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German Pages [710] Year 1986
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN VON DIETRICH GEYER BAND 16
BÜRGERTUM UND STADT IN RUSSLAND 1760-1870 RECHTLICHE LAGE UND SOZIALE STRUKTUR
VON MANFRED HILDERMEIER
1986 BÜHLAU VERLAG KÖLN WIEN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hildermeier, Manfred Bürgertum und Stadt in Russland 1760-1870 : rechtl. Lage u. soziale Struktur / von Manfred Hildermeier. - Köln ; Wien : Böhlau, 1986. (Beiträge zur Geschichte Osteuropas ; Bd. 16) ISBN 3-412-01185-1
Copyright © 1986 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Gesamtherstellung: Hans Richarz Publikations-Service, Sankt Augustin Printed in Germany ISBN 3-412-01185-1
FÜR EVA
INHALT
VERZEICHNIS DER TABELLEN VORBEMERKUNG
XI XVII
EINLEITUNG
1
ERSTER TEIL BÜRGERTUM UND STÄNDEREFORM IM AUSGEHENDEN ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT I.
II.
Die Beisassengemeinde am Vorabend der Reformen Katharinas II Reformversuche der aufgeklärten Autokratie: die Gründung eines »mittleren Standes« 1. Motive und Kontroversen 2. Die steuerliche und ständische Neuordnung von 1775/1785
III. Standeswechsel und Ständetrennung: Bürger und Bauern IV. Standesflucht: Bürgertum und Adel V.
Finanzkrise, Wirtschaftsentwicklung und Ständeordnung: die zunehmende Dominanz fiskalischer Zwecke (1785-1824) . . . . 1. Wachsender Steuerdruck und Kontinuität der Lastengemeinschaft 2. Die Legalisierung der handeltreibenden Bauern 3. Die Krise der Gildenkaufmannschaft
VI. Quantitative Entwicklung, soziale Struktur und wirtschaftliche Lage des bürgerlichen Standes um die Jahrhundertwende . . .
33
35
57 57 73 91 102
124 124 137 151
159
VIII
Inhalt ZWEITER TEIL
DAS BÜRGERTUM ZWISCHEN STÄNDEORDNUNG FRÜHINDUSTRIELLER GESELLSCHAFT A.
UND 181
Die rechtliche Entwicklung des Bürgertums in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
183
Vom mittleren Stand zum Gewerbesteuerstand: die Gildenreform von 1824 1. Konservative und liberale Vorstellungen 2. Die »Ergänzenden Bestimmungen« und ihre Auswirkungen 3. Nachbesserungen und weitere Kritik
183 183 193 207
Bürgertum, Adel und Ständereform: der Ehrenbürgerstand als Mobilitätsbarriere
218
III. Bürger und Bauern: der Abbau der Ständetrennung als Instrument der Stadtentwicklung
234
I.
II.
IV. Bürgertum und staatliche Obrigkeit 1. Administrative Dienste: von der Zwangsverpflichtung zur begrenzten Selbstverwaltung a. Die Stadtordnung in der Praxis: Mißstände und Dienstflucht b. Neue Reformen (1846-1870) 2. Steuerleistungen: vom Naturaldienst zur Geldabgabe V.
246 246 246 271 290
Neue Steuerreformen und die faktische Auflösung des bürgerlichen Standes (1863/65)
307
Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
323
I.
Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
328
II.
Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt: ein Überblick . . 1. Das Erscheinungsbild der Städte 2. Das zentrale Industriegebiet 3. Die übrigen Regionen 4. Die meäöane in den Hauptstädten 5. Ein Stand ohne Identität - das niedere Bürgertum und die gewerbliche Unterentwicklung der Städte
370 370 378 408 437
B.
457
Inhalt
IX
III. Strukturwandel der Kaufmannschaft und die Grundlegung eines frühindustriellen Bürgertums 1. Zur Kontinuität der Moskauer Kaufmannschaft 2. Kaufmannschaft und Industrie 3. Ständische Herkunft der bürgerlichen Oberschicht Moskaus 4. Bäuerliche Händler und Unternehmer
465 470 476 496 505
IV. Der Kaufmann als soziale Gestalt 1. Lebensweise: Schichten und Typen 2. Ständische Abgrenzung und Anschauungen 3. Bildung und Ansehen 4. Geschäftsgebaren und Handelsart 5. Die Kaufmannsgestalt im Wandel
545 545 562 572 584 594
SCHLUSS BÜRGERTUM UND STADT IN RUSSLAND ZWISCHEN STAATLICHER REFORM UND WIRTSCHAFTLICHER RÜCKSTÄNDIGKEIT
603
Abkürzungen
623
Russische Maße
624
Quellen- und Literaturverzeichnis
625
Personen- und Ortsregister
669
Karten
in Rückentasche
VERZEICHNIS DER TABELLEN
Tabelle 1
Tabelle 2
Tabelle 3
Tabelle 4
Tabelle 5
Tabelle 6
Tabelle 7
Tabelle 8
Tabelle 9
Tabelle 10
Tabelle 11
Tabelle 12
Soziale Struktur der russischen Beisassengemeinde 1764
49
Kaufleute, die an Häfen und Zollstationen Handel trieben nach Gilden und Vermögensgruppen (»stat'i«) 1764
50
Kaufleute insgesamt nach Gilden und Vermögensgruppen (»stat'i«) 1764
50
Binnenhandelskaufleute und Handlungsgehilfen (»sidel'cy«, »prikaäöiki«) nach Gilden und Vermögensgruppen (»stat'i«) 1764
51
Kaufleute ohne Handel und Handwerk nach Alter • 1764
52
Einschreibungen in die Kaufmannschaft nach der Steuerreform von 1775
77
Ständische Herkunft der 1794 neu eingeschriebenen Kaufleute und mediane im Gouvernement Moskau
98
Standeswechsler aus der Bauernschaft unter den Stadtbewohnern einiger zentralrussischer Gouvernements 1808 (Daten der 5. Revision)
99
Fluktuation der Moskauer Kaufmannschaft 17951811 (5. Revision)
100
Zunahme der staatlichen Besteuerung der Kaufleute 1775-1824
127
Staatliche Steuern der Kaufleute, meäöane, Zunfthandwerker und handel- und gewerbetreibenden Bauern vom Ende des 18. bis zum ersten Viertel des 19. Jahrhunderts
150
Kaufmännische und bäuerliche Gewerbepatente im Zarenreich 1816-1824
158
XII Tabelle 13
Verzeichnis der Tabellen Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches 1719-1815
162
Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreichs in den Grenzen der von der ersten Revision erfaßten Gebiete 1719-1815 . . . .
162
Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im Zarenreich 1782-1811
166
Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im Zarenreich 1795-1824
167
Anzahl und Struktur der Gildenvermögen in Moskau 1777-1823
169
Anzahl und Struktur der Gildenvermögen in Niinij Novgorod 1786-1816
170
Wirtschaftliche Tätigkeit der Stadtbürger im Gouvernement Tver' 1784
174
Industrieunternehmen in Rußland 1813-1814 nach Regionen
180
Zuschreibungen zur Kaufmannschaft und zum mesöanstvo im europäischen Rußland 1826-1854 . . .
244
Tabelle 22
Einkünfte der Städte im Zarenreich 1856
259
Tabelle 23
Daten zur Quartiersteuer in den Städten des Gouvernements Moskau 1842
301
Anzahl der Städte im europäischen Rußland nach Regionen 1811-1856
330
Verteilung der Städte im Zarenreich nach ihrer Einwohnerzahl 1811
331
Verteilung der Städte im Zarenreich nach ihrer Einwohnerzahl 1856
332
Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches 1816-1857
335
Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches in den Grenzen der von der ersten Revision erfaßten Gebiete 1815-1857
335
Tabelle 14
Tabelle 15
Tabelle 16 Tabelle 17
Tabelle 18
Tabelle 19
Tabelle 20 Tabelle 21
Tabelle 24 Tabelle 25
Tabelle 26 Tabelle 27
Tabelle 28
Verzeichnis der Tabellen Tabelle 29
Tabelle 30
Tabelle 31
Tabelle 32
Tabelle 33
Tabelle 34
Tabelle 35
Tabelle 36
Tabelle 37
Tabelle 38
Tabelle 39
Tabelle 40
Tabelle 41
XIII
Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im europäischen Rußland 1811-1857 nach Regionen (Revisionsdaten)
337
Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im europäischen Rußland 1811-1870 nach Regionen (polizeilich-administrative Daten)
345
Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im europäischen Rußland 1827-1854 nach Regionen (Revisionsdaten)
347
Anzahl der erklärten Kaufmannsvermögen im Zarenreich (ohne Polen und Finnland) nach Gilden 1816-1858
349
Zusammensetzung der Kaufmannschaft im europäischen Rußland nach Gilden und Regionen 1816 1833 - 1854
350
Kaufmännische, bäuerliche und adelige Gewerbepatente im europäischen Rußland 1825-1854 . . .
352
Zahl der Handwerker und der Angehörigen des Zunfthandwerkerstandes im europäischen Rußland 1858
356
Städtische Bevölkerung im europäischen Rußland nach Ständen 1811-1858
359
Ständische Struktur der Bevölkerung von St. Petersburg 1801-1857
364
Ständische 1811-1852
365
Struktur
der Bevölkerung
Moskaus
Wirtschaftliche Bedeutung und Struktur der Gouvernementsstädte im europäischen Rußland 18611862
412
Wirtschaftliche Bedeutung und Struktur der mittleren und kleineren Städte im europäischen Rußland 1861-1862
413
Zuschreibung zum meäianstvo von St. Petersburg 1847-1856
439
XIV Tabelle 42
Verzeichnis der Tabellen Austritte aus dem meäöanstvo von St. Petersburg 1847-1856
441
Berufliche Tätigkeit der meäüane von St. Petersburg 1855-1856
443
Häufigkeit und durchschnittlicher Wert des Immobilienbesitzes in St. Petersburg 1843-1844 nach Ständen und Korporationen
447
Tabelle 45
Beschäftigungen der Moskauer meäöane 1845
. . .
450
Tabelle 46
Ständische Herkunft der Bettler in Moskau 18521861
456
Einkünfte der Stadtbewohner im Gouvernement JaroslavF 1843
463
Ständische Zugehörigkeit der Manufaktur- und Werkstattbesitzer sowie Größe ihrer Betriebe in den Gouvernements Moskau (1853), Kaluga (1864), Rjazan' (1860), Jaroslavl' (1853), Simbirsk (1868) und Voroneä (1862)
478
Ständische Zugehörigkeit der Manufaktur- und Werkstattbesitzer im Gouvernement Moskau nach Branchen 1853
481
Ständische Zugehörigkeit der Manufaktur- und Werkstattbesitzer im Gouvernement Moskau nach Branchen und Arbeiterzahl 1853
482
Ständische Zugehörigkeit der Manufaktur- und Werkstattbesitzer im Gouvernement Jaroslavl' nach Branchen und Arbeiterzahl 1853
483
Industrielle Unternehmer in der Moskauer Kaufmannschaft 1849-1850
487
Ständische Herkunft der bedeutendsten Moskauer Kaufmanns- und Fabrikantenfamilien 1833-1857
497
Zeitpunkt des Eintritts der 1833-1857 bedeutendsten Moskauer Kaufmanns- und Fabrikantenfamilien in die Kaufmannschaft
497
Ständische Zusammensetzung und Herkunft bedeutender Baumwollfabrikanten in Moskau 1853
503
Tabelle 43 Tabelle 44
Tabelle 47 Tabelle 48
Tabelle 49
Tabelle 50
Tabelle 51
Tabelle 52 Tabelle 53 Tabelle 54
Tabelle 55
Verzeichnis der Tabellen Tabelle 56 Tabelle 57
XV
Ständische Herkunft und Zahl der Schüler im Gouvernement Kazan' 1854-1856
577
Schreib- und Lesefähigkeit (gramotnost') der Kaufmannschaft und der steuerpflichtigen Einwohner im Gouvernement Saratov 1844
577
VORBEMERKUNG
Die vorliegende Untersuchung ist einem ebenso unbekannten wie komplexen Gegenstand der russischen Geschichte gewidmet. Bürgertum und Stadt gehören zu jenen zentralen Erscheinungen, die die gesamte Breite der historischen Wirklichkeit umfassen und sich nicht auf Teilbereiche eingrenzen lassen. Wer ihre Struktur und Entwicklung verstehen und beschreiben will, wird - jedenfalls für die vormoderne Zeit - nicht umhin können, die Geschichte der Bauernschaft und des Adels, des Handels und der Manufaktur, der Staatsverwaltung und der noch rechtlich festgeschriebenen, ständisch gegliederten Sozialverfassung insgesamt mitzubedenken und großenteils auch mitzubehandeln. Hinzu kommen, als Folge der großen Ausdehnung des zarischen Imperiums schon diesseits des Ural, erhebliche regionale Unterschiede. Sie schlugen sich zwar nicht unbedingt in einer Vielfalt der äußeren Formen und Typen nieder, aber doch in jeweiligen Besonderheiten der wirtschaftlichen und sozialen Grundlage. Von selbst versteht sich, daß solche Breite und Heterogenität eigene Probleme der Quellenaufbereitung und des methodischen Zugangs aufwarfen. Um so eher hätte es nahegelegen, ihnen durch die Beschränkung auf eine regionale Fallstudie oder einen Vergleich zwischen ausgewählten Städten zu begegnen. In der Tat hat eine solche Überlegung am Anfang der Arbeit gestanden. Eine exemplarische Darstellung muß indes durch Informationsdichte und Detailreichtum wettmachen, was sie an Vollständigkeit und Synthese von vornherein aufgibt. Schon die ersten Erfahrungen in sowjetischen Archiven zeigten, daß dazu geeignete, geschlossene Bestände unter den gegebenen Bedingungen nicht zur Verfügung stehen würden. Die Materialsuche wies vielmehr den anderen Weg. Sie förderte eine überraschende Fülle an höher aggregierten statistischen und allgemeinen Beschreibungen sowie an verstreuten, punktuell vertiefenden Quellen der verschiedensten Art zutage. Auch unter den ungedruckten erwiesen sich die Akten der obersten Regierungsbehörden, weil besser geordnet und gegebenenfalls bereits zusammengefaßt, als brauchbarer. Auf der Grundlage solcher Materialien entstand eine Studie, die sich unter Verzicht auf manche Einzelheiten darum bemüht, allen wesentlichen und quellenmäßig greifbaren Aspekten der rechtlichen Lage und der wirtschaftlich-sozialen Struktur dessen gerecht zu werden, was in Rußland als Bürgertum im korporativen Sinn galt. Als zeitlicher Rahmen wurde dabei die Periode zwischen den Reformen Katharinas II. und Alexanders II. gewählt, mithin ein Abschnitt der russischen Geschichte, der einerseits durch den
XVIII
Vorbemerkung
Versuch gekennzeichnet war, Wirtschaft und Gesellschaft des Reiches nach westeuropäischen Muster umzugestalten, andererseits aber noch ganz überwiegend durch die traditionalen Zustände geprägt wurde. Geographisch erwies es sich aus inhaltlichen ebenso wie aus räumlichen und zeitlichen Gründen als zweckmäßig, das zentrale Gewerbegebiet in den Vordergrund zu stellen und die übrigen Regionen des europäischen Reichsteils nur kursorisch zu behandeln. Generell sollte der komparative Blick auch auf westeuropäische Verhältnisse nicht fehlen. Allerdings zwang schon der äußere Umfang der Arbeit dazu, in dieser Hinsicht größere Zurückhaltung zu üben, als es vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Ohnedies mußte für die Drucklegung auf den statistischen Anhang, einen Exkurs über die soziale Herkunft der Manufakturbesitzer im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert und ein Kapitel über die gesellschaftspolitischen Anschauungen der Kaufmannschaft verzichtet werden. Auch diese Arbeit wäre ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für einen fast einjährigen Forschungsaufenthalt in Moskau und Leningrad sowie für ein halbjähriges Habilitandenstipendium und einen heutzutage alles andere als selbstverständlichen generösen Druckkostenzuschuß. In Moskau hat mich Dr. P. G. Ryndzjunskij, dessen Pionierstudie zur russischen Stadt in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts immer noch den Maßstab setzt, bereitwillig an den Ergebnissen seiner langjährigen Forschungstätigkeit teilhaben lassen und sich mit nimmermüder Energie bemüht, mir Wege durch das Labyrinth der ebenso umfangreichen wie verstreuten einschlägigen Quellen zu weisen. Die Mitarbeiterinnen des CG ADA, CGIAM und CGIA SSSR, insbesondere S. J. Gimejn, haben dazu beigetragen, daß die Arbeit im Archiv letztlich eine Fülle von Informationen und Einsichten erbrachte. Dank der kompletten Bestände und der Hilfsbereitschaft des Personals war die Lektüre in der Lenin-Bibliothek und der Bibliothek für Gesellschaftswissenschaften (INION) erneut so ergiebig, daß sie den Grundstock der Materialsammlung legte. Während der Abfassung konnte ich auf die reichhaltige Sammlung der Bibliothek des Osteuropa-Institutes der Freien Universität Berlin zurückgreifen, die eine zügige Niederschrift in vieler Hinsicht erst ermöglicht hat. Mein Freund Dietrich Beyrau (Bremen) hat sich durch eine unförmige und schwer lesbare Frühfassung hindurchgearbeitet und mir mehr als einmal über Stockungen und gedankliche „Knoten" hinweggeholfen. Desgleichen standen mir Dr. D. Brandes und Prof. K. Meyer (Berlin) mit freundschaftlichem Rat zur Seite, wann immer es dessen bedurfte. Wertvolle Hinweise erhielt ich von Prof. G. Freeze (Brandeis). Die Mitarbeiterinnen der Zentralen Textverarbeitung der Freien Universität haben sich mit großer Sorgfalt der umfangreichen und wegen der zahlreichen Tabellen und kyrillischen Titel schwierigen Vorlage angenommen. Herr W. Merck hat sein Talent für die Anfertigung
Vorbemerkung
XIX
eines detaillierten kartographischen Verzeichnisses der russischen Städte um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zur Verfügung gestellt. Prof. D. Geyer (Tübingen) brauchte sich diesmal erst in der Schlußphase einzuschalten, indem er sich freundlicherweise erneut bereit erklärt hat, das Manuskript in die von ihm herausgegebene Reihe aufzunehmen. Besonderen Dank schließlich schulde ich Prof. H.-J. Torke (Berlin), der seinem Assistenten nicht nur einen großzügig bemessenen Freiraum ließ und einer anderthalbjährigen Beurlaubung zustimmte, ohne die die vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen wäre, sondern diese darüber hinaus in jeder Hinsicht unterstützt und durch das Habilitationsverfahren begleitet hat. Berlin, im August 1984 M.H.
EINLEITUNG
Bis an die Schwelle des industriellen Zeitalters waren Bürgertum und Stadt nicht zu den prägenden Strukturen und Kräften der Sozial-, Wirtschafts- und Herrschaftsverfassung des Zarenreichs zu rechnen. Mehrere, im einzelnen noch zu erörternde Ursachen haben dazu beigetragen, daß sie sich nur zögernd entwickelten und in mancher Hinsicht kaum eigentümliche Konturen gewannen. Der Spielraum, der ihnen im Rahmen der Autokratie und der Leibeigenschaftsordnung offenstand, blieb überaus gering. Wenige Städte konnten als bedeutende Zentren von Handel und Gewerbe gelten; sehr viele bewahrten dagegen den agrarischen Charakter ihrer Umgebung und waren auch äußerlich von ärmlichen Dörfern nicht zu unterscheiden. Ihre Bewohner gingen größtenteils landwirtschaftlichen Beschäftigungen nach, neben denen gewerblich-kommerzielle kaum ins Gewicht fielen. Was sie zu „Beisassen" (posadskie) oder in der späteren Terminologie zu „Bürgern" (grazdane) machte, war ihre rechtliche, aufs engste mit der Art der Steuerleistung verknüpfte Lage. Sie gewährte ihnen insbesondere seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert nicht unwesentliche Privilegien, die sie aus der Masse der Bauernschaft, namentlich der leibeigenen, heraushob. Aber sie begründete keine nennenswerte Selbständigkeit und keine Freiheiten, die sie der Verfügungsgewalt des Staates auch nur annähernd entzogen und einen Weg für die Entfaltung gesellschaftlicher Eigeninitiative eröffnet hätten. Ohne solides ökonomisches Fundament vermochte das Bürgertum im Zarenreich seine rechtliche Stellung nur in sehr begrenztem Maße in soziales Gewicht umzumünzen und eigene, spezifische Lebensformen und Wertvorstellungen auszubilden. Noch weniger war es in der Lage, politische Macht zu erwerben, die es ihm erlaubt hätte, seine Interessen gegen die Vorherrschaft des Adels oder gar die Allgewalt der Autokratie durchzusetzen. Das städtische Bürgertum blieb im vorindustriellen Rußland als Gesamterscheinung weitgehend eine sozial äußerst heterogene, wirtschaftlich wenig gefestigte, von der Zentralgewalt geschaffene und abhängige Kategorie der Rechts-, Verwaltungs- und Steuerordnung. Dieser Sachverhalt hat die Forschung vor besondere Probleme gestellt. Sie hat sich schwer getan und aufs Ganze gesehen auch vergleichsweise wenig Mühe darauf verwandt, die rudimentäre und in vieler Hinsicht eigentümliche soziale Erscheinung zu beschreiben und einzuordnen. An Bürgertum und Stadt offenbarte sich ein weiteres Mal jenes distanzierte, aber zunehmend enger werdende Verhältnis der russischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte
2
Einleitung
zur europäischen, dessen genauere Kennzeichnung bis heute umstritten geblieben ist, zumal sie von vorgängigen weltanschaulichen Annahmen kaum zu lösen war. Dazu trug nicht zuletzt der Umstand bei, daß in der Tat kaum allgemeinere Konzepte und Kategorien zur Verfügung stehen, welche die unterschiedlichen und sich ungleich verändernden Merkmale einer Gesamterscheinung berücksichtigen, statt nur dichotomisch die Kongruenz oder Inkongruenz mit einem zumeist implizierten normativen Maßstab zu bezeichnen. Einerseits lag die Andersartigkeit der russischen Städte zutage. Andererseits gab es Grund genug, sie nicht ganz von den europäischen Verhältnissen abzusondern. Zugespitzt formulierte Überschriften, die dem russischen Bürgertum in Anlehnung an die Auffassung der „liberalen" Geschichtsschreibung im Zarenreich rein negativ das Etikett einer „vergessenen Klasse" aufdrücken oder gar sein „Nichtvorhandensein" feststellen 1 , signalisieren dieses Dilemma ebenso wie die mannigfachen Aporien, in die sich die sowjetmarxistischen Versuche verstricken, einen Gleichlauf der russischen und der westeuropäischen Stadtentwicklung nachzuweisen. Beide Deutungen, welche die konträren und vorherrschenden Positionen der bisherigen Forschung markieren, seien kurz skizziert. Die bestimmende Strömung der vorrevolutionären russischen Geschichtsschreibung sah Bürgertum und Stadt des Zarenreiches vor dem Hintergrund einer Gesamtinterpretation, die von einem tiefgreifenden Unterschied der russischen zur - idealtypisch vereinfachten - Entwicklung Westeuropas ausging und diese zur Norm erhob. Die Andersartigkeit erschien ihr deshalb zugleich als Rückständigkeit. Merkmale eines solchen Mangels an Fortschritt und Zivilisation erkannte sie in fast allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens, der sozialen Struktur und der Herrschaftsorganisation. Die Stagnation der Städte stellte sich als Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer solcher Defizite und Besonderheiten dar. Eine grundlegende Prägekraft wies man schon den natürlichen geographischen, demographischen und den daraus folgenden wirtschaftlichen Gegebenheiten zu. In der Weite des Raumes, der fortschreitenden territorialen Ausdehnung und der dünnen Besiedlung erblickte man wesentliche Hemmnisse für die Konzentration der Bevölkerung an wenigen Punkten. Die Mühsal und Langsamkeit des Transports erschwerten den Handel, der angesichts der geringen Ertragskraft des Ackerbaus, der Zähigkeit und weiten Verbreitung der bäuerlichen Natural- und Subsistenzwirtschaft und der Randlage zu den großen überregionalen Handelsströmen
') Vgl. Bill, Forgotten Class sowie den Titel des einschlägigen Kapitels (Das nichtvorhandene Bürgertum) bei Pipes, Rußland S. 197-226. - Zur Zitierweise sei angemerkt, daß alle Titel im folgenden aus Raumgründen in Kurzform genannt werden. Die vollständigen Angaben finden sich im Quellen- und Literaturverzeichnis.
Hinleitung
3
ohnehin nur über sehr geringe Entfaltungsmöglichkeiten verfügte. 2 Die mäßige Bodenqualität und die Ungunst des Klimas, das die Feldarbeit auf wenige Monate im Jahr zusammendrängte, förderten darüber hinaus das bäuerliche Heimgewerbe und Handwerk in besonderem Maße. Auf den Dörfern erzeugte man nicht nur die Lebensmittel selbst, deren man bedurfte, sondern auch so gut wie alle Gebrauchtsgegenstände. Dieser „Hausfleiß" tat ein übriges, um den wirtschaftlichen Lebensraum der Städte einzuengen und das Austauschverhältnis zwischen Stadt und Land insgesamt entscheidend zu verändern, wenn nicht umzukehren. Er konnte als eine der wichtigsten Ursachen für das oft wiederholte, die „liberale" Deutung in nuce zusammenfassende Urteil gelten: daß die russische Stadt, in „vollständigem Gegensatz" zur westeuropäischen, „nicht . . . das natürliche Produkt der inneren wirtschaftlichen Entwicklung des Landes" war. Sie sei „von einzelnen Ausnahmen abgesehen . . . nicht aus dem Zusammenschluß einer mit Gewerbe und Handel beschäftigten Bevölkerung an einem Orte" entstanden, da Handel und Gewerbe „auch ohne die Entwicklung des städtischen Lebens" auskamen. 3 Diese Wertung bezog man nicht nur auf die Frühzeit des Moskauer Zarenreiches, sondern auch auf das achtzehnte und, wenngleich in abgeschwächter Form, auf das neunzehnte Jahrhundert. Aufgrund der kaum veränderten strukturellen Rahmenbedingungen galt die Stadt weiterhin als „zerbrechlicher, wirtschaftlich schwacher Organismus, der keinen Nährboden besaß". 4 Was die russischen Städte hervorbrachte, waren laut liberaler Auffassung vielmehr außerökonomische Notwendigkeiten und Zwänge. Der Staat brauchte zur Verteidigung seiner endlosen, ungesicherten Grenzen und zur Wahrnehmung seiner Herrschaftsfunktionen militärische Stützpunkte und Verwaltungszentren. Er gründete nach seinen Bedürfnissen befestigte Orte, die er in den Rang einer Stadt erhob. Die Bevölkerung, die dazu nötig war, „mußte man gewaltsam schaffen". 5 Sie veränderte aber durch den dekretierten Statuswechsel ihren wirtschaftlichen und sozialen Charakter nicht. Die meisten Städte blieben, wie immer wieder betont wurde, ihrem Wesen nach reine Dörfer. Gerade dieser Tatbestand galt den vorrevolutionären Historikern als untrüglicher Beleg für die künstliche Natur der Städte: sie waren bloße
2
) Vgl. die zusammenfassende Darstellung dieser Interpretation bei Miljukov, Oierki; dt. Übersetzung: Milukow, Skizzen, hier Bd. 1 S.51ff, 66f sowie ders. (P. Miljukoff), Entwicklung. Ähnlich schon: Korsak, O formach S. 103ff. S. auch: Brutzkus, Historische Eigentümlichkeiten S. 62-69, bes. S.65. 3 ) Vgl. Miljukov, Skizzen Bd. 1 S. 186; ähnlich: Kizevetter, Posadskaja obäiina. In: Ders., Istoriieskie oierki S.242-268, hier S.243; ders., Russkoe obäiestvo S.39ff. ") Vgl. Kizevetter, Istoriieskie oierki S.243. 5 ) Vgl. Miljukov, Skizzen Bd. 1 S. 188.
