschriftungsphänomen, d.h. das Spiel der Subjektierung (Unterwerfung), ist eine in Schrift eingelassene Weise, auf den Körper als Quasiabwesenden Bezug zu nehmen. Husserl hat später
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darauf, und nicht allein auf seine logischen Untersuchungen seine phänomenologische Reduktion gegründet. Die Tiefendimension der Genese der Schriftmedialität verleiht dem Schriftbegriff auch seine psychoanalytische Dimension, die Derrida in Freuds Texten befragt hat. Für die fotografische Schrift darf man annehmen, dass das Arrangement der Vorverständigung die jeweilige Gebrauchssituation der Fotografie selbst ist – die Situativität von Menschen und Dingen, genauer: von Menschen als Dingen und Dingen als Dingen. Denn es wird ja „nur“ Sichtbares oder sichtbar Gemachtes fotografierbar. Damit diese Reduktion nicht als Moment inzestuöser Reproduktion aufscheint (das wäre Husserls ideal-objektive Schrift, die digitale Programmschrift) müssen Kameras, Studios, Inszenierungsweisen der Aufnahme und Inszenierungen der Fotografen und ihrer Motive sehr rasch eine Rhetorik und eine Grammatologie konstituieren und konventionalisieren, die nichts anderes zum Zweck hat, als das Tableau der Produktion selbst, also den Opferprozess in ästhetisierter Rückerinnerung, als Ritual der Kompetenz zum Verschwinden zu bringen. Fotografen wollen keine Fotokopierer sein. Im besten Fall wollen sie den Fotografen als Künstler mit dessen körperlicher Präsenz identifizieren. Daguerres Erfindung hat sehr rasch einen ganzen Industriezweig hervorgebracht, der nur mit der inszenierenden Nacherinnerung des Reinigungs- und Reduktionsaktes beschäftigt ist – selten gewalthaft, immer streitbar und oft neidisch bezüglich der Kunstartikulationen. Das alles hat die automatische Kamera hinweggefegt. Die Inszenierung ist ganz in den Akt der Stellungnahme, der Aisthetisierung des Objekts, das es abzuschießen gilt, eingewandert. Das Selfie ist der Ausdruck dieser Kompetenz der Selbstästhetisierung des Furors herkulischen Sauberkeitswahns, sprich: Design. Derrida jedenfalls sieht sehr rasch die Tragweite der Überlegungen Husserls, ist zunächst aber noch nicht in der Lage, seine Kritik an der phänomenologischen Reduktion, die sozusagen noch im vorkinematografischen System eines „Schemas der Wahrheit“, eines Wahrheitsphänomens spekuliert, auf das gesamte Gebiet der Medien, der Gedächtnisbildung, der Substitution auszuweiten. Statt dieser Suche nach der absoluten Präsenz als Dauer hatte sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert das Modell einer ökonomisierten Aufmerksamkeit, einer durch das Zusammenspiel von Imagination, Wahrnehmung und Gedächtnis (Konvention) inszenierten Lenkung dieser Aufmerksamkeit von außen etabliert. Der Rückgriff auf szenische Einheiten – die situative Variabilität und Relativität der Aufmerksamkeitserfahrung – bewies die physiologische Unmöglichkeit einer reinen phänomenologischen
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Erfahrung, die letztlich erfolgreich zur informatorischen respektive logischen Einheit einer quantifizierbaren Zahl führt. Es war aber gerade Husserls Initiative, die dafür sorgte, der Logik ein Gesicht zu geben. Derridas Antwort auf diese Problemstellung ist die Auflösung der Phänomenologie in der Spur der Schrift. Der Fotografie als Schrift ist abzulesen, dass „die Sache selbst“ – so der Husserl’sche Wunsch – nicht abzubilden ist. Nicht nur, wenn er unterzeichnet, sondern, wenn er sich von dem Gegenstand affizieren lässt, den er in Zeichen verwandelt, schiebt sich der Fotograf ins Bild: Flucht und Spur des Körpers. Später geht Derrida von diesem Syndrom der einschließenden Ausschließung aus, um von der Entkörperlichung durch Schrift auf eine Resubjektivierung im Inszenierungsprozess vor allem auch in der Fotografie zu schließen. Dieser Vorgang der Rückanbindung von Individualität – anders gesagt, die Dekonstruktionen im Schrift- wie im Bildverkehr als „Verstehen“ des Gestellten – wird durch Inszenierungsphasen in allen Momenten der Genese eines Fotos (Aufnahme, Entwicklung, Fixierung, Darstellung, Zeigen) legitimiert: Medien geben sich als Selbstreflexionsunterbrechungen, so Friedrich Kittler, und nicht als reine, logische Form. Die Digitalität fundierende Bool’sche Algebra ist davon freilich auszunehmen. Inszenierung ist das, was Derrida eine Form präscripturaler Vergesellschaftung nennt, mit deren Konvention, Ritualisierung und Wiederholung das Gedächtnis seine transzendente Form veräußerlicht und als Bewusstsein verinnerlicht. Das ist der Sinn von Inszenierung: Einführung von Subjektivität im Versuch einer objektiven Darstellung, Regie. Es war schon Sartre aufgefallen, dass jedes Bild sich als Seins-Riss gibt und den Moment des erscheinenden Verschwindens, d.h. der Substitution des vorgängigen Seins respektive Subjekts, unendlich reproduziert und damit die Krise einer totalisierten Objektivität in einen relativen, fraktalen Realismus überführt. Was könnte diesen Moment der Stillstellung, der Fremdjustierung des Ichs besser erhellen als die Momentaufnahme der Fotografie? Und was könnte besser von dem Götzenbild der inzestuösen Sichselbstgleichheit befreien als der Aufschub der Schrift? Der Bruderzwist zwischen Moses und Aaron berichtet exakt davon. Den Sieg hat die Schrift davongetragen. Das hinderte Gott allerdings nicht, den Israeliten neben den dürftigen Gesetzestafeln einen endlos langen Sermon von bis aufs feinste differenzierter, oft willkürlicher Inszenierungsregeln für ihre Religion anzubefehlen. Das Körpergedächtnis, Ritualität ist – das weiß jeder Adept des Alphabets – allemal zwingender als die Vorschrift eines Gesetzes. Derrida interessiert nun nicht zuerst diese mythische Tradition, sondern er durchstöbert die Bibliotheken und Diskurse der traditionellen Philoso-
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phie und sieht dort eine ebensolche Dogmatisierung, die sich an Lehrsätzen, Motti, Aphorismen, Zitaten und Fragmenten jeweils einen Diskursabsatz erschafft, auf dem die Formen des wissenschaftlichen Denkens sedimentieren. Foucault hatte die Analyse der Dogmatisierung von Diskursen vorbereitet. Spätestens in den 1990er Jahren ist Derrida bereit, unter einer dezidierten Beschäftigung mit den Gesten der Fotografie zu goutieren, was parallel die Systemtheorie Luhmanns als ihre Grundorientierung annimmt: Jede Unterscheidung schließt immer einen Teil, für den sie sich nicht entscheidet, aus, zugleich aber als „Nichtentscheidung“ im Wertsystem auch ein und hält sich so die Option für weitere Ent- und Unterscheidungen offen. Man kann also keine Unterscheidung machen, die nicht zugleich die Spur ihres Möglichkeitsbereichs mit sich führt. Inszenieren heißt, einen Ereignisablauf so vorgeben, dass die Möglichkeit für Ereignishaftes in ihm ebenso geschaffen wird wie deren Überschreitung. Für die Fotografie ist dieser Möglichkeitsraum einerseits in vielen Phasen vor und nach der Aufnahme respektiert, aber in der eigentlichen Aufnahme durch die technische Apparatur sehr klein. Warum nimmt man diese Reduktion auf sich – ja, weist alles, was mit Inszenierung, Retusche, Manipulation am Foto zusammenhängt, als unfotografisch ab?
VI. GEBRAUCHSWEISEN Das Foto ist das unersetzliche Fragment der Grenze des Augenblicklichen und des Todes in den Texturen der Schrift. Das Foto besagt, dass der verrinnende Fluss der Zeit aufgehalten werden kann. Dass sowohl der Fluss als auch dessen Aufschub Phantasmen darstellen, muss im Sog der medialen Körpersubstitutionen und -perversionen nicht eigens betont werden. Die Frage führt uns in thematischer wie historischer Sicht weiter zu den Gebrauchsweisen der Fotografie und zur Reihe von Aufsätzen, die Wolfgang Kemp unter dem Titel Theorie der Fotografie in drei Bänden und Hubertus von Amelunxen in einem vierten Band zur Diskursgeschichte der Fotografie versammelt haben. Diese beispielhafte historische Zuordnung liefert Zeugnisse seit den ersten Versuchen der optischen Fixierung des fotografischen Sehens. In der Frühzeit stellen sich zunächst Fragen der Technik, dann der Legitimation und Autorschaft, schließlich der Ästhetiken und zum Schluss der Medialität. Damit sind auch die vier maßgeblichen Diskursfelder der Theoretisierung genannt. Es handelt sich bei diesen meist kurzen Texten
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weder um Erklärungen von Fotografen, noch um Erklärungen gegenüber Fotografien selbst, sondern um Versuche, einen Schriftverkehr über die spezifische Grammatologie, also die Herkunft, Zukunft und das Bildspezifische der Fotografie – häufig in Absetzung von der Malerei, aber in Annäherung an tradierte Kunst – wiederzuerinnern. In ihrem Befund hat die Theoretisierung die Aufgabe, Innovationen der Technik jeweils für ästhetische Differenzierungen zu reflektieren. Die Problematik des Handwerks und der individuellen Kunstfertigkeit der Fotografen versteckt sich vordergründig hinter ästhetischen Wertanschauungen; hintergründig, das machen etwa die Zitate von Gerhard Plumpe deutlich, geht es um ein Modell gesellschaftlicher Legitimation der Fotografie, um das Eigentumsrecht der Fotografen (Recht am Werk), das Reproduktionsrecht und den Anschluss an die ökonomische Verwertungsketten – also entgegen den technischen Innovationen, die seit Daguerre kollektiviert werden, um die Individualisierung bzw. den stilbildenden Zusammenschluss von Fotografen und Fotografiengruppen. Letztlich geht es um den Besitz, die