4
Einleitung
Produkte der Zentralgewalt, keine wirklichen, gewachsenen Urbanen Mittelpunkte im sozioökonomischen Sinn. Als Bestätigung dieser These wertete man nicht zuletzt die späte Herausbildung und besondere Gestalt der Stadtgemeinde. Es gab zunächst wenig, was die Einwohner der Städte von den Bauern trennte. So wie beide im großen und ganzen der gleichen wirtschaftlichen Beschäftigung nachgingen, so teilten sie auch eine wesentlich gleiche rechtliche, daß hieß vor allem: steuerliche, Lage. Stadt- und Landbewohner wurden in fiskalischen Solidarhaftungsgemeinden zusammengefaßt, denen analoge, auch in der Stadt bezeichnenderweise auf den Bodenanteil (tjaglo) erhobene Abgaben auferlegt waren. Erst allmählich bildeten sich steuerliche und rechtliche Unterschiede heraus. Das wohl entscheidende Motiv dabei war die Sorge des Staates um seine Einkünfte. Sie führte in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts zur Bindung der vormals freizügigen Stadtbewohner an ihre Fiskalgemeinschaften und im Zusammenhang damit zu ihrer rechtlich-korporativen Ausgrenzung. Für das Monopol auf den seßhaften Detailhandel, das ihnen zugleich formell eingeräumt wurde, mußten sie freilich in Gestalt zahlreicher Dienste an den Staat und hoher finanzieller Lasten teuer zahlen. Die russische Stadtgemeinde entstand somit nicht wie - laut liberaler Deutung - die westeuropäische aus eigener Kraft, „geschweige denn im Gegensatz zur zentralen Macht": sie war vielmehr auch in dieser Hinsicht ein Kunstprodukt der Autokratie. 6 Es ist bekannt, daß die vorrevolutionären Historiker gerade diesen Mangel an „gesellschaftlicher" Autonomie in besonderem Maße hervorgehoben haben. Man dachte in Begriffen, die namentlich aus der deutschen zeitgenössischen Sozialtheorie entlehnt waren, und bemühte sich, auch im Zarenreich wenigstens allererste Keime eines Auseinandertretens von „Staat" und „Gesellschaft" aufzuspüren. Die Suche blieb für die frühe Zeit ganz und gar vergebens. Das Zarenregime erschien als Despotismus, der nicht einmal Ansätze zu gesellschaftlicher Eigenständigkeit zuließ. „Im Kern besehen", bemerkte der bekannte Rechtshistoriker 1.1. Ditjatin mit Blick auf das siebzehnte und beginnende achtzehnte Jahrhundert, „ist die Geschichte unserer Stadt nichts anderes als die Geschichte von Reglementierungen /und/ Umbildungen der handel- und gewerbetreibenden städtischen Bevölkerung von Seiten der obersten Gewalt". 7 Auch in der späteren Periode fand man wenig, was den eigenen Normen und Ansprüchen genügte. Die Gnadenurkunde Katharinas II. (1785), die den Städten eine begrenzte Selbstverwaltung gewährte, brachte, wie Miljukov urteilte, nur eine „tote Form" hervor. 8 Auch wenn ein anderer Sachkenner mit dieser Maßnahme weniger hart ins Gericht 6
) Vgl. Miljukov, Skizzen Bd. 1 S. 189. ) Vgl. Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 1 S. 109; vgl. auch: ders., Stat'i S. lff, 33ff. 8 ) Vgl. Miljukov, Skizzen Bd. 1 S. 195. 7
Einleitung
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ging und vom Beginn einer „ n e u e n Ä r a " in der Geschichte der Stadtgesellschaft sprach, 9 dürfte gemeinsame A n e r k e n n u n g gefunden haben, was Ditjatin als Fazit zu bedenken gab: „ A b e r die Tatsache der Regierungsinitiative . . . bleibt ein F a k t u m , gegen dessen Richtigkeit wohl kaum Einwände zu erheben sind: die Existenz dieses Faktums läßt sich auch in unseren Tagen / d . h . um 1875, M. H./ nicht leugnen. Darin liegt ein tiefer Charakterzug der historischen Entwicklung unseres gesellschaftlich-staatlichen Lebens im Unterschied zum westeuropäischen." 1 0 Die liberale Geschichtsschreibung hat vor allem zur Struktur und Verwaltung der Stadt im achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Material bereitgestellt, das bis heute unentbehrlich geblieben ist. A u c h ihre D e u t u n g der städtischen Entwicklung im Kontext einer übermächtigen Zentralgewalt, eines abhängigen, weitgehend recht- und machtlosen Untertanenverbandes und einer traditionalen, fast ausschließlich agrarischen, durch ein hohes M a ß an Subsistenz und eine Konzentration des Gewerbes auf dem Land in Gestalt des bäuerlichen „ H a u s f l e i ß e s " geprägten Wirtschaft hat zumindest in der nichtmarxistischen Forschung weitgehend A n e r k e n n u n g gefunden. 1 1 Namentlich der Kerngedanke dieses Vermächtnisses zieht sich durch fast alle Darstellungen nicht nur der Stadtgeschichte im Zarenreich: das Konzept der Rückständigkeit und Eigentümlichkeit. D a b e i sollte indes die Zeitgebundenheit des kategorialen R a h m e n s und des methodischen Ansatzes nicht übersehen werden. Hinzuweisen ist zum einen darauf, daß sich die beiden wichtigsten Untersuchungen im wesentlichen von einem Interesse an der rechtlichen und steuerlichen Lage, den Institutionen und der „Selbstverwaltung" der Stadtbewohner leiten ließen. 1 2 Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse wurden zwar - schon weil sie aufs engste mit den rechtlich-fiskalischen Regelungen verbunden waren - nicht ausgeklammert, aber doch eher am R a n d e behandelt. Auch im methodischen Verfahren schlug sich nieder, daß die Aufmerksamkeit gemäß dem vorherrschenden Anliegen im liberalen Bildungsbürgertum der Jahrhundertwende vor allem der Frage nach den historischen Wurzeln der gesamtstaatlichen konstitutionellen Einrichtungen galt. 1 3 Nicht fraglos hinzunehmen ist ferner die Rigidität der Antithese zwischen der russischen und der westeuropäischen Stadtent-
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) Vgl. Kizevetter, Russkoe obSiestvo S.47. ) Vgl. Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 1 S. 507. Der liberalen Interpretation folgt weitgehend: Kulischer, Russische Wirtschaftsgeschichte S.278ff, bes. S. 283ff; ebenso zu dieser Zeit noch: Paiitnov, Oöerk razvitija buriuazii. ") Am deutlichsten bei Pipes, Rußland S. 197ff. Zu einer anderen Wertung gelangen dagegen neuerdings: Hittle, Service City und Bushkovitch, Merchants, (s. dazu u. S.O). 12 ) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obäiina; Ditjatin, Ustrojstvo. 13 ) Vgl. Kizevetter, Na rubeie S.268; Klokman, Soc.-ekon. istorija S. 11. 10
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wicklung. Die zweifellos vorhandenen erheblichen Unterschiede erscheinen wohl nur in starker idealtypischer Abstraktion als vollständige Gegensätze und nicht etwa, wie man sie auch deuten könnte, bloß als Ausdruck von Phasenverschiebungen im historischen Prozeß. Überdies orientierte man sich dabei an der in dieser Form nicht haltbaren, zur Verklärung des Bürgertums neigenden Auffassung der zeitgenössischen deutschen liberalen Geschichtswissenschaft vom ausschließlich revolutionären Ursprung der okzidentalen Stadtgemeinde. 14 An den gemeinsamen Ursprung im westeuropäischen Denken des neunzehnten Jahrhunderts erinnert der paradox anmutende Tatbestand, daß die sowjetmarxistische Geschichtsschreibung zur russischen Stadt mit der liberalen ein grundlegendes Merkmal teilt: Auch sie erhebt die okzidentale Entwicklung zum Maßstab. Freilich tut sie das unter anderen Vorzeichen. Weil ihr ein legitimatorisches Interesse gebietet, die Gültigkeit der Marxschen Theorie für Rußland zu belegen, muß sie auf der prinzipiellen Identität des historischen Prozesses im westlichen und östlichen Europa bestehen. Die Stadt wird dabei im wesentlichen als Träger der Geld- und Warenwirtschaft betrachtet und zu den Faktoren gerechnet, die entscheidend zum Niedergang der Feudalordnung beitrugen. Die maßgeblichen, noch den älteren dogmatischen Interpretationsschemata spätstalinistischer Prägung verpflichteten Monographien formulieren diese Vorgabe mit aller Deutlichkeit. Es geht ihnen um den Nachweis „des allmählichen Übergangs der feudalen russischen Stadt in eine kapitalistische" 15 und der „Einheit der grundlegenden Gesetzlichkeiten der Stadtentwicklung in Rußland und im Westen." Hier wie dort, so meinte man, sei die Stadt als „Resultat der antifeudalen Tendenzen im sozialökonomischen Leben und der Befreiungsbewegungen . . . der Volksmassen" zu werten. 16 Methodisch führte ein solcher Anspruch zur vorrangigen
14 ) Vgl. die klassische Formulierung des Idealtypus der okzidentalen Stadt bei Weber, Wirtschaft und Gesellschaft S.741ff; kritisch dazu insbes. Bosl, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 1 S.226ff, hier S.244; auch: Franz Steinbach, Collectanea S.726; vorsichtiger: Sprandel, Verfassung S. 114; Ennen, Europäische Stadt S. 106. 15 ) So die maßgebliche Darstellung für das achtzehnte Jahrhundert: Klokman, Soc.-ekon. istorija S.5; ähnlich die Einleitung zu: Ders., Oöerki S.3ff; aus den Vorstudien vgl.: Ders., Gorod; ders.; Russkij gorod; ders., Istoriografija; ders., Torgovo-promyälennaj a dej atel'nost'. 16 ) Vgl. die grundlegende Untersuchung für die erste Hälfte des neuzehnten Jahrhunderts von: Ryndzjunskij, Gorodskoe graidanstvo S. 12, 554ff; eine knappere Zusammenfassung dieser Studie findet sich in: Oöerki ekonomiöeskoj istorii S. 276-358. Ryndzjunskij hat ferner, auch für einen früheren Zeitraum, einschlägige Kapitel zweier maßgeblicher Gesamtdarstellungen verfaßt: vgl. Oöerki istorii SSSR. Period feodalizma. Rossija vo vtoroj öetverti XVIII v. S. 178-200; IM Bd. 2 S. 305-331; Bd. 3 S.292-320; unter seinen zahlreichen Aufsätzen sind von besonderem Interesse: Ders.,
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Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Städte sowie des Verhältnisses zwischen Stadt und Land. Inhaltlich beschritt man vor allem drei Wege, um ihn einzulösen. Zum einen bemühte man sich, die Anhäufung von „Kaufmannskapital" durch die Ausnutzung erheblicher regionaler und saisonaler Preisdifferenzen sowie dessen zwar langsame, aber doch sichtbar fortschreitende Umwandlung in Industriekapital während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu belegen. Dieser Versuch stieß allerdings auf zum Teil heftige Kritik. Zu sehr erinnerte er an die als häretisch gebrandmarkte These des einstigen Zuchtmeisters der frühen sowjetischen Geschichtswissenschaft M. N. Pokrovskij, Rußland habe sich im Vergleich zu Westeuropa durch eine besondere Bedeutung des Handelskapitals ausgezeichnet. Überdies vermißte man Aussagen über die Beziehungen der Kaufmannschaft zur bäuerlichen Hausindustrie und wies auf zahlreiche weitere konzeptionelle Mängel hin. 17 Von einem anderen, nicht dem ideologischen Oktroi unterworfenen Standpunkt wäre indes eher einzuwenden, daß es dem Nachweis der Akkumulation kaufmännischer Vermögen an Überzeugungskraft fehlt. Zeitgenössische Kommentare haben mit gutem Grund immer wieder über die Kapitalarmut in Handel und Industrie geklagt und eben darin eine der wesentlichen Ursachen für die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft gesehen. 1 8 Erst der Zufluß auslän-
Osnovnye faktory; ders., Soslovno-podatnaja reforma; ders., Novye goroda; ders., Gil'dejskaja reforma. - Aus der übrigen sowjetischen Literatur zur Sozialgeschichte der russischen Stadt im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert verdienen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung neben den Titeln, die in den nachstehenden Anmerkungen genannt werden, nur wenige Darstellungen Interesse. Namentlich die zahlreichen Überblicke über die Entwicklung einzelner Städte begnügen sich in der Regel mit sehr kursorischen Bemerkungen. Hingewiesen sei deshalb nur auf folgende Werke: OIL Bd. 1; Andreev u.a., Jaroslavl'; Ekzempljarskij, Istorija Bd. 1; Gorlovskij, Gornyj gorod Ekaterinburg; Istorija Kieva Bd. 1; Iofa, Goroda Urala Bd. 1; Grickevii, Castnovladel'teskie goroda Belorussi; ¿ukov, Goroda Bessarabii 1812-1861 gg.; ders., Formirovanie; Serbina, Oierki; Goroda feodal'noj Rossii (dazu: Baron, Town in „Feudal Russia", jetzt in: Ders., Muscovite Russia Kap. 1, sep. Pag.); Rabinovii, Oierki etnografii; Staryj Peterburg; Golikova, Oierki sowie vor allem die neueren Sammelbände: Russkij gorod Bd. 1-4 und die noch ungedruckte Dissertation von Aksenov, Moskovskoe kupeiestvo. - Zur älteren Forschung s. Sirina, Izuienie. 17 ) Vgl. Jakovcevskij, Kupeteskij kapital sowie die Rezension dazu von Ryndzjunskij in: VI 1954 Nr. 1 S. 157-162 und die anschließende Diskussion, ebenda S. 162-165; auch: Vartanov, Kupeiestvo i torgujuäiee krest'janstvo; ders., Kupeiestvo gorodov Moskovskoj gubernii; Poljanskij, Pervonaial'noe nakoplenie S.22ff. - Pokrovskij, Izbrannye proizvedenija B d . l S.518ff u. pass. Zum Anathema über Pokrovskij: Shteppa, Russians Historians S.91ff, bes. S. lOOf; Enteen, Soviet Scholar-Bureaucrat S. 165ff. 18 ) Vgl. etwa Tegoborski, Etudes Bd. 2 S. 198f.
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discher Gelder in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts linderte dieses Übel. 19 Zum anderen richteten die sowjetischen Historiker ihre Anstrengungen darauf, eine soziale Differenzierung der städtischen Bevölkerung nach kapitalistischem Muster aufzuzeigen. Bereits für das ausgehende siebzehnte und insbesondere für das achtzehnte Jahrhundert glaubte man, die Existenz einer „Bourgeoisie", die Herausbildung „kapitalistischer Klassen" und Anzeichen von „Klassenkämpfen" konstatieren zu können. 20 Auch dabei dehnte man freilich den Interpretationsspielraum der historischen Befunde über Gebühr. Sicher gab es in den russischen Städten eine schmale Schicht reicher Kaufleute und eine sehr breite Schicht überaus armer kleiner Krämer, Straßenhändler, Tagelöhner und vor allem „Ackerbürger". Zweifellos erlebten Industrie, Handel und Gewerbe unter Katharina II. einen sichtbaren Aufschwung, der auch den Manufakturbesitzern und Kaufleuten in einigen Städten namentlich Zentralrußlands zugute kam und ihre Zahl anwachsen ließ. Nur belegen solche Hinweise lediglich die Existenz einer einfachen Vermögensschichtung, wie sie wohl in allen Gesellschaften anzutreffen ist, die sich durch einen gewissen Entwicklungsgrad der Warenwirtschaft auszeichnen. Über die unterstellten frühkapitalistischen Sozialbeziehungen im modernen Sinne besagen sie wenig. Ein nennenswertes städtisches industrielles Bürgertum und eine frühindustrielle Arbeiterschaft gewannen erst sehr allmählich während des zweiten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts Kontur. Eine dritte Argumentation schließlich besteht darin, anhand der wenigen verfügbaren statistischen Daten ein vergleichsweise hohes Entwicklungsniveau des Handels und namentlich des Handwerks zu belegen. 21 Auch diese Bemühungen sind zumal für das achtzehnte Jahrhundert mit Skepsis zu betrachten. Selbst wenn man von durchaus begründeten Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Angaben absieht, deuten sie - wie zu zeigen sein wird eher auf eine geringe Verbreitung kommerziell-handwerklicher Tätigkeit unter den Stadtbewohnern hin. Überdies bleiben qualitative Gesichtspunkte weitgehend ausgeblendet. In keinem Falle reichen sie aus, um die behauptete grundsätzliche Übereinstimmung und ungefähre Synchronie der städtischen
") Vgl. dazu u.a.: McKay, Pioneers; Mai, Deutsches Kapital; Girault, Emprunts Russes. 20 ) Vgl. u.a.: Volkov, Formirovanie, bes. S. 205f; Ljaäienko, Istorija Bd. 1 S. 295ff; Jakovcevskij, in: Oierki istorii SSSR. Period feodalizma. Rossija vo vtoroj polovine XVIII v. S. 136; ders., Kupeieskij kapital S.46f; Bemadskij Ocerki; ders., Klassovaja bor'ba. Etwas vorsichtiger formuliert die ältere, noch im Diskussionszusammenhang der vorrevolutionären marxistischen Theorie stehende, freilich wenig professionelle Monographie von Berlin, Russkaja buriuazija S. 48f. 21 ) Vgl. vor allem: Klokman, Soc.-ekon. istorija; ders., Oöerki sowie Poljanskij, Gorodskoe remeslo.
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sozialökonomischen Entwicklung in Rußland und Westeuropa, soweit derartige Verallgemeinerungen überhaupt zulässig sind, plausibel zu machen. Der häufig und unscharf verwendete Begriff des Kapitalismus erweckt wohl nicht unabsichtlich falsche Vorstellungen. Bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein meint er, was die Städte des Zarenreiches anbetrifft, aufs Ganze gesehen lediglich die handwerkliche, nicht einmal die manufakturielle Produktion einfachster Erzeugnisse für einen sehr begrenzten Markt. Solche Diskrepanzen zwischen dem vorgegebenen Erklärungsmodell und den historischen Tatbeständen sind der Detailforschung nicht verborgen geblieben. Sie haben zu manchen Einschränkungen, aber auch zu bedenkenswerten Differenzierungen gezwungen, die mit dem eigentlichen Beweisziel nur schwer in Einklang zu bringen waren oder dieses doch erheblich modifizierten. So kam eine Untersuchung der russischen Stadt des achtzehnten Jahrhunderts an der offensichtlichen Erkenntnis nicht vorbei, daß das Zarenreich unter diesem Aspekt „hinter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern England und Holland" zurückstand. Mit Amsterdam und London, den Zentren des damaligen Seehandels, ließ sich Moskau in der Tat nicht vergleichen. Andererseits merkte der Verfasser zu Recht an, daß diese Städte und Länder auch innerhalb Westeuropas ein untypisches Niveau markierten. Als Maßstab, der falschen Schlüsse vermeiden helfe und den russischen Verhältnissen mehr Gerechtigkeit widerfahren lasse, schlug er Frankreich oder die nordöstlichen Gebiete Deutschlands vor, wo in einer ebenfalls noch weitgehend agrarischen Umgebung zahlreiche Ackerbürgerstädte anzutreffen waren. Er konzedierte, daß das Zarenreich insgesamt wirtschaftlich mit den meisten Ländern Westeuropas nicht Schritt halten konnte. Zugleich hielt er aber unter Berufung darauf, daß es hier wie dort „verschiedene Stadttypen" gegeben habe, an der grundsätzlichen Identität der Stadtentwicklung in beiden Regionen fest. 22 Zweifellos birgt diese Argumentation einen richtigen Kern. Es ist sicherlich an der Zeit, die Vielgestaltigkeit der westeuropäischen Städtelandschaft zu berücksichtigen und Abstufungen im Gefälle zwischen West und Ost deutlicher hervorzuheben. Der bloße Hinweis auf den agrarischen Charakter vieler Kleinstädte in Frankreich und Preußen erfüllt diese Aufgabe freilich nicht. Ebensowenig rettet er die postulierte Einheitlichkeit des Scheidungsprozesses zwischen Stadt und Land. Da er auf die unbedeutenden Marktflekken in Westeuropa als Vergleichsbasis zurückgreifen mußte, gesteht er im Gegenteil ein, in welch geringem Maße dieser in Rußland stattfand. Kaum mehr vermag der Versuch zu überzeugen, auch die Unterschiede in der rechtlichen Lage, dem gesellschaftlich-korporativen Leben und der politischen Verfassung zwischen den Bürgergemeinden in Rußland und Westeuropa 22
) Vgl. Klokman, Soc.-ekon. istorija S. 314f.
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einzuebnen. Daß in den verbliebenen Reichsstädten ein großenteils erbliches Ratspatriziat über die Masse der Bürger herrschte und der absolutistische Staat die Freiheiten und die Selbstverwaltung der übrigen Städte beschnitt, wie man zum Beleg anführte, 23 ist sicher zutreffend. Nur wird hier natürlich Unvergleichbares gleichgesetzt: die bloße Existenz einer oligarchischen Machtausübung 24 bzw. die durchaus begrenzte 25 Unterwerfung historisch gewachsener, mit vielerlei Rechten und Zuständigkeiten ausgestatteter und von Eigenleben erfüllter sozialer und politischer Gebilde unter die landesherrliche Souveränität mit dem Fehlen jeglicher partikularen Herrschaft, korporativen Autonomie, regionalen Sonderrechte und gesellschaftlichen Eigenständigkeit. Die äußerliche Gemeinsamkeit weitgehend unbeschränkter Herrschaft in einem höchst unqualifizierten Sinne macht aus der Autokratie keinen westeuropäischen Absolutismus. Mit einer ähnlichen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sah sich der Verfasser einer Untersuchung über die russische Stadt in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts konfrontiert. Auch er vermochte nicht, sie in überzeugender Weise zu überbrücken. Auf der einen Seite erhob er gegen die liberale Geschichtsschreibung den Vorwurf „mangelnder Objektivität". Sie habe sich von der vorgefaßten Meinung der künstlichen Entstehung der russischen Städte leiten lassen und durch „willkürlich ausgewählte Beispiele und Fakten" deren Rückständigkeit stark überzeichnet. 26 Auf der anderen Seite wies er selbst auf zahlreiche, vor allem in der Leibeigenschaftsordnung, den rechtlich-steuerlichen Beschränkungen und dem allseitigen Vorrang des Adels begründete Hemmnisse hin und gelangte, aufs Ganze gesehen, zu einem negativen Urteil über die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Stadt: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lebte um die Jahrhundertmitte immer noch auf dem Lande; in den Städten fanden sich nur „wenige", zumeist überaus einfache und schlecht ausgerüstete Fabriken und Manufakturen; fast überall dominierten die „kleine Warenproduktion" sowie ein Handel, der die landwirtschaftlichen und gewerblich-industriellen Erzeugnisse des Dorfes vertrieb. Bei diesen Voraussetzungen fehlte den „meisten Städten die Möglichkeit zu einer intensiven Entwicklung". 27 Probleme dieser Art haben zu wiederholten Versuchen geführt, über Korrekturen im Einzelfall hinaus im Rahmen der vorgegebenen Geschichts23
) Vgl. Klokman, ebenda S.321. ) Vgl. u.a. Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. In: Ders., Neue Wege S. 294-321, auch in: Stoob, Altständisches Bürgertum Bd. 2, S. 361-399; Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 1 S. 547ff. 25 ) Vgl. u.a. von Raumer, Absoluter Staat; Heinrich, Staatsaufsicht. 26 ) Vgl. Ryndzjunskij, Gorodskoe graidanstvo S.9f. 27 ) Vgl. ebenda S. 556f. 24
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auffassung zu einer angemessenen Gesamtdeutung der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland zu gelangen. Der Stadt und ihren Bewohnern kam dabei aus den genannten Gründen nur eine untergeordnete Rolle zu. Gleichwohl waren sie stets Gegenstand der Erörterungen. Auf die wichtigsten einschlägigen Diskussionen der jüngeren Zeit, 28 die bezeichnenderweise großenteils um Fragen der Periodisierung kreisten, sei kurz verwiesen. Es ist bekannt, daß der junge Lenin in einer polemischen Schrift gegen die „volkstümlerischen" Ökonomen die Herausbildung „eines einzigen gesamtrussischen Marktes" und „bürgerlicher Beziehungen" ungefähr auf das siebzehnte Jahrhundert datierte. 29 Die sowjetische Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit an diese eher beiläufige Äußerung gebunden gefühlt und viel Energie darauf verwandt, sie in den Quellen abzusichern. Was zutage gefördert wurde, war freilich so wenig überzeugend, daß immer wieder Zweifel an der Möglichkeit laut wurden, die „Genesis des Kapitalismus" und die „ursprüngliche Akkumulation" auf einen so frühen Zeitraum anzusetzen. Für alle wichtigen Prozesse fehlte es an ausreichender Evidenz. Von einer Krise des Feudalismus konnte angesichts der Entstehung der Leibeigenschaft in diesem Jahrhundert im Ernst nicht die Rede sein. Ein dem Bauernlegen analoger Vorgang, eine Trennung von Produzent und Produktionsmittel, die Marx zufolge das Wesen der ursprünglichen Akkumulation ausmachte, 30 war ebensowenig zu entdecken wie die Entstehung einer Lohnarbeiterschaft und einer kapitalistischen Unternehmerschicht. Was man fand, waren einige zumeist von Ausländern gegründete und geleitete Manufakturen sowie eine vom Staat abhängige, äußerst schmale Kaufmannselite, die Salzsiedereien, Bergwerke und vor allem im Auftrage der Krone einen umfangreichen Handel mit sibirischen Pelzen und anderen Rohstoffen betrieb. 31 Schon im ersten eingehenden Meinungswechsel zu diesem Thema in den fünfziger Jahren wurden solche Bedenken geltend gemacht. Als Achillesferse erwiesen sich namentlich die wirtschaftliche Rückständigkeit und die Sozial- und
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) Zu den vorangegangenen Diskussionen über den Feudalismus, das „Handelskapital" und die Natur des Absolutismus in Rußland, auf die einzugehen in diesem Zusammenhang zu weit führen würde, sei verwiesen auf: Shteppa, Russian Historians S. 47ff, 9Iff, 242ff; Goehrke, Zum gegenwärtigen Stand; Torke, Entwicklung S.494f; Enteen, Soviet Scholar-Bureaucrat S. 30ff, 165ff. w ) Vgl. Lenin, Werke Bd. 1 S. 146f. x ) Vgl. Marx, Engels, Werke Bd. 23 S. 790. 31 ) Vgl. aus der westlichen Literatur: Fuhrmann, Origins; Kaufmann-Rochard, Origines; Bushkovitch, Merchants; Amburger, Familie Marseiis; Fisher, Russian Fur Trade sowie die immer noch nützlichen Darstellungen von Kulischer, Russische Wirtschaftsgeschichte und ders.: Kuliäer, OCerk, der den Beginn der kapitalistischen Entwicklung in Rußland freilich auf einen sehr frühen Zeitraum datiert. Zur späteren sowjetischen Literatur s. die folgenden Anmerkungen.
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Herrschaftsverhältnisse im Agrarbereich. Fast alle Diskussionsteilnehmer räumten ein, daß darin eine Eigentümlichkeit des Zarenreichs und auch anderer Länder Kontinentaleuropas im Vergleich zum originären Vorgang in England zu sehen sei. In Rußland habe die ursprüngliche Akkumulation, wie man formulierte, nur zu einer „partiellen Expropriation der Bauernschaft" geführt und einen sehr zögernden Verlauf genommen. 32 Beträchtliche Unterschiede wurden freilich in der Beurteilung der Frage erkennbar, welche Bedeutung dieser Besonderheit zuzumessen sei und ob sie zu einer völlig anderen Periodisierung des kapitalistischen Entwicklungsprozesses zwinge. Die Vertreter der konservativ-dogmatischen Position hielten eine solche Konsequenz für unbegründet. Sie meinten trotz allem „nicht nur quantitative", sondern „auch qualitative" „große Veränderungen" und die Herausbildung einer „neuen", kapitalistischen „Ordnung" im siebzehnten Jahrhundert ausmachen zu können. 33 Skeptischere Beobachter dagegen verlegten den Wandel bereits zum größeren Teil ins achtzehnte Jahrhundert. Die vorangehende Epoche werteten sie lediglich als einen ersten Anfang und vermieden auf diese Weise, dem Leninschen Diktum ausdrücklich zu widersprechen. 34 Welch breiten interpretatorischen Spielraum die Quellen offenbar gewährten und welche Mühe es kostete, sie mit dem vorgegebenen Konzept zu versöhnen, ist an der Tatsache abzulesen, daß einer Meinungsäußerung zufolge selbst die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) „den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation noch nicht zum Abschluß brachte". 35 Zwischen der frühesten Datierung seines Beginns und der spätesten Datierung seines Endes erstreckte sich somit ein Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren. Unter einer anderen Bezeichnung und thematisch noch erweitert wurde diese Diskussion in den sechziger Jahren fortgesetzt. Dank einer gewissen Lockerung der ideologischen Kontrolle konnte man die Probleme nun auch offener ansprechen und konkrete Folgerungen explizit formulieren: Es ging
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) Vgl. Nauino-teoretiieskaja konferencija S.420 (Beitrag von B.B. Kafengauz). ) Vgl. den repräsentativen Sammelband zum diesbezüglichen Forschungsstand der fünfziger Jahre: K voprosu o pervonaöal'nom nakoplenii, hier Einleitung S. 3; ferner sind aus der umfangreichen Literatur dieser Position u.a. zuzuordnen: Poljanskij, Pervonaöal'noe nakoplenie; Oöerki istorii SSSR. Period feodalizma. XVII v.; Bachruäin, Nauönye trudy Bd. 1; Ljubomirov, Oöerki; LjaSienko, Istorija Bd. 1; Pankratova, Formirovanie; Strumilin, Istorija Bd. 1; Vvedenskij, Dom Stroganovych; Ustjugov, Solevarnaja promyälennost'; Zaozerskaja, Razvitie; dies., U istokov; Volkov, Oöerki sowie zahlreiche Beiträge zu den in Anm. 37 erwähnten Kontroversen. 34 ) Vgl. die ausgewogeneren Darstellungen von Pavlenko, O nekotorych storonach und Jacunskij, Osnovnye etapy genezisa kapitalizma v Rossi. In: Ders., Social'noekonomiöeskaja istorija S. 71-115 (zuerst erschienen 1958). 35 ) Vgl. Nauöno-teoretiöeskaja konferencija S.423 (Beitrag von V.N. Jakovcevskij). Für eine noch spätere Datierung plädierte Ende der sechziger Jahre: Milov, O nekotorych voprosach. Kritische Replik: Volkov, Ob osobennostjach. 33
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um eine Revision der überkommenen Betrachtungsweise des „Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus", um einen Paradigmenwechsel, der über eine Neugliederung des zeitlichen Ablaufs hinaus auch die Korrektur von Grundannahmen über die sozioökonomische Struktur des Zarenreiches einschloß und ein neues Deutungskonzept anbot. Einigkeit konnte in dieser Auseinandersetzung freilich ebenfalls nicht erzielt werden. Im großen und ganzen standen einander die alten, zum Teil auch von denselben Personen vertretenen Auffassungen gegenüber. Eine konservative Gruppe verfocht nach wie vor die These, „daß das siebzehnte Jahrhundert die Anfangsgrenze der Etablierung der kapitalistischen Formation in Rußland bildete." Sie glaubte, „klare Tendenzen in der Entwicklung von Prozessen der Auflösung der alten Feudalgesellschaft und der Entfaltung neuer bürgerlicher Verhältnisse" erkennen zu können. Als besonders „eindeutiges" Merkmal werteten sie dabei, was euphemistisch bereits „frühkapitalistische Formen der Großindustrie" genannt wurde. Das Zarenreich, behauptete man, sei im siebzehnten Jahrhundert in das „Manufakturstadium" eingetreten; die „Ausbeutung fremder Arbeit" habe zu einer Verschärfung der Klassenkämpfe geführt; insgesamt lasse sich „selbst auf dem Dorfe" eine Ausweitung der „Marktbeziehungen" beobachten - alles Indizien, die ihnen ausreichend erschienen, um den Beginn einer neuen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Epoche konstatieren zu können. 3 6 Größere Aufmerksamkeit verdient der Versuch einer Neuinterpretation, den mehrere anerkannte Historiker in Form eines Kollektivreferats vorlegten und der den eigentlichen Anstoß zur Kontroverse gab. Die Autoren gingen von der Überzeugung aus, daß der vorangegangenen Forschung einige Verzerrungen unterlaufen seien. Es habe sich auf der Grundlage einer „unzulänglichen" Zitierung Lenins, dem die Zählebigkeit des „Feudalismus" stets bewußt geblieben sei, „eine übertriebene Vorstellung vom Entwicklungsgrad des Kapitalismus im Rußland des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts verfestigt." 3 7 Sie räumten ein, daß insbesondere die Schlußpha36 ) Vgl. die zusammenfassende Darstellung der orthodoxen Auffassung bei: Bulygin, Indova, Preobraienskij, Tichonov, Troickij, Naial'nyj etap S.89f. sowie die Beiträge dieser und anderer Teilnehmer (z.B. M.V. Neikina, S.M. Troickij, S.M. Dubrovskij, A.M. Sacharov, L.V. Cerepnin) in dem grundlegenden Berichtsband über die Diskussion: Perechod ot feodalizma k kapitalizmu v Rossii (dazu: Baron, The Transition from Feudalism to Capitalism in Russia. In: Ders., Muscovite Russia Kap. IX). 37 ) I.F. Gindin, L.V. Danilova, I.D. Koval'ienko, L.V. Milov, A.P. Novosel'cev, N.I. Pavlenko, M.K. Ro2kova, P.G. Ryndzjunskij in: Perechod S. 5-103, hier S. 8; vgl. auch die frühere Darlegung dieser Position durch Pavlenko, Spornye voprosy (Antwort auf den zitierten Beitrag von Bulygin, Indova, Preobraienskij u.a.). Die Autoren folgten in vieler Hinsicht Gedankengängen, die namentlich Jacunskij schon einige Jahre zuvor vorgetragen hatte. Vgl. u.a.: Ders., Osnovnye etapy genezisa kapitalizma v Rossii
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se dieses Zeitraums als „bemerkenswerte Grenzlinie" bei der Herausbildung der „kleinen Warenproduktion" zu betrachten sei. Desgleichen erkannten sie an, daß Manufakturen und Betriebe vom Typus der „einfachen Kooperation" 38 entstanden. Doch erschienen ihnen solche Keime, zumal in einem so riesigen Land wie dem russischen Reich, noch zu vereinzelt und zu schwach, um die Behauptung eines „Übergangs zum Manufakturstadium" rechtfertigen zu können. Dies um so eher, als sie weder eine „Bourgeoisie" noch proletarische Klassenkämpfe aufzuspüren vermochten. Die Kaufmannschaft war nach ihrer Meinung eine unbedeutende Größe und blieb außerdem ganz in die feudale Wirtschafts- und die autokratische Herrschaftsordnung eingebunden. Von einer Arbeiterschaft konnte erst recht nicht die Rede sein. „Die fortschreitende Entwicklung der feudalen Produktionsweise", nicht aber die Formierung des Kapitalismus machte deshalb, wie die Referenten folgerten, den „wesentlichen Inhalt des historischen Prozesses" jener Jahrhunderte aus. Ihrer eigenen Deutung lag die Überzeugung zugrunde, daß die Übergangsperiode nicht vor den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts einsetzte. Als wichtigste Triebkräfte identifizierten sie einen beträchtlichen Aufschwung sowohl der Manufaktur- als auch der dörflichen Hausindustrie. Dieser Wandel habe im Unterschied zu vorangegangenen Veränderungen eine „Auflösung der alten Formation" eingeleitet und dadurch einen „irreversiblen" Charakter angenommen. Symptome einer solchen Krise des Feudalsystems erkannten die Autoren teils in einer verstärkten „Ausbeutung" der bäuerlichen Arbeitskraft durch die Erhöhung der Fronleistungen, (1958); Promyälennyj perevorot v Rossii. (K probleme vzaimodejstvija proizvoditel'nych sil i proizvodstvennych otnoäenij) (1952); Genezis kapitalizma v sel'skom chozjajstve Rossii (1961); alle in: Ders., Social'no-ekonomiöeskaja istorija S. 71-115, 116-145 , 268-297. - Zum Gesamtproblem vgl. auch die vorausgegangenen bzw. parallelen Diskussionen über das Stadium der „kleinen Warenproduktion" (melkotovarnyj uklad) im Rußland der Vor- und Nachreformzeit (in der ISSSR 1961-1963 mit Beiträgen von P.G. Ryndzjunskij, V.K. Jacunskij, N.L. Rubinätejn, I.D. Koval'ienko, A.M. Anfimov und Ju.Ju. Kachk), über die „soziale Differenzierung der Bauernschaft in der Epoche des Spätfeudalismus (mit Beiträgen von E.I. Indova, A . A . Preobraienskij, Ju.A. Tichonov, N.V. Ustjugov, M.Ja. Volkov, S.M. Troickij, I.A. Bulygin, L.V. Milov, V.K. Jacunskij und I.D. Koval'ienko; vgl. dazu zusammenfassend: ISSSR 1966 Nr. 1 S. 70-81) und über die „Intensivierung der bäuerlichen Ausbeutung" (ISSSR 1966-1967) mit Beiträgen von L.V. Milov, I.D. Koval'öenko und P.G. Ryndzjunskij) sowie die Berichtsbände über thematisch verwandte Konferenzen: Teoretiieskie istoriografiieskie problemy genezisa kapitalizma; Problemy genezisa kapitalizma; Hoffmann, Lemke, Genesis. 38 ) Vgl. dazu Pavlenko, Zum Problem sowie ders., Historiographische Bemerkungen zur Genesis des Kapitalismus in Rußland. (Kleine Warenproduktion - einfache kapitalistische Kooperation). In: Hoffmann, Lemke, Genesis S. 1-25. 39 ) Vgl. Perechod S. 35.