Dauer an der Markierung eines bestimmten Augenblicks, die Auslotung eines Widerspruchs von Präsenz und Dauer. Die theoretische oder ästhetische Rückerinnerung einer gesellschaftlich-medialen Handlungs- und Technikkonvention ästhetischer, sinnlicher, gewaltmoderierter Inbesitznahme, das heißt seine objektive Disposition, macht den exemplarischen Gewinn der Theorien gerade auch für die Fotografie aus. All das, was Kunstproduktion im Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte erstritten hat auf einem Feld, in dem die Bahnungen gerade nicht Konventionalisiert sind – sofern darunter ein Kult der Subjektivität und Individualität unter dem Zeichen der Genialität und des unwiederholbaren Moments, dieser legitimierten Ausnahmeerscheinung, verstanden wurde –, will auch der Fotograf erobern. Wie soll man die Fotografie auch pekuniär bewerten, wenn ihre Technik ubiquitär und popularisiert, die Bildgebung scheinbar jeder Arbeit enthoben ist und sie von jedermann durchgeführt werden kann? Man versteht, dass es in diesen Diskurspositionen um den Versuch geht, den Antagonismus zwischen technischer Gebrauchsvorschrift und gezielter Gebrauchsübertretung (bewusste Unschärfe, Verwackeln, Inszenierungen, exotische Motive und Perspektiven etc.) positiv auszuloben. Was sich im Laufe der Zeit durchsetzt – besser, was sich als Lauf der Zeit durchsetzt –, ist die traditionelle Masche der Signatur: Der Fotografenhandwerker muss sich einen Namen machen, er muss sich signifizieren, er muss sich eine Dauer verleihen: entweder durch die besondere Qualität seiner Abzüge, die schnelle Lieferung oder die ästhetische Raffinesse – oder er muss besonders
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gute Anwälte, Patente, Lizenzen haben. Daguerre hatte dieses ökonomische Spiel medialer Geldmaschinen schon als Betreiber seiner Panoramen und Dioramen begriffen. Vielleicht zeigt der professionelle Fotograf aber auch Ereignisse, die außergewöhnlich, selten oder besonders fotogen sind. Auf jeder Stufe des Gebrauchs der Fotografie konkurrieren Amateure, Könner, Künstler, Epigonen. Darin unterscheidet sich die Fotografie in nichts von den anderen Künsten. Was auffällig wird, ist, dass die Fotografie und die Fotografen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein niemals das etablierte Kunstsystem in Frage stellen und ihren Beitrag an der tatsächlichen Veränderung der Kunstanschauung, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts die Malerei durchdringt, in Rechnung stellen. Es wurde nicht bewusst, das der fotografische Akt nicht allein mit der Abbildung der Welt, sondern mit deren Veränderung, Realisierung zu tun hat, sodass der Abbildcharakter zum Vorbildcharakter des Realismus und Visualismus wird. Man nehme nur einmal das Detail, dass mit dem Aufkommen der Fotosatzmaschinen auch die typografische Verschriftung über die Fotografie läuft und ihre noch im Bleisatz „prägende“ Anmutung verliert: Die Welt wird flach. Die Fotografie und die fotografierten Ereignisse sind also nicht voneinander zu trennen: Ästhetisierung und Realisierung bedingen einander – die Dinge, die Architektur, die Menschen selbst werden fotogen und ändern so auch allmählich den Agon der Kunst als Unternehmen der Transzendierung und Invertierung des Sublimierten. Nicht immer gibt es zu jeder Gelegenheit eine Krise, Katastrophe oder die Geburt eines Kronprinzen zu fotografieren. Und wenn es diese Ereignisse nicht gibt, müssen sie als solche gemäß dem Ruf des Publikums, also dem, was schon Vorschrift einer Vorschrift ist, inszeniert werden. Auch hier ist das Praktische von Inszenierungen die journalistische Verwertbarkeit vorgeblich nichtinszenierender, authentischer Fotografie. Das Ereignis braucht nicht wirklich materialisiert oder energetisch komprimiert, also verdinglicht zu sein; das Foto kann zeigen, wie etwas „gewesen sein würde.“ Der vierte Band der Theorie der Fotografie, der nach 1980 erschien, hat, so Hubertus von Amelunxen, mit den Herausforderungen der Verschriftung des Fotos in den elektromagnetischen Codes zu tun, mit dem, was man unter „Vernetzung der Medien“ versteht. Der vordem seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhundert selbstbewusste fotografische Eigenständigkeitsanspruch, der nun erstmals – nach einer Episode in den 1920er Jahren – auch umfänglich in Ausstellungen gefeiert, in Akademien und Hochschulen gelehrt wird und sich dem biederen Handwerksmillieu entzieht, spricht im gleichen Atemzug schon von seiner Selbstauflösung in hybride Visualisierung. Die Details der
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Programmsprachen, die aus strikten Befehlen zusammengesetzt sind, kein Original kennen und oft auch keinen Fotografen, der die Automatiken in Regie nimmt, haben ihre eigenen Grammatiken und Grammatologien – und freilich, weil sie ein System bilden, nur einen einzigen Zustand, der auf die Materialisierung von elektromagnetischen Befehlen in den Stromzuständen 1 und 0 zurückgeführt wird. Anders gesagt: Der absolute Augenblick und die narrative Spur sind objektive, physikalisch getaktete Zeitfrequenzen unterhalb und außerhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Die Fotografie wird zur Chronologie und die Kamera zum Chronographen, einer bilderzeugenden Uhr – wie das GPS zu einem bilderzeugenden Raum. Relativ zur serialisierten Bildmaschine ist das alte Zeitphantom der Fotografie einer reinen Ereigniszeit unterworfen. Die Fotografie wird immer mehr zum Film, der sich anhalten lässt. Dass die fotografische Aufnahmezeit gegen Null tendiert oder nur Tausendstelsekunden beträgt, ist nicht entscheidend für die Aufzeichnung einer Lichtspur, die sowieso nicht in ihrer Echtzeit wahrgenommen werden kann. Entscheidend ist, so Roland Barthes – einer der wenigen Autoren, die den Unterschied zwischen Schrift und Bild respektive Fotografie einerseits differenzieren, andererseits auf eine gemeinsame Urszene der Suspendierung und Pervertierung der Körpersinne drängen –, dass jedes Foto der Ausdruck einer vergegenwärtigten Vergangenheit ist. Das „Es-istso-gewesen“ stiftet zwar die Möglichkeit, Präsenz zu denken und damit Bildlichkeit aus dem Wahrnehmungsstrom als Erkenntnismoment dialektisch umschlagen zu lassen, aber dieser Moment der Präsenz ist ein Effekt der Bewusstwerdung der Wareneinheit als Zeichen. Die Erkenntnis der eigenen Identität und der Trennbarkeit von Welt im Medium von Raum und Zeit – eine Produktion sui generis von Zeitdisposition im Aufschub (weg also von der triebhaften Unmittelbarkeit der animalischen Reflexe) – macht die Fotografie zum untilgbaren und unüberbietbaren Teil menschlicher Selbstansicht. Selbst wenn kein Mensch porträtiert wird, deutet alles im Foto auf menschliche Hinterlassenschaft, auf die Urszene der Urschrift hin. Dies ist der eigentlich revolutionäre Akt der Fotografie. Barthes’ Ausführungen zum Studium und Punctum heben nur noch einmal in der Sprache des literarischen oder hermeneutischen Diskurses hervor, was zwischen Detail und Szene, zwischen Text und Kontext eines Wissens über das Foto und eines Details der Abweichung, Privation und Imagination auf dem Spiel steht: das Gedächtnis zu aktualisieren und die Erinnerungen zu bewahren. Es ist eine Frage der Psychologie und der philosophisch argumentierenden Psychoanalyse, über die Werthaltigkeit dieser Momente Auskunft zu geben. Benjamin
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hat das im Begriff des „Chocks“, der aus der Phantasmagorie des Tagtraums erwecken soll, ansatzweise zum Ausdruck gebracht.
VII. GESETZ UND SZENIFIKATION Die Spuren führen zum Unbewussten des Erinnerungs- und Verdrängungsvorgangs, der inkorporalen Einschreibung, zu Freuds Aufsatz Der Wunderblock und zu einer Genealogie von Gedächtnis, wie Rudolf Heinz sie aus dem Mythos des Ödipus herauspräpariert hat. Das Unbewußte ist nicht Ort einer metaphysischen Verdrängung, die gewusst werden könnte; das Unbewusste, das sind die Dinge, die als „Gestell(t)e“ (Heidegger) schon immer stillgestellt das Wohnen, Hausen und Verräumlichen in allen Funktionen beherrschen. Dabei mag es keinen Rolle spielen, ob der ökonomisierte Besitz (das Sitzen, Stellen, Aufhalten, Dauern) Privat- oder Allgemeineigentum ist: Besitz ist im symbolischen Sinne eine Bindungskonvention. Das Unbewusste ist als Verfügbarkeit der Dinge ihre Präsenz. Dort, wo sie präsent sind, übernimmt eine situative Praxis den inszenatorischen Vollzug, dort wo Präsenz sich als Besitz gibt, im Gewohnten, wird nicht fotografiert. Dinge stehen, Medien laufen – so könnte man anhand des wechselvollen Lebenslaufs von Ödipus diagnostizieren. Was nicht läuft, bleibt auf der Strecke: Spuren, genauer die Opferspuren der unerfüllbaren ödipalen Selbstmedialisierung – Autarkie und Autonomiebegehren. Anders gesagt: der Warencharakter der Dinge geht Hand in Hand mit dem Warencharakter der Ereignisse, die als kommunikative Unendlichkeitssimulationen (Todesabwehr) einen ökologischen Tanz aufführen: Bewegung im Stillstand und Stillstand in der Bewegung, so nennt Benjamin den Blick, der auf diese Ökologik zielt. „Hand in Hand“ marschiert das subkutane Funktionieren der ubiquitärer Praxis mit der notwendigen Verunbewusstung der automatisierten Wahrnehmung. Konvention von Schrift- und Leseautomatismen stehen an erster Stelle der Einübung. In Abwandlung des Wortes von Lacan, „das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert“, darf man formulieren: Das Unbewusste ist die Schriftstruktur des gebrauchsreduzierten Realismus. Freud sprach in der Traumdeutung noch von einem Rebus und verschob die Entscheidung, ob der Buchstabe oder das Bild, die Stimme oder die Schrift, die Gleichheit oder die Unähnlichkeit die Blindheit des Unbewussten ausmachen. Die fotografische Abbildung markiert als Präsenzsimulation nicht das Unbewusste, sondern die Verunbewusstung: die reminiszierende Ästhetisierung der realen Opfer-