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teils in der Umwandlung des naturalen Zinses in einen monetären, die den nichtlandwirtschaftlichen Broterwerb der Bauern in Gestalt der Wander- und der Heimarbeit erst ermöglichte und wesentlich förderte. Auf diesem Wege seien die gutsherrliche und die bäuerliche Wirtschaft gleichermaßen „in die Warenproduktion" einbezogen worden. 4 0 Klarer lagen dabei die Indizien des Wandels sicherlich bei der Tätigkeit der Bauern zutage. Sie erweiterten ihre seit altersher ausgeübten Nebenbeschäftigungen zu einer bedeutenden Industrie. Am schnellsten entwickelte sich die Baumwollweberei und -druckerei, die im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts auch als Leitsektor der Ausbreitung der „Fabrikproduktion" fungierte. Die Verfechter der neuen Konzeption legten freilich Wert auf die Feststellung, daß die Verwendung einiger importierter Baumwollspinnmaschinen und einiger mechanischer Webstühle keineswegs als „industrielle Revolution" (promyslennyj perevorot) zu werten sei. 41 Auch in dieser umstrittenen Frage distanzierten sie sich von einer frühen Datierung. Statt dessen hielten sie es für erwiesen, daß sich der Dampfantrieb und die maschinelle Fertigung erst erheblich später, in den achtziger Jahren, durchsetzten. 42 Vor der Reform von 1861 vermochte man bestenfalls allererste Anfänge eines solchen entscheidenden Umbruchs zu entdecken. Ähnliche Vorbehalte waren bezüglich der sozialen Begleitprozesse des Übergangs zum „Kapitalismus" angebracht. Was die Arbeiterschaft betraf, so konnte man zwar einige zukunftsweisende Veränderungen registrieren. Die Zahl der kraft Regierungsdekret oder gutsherrlicher Gewalt zu industrieller Arbeit genötigten „ B a u e r n " schrumpfte im Zuge der tiefgreifenden Krise der Possessions- und Erbgutsmanufakturen im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu einer unbedeutenden Größe. Vor allem aber nahm parallel dazu die sogenannte „freie" 4 3 , d. h. nicht auf Zwangsverpflichtung beruhende bäuerliche, zumeist saisonal ausgeübte Arbeit in Manufakturen, Fabriken, handwerklichen Kleinbetrieben, im Bauwesen, im Handel und namentlich im Vgl. ebenda S. 43ff, bes. S. 48 (Zitat), 64f. ) Vgl. ebenda S. 68ff, hier S. 74. 42 ) Vgl. zu dieser Diskussion: S.G. Strumilin, Promyälennyj perevorot v Rossii (1830-1860gg.). In: Ders., Oöerki S . 4 4 5 - 4 5 6 ; Zlotnikov, Ot manufaktury k fabrike; Ljaäienko, Istorija Bd. 2 S . 3 2 f . Dagegen votieren schon früh: Jacunskij, Promyälennyj perevorot v Rossii. In: Ders., Social'no-ekonomiieskaja istorija S. 116-145; Paiitnov, K voprosu. Ihre Korrektur ist weitgehend akzeptiert worden: vgl. Ryndzjunskij, Krest'janskaja promyälennost' S.36ff; ders., Voprosy istorii russkoj promyälennosti (zusammenfassend); ders., Utveridenie kapitalizma S . 2 1 f f . Kritisch dazu, an der älteren Auffassung festhaltend, freilich immer noch: Virginskij, Zacharov, Podgotovka; Druzinin, K voprosu (Replik von Ryndzjunskij: ebenda 1975 Nr. 1 S. 3 0 - 3 6 und Antwort von Druzinin: ebenda 1976 Nr. 2 S. 19-33) sowie neuerdings auch: Nifontov, Fabricnozavodskaja promyälennost'. 43 ) Der Begriff ist irreführend, weil sich die entstehende Arbeiterschaft zu einem großen Teil aus Leibeigenen rekrutierte. 41
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breiten Bereich der einfachen Dienstleistungen ein nie dagewesenes Ausmaß an. Dennoch kam dieser Vorgang über bescheidene Ansätze vorerst nicht hinaus. Die fortbestehende Leibeigenschaft, so folgerten die Autoren, „verzögerte" die Freisetzung von Arbeitskräften, deren eine „normale Entwicklung des Kapitalismus" dringend bedurft hätte. 44 Sie hemmte in gleicher Weise auch die Entstehung eines starken industriellen Bürgertums. Die überaus verschiedenartigen „sozialen Figuren, vom kleinen Dorfkrämer und wohlhabenden Kustarnik bis zum Fabrikanten" und adeligen Unternehmer, die man unter diesem Begriff zusammenfaßte, verbanden sich nicht zu einer einheitlichen Klasse. Sie bewahrten den Charakter ihrer jeweiligen ständischen Herkunft und artikulierten ihre je besonderen Interessen. Sie blieben ökonomisch wie sozial ein Konglomerat, dem deshalb auch jegliche Voraussetzungen fehlten, „bürgerliche" politisch-gesellschaftliche Forderungen nach westeuropäischem Muster vorzubringen oder gar gegen die Autokratie durchzusetzen. Weil die Ausbreitung des Kapitalismus bis in die siebziger Jahre und darüber hinaus auf enge Grenzen stieß, fehlte es der „Bourgeoisie" an oppositionellem Geist. Ihre Rolle übernahm der „liberale Adel". 45 Keiner Erläuterung bedarf, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft im Rahmen einer solchen Gesamtkonzeption kaum mehr als Resultat des Heranreifens kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schöße der alten feudalen Gesellschaft, geschweige denn als Produkt bürgerlicher Bestrebungen gedeutet werden konnte. Schon zuvor hatte man angesichts der offenbaren Schwäche der „Bourgeoisie" nach ergänzenden, wenn nicht ersetzenden Ursachen gesucht. Man fand sie in bäuerlichen Unruhen, denen man die Qualität eines inneren Krieges beimaß, sowie in einer begleitenden oppositionellen Bewegung in Kreisen des Adels und der Intelligenz, die auch auf die oberen Ränge der staatlichen Bürokratie übergegriffen habe. Die Kritiker der überkommenen Auffassung lehnten dieses Gesamtkonzept der „revolutionären Situation" 46 , wie der verbindliche Sprachgebrauch lautet, nicht rundweg ab. Aber sie machten doch auf gravierende Mängel aufmerksam, wenn sie anmerkten, daß die Verbindung der einzelnen Erklärungsmomente „schwer" nachzuvollziehen sei.47 Ihre eigene Interpretation wies, weil die angeführten Gründe für eine überzeugende Argumentation offenbar nicht ausreichten, dem Reformwillen des Staates eine größere Bedeutung zu, ohne dabei freilich
Vgl. Perechod S.77, 89; Jacunskij, Osnovnye étapy. In: Ders., Social'noékonomièeskaja istorija S. 96ff. Grundlegende Daten dazu: Raäin, Formirovanie sowie ders., K voprosu. 45 ) Vgl. Perechod S. 88f. Ähnlich auch: Koäman, Russkaja doreformennaja buriuazija. Vgl. die Sammelbände: Revoljucionnaja situacija Bd. 1-9. Kritisch dazu: Adler, The „Revolutionary Situation 1859-1861". 47 ) Vgl. Perechod S. 82.
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die grundlegende vorbereitende Funktion der industriellen Entwicklung, der angeblichen Krise des Feudalsystems, 48 der behaupteten verschärften Ausbeutung der Bauern und der agrarischen Unruhen zu leugnen. Insgesamt ist somit unverkennbar, daß die revidierte Interpretation der sozialökonomischen Geschichte Rußlands seit dem siebzehnten Jahrhundert darauf abzielte, die hemmenden Faktoren stärker zu betonen, die dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel in Richtung auf eine industriekapitalistische Gesellschaft nach westeuropäischem Muster entgegenwirkten. Man führte sie im großen und ganzen auf einen Ursachenkomplex zurück: die Fortdauer der Leibeigenschaft und die damit verbundene Zählebigkeit der traditionalen, wenig produktiven, weitgehend subsistenzorientierten bäuerlichen Wirtschaftsweise. Sie sorgten dafür, daß sich der Kapitalismus in Rußland gemäß einem oft zitierten Diktum Lenins nicht „in die Tiefe", sondern „in die Breite", nicht intensiv, sondern extensiv, entfaltete. 49 Neben der neuen kapitalistischen Produktionsweise blieben feudale Verhältnisse im Agrarbereich bestehen. Diese Einsicht verlangte auch theoretische Konsequenzen. Die Kritiker der alten Auffassung lösten sich von dem schematischen Stadienmodell einer Abfolge jeweils bis zur Reife entwickelter sozialökonomischer Formationen. An seine Stelle trat die Prämisse, daß auch eine Verschränkung und vergleichsweise dauerhafte Gleichzeitigkeit verschiedener Formationen möglich sei. Diese „strukturelle Heterogenität" (mnogoukladnost') entdeckte man nicht nur im Rußland der Vorreformzeit, 50 sondern wie in anderen Diskussionen vorgetragen wurde - auch und gerade in der nachfolgenden Epoche des „etablierten" Kapitalismus bis hinein in die Phase des Imperialismus, mit hin bis an die Schwelle der Revolution von 1917.51 Es ist offensichtlich, daß ein solches, der Wirklichkeit angemesseneres Modell manche Gedanken enthielt, die der liberalen Deutung bei allen bleibenden Differenzen nicht mehr so fern standen. In ihm hatte der Begriff der Rückständigkeit ebenso Platz wie die Vorstellung, daß das Zarenreich wirtschaftliche Errungenschaften, etwa „fertige Formen der Manufakturproduktion", 52 von Westeuropa übernehmen konnte. Auch die Rolle des Staates wurde nun stärker betont. All dies summierte sich zu einer Konzeption, die den Rahmen eines orthodoxen Marxismus zu überschreiten drohte und letztlich auch geeignet war, die Legitimation einer sozialistischen Revolution in Zweifel zu ziehen. Das Theorem der „strukturellen Vielschichtigkeit" verfiel dem ideologischen Bann und wurde aus dem wissenschaftlichen 48
) Vgl. dazu zusammenfassend: Beyrau, Agrarstruktur; HGR Bd. 3 S. 14ff. ) Vgl. Perechod S. 89; Lenin, Werke Bd. 3 S. 615. Vgl. Perechod S. 41 u.ö. 51 ) Vgl. u.a.: Voprosy istorii kaptialistiieskoj Rossii. Dazu: Bonwetsch, Oktoberrevolution. 52 ) Vgl. Perechod S. 42. 49
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Sprachgebrauch getilgt. In der Sache freilich hat sich die „häretische" Gesamtdeutung zumindest für den Zeitraum der vorliegenden Arbeit weitgehend behaupten können. In unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Meinungsstreit 53 stand eine andere, einige Jahre später ausgetragene Diskussion, die sich mit dem Wesen des Absolutismus in Rußland auseinandersetzte. Paradoxerweise kam der Frage nach dem Entwicklungsgrad des Bürgertums (im städtischen wie im sozialen Sinne) dabei ein größeres Gewicht zu als in der Debatte über die Entstehung des Kapitalismus. Auch diese Kontroverse nahm ihren Ausgang von offenkundigen Unvereinbarkeiten zwischen den historischen Tatsachen und einer vorgegebenen sachfremden Interpretation. In Zweifel gezogen wurde die orthodoxe Auffassung, im Zarenreich habe sich seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ein absolutistisches Regime herausgebildet, das seine Existenz und Macht ebenso wie in Westeuropa gemäß der bekannten Äußerung von Engels 54 einem vorübergehenden Klassengleichgewicht zwischen Adel und Bürgertum verdankte. Bei aller Anstrengung fand ein solches Konzept in den Quellen keine ausreichende Stütze. Die herkömmliche Lehrmeinung verstrickte sich in ein Dilemma, das durch einschränkende und vage Formulierungen nur mühsam verhüllt wurde. Im Zarenreich, so räumte beispielsweise die führende Gesamtdarstellung der russischen Geschichte noch mit Bezug auf die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ein, als sich der Absolutismus laut anerkannter Lehrmeinung schon längst gefestigt hatte, „war noch kein Gleichgewichtszustand eingetreten, aber die entstehende Bourgeoisie machte bereits ihre Forderungen geltend /und/ trat in einen Gegensatz zur herrschenden Klasse". Die Kaufmannschaft sei zwar „noch nicht stark genug" gewesen, „um ihre Herrschaft anzustreben", aber auch „nicht so schwach, als daß sie die Regierung nicht gezwungen hätte, mir ihr zu rechnen". 55 Deutlicher noch kam die Aporie bei dem Bemühen zum Ausdruck, die Anwendbarkeit des zugrundeliegenden Modells auf die russischen Verhältnisse explizit zu begründen. Einerseits postulierte man die Gültigkeit der Engelsschen Bemerkungen für Rußland. Andererseits fügte man hinzu, daß ein derartiges Gleichgewicht nicht „wörtlich" als „mathematische Gleichheit" zu verstehen sei und es im Zarenreich „kein Gleichgewicht zwischen Adel und Bourgeoisie im Sinne einer Gleichheit der Macht, gleicher Bedeutung ihres spezifischen Gewichts" gegeben habe. Man konzedierte, daß 53
) Vgl. die Bemerkungen in: ebenda S. 151ff. ) Vgl. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: Marx, Engels, Werke Bd. 21 S. 167. 55 ) Vgl. dieses und andere Zitate in dem zentralen Beitrag von: Avrech, Russkij absoljutizm, hier S. 86. Zur historiographischen Einordnung und zum Ertrag der Kontroverse im einzelnen: Scharf, Strategien; Torke, Neuere Sowjethistoriographie; ders., Entwicklung; s. auch: Ders., Staatsbedingte Gesellschaft S.269ff. 54
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„der Adel die herrschende Klasse" war, meinte aber im Nachsatz die Ausgangsthese durch die Behauptung retten zu können, daß dennoch „in der Endbilanz der Regierungspolitik die Forderungen der bürgerlichen Elemente berücksichtigt" worden seien. 56 Den Kritikern der überkommenen Lehrmeinung fiel es nicht schwer, den Ursprung solcher Widersprüchlichkeiten aufzudecken. In Übereinstimmung mit der Reinterpretation des kapitalistischen Entwicklungsprozesses im Zarenreich plädierten sie dafür, die zögernde Herausbildung und die geringe soziale wie politische Bedeutung des Bürgertums anzuerkennen. Außer Zweifel stand ihrer Meinung nach, daß sich die „russische Bourgeoisie" zumindest bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 57 oder gar „bis dicht ans zwanzigste Jahrhundert heran untertäniger" verhielt „als der Adel". 5 8 Auch die Verfechter der orthodoxen Auffassung konnten sich der Einsicht in diesen evidenten Sachverhalt nicht entziehen. „Kaum jemand", so stellte jedenfalls der Urheber des Disputs nach vierjährigem Meinungswechsel fest, leugne noch, daß die Übertragbarkeit des Engelsschen Konzepts nicht „aus den Fakten, nicht aus dem konkreten Material" belegt worden sei, sondern nur mit „Zitaten". Das „Gleichgewicht", formulierte er programmatisch im Titel seines abschließenden Beitrags, müsse als „verloren" betrachtet werden. 5 9 Verloren war damit auch die enge inhaltliche und zeitliche Verknüpfung von Absolutismus und Bürgertum. Zwischen der unstreitigen Existenz der absolutistischen Herrschaft unter Peter dem Großen und den ersten Anzeichen einer nennenswerten politischen Artikulation bürgerlicher Kreise erstreckte sich eine Phase von mindestens 150 Jahren. Folgerichtig konnte diese Regierungsform nur als eine besondere Ausprägung der „Feudalmonarchie" begriffen werden, der bestenfalls, wie der zitierte Autor in einer wenig glücklichen, trotz aller Vorbehalte noch sehr eng dem kritisierten Denkmodell verhafteten Neudefinition formulierte, „die Fähigkeit eigen" war, „sich aufgrund ihrer inneren Natur in eine bürgerliche Monarchie zu . . . verwandeln". 6 0 Besonderes Interesse gebührt weiteren theoretisch-methodischen Konsequenzen, die sich bei der Frage ergaben, wie angesichts der nicht nachweisbaren Verbindung zwischen Kapitalismus und Absolutismus die Entstehung des letzteren überhaupt zu erklären sei. Das Problem lief auf den vorsichtigen
56 )Vgl.: Dokumenty sovetsko-ital'janskoj konferencii S. 13, 16, 48, 161 (L.V. Cerepnin; dazu die aufschlußreiche Rezension von Gerschenkron, Soviet Marxism, hier S.855. 57 ) Vgl. Avrech, Russkij absoljutizm S. 87. 58 ) So Avrech resümierend in der abschließenden Diskussion. Vgl. den Bericht von: Rachmatullin, K diskussii S.78 sowie ähnliche Äußerungen von L.V. Milov S.84f und P.V. Volobuev S. 85ff. 5 ') Vgl. Avrech in: ebenda S.78 sowie ders., Utraiennoe ,ravnovesie'. Vgl. Avrech, Russkij absoljutizm S. 89.
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Versuch hinaus, das Verhältnis zwischen dem Staat und den sozioökonomischen Gegebenheiten, zwischen Überbau und Basis, neu zu bestimmen. Ausgehend von der unzweifelhaften Beobachtung, daß ein absolutistisches Regime vor dem Kapitalismus Gestalt angenommen hatte, wagte man sich an den Gedanken heran, daß der Staat der wirtschaftlichen Entwicklung „voraus" war und diese entscheidend förderte und prägte. Der Absolutismus wurde zu „einer der mächtigsten Vorbedingungen" des Kapitalismus. Überhaupt entdeckte man ,,Fälle eines solchen Überholens in der Geschichte nicht selten". 61 Die Kritiker scheuten deshalb auch nicht davor zurück, die theoretischen Folgerungen dieser Beobachtung explizit zu benennen und plädierten dafür, die Beziehungen zwischen Basis und Überbau als wechselund nicht mehr, wie bis dahin, als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu begreifen. 62 Hinzu kam eine weitere neue und unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Interpretation relevante Überlegung. Wenn der Staat dem sozioökonomischen Prozeß „voraneilte", dann war zu klären, welchen Impulsen und eventuell welchen Vorbildern er dabei folgte. Die konsequentesten Neuerer identifizierten die treibende Kraft richtig als den „Zwang, in der Nachbarschaft der fortgeschrittenen Länder Europas zu überleben". 63 Sie stellten die Herausbildung der als absolutistisch bezeichneten Herrschaftsform in den internationalen Zusammenhang und leiteten die bestimmende Funktion des Staates, die man als Eigenart Rußlands verstand, aus dem Gefälle zu Westeuropa ab. Das Zarenreich erschien als ein rückständiges Land, das sich anstrengte, diesen Makel nicht nur durch den Import wirtschaftlicher Techniken, sondern auch durch die partielle Übernahme der Herrschafts- und Verwaltungsorganisation sowie rechtlich-sozialer Institute (etwa der Zünfte und der ständischen Gliederung) zu beseitigen. Keiner Erläuterung bedarf, daß solche Gedankengänge die Grenzen des traditionellen sowjetmarxistischen Geschichtsverständnisses vielleicht noch sichtbarer überschritten als die Korrekturen, die in der Übergangsdebatte vorgeschlagen wurden. Zugleich führten sie ebenfalls zu einer gewissen Annäherung an wesentliche Grundannahmen der liberalen Auffassung mit ihrer starken Betonung der Rolle des Staates. Man darf festhalten, daß das Bemühen um eine kohärente und quellennahe Interpretation der sozioökonomischen und staatlichen Entwicklung des Zarenreiches offenbar zu einer solchen tendenziellen „Konvergenz" zwang.
61 ) Vgl. Dokumenty sovetsko-ital'janskoj konferencii S. 222 (A.Ja. Avrech) u. S. 194 (A.N. Cistozvonov). 62 ) Vgl. ebenda S.224f (I.F. Gindin); Gerschenkron, Soviet Marxism S.858ff. 63 ) Vgl. Dokumenty sovetsko-ital'janskoj konferencii S.222 (Avrech); auch: Volobuev, in: Rachmatullin, K diskussii S. 86.
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D i e westliche Forschung hat sich mit der n e u e r e n G e s c h i c h t e der russischen Stadt und des B ü r g e r t u m s lange Zeit k a u m befaßt und erst vor kurzem versucht, sie als G e s a m t e r s c h e i n u n g unter sozialen, rechtlichen, administrativpolitischen und wirtschaftlichen G e s i c h t s p u n k t e n zu b e s c h r e i b e n . 6 4 B e z e i c h n e n d e r w e i s e stammt der nach w i e vor differenzierteste V e r s u c h einer überg r e i f e n d e n K e n n z e i c h n u n g und E i n o r d n u n g der russischen Stadt v o n e i n e m Nichtspezialisten,
der
aus e i n e m
universaltypologischen
Interesse
heraus
R u ß l a n d als V e r g l e i c h zur westlichen Entwicklung heranzog. D a b e i griff er nicht nur n o t w e n d i g e r w e i s e auf die sachlichen I n f o r m a t i o n e n der vorrevolutionären Geschichtswissenschaft im Zarenreich zurück; er k o n n t e auch an ihre Fragestellungen a n k n ü p f e n , die mit der seinen aufs engste verwandt waren. Brunners k n a p p e B e m e r k u n g e n dürfen in gewisser W e i s e als theoretische Zusammenfassung
und
zugleich
als einzige
Fortführung d e s
„liberalen"
D e u t u n g s m o d e l l s gelten. D i e idealtypische, historische Strukturen und A b l ä u fe in heuristischer A b s i c h t b e w u ß t v e r e i n f a c h e n d e V e r f a h r e n s w e i s e fordert dabei sicherlich m a n c h e E i n w ä n d e im D e t a i l heraus, 6 5 die bisher freilich k a u m explizit geäußert w o r d e n sind. A u f der anderen Seite steht aber außer Frage, daß ein auf größere Z e i t r ä u m e und R e g i o n e n b e z o g e n e r Vergleich nicht o h n e erhebliche Generalisierungen a u s k o m m e n kann. K o s t e n und N u t z e n m ü s s e n
M
) Vgl. neben der knappen sozialgeschichtlichen Gesamtübersicht bei Pipes, Rußland S. 197-226: Knabe, Struktur; Hittle, Service City; Owen, Capitalism; Rieber, Merchants (mit Schwergewicht im wesentlichen ebenfalls auf der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts); Hamm, City (darin besonders: J.M. Hittle, The Service City in the Eighteenth Century S. 53-68; G. Rozman, Comparative Approaches to Urbanization: Russia, 1750-1800, S. 69-85 und W. Hanchett, Tsarist Statutory Regulation of Municipal Government in the Nineteenth Century S. 91-114); Bater, St. Petersburg sowie die primär stadtgeographische Untersuchung von: Rozman, Urban Networks. Aus der größeren Zahl von Aufsätzen und einschlägigen Kapiteln in thematisch verwandten Studien sei nur verwiesen auf: Schalhorn, Lokalverwaltung, hier S. 43ff, 80ff, 201ff; Blackwell, Beginnings S. 96-119; Haumann, Russische Stadt; Daniel, Merchants' View; ders., Merchantry; Griffiths, Eighteenth-Century Perceptions; Hittle, Catherinean Reforms; Hartley, Town Government; Guroff, Carstensen, Entrepreneurship (darin insbesondere: W. Blackwell, The Russian Entrepreneur in the Tsarist Period: An Overview S. 13-26; S.H. Baron, Entrepreneurs and Entrepreneurship in Sixteenth/Seventeenth-Century Russia S. 27-58; T.C. Owen, Entrepreneurship and the Structure of Enterprise in Russia, 1800-1880 S. 59-83); Jones, Jakob Sievers; ders., Urban Planning; Munro, Empress; Amburger, Statthalterschaftsverfassung; Sacke, Adel und Bürgertum; ders., Adel und Bürgertum in der Regierungszeit Katharinas; Herlihy, Odessa; Puryear, Odessa; Lincoln, Russian State; ders., N . A . Miliutin; Owen, Moscow Merchants; Rieber, Moscow. - Zum siebzehnten Jahrhundert vgl. u.a.: Hellie, Stratification; Eaton, Decline; Kaufmann-Rochard, Origines; Leitsch, Stadtbevölkerung; Bushkovitch, Merchants; ders., Taxation und ders., Towns. 65 ) Vgl. etwa entsprechende Bemerkungen bei: Hellmann, Zur Geschichte des Städtewesens S. 18; Haumann, Russische Stadt S.484 A n m .
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dabei unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielsetzung gegeneinander abgewogen werden. Brunner unterscheidet zwischen einem älteren universell verbreiteten, dem antiken und dem jüngeren, europäischen Stadttypus. 66 Die russische Stadt vor der „Europäisierung" - die genau besehen erst mit der industriellen Entwicklung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts allmählich einsetzte rechnet er im wesentlichen dem erstgenannten Typus zu. Es sind vor allem folgende Merkmale, die eine solche Kennzeichnung nahelegen. (1) Schon äußerlich bewahrten selbst große Städte wie Moskau „frühgeschichtliche Züge". Noch bis an die Schwelle des industriellen Zeitalters überwog die anfangs auch in Mitteleuropa vorherrschende Holzbauweise, in der nicht nur ein Indiz mangelnden Reichtums, sondern auch ein Anzeichen vergleichsweise geringer Seßhaftigkeit gesehen werden kann. Generell war die Zahl der Stadtbewohner gering; ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag erheblich unter dem mitteleuropäischen Niveau. 67 (2) In Rußland blieb der ältere, Wander- und Karawanenhandel treibende und nichtseßhafte Kaufmannstyp noch lange erhalten. Seine Geschäfte beschränkten sich im Regelfall auf die Ausfuhr einiger weniger signifikanter Güter wie Pelze, Honig und Wachs, d. h. einfacher Produkte des Waldes und der Erträge der Jagd, zu denen einige Rohstoffe wie Metall, Eisen und Salz traten. Er tauschte sie gegen gewerbliche Erzeugnisse aus höher entwickelten Regionen, die gewöhnlich für den Luxusbedarf der herrschenden Schicht bestimmt waren. Dieser Warenverkehr griff nicht tief in die Agrarwirtschaft ein und berührte auch das städtische Gewerbe kaum. Die Wirtschaftsstruktur zeichnete sich durch eine „eigentümliche Zweischichtigkeit" in Gestalt einer weitgehenden Trennung zwischen der Agrargesellschaft mit ihren lokalen Märkten und dem Fernhandel aus. Aufgrund dieser Eigenart stand der „Abenteurerkaufmann" in enger Verbindung zu den politischen Mächten und konnte sich der daraus erwachsenden Abhängigkeit kaum entziehen. In Mitteleuropa wurde er zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert durch einen jüngeren Kaufmannstyp abgelöst, der neue Rechts- und Unternehmensformen entwickelte, die Schriftlichkeit zum Instrument seiner Geschäftsführung erhob, bald zur doppelten Buchhaltung als unentbehrlicher Voraussetzung einer „rationalen" Rentabilitäts- und Kapitalrechnung überging und trotz vielfach enger Beziehungen zu den herrschenden Mächten im Rahmen der
Vgl. S.225-241; S. 213-224, 67 ) Vgl.
O. Brunner, Europäisches und russisches Bürgertum. In: Ders., Neue Wege ders., Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte. In: ebenda hier S.214f. ebd. S. 226.
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Stadtgemeinde und ihrer Korporationen eine bezeichnende „Selbständigkeit" bewahrte. 68 Es wäre gewiß verfehlt, den russischen Handel, was Brunner wohl zu wenig betont, über die Jahrhunderte hin mit dem einfachen Warenverkehr der beschriebenen Art gleichzusetzen. Zweifellos erreichte er spätestens im Moskauer Reich eine entschieden höhere Entwicklungsstufe, die auch eine engere Verzahnung mit der Landwirtschaft, dem bäuerlichen Nebenerwerb und dem städtischen Handwerk mit sich brachte. Dennoch wirft diese Gegenüberstellung Licht auf einige fortbestehende charakteristische Merkmale. Der russische Kaufmann blieb, wie zu zeigen sein wird, bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein großenteils ein nichtseßhafter Händler, der seine Geschäfte auf äußerst einfache, weitgehend nichtschriftliche Weise abwickelte. Es bildete sich nur eine sehr lose Verknüpfung von städtischem Gewerbe und Fernhandel heraus, und die Kaufmannschaft konnte sich lange Jahrhunderte aus der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Abhängigkeit vom Staat und seinen Verwaltungsinstitutionen nicht befreien. (3) Eine wesentliche Ursache dafür ist in der vergleichsweise geringen Bedeutung des städtischen Handwerks zu sehen. Zumindest im Moskauer Reich konzentrierte sich die gewerbliche Produktion ganz überwiegend auf den Dörfern. Der russische Handwerker war typischerweise ein Leibeigener, der aber nicht nur für den Eigenbedarf seines Grundherrn, sondern darüber hinaus auch für die lokalen Märkte arbeitete. Diese Konkurrenz setzte der Entfaltung des städtischen Gewerbes sehr enge Grenzen. Die Zahl der städtischen Handwerker war gering, in aller Regel führten sie ein überaus ärmliches Dasein. Es gab keine Zünfte und und keine Zunftbürger, es fehlte eine breitere, materiell annähernd konsolidierte gewerbetreibende Mittelschicht, die den Kern der Stadtbewohner in Westeuropa bildete. 69 (4) Zu den grundlegenden Kennzeichen der westeuropäischen Stadt gehörte neben der wirtschaftlichen vor allem die rechtliche Trennung zwischen Stadt und Land. Die Stadt war ein „Sonderfriedensbezirk", verfügte über ein eigenes Rechtsgebiet, eine eigene Rechtsordnung und eigene Gerichts- und Verwaltungsinstanzen. Auch wenn das „Maß der Selbstregierung" sehr verschieden war und sich der absolutistische Verwaltungsstaat später der alten stadtherrlichen Rechte zur Eingliederung der Städte in sein Herrschaftssystem bediente, trat doch überall dem Stadtherrn ein „genossenschaftlicher Verband, die Bürgergemeinde" gegenüber. In Rußland hat es diese rechtliche Scheidung von Stadt und Land vor dem siebzehnten Jahrhundert nicht gegeben. Auch später trug sie einen anderen Charakter, da die zunächst aus steuerlichen Erwägungen gegründete, danach durch die formale 6S 69
) Vgl. ebd. S. 220ff, 228ff. ) Vgl. ebd. S. 232ff.
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Übertragung der ständischen Sozialordnung nach westeuropäischem Vorbild neu konstituierte Stadtgemeinde nicht zu einer autonomen, der staatlichen Herrschaft gegenüberstehenden Genossenschaft heranwuchs. 70 (5) Die Entstehung der Städte als gewerblich-kommerzieller Zentren und die Herausbildung eigenständiger Bürgerverbände in Westeuropa müssen im Zusammenhang mit „einer seit längerem im Gang befindlichen Neugestaltung" der Agrarlandschaft und der eigentümlichen dezentralisierten Herrschaftsstruktur gesehen werden. Sie waren Teil eines Feudalsystems, das durch eine bestimmte Form der Grundherrschaft und des Dorfes, ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Lehnswesen, eine spezifische Regionalisierung, eine Verdichtung der lokalen Märkte und der Wirtschaftsräume überhaupt sein besonderes Gepräge erhielt und das auf politisch-herrschaftlicher Ebene Raum ließ für partikulare Gewalten und „genossenschaftliche Bildungen". Umgekehrt dürfte der andersartige Charakter der russischen Städte kaum zu lösen sein von dem Hintergrund einer sozialökonomischen, geographischen und politischen Verfassung, die durch die Weite des Raumes, die Bevölkerungsarmut, eine extensive Landwirtschaft, eine extreme Zentralisierung der Herrschaft, andere Rechtsanschauungen und eine andere, „leiturgische" Form des Feudalsystems gekennzeichnet war. 71 Aufgrund all dieser Unterschiede kam Brunner zu dem Ergebnis, daß die russische vorindustrielle Stadt im großen und ganzen jenem Typus zuzurechnen war, den Max Weber als „orientalisch" bezeichnet hat. Er hielt es freilich für angemessener, von einem universalen Typus zu sprechen, dem auch die frühmittelalterliche Stadt Westeuropas angehörte. Dabei versteht es sich von selbst, daß diese Zuordnung nicht als unmittelbare Gleichsetzung zu werten ist. Sie schließt Abweichungen und Veränderungen ein. Treffender wäre die Eigenart der russischen Stadt durch die Formulierung zu kennzeichnen, daß sie ältere sozialökonomische Strukturen bewahrte und den spezifischen Rahmenbedingungen entsprechend fortbildete.11 Eine solche Deutung nimmt in die statische und bei Weber in bezug auf Rußland gelegentlich sachlich sehr schiefe 73 Typologie die Dimension des Wandels auf. Damit eröffnete sie zugleich einen Weg aus der wenig flexiblen Alternative einer idealtypischen Entgegensetzung oder einer - wenn auch durch das Zugeständnis eines gewissen Phasenverzugs abgeschwächten - Identifizierung der russischen und der westeuropäischen Stadtentwicklung. Auch der Begriff der Rückständig-
70
) Vgl. ebd. S. 236f. ) Vgl. ebd. S. 240f. 72 ) Vgl. ebd. S. 234, 239. 73 ) Vgl. etwa Wirtschaft und Gesellschaft S.798. Zur Einordnung Rußlands in die Webersche Typologie insgesamt s. auch den freilich wenig aufschlußreichen Beitrag von Murvar, Max Weber's Typology. 71
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keit erhält eine andere Färbung, insofern er nicht mehr die Übereinstimmung mit früheren Stufen eines zum Maßstab erhobenen Prozesses meint, sondern andere, von früheren Stadien ausgehende Formen einbezieht. In jüngster Zeit ist - zum Teil in sehr apodiktischer Weise - die Notwendigkeit betont worden, die Stadt des Zarenreichs in einem anderen kategorialen Rahmen zu betrachten. Man verstelle sich, so wurde argumentiert, die Einsicht in die Eigenart der russischen Verhältnisse, wenn man Maßstäbe anlege, denen sie nicht gerecht werden konnten. Statt danach zu fragen, „was hätte sein können" oder sollen, müsse sich die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die tatsächlichen Strukturen und Leistungen der Stadtgemeinden richten. Als neues Bezugsfeld wurde ein verwandter Kontext, die vormoderne und die osteuropäische Stadt und Gesellschaft vorgeschlagen. 74 Aufgrund dieses Perspektivenwechsels nimmt es nicht wunder, daß die russischen Zustände in anderem Licht erscheinen. Eine freilich sehr formale und für den Historiker nicht unbedingt ertragreiche Untersuchung des „städtischen Netzwerks" im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert brachte zutage, daß das Zarenreich sogar ein relativ hohes Entwicklungsniveau aufwies. 75 Mit den polnischen, ungarischen oder auch preußischen Großkaufleuten, so wurde behauptet, konnten sich die Moskauer „gosti" des siebzehnten Jahrhunderts hinsichtlich des Umfangs ihrer Geschäfte, der Handelsart, der Kapitalausstattung und sogar des Freiraums ihrer Tätigkeit durchaus messen. 7 6 Und die Stadtgemeinde der vorkatharinäischen Zeit insgesamt beschrieb man als einen Organismus, der nicht allein Objekt staatlicher Tributforderungen und willkürlicher gesetzlicher Regelungen war, sondern zugleich unverzichtbare administrative und fiskalische Aufgaben für den Staat ausübte. Die einseitige Abhängigkeit stellte sich unter diesem funktionalen Gesichtspunkt bis zu einem gewissen Grade als wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein, als „Partnerschaft" dar. Man leugnete dabei keineswegs die unbestreitbare Dominanz des Staates, legte aber den Akzent auf die These, „ d a ß die Bindungen, die den Staat und die Stadtgemeinde miteinander verknüpften, nicht so sehr von der überwältigenden Stärke einer Partei und der hoffnungslosen Schwäche der anderen, sondern der spezifischen Schwäche jeder von beiden herrührte." 7 7
74 ) Vgl. Hittle, Service City S.6ff (Zitat S.9), der sich dabei an der funktionalistischen Analyse der „vorindustriellen Stadt" von Sjoberg, Preindustrial City orientiert. Heftige Kritik an der „liberalen" Deutung übt ebenso: Bushkovitch, Merchants S. IV u.ö. 75 ) Vgl. Rozman, Urban Networks S. 8; ders., Comparative Approaches. In: Hamm, City. 76 ) Vgl. Bushkovitch, Merchants S. 171 u.ö. 77 ) Vgl. Hittle, Service City S.240.