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welt. Ihr Opfervorausgang ist das Verstummen der Stimme. Insofern ist der Ödipus-Nachgang eher auf Schriftspur angelegt: Er wird in Aufdeckung seiner unbewussten Taten mit Blindheit geschlagen. Baudrillard hat – nach Adorno und Benjamin – die simulative Ästhetisierung des Opfers in aller Schärfe herausgearbeitet. Wie Paul Virilio die Fotografie im mehr als amateurhaften Maß praktizierend, gehört Baudrillard zu den Apologeten einer nietzscheanischen Weltmechanik – dem Modell des Karussells –, zu den hartnäckigen Zeugen einer Kultur der Kriegslogik menschlicher Produktion auch in Friedenszeiten. Susan Sontag hat die Aufnahme und Verdrängung des „Schiessens“ in der Fotografie nicht nur in ihrem Band „Über Fotografie“ anklingen lassen. Die Fotografie ist eine zweischneidige Sache: Sie beschreibt die Wirklichkeit, aber sie beschreibt sie als Realität einer schockhaften Präsenz, einer Ausdehnung dieser Präsenz und einer Verdeckung der Körperlichkeit. Dort, wo Sontag nicht über Kunst und Fotografen berichtet, wo sie keine anekdotische Fotografie- und Technikgeschichte reproduziert, geht es ihr (vor allem in der amerikanischen Fotografie) um die Entlarvung eines „amerikanischen Traums“, dessen Kritik auch Baudrillard umtreibt: nämlich die Zurichtung der Gegenwart als Vernichtung der Zukunft, die in der Fotografie die Melancholie einer besseren Vergangenheit evoziert. Schon die Dürer’sche Allegorie der Melancholie zeigt den Zerfall der Gegenwart in den Realismus der wertlosen und gleichwertigen Details. Es ist die Wertgleichheit von allem und jedem, die die Fotografie mit einem zarten Druck auf einen Auslöser bewirkt. Alles wird zum Zeichen, zur Sichtbarkeit degradiert, jede Szene wird obszön – so Baudrillard. Dass sich Sontag (wie auch Virilio) besonders mit der Kriegsfotografie beschäftigt, führt die Ambivalenz des Wertgesetzes der Ware, nicht aber den Wert selbst in das Fotografische ein. Die Greuel des fotografierten Kriegs sind in der gleichen Weise auf Distanz gehalten wie die beinahe schon abstrakten Fotos von verwesenden Organen auf den Zigarettenschachteln. Die Fotos sind an sich schon Abwehr dessen, was einem wirklich zustoßen könnte: Verdrängung, Verunbewusstung im gezähmten Schock der Medialität. Warum also eine Ikonoscripturalität der Fotografie? Dort, wo das Diskursfeld am dichtesten an eine Idee des Fotografischen heranreicht, geht es auch am meisten auf Distanz zu den Fotos und den Fotografensignaturen. Es bleibt ein Zwischenraum in der Diskursbesetzung und der Diskursanmaßung. Das Zitat ist ja auch die Erschleichung der Autorität eines Anderen, und der Kommentar hat nicht die Funktion der Brücke über die Diskursinseln. Er
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versucht sich in der Auslegung einer ersten faltigen, unwegsamen Region, und auch hier dient er dazu, sich der erschlichenen Autorität durch Fragen überlegen zu fühlen. Das lässt sich übrigens schwer vermeiden. Gewisse Formen wissenschaftlicher Arbeit oder, wie hier, deren sichtende Lektüre und Vorarbeit – wir bewegen uns auf der Tiefebene eines Zettelkastens – üben sich in Demut gegenüber dem, was vor ihnen war. Man sitzt auf den Schultern von Riesen, um eine gängige Metapher zu beanspruchen. Und eine dieser Riesen scheint mir bei allem Anschluss an ein neues Forschungsfeld namens „scripturale Ikonizität“ die Theologie zu sein, die über Inszenierung von Präsenz in Schrift und Vorschrift Auskunft geben kann. Kann man also die Vor-Schrift, die jeweilige Urszene der Urinszenierung, nicht allgemein archäologisch nachspüren? Ich hatte mit Rudolf Heinz den Ödipus-Mythos als Urschrift angesprochen. Ein zweiter, der Gründungsmythos der jüdischen Gesellschaft im Buch Exodus, fand ebenfalls schon Erwähnung. Die Verschriftung des Gesetzes und die Aufhebung der Götzenbilder laufen im Vorschriftcharakter auf eine Exklusivität des Monotheismus hinaus. Er verpflichtet die Varia der Medien auf den gesellschaftlich geregelten Gebrauch, in Sprache, Schrift und Sittsamkeit: Konventionen, die, um legitimiert zu sein, göttlichen Ursprungs sein müssen, aber menschlicher, priesterlicher Inszenierung von Ding- und Kultwelt bedürfen. Mit einem nur archäologischen Nachweis auf eine Urschrift etwa in Phönizien, Ägypten oder den Höhlenmalereien kommt man ebenso wenig weiter wie bei der Suche nach dem Ursprung der Uhr. Schrift, Sprache, Zeiteinteilung sind gesellschaftliche Konventionen, die sich nicht augenblicklich entwickeln wie ein Foto. Bezüglich der medialen Verweisung gelingt dies wohl eher in einem Gleichnis. Aufschub und Fluchtmöglichkeit, Spur und Ordnung des Gesetzes, Verdinglichung und Inszenierung, d.h. Wiederholung von Präsenz auf der Grundlage ritualisierter Ordnung und deren Darstellbarkeit gibt es nämlich gut allegorisiert im biblischen Bericht – war man doch zu jener Zeit der Gedächtnisaufzeichnung, der Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung, fast gänzlich auf mündliche Erzählung angewiesen, die erst das Ende der Flucht der israelitischen Nomaden auf Schriftform abstrahierte. Denn Nomadentum ist Narration des Raums mit Füßen, siehe Ödipus, der Schwellfuß. Sesshaftigkeit ist Präsenz auf Dauer und schon von sich aus der Wiederholbarkeit unterworfen, die das Gedächtnis der täglichen Handlungen und ihre Reaktualisierung im Ritus verunbewussten. Sind nicht die Höhlenbewohner schon sesshaft? Es ist kurz an die Geschichte des Auszugs der Israeliten und an die Verschriftung ihrer Gesetze durch den stotternden
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Moses zu erinnern – vor ihrer Ankunft in das zugewiesene Land, dessen kriegerische (Rück-)Eroberung wider den Geboten, die im Kampf gegen Andere nicht gelten, durchgeführt wird. Der Krieg fordert zur erinnernden Abwehr den Kult, so wie das Ballett des Barock immer noch an die Ritterduelle erinnert: Kultiviert und poetisch, gezähmt und belesen, ist es doch Don Quichotte, der diese Verweichlichung des Agon der Ursprungssuche pervers findet. Man kann ohne Mühe die Erklärung abgeben, dass die in höchstem Maße inszenierte Erzählung des biblischen Exodus in unmittelbarem Zusammenhang mit dem fotografischen Denken der Wiedergabe einer Präsenz durch Repräsentation in den Dingen in Zusammenhang gebracht werden darf. Mit der Fotografie als idealer Zeitform hat man einen passenden Schlüssel in der Hand, um die Selbstreflexion der Legitimationsgeschichte einer Religion, also dem höheren Gesetz der menschlichen Vermittlungen, näher zu kommen. Denn wie im Besitz das Opfer, so ist in der Fotografie die Zeit hinweggezaubert. Der israelitischen Eroberung des Raums muss eine Erinnerungskultur der Vor-Zeit als Nachspiel entsprechen, für Juden eine bis heute kreditierte aber noch nicht erfüllte Zeit der messianischen Erwartung und der Legitimation ihres zweifelhaften Besitzes als Rückeroberung. Die Fotografie hat, so die gegenwärtige Form des Glaubens an die Realität, die Aufgabe zu zeigen und zu beweisen, kurzum, in einem kurzschlüssigen Kausalismus von fotografischem Moment und Foto – was im deutschen gleichermaßen mit „Aufnahme“ bezeichnet wird – die Konventionen des sichtbaren Erscheinens zu regeln. „Es ist so gewesen“ heißt auch immer: Durch alle Zeit hindurch ist dieser Moment mein Eigentum, gehören dieses Gesetz, diese Religion und dieses Land mir – gleich, ob es sich um ein reales Land oder um ein virtuelles Feld symbolischer Konvention handelt. Eigentum ist auch Eigenart. Liest man die Episode der Übergabe der Gesetzestafeln im Buch 20 Exodus profan, so kommt zur Lesung, dass der an die zukünftige Sesshaftigkeit – die Inbesitznahme des Landes (im Eigentumsrecht Gottes, göttlich verheißenes Land) – gebundene Monotheismus (Erstes Gesetz) erst beim zweiten Mal durchgesetzt werden kann, nämlich nach der polytheistischen Kriegsepisode, die die Festivitäten Aarons um das Goldene Kalb, diesen Bildergötzenkult, beenden. Der Bruderagon ist schon die Inszenierung der künftigen kriegerischen Eroberung als Krise des Ursprungs von Besitz und Dauer unter dem Signum der einzigen und wahren Schrift. Die zerbrochenen Tafeln werden ein zweites Mal an Moses übergeben. So erscheint auch die Schrift ein zweites Mal, nämlich als Wiederholungsform, als Gedächtnisbild in Form zweier Steintafeln. Die Ereignishaftigkeit des
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Bruderagons erinnert – wie das Bilderverbot des Islam – an einen abgewehrten Polytheismus der Götzenbilder, wenn man will: an die Privatisierung der Religion. Das Gesetz ist der verschwundene Ursprung, die verunbewusstete Gewalt. Was in ihm nicht szenisch ist, wird im Exodus aber ausdrücklich wieder dazu gemacht: Nicht die Gesetze an sich, sondern die Szenifikation, also Verräumlichung ihrer Abkunft dementiert in gewisser Weise das Gesetz. Während nämlich das Gesetz göttlich, monotheistisch verfasst ist, ist dessen Auslegung in Vor- und Nachgeschichte, in szenische Momente und Bilder wiederum polytheistisch, nämlich nach individueller Sachlage auszulegen. Das Gesetz als Vorschrift und die