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Aus gutem Grund mag man Unbehagen darüber empfinden, daß die liberale russische Geschichtswissenschaft dazu neigte, die Stadt des Zarenreiches gegenüber der westeuropäischen abzuwerten und die Beschreibung in sehr einseitiger, bewußt „parteilicher" Weise mit normativen Werturteilen zu vermischen. Doch läßt sich daraus - von der allgemeinen Problematik, das Postulat der Objektität einzulösen, ganz abgesehen - kein zureichendes Argument gegen den analytischen Nutzen eines solchen Vergleichs selbst gewinnen. Ob der Perspektivenwechsel einen Erkenntniszuwachs bringt, was ihn allein rechtfertigen würde, ist durchaus zu bezweifeln. Man entledigt sich nur des Begriffs der Rückständigkeit, der in der Tat Gefahr läuft, zum Stereotyp zu erstarren. Aber man beleuchtet keine neuen Aspekte. Daß die Stadtgemeinden steuerliche und administrative Aufgaben für den Staat wahrnahmen, wie der funktionale, am Typus der „vorindustriellen Stadt" ausgerichtete Ansatz betont, ist nie bestritten worden. Daß sie daraus auch eine nennenswerte Macht ableiten konnte, wie suggeriert wird, läßt sich schon nicht mehr plausibel belegen. Hier behauptet die liberale Deutung ihr Recht. Überdies widerspricht das Postulat, Rußland müsse im Kontext vormoderner Gesellschaften betrachtet werden, der überkommenen Interpretation und den erwähnten, damit eng verbundenen Typologien nicht, sondern bestätigt diese geradezu. So läuft der Perspektivenwechsel letztlich auf eine bloße Perspektivenverengung hinaus. Statt dem Vergleich durch die weitgehende Ausklammerung stärker abweichender Zustände die Kraft zu entziehen, käme es vielmehr darauf an, ihn in der angedeuteten Weise zu differenzieren. Die nachfolgende Untersuchung möchte zur besseren Kenntnis der seitens der westlichen Forschung bisher weitgehend vernachlässigten Geschichte von Bürgertum und Stadt im Zarenreich beitragen und dabei Material für eine Prüfung der skizzierten Interpretationen und typologischen Einordnungen bereitstellen. Sie tut dies - auch aus Gründen der Zugänglichkeit und Breite der allerdings immer noch lückenhaften Quellen - für einen Zeitraum, der schon durch energische Versuche der Autokratie gekennzeichnet war, Wirtschaftsleben, Sozialverfassung und Staatsverwaltung nach wechselnden westeuropäischen Vorbildern umzugestalten. Die Stadt gehörte dabei zu den bevorzugten Gegenständen der staatlichen Reform- und Modernisierungsmaßnahmen, zugleich aber auch zu denjenigen, die eine besondere Resistenz gegenüber diesen Bemühungen bewiesen. Dennoch wäre die Vorstellung zu einfach, als hätten die ständischen, wirtschaftlichen und institutionellen Regelungen der Obrigkeit die städtische Wirklichkeit gleichsam nicht berührt. 78 Sie prägten vielmehr das Leben der „bürgerlichen" Untertanen in entscheidender Weise, ebenso wie umgekehrt galt, daß der Staat sich nach
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) Vgl. Pipes, Rußland S.222.
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und nach genötigt sah, seine Ziele an die sozioökonomische Struktur anzupassen, die sich zwar veränderte, aber mit der vorgegebenen rechtlichen Gliederung und ihren Institutionen kaum zur Deckung kam. Angemessener wäre deshalb von einem komplexen Wechselverhältnis zwischen der rechtlichständischen Ordnung und den wirtschaftlichen und sozialen Zuständen zu sprechen, das auf beiden Seiten sowohl dynamische als auch verzögernde Momente enthielt. Jede Untersuchung des Bürgertums und der Stadt in dem hier gewählten Zeitraum wird diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Die nachstehende Arbeit geht dabei von folgenden grundlegenden Annahmen aus. (1) Die treibende und formende Kraft der Stadtentwicklung war in unmittelbarer Weise ohne Zweifel der Staat. Er bemühte sich, die „Beisassen" alter Art in handel- und gewerbetreibende „Bürger" zu verwandeln, indem er ihnen gewisse persönliche und wirtschaftliche Privilegien sowie eine beschränkte Selbstverwaltung gewährte. Die Stützpfeiler dieser unter Katharina II. in formaler Anlehnung an die Sozialverfassung des westeuropäischen Absolutismus geschaffenen ständischen Ordnung, die auch den „Leuten der mittleren Art" einen festen Platz zuwies, blieben trotz erheblicher Modifikationen bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) erhalten. Dazu trug die Tatsache wesentlich bei, daß sie die Hierarchie sozialer und ökonomischer Rechte aufs engste mit der Verwaltungsorganisation und der Steuererhebung verknüpften. Ein Verbund von Staat, Wirtschaft und gesellschaftlicher Gliederung wurde begründet, der eine beträchtliche Festigkeit und Imobilität zugleich bewies. Er bildete gleichsam das Gerüst, das der Stadt als wirtschaftlicher, sozialer und administrativer Einheit Halt und eine typische Struktur gab. (2) Der Staat schuf damit allerdings rechtlich-institutionelle Formen, die der Wirklichkeit fremd waren und ihr vorauseilten. Faktisch ließ das autokratische Herrschaftssystem wenig Spielraum für partikulare Gewalten und korporative Selbst- und Mitbestimmung. Eine entsprechende Tradition, auf die sich die Bürger zur Wahrnehmung ihrer neuen Kompetenzen hätten stützen können, fehlte. Auch die Reform geizte mit Befugnissen, die der bloßen Delegation administrativer Aufgaben den Charakter einer Herrschaftsbeteiligung oder gar einer Beschränkung der obrigkeitlichen Kontrolle hätte verleihen können. Nur sehr zögernd verlor die russische Stadt ihren überkommenen Charakter als einer Lasten- und Dienstgemeinschaft. (3) Bürgertum und Stadt befanden sich in einem ökonomischen Umfeld, das durch eine rückständige, weitgehend marktferne und subsistenzorientierte Landwirtschaft, einen wenig umfangreichen und vorwiegend der Verteilung agrarischer und tierischer Produkte dienenden Handel, eine geringe Entwicklung der Manufakturindustrie und ein vergleichsweise bedeutendes bäuerli-
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ches Hausgewerbe gekennzeichnet war. 79 Der Stadt fiel in dieser Ordnung keine zentrale wirtschaftliche Rolle zu. Dies war um so eher der Fall, als sich auch die „große" Industrie, deren Fundament Peterl. durch den Import ausländischer Techniken und Fachkräfte gelegt hatte, überwiegend auf dem Dorfe befand. Infolge dieser räumlichen Trennung gingen von dem wirtschaftlichen, wesentlich auf der Ausbreitung der bäuerlichen Textilindustrie beruhenden Aufschwung im Zarenreich während des zweiten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts aufs Ganze gesehen nur sehr mittelbare und vergleichsweise geringe Impulse für die Stadtentwicklung aus. (4) Dennoch wäre es verfehlt, die unbestreitbare Zählebigkeit der traditionalen Strukturen in der russischen Stadt der Vorreformzeit zur Stagnation zu überzeichnen. Namentlich in einigen Gouvernements um Moskau war zweifellos ein deutlicher, wenn auch im Vergleich zur späteren Phase der beschleunigten Industrialisierung im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert noch sehr allmählicher Wandel zu beobachten. Seine wichtigsten Triebkräfte bestanden zum einen in der erwähnten Blüte der ländlichen Baumwollindustrie sowie der damit einhergehenden Belebung des Handels und der wirtschaftlichen Tätigkeit allgemein. Zum anderen sind sie in der Zunahme der bäuerlichen Mobilität zu sehen, die sich dem Zusammenwirken mehrerer Ursachen verdankte: namentlich der schlechten, zu nichtagrarischem Nebenerwerb zwingenden Bodenqualität dieser Region, der dadurch geförderten Umwandlung des grundherrlichen Naturalzinses in eine Geldabgabe, verschiedenen Erleichterungen der Freizügigkeit für die große Zahl der Staatsbauern sowie nicht zuletzt dem gewerblich-industriellen Aufschwung selbst. (5) Vor allem die Handels- und Gewerbetätigkeit der Bauern brachte von Anfang an eine tragende Säule der katharinäischen Ordnung ins Wanken, indem sie die wirtschaftliche Trennung zwischen Stadt und Land in der Praxis ignorierte. Die Autokratie sah sich genötigt, die rechtlichen Bestimmungen an diese Gegebenheit anzupassen. Ihre Maßnahmen liefen darauf hinaus, die ständische Verfassung des Bürgertums auf das zurückzuschneiden, was sie im Kern stets vor allem war: eine Steuerverfassung, ohne dabei freilich auf die Prämierung der Steuerleistung durch ständische Privilegien zu verzichten. Erst das säkulare Ereignis der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), die Ände79
) Vgl. Daß die bäuerlichen Kustarhütten und nicht die zentralisierten Manufakturen der russischen Industrie vom ausgehenden achtzehnten bis weit in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein das charakteristische Gepräge gaben, ist von zeitgenössischen Ökonomen mit Nachdruck betont worden; auch die sowjetischen Historiker haben sich dieser Auffassung inzwischen faktisch angeschlossen. Vgl. die maßgeblichen älteren Darstellungen von Korsak, O formach und vor allem von Tugan-Baranovskij, Russkaja fabrika; deutsche Übers.: Tugan-Baranowsky, Geschichte hier S.253ff sowie aus der sowjetischen Literatur vor allem: Ryndzjunskij, Krest'janskaja promyälennost'.
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rung der Gilden- und Gewerbesteuerordnung (1863/65), die Abschaffung der noch auf PeterI. zurückgehenden Kopfsteuer für alle Stadtbürger (1863), die Reform der Selbstverwaltung (1870) und die Einführung neuer Grundsätze für den Militärdienst (1874) beseitigten faktisch die verbliebenen Rudimente eines ständerechtlichen Systems. Sie beraubten den Adel und die Kaufmannschaft ihrer wichtigsten Privilegien und stellten eine weitgehende formale Rechtsgleichheit her, die dem sozialen Wandel im Zuge der forcierten industriellen Entwicklung neue Kanäle öffnete. Obgleich Stände und Korporationen bis zum Ende des Zarenreichs erhalten blieben, büßten sie ihre konstitutive Funktion für die Gliederung der Gesellschaft und die Regulation des wirtschaftlichen Lebens weitgehend ein. Auch für die Geschichte der Stadt und des Bürgertums in Rußland bildete das Reformjahrzehnt somit eine entscheidende Zeitenwende. Es bedarf nach diesen einleitenden Bemerkungen zum Charakter der russischen Stadt und zur wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Zarenreichs insgesamt kaum der Erwähnung, daß jede Darstellung auf erhebliche terminologische Probleme trifft. Kaum einer der aus der westeuropäischen Sozial- und Verfassungsgeschichte geläufigen Schlüsselbegriffe läßt sich ohne essentielle Bedeutungskorrekturen übertragen. Auch soweit sie im Zuge der Umgestaltung nach westlichem Vorbild übernommen wurden, bezeichnen sie in den meisten Fällen nur formal analoge Institutionen und Zustände, aber keine wesentlich verwandten. Diese Diskrepanz verminderte sich erst mit dem Hinüberwachsen Rußlands in eine frühindustrielle Gesellschaft gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Um Fehldeutungen zu vermeiden, seien einige zentrale Begriffe kurz erläutert. Der Terminus „Stand" (sostojanie, später: soslovie) meint im folgenden eine Gruppe von Personen, denen vor allem die gleiche Rechtslage gemeinsam war. 8 0 Andere Definitionsmerkmale, die im Anschluß an Max Weber vielfach als konstitutiv angesehen werden wie „eine positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung" und eine spezifische, durch Abstammung, Erziehung, Tradition und Konvention wesentlich geprägte „Lebensführungsart" 81 traten - vom, höheren Adel abgesehen - hinter diesem Kriterium zurück. Mit Bezug auf den „mittleren Stand" ist unschwer zu belegen, daß sie, soweit sie überhaupt als gemeinsame Kennzeichen gelten können, bloße Derivate der Rechtsstellung waren. Gleiches traf für die ökonomischen, mit der ständischen Zugehörigkeit aufs engste verbundenen Privilegien zu. Historisch gewachsene und traditional legitimierte Stände hat es im Zarenreich bekanntlich nicht gegeben. Der weitgehend bloß rechtliche ) Vgl. diese Definition auch bei: Kljuievskij, Istoria soslovij S. 1. ) V g l . Weber, Wirtschaft und Gesellschaft S. 179f, 534ff; zur Begriffsklärung: Kocka, Stand - Klasse - Organisation, hier S. 138-140. M
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Charakter der namentlich im achtzehnten Jahrhundert in formaler Anlehnung an die westeuropäische Staats- und Sozialverfassung geschaffenen Parallelkörperschaften darf als unmittelbare Folge dieser Eigentümlichkeit gewertet werden. Stände waren in Rußland durch autokratische Rechtsetzung überhaupt erst konstituierte Korporationen. Daraus ergibt sich, daß auch der Begriff des Bürgertums und der Stadtgemeinde rechtlich zu definieren ist. Ihnen gehörte an, wer in sie hineingeboren oder ihnen durch staatliche Behörden zugeschrieben wurde. Für Rußland galt, was laut Weber alle nichtokzidentalen Gesellschaften kennzeichnete: daß das vormoderne städtische Bürgertum sozial nicht abzugrenzen und zu identifizieren war. 82 Erst recht wird man deshalb auch zögern, den Begriff der sozialen Klasse in einem präziseren Sinne zu verwenden. Dabei bleibt es weitgehend gleich, ob man ihn gemäß dem engeren Marx'schen Sprachgebrauch durch den Besitz bzw. Nichtbesitz von Produktionsmitteln definiert oder ihn in Anlehnung an Weber weiter faßt als eine Gruppe von Personen, die aufgrund gleicher Lage zum Güter- oder Arbeitsmarkt gleiche Interessen und typisch gleiche Lebenschancen besitzen. 83 Im Rußland der Vorreformzeit fehlte in jedem Fall das wesentliche Moment der Dominanz der ökonomischen Dimension. Bestimmend blieb die unterschiedliche rechtliche Lage, die nur partiell mit der sozialen in eins fiel. Andererseits läßt sich innerhalb der Stände regional eine zunehmend „marktkonforme" soziale Differenzierung beobachten. Bis zu einem gewissen Grade zeigte diese Verschränkung ständischer und klassenmäßiger Muster den beginnenden sozialen Wandel im Zuge der Frühindustrialisierung an. Schließlich kann auch der Begriff der Gesellschaft nur in einem sehr allgemeinen soziologischen Sinn verwendet werden. Selbst entfernte Konnotationen mit dem der „bürgerlichen Gesellschaft", sei es in der älteren Bedeutung der „societas civilis" oder in der jüngeren Bedeutung als einer „Gesellschaft bürgerlicher Privatleute, die nach den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit als Personen und Eigentümer voneinander getrennt" sind 84 , führen in die Irre. Der zeitgenössische Terminus „obScestvo" bezog sich in einem sehr engen und großenteils institutionellen Sinne nur auf die rechtlichen Korporationen, in denen jeder Untertan seinen festen Platz hatte. Ein Personenverband jenseits der ständischen Zugehörigkeit existierte weder real noch als Kategorie. Er war noch ebenso fremd wie der Begriff und das Phänomen eines Publikums und einer Öffentlichkeit. Ansätze zur Entstehung
82
) Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte S.271. ) Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft S. 177ff; Kocka, Stand - Klasse Organisation S. 139f. Vgl. M. Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche S.719f; auch: ders., Art. Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, bes. S. 682ff. 83
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analoger Erscheinungen lassen sich erst im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere nach dem Krimkrieg, beobachten. Sie kamen in Rußland freilich, wie bekannt, nie voll zur Entfaltung. Bezeichnend dafür ist, daß sich der Begriff „obscestvo" zwar erweiterte und statt der korporativrechtlichen eine soziale Bedeutung gewann, aber stets nur eine schmale Schicht von „Besitz und Bildung", nie eine Gesamtheit von „Bürgern" meinte. Aus der skizzierten Problemlage ergibt sich der Aufbau der nachstehenden Arbeit. Sie beschreibt zunächst die Konstituierung des „mittleren Standes" im Rahmen der Neuordnung des Sozial- und Verwaltungssystems unter Katharina II. im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert. Besonderen Wert legt sie dabei auf die Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen und der Mobilität zwischen dem Bürgertum und den übrigen bedeutenden Ständen, der Bauernschaft und dem Adel. Sie zeichnet sodann die konkreten Auswirkungen dieser Bestimmungen nach, konfrontiert in einem knappen Überblick die rechtlichen Vorgaben mit der tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Verfassung der Städte und stellt die ersten Anpassungen der rechtlichen Verfügungen an die durchaus andersartige Wirklichkeit dar. In einem zweiten ausführlicheren Teil geht sie auf die Bemühungen um eine Reform der katharinäischen Ordnung sowie andere wiederholte Bestrebungen der Autokratie ein, wirksame Maßnahmen zur Förderung der Städte und zur wirtschaftlichen Konsolidierung ihrer Einwohner zu ergreifen. Auch dabei steht das Verhältnis zur Bauernschaft und zum Adel im Vordergrund. Großen Raum widmet sie nach einem kurzen Blick auf die städtische Selbstverwaltung der Absicht, den bürgerlichen Stand als soziale Schicht zu beschreiben. Sie verbindet dies mit einem Überblick über die quantitative Entwicklung der einzelnen Korporationen sowie über die wirtschaftliche Struktur der Städte in verschiedenen Regionen des Reiches. Abschließend unternimmt sie den Versuch, den Kaufmann als sozialen Typus und den Wandel im Kaufmannsstand als Folge vor allem des Zustroms bäuerlicher „Fabrikanten" aus den Dörfern einiger Gouvernements um Moskau zu beschreiben. Es versteht sich, daß ein solches Vorhaben nicht ohne ein erhebliches Maß an Generalisierung auskommt. Überdies zwang die breite Streuung der Quellen immer wieder dazu, Angaben aus verschiedenen Städten zusammenzuziehen. Andererseits erlaubt erst der Versuch einer umfassenderen Übersicht verallgemeinernde Aussagen über typische Strukturen und Entwicklungen. So ist zu hoffen, daß Vor- und Nachteile des im folgenden nach Maßgabe des verfügbaren Materials gewählten Verfahrens einander die Waage halten.
I. D I E B E I S A S S E N G E M E I N D E A M V O R A B E N D D E R R E F O R M E N K A T H A R I N A S II.
Die Bewohner der russischen Städte gehörten, soweit sie diesen formell zugeschrieben waren, 1 im frühen achtzehnten Jahrhundert einer Kategorie des autokratischen Untertanenverbandes an, die im Gesetzbuch des Zaren Aleksej Michajlovic von 1649 erstmals rechtlich begründet worden war und als Beisassengemeinde (posadskaja obscina) bezeichnet wurde. 2 Sie entstand im ') Zu unterscheiden ist im folgenden zwischen den Stadtbewohnern im rechtlichen Sinne und den tatsächlich in den Grenzen der Stadt Ansässigen. Zu letzteren gehörten über die Erstgenannten hinaus insbesondere Dienstleute des Zaren, Kanzleibeamte, Adelige, Militärpersonen, Geistliche und in wachsendem Maße Bauern (im ständischen Sinne). Die Diskrepanz zwischen beiden Gruppen variierte je nach den örtlichen Gegebenheiten und konnte erheblich sein. Engerer Gegenstand dieser Arbeit sind nur die „eigentlichen" Stadtbewohner. 2 ) Vgl. Pamjatniki russkogo prava Bd. 6 Kap. XIX (S. 306-326). Spätere deutsche Übersetzung: Allgemeines russisches Land-Recht. Dazu, die Bestimmungen im einzelnen referierend: Hellie, Stratification; Man'kov, Uloienie S. 137ff. - Zur Terminologie sei angemerkt, daß die Stadtbewohner im rechtlichen Sinne bis zu den Reformen Katharinas im Jahre 1775/85 (vgl. dazu unten S . O f f ) zumeist als „posadskie (ljudi)" und die Stadtgemeinde als „posadskaja obäiina" bezeichnet wurden, wenngleich vor allem in der petrinischen Gesetzgebung häufig auch die dem westeuropäischen „Bürger" und „Bürgertum" entsprechenden Begriffe „ g r a i d a n e " und „graidanstvo" verwendet wurden (vgl. etwa das Reglement für den Obersten Magistrat: PSZ Bd. 6 Nr. 3708 v. 16. Jan. 1721 S. 294-296 u.ö.). Hinzu trat seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in verstärktem Maße der aus dem Westslavischen entlehnte Terminus „meäöane" bzw. „meäöanstvo". Er meinte zunächst ebenfalls die Gesamtheit aller Stadtbewohner im rechtlichen Sinne und wurde namentlich im Stadtprivileg als Synonym für „ g r a i d a n e " gebraucht (vgl. Stadt-Ordnung Art. 80ff). Daneben ist jedoch schon zu dieser Zeit eine Bedeutungsverengung nachweisbar. Die Steuerreform von 1775 reservierte den Begriff für diejenigen Stadtbewohner, welche die Abgaben für die neu begründeten Gilden nicht aufzubringen vermochten (vgl. PSZ Bd. 20 Nr. 14275 v. 17. März 1775 Punkt47). Eine analoge, später gelegentlich - so im Gildenstatut von 1824 (vgl. PSZ Bd. 39 Nr. 30115 v. 14. Nov. Kap. VII, s. dazu unten S.Off) - sogar eine noch weitergehende Abwertung erfuhr die überkommene Bezeichnung „posadskie". Unter den „meäiane ili posadskie" (vgl. SZ, 1857, Art. 458) verstand man fortan nur noch die nicht zur zünftigen Handwerkerschaft zählenden Angehörigen der unteren städtischen Korporation, während sich als Gesamtbegriff für alle Stadtbewohner im rechtlichen Sinn der Terminus „ g r a i d a n e " bzw. „graidanstvo" durchsetzte. Der folgende Text bemüht sich, diese begrifflichen Unterschiede nicht zu verwischen. So wird der ältere Terminus „posadskie" gemäß der zeitgenössischen deutschen Ausgabe der Stadtordnung (vgl. Art. 68, 138ff) mit „Beisassen" und der jüngere „ g r a i d a n e " mit „ B ü r g e r " wiedergegeben. Auf eine Übersetzung von „ m e ä i a n e " und „meäöanstvo"
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1- Teil: Bürgertum und Ständereform im ausgehenden 18. Jh.
wesentlichen aus der Zusammenfassung der außerhalb der Burg (kreml') und des Verwaltungsareals auf steuerpflichtigem Boden siedelnden, an größeren Orten vorwiegend handel- und gewerbetreibenden Bevölkerung. 3 Unmittelbarer Anlaß zu ihrer juristischen Ausgrenzung waren Forderungen, die während der städtischen Unruhen jener Jahre und in zahlreichen früheren Kollektivbittschriften der Kaufmannschaft und der zarischen Dienstleute erhoben wurden. 4 In langfristiger Perspektive betrachtet, lagen ihr Entwicklungen zugrunde, die bis in das ausgehende sechzehnte Jahrhundert und darüber hinaus zurückreichten. Zu verweisen ist zum einen auf die zunehmende Tendenz, die Freizügigkeit der Bauern einzuschränken und sie an ihren Boden und ihre Herren zu ketten, zum anderen auf die mehrfachen Versuche des Staates, der bedrohlichen Schwächung der städtischen Steuerfähigkeit entgegenzuwirken, die durch die häufige Flucht der Beisassen in steuerfreie Bezirke (slobody) und in den Schutz mächtiger Grundbesitzer hervorgerufen wurde. 5 Das Gesetzbuch traf für beide, miteinander verzahnten Probleme Regelungen, die dem Untertanenverband eine veränderte Gestalt gaben. Es schrieb die bäuerliche Leibeigenschaft fest und beseitigte bei gleichzeitiger Ortsbindung der Stadtbewohner die Freibezirke. Dadurch vollzog es eine gewisse rechtliche Scheidung zwischen Stadt und Land und schloß die dauerhaft in der Stadt Ansässigen zu einer eigenen Kategorie zusammen. Die Beisassengemeinde verdankte ihre Entstehung somit vornehmlich der Sorge des Staates um die Steuerfähigkeit der Stadtbewohner. Es war ihr hauptsächlicher Zweck, die Ansprüche der Zentralgewalt, zu denen auch administrative Aufgaben zählten, zu befriedigen. 6 In diesem Sinne bildete sie, auch wenn ihre Funktion eine gewisse Interdependenz begründete, primär ein heteronom bestimmtes Glied der autokratischen Staats- und Steuerverwaltung. Der Staat richtete seine Forderungen nicht an den einzelnen, sondern setzte sie - seit der Steuerreform Peters des Großen (1722) auf der Grundlage periodisch vorgenommener Zählungen der männlichen „Seelen" - vorab pauschal fest. Damit hoffte er eine größere Gewähr für ihre Erfüllung wurde in der Regel verzichtet und nur ausnahmsweise aus stilistischen Gründen der häufig als deutsche Pendant gewählte, aber äußerst irreführende Begriff „Kleinbürger" bzw. „Kleinbürgertum" benutzt. 3 ) Zur Struktur der russischen Stadt im siebzehnten Jahrhundert vgl. vor allem: Smirnov, Goroda; ders., Posadskie ljudi; Hittle, Service City S.21ff (mit ausführlicher Literatur). 4 ) Vgl. dazu Torke, Staatsbedingte Gesellschaft S.89ff, 216ff sowie ders., in: HGR Bd. 2 S. 67ff; Smirnov, Posadskie ljudi Bd. 2 S. 158ff. 5 ) Vgl. Hellie, Stratification S. 136ff; ders., Enserfment S.77ff; Hittle, Service City S. 62ff. 6 ) Hittle, Service City S. 67f betont auch in dieser Frage stärker die Koinzidenz der Interessen des Staates mit denen der Stadtbewohner, ohne freilich die Dominanz fiskalischer Zwecke zu leugnen.
I. Die Beisassengemeinde am Vorabend der Reformen Katharinas II.
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erreichen zu können und begrenzte seinen Verwaltungsaufwand auf ein Mindestmaß. Den Stadtbewohnern, die kollektiv vor ihm in der Verantwortung standen, blieb es überlassen, die individuellen Lasten zu bestimmen. Dies geschah nicht in Form einer einfachen Umlage nach der Anzahl der vorhandenen Haushalte und „Seelen". Vielmehr machte es das Wesen der Beisassengemeinde aus - und darin war sie der dörflichen „obäcina" (oder „mir") 7 grundsätzlich verwandt - , daß bei der Ermittlung der jeweiligen Anteile die Wirtschaftskraft der Familien, ihre Vermögensverhältnisse, ihre Größe, zuvor erbrachte Leistungen und andere Faktoren mehr berücksichtigt wurden. Das komplizierte Verfahren der Bemessung und Zuweisung fand auf Versammlungen statt, die den organisatorischen Kern der Stadtgemeinde bildeten. 8 Festzuhalten ist, daß die Forderungen des Staates nicht nur Anlaß gaben, die Stadt als rechtlichen und sozialen Verband zu konstituieren, sondern auch seine innere Struktur maßgeblich prägten. Die unter dem Begriff des „tjaglo" subsumierten steuerlichen Pflichten, die gegenüber dem Staat zu erfüllen waren, zerfielen in Geldabgaben und Dienste. 9 Erstere umfaßten zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts zahlreiche kleinere Steuern, die auf Gewerbe, Hof- und Viehbesitz erhoben oder in Form von Akzisen, Schankgebühren und Wegezöllen dem Fiskus zugeführt wurden. Peter der Große beseitigte diese verwirrende, historisch gewachsene Vielfalt und ersetzte sie durch eine einzige, von jeder männlichen „Seele" geforderten Abgabe. Das neue Verfahren versprach den Stadtbewohnern aufgrund der besseren Kalkulierbarkeit erhebliche Vorteile. Freilich zeigte sich schon bald, daß sie durch die bloße Höhe der Kopfsteuer ( 1 R . 20 K.) mehr als wettgemacht wurden. Welches Ausmaß die Belastung annahm, ist an der Flut von Steuerbefreiungsgesuchen und vor allem an den rasch wachsenden Zahlungsrückständen, die sich bei der Kopfsteuer 1724-1727 auf 64,3 % beliefen, deutlich abzulesen. 10 Das verbreitete System der Steuerpacht, das dem Pächter ermöglichte, zusätzlich zu den regulären Abgaben ein Aufgeld zu seinen eigenen Gunsten einzutreiben, förderte diese Entwicklung. Hinzu kam, daß auch die überkommene Praxis, aus verschiedenen Anlässen - etwa
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) Vgl. dazu: Aleksandrov., Sel'skaja obäiina, bes. S. 204ff, 242ff; Prokofeva, Krest'janskaja obäiina, bes. S. 127ff; Goehrke, Theorien. 8 ) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obäiina S.618f; Hittle, Service City S. 122ff. ') Vgl. zum Folgenden ausführlicher vor allem die klassische, in ihrem Materialreichtum unübertroffene Darstellung von Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 170ff, 369ff sowie zusammenfassend: Ders., Istoriieskie oierki, hier S. 247ff. Ferner: Hittle, Service City, bes. S. 122ff und Knabe, Struktur S. 118ff. Nützliche Überblicke über die Gesetzgebung zur russischen Stadt finden sich bei: Ploäinskij, Gorodskoe; Mullov, Istoriieskoe obozrenie; Istoriieskij oierk obloZenija. 10 ) Vgl. Kizevetter, Istoriieskie oierki S.250; ders., Posadskaja obäiina S. 395ff; Istoriieskij oierk obloienija S. 50ff.
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1. Teil: Bürgertum und Ständereform im ausgehenden 18. Jh.
zur Finanzierung von Reisen der Zarenfamilie oder zur Equipierung der kaiserlichen Kavallerie - in unregelmäßigen Abständen allerlei Sondertribute zu erheben, wiederbelebt wurde. Wohl entfielen durch die Abschaffung der Binnenzölle 1753-1754 mehrere kleinere Gebühren. 11 Doch diese Erleichterung war nicht von Dauer. Bereits in den sechziger Jahren zog die Regierung die Steuerschraube zur Deckung gestiegener Kosten für Militär und Verwaltung wieder an. Die Kopfsteuer der Beisassen erhöhte sich auf zwei Rubel, zahlreiche neue Abgaben wurden eingeführt. Zu bedenken ist ferner, daß die Stadtbewohner darüber hinaus noch Gemeindesteuern für den Unterhalt der Magistrate und Rathäuser, für den Wege- und Brückenbau und andere kommunale Pflichten aufzubringen hatten. All dies summierte sich zu einer steuerlichen Abschöpfung, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Beisassen bis an die äußerste Grenze beanspruchte. Die Prozedur der pauschalen Steuerforderung und gestaffelten Umlage hatte dabei ambivalente Wirkungen. Einerseits erhöhte sie zweifellos die Steuerlast, da die Gemeinde auch für Minderjährige, Kranke, Arme und Flüchtige Abgaben entrichten mußte. Je größer die Differenz zwischen den zugeschriebenen und den tatsächlich steuerleistenden Mitgliedern war, desto schwerer wurde es, die Pflichten zu erfüllen. Andererseits zwang das Prinzip der Kollektivhaft die Wohlhabenden, die „tjagla" ihrer zahlungsunfähigen Mitbürger zu übernehmen und den Steuerausfall auszugleichen, der durch Flucht und Todesfälle zwischen den Revisionen verursacht wurde. Indem der Staat die Gesamtheit zur Verantwortung zog, bewahrte er die Armen tendenziell vor einer Überforderung und ließ die relativ Vermögenden stärker zur Ader. 12 Zugleich festigte er durch dieses Verfahren die soziale und politische Macht der bemittelten Kaufleute erheblich. Als unentbehrliche Garanten der gemeinschaftlichen Steuerfähigkeit bestimmten sie den Verlauf der Versammlungen und kontrollierten, da die Armen zu ihrer Klientel herabsanken, faktisch die gesamten Gemeindeangelegenheiten. Insofern trug das Institut der Solidarhaft wesentlich zur Herausbildung oligarchischer Herrschafts- und Sozialbeziehungen in den russischen Städten des frühen achtzehnten Jahrhunderts bei. Vor allem von Archangel'sk ist bezeugt, daß eine solche Struktur dem Amtsmißbrauch Tür und Tor öffnete und gelegent-
n ) Vgl. Istoriöeskij oöerk obloienija S. 82ff; PSZ Bd. 13 Nr. 10164 v. 20. Dez. 1753. Dazu: Volkov, Tamoiennaja reforma. 12 ) Die Umlage der Kopfsteuer sollte, wie das Gesetz ausdrücklich formulierte, „in Anbetracht des Besitzes eines jeden Bürgers" vorgenommen werden, damit sie für „niemanden, insbesondere nicht für die Armen" eine unzumutbare „Last" bedeute. Vgl. PSZ Bd. 7 Nr. 4623 v. 30. Dez. 1724 Punkt 18; Istoriieskij oöerk obloienija S.75; Kizevetter, Posadskaja obäöina S. 597.