Interpretation als Literarisierung und Imaginisierung bedingen sich gegenseitig. Von solcher Ambivalenz ist dann gerade auch das algorithmische digitale Gesetz durchdrungen, das in der automatischen Fotografie vollständig substituiert zu werden verspricht. Das szenische Ritual wird als praktizierte Form der Überlieferung der Schrift, als Gesetzmäßigkeit der Choreografie und einer priesterlichen Inszenierung, wie sie etwa in der katholischen Messfeier noch rekorporalisiert ist (geht es doch in der Eucharistie um genau dies: Wort und Körper, Stimme und Vision), bewahrt, während der rauschhafte Tanz um das Goldene Kalb (die Götzenbilder) die Gesetzesübertretung zu feiern sucht, aber genau den Rückschlag prozediert, den es zu überwinden galt. Das Gesetz erscheint erneut, nun aber im Vorausgang all der kulturellen Riten und Gegenstände, die das Judentum auszeichnen sollen. Das etwas zweimal erscheint, ist der Ambiguität der Schrift eingebrannt: im Polytheismus mehrdeutig, da nur performativ, im Monotheismus eindeutig, da semiotisch festgeschrieben. Die Bewegung, das Weisen einer Spur des Ursprungs der Gewalt der Gesetzgebung, muss sich in Ästhetik retten und in Medien seine Szene erstreiten. Die Fotografie macht anthropologisch – jenseits aller Abbildungsqualität – Sinn, indem sie den ursprungslosen Ursprung der Gewalt des Ereignisses der Präsenz nachspielt. Ihre Vorbilder sind in der Kategorie der Heiligenbilder und Devotionalien zu erkennen. Damit zeigt sich, dass zwischen Ikonoscripturalität und Scriptoralikonozität keine Symmetrie existiert, sondern ein reziproker Widerstreit. Während nämlich im fotografischen Augenblick das „Es ist so gewesen“ die Nichtwiederholbarkeit, die Nichtinszenierbarkeit, die Authentizität und Einmaligkeit des Augenblicks – kurz jene ominöse Präsenz des Schocks und des Rausches – gefeiert wird: feiert die Lesung des Fotos gemäß ihrer Ablösung von der Konkretion der Stimme das der Situativität enthobene Gleiten der Imagination.
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Das Foto ist Gesetz des Ereignisses und Proliferation desselben in einer Szene. Zwar lässt sich natürlich jedes Foto – nach der kurzen Episode der Daguerreotypie – über ein Negativ wiederholt reproduzieren, aber es ist eben nicht die Wiederholung des ersten Augenblicks, sondern die Wiederholung einer Reproduktion. Für den, dem es nur auf fotografische Inhalte und Sujets ankommt, spielt das keine Rolle. Aber für den, der es auf die Aufklärung der Diskurs- und Gedächtnisfunktion anlegt, nämlich das Festhalten und Reproduzieren des nichtwiederholbaren ersten Moments (Gesetzgebende Gewalt) in einem zweiten Mal (szenische Verräumlichung) für den, der die situative Aura überwunden zu haben glaubt, wird das zum bestimmenden Kern von Fotografie: Authentizität und Literatur, Schrift und Bild: Scripturalikonozität – Ikonoscripturalität. Auf eben diese Weise, den Ursprungsmythos betreffend, erneuert sich der Glaube in der katholischen Kirche auch nicht durch Befolgung ihrer Gesetze und Dogmen, sondern durch die gemeinsame, jedesmal einmalige ursprüngliche Urszene der Transsubstantiation des „Lumen Christi“. Alles hängt davon ab, ob man den Glauben darstellen kann, dass man, wie Schelling konzediert, ein Opferbedenken im Erinnerungsbild, nicht im Moment des Ereignisses selbst überführen kann. Bei der Fotografie trennt in dieser Hinsicht der Akt des Fotografierens und der Akt der Bildbetrachtung ein Abgrund, der umso tiefer wird, als das unmittelbare Ereignis sich schon für das Foto inszeniert. Die Kindersprache macht die einhaltende Verdopplung des Anfangens sinnlich vor, die Silbenverdopplung von „Mama“ und „Papa“ und die Wortverdopplungen, wie sie Lévi-Strauss analysiert hat, sind Ausdruck des Umstandes, dass zwischen dem einfachen Sagen und dem Hinweisen auf dieses Sagen die Verdopplung unterschiedliche Funktionen einnimmt: Die einfache Silbe steht für den Akt, das wiederholte Sagen für die Signifizierung, also Geltungslegitimierung. Die Relation beider Akte strukturiert den Raum der Sprache. Die Dopplung ist nicht Wiederholung, sondern, als Asynchronie, Verräumlichung: Der Aufschub ist Schrift. Das, was in Spiegelung und Verifikation des Spiegels sukzessiv erfolgt – Derrida geht dieser Spur in den konstruierten Spiegelmotiven des Foto-Romans von MarieFrançoise Plissart in seinem Essay Recht auf Einsicht nach –, ist das Zentralproblem der Reflexionsphilosophie. Die Nachträglichkeit des Bewusstseins ist der Trennung von gleitender Zeit (Imagination) und blitzartig präsentem Bild geschuldet. Ihr problematischer Ort ist das Begehren nach Einheit. Bewusstsein temporaldialektisch zu denken, wie es Adorno Benjamin anrät,