I. Die Beisassengemeinde am Vorabend der Reformen Katharinas II.
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lieh sogar zur Errichtung einer „Tyrannei" einzelner wohlhabender Gemeindemitglieder führte. 1 3 Eine noch drückendere Last als die monetären Abgaben bedeuteten, wie es scheint, die zahlreichen Dienste, die den Beisassen auferlegt wurden. Sie waren sowohl dem Staat als auch im Rahmen der städtischen Selbstverwaltung zu erbringen. Zu den „staatlichen Diensten" gehörten Tätigkeiten in Steuerund Wirtschaftsbehörden, etwa als „Geldzähler", „ E i n n e h m e r " oder Warenprüfer für Tuche in den Kronkontoren, sowie bei der Erhebung von Gebühren an Brücken oder Zollstellen. 14 Besonders häufig und gefürchtet waren Verpflichtungen beim Verkauf der staatlichen Monopolgüter Alkohol und Salz. Zu den „bürgerlichen" Diensten zählten vor allem Ämter in den Magistraten und Rathäusern, verschiedenen Standesgerichten, Gilden und Zünften. Daneben waren vielfältige Funktionen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (Straßenwacht, Feuerschutz), bei der Aufsicht über Handel und Gewerbe sowie bei der Einziehung von Abgaben, die von der Kopfsteuer über den Laden- und Grundstückszins bis zu Gebühren für den Betrieb kommerzieller Bäder reichten, wahrzunehmen. Schließlich oblagen den Stadtbewohnern noch Leistungen, die später unter dem Begriff der Landsteuern (zemskie povinnosti) zusammengefaßt wurden, wie namentlich die Pflicht, vorüberziehende oder ständig stationierte Truppen zu beherbergen („Quartiersteuer") und zu versorgen sowie bei ihrem Transport mit Pferden und Wagen zu helfen. Alle diese „Naturalsteuern" und Dienste waren schon aufgrund ihrer Fülle äußerst beschwerlich. Hinzu kam, daß sie in unregelmäßigen Abständen und unbestimmtem Ausmaß erhoben wurden. Viele von ihnen erforderten längere Abwesenheit vom Heimatort, die sich über ein Jahr und mehr erstrecken konnte, die Verpflichteten in entfernte Gegenden führte und sie zwang, ihr Gewerbe entschädigungslos für diese Zeit zu vernachlässigen oder gar aufzugeben. Andere brachten erhebliche finanzielle Risiken mit sich, da die „ E i n n e h m e r " und „Geldzähler" für Verluste, die dem Staat durch mangelnde Sorgfalt oder bloße Mißgeschicke entstanden, haften mußten. Die Beseitigung der Binnenzölle erleichterte zwar auch die Dienste spürbar; insbesondere verringerten sich jene, die mit weiten Reisen verbunden waren. Einer Aufstellung der Regierung aus den siebziger Jahren zufolge wurden nur etwa 5 , 2 % aller bei der dritten Revision 1762 erfaßten männlichen Beisassen zu Ämtern und sonstigen „naturalen" Leistungen herangezogen. 1 5 Zu berück13 ) Vgl. Kizevetter, Istoriöeskie oierki S. 259; Krestinin, Kratkaja istorija S. 16f. Weitere Beispiele bei: Kizevetter, Posadskaja obäiina S.767; Bernadskij, Oierki S. 81ff; ders., Klassovaja bor'ba; auch: Poljakova, V.V. Krestinin, bes. S. 81ff. 14 ) Vgl. Kizevetter, Istoriieskie oierki S.247ff; ders., Posadskaja obäiina S. 170ff. 15 ) Vgl. CG A D A f. Gos. Archiva razrjad XIX d. 319 1. 50-90, hier 1. 89 ob. Eine noch geringere Quote von 3,8% ergibt sich aus einer Erhebung der Kommerzkommis-
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1. Teil: Bürgertum und Ständereform im ausgehenden 18. Jh.
sichtigen ist aber, daß sich die staatlichen Ansprüche sehr ungleich auf die einzelnen Gemeinden verteilten. So belief sich die Quote der Zwangsverpflichteten in 16 von 168 Städten immerhin auf über 20 % und in weiteren 45 Städten auf 10-20%, Kinder, Alte, Kranke und verschollene „Seelen" eingerechnet. 16 Ohne Zweifel bildeten die Dienste deshalb nach wie vor ein beträchtliches Hemmnis für die Entfaltung des städtischen Wirtschaftslebens und den materiellen Wohlstand der Stadtbewohner. Die Verzeichnisse der Beschwerden und Wünsche, welche die Stadtversammlungen ihren Deputierten für die Gesetzgebende Kommission von 1767 mit auf den Weg gaben, belegen das, auch wenn man ihre Parteilichkeit nicht außer acht lassen darf, zur Genüge. Kaum eine Instruktion vergaß, die Kaiserin um die Aufhebung oder wenigstens die Verminderung der Dienste zu bitten. Die Moskauer Kaufleute wollten vor allem die polizeilichen Pflichten, die in den vorangegangenen Jahrzehnten in besonderem Maße angewachsen waren, 17 sowie die Ämter beim staatlichen Salz- und Alkoholverkauf beseitigt sehen. Gerade letztere brachten ihrer Meinung nach „nicht geringen Schaden und große Verluste". 18 Die Einwohner von Vorotynsk und Gzatsk kamen um die Abschaffung der Gespann- und Fuhrdienste ein, die arme Beisassen dazu zwangen, Pferde für teures Geld zu mieten. 19 Die Beisassen von Kaluga forderten, die Amtszeit der Bürgermeister und Ratsherren auf drei Jahre zu begrenzen, um existenzgefährdenden Verdienstausfällen vorzubeugen. 20 Und der Oberste Magistrat wies zusammenfassend auf verschiedene hinderliche Vorfälle hin: Wenn etwa ein Kaufmann eine Geschäftsreise plante, mußte er einen Paß beantragen, dafür Bestätigungen beibringen, daß er seine Steuer bezahlt hatte, nicht für einen Dienst vorgesehen war und keine Fehlbeträge aus einem schon geleisteten Dienst vorlagen. Eventuell wurde er dadurch so sion von 1764, die allerdings nur die „staatlichen Dienste" berücksichtigte: vgl. Po opredeleniju komissii o kommercii o tjagostjach i trebovanijach kupeCestva 1764 g. C G A D A f. 397 d. 441 1. 80. 16 ) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 176, 180ff. ") Vgl. ebenda S.93, 119. 18 ) Vgl. SIRIO Bd. 93 S. 130. Aus der Literatur zur Gesetzgebenden Kommission Katharinas sei verwiesen auf: Latkin, Zakonodatel'nye komissii; Florovskij, Sostav; Ditjatin, Ekaterininskaja komissija 1767g. „O soiinenii proekta novogo uloienija". In: Ders., Stat'i S. 333-385; Sacke, Gesetzgebende Kommission. Zu den städtischen Instruktionen und Deputierten im besonderen: A . A . Kizevetter, Proischoidenie deputatskich nakazov v Ekaterininskuju komissiju 1767 g. In: Ders., Istoriieskie oierki S. 209-242; Coquin, La Grande Commission; Knabe, Struktur; Abramov, Soslovnye nuidy; Daniel, Merchants' View; ders., Merchantry; Piöeta, Nakazy; Semenov, Gorodskoe predstavitel'stvo; Voznesenskij, Gorodskie deputatskie nakazy; Sacke, Adel und Bürgertum. - Die städtischen Instruktionen sind abgedruckt in: SIRIO Bd. 93, 107, 123, 134, 144 u. 147, die Sitzungsprotokolle in den Bänden4, 8, 14, 32 und 36. 19 ) Vgl. SIRIO Bd. 93 S. 153 u. 236. 20 ) Vgl. SIRIO Bd. 107 S. 98, auch Bd. 93 S. 87 (Malyj Jaroslavec).
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lange aufgehalten, daß die günstigste Zeit für seine Absichten verstrich. Am Jahresbeginn kam der Handel sogar „völlig zum Stillstand", da sich die Kaufmannschaft „fast jeden Tag" versammeln mußte, um die Wahlen für die verschiedenen Dienste und Ämter durchzuführen. 21 Gegenstand zahlreicher Beschwerden war darüber hinaus in besonderem Maße die Quartiersteuer. Die Beherbergung namentlich der Offiziere brachte nicht nur räumliche Unbequemlichkeiten und manche Schikane für den Hausbesitzer mit sich. Sie konnte auch sehr kostspielig sein, da der Gast verpflegt und mit Brennholz und Kerzen versorgt werden mußte. Vor allem die größeren Städte, in denen ständig Armeeinheiten stationiert waren, regten deshalb schon zu dieser Zeit den Bau von Kasernen und anderen Unterkünften an. Sie bezeugten ihre Bereitschaft, sich an den Kosten durch die Erhebung einer Sondersteuer zu beteiligen. 22 Damit wurde eine Lösung vorgeschlagen, die sich in der Tat als der einzig gangbare Weg zur Entlastung der Städte erwies. Freilich konnte sie infolge der Armut der Bürgerschaft erst knapp ein Jahrhundert später annähernd verwirklicht werden. 23 Es versteht sich von selbst, daß die Steuern und Dienste zur Bürde und zum Hemmnis der wirtschaftlichen Initiative nur in dem Maße wurden, wie den Stadtbewohnern ausreichende Mittel fehlten, sie ohne größeren Schaden zu erfüllen. Der Staat hat diesen Zusammenhang frühzeitig erkannt und sich bemüht, das ökonomische Fundament der Beisassen zu festigen. Schon das Gesetzbuch von 1649 verbriefte ihnen - worum sie in zahlreichen Gesuchen auch gebeten hatten - gleichsam als Kompensation für die geforderten Pflichten und als deren Komplement ein Vorrecht auf den Besitz von Läden und Vorratsräumen in den Grenzen der Stadt. 24 Zahlreiche Erlässe bestätigten diesen Grundsatz in der Folgezeit und erweiterten ihn formal zu einem weitgehenden lokalen Handels- und Gewerbemonopol. 25 Freilich erlangte dieser Anspruch kaum praktische Bedeutung, weil er per Dekret eine ökonomische Aufgaben- und Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land herbeizuführen suchte, die mit den historisch gewachsenen Verhältnissen nicht übereinstimmte. Die gewerbliche Vorherrschaft des Dorfes blieb ebenso ungebrochen wie die bäuerliche Konkurrenz im Handel. Den Beisassen wuchsen keine wesentlichen Ressourcen zu, die es ihnen ermöglicht hätten, ihre Lasten leichter zu tragen. Ursache und Wirkung gingen dabei ineinander über. 21
) Vgl. SIRIO Bd. 43 S. 246. ) Vgl. Knabe, Struktur S. 145. a ) Vgl. unten S. 293ff. 24 ) Vgl. Allgemeines russisches Land-Recht Kap. XIX Art. 5; Hellie, Stratification S. 144ff; Istoriöeskij oierk obloienija S. 35. M ) V g l . u.a. PSZ Bd. 3 Nr. 1723 v. 24. Nov. 1699; PSZ Bd. 13 Nr. 10042 v. 30. Okt. 1752. n
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Was den Handel als den bedeutendsten Bereich des städtischen Wirtschaftslebens anbetraf, so bezeugen zahlreiche zeitgenössische Quellen, daß die staatlichen Vorschriften schon aufgrund mangelnder Kontrollmöglichkeiten nur wenig Beachtung fanden. Im Kampf zwischen Stadt und Dorf, der im ganzen achtzehnten Jahrhundert und darüber hinaus andauerte, hatten die Bauern die Macht überkommener Gewohnheiten und die Überlegenheit der bloßen Quantität auf ihrer Seite. Die Beisassen baten in zahlreichen Eingaben an den Obersten Magistrat - das von Peter I. 1721 eingerichtete höchste Verwaltungsgremium für Stadtangelegenheiten 26 - und andere Regierungsstellen um einen wirksamen Schutz ihres ohnehin beschränkten Monopols. Aber selbst das wichtige Zollstatut von 1755, das den bäuerlichen Handel innerhalb der Stadtgrenzen erneut und definitiv auf den Verkauf von Eßwaren, Heu und Holz begrenzte, 27 brachte faktisch keine Abhilfe für ihre Beschwerden. Wie sehr sie dieses Problem bedrückte, trat nicht zuletzt in den städtischen Instruktionen für die Gesetzgebende Kommission Katharinas zutage. Dabei richtete sich ihr Protest in gleichem Maße gegen den Adel, der die Unternehmungen seiner Bauern aus eigenem Interesse unterstützte und sie durch sein politisches und soziales Gewicht und die Ausnutzung seiner Privilegien erst ermöglichte. Die Dorfbewohner, klagte etwa der Deputierte von Vologda, tätigten in den Städten ausgedehnte Geschäfte, weil ihre Herren ihnen Blankovollmachten ohne Beglaubigung und ohne Angabe der Menge der mitgeführten Erzeugnisse ausstellten und ihnen dabei entgegen den gesetzlichen Bestimmungen auch Waren anvertrauten, „die nicht von ihren Gütern" stammten. 28 Die Bürgerschaft von Serpuchov wies darauf hin, daß die Bauern auf den umliegenden Märkten „Hanf, Wachs, jede Art von Leinwand, Borsten, Pferdehäute und Tiere" verkauften und in den Städten, häufig von ihren Herren, Häuser mieteten, in denen sie Garküchen, Herbergen und Verkaufsbuden unterhielten. 29 Andere Instruktionen empörten sich darüber, daß sie sogar en gros mit Pelzwerk aus Sibirien und ähnlich kostbaren Gütern handelten und die verschiedensten Arten von „Fabriken" besäßen. 30 Vielfach gingen sie ihren Geschäften im Namen von Kaufleuten nach, die sie für diese Gefälligkeit bezahlten. In jedem Falle sei der Schaden
26
) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 18ff. ) Vgl. PSZ Bd. 14 Nr. 10486 v. 1. Dez. 1755 Kap. II Punkt 9, Kap. X P. 1 u. 4 ( = S. 467, 474f);Istoriieskij oöerk oblozenija S.85. 2S ) Vgl. SIRIO Bd. 8 S. 226. Ähnliche Zitate bei: Firsov, Pravitel'stvo S.42. Kritik am bäuerlichen Handel übte zur Zeit Peters des Großen schon der erste russische Ökonom I.T. Posoäkov: vgl. ders., Kniga S. 118. Zum Gesamtproblem für die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts s. ferner neben Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 18ff: Volkov, Krest'jane S.45ff. 29 ) Vgl. SIRIO Bd. 93 S. 201; ähnlich: Bd. 93 S. 88, 153 u.ö. 30 ) Vgl. SIRIO Bd. 93, S. 300. 27
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für die Beisassen überaus groß. 31 Es war zweifellos die zentrale wirtschaftspolitische Forderung der städtischen Delegierten, diese Verstöße gegen die bestehenden Gesetze zu unterbinden. 32 In welchem Maße solche Klagen zu dieser Zeit berechtigt waren, läßt sich kaum im einzelnen prüfen. Quantitative Daten liegen nur über die handeltreibenden Bauern vor, die sich zugleich in den Stadtgemeinden registrieren ließen. Für das Jahr 1766 wurden im Moskauer Gouvernement bei einer steuerpflichtigen Bevölkerung von über zwei Millionen Seelen ganze 1103 Personen dieser Kategorie gezählt, in allen Gouvernements 5554. Im Gouvernement Moskau kam somit ein handeltreibender Bauer auf vierzig Kaufleute, im ganzen Land einer auf 33 Kaufleute. 33 Angesichts solcher Relationen von einer aufkommenden „bäuerlichen Bourgeoisie" zu sprechen 34 , dürfte mehr als verfehlt sein. Dennoch hatten die Stadtbewohner zweifellos gute Gründe für ihre Beschwerden. Zum einen ist zu bedenken, daß nur ein geringer Teil der tatsächlich kommerziell tätigen Bauern in den erwähnten Angaben erfaßt wurde. Zum anderen bestätigen auch andere und weniger subjektive Quellen, was die Deputierten vorzubringen hatten. „Die Kaufmannschaft", berichtete beispielsweise die erste, von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zusammengestellte topographische Beschreibung des Landes zu Beginn der siebziger Jahre über die Stadt Volokolamsk nahe Moskau, „erleidet sehr großes Ungemach durch die Jahr- und Wochenmärkte dieses Kreises sowie durch die Bauern, die sowohl auf den Wochen- wie auf den Jahrmärkten Waren für bedeutende Summen kaufen und sie bringen, wohin immer sie können; desgleichen führen sie in der Stadt Volokolamsk selbst eigenmächtig Verkäufe durch und beachten dabei keinerlei Verbote." 35 Überdies muß in Betracht gezogen werden, daß der Markt, um den Kaufleute und bäuerliche Händler stritten, angesichts der Armut und der geringen Zahl der Stadtbewohner sowie der noch weitestgehend subsistenten Lebensweise der agrarischen Bevölkerung äußerst begrenzt war. Wo es kaum etwas zu verteilen gab, mochte schon die Konkurrenz weniger spürbare Einbußen bringen. Dies war um so eher der Fall, als das ökonomische Betätigungsfeld der Kaufleute noch von anderer Seite empfindlich eingeschränkt wurde. Der Moskauer Staat bedrohte die wirtschaftliche Existenzfähigkeit der Stadtbewohner nicht nur durch hohen Steuerdruck und Dienste. Er nahm ihnen
31
) Vgl. SIRIO Bd. 93 S. 301. ) Vgl. Firsov, Pravitel'stvo S. 43. 33 ) Vgl. Vartanov, Kupeiestvo i torgujuäiee krest'janstvo S. 183; ausführlicher: ders., Kupeiestvo gorodov Moskovskoj guberniii S. 138ff; auch: Jakovcevskij, Kupeieskij kapital S. 50. 34 ) Vgl. Volkov, Formirovanie S. 196. 35 ) Vgl. Bakmejster, Topografiieskie izvestija Bd. 1 S. 41, ähnlich S.65. 32
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darüber hinaus lukrative Einkommensquellen, indem er den Handel mit einer Vielzahl wichtiger Güter an sich zog. Im siebzehnten Jahrhundert war der Zar, wie insbesondere aus den Berichten ausländischer Beobachter zu ersehen ist, der erste Kaufmann seines Landes. Er besaß ein Vorkaufsrecht für fast alle importierten Waren und ein generelles Monopol auf sibirische Pelze, Seide, Getreide, Pech, Pottasche, Salz, Fisch, Kaviar und andere Erzeugnisse. 36 Mit der Durchführung der Geschäfte betraute er die „gosti", eine kleine Gruppe eigens ernannter und mit vielen Privilegien ausgestatteter Kaufleute, die dadurch in überreichlichem Maße von der alles beherrschenden Wirtschaftsmacht des Staates profitierten. 37 Peter der Große hat auch dieses System in seinen späten Regierungsjahren verändert. Ein Erlaß aus dem Jahre 1719 beschränkte die „Staatswaren" auf Pottasche und Pech, alle übrigen sollten dem „Volk" als Handelsgegenstände zur Verfügung stehen. 38 In der Folgezeit wurde diese Regelung freilich großenteils wieder rückgängig gemacht. Namentlich seine Tochter Elisabeth erweiterte den Kreis der Monopolgüter in den vierziger Jahren erneut. Hinzu kam, daß auch die Handelskompanien, die Peter im Rahmen seiner Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft gründete, Exklusivrechte für wichtige Erzeugnisse besaßen. 39 Erst Katharina beseitigte das System der Monopole endgültig. 40 Die vom westeuropäischen Physiokratismus entlehnte Einsicht setzte sich durch, daß der Handel der Freiheit bedürfe und die Beschränkungen ihm großen Schaden zugefügt hätten. 41 Vergleichsweise spät wurde damit der Kaufmannschaft zumindest eine größere Chance zur Ausweitung ihrer Tätigkeit gegeben. Der Exporthandel blieb ihr aber weiterhin verschlossen. Er lag nach wie vor fast ausnahmslos in den Händen ausländischer Geschäftsleute, 42 ein oft beklagter Zustand, der bis weit in das industrielle Zeitalter hinein andauerte. ^ V g l . Kuliäer, Oierk S. 157ff; ders., Russische Wirtschaftsgeschichte S.346ff. Geringer veranschlagt die Bedeutung des Kronhandels: Bushkovitch, Merchants S. 151ff. 37 ) Vgl. dazu außer Kulischer und Bushkovitch vor allem: S.H. Baron, Who were the Gosti?; ders., Vasilii Shorin: Seventeenth-Century Russian Merchant Extraordinary; ders., The Fate of the Gosti in the Reign of Peter the Great; alle jetzt in: Ders., Muscovite Russia Kap. VI, VII, VIII. 38 ) Vgl. KuliSer, Oierk S. 230; PSZ Bd. 5 Nr. 3428 v. 1. Okt. 1719. 39 ) Vgl. dazu grundlegend: Firsov, Russkie torgovo-promyälennye kompanii; LappoDanilevskij, Russkie promySlennye i torgovye kompanii. ••"i Vgl. u.a. PSZ Bd. 15 Nr. 11489 v. 28. März 1762; dazu: Firsov, Pravitel'stvo S. 192ff. Zum Ende der Monopole in der Industrie: Baburin, OCerki S. 148ff. 41 ) Vgl. die Bemerkungen in Katharinas berühmter Instruktion an die Gesetzeskommission: Nakaz Imperatricy Ekaterinyll Art.317; dt. Übers.: Katharinae der Zweiten . . . Instruction (im folg. zit. als: Instruction). 42 ) Vgl. Kuliser, Oierk S. 191 u. pass.; Firsov, Pravitel'stvo S.9; Kizevetter, Istoriieskie oöerki S.242 sowie unten S.O Anm.7. Vgl. auch: S.H. Baron, The
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Unter ähnlichen Hemmnissen wie der Handel litt das städtische Handwerk in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Die gewerbliche Produktion konzentrierte sich in Gestalt des bäuerlichen Hausfleißes weitgehend auf den Dörfern. Einige wenige Ausnahmen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Städte dem Wettbewerb kaum gewachsen waren. Mit gutem Grund hat der autokratische Staat spätestens seit Peter dem Großen versucht, auch in dieser Hinsicht fördernd einzugreifen. Zu verweisen ist insbesondere auf die Einrichtung von Zünften (1722). Sie brachten freilich nicht den Nutzen, den sich der Reformzar erhoffte. Mehrere Ursachen kommen dafür in Betracht. Zum einen verzichtete das Gründungsstatut darauf, einen Zunftzwang zu verfügen. 4 3 Weiterhin konnten bäuerliche Handwerker, die sich auf der Suche nach einem Nebenerwerb zumeist vorübergehend in den größeren Städten niederließen, ihrer Tätigkeit außerhalb der neuen Institutionen nachgehen. „Insbesondere die herrschaftlichen Dienstleute", vermerkte die erwähnte Instruktion des Obersten Magistrats an die Gesetzeskommission von 1767, „die nicht in den Zünften eingeschrieben sind, fertigen verschiedene Gegenstände für den Verkauf in den Handelsreihen und auf Bestellung von Drittpersonen und fügen dadurch den wirklichen und eingeschriebenen Zunftmeistern . . . nicht geringen Schaden zu." 4 4 Zum anderen waren die Zünfte überhaupt gleichsam nur halbstädtische Einrichtungen. Ihre Mitglieder stammten zu einem erheblichen, vielerorts sogar zum überwiegenden Teil aus den Dörfern. Sie wurden von ihren Herren vorzugsweise zu deutschen Meistern in die Lehre gegeben und kehrten danach im Regelfall in ihre Heimat zurück. 45 Die Zünfte förderten auf diese Weise die Qualifikation der leibeigenen dörflichen Handwerker nicht minder als die der städtischen. Sie zogen ihre eigene Konkurrenz heran. Überaus nachteilig wirkte sich schließlich ein weiterer Umstand aus: Auch die Berufskorporationen, die einen Teil des „neuen Rußland" repräsentierten, wurden wie die bestehenden städtischen Gemeinschaften in den unmittelbaren Dienst der Autokratie gestellt. Ihre Mitglieder mußten nicht nur die Muscovy Company, the Muscovite Merchants and the Problem of Reciprocity in Russian Foreign Trade. In: Ders., Muscovite Russia Kap.V; mit anderer Wertung: Bushkovitch, Merchants S. 43ff, bes. S. 69. Grundlegende, materialreiche (auch zur Gesetzgebung des Handels und der Industrie insgesamt), aber rein additive Übersicht: Semenov, Izuienie. 43 ) Vgl. das Reglement des Obersten Magistrats: PSZ Bd. 6 Nr. 3708 v. 16. Jan. 1721 S. 295 sowie PSZ Bd. 6 Nr. 3980 v. 27. April 1722. Dazu, die Unterschiede zu Westeuropa betonend: Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 1 S.287ff, hier S.296f; ähnlich urteilte der bekannte Nationalökonom Heinrich Storch, Hist.-stat. Gemälde Bd. 3 S. 149. Vgl. auch: Stepanov, Sravnitel'no-istoriieskij oierk; Paiitnov, Problema S. 39ff, der die Andersartigkeit der russischen Zünfte im Kern anerkennt. ^ V g l . SIRIO Bd. 43 S. 251. 45 ) Vgl. Storch, Hist.-stat. Gemälde Bd. 3 S. 149.
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gleichen monetären und naturalen steuerlichen Lasten tragen. Der Staat zog sie darüber hinaus bei Bauvorhaben zu unentgeltlichen, fronähnlichen Leistungen heran. Er gewährte ihnen nicht ein Gran jener Unabhängigkeit, die ihre Vorbilder im Rahmen der westeuropäischen Stadt lange Jahrhunderte hindurch genossen hatten. Die ausländischen Formen erhielten einen „rein einheimischen Inhalt". Ihnen fehlten Privilegien, die ihre Fremdheit als Institution hätten ausgleichen können. Durch kaiserliches Dekret verordnet, schlugen sie keine tieferen Wurzeln. Zur Zeit der zweiten Revision (1742) gab es Zünfte nur in zehn von 51 Städten des damals fast ganz Zentralrußland umfassenden Gouvernements Moskau. Der Anteil ihrer Mitglieder an der Gesamtzahl der männlichen Beisassen betrug in so wichtigen wirtschaftlichen Zentren wie Tula, Jaroslavl' und Moskau nur 0,3 %, 0,8 % und 1,4%. 4 6 Gut zwanzig Jahre später (1764) ermittelte die Kommerzkommission, daß Zünfte immerhin in 103 von 202 Städten vorhanden waren. 47 Die Zahl ihrer Angehörigen blieb aber mit insgesamt 12679 entsprechend 7,4% aller registrierten posad-Bewohner (im rechtlichen Sinn) absolut und relativ überaus gering. 48 In jedem Falle lassen die verfügbaren Angaben keinen Zweifel daran, daß sich die neuen Institutionen kaum entfalten konnten und sich überdies durch eine außerordentliche Unbeständigkeit auszeichneten, 49 die als Indiz ihrer obrigkeitlichen Entstehung zu werten ist. Nicht von ungefähr merkte die Instruktion der Moskauer Bürgerschaft für die Gesetzgebende Kommission Katharinas an, daß sie eigentlich nur „dem Namen nach" existierten. 50 Der im großen und ganzen prekäre wirtschaftliche Zustand der Städte läßt sich in besonders augenfälliger Weise an ihrer sozialen Struktur ablesen. Schon in den Konstitutionsprinzipien der Beisassengemeinde war eine ausgeprägte und ökonomisch relevante Heterogenität angelegt, da zwei Gesichtspunkte miteinander konkurrierten. Zum einen wurde die Zugehörigkeit zu ihr durch Geburt erworben und durch Ehe mitgeteilt. Spätestens seit der Gesetzeskodifizierung von 1649 war der rechtliche Status eines Beisassen erblich. 51 Er verpflichtete zur Erfüllung eines „tjaglo" und verband sich in der Regel mit der Ausübung eines Gewerbes oder Handels und mit dem Besitz eines Hauses (dvor). Wer in dieser Weise formell zu einer Gemeinde zählte, blieb zeitlebens an sie gefesselt; in einen anderen Stand überzutreten, war Vgl. Kizevetter, Posadskaja obStina S. 145 (Zitat), 162ff. ) Vgl. Knabe, Struktur S. 198. Vgl. Po opredeleniju komissii o kommercii o tjagostjach i trebovanijach kupeiestva 1764g. C G A D A f. 397 d. 441 1. 80-83. 49 ) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obSöina S. 169. 50 ) Vgl. SIRIO Bd. 93 S. 129. 51 )Vgl. Allgemeines Land-Recht Kap. XIX; Ploäinskij, Gorodskoe S. 128ff; Kizevetter, Posadskaja obSöina S. 2. 47
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nicht statthaft. Daneben wurde jedoch noch ein zweiter Grundsatz der Zugehörigkeit zugelassen. Bauern, Personen geistlichen Standes oder Dienstleute des Zaren konnten die Aufnahme beantragen, wenn sie den Nachweis erbrachten, daß sie einem Handwerk oder Handel nachgingen. Ihr Beruf begründete die Möglichkeit des Standeswechsels. Vor allem Peter der Große hat diesem Prinzip in der Absicht zu stärkerer Geltung verholfen, die Beisassengemeinden als gewerblichen Mittelstand zu konsolidieren. Er öffnete sie für Personen verschiedener Rechtskategorien, sofern sie über ein gewisses Minimalkapital verfügten. 5 2 Zuschreibungen, die sich auf diese Regelung stützten, sind in der Folgezeit vergleichsweise häufig vorgenommen worden. Sie bildeten die wichtigste Quelle für die Rekrutierung neuer Mitglieder der städtischen Bürgerschaft. 5 3 Unabhängig davon blieb der Grundsatz der Erblichkeit jedoch in Kraft. Es ist leicht zu sehen, daß beide Zugehörigkeitskriterien nicht miteinander in Einklang standen. Wer in die Stadtgemeinde hineingeboren wurde, konnte oft keinen der Berufe ergreifen, die ihr durch Gesetz zugedacht und reserviert waren, zumal sich vielerorts nur die Landwirtschaft als Einkommensquelle anbot. Auch die neu Hinzukommenden entsprachen dem Ideal nicht immer. Infolgedessen füllte sich der Beisassenverband mit einer bunten Vielfalt sozialer Gruppen. Schon die ersten Versuche Peters des Großen, ihn zu gliedern, spiegeln diese Sachlage. Das „Reglement des Obersten Magistrats" von 1721 unterschied zwischen „regulären Bürgern" und sonstigen. Zu den letzteren zählten nicht nur vorübergehend oder auf Dauer in der Stadt lebende Mitglieder anderer Stände wie Adlige, Geistliche, Soldaten und Staatsbedienstete, sondern ebenso „ungelernte Arbeiter und Tagelöhner", die der Stadt formell zugeschrieben waren. Die erstgenannte Gruppe wurde in zwei Gilden unterteilt. Zur oberen rechneten Bankiers, Großkaufleute, Ärzte und Apotheker, Schiffskapitäne sowie Gold- und Silberschmiede und Ikonenmaler; zur unteren die kleinen Händler und Gewerbetreibenden sowie alle Handwerker. 5 4 Deutlich wird in dieser Trennung das Bemühen spürbar, den Beruf zum begründenden Merkmal der Bürgerschaft zu erheben. Ebenso unverkennbar tritt aber auch das Dilemma zutage, eine Residualgruppe von „gemeinen Leuten" schaffen zu müssen, die in der neuen Klassifikation keinen Platz fanden und gleichsam zu uneigentlichen Bürgern erklärt wurden.
52 ) Vgl. insbesondere PSZ Bd. 7 Nr. 4312 v. 27. Sept. 1723; ebenda Bd. 7 Nr. 4318 v. 1. Okt. 1723; ebenda Bd. 7 Nr. 4336 v. 23. Okt. 1723 u. Nr. 4566 v. 16. Sept. 1724. Weitere Nachweise bei: PloSinskij, Gorodskoe S. 175ff; zur Praxis: Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 16f. 53 ) Vgl. Kizevetter, ebenda S. 36ff. 54 )Vgl. PSZ Bd. 6 Nr. 3708 v. 16. Jan. 1721 S.295; Ploäinskij, Gorodskoe S. 173; Mullov, Istoriieskoe obozrenie S. 67f.
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Die überkommene soziale Struktur fügte sich nicht in eine ständische Ordnung. Gleiches ist am Schicksal der Gilden abzulesen. Traditionell gliederte sich die Beisassengemeinde nach Vermögen und Steuerfähigkeit in eine obere, mittlere und untere Kategorie („stat'ja"). Die Einführung der Gilden ersetzte diese Schichtung durch eine Teilung in Berufsgruppen. Das gelang freilich nur unvollkommen. Schon im Reglement des Obersten Magistrats war ebenso wie in nachfolgenden Erlässen nicht zufällig zugleich von „stat'i" die Rede. 55 Eine Erhebung der Kommerzkommission aus dem Jahre 1764 vermerkte sogar ausdrücklich, daß in vielen Städten keine Gilden eingerichtet wurden. 56 Und selbst dort, wo sie existierten, verschmolzen sie vermutlich faktisch mit den hergebrachten „stat'i". Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß man ihre Zahl wohl schon Ende der zwanziger Jahre gemäß der überkommenen Gliederung auf drei erhöhte. 57 Das berufliche Korporativprinzip fand offenbar keinen Boden, auf dem es hätte gedeihen können. Es war fremd in einem Sozialverband, dessen Gefüge im wesentlichen durch die Art und die Zuweisung der Steuer- und Dienstpflichten bestimmt wurde. Solange die russische Stadt diesen Charakter bewahrte, konnten Versuche, sie nach westeuropäischem Vorbild umzugestalten, kaum mehr als oberflächliche Veränderungen bewirken. Über die tatsächliche soziale Struktur der Beisassengemeinden zu Beginn der Regierungszeit Katharinas, über die Zahl und vor allem die Beschäftigung ihrer Mitglieder gibt die erwähnte, in ihrer Art singulare Umfrage der kaiserlichen Kommerzkommission von 1764 interessante Auskünfte. Sie erbrachte Informationen über 202 Städte mit einer zugeschriebenen Einwohnerschaft von 188602 männlichen Seelen. 58 Diese Gesamtzahl dürfte freilich um einiges zu niedrig sein. Bei der dritten Revision von 1762 wurden laut älteren Forschungen 228 36559, laut neueren 321582 Seelen 60 registriert und bei einer späteren Erhebung der Kommerzkommission (1769) 228365 Seelen. Aus allen drei zuletzt genannten Daten errechnet sich, auf die jeweils zugrunde gelegte Gesamtzahl der steuerpflichtigen Bevölkerung bezogen, ein Anteil der Beisassen von nur 3,1 %. 61 Schon dieses Verhältnis wirft Licht auf
56
) Vgl. Po opredeleniju komissii o kommercii, C G A D A f. 397 d. 441 1. 74 u.ö. ) In den Gesetzen wird die dritte Gilde erst 1742 erwähnt: vgl. PSZ Bd. 11 Nr. 8504 v. 19. Jan. 1742; dazu Kizevetter, Posadskaja obäiina S. 129. 58 ) Vgl. Po opredeleniju komissii o kommercii, C G A D A f. 397 d. 441 1. 74. 57
59
) Vgl- Kizevetter, Posadskaja obStina S. 113. ) Vgl. Kabuzan, Izmenenija S.94. Derselbe Autor gibt diese Zahl freilich an anderer Stelle mit 294 584 Seelen an. Solche Abweichungen werfen ein Schlaglicht auf die bekannte Ungenauigkeit der Revisionszählungen. Vgl. Kabuzan, Pullat, Obzor S.151. 61 ) Vgl. Kizevetter, Posadskaja obSiina S. 113; Kabuzan, Izmenenija S.94. 60
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die geringe soziale und wirtschaftliche Bedeutung der russischen Städte um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Eine nähere Betrachtung zeigt überdies, daß auch die wenigen Beisassen keineswegs typischerweise als Kaufleute oder Gewerbetreibende anzusprechen waren, wie es ihr rechtlich-fiskalischer Status erwarten ließ. Vielmehr vermitteln die Angaben - bei allen Vorbehalten, die angesichts ihrer Unvollständigkeit und unklarer Erhebungsmethoden angezeigt sind - folgendes ungefähres Bild der „beruflichen" Gliederung der Stadtbewohner im rechtlichen Sinne (vgl. Tabelle 1). Eine schmale und sicherlich die vermögendste Schicht (vgl. Tabelle 2) lebte vom Handel an den Häfen und den Zollstationen (1,8%). Ihre Angehörigen können als Im- und Exportkaufleute gelten, die ihre Waren freilich in der Regel an dort ansässige ausländische Geschäftsleute lieferten bzw. sie von ihnen bezogen und nur selten selbst über die Grenzen hinaus tätig wurden. Eine vergleichsweise breite Schicht (37,7 %) trieb im Inland Handel. Kaufleute dieser Kategorie brachten zumeist nur die Steuern für die dritte Gilde auf (vgl.Tabelle 3 und 4). Eine kleinere Gruppe ernährte sich vom Handwerk (14,3%); etwa zur Hälfte tat sie das im Rahmen einer Zunft (7,4%). Übrig blieben - von einem unbekannten Rest abgesehen Beisassen, die weder einem Handel noch einem Handwerk nachgingen. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt von „verschiedenen Arbeiten", namentlich wohl als Bedienstete und Tagelöhner aller Art, oder befanden sich, wie die Kommission sich ausdrückte, „im Zustand der Untätigkeit". Es ist sicherlich bemerkenswert, daß die meisten Mitglieder der Stadtgemeinde zu dieser Gruppe rechneten (38,8 %).
Tabelle 1: Soziale Struktur der russischen Beisassengemeinde 1764
Kaufleute, die an Häfen und Zollstationen Handel trieben Binnenhandelskaufleute und Handlungsgehilfen Kaufleute ohne Handel, die sich von Handwerken ernährten (darunter Zunfthandwerker Kaufleute ohne Handel und Handwerk, die „untätig" waren Kaufleute in staatlichen Diensten unbekannt gesamt
N
%
3167 64598 24507 12679 66537
1,8 37,7 14,3
6612 5942
3,8 3,5
171363
99,9
7,4) 38,8
Berechnet nach: Po opredeleniju komissii o kommercii, C G A D A f. 397 d. 441 1. 74ff.
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1. Teil: Bürgertum und Ständereform im ausgehenden 18. Jh.
Tabelle2: Kaufleute, die an Häfen und Zollstationen Handel trieben nach Gilden und Vermögensgruppen („stat'i") 1764 N
%
Erste Gilde und erste Vermögensgruppe Zweite Gilde und zweite Vermögensgruppe Dritte Gilde und dritte Vermögensgruppe nach Gilden und Vermögensgruppen nicht aufgegliedert
2470 285 155 257
78,0 9,0 4,9 8,1
gesamt
3167
100,0
Quelle: wie Tab. 1 1. 74.
Tabelle3: Kaufleute insgesamt nach Gilden und Vermögensgruppen („stat'i") 1764 N
%
Erste Gilde und erste Vermögensgruppe Zweite Gilde und zweite Vermögensgruppe Dritte Gilde und dritte Vermögensgruppe nach Gilden und Vermögensgruppen nicht aufgegliedert
11074 38162 105910 16217
6,5 22,3 61,8 9,5
gesamt
171363
100,1
Quelle: wie Tab. 1 1. 74.
Freilich ist bei Deutungen des hohen Anteils der Armen und „Untätigen" Vorsicht geboten. Die Bezugsgröße der „Revisionsseelen" umfaßt auch Minderjährige, Alte, Kranke und Invaliden. Rechnet man diese Erwerbsunfähigen ab (vgl. Tabelle5), dann verringert sich die Zahl derjenigen Beisassen, die keine standesgemäße kommerzielle oder handwerkliche Tätigkeit ausübten, doch erheblich auf etwa 16%. Die zusammenfassende Behauptung, daß Handwerker und jene Schicht, die als „Proletariat" der Stadtgemeinde zu bezeichnen sei, „mehr als die Hälfte" der städtischen Bevölkerung im rechtlichen Sinne stellten 62 , dürfte deshalb in dieser zugespitzten Form nicht zutreffen. Dessenungeachtet kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ein erheblicher Teil der Kaufleute seine Standesbezeichnung zu Unrecht führte. Zeitgenössische Sachkenner, deren Urteilen gewiß nicht weniger Glaubwür-
62 ) Vgl. Kizevetter, ebenda S. 142. Weitere Daten für die Städte Zentralrußlands bei Kizevetter, ebenda S. 136ff und Knabe, Struktur, Anhang.
I. Die Beisassengemeinde am Vorabend der Reformen Katharinas II.
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I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
331
Zahl der Städte (um 1850)
Fläche (in 1000 Quadratmeilen)
Quadratmeilen (in 1000) pro Stadt
979 901 1377 776 3242 733 1985
5080 9616 9616 12104 12104 95710 95710
5 1/5 10 2/3 7 15 1/2 3 3/4 130 1/2 48
Preußen Frankreich mit Marktflecken Österreich mit Marktflecken Russisches Reich mit Marktflecken
Zu einem ebenso erwartungsgemäßen Ergebnis führt eine Aufschlüsselung der russischen Städte nach Größenkategorien. Die ersten annähernd zuverlässigen Daten von 1811 zeigen folgende Verteilung: Tabelle 25: Verteilung der Städte im Zarenreich nach ihrer Einwohnerzahl 1811 Stadtkategorien nach der Einwohnerzahl (in 1000)
Zahl der Städte N
%
tatsächliche Einwohner beiderlei Geschlechts N % (in 1000)
Hauptstädte Städte mit einer Bevölkerung von: 30-70 10-30 5-10 2- 5 1- 2 unter 1
2
0,3
605,8
20,6
5 30 91 233 141 128
0,8 4,8 14,4 37,0 22,4 20,3
232,1 467,1 622,9 737,5 205,2 68,5
7,9 15,9 21,2 25,1 7,0 2,3
gesamt
630
100,0
2 939,1
100,0
Quelle: Raäin, Naselenie S. 103 nach German, Stat. issledovanija S. 214ff. Daran ist abzulesen, daß mehr als Dreiviertel aller Städte im Zarenreich weniger als 5000 Einwohner zählten, zwanzig Prozent sogar weniger als tausend. Umgekehrt gab es kaum mittlere und große Städte. Sie vereinigten aber bereits einen erheblichen Anteil der gesamten Stadtbevölkerung. Insbesondere galt das für die beiden Metropolen (20,6%). Lange vor dem Beginn der Industrialisierung und einer verstärkten Abwanderung in die wirtschaftlichen Ballungsräume läßt sich somit eine auffallende Konzentration der Bürger und der übrigen Stadtbewohner feststellen.
332
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
Knapp fünfzig Jahre später hatte sich diese Verteilung kaum verändert (vgl. Tabelle 26). Lediglich die Einwohnerzahl war bei ungefähr gleichbleibender Stadtdichte im Zuge der allgemeinen Bevölkerungsvermehrung auf beinahe das Doppelte gestiegen (etwa 5,7Mio.). Dementsprechend wuchs auch die durchschnittliche Größe von etwa 4660 Einwohnern 1811 auf 8460 im Jahre 1856. Die kleineren Städte wurden volkreicher. Unter tausend Einwohnern zählten nur noch sehr wenige; in den meisten lebten zwischen zwei- und zehntausend Menschen. Eine dritte Stadt (Odessa) hatte die Grenze von 100 000 überschritten. Bei alledem blieb das starke Übergewicht von Moskau und St. Petersburg erhalten. Nur langsam entwickelte sich eine Gruppe mittelgroßer regionaler Zentren. An der bloßen Einwohnerzahl gemessen brauchten Rußlands Städte den Vergleich mit west- und mitteleuropäischen freilich nicht zu scheuen. Den Berechnungen Tengoborskijs zufolge lebten in ihnen um 1850 sogar mehr Menschen (durchschnittlich 7367) als in den französischen (7114), großösterreichischen (6076) und preußischen (4641).6 Auch ihre Verteilung nach Größenkategorien zeigte keine wesentlichen Abweichungen. 7 Daraus ein analoges Entwicklungsniveau abzuleiten, wäre allerdings verfehlt, da die absolute Einwohnerzahl als Indiz für den wirtschaftlichen und sozialen Zustand wenig besagt. Tabelle 26: Verteilung der Städte im Zarenreich nach ihrer Einwohnerzahl 1856 Städte mit Einwohnern (in 1000)
Zahl der Städte N
%
über 100 50-100 25-50 20-25 15-20 10-15 5-10 2- 5 unter 2
3 7 18 16 23 62 194 236 119
0,4 1,0 2,6 2,3 3,4
gesamt
678
Einwohner beid. Geschl. (in 1000) % N
Marktflecken N
%
7,1 14,3
9,1 28,6 34,8 17,6
960,9 415,2 614,5 345,9 387,9 735,7 1354,3 780,0 141,9
16,7 7,2 10,7 6,0 6,8 12,8 23,6 13,6 2,5
2 4 2 20
100,0
5736,3
100,0
28
Quelle: Statistiieskie tablicy Ross. imperii Bd. 1 S. 222-234.
6 7
) Vgl. T?goborski, Etudes Bd. 1 S. 126. ) Vgl. ebd. Bd. 1 S. 128f.
Einwohner beid. Geschl. (in 1000) N %
7,1 71,4
23,7 25,1 7,8 20,9
30,6 32,4 10,1 27,0
100,0
77,5
100,0
I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
333
Die allgemeine Entwicklung tritt besonders klar zutage, wenn man den Anteil der tatsächlichen Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung betrachtet. Die Vergleichbarkeit der Daten vorausgesetzt, läßt sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein ununterbrochenes absolutes und relatives Wachstum belegen. Es betrug 1811-1825 im Jahresdurchschnitt 1,6%, 1825-1840 2,3 %, 1840-1856 1,0% und 1856-1870 3,2 %. Damit lag es deutlich über der Zunahme der Bevölkerung insgesamt, die sich im europäischen Rußland 1811-1840 auf durchschnittlich 0,6 % und 1840-1870 auf 0,9 % im Jahr belief. 8 Den größten Gewinn verzeichneten auch bei dieser Berechnungsweise die Städte in Süd-, West- und Südwestrußland sowie im Südosten und im Ural. Dessenungeachtet blieb der Urbanisierungsgrad gering. Den ersten wirklich zuverlässigen statistischen Erhebungen von 1856/1858 ist zu entnehmen (vgl. unten Tabelle 36), daß gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode, auf alle europäischen Gouvernements des Zarenreichs (ohne Polen und Finnland) bezogen, durchschnittlich 9,4 von 100 Einwohnern in Städten lebten. Damit rangierte Rußland, wie zeitgenössische Ökonomen häufig vermerkten, weit hinter den europäischen Ländern, mit denen es sich üblicherweise verglich. In England zählte man im selben Jahrzehnt etwa 50,4 Städter auf 100 Einwohner, in Preußen 28,1, in Frankreich 27,3, in Belgien 26,1, in den Niederlanden 36,2.9 Angesichts der territorialen Größe und der geographisch-klimatischen Verschiedenartigkeit des Zarenreiches mag es freilich zweifelhaft erscheinen, ob eine solche Gegenüberstellung sinnvoll ist. Doch auch eine regionale Aufschlüsselung ändert das Bild nur wenig. Einzig in den Gouverments St. Petersburg (55,8%), Moskau (28,1%), Cherson (26,9%), Taurien (18,8%) und Bessarabien (17,1%) war eine erheblich höhere Dichte der Stadtbewohner zu verzeichnen. 10 Wenig über dem Durchschnitt lagen die baltischen Provinzen (10,9 %), etwas darunter die Gouvernements des zentralen Landwirtschafts- (7,7 %) und des zentralen Industriegebietes (7,5%). Ein nennenswertes Niveau der Stadtentwicklung wurde somit nur in der Umgebung der beiden Metropolen und in den aufstrebenden Küstenregionen des Südens erreicht. Im russischen Kernland insgesamt blieben die Städte dagegen ohne größeres demographisches Gewicht. Glei-
8 ) Vgl. Fedor, Patterns Bd. 25, 43 u. pass. Auch Fedor legt die polizeilichadministrativen Daten zugrunde. Bei den Wachstumsraten für die Jahre 1811-1840 sind deshalb aus den oben genannten Gründen (s. S.324 Anm.4) ebenfalls erhebliche Ungenauigkeiten in Rechnung zu stellen, auf die der Autor nur ungenügend aufmerksam macht. ') Vgl. Schnitzler, L'empire Bd. 1 S.251. Kaum abweichende Werte s. bei: Weber, Growth S. 47 (England und Wales 1851 = 50,1 %), S. 82 (Preußen 1849 = 26,8 %), S. 68 (Frankreich 1856 = 27,3%). 10 ) Vgl. zur Verdeutlichung auch die Liste der einwohnerreichsten Städte bei Raäin, Naselenie S. 93.
334
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
ches galt im übrigen auch für die westlichen und südwestlichen sowie die südöstlichen Gouvernements. Die städtische Einwohnerzahl wies hier zwar sehr hohe Wachstumsraten auf; ihre Relation zur ländlichen Bevölkerung änderte sich dadurch aber kaum. Für eine genauere Prüfung der quantitativen Bedeutung und Entwicklung der städtischen Stände im engeren Sinn stehen, wie erwähnt, zwei unterschiedliche Arten von Angaben zur Verfügung. Man wird davon ausgehen können, daß die polizeilich-administrativen, nach Maßgabe des methodischen Fortschritts der zeitgenössischen Statistik erhobenen Daten spätestens seit den dreißiger Jahren größere Zuverlässigkeit für sich in Anspruch nehmen dürfen. 11 Andererseits ist nicht zu übersehen, daß sich auch die Finanzbehörden um eine solidere Grundlage für ihre Berechnungen und Forderungen bemühten. Namentlich für die Handeltreibenden schuf man, der Entwicklung des Steuerrechts entsprechend, neue Kategorien, die ein differenzierteres Bild über die Zusammensetzung dieser Schicht vermitteln. Die nachstehenden Tabellen berücksichtigen deshalb beide Quellen. Vertraut man den Erhebungen der Kameralhöfe (kazennye palaty), so gab es bei der siebten Revision 1815 in 54 europäischen, kaukasischen und sibirischen Gouvernements 1,2 Mio. männliche Personen, die den Stadtgemeinden zugeschrieben waren und deren Rechte genossen. Dies entsprach bei einer Gesamtbevölkerung von 20,9Mio. Seelen einem Anteil von 5,8%. Für 1857 wiesen die Listen des Finanzministeriums 1,8 Mio. Bürger oder 6,4% von 28,9 Mio. Untertanen aus. Wie sich die Entwicklung in den gut vier Jahrzehnten zwischen dem Ende des Krieges gegen Napoleon und dem Regierungsantritt Alexanders II. im einzelnen gestaltete, zeigt Tabelle 27. Mithin wuchs der Anteil der Kaufleute, meäcane und Zunfthandwerker an der gesamten registrierten männlichen Bevölkerung fast ebenso langsam wie in den vorangegangenen Dezennien (vgl. oben Tabelle 13). Selbst unter Berücksichtigung eines größeren Zeitraums bleibt die Zunahme gering. Im Laufe eines ganzen Jahrhunderts (1762-1857) erhöhte sich das relative Gewicht des bürgerlichen Standes trotz vieler Stadtgründungen und erheblicher territorialer Gewinne im Süden und Südwesten um kaum mehr als 3 %. Noch deutlicher tritt die bleibende Vorherrschaft des Dorfes zutage, wenn man die Gebietserweiterung außer Acht läßt und nur die Gouvernements berücksichtigt, die bereits zum späten petrinischen Reich gehörten. Es zeigt sich dann, daß die Zahl der Stadtbewohner im rechtlichen Sinne zwischen der siebten und der zehnten Revision absolut nur um gut die Hälfte und ihr relativer Anteil um nicht einmal ein Prozent stiegen (vgl. Tabelle 28). Auch aufs ganze Jahrhundert zwischen dem Regierungsantritt Katharinas und dem u ) So Kabuzan, Pullat: Obzor S. 152 kritisch gegen Ryndzjunskij, der nur die Revisionsdaten heranzieht.
I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
335
Tabelle 27: Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches 1816-1857 Jahr
7. Revision (1815) 8. Revision (1833) 9. Revision (1850) 10. Revision (1857)
städtische Stände (männl. Seelen)
Zuwachs Bevölkerung in % insgesamt (1719 = 100) (männl. Seelen)
Zuwachs in % (1719 = 100)
% d. städt. Stände zur Gesamtbevölkerung
1208616
523,4
20911493
329,6
5,78
1689976
731,9
25492967
401,8
6,63
1909 519
826,9
27990685
441,1
6,82
1843721
798,5
28935190
456,0
6,37
Quelle: Kabuzan, Izmenenija, Anhang 2.
Tabelle 28: Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches in den Grenzen der von der ersten Revision erfaßten Gebiete 1815-1857 Jahr
7. Revision (1815) 8. Revision (1833) 9. Revision (1850) 10. Revision (1857)
städtische Stände (männl. Seelen)
Zuwachs Bevölkerung Zuwachs in % insgesamt in % (1719 = 100) (männl. (1719 = 100) Seelen)
% d. städt. Stände zur Gesamtbevölkerung
519599
225,0
13353247
210,5
3,89
735829
318,7
16047846
252,9
4,58
850630
368,4
17894806
282,0
4,75
849287
367,8
18775679
295,9
4,52
Quelle: wie Tabelle 27 (vgl. auch oben Tabelle 13 u. 14)
ihres U r e n k e l s A l e x a n d e r II. gesehen, war der Z u w a c h s mit anderthalb Prozent n u r unwesentlich größer. Z u teilweise noch niedrigeren W e r t e n f ü h r e n die polizeilich-administrativen D a t e n (vgl. Tabelle 30). Vor allem bei den ersten E r h e b u n g e n dieser A r t
336
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
ergaben sich beträchtliche Abweichungen. Man wird annehmen müssen, daß ihnen nicht zuletzt methodische Fehler in Gestalt einer Vermischung der alten und der neuen Zählweise zugrunde lagen. 12 Den polizeilichen Nachforschungen zufolge lebten 1811 im europäischen Teil des Zarenreiches nur etwa 1,084 Mio. Bürger beiderlei Geschlechts. Bis 1840 stieg diese Zahl auf etwa 2,272Mio., bis 1858 auf 4,304Mio. und bis 1870 auf 6,010Mio. Klammert man drei Gouvernements (Taurien, Bessarabien und Kurland) aus, für die keine durchgehenden und vergleichbaren Angaben vorliegen, so errechnet sich daraus ein relativer Anteil an der Gesamtzahl aller diesseits des Ural und der kaukasischen Gebiete registrierten bürgerlichen Untertanen von: 1811 2,6 %; 1840 - 4,5 %; 1858 - 7,0 %; 1870 - 8,9 %. Diese Prozentsätze beschreiben aber nur den Gesamtvorgang. Sie fassen aggregierte Zahlenreihen für beinahe fünfzig Gouvernements zusammen und bündeln Abläufe zu einer Durchschnittskurve, die zum Teil erheblich voneinander abwichen. Einige Regionalentwicklungen seien kurz hervorgehoben, zumal erst die Kenntnis der Unterschiede eine genauere Antwort auf die Frage nach den Ursachen und bestimmenden Faktoren der Veränderungen ermöglicht. Daß der Anteil der städtischen Stände im näheren Einzugsgebiet von Moskau und St. Petersburg merklich über dem Landesdurchschnitt lag, versteht sich angesichts der ungewöhnlichen Bedeutung beider Städte von selbst. 1811 belief er sich, wie die Steuerlisten belegen, auf 9,2% gegenüber 4,5 % im europäischen Rußland insgesamt, 1857 auf 13,4 % gegenüber 6,7 % (vgl. Tabelle 29). Aus den Zahlen ist zugleich zu erkennen, daß der Vorsprung im Laufe der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht unerheblich wuchs. Wesentliche Unterschiede zwischen den hauptstädtischen Gouvernements sind dabei nicht festzustellen. Nach wie vor bildeten sowohl die alte als auch die neue Hauptstadt und die sie umgebenden kleineren Städte namentlich für die Kaufleute und meSöane aus dem zentralrussischen Kernland begehrte Zuzugs- und Aufenthaltsorte. Absolut gesehen kam freilich der Region um Moskau als dem traditionellen Mittelpunkt des Binnenhandels und der eingesessenen Industrie immer noch der Vorrang zu. Eine durchaus andere Datenreihe ergibt sich aus den Polizeiquellen. Ihnen zufolge betrug der Anteil der städtischen Stände an der Gesamtbevölkerung in den Gouvernements Moskau und St. Petersburg: 1811 - 5,0 % im Vergleich zu 2,6 % für das europäische Rußland insgesamt; 1840 - 9,4 % im Vergleich zu 4,7 %, 1858 - 9,9 % im Vergleich zu 7,3 %; 1870 - 14,8 % im Vergleich zu 9,2%. Dabei verdient Beachtung, daß die Werte auch für die spätere Zeit, als die neue Erhebungsart schon zuverlässiger war als die hergebrachte, um einiges unter den vorgenannten, auf der fiskalischen Zählweise beruhenden
12
)Vgl. oben S.324 Anm.4.
I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
337
Tabelle 29: Quantitative Entwicklung der städtischen Stände im europäischen Rußland 1811-1857 nach Regionen (Revisionsdaten, Personen männl. Geschlechts) Regionen*
Hauptstadt. Gouvernements II. Zentrales Industriegebiet III. Zentrales Landwirtschaftsgebiet IV.
V. VI.
Norden und Nordwesten Ural Westen und
Südwesten VII. Baltikum VIII. Süden und Südosten europäisches Rußland gesamt russisches Reich gesamt"
1811 (sechste Revision) Bevölkestädtische Stände rung insgesamt (in 1000) N %
1857 (zehnte Revision) Bevölkestädtische Stände rung insgesamt (in 1000) N %
726,8
66569
9,16
970,0
129716
13,37
2 751,3
102785
3,74
3183,2
160560
5,04
6235,7
224536
3,60
8192,9
381884
4,66
1197,9 1098,6
46824 20056
3,91 1,83
1478,8 1922,3
56016 30865
3,79 1,61
4198,5 549,4
251188 38565
5,98 7,02
5327,7 816,7
598300 66746
11,23 8,17
2307,2
106829
4,63
4982,0
364873
7,32
19065,5
857352
4,50
26873,6
1788960
6,66
20232,3
1121747
5,55
28935,2
1843721
6,37
* Gruppierung wie Tabelle 24 ** für 1811 einschließlich der Gouvernements Vyborg, Kaukasus, Tobol'sk, Tomsk und Irkutsk, für 1857 einschließlich der Gouvernements Kaukasus, Tobol'sk, Tomsk und Irkutsk.
Quelle: wie Tabelle 27 und 28
338
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
liegen. Die Ursache ist in der ausgeprägten Differenz der Bezugsgrößen zu suchen. Offenbar erfaßten die Revisionen die bäuerliche Bevölkerung besonders ungenau. Am Verhältnis zwischen Bürgern und sonstigen Untertanen gemessen, war der Abstand zwischen den hauptstädtischen und den sechs Gouvernements des zentralen Industriegebietes beträchlich. Im Durchschnitt belief sich der Anteil von Kaufleuten und meäcane in dieser Region - die fiskalischen Daten zugrunde gelegt - 1811 auf 3,7%; er stieg bis 1857 auf 5,0%. Relativ die meisten registrierten Stadtbewohner gab es in den Gouvernements Kaluga (1857: 8,0%), Jaroslavl' (6,3%) und Tver' (5,3%), mithin in Gebieten, in denen die Textilherstellung und andere Zweige der einfachen, zumeist bäuerlichen gewerblichen Produktion weit verbreitet waren. Die übrigen Gouvernements - Kostroma, Niznij Novgorod und Vladimir - zeigten ein zum Teil deutlich niedrigeres quantitatives Niveau der „bürgerlichen" Entwicklung. Dem entsprach, daß der Zuwachs in der gesamten Region anders als in den hauptstädtischen Gouvernements unter der durchschnittlichen Rate für das europäische Rußland lag. Die prozentualen Anteile der Bürgerschaft im zentralen Industriegebiet, die sich aus den Polizeidaten errechnen lassen, weichen nur noch wenig von den genannten Werten ab. Als plausibler Grund kommt in Betracht, daß die Diskrepanz zwischen den tatsächlich am Ort lebenden und den registrierten Kaufleuten und mescane außerhalb der Metropolen abnahm. So betrugen die Quoten für alle sechs Gouvernements zusammen: 1811 - 3,2 %, 1840 - 4,7 %, 1858 - 5,8 % und 1870 - 6,3 %. Auch diese Quellen weisen für Jaroslavl' (1858: 8,4%), Kaluga (8,5%) und Tver' (5,9 %) eine deutlich höhere Dichte an Angehörigen der städtischen Korporationen aus als für die übrigen Gouvernements. Desgleichen bestätigen sie ein insgesamt unterdurchschnittliches Wachstum. Schon die große Zahl von Siedlungen, die Stadtrecht und -wappen besaßen, deutete darauf hin, daß die Entfaltung des Städtewesens im zentralen Landwirtschaftsgürtel, rein quantitativ gesehen, nicht wesentlich hinter derjenigen der zentralen Gewerberegion zurückstand. Das relative Gewicht der Bürgerschaft bestätigt diesen Befund. Für 1811 ergibt sich aus den Steuerdaten ein Wert von 3,6 %, für 1857 von 4,7 %. Insbesondere ragten die Gouvernements Cernigov (1854: 9,3%), Orel (7,6%), Tula (5,5%) und Tambov (5,1 %) hervor. Deutlich weniger Kaufleute und meäöane fanden sich namentlich in den Gouvernements Voronez (2,3 %) und Penza (2,8%). Der Zuwachs blieb auch in der zentralen Landwirtschaftszone mit kaum mehr als einem Prozent deutlich hinter dem Landesdurchschnitt zurück. Auf der Grundlage der polizeilich-administrativen Erhebungen über den tatsächlichen Bestand an Mitgliedern der Stadtgemeinden ergeben sich für diese Region ganz ähnliche Werte. Der Anteil solcher Personen betrug: 1811 - 2,3 %; 1840 - 3,8 %; 1858 - 4,8 % und 1870 - 5,8 %. Besonders hoch war er ebenfalls in
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den Gouvernements Orel, Tula, Tambov und insbesondere Cernigov, wo fast jeder zehnte Einwohner der Bürgerschaft angehörte. Erstaunlicherweise befanden sich der russische Norden und Nordwesten zu Beginn des Jahrhunderts mit einem Anteil der städtischen Stände von 3,9% ungefähr auf der gleichen Stufe wie das zentrale Industrie- und das zentrale Landwirtschaftsgebiet. Für die meisten Gouvernements, namentlich für Novgorod, Pskov und selbst Archangelsk galt das auch noch fast ein halbes Jahrhundert später (1857: 4,5% bzw. 4,9% und 4,4%). Kaum Bürger und Städte waren dagegen in den weitflächigen und, soweit Landwirtschaft überhaupt betrieben werden konnte, rein agrarischen Gouvernements Olonec und Vologda anzutreffen. Insgesamt belief sich der Anteil zu dieser Zeit nur noch auf 3,8%. Die Polizeidaten bestätigen eine solche rückläufige Tendenz nicht. Sie belegen aber mit Werten von 3,1% (1811), 3,8% (1840), 4,3% (1858) und 4,4 % (1870) ebenfalls, daß der Zuwachs sehr gering blieb. Der Ural wies die geringste Dichte der städtischen Korporationen im gesamten Zarenreich, Sibirien eingeschlossen, auf. Noch gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode betrug sie laut übereinstimmendem Zeugnis der fiskalischen und der polizeilich-administrativen Erhebungen, nur 1,6 bzw. 1,7%. Ein gewisser Wandel trat erst im folgenden Jahrzehnt ein (1870: 2,3 %). In den west- und südwestrussischen Städten herrschten besondere demographische Verhältnisse, die einen Vergleich mit den übrigen Regionen weitgehend ausschließen. Vom Gouvernement Smolensk abgesehen, dokumentieren die Zählungen einen auffallend hohen Anteil von Personen bürgerlichen Standes an der Gesamtbevölkerung: gemäß den Steuerlisten 1811 - 6,0 % und 1857 - 11,2 %, gemäß den Polizeidaten sogar 1858 - 13,1 % und 1870 - 16,9 %. Ursache dieser Erscheinung war die besondere Lage der in dieser Region zusammengedrängten Juden. Mit zunehmender Strenge bemühte sich die zarische Regierung, die unerwünschte religiös-ethnische Minderheit aus der Hinterlassenschaft der zerschlagenen polnischen Adelsrepublik von den Dörfern fernzuhalten und in den Städten zu konzentrieren, wo der weitaus größte Teil ohnehin lebte. 13 Vor allem die „Schtetl" verwandelten sich in fast rein jüdische Ghettos, deren zahlreiche gewerbetreibende Bevölkerung um völlig unzureichende Subsistenzquellen konkurrierte und zumeist bittere Not litt. Das hohe quantitative Gewicht der „Bürgerschaft" war eine bloße Folge antijüdischer Maßnahmen der Autokratie, keinesfalls Ausdruck einer höheren wirtschaftlichen Anziehungskraft der Städte. Eine durchaus bedeutende soziale Gruppe bildeten die Kaufleute und meäüane auch in den baltischen Provinzen (1811 - 7,0% und 1857 - 8,2% gemäß den steuerlichen bzw. 1840 - 7,0%; 1858 - 8,2% und 1870 - 8,7% B
) Vgl. Ryndzjunskij, Gorodskoe graidanstvo S. 298f.
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gemäß den polizeilich-administrativen Erhebungen). In Kurland genossen gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode sogar mehr als zwölf von hundert Einwohner Stadtrechte, mithin fast so viele wie in den hauptstädtischen Gouvernements. Zu einem erheblichen Teil dürfte darin die andersartige historische Entwicklung der baltischen Städte mit ihrer engen Bindung an den deutschen Kulturraum zum Ausdruck kommen. Im Süden und Südosten des Reiches schließlich wuchsen die städtischen Korporationen ähnlich rasch wie die städtische Bevölkerung insgesamt. Die Steuerlisten verzeichneten 1811 für sieben Gouvernements einen durchschnittlichen Anteil der Kaufleute und meäiane von 4 , 6 % , ein halbes Jahrhundert später schon 7,3 %. Besonders viele Bürger gab es in Taurien (1857 - 11,1 %), Cherson (14,9%) und im neu erworbenen, ebenfalls stark jüdisch geprägten Bessarabien (17,9%). Noch höhere Werte errechnen sich aus den polizeilichen Zählungen: 1840 für alle Gouvernements im Durchschnitt 4,9 %, 1858 7 , 8 % und 1870 10,5%. In Südrussland stand diese ungewöhnliche Entwicklung in engem Zusammenhang mit dem starken Aufschwung des Schwarzmeerhandels. Sichtbares Zeichen war der Aufstieg Odessas (Gouvernement Cherson) zum bedeutendsten Exporthafen nach St. Petersburg. 14 Begünstigt nicht zuletzt durch Sonderregelungen und staatliche Förderung zogen die aufblühenden Küstenstädte zahlreiche Zuwanderer an. Südrußland wurde in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zum bevorzugten Gebiet der inneren Kolonisation. Sie gab auch dem demographischen Wachstum der städtischen Stände einen spürbaren Impuls. Die Frage drängt sich auf, ob Faktoren dingfest zu machen sind, die auf die skizzierte quantitative Entwicklung der städtischen Stände sowie der städtischen Einwohnerschaft insgesamt eingewirkt haben könnten und zu ihrer Erklärung beitragen. Aus Mangel an geeigneten Quellen müssen die Antworten spekulativ bleiben. So ist es schon unmöglich, den natürlichen demographischen Zuwachs der städtischen Bevölkerung zu bestimmen und festzustellen, welcher Anteil des Zugewinns auf regionale Mobilität zurückzuführen war. Immerhin spricht aber die Tatsache, daß das städtische Wachstum das der Gesamtbevölkerung fast durchweg beträchtlich übertraf, für eine ausschlaggebende Bedeutung der Wanderungsbewegungen und des externen Zuzugs. Was die bürgerlichen Korporationen im rechtlichen Sinne anging, dürfte dabei die erwähnte gesetzliche Neuregelung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land eine entscheidende Rolle gespielt haben. Auch wenn
14 ) Vgl. grundlegend: Druiinina, Juznaja Ukraina 1800-1825, bes. S.332ff; dies., JuZnaja Ukraina 1825-1860 S. 12ff, 94ff. Informative Quellen: Odessa 1794-1894, bes. S. 145ff; Skal'kovskij, Istoriiesko-statistiöeskij opyt; Auszug daraus in: ¿ M V D 18396. 33 S. 290-313. S. auch: Herlihy, Odessa; Puryear, Odessa.
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Adelsbauern von den Erleichterungen für den Übertritt in die Stadtgemeinde ausgeschlossen blieben, reichte die Zahl der möglichen Nutznießer bei weitem aus, um eine Vermehrung des städtischen Standes hervorzurufen. Hinzu kam die wachsende Zahl von freigelassenen Leibeigenen. Von beidem profitierte, so darf man annehmen, auch außerhalb der großen Städte insbesondere das mesöanstvo. Noch schwieriger ist es, einen Zusammenhang zwischen den demographischen Veränderungen in den Städten mit all ihren ständischen und regionalen Unterschieden und der wirtschaftlichen Entwicklung herzustellen. Schuld daran tragen nicht zuletzt die Spärlichkeit und Unvollständigkeit der Informationen über den Binnenhandel, insbesondere den städtischen, und die Entfaltung des inneren Marktes. 15 Wenig ist über den Umfang der kaufmännischen Geschäfte in Erfahrung zu bringen, und unbekannt bleibt, von einigen größeren Städten abgesehen, sogar, wie viele Personen im Bereich des Handels tätig waren. So stehen als Quelle für Aussagen über die langfristige Entwicklung des Binnenhandels letztlich nur die Angaben über die Zahl der Märkte und die Umsätze zur Verfügung, die auf den wichtigsten von ihnen erzielt wurden. 16 Auf dieser Grundlage hat man nachzuweisen versucht, daß sich die Handelstätigkeit in Rußland während der knapp fünf Jahrzehnte zwischen dem Krieg gegen Napoleon und der Aufhebung der Leibeigenschaft, mit Ausnahme einer Depressionsphase Ende der vierziger Jahre, kontinuierlich ausweitete. Ob und in welchem Maße die Städte davon berührt wurden, bleibt aber ungeklärt. Diese Frage läßt sich nur an Einzelbeispielen und zumeist auch nicht im diachronischen Vergleich prüfen. In gewisser Hinsicht ist deshalb die Zahl der erklärten Kaufmannsvermögen (vgl. Tabelle 32) und der Kaufmannschaft selbst ein zuverlässigerer Indikator. Beide Datenreihen deuten ebenfalls auf ein nicht unerhebliches Wachstum der Handelstätigkeit hin, das parallel verlief zu einer zwar langsamen, aber doch sichtbaren Vermehrung der städtischen Stände und der städtischen Bevölkerung insgesamt. Dennoch bleiben Zweifel an der kausalen Verknüpfung dieser Vorgänge. Zumindest gilt sie nicht für alle Regionen in gleichem Maße. Daß die vergleichsweise hohen Zuwachsraten der erklärten Kapitale in den hauptstädtischen Gouvernements und in Südrußland mit einer Ausweitung des Handels 15 ) Vgl. diese Feststellung schon bei Chromov, Ékonomiieskoe razvitie S. 86. Eine gründliche Untersuchung haben seitdem lediglich die Preisbewegungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und die Entstehung eines „gesamtrussischen Agrarmarktes" erfahren. Vgl. Koval'ienko, Milov: Vserossijskij agramyj rynok. 16 ) Darauf basieren die Ausführungen bei Chromov, Ekonomiieskoe razvitie S. 90ff und Roikova, K voprosu, hier bes. S.301, sowie dies, in: Oierki èkonomiieskoj istorii Rossii S. 246ff. Einen Überblick über die Märkte gibt: Kerblay, Foires commerciales. Interessante Daten s. auch bei: de Buschen/ A. BuSen, Mitglied der statistischen Abteilung des MVD/, Aperçu statistique S.235ff.