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heißt, seine Konstruktion als Ausdruck eines sowohl historischen als auch genealogischen Schriftmoments zu verifizieren. Benjamin hat das vor allem in den frühen Schriften zur Gewalt und zur Geschichte auseinandergelegt. Schon die Kombination des Gewaltereignisses mit seiner Kontinuierung als einer Technik der Verschriftung verrät, dass es in Benjamins Zielsetzung um alles andere als um das idyllische Friedensbild geht. Es geht um die Verschiebung der Gewalt gegen Menschen auf eine gegen Sachen: die Progression der Ökonomie. Vielleicht ist aus Gründen der Erhellung dieser Schriften sein höheres Interesse an der Verwertung des fotografischen Aktes zu verstehen. Die Differenz lässt sich nicht politisch revidieren, auch wenn die mit Lichtgeschwindigkeit operierenden Mediennetzwerke das mediale, zweite Ereignis zum ersten deklarieren. Auch das Fotografieren ist ein Akt der Gewalt, der von seiner Ästhetisierung und szenischen Kraft jedoch fast vollständig kompensiert wird. Nicht die Entdeckung der Präsenz als solche, dieser elementarsten Form blitzartigen Aufleuchtens einer Idee, die Benjamin eben nicht als Anfang oder Ursprung, sondern als dialektisches Umschlagen/Inversion verzeichnet, sondern die Illusion, Schrift und Bild seien zu versöhnen, gilt es zu revidieren. Die Vor-, Um- und Nachschriften erzählen von der Unruhe, in der die Antwort auf die Frage nach der Identität in der Porträtfotografie keinen Platz findet. Also drängt das einzelne Foto im Fotoroman und in der seriellen Praxis des Fotografierens zur dramatisierten Narration. „Identität“, der Inzest des Augenblicks, soll durch Narrative gebrochen werden. Im Spiegelbruch, den auch die Fotografie vollzieht und der die absolute Wiederholung verhindert, bleibt ein asymmetrischer Opferrest unvermeidlich. Dieser Rest ist es, der in den Gedächtnisbildern von Schrift und Bild auf je unterschiedliche Weise einen göttlichen Ursprung sich weitertreibender absoluter Gegenwart und Schicksalhaftigkeit protegiert. Die Erinnerung an diesen Rest, Seinriss des Bildes, muss in Form der Schrift stets das Bild und – als dessen Extremistische Form – das Foto begleiten. Insofern ist die Schrift die Membran des Bildes: die Möglichkeit seiner Vergegenwärtigung, sowie die Präsenz – sofern es Sinn machen sollte, von ihr zu schreiben –, ist nicht Nichts, sondern der Übergang vom Imaginären zum Realen als produktiver Widerstreit. Das Fotografieren hat kein Ende – das ist die Provision dieser Ökonomie. Die Provision ist die Probe, ein Provisorium der Zukunft. Ausgelesen wird die Probe erst im abgeschlossenen Tausch: Inszenieren, Fotografieren, Zeigen, Lesen, Vorstellen und Erinnern. Auf diese Weise muss der Sinn mehrfach die Grenze vor dem Gesetz passieren: einmal in Voraussicht (Pro-Vision)
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der provisorischen Sichtbarkeit der Ware als Bild/Zeichen/kreditierende Wunschdarbietung und einmal als Provision, als interaktive Vergesellschaftung, wenn der Handel sich realisiert, die Ware tatsächlich in den Besitz gelangt. Die Fotografie ist die Provision. Der Aufschub verlangt, die für die Fotografie beleuchteten Texte nicht nur zu lesen, sondern sie auch „interdiskursiv“ gleichsam übereinander zu legen und zu durchleuchten. Weil stets ein Rest in dieser Übertragung bleibt, muss eine Diskursanalyse der Fotografie das immer gleiche Problem der Spezifikation der Fotografie im Antagonismus einer theoretischen Unauflösbarkeit selbst vorantreiben, nämlich dem Wunsch nach Identität: „Ich bin es auf diesem Foto, ich habe dieses Foto aufgenommen, die Anwesenheit des Fotos bezeugt meine Anwesenheit an diesem Ort zu dieser Zeit.“ Das Subjekt schreibt sich in seine Geschichte ein. Die Malerei, so realistisch sie sein mag, wird nie die Radikalität dieses Antagonismus zwischen Augenblick und Lebensvollzug formulieren können. Sie tendiert immer schon zur Schrift. Wegen ihrer Radikalität führt die Fotografie eine breite Schneise der Verzweiflung über ihre Identität mit sich: permanent und immer schneller muss fotografiert werden. Im gegenwärtigen Moment wohnt jeder Fotografie ein verhexter Augenblick inne, der die Funktion eines biblischen Fluchs angenommen hat. Die Gegenwart ist unauslöschlich mit der Vergangenheit verbunden, aber als eine schon besetzte, schon in Vorschrift genommene Zukunft. Nicht die semantisierende Inszenierung des fortlaufenden Textes, sondern die Widerständigkeit standhaltender Fotografie, die trotz aller Moden und Techniken als das Fotografische beständig bleibt, wäre ein zu entdeckendes Moment, dass das Fotografische seiner Urszene näher brächte. Oder ist auch „die Fotografie“ im hier gemeinten Sinne nur eine Reminiszenz?
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