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zusammenhängen, ist wahrscheinlich. Daß letztere aber auch im Westen und Südosten des Reiches eine bedeutende Rolle spielte, widerspricht dem, was ansonsten über die wirtschaftliche Bedeutung der Städte in diesen Regionen bekannt ist. Hier dürften eher allgemeine demographische Faktoren in Anschlag zu bringen sein. Vieles spricht schließlich dafür, daß der wichtigste wirtschaftliche Strukturwandel in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der Aufschwung der Textil-, vor allem der Baumwollindustrie im Großraum Moskau, in noch geringerem Maße auf die Städte eingewirkt hat. Dieser Prozeß war eine Angelegenheit des Dorfes. Der allergrößte Teil der Erzeugnisse wurde von den Bauern in Heimarbeit hergestellt. Selbst die Fabriken, ohnehin nur die Spitze des Eisbergs, befanden sich zumeist auf dem Lande. Industrie und Stadt waren auch um die Jahrhundertmitte noch keine enge Symbiose eingegangen. So bleibt festzuhalten, daß ein Bedingungszusammenhang zwischen der wirtschaftlichen und der demographischen Entwicklung in den Städten, die bürgerlichen Korporationen eingeschlossen, nur für einige Regionen und überwiegend in bezug auf den Handel als wahrscheinlich unterstellt werden kann. Darüber hinaus wird es schwerfallen, eine Korrelation auch nur plausibel zu machen, geschweige denn zu belegen. 17 Zahlreiche andere, noch weniger meß- und nachweisbare Faktoren, etwa der Abbau der Ständeschranken, der natürliche Bevölkerungszuwachs, staatliche Hilfen für bestimmte Gebiete, der Zustand der Landwirtschaft, allgemeine klimatischgeographische Gegebenheiten sowie historische Voraussetzungen wären in gleicher Weise zu berücksichtigen. Eine wichtige Ergänzung zu diesen Gesamtdaten über die quantitative Entwicklung der Bürgerschaft bildet die Aufschlüsselung nach Korporationen (vgl. Tabelle30 und 31). Sie vermittelt ein ungefähres Bild von der sozialen Struktur, die anders als in Gestalt der ständisch-rechtlichen Gliederung kaum erkennbar und statistisch nicht zu erfassen ist. Grundlegende Bedeutung kommt dabei dem Verhältnis zwischen Kaufleuten und meäöane zu. Beide Gruppen werden noch genauer zu beschreiben sein. Es ist aber bereits hinreichend klar geworden, daß sich der untere städtische Stand vielerorts weniger aus kleinen Handwerkern und Händlern zusammensetzte, die auskömmlich, wenn auch bescheiden, oberhalb der Armutsgrenze lebten. Oft genug stellten vielmehr Personen die Mehrheit, die angemessener als Pöbel oder Pauper zu bezeichnen waren. Bestenfalls die Kaufmannschaft konnte als wirtschaftlich halbwegs konsolidierte Schicht gelten. Vor diesem Hintergrund wird der Anteil der Kaufleute an den Stadtbewohnern im rechtlichen Sinne 17 ) Dies ist meines Erachtens grundsätzlich gegen Fedor, Patterns S. 54ff einzuwenden, der einen solchen Versuch in notgedrungen sehr allgemeiner und methodisch wenig überzeugender Weise unternimmt.
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und an der Gesamtbevölkerung zu einem aufschlußreichen Indikator für die wirtschaftliche und soziale Verfassung der Städte. Den Steuerlisten ist zu entnehmen, daß sich das relative Gewicht der Kaufmannschaft innerhalb des bürgerlichen Standes, auf alle europäischen Gouvernements des Zarenreichs bezogen, wie folgt veränderte: 1811 - 15,8 % (vgl. oben Tabelle 15); 1827 - 6 , 1 % ; 1854 - 9 , 3 % . Zu ähnlichen Werten führen die Polizeidaten: 1811 - 17,6%; 1840 - 9 , 4 % ; 1858 - 9 , 9 % ; 1870 7,8 %. Aufs Ganze gesehen stellten die Kaufleute um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts somit kaum ein Zehntel aller Stadtbewohner im rechtlichen Sinne. Wenn man darüber hinaus bedenkt, daß sich auch zahlreiche einfache meäcane, welche die erforderlichen Steuern auf Dauer nicht aufbringen konnten, unter größten finanziellen Opfern und häufig mit geliehenem Geld vorübergehend in die Gilden einschrieben, um ihre Kinder vor dem Wehrdienst zu retten, wird vollends offenbar, wie dünn die Schicht einigermaßen gut situierter Bürger immer noch war. Die Kaufmannschaft, so lassen die genannten Zahlen vermuten, erholte sich nur langsam von der tiefen Krise des Jahrhundertbeginns. Trotz eines allmählichen Aufschwungs seit den dreißiger Jahren blieb ihr Anteil selbst 1858 unter der Marge, die vor dem Napoleonischen Krieg erreicht war. Ein Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis zwischen dem Kaufmannsstand und der gesamten bzw. der gesamten steuerpflichtigen Bevölkerung bestätigt diese Auffassung. Den Erhebungen der Finanzbehörden zufolge verbesserte es sich 1827-1854 geringfügig von 0 , 4 % auf 0 , 7 % und übertraf damit nur knapp den Wert für 1811 (0,6%). Aus den Polizeistatistiken ergibt sich eine ähnliche Kurve: 1811 - 0 , 5 % ; 1840 - 0 , 4 % ; 1858 - 0 , 7 % ; 1870 - 0 , 7 % . Anders gesagt: gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode kamen im europäischen Rußland durchschnittlich gerade sieben Kaufleute (im rechtlichen Sinne) auf tausend Einwohner, einer mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor. Es darf als wahrscheinlich gelten, daß diese geringe Dichte, wie die Regierung und zeitgenössische Ökonomen mehrfach anmerkten, zur Versorgung der Städte mit Lebensmitteln und anderen Waren nicht ausreichte. Für bäuerliche Händler eröffnete sich nach wie vor ein breites Betätigungsfeld. Ebenso eindrücklich wie die numerische Schwäche der Kaufmannschaft belegen die genannten Daten auf der anderen Seite, daß die überwältigende Mehrheit der Stadtbürger dem meäianstvo angehörte. Laut Steuerlisten betrug der Anteil 1811 - 84,2%; 1827 - 93,9%; 1854 - 90,7%; laut Polizeiquellen: 1811 - 82,4%; 1840 - 90,6%; 1858 - 90,1 %; 1870 - 92,2%. Entsprechend höher war auch das Gewicht des unteren städtischen Standes innerhalb der Gesamt- bzw. der gesamten steuerpflichtigen Bevölkerung. Auf 100 Steuerseelen entfielen 1811 - 3,4; 1827 - 5,5; 1854 - 6,7 „Kleinbürger"; auf 100 Einwohner beiderlei Geschlechts 1811 - 2,1; 1840 - 4,2; 1858 - 6,5; 1870 - 8,5. Fiskalische und polizeiliche Erhebungen weichen hier erneut nicht
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unerheblich voneinander ab. Die ungefähre Größenordnung und die Entwicklungstendenz stehen jedoch außer Zweifel. Es verdient festgehalten zu werden, daß das mescanstvo, auf den gesamten Zeitraum gesehen, ein stärkeres Wachstum durchlief als die Kaufmannschaft. Das galt insbesondere für das Jahrzehnt nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, da der Übertritt für viele Bauern trotz mancher weiterhin bestehender Hindernisse doch deutlich erleichtert worden war. Der quantitative Zugewinn der Bürgerschaft vermehrte vor allem die städtische Unterschicht und die ohnehin zahlreichen Pauper, nicht die annähernd wohlhabenden Händler und Handwerker. Freilich sind auch im Verhältnis zwischen Kaufmannschaft und meSöanstvo erhebliche regionale Unterschiede zu beachten. Insbesondere ist darauf zu verweisen, daß sich das relative Gewicht der Kaufleute innerhalb des städtischen Standes anders verteilte als das aller Stadtbewohner im rechtlichen Sinne bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Die Korrelation zwischen beiden war vergleichsweise lose. Wo sich viele Kaufleute sammelten, fand sich nicht unbedingt ein hoher Anteil von meScane und umgekehrt. Ebenso lassen die Wachstumsraten vermuten, daß sich die regionale Mobilität der Kaufleute nicht in gleichem Maße auf die Städte richtete, in die es die meäöane zog. Aufs Ganze gesehen zeigt der Anteil der Kaufmannschaft an den städtischen Ständen einen erheblich engeren Zusammenhang mit dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung. So ergibt sich nicht nur für die Gouvernements Moskau und St. Petersburg erwartungsgemäß ein hoher Prozentsatz von Kaufleuten (laut Steuerdaten 1827 - 19,1%; 1854 - 20,8 % ; laut Polizeidaten: 1840 - 16,6 % ; 1858 - 18,2 % ; 1870 - 15,7 % ) . Auch im zentralen Industriegebiet war eine Quote zu verzeichnen (1827 - 11,4 % ; 1854 - 15,3 % bzw. 1840 12,4 % ; 1858 - 14,8 % ; 1870 - 11,8 % ) , die in keiner anderen Region erreicht wurde. Vor allem das Gouvernement Vladimir, bekannt für seine Textilindustrie, ragte hervor; hier wurden sogar relativ mehr Kaufleute als im Gouvernement Moskau registriert. Mit geringem Abstand folgte der zentrale Landwirtschaftsgürtel (1827 - 9,5 % ; 1854 - 13,2 % ; 1840 - 12,9 % ; 1858 - 13,4 % ; 1870 - 1 0 , 7 % ) , wobei die gewerblich weiter entwickelten Gouvernements Rjazan' und Tula auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnahmen. Außerordentlich wenig Kaufleute gab es aus den erwähnten Gründen in den west- und südwestrussischen Städten (1854 - 4 , 3 % ; 1858 - 4 , 9 % ) sowie bemerkenswerterweise in den baltischen Ländern (1854 - 6 , 5 % ; 1858 6,1 % ) . Mehr Gildenangehörige als die geringe Repräsentanz des städtischen Standes insgesamt erwarten ließe, waren dagegen in Nordrußland (1840 1 1 , 1 % ; 1858 - 1 1 , 9 % ) und im Ural (1854 - 1 1 , 1 % ; 1858 - 1 3 , 0 % ) anzutreffen. Hervorzuheben ist schließlich, daß auch der Anteil von Kaufleuten in den südlichen Gouvernements kaum über dem Durchschnitt lag. Der starke allgemeine demographische Zuwachs schlug sich offenbar nicht in der Konsolidierung einer mittelständisch-bürgerlichen Schicht nieder. Anderes
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etwa 331500 städtische Handwerker gab 29 , davon rund 116000 Meister ( = 3 5 , 2 % ) , 135400 Gesellen (40,8%) und 79500 Lehrlinge (24,0%). Dies entsprach einem Anteil von 0,6 % an der Gesamtbevölkerung, von 5,9 % an der städtischen Einwohnerschaft aller Stände und von 7,7 % am Bürgertum im rechtlichen Sinne. Im einzelnen ist eine durchaus andere regionale Verteilung festzustellen als auf der Grundlage der ständischen Daten. Sie verschiebt sich insbesondere zugunsten der hauptstädtischen Gouvernements, in denen 83000 Handwerker, davon knapp 45000 in und um Moskau, gezählt wurden. Auf 100 Stadtbewohner entfielen demzufolge im Gouvernement St. Petersburg 6,4, im Gouvernement Moskau 9,9 und in beiden zusammen 7,7 Angehörige dieser Berufsgruppe. Der Prozentsatz erhöht sich noch auf ungefähr das Doppelte, wenn man die weiblichen Personen aus der Bezugsgröße ausklammert, da unter den Handwerkern wohl kaum Frauen und Mädchen zu finden waren. Auch die gewerbliche Bedeutung der Städte des zentralen Industriegebietes erscheint in einem günstigeren Licht. Die Kommissionsangaben zugrunde gelegt, ging in den Gouvernements Vladimir, Tver', Kostroma und Niinij Novgorod jeder zehnte dauerhaft in der Stadt Ansässige einer handwerklichen Beschäftigung nach. Auf die Region insgesamt bezogen waren es 7,7, mithin ebenso viele wie in den hauptstädtischen Gouvernements. 30 Das zentrale Landwirtschaftsgebiet stand demgegenüber auch nach dieser Zählweise zurück. Der Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung erreichte hier den Landesdurchschnitt nicht. Gleiches galt für die nördlichen und die südund südwestlichen Gouvernements. Beachtung verdient, daß nur in der letztgenannten Region sowie in den baltischen Provinzen absolut weniger Handwerker registriert wurden als Angehörige des Handwerkerstandes beiderlei Geschlechts. Die Abweichung hebt sich auf, wenn man auf einen Handwerker im beruflichen Sinne zwei bis drei Familienangehörige rechnet. Obgleich sicher auch solche Personen handwerklichen Standes zu berücksichtigen sind, die einer anderen Tätigkeit nachgingen, legt dieses arithmetische Verhältnis den Schluß nahe, daß sich unter den „wirklichen" Handwerkern vergleichsweise wenig Bauern und sonstige Nichtzünftige befanden: Stand und beruflich-soziale Schicht fielen in diesen spät eroberten Randzonen aufgrund der andersartigen historischen Wurzeln und besonderer ethnischer Verhältnisse weitgehend in eins. In den übrigen europäischen Gebieten des Zarenreiches dagegen, so ist aus der
29 ) T?goborski, der als hoher Beamter im Finanzministerium möglicherweise Zugang zu anderen Daten hatte, schätzte die Zahl der städtischen Handwerker auf etwa 400000 (vgl. Paiitnov, Problema S. 112; T^goborski, Etudes Bd. 1 S. 139ff). 30 ) Anzumerken ist freilich, daß die erwähnte Enquete über den wirtschaftlichen Zustand der Städte, wie Stichproben nahelegen, im großen und ganzen niedrigere Prozentsätze auswies. Vgl. ES pass.
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Diskrepanz zwischen den beiden Zahlenreihen umgekehrt ebenso zu folgern, konnte die Inkongruenz nicht überwunden werden. Die vom Staat oktroyierten Einrichtungen schlugen kaum Wurzeln. Das Handwerk blieb eine Beschäftigung vor allem des Dorfes. „Unsere Handwerksordnung", so faßte die erwähnte Expertenkommission ihre einschlägigen Recherchen zusammen, „die nicht aus dem russischen Leben entstand, sondern . . . aus Deutschland importiert wurde, konnte und kann keinen wohltuenden Einfluß auf die Entwicklung des handwerklichen Lebens in unseren Städten ausüben." 31 Was an der Mitgliederstruktur der Zünfte, insbesondere an der Trennung zwischen permanent und temporär Eingeschriebenen sichtbar wird, verweist auf eine allgemeinere Erscheinung: das Bürgertum im rechtlichen Sinne war bei weitem nicht identisch mit der städtischen Einwohnerschaft. Wie groß diese Kluft war, welche anderen - ebenfalls nur in rechtlichen Kategorien greifbaren 32 - Gruppen in den Städten lebten und welches Gewicht den eigentlichen Bürgern zukam, soll abschließend anhand der ersten polizeilichen Erhebungen von 1811 und der Zählung von 1858 beleuchtet werden. Dabei erlauben die Proportionen zwischen den einzelnen Ständen nicht zuletzt auch Rückschlüsse auf den allgemeinen Charakter und die soziale wie die wirtschaftliche Bedeutung der Städte. Selbst wenn man eine großzügig bemessene Fehlermarge einräumt, dürfte außer Zweifel stehen, daß die städtischen Stände schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts weniger als die Hälfte aller im europäischen Rußland registrierten Stadtbewohner stellten. Auf die Kaufleute entfielen dabei 8,0 %, auf die meäöane 37,7 % (vgl. Tabelle 36). Die restlichen gut 54 % teilten sich der Adel (4,5%), die Geistlichkeit (2,1%), Militärpersonen 33 meist entlassene Soldaten und Invaliden - (8,0%), Kanzleibedienstete (8,0%) und „übrige Ränge" (33,0%). Gerade die letztgenannte Kategorie ist von großem Interesse. Welche Korporationen und Schichten sie im einzelnen umfaßt, ist nicht näher in Erfahrung zu bringen. Man darf jedoch davon ausgehen, daß der überwiegende Teil der darunter subsumierten Personen im ständischen Sinne zur Bauernschaft rechnete.
31
) Vgl. Trudy komissii dlja ustavov fabriinogo i remeslennogo Bd. 2 S. 176. ) Die ersten Erhebungen über die berufliche Struktur und andere soziale Merkmale der städtischen Bevölkerung wurden gegen Ende der sechziger Jahre in St. Petersburg und Moskau durchgeführt. Vgl. Sanktpeterburg po perepisi 1869 g.; Statistiieskie svedenija o ziteljach goroda Moskvy. Eine Übersicht über diese bisher noch kaum ausgewerteten und schwer zugänglichen Quellen gibt: Gozulov, Mestnye perepisi. 33 ) Bauern und meäiane, die zum Wehrdienst eingezogen wurden, schieden wie erwähnt, aus ihrem Stand aus. Die gemeinen Soldaten bildeten deshalb - anders als die Offiziere, die zum Adel zählten - samt ihren Angehörigen und Nachkommen eine eigene rechtliche Korporation. Vgl. dazu Kimerling, Soldiers' Children. 32
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Die regionalen Unterschiede waren beträchtlich. Besonders geringe Bedeutung kam, rein quantitativ gesehen, der Kaufmannschaft und dem meäöanstvo in den hauptstädtischen Gouvernements und in den Hauptstädten selbst zu. In St. Petersburg erreichte ihr Anteil 1811 nur 2,4% bzw. 7,3%, insgesamt also nicht einmal 10 %, in Moskau immerhin noch 6,9 % und 6,6 %, zusammen 13,5% (vgl. Tabelle 37 und 38). Um so mehr fielen andere Gruppen ins Gewicht: in der neuen Residenz vor allem die Bauern einschließlich des adeligen Gesindes (34,5 %), die raznoöincy - zu denen insbesondere Kanzleiangestellte zählten - (22,3%), die gemeinen Soldaten (16,2%) und nicht zuletzt der Adel (7,7%); in der alten Zarenstadt in noch stärkerem Maße die Bauern (61,1 %), weit weniger die raznoöincy und Kanzleiangestellten (4,0%), das Militär (7,0%) und der Adel (6,3%). Die Daten verweisen darauf, daß St. Petersburg zu dieser Zeit noch vornehmlich ein Verwaltungszentrum war, während Moskau eher, wie die wesentlich höhere Zahl von Kaufleuten einerseits und des bäuerlichen „Pöbels" andererseits anzeigt, durch seine Funktion als Mittelpunkt von Handel und Industrie geprägt wurde. Beiden Metropolen war gemeinsam, daß sie Schmelztiegel für die verschiedensten Stände und sozialen Schichten bildeten, unter denen die Stadtbürger im rechtlichen Sinne nur eine verschwindende Minderheit ausmachten. Umgekehrte Verhältnisse herrschten in den Gouvernements des zentralen Industriegebiets. Die städtischen Korporationen stellten hier die meisten Stadtbewohner, im Durchschnitt gut 67%, in Kaluga sogar fast 76%. Der Anteil der „übrigen Ränge" (18%) lag erheblich unter dem Niveau anderer Regionen; Angehörige des geistlichen Standes, Soldaten und Kanzleibedienstete gab es wenig, und nur jeder Fünfzigste trug einen Adelstitel. Nicht zuletzt diese mangelnde Repräsentanz des Adels wurde, wie erwähnt, häufig für die wirtschaftliche und kulturelle Unterentwicklung der Städte verantwortlich gemacht. Eine ähnlich dominante Position kam der Kaufmannschaft und dem mesöanstvo im Norden und Nordwesten, im Ural und im Westen und Südwesten zu. In den süd- und südöstlichen Gouvernements sowie in der zentralen Landwirtschaftszone dagegen machte ihnen die Kategorie der Übrigen den Rang streitig. Was die letztgenannte Region anbetrifft, so darf man darin ein Indiz für den agrarischen Charakter der Städte sehen. Die „Statistischen Tafeln" von 1858 gliedern die Stadtbewohner zum Teil in andere Rubriken. Das erschwert einen direkten Vergleich. Als eigene Kategorie tauchen die Bauern auf; dafür werden die Kanzleibediensteten nicht mehr gesondert aufgeführt. Es ist zu vermuten, daß sie in der nun kleineren Gruppe der „verschiedenen Ränge" berücksichtigt wurden. Blickt man auf das europäische Rußland insgesamt, so fällt der deutlich höhere Anteil der städtischen Stände auf. Anders als zu Beginn des Jahrhunderts repräsentierten die Kaufleute und meSöane nun über die Hälfte der Stadtbe-
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
Ständen und Korporationen in den nördlichen und nordwestlichen, den baltischen, den südlichen und südöstlichen Gouvernements sowie im Ural verteilt. Lediglich in den Städten des russischen Westens und Südwestens waren andere Verhältnisse anzutreffen. Aus den erwähnten Gründen gehörten hier überaus viele Stadtbewohner der Bürgerschaft im rechtlichen Sinne an (74,5%). Hinzuweisen ist schließlich auf einen allgemeinen großen- und funktionsabhängigen Unterschied in der städtischen Stände- und Sozialstruktur. Als Regel darf unterstellt werden, daß in den Gouvernementsstädten ein höherer Anteil des Adels, der Bauernschaft und zum Teil der Soldaten zu verzeichnen war als in den kleineren Kreis- und Beistädten. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand; sie ergibt sich vor allem aus der administrativen und militärischen Funktion der ersteren. Umgekehrt kam in den Kreisstädten der Kaufmannschaft und dem meäianstvo ein größeres Gewicht zu. Stichproben zeigen für die Kaufmannschaft: 24,8 % in Aleksin, 19,5 % in Bogorodick (beide Gouvernement Tula), 17,7% in L'gov, 34,4% in Obojan (beide Gouvernement Kursk); für das meäcanstvo: 66,6% in Ves'egonsk (Gouvernement Tver'), 70,9 % in Bogorodick, 85,0 % in Novozybkov (Gouvernement Cernigov). 39 Je kleiner und unbedeutender eine Stadt war, so darf man solchen Daten entnehmen, desto weniger Angehörige anderer Stände zog sie an, weil es keine Erwerbsquellen oder sonstige Vorteile gab, die eine Attraktivität hätten begründen können. Oft genug reichten die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bürger selbst nicht aus. Vor diesem Hintergrund erscheint die Steigerung des Anteils von Kaufleuten und mesöane an der gesamten städtischen Einwohnerschaft zwischen 1811 und 1858 keineswegs, wie man vermuten möchte, als Indiz wachsender Prosperität, sondern umgekehrt als Symptom andauernder wirtschaftlicher Unterentwicklung. 40 Auch wenn die vorliegenden quantitativen Daten manche Ungenauigkeiten enthalten und erst seit der Jahrhundertmitte strengeren Maßstäben genügten, steht außer Frage, daß sie die Grundlinien der städtischen Bevölkerungsstruktur und -entwicklung zutreffend wiedergeben. Zusammenfassend lassen diese sich wie folgt kennzeichnen: (1) Die Zahl der Städte im Zarenreich war im Vergleich zur Ausdehnung des Territoriums sehr gering und der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung niedrig. Kleinstädte und Marktflecken mit eher dörfli-
39
) Vgl. ES Nr. 40 S. 12; Nr. 41 S.8f u. 12; Nr. 18 S. 17 u. 21; Nr. 40 S. 10; Nr. 44 S. 25. 40 ) Vgl. diese Deutung schon in der sehr informativen Auswertung der Enquete über den wirtschaftlichen Zustand der Städte von Selgunov, Ekonomiieskoe znaöenie S. 96f.
I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
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chem Charakter überwogen bei weitem. Aus ihrer Masse ragten einige wenige einwohnerreiche Städte hervor, die einen erheblichen Prozentsatz der gesamten städtischen Bevölkerung in ihren Grenzen vereinigten. Insbesondere konzentrierte diese sich in den beiden Metropolen St. Petersburg und Moskau sowie in zunehmendem Maße in den aufstrebenden Hafenstädten an der Schwarzmeerküste. Auch die höchsten Wachstumsraten waren hier zu verzeichnen. Daneben konnten die Städte West- und Südwest- sowie Südostrußlands und des Ural überdurchschnittliche Zugewinne verbuchen. (2) Die städtischen Stände im rechtlichen Sinne, d. h. die Kaufmannschaft, das meSöanstvo und die Zünfte, blieben trotz eines steten Wachstums in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufs Ganze gesehen eine unbedeutende Gruppe der zarischen Untertanen. Gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode gehörten ihr gerade sieben von hundert Einwohnern an. Doch gab es beträchtliche regionale Unterschiede. Über dem Durchschnitt lag der Anteil der mescane und Kaufleute in den hauptstädtischen Gouvernements, in Weiß- und Südwestrußland, in den baltischen Ländern und in Süd- und Südostrußland, unter diesem Wert im zentralen Industrie- und Landwirtschaftsgebiet, im Norden und Nordwesten sowie im Ural. Wie für die Bevölkerung insgesamt galt auch für die städtischen Stände, daß eine deutliche Gewichtsverlagerung aus den Kernzonen in die südlichen Randgebiete stattfand. (3) Von Anfang an bildeten die Angehörigen der bürgerlichen Korporationen nur einen Teil der gesamten städtischen Bevölkerung (1858 etwa 5 5 % ) . Außer ihnen lebten Adelige, Mitglieder des geistlichen und des Soldatenstandes, „Leute verschiedener Ränge" (raznocincy) - darunter viele Kanzleibedienstete - und vor allem Bauern auf Dauer in den Städten. Das proportionale Gewicht dieser Gruppen war regional und je nach Größe und Charakter der Orte sehr unterschiedlich. Als Regel läßt sich beobachten, daß der Anteil der Bauern mit der kommerziell-industriellen und administrativen Bedeutung erheblich zunahm. Umgekehrt kam den Kaufleuten und meäöane in den kleinen, wirtschaftlich rückständigen Städten ein besonders großes Gewicht zu. Bürger und Stadtbewohner waren dort am ehesten identisch, wo es keine ökonomischen, sozialen oder kulturellen Vorteile gab, die Angehörige anderer Stände hätten anziehen können. Es muß problematisch und spekulativ bleiben, die ständische Gliederung in eine soziale Schichtung zu übersetzen. Dennoch sind, weil sich zwischen ständischer und sozialer Lage eine breite Kluft auftat, derartige Versuche immer wieder unternommen worden. Auf der Grundlage der genannten Daten erscheint folgende Struktur plausibel. Die Oberschicht, bestehend aus dem Adel und den beiden ersten Gilden, umfaßte knapp 6 % der städtischen Bevölkerung. Wenn man die dritte Gilde als „geringe Mittelschicht" betrachtet und ihr einige Angehörige der raznocincy zuschlägt, ergibt sich ebenfalls
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
ein Anteil von etwa 6 % . Es blieb eine große Mehrheit (88%) von Stadtbewohnern, die der zumeist sehr armen Unterschicht zuzurechnen war. 41 (4) Innerhalb der städtischen Stände stellte die Kaufmannschaft eine schmale Minderheit dar. Nur einer von zehn Bürgern war vermögend genug, um in eine Gilde eintreten zu können. Die große Masse gehörte dem meSöanstvo an, das von den meisten zeitgenössischen Beobachtern seiner sozialen Gestalt und seinen Lebensverhältnissen nach nicht als materiell halbwegs gesicherte untere Mittelschicht, sondern größtenteils als „Pöbel" bezeichnet wurde. Anzumerken ist, daß sich die Kaufmannschaft regional anders verteilte als das meäüanstvo und die Stadtbevölkerung insgesamt. Sie konzentrierte sich vor allem in den hauptstädtischen Gouvernements sowie im zentralen Industrie- und Landwirtschaftsgebiet. Überdies wuchs sie aufs Ganze gesehen langsamer als die untere Korporation und erholte sich nur allmählich von der Krise der beiden ersten Dekaden des Jahrhunderts. (5) Auch in der Kaufmannschaft selbst war ein ausgeprägtes Ungleichgewicht und eine deutliche soziale Schichtung zu beobachten. Dabei verlief die Trennlinie - wie schon im achtzehnten Jahrhundert - zwischen den beiden oberen und der dritten Gilde, der durchschnittlich mehr als 90% der Kaufleute angehörten. Überdies zeigte dieser Anteil eine steigende Tendenz, während die Zahl der reichen Kaufleute relativ abnahm. Wenn man berücksichtigt, daß ein steter Austausch zwischen der dritten Gilde und dem meSöanstvo stattfand und beide Korporationen sozial aufs engste miteinander verbunden waren, dann wird erneut sichtbar, daß es in den russischen Städten immer noch keinen „mittleren Stand" im sozialen Sinne gab. (6) Das zünftig organisierte Handwerk vermochte weiterhin keine Wurzeln zu schlagen. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zählte man kaum sieben Zunftmitglieder auf hundert Stadtbewohner im rechtlichen Sinne und kaum acht Handwerker auf hundert Stadtbewohner insgesamt. Eine nennenswerte quantitative Bedeutung erreichten die Zünfte nur in den
41 ) Einen noch geringeren Anteil von „ungefähr 2 - 3 % " veranschlagte Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 2 S. 334f „für die Adeligen und die höheren Vertreter des kommerziellgewerblichen Standes"; auf 60% schätzte er das durchschnittliche relative Gewicht der Angehörigen des geistlichen Standes, der mediane, der Beamten und der Kaufleute der dritten Gilde; für die „Handwerker, Fabrikarbeiter und Tagelöhner" blieben knapp 38%. - Zum Vergleich mit westeuropäischen Verhältnissen, falls ein solcher überhaupt möglich ist, sei angemerkt, daß der Anteil der „wirtschaftlich schwächeren Schichten" einschließlich der unteren Steuerklassen der Mittelschicht in den deutschen Städten der frühen Neuzeit zu gewöhnlichen Zeiten bei etwa 50 % lag (vgl. zusammenfassend: Bosl, Weis: Gesellschaft Bd. 1 S. 173). In den größeren französischen Städten des achtzehnten Jahrhunderts stellten die „kleinen Leute" (menu peuple) etwa 39 % (Lyon) bis 53,3 % (Paris) der gesamten Stadtbewohner (vgl. Histoire de la France urbaine Bd. 3 S. 423ff).
I. Entwicklung und Struktur: einige statistische Daten
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baltischen, den west- und südwestrussischen, einigen ukrainischen und den hauptstädtischen Gouvernements. Auch dieser Tatbestand erlaubt freilich mit Ausnahme der baltischen Provinzen - keine Rückschlüsse auf das Entwicklungsniveau des Handwerks, da eine erhebliche und wachsende Zahl von Zunftangehörigen standesfremden Beschäftigungen nachging und im sozialen Sinn ebenfalls als „Pöbel" zu bezeichnen war.
II.
WIRTSCHAFTLICHE TÄTIGKEIT UND SOZIALE GESTALT: EIN ÜBERBLICK
Die vorstehenden statistischen Daten haben einen ungefähren Eindruck von der quantitativen Entwicklung und der ständisch-korporativen Struktur der Stadtbewohner vermittelt. Das von ihnen gezeichnete Bild läßt freilich nur erste grobe Konturen erkennen. Eine Ursache dafür liegt sicherlich in der Art der Quellen, die Anschaulichkeit und exemplarische Einzelschilderung nicht ersetzen können; eine andere, wichtigere darin, daß die Erhebungen noch wenig differenziert waren. Weitgehend unbekannt bleibt nach wie vor, da die rechtlich-steuerlichen Kategorien ein breites Spektrum beruflich-gewerblicher Tätigkeiten und innerhalb gewisser Grenzen auch sehr unterschiedliche Vermögenslagen umfaßten, der soziale Charakter der Bürgerschaft. Die folgenden Ausführungen unternehmen über den einzig gangbaren Weg einer Beschreibung der wirtschaftlichen Grundlagen der Städte den Versuch, diesen Aspekt näher zu beleuchten. Dabei gilt die Aufmerksamkeit in erster Linie dem unteren städtischen Stand, dem die große Mehrheit der Bürger angehörte und der sich darüber hinaus durch eine besondere Heterogenität auszeichnete. Zu beantworten ist die ebenso elementare wie schwierige und entscheidende Frage, was ein Kaufmann (im rechtlichen Sinne) und vor allem: was ein mesöanin unter sozialen Gesichtspunkten eigentlich war.
1.
D a s E r s c h e i n u n g s b i l d der S t ä d t e
In vieler Hinsicht kennzeichnend für den wirtschaftlichen Zustand und Charakter der russischen Städte war bereits ihre äußere Gestalt. Vor allem bei ausländischen Reisenden erregte sie Verwunderung, wenn nicht Befremden. Offenbar sahen selbst größere Ortschaften, wenn man Moskau und St. Petersburg, die zu Recht als untypisch galten, beiseite ließ, sehr anders aus als die deutschen, französischen oder englischen. Kaum ein Berichterstatter vergaß, auf diese Eigenart aufmerksam zu machen, und es spricht für die Zuverlässigkeit ihrer sicherlich sehr subjektiven Beobachtungen, daß sie trotz unterschiedlicher Nationalität und gegensätzlicher politischer Einstellung gegenüber dem Zarenreich auf die gleichen Merkmale hinwiesen. Was ihnen - wie schon ihren Vorgängern im achtzehnten Jahrhundert und früher - vor allem in die Augen stach und fast zu einem Stereotyp gerann, waren die Weite, Ärmlichkeit, Öde, Unsauberkeit und der dörfliche Gesamtcharakter der
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
371
S i e d l u n g e n , die sich Städte n a n n t e n . „ D i e Städte in der Provinz", schrieb e t w a ein englischer R e i s e n d e r u m 1780, „gleichen sich sämtlich und haben mit Ausnahme der größern ein trauriges Ansehen. Die Häuser sind meistens aus Holz gebaut, die Straßen sind nicht gepflastert und Abends mehr als dürftig beleuchtet; wenn es regnet so verwandeln sie sich in ein wahres Schmutzmeer, bei schönem Wetter dagegen wird man vom Staube fast erstickt. Für den Transport von Gütern sind sie nur mitten im Winter, wenn eine feste, harte Schneelage sie bedeckt, zu gebrauchen. Jede Provinzialstadt zeigt mit Stolz ihre Monumente, bestehend aus einer großen Baracke, in welcher sich die Behörden befinden, einem großen Steinklumpen, in welchem der Gouverneur wohnt und einigen anderen Häusern, welche den vornehmeren Kaufleuten und den im Staatsdienst stehenden Tschinowniks zur Wohnung dienen. Die andern Häuser von erträglichem Ansehen gehören dem Adel, niederen Beamten, kleineren Kaufleuten, Krämern, alle aber sind nach demselben Muster gebaut." 1 G a n z ähnlich faßte ein L a n d s m a n n die Eindrücke e i n e s sechsjährigen A u f e n t haltes im Z a r e n r e i c h z u s a m m e n . S o w i e es unklug sei, m e i n t e er w a r n e n d , hinter die Kulissen zu s c h a u e n , w e n n m a n die Illusion der B ü h n e n d e k o r a t i o n g e n i e ß e n w o l l e , so solle d e r j e n i g e , der den „ W a h n " h e g e , „ d a ß die russischen Städte malerisch s e i e n , sie nie betreten, sondern sich damit b e g n ü g e n , sie aus einiger E n t f e r n u n g zu b e t r a c h t e n . " S o imposant sie aus der D i s t a n z erschien e n , s o w e r d e m a n d o c h bei näherer Prüfung herausfinden, „ d a ß sie mit w e n i g e n A u s n a h m e n w e n i g m e h r als verkappte D ö r f e r " seien. W e n n sie nicht e i n e n „vollständig ländlichen" A n b l i c k b ö t e n , sähen sie d o c h „ m i n d e s t e n s vorstadtähnlich aus". „ D i e Straßen", schrieb er weiter, „sind gerade und breit und entweder jämmerlich oder gar nicht gepflastert. Trottoirs hält man nicht für unumgänglich notwendig. Die Häuser sind aus Holz oder Stein gebaut, meist einstöckig und durch geräumige Höfe voneinander getrennt. Viele lassen sich nicht dazu herbei, ihre Fassaden der Straße zuzuwenden. Man gewinnt im ganzen den Eindruck, als wäre die Mehrzahl der Bürger vom Lande gekommen und hätte ihre Landhäuser mitgebracht. Es gibt wenige oder gar keine Läden, welche durch geschmackvoll in den Schaufenstern ausgelegte Ware die Vorübergehenden in Versuchung führen. Will man Einkäufe machen, so muß man sich zum Gostinny Dwor oder Bazar begeben, der aus langen symmetrischen Reihen niedriger, schlecht beleuchteter Magazine mit einem kolonnadenartigen Vorbau besteht. Dieses ist der Ort, wo die Kaufleute sich meistens versammeln, aber man sucht hier vergeblich das Rührige und die Emsigkeit, die wir mit dem Begriff geschäftliches Leben zu verbinden gewohnt sind. . . . In den übrigen Teilen der Stadt fallen die Einsamkeit und die träge Stille noch mehr auf. Auf dem großen Marktplatz oder neben der Promenade - wenn die Stadt so glücklich ist, eine
' ) V g l . /Barry/, Neues Rußland S.64 (gesperrt i. O r . ) , engl. Original: Barry, Russia.
372
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh. solche zu besitzen - kann man Kühe oder Pferde ruhig grasen sehen, ohne daß diese das Unpassende ihrer Anwesenheit im mindesten empfinden. Und es würde in der Tat merkwürdig sein, wenn sie eine derartige Empfindung hätten, denn weder bei der Polizei noch bei den Einwohnern ist eine solche vorhanden. Bei Nacht werden die Straßen nur mit wenigen Öllampen versehen, die nur dazu beitragen, die Dunkelheit noch mehr hervortreten zu lassen, so daß vorsichtige Bürger, die abends spät nach Hause kommen, sich oft mit Laternen ausrüsten." 2
Nicht minder deutliche, bisweilen drastische Worte fanden deutsche Reisende, die sich einige Jahrzehnte früher längere Zeit in Rußland aufhielten. Auch ihnen entging der auffallende Kontrast nicht, der sich zwischen der pittoresken Silhouette, die viele Städte mit ihren zahlreichen goldgedeckten Kirchenkuppeln, der meist auf einem Hügel errichteten Burg (kreml'), den Klöstern und den umgebenden Obstgärten darboten, und der dahinter verborgenen trostlosen Wirklichkeit auftat. Fast vermitteln sie den Eindruck, als hätten die russischen Städte mit Ausnahme von Moskau, St. Petersburg und wenigen anderen gleichsam aus bloßen, nur von weitem sichtbaren Potemkinschen Fassaden bestanden, die bei genauerem Hinsehen in sich zusammenstürzten und den Blick freigaben auf überdimensionierte, öde Dörfer. So erschienen die Gouvernementszentren Tula, Kursk, Kaluga und Orel dem welterfahrenen Schriftsteller Johann Georg Kohl aus der Ferne anmutig und einladend. „In der Nähe betrachtet", vermerkte er exemplarisch über Orel, sei die Stadt indes „nichts weiter als ein ziemlich unheimliches Nest und zwar keineswegs ein Adlernest." Sie zeige „die größte Armuth an guten Häusern und Reichthum an armseligen hölzernen Hütten, in denen aber doch zuweilen Kaufleute mit Millionen wohnen sollen". 3 In Char'kov, einer Stadt mit knapp 30000 Einwohnern 4 , fand er nur eine gepflasterte Straße und diese erwies sich als die „schlimmste von allen", weil die Steine so schlecht verlegt waren, daß sie gefährliche Löcher bildeten. Bei Regen, schilderte Kohl sehr plastisch, verwandelten sich die Straßen in einen „tiefen, dicken, äußerst zähen und schlammigen Brei". Um einen einigermaßen festen Grund zu bilden, verwende man Mist. Das Material sei zwar unangenehm, aber doch „segensreich". Es gebe „dann Gegenden der Stadt, wo man nur fortkommen" könne, „wenn man von Misthaufen zu Misthaufen" springe. 5 Auch die bedeutende Industriestadt Tula sagte dem Reisenden nicht zu. Wie zahlreiche andere russische Städte, schrieb er, verfüge sie überall über 2
) Vgl. Wallace, Rußland Bd. 1 S. 195f. Ebenso: Leroy-Beaulieu, Reich der Zaren Bd. 1 S. 246. 3 ) Vgl. Kohl, Reisen Bd. 2 S. 53. „Adlernest" ist eine Anspielung auf die Bedeutung des Stadtnamens: „orel" = Adler. 4 ) Vgl. Statistiieskie tablicy o sostojanii gorodov (1842) S. 40. 5 ) Vgl. Kohl, Reisen Bd. 2 S. 142; ähnlich: Haxthausen, Studien Bd. 2 S. 120ff.
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
373
„weite Räume, breite und lange Gassen, so daß vor ihren Dimensionen fast alle Dimensionen der Häuser verschwinden, und daß man immer eher an einer mit Häusern besetzten Landstraße als in einer Stadt zu sein" glaube. Selbst Tula mit seinen fast 52000 Einwohnern 6 wirkte ausgestorben und menschenleer. Zum „Vergnügen, d.h. zum geselligen Vergnügen nach unserer Art", gab es laut Kohl so wenig Gelegenheit, „daß gewiß ein Bürger des allerkleinsten Städtchens unseres Vaterlandes sich hier zu Tode langweilen würde". Und auf einen sehr häufig beklagten 7 , mit dem Fehlen einer Bürgerkultur sicherlich aufs engste zusammenhängenden Mangel an öffentlichem Leben wies er hin, wenn er fortfuhr: „Ich wüßte ihm nicht zu sagen, in welches Kaffeehaus er hier in Tula gehen könnte, wüßte ihm keinen Weinoder Bierschank zu recommandiren, wo er, gemüthlich kannegießernd, ein Pfeifchen rauchen könnte." 8 Um mehr wissenschaftliche Genauigkeit und weniger um pointenreiche Darstellung für einen breiteren Leserkreis von Reiseberichten ging es dem preußischen Freiherrn von Haxthausen, der die wohl informativste, ausführlichste und bekannteste Beschreibung aus ausländischer Feder über die „inneren Zustände" Rußlands dieser Jahre verfaßte. Die äußere Gestalt des kleinen Städtchens Torzok im Gouvernement Tver', das ungefähr 13500 Einwohner zählte 9 , gab er mit folgenden Worte wieder: „Die Menge der Thürme läßt die russischen Städte immer recht ansehnlich und selbst malerisch erscheinen; man glaubt von fern mit westeuropäischem Auge stets große Städte zu erblicken, allein kommt man hinein, so sieht man meist ungemein breite, öde Straßen, ungeheure Plätze, gewöhnlich nur eine Straße und einen Platz mit steinernen zweistöckigen Häusern, den Rest mit nicht aneinander stehenden, sondern durch Höfe getrennten, hölzernen einstöckigen Häusern besetzt. Auf dem Räume, worauf eine deutsche Stadt steht, sind vielleicht 10 mal mehr Häuser zusammengedrängt, als auf demselben Räume einer russischen Stadt. Torshok nimmt vielleicht denselben Raum wie Hamburg ein, allein auf diesem Räume leben vielleicht 12-14000 Menschen, in Hamburg mehr als das Zehnfache." 10
Insgesamt urteilten der russophile Haxthausen und sein Begleiter Kosegarten freilich entschieden freundlicher über Land, Leute, Regierung und Errungenschaften des Zarenreiches als die meisten Besucher, die sich von der Fremdheit der Erfahrungen und Beobachtungen eher unangenehm berührt fühlten und nicht selten dazu tendierten, ihre Abneigung gegen das despotische Regime Nikolajs auf alles, was ihnen begegnete, zu übertragen. Tver' 6
) Vgl. Statistiieskie tablicy o sostojanii gorodov 1842 S. 38. ) Vgl. dazu unten S. 597. 8 ) Vgl. Kohl, Reisen Bd. 2 S.24. ') Vgl. Statistiieskie tablicy o sostojanii gorodov (1842) S. 36. 10 ) Vgl. Haxthausen, Studien Bd. 1 S. 12; ähnlich über Vologda Bd. 1 S.226. 7
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
etwa, das 1763 vollständig abgebrannt und danach planmäßig wieder aufgebaut worden war, wird wegen seiner langen, geraden und breiten Straßen, seiner palastartigen Häuser an symmetrisch angelegten Plätzen, seines regen Lebens und blühenden Handels gelobt. 1 1 Tula, Jaroslavl' und andere Städte erscheinen in positiverem Lichte als in den meisten Schilderungen. 12 Als soweit ersichtlich - einziger Berichterstatter vermerkt er mehrfach, daß Katharinas Reformeifer und Taten reiche Früchte getragen hätten. Die Kaiserin habe zwar aus administrativen Erwägungen Städte gegründet, die nur dem Namen nach diese Bezeichnung verdienten. Sie habe mehrere hundert Dörfer „zu Städten ernannt, wie man etwa Jemandem zum Obristen oder General ernennt". Es sei aber nicht zu leugnen, daß sie dabei Weitsicht bewiesen und die Lage sowie die natürlichen Gegebenheiten oft zutreffend eingeschätzt habe. Die neuen Behörden hätten Gewerbetreibende angezogen, „und aus den meisten /sie!/ solcher anfangs nominellen Städte" seien „wirkliche Städte geworden". 1 3 Haxthausen belegte eine derartige organische Entwicklung mit einer interessanten Notiz, die festgehalten zu werden verdient: „Wenn man sich im Innern des Reichs einer russischen Stadt nähert", vermerkte er, „so kommt man nicht, wie im germanischen und romanischen Europa zuerst durch einen Gartentheil, der sich meist rund um die Städte zieht, . . . sondern man kommt in ein russisches Dorf, den Rest des alten Dorfs, welches man in eine Stadt hat verwandeln wollen. Dort wohnen auch noch die alten Bauern, sie treiben jetzt meist Gartenbau, um der Stadt das Gemüse zu schaffen, nicht in geschlossenen von Hecken und Zäunen umgebenen Gärten, sondern auf Gartenfeldern. - Hat man das Dorf passirt, so kommt man in die Stadt Katharinas's II. Sie ist gebauet wie die Außentheile Moskau's...; lange, gerade, breite Straßen, ungepflastert, von beiden Seiten Häuser und Höfe, mit der Giebelseite an der Straße liegend, von ineinander gefugten Balken einstöckig aufgeführt. Hier herrscht russisches Gewerbsleben. Hier wohnen Fuhrleute, Schmiede, Getreidehändler, hier sind die Fuhrmannswirthshäuser und Kabakken, Krambuden usw. - Dann aber kommt man in die moderne europäische Stadt; gerade, mitunter gepflasterte Straßen, große Plätze, überall palastartige Gebäude, aber gewöhnlich etwas todt, auf der Straße wenig Verkehr und Leben, wenn man die auf den Plätzen und an den Straßenecken haltenden Droschken ausnimmt, die in keiner russischen Gouvernements- und selbst in den größten Distriktsstädten nicht fehlen. Die ältesten modernen Gebäude in diesem Stadttheile sind die öffentlichen, die Privatgebäude sind, mit geringer Ausnahme, alle erst seit 1815 gebauet." 14
u
) Vgl. ) Vgl. " ) Vgl. 14 )Vgl. 12
ebd. ebd. ebd. ebd.
Bd. 1 S. 13. Bd. 1 S. 210ff, Bd. 2 S. 520ff. Bd. 1 S. 195, Bd. 2 S. 116f. Bd. 2 S. 117.
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
375
Unschwer lassen sich russische Quellen, subjektiv gefärbt-belletristische ebenso wie nüchtern registrierende, ausfindig machen, welche die Eindrücke der Westeuropäer bestätigen, wenngleich zumeist nicht in so anschaulicher, die Vorzüge der Distanz nutzender Form. So faßten die „geographischstatistischen Materialien" den äußeren Zustand der Städte im Gouvernement Rjazan' wie folgt zusammen: „Die Erscheinung der Städte ist sehr wenig repräsentativ; die Straßen sind unsauber und schlecht gepflastert, in Spassk, Pronsk, Dankov, Sapozok, Skopin und Egor'evsk gibt es gar kein Pflaster. Nur die besseren Stadtviertel sind mit ordentlichen Häusern gebaut; der größere Teil der städtischen Gebäude indes ist schlecht und erinnert oft an Bauernhütten." 1 5 „ E n g e " , ihrem Äußeren nach rein „dörfliche" Katen säumten dieser Quelle zufolge auch die ungepflasterten und kaum befahrbaren Straßen der Städte im Gouvernement Penza. Hier machten sich überdies das Fehlen ausreichender Vorkehrungen für den Abfluß des Wassers und mangelnde Sorgfalt bei der Beseitigung des Unrats bemerkbar, so daß sich „in den niedrig gelegenen Teilen" der Städte „häufig eine schädliche Atmosphäre" bildete. 16 Selbst in einer so großen und bedeutenden Handelsstadt wie Kazan' (1852 etwa 61000 Einwohner) waren noch fast ausschließlich Straßen anzutreffen, die sich an regnerischen Tagen in „Seen" verwandelten und vor Schmutz „unpassierbar" wurden. Kaum Erleichterung brachten, wie ein Moskauer Fabrikant sich erinnerte, die befestigten Straßen. Da man die Arbeiten nachlässig ausgeführt und weiches Gestein verwendet hatte, mußten die Benutzer bei trockener Witterung gegen einen „ätzenden", Lungen und Augen schädigenden „Staub" ankämpfen, während sie bei Regen Gefahr liefen, in wahre „Wolfsgruben" zu fallen oder mit ihren einfachen Wagen und Kutschen darin eine Havarie zu erleiden. 1 7 In den Städten des Gouvernements Simbirsk schließlich verzeichneten die Beobachter des Generalstabs ebenfalls größtenteils „bäuerliche Gebäude", die „nicht selten" baufällig waren und „an Größe sowie hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung vielen Häusern in den reichen Industriedörfern" nachstanden. 1 8 Mit Ausnahme der Gouvernementshauptstadt und des Handelsortes Syzran' fanden sie „nicht einmal die elementarsten Bedingungen für ein angenehmeres Leben", kaum Trottoire, keine Pflasterung und Beleuchtung der Straßen, keine ständig verkehrenden Droschken und oft nicht einmal Unterkunftsmöglichkeiten für Durchreisende. In sehr anderer Wertung als Haxthausen folgerten sie: „Beseitigt in irgendeiner unserer kleinen Städte die Behörden, und sie 15
) Vgl. MGS, Rjazanskaja gub. S.486. ) Vgl. MGS, Penzenskaja gub. Bd. 2 S. 380. 17 ) Vgl. Semejnaja chronika Krestovnikovych Bd. 1 S. 89. 18 ) Vgl. MGS, Simbirskaja gub. Bd. 2 S. 690: Ähnlich über die Städte im Gouvernement Cernigov: MGS, Òernigovskaja gub. S.611. Vgl. auch für eine frühere Zeit: Letopis' o sobytijach S. 5. 16
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
verwandeln sich sofort in jene Dörfer", die sie vor sechzig Jahren zumeist noch waren. 19 Als besonders augenfälliges Merkmal des agrarischen und rückständigen Charakters der russischen Städte galt im zeitgenössischen Bewußtsein weithin die hölzerne Bauweise der Häuser. Zwar hat man mit einleuchtenden Argumenten auf die Vorzüge dieses Verfahrens hingewiesen: Der Rohstoff war reichlich vorhanden und im großen und ganzen 20 billig; die Häuser konnten schnell und einfach errichtet werden; sie waren variabel und transportabel und wurden überdies zum Beispiel auf den Moskauer Märkten in Fertigteilen zum „Zusammensetzen" angeboten. 21 Dennoch empfand man sie offenbar als Zeugnisse der Armut, die weder mit dem Machtanspruch der Staatsgewalt noch mit dem Prestige einer Hauptstadt oder eines reichen Privatmannes vereinbar waren. Nicht ohne Grund wurden die Amtsgebäude sogar in den kleinsten Städten aus Stein errichtet und verbannte man Holzbauten seit 1833 gänzlich aus den wohlhabenden Vierteln Moskaus. 22 Die hergebrachte Bauweise spiegelte nicht nur die natürlichen Gegebenheiten des Landes. Zugleich verkörperte sie, wie ein kompetenter Sachkenner des neunzehnten Jahrhunderts anmerkte, „das Wesen unseres städtischen Lebens" selbst. 23 So gesehen, gab es in der Tat nur wenige Siedlungen, die ihren rechtlichen Rang verdienten. Die erste einschlägige Statistik von 1825 verzeichnete gerade zwei Städte, in denen Steinhäuser in der Mehrzahl waren; beide Odessa und Wilna - lagen auf neuerworbenem Territorium. Selbst in St. Petersburg und Moskau betrug das Verhältnis von Stein- zu Holzhäusern noch 1 : 2 bzw. 1:2,5; in den Gouvernementsstädten des zentralen Industriesowie des zentralen Landwirtschaftsgebiets 1 : 3 (Tver'), 1 : 5 (Jaroslavl'), zumeist aber 1 : 7 (Voronei, Kostroma, Kaluga) und darüber. In unbedeutenden Gouvernementsstädten war das Übergewicht der Holzbauten entsprechend stärker ausgeprägt bis hin zum Extremfall von Samara, wo man unter 784 Häusern nur ein steinernes registrierte. Noch weniger Verwendung fanden die teureren Steine in den Kreisstädten. In manchen Orten dieser Kategorie verzichtete man ganz darauf, in zweihundert zählte man ein bis fünf Steinhäuser, in ungefähr hundert fünf bis zwanzig und in den übrigen zumeist 19
) Vgl. MGS, Simbirskaja gub. Bd. 2 S.700f. ) Lediglich in den Hauptstädten, vor allem in Moskau, scheint der große Bedarf der vielköpfigen Bevölkerung und zahlreicher Manufakturen an Brennholz zu Teuerungen geführt zu haben. Vgl. schon früh erlassene Gegenmaßnahmen in: PSZ Bd. 10 Nr. 7343 v. 9. August 1737; PSZ Bd. 13 Nr. 10285 v. 30. August 1754 u. PSZ Bd. 23 Nr. 17476 v. 19. Juni 1796. Auch: Blum, Russischer Staatsmann Bd. 2 S.212ff. 21 ) Vgl. Storch, Gemähide von SPb. Bd. 1 S.34. 22 ) Vgl. IM Bd. 3 S. 155. 23 ) Vgl. Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 2 S. 320. 20
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nicht mehr als fünfzig. 24 Bis zur Jahrhundertwende änderte sich dieser Zustand nicht wesentlich. Ausnahmen bildeten St. Petersburg und Moskau, wo der Anteil der „angemessenen" Bauten auf knapp 65 % bzw. 45 % wuchs. Für die übrigen größeren Städte lassen sich durch Stichproben folgende Werte ermitteln: Tver' - 2 7 % , Kostroma - 2 1 % , Jaroslavl' - 20 %, Niznij Novgorod -23%, Novgorod -20%, Voronei -15%, Vjatka - 13 %, Kazan' -10%, Kaluga - 1 1 % , Rjazan' - 11%, Tula - 6 % und Vladimir - 1 % . Bei den Kreisstädten überschritt die Quote der Steinhäuser selbst in den Gouvernements Moskau und St. Petersburg 14% nicht; im Gouvernement Jaroslavl' betrug sie 16 %, in Tver' 12 %, in Tula 8 % , in Vladimir 8 %, in Rjazan' 7 %, in Novgorod 7 %, in Vjatka 6 % , in Kaluga 4 % , in Kostroma 3 %, in Kursk 4 %, in Penza 2 % und in Cernigov sogar nur 0,8 %. 25 Mithin korrespondierte die Zahl der privaten Steinbauten ungefähr mit dem gewerblich-kommerziellen Entwicklungsniveau. Am ehesten waren im russischen Kernland noch die Bürger der hauptstädtischen Gouvernements in der Lage, solide und wertvollere Häuser zu errichten. Die Städte des zentralen Schwarzerdgebietes dagegen bewahrten auch äußerlich ihren dörflichen Charakter in besonders deutlicher Weise. Zweifellos traf eine solche Beschreibung für einige größere Gouvernementsstädte nicht zu. Sie waren administrative Zentren, Garnisonsplätze und in der Regel auch wichtige Handels- und Verkehrsknotenpunkte. Hier gab es neben einer breiten Schicht ärmster me&ane und Bauern auch eine nennenswerte Zahl vermögender Kaufleute, hier unterhielt der wohlhabendere Teil des Provinzadels Anwesen für die Wintersaison, entstanden prachtvolle Wohnviertel und Einrichtungen für adäquate Zerstreuung und Geselligkeit in Gestalt von Klubs und Theatern. 26 Haxthausen glaubte, in diesen „neuen russischen Städten" bereits den „Keim eines kultivierten Provinziallebens" zu erkennen und sprach die Erwartung aus, daß sie auch wieder zu Mittelpunkten des „nationalen" Daseins werden könnten. 27 Doch liegen, nicht zuletzt aus einheimischer Feder, auch sehr viel weniger optimistische Zeugnisse vor. Sie deuten eher darauf hin, daß sich die russischen Gouvernementsstädte in aller Regel ebenfalls nicht grundsätzlich von den typischen Mittel- und Kleinstädten unterschieden und ihnen trotz einer intensiveren Wirtschaftstätigkeit immer noch jeder Hauch von Urbanität fehlte. Welche Atmosphäre hier herrschte, lassen einige Impressionen über die Ankunft in Kostroma (zu dieser Zeit etwa 15000 Einwohner) erahnen, die 1860 in einem informativen 24 ) Vgl. StatistiCeskoe izobraienie gorodov pass., hier nach Ditjatin, Ustrojstvo Bd. 2 S. 316f. 25 ) Berechnet nach: Statistiieskie tablicy o sostojanii gorodov (1852). 26 ) Vgl. diese Bemerkungen über Simbirsk in: MGS, Simbirskaja gub. Bd. 2 S. 707ff. 27 ) Vgl. Haxthausen, Studien Bd. 2 S. 119.
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statistischen - und keineswegs satirischen - Bericht eines fortschrittlichliberalen Journals über das gleichnamige Gouvernement zu lesen war: „Die Gouvernementsstadt, mit ihren Kutschern, die den Ankommenden mitleidlos ausplündern; mit ihren Herbergen in großen, aber schmutzigen Gebäuden; mit einem Diener, der nicht dient, mit Zimmern ohne Betten, die spärlich mit zerbrochenen, verdreckten Möbeln ausgestattet, aber dafür von einer Vielzahl von Insekten bevölkert sind, welche den vom Schicksal zu dem Unglück Verurteilten, in der ,neu eröffneten Herberge für Ankommende' Station machen zu müssen, mit Ingrimm empfangen und Blut aus ihm heraussaugen, das schon durch scheußliche Speisen verdorben ist. Wer in eine Gouvernementsstadt reist, der bringe Matratzen, Kissen, fast eine ganze Hauswirtschaft mit; aber da ich kam, ohne irgendetwas mitzubringen, und um ein Zimmer in der Herberge bat, ließ man mich, bitte sehr, ohne Sachen nicht hinein - schlaf doch auf der Straße. Im übrigen stand man hinter den hauptstädtischen Preisen keinen Deut zurück. Mit einem Wort - in Kostroma war alles, wie es in einer Gouvernementsstadt sein sollte." 28
2.
Das zentrale
Industriegebiet
Versuchen wir nun, anhand der erwähnten, 1861/62 als Grundlage für die geplante Verwaltungsreform angefertigten Übersicht über den wirtschaftlichen Zustand der Städte Material zur Beantwortung der Frage bereitzustellen, aus welcher Art von Tätigkeit die Bürger im rechtlichen Sinne ihren Lebensunterhalt bestritten. Zu Beginn sollen dabei einige ausgewählte Gouvernements ausführlicher, wenngleich gezwungenermaßen immer noch regestartig, vorgestellt werden, um gleichsam einen reliefartigen Eindruck von ihrem Entwicklungsniveau und wirtschaftlich-sozialen Charakter zu vermitteln. Die Gefahr übermäßiger Wiederholungen zwingt freilich auch in diesem Abschnitt dazu, auf annähernde Vollständigkeit zu verzichten. Die Region um Tver' verfügte, wie die Militärstatistiker vermerkten, über außerordentlich günstige Voraussetzungen für die Entfaltung von Handel und Gewerbe. Vorteilhaft wirkten sich vor allem die geographische Lage zwischen Moskau und St. Petersburg und das Vorhandensein bequemer Transportwege aus. Das Gouvernement war nicht nur mit den beiden Hauptstädten zu Wasser und zu Lande verbunden, sondern über die Wolga auch mit Niznij Novgorod, dem größten Messeort des Reiches, und den kornreichen Gebieten im Südosten. Dieser gewaltige Strom, mit seinen weitverzweigten Nebenarmen das Hauptverkehrssystem des russischen Kernlandes, prägte das Wirtschaftsleben in entscheidender Weise. Er bildete die Grundlage für einen 28
)Vgl. Te-ov, Zametki T . 7 No 3 otd. III S.284. Ähnlich im Tenor: A . U . , Chozjajstvo odnogo iz uezdnych gorodov S.61.
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blühenden Durchgangshandel vor allem mit Getreide und gab einem Großteil der Bevölkerung Arbeit als Treidler, Flußschiffer oder Bootsbauer. In geringerem Maße profitierten Industrie und Gewerbe von der Gunst des Standorts und der Verkehrswege. 29 Dennoch zählte das Gouvernement, nicht zuletzt dank seines Reichtums an Brennmaterial, auch in dieser Hinsicht neben Moskau, Jaroslavl' und Vladimir zu den fortgeschrittenen im Reiche. Solche Voraussetzungen kamen den Städten zugute. Es gab nur wenige, in denen nicht zumindest der Handel einen bedeutenden Erwerbszweig bildete. Tver' selbst etwa war ein wichtiger Umschlagplatz für Getreide, das aus den Gouvernements der unteren Wolga herangebracht wurde, und für Eisen aus dem Ural. Das Getreide wurde nach St. Petersburg weiterbefördert, das Eisen in der Region und der Stadt selbst verarbeitet. Tver' war seit altersher vor allem für sein Nagelschmiedehandwerk bekannt. In jüngerer Zeit hatten ausländische Importe allerdings zu großen Absatzschwierigkeiten und einer tiefen Krise geführt. Insgesamt zählte man in der Stadt 460 Handwerker, darunter 315 örtliche Gildenmitglieder und meisöane sowie einige raznocincy; die übrigen stammten aus der Bauernschaft. Bei gut 26000 Einwohnern, von denen 6,6% der Kaufmannschaft, 44,3% dem meSianstvo und 18,4% der Bauernschaft angehörten, kann indes nicht davon die Rede sein, daß dieser Bereich einem nennenswerten Teil der Bürger Nahrung geboten hätte. Gleiches galt für die Industrie. Wohl befanden sich in Tver' zwei große Baumwollspinnereien, von denen eine zu den wichtigsten des Landes gehörte. 30 Zusammen beschäftigten sie über 2000 Arbeiter, davon 400 mescane. Hinzu kamen 32 kleinere Betriebe (zavody) verschiedenster Art, von einer Eisengießerei bis zu Malztennen, Talgsiedereien und Lederwerkstätten. Auch hier dürften nicht wenige mescane in Lohn gestanden haben. Dennoch überstieg die Zahl der „Kleinbürger", die am Ort ihren Lebensunterhalt durch eine handwerkliche oder industrielle Tätigkeit bestritten, wohl kaum 1100-1200, entsprechend etwa einem Fünftel aller männlichen Angehörigen dieses Standes. Hinzu kamen die Gehilfen (sidel'cy, prikaäöiki) der etwa sechzig Handelshäuser und kleineren Geschäfte. 31 Die große Mehrheit der meScane verdiente ihr Brot durch andere, in der Regel noch weniger qualifizierte Gewerbe in der Flußschiffahrt. Die Hauptbeschäftigung bestand dabei im Transport und Übersetzen von Lasten über die Wolga, eine andere in der Entladung der anlegenden Kähne. Schon letztere blieb vielen freilich
29 ) Vgl. VSO, Tverskaja gub. S. 172f. Zum folgenden auch: Tverskaja gubemija v 1783 i 1846 godach; Obozrenie Tverskoj gubernii. 30 ) Vgl. Kalmykov, Vainejäie fabriki S. 1; alle andere Daten dieses Absatzes aus: £ S Nr. 21 S. 3-5. Vgl. auch: VSO, Tverskaja gub. S.240ff. 31 ) Die Zahl der erklärten Vermögen war recht gering. Sie betrug 1861-1862 für die erste Gilde 14, für die zweite Gilde 13, für die dritte Gilde 25.
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verschlossen, da sie den Besitz eines Pferdes voraussetzte, dessen Kauf und Unterhalt ihre finanziellen Möglichkeiten überstiegen. Die Bezahlung für die „groben" Arbeiten war äußerst gering. Ein Fährmann etwa erhielt nur 15-20 Silberkopeken am Tag, ein Stauer kaum mehr. Zu bedenken ist außerdem, daß ihre Dienste nur im Sommer gefragt waren und auch das nicht ohne Unterbrechungen. Im Winter verdingten sich die meisten als Nagelschmiede, ebenfalls gegen kargen Lohn. In jedem Falle war, glaubt man den Reisenotizen des Schriftstellers A . N . Ostrovskij, die Armut dieser vielköpfigen Unterschicht der Bootsleute so groß, daß sie dem Besucher als erstes auffiel und das Bild der Stadt entscheidend prägte. „Die delikateste Speise, von der sie träumen", fügte er zu Illustration seiner Beobachtung hinzu, „sind gebratene Zwiebeln in Hanföl. Fleisch sehen sie fast das ganze Jahr nicht." 32 Dies war um so eher der Fall, als die Dampfschiffahrt das Transportwesen auf den Flüssen grundlegend zu verändern begann. Viele meäöane mußten die Stadt verlassen und „ihr Auskommen an den verschiedensten Orten" suchen. Immerhin wurden 1862 tausend Pässe an sie ausgegeben. So ist festzuhalten, daß selbst eine wirtschaftlich so entwickelte Stadt wie Tver' einem erheblichen, wenn nicht dem größten Teil seiner Bürger im rechtlichen Sinne keine ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten bieten konnte. Unter sozialen Gesichtspunkten waren die meisten meä£ane zum Heer der Tagelöhner und vorindustriellen Wanderarbeiter („otchodniki", wörtlich: Weggänger) zu rechnen. Fast so viele Einwohner (etwa 18500) wie Tver' zählte die Kreisstadt Rzev, deren kommerzielle Bedeutung die der Gouvernementshauptstadt sogar übertraf. Aufgrund ihrer günstigen Lage konnte sie als „wichtigstes Handelszentrum" und größter Stapelplatz für Erzeugnisse aus West- und Südwestrußland gelten, die für St. Petersburg bestimmt waren. 33 Schon an der bloßen Zahl der Kaufmannsvermögen läßt sich diese Funktion ablesen: In R2ev gab es viermal mehr Gildenmitglieder als in Tver' (217 zu 52), wenngleich sie anders als dort fast ausschließlich der dritten Gilde angehörten. 34 Auch die meäöane von Rzev trieben in nennenswertem Maße Handel. Darüber hinaus stellten sie den größten Teil der Handwerkerschaft (220 von knapp 270), deren Produkte nicht nur in den Grenzen der Stadt auf den Markt kamen. Besonders hervorzuheben war die Industrie. Es gab in Riev dreizehn Flachsspinnereien und 29 weitere eher handwerksähnliche Betriebe. Der größere Teil der erwerbsfähigen meäöane fand entweder hier oder in den Manufakturen und Fabriken von St. Petersburg, Rybinsk (Gouvernement
32
) Vgl. Ostrovskij, PuteSestvie S. 192. ) Vgl. VSO, Tverskaja gub. S.220. 34 ) Vgl. diese und die folgenden Daten in: ES Nr. 21 S. 29-31; auch: VSO, Tverskaja gub. S. 252f. 33
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Jaroslavl') und Riga eine Beschäftigung. Ferner arbeitete eine „beträchtliche Zahl" von ihnen in Tver' und Vyänij Voloiok auf Schiffen und an den Anlegeplätzen. Eine kleinere Zahl trieb Ackerbau. Als Stadt, in der die reichsten Kaufleute des Gouvernements ansässig waren, galt Kasin.35 In der Tat registrierte man hier, an der Einwohnerzahl (1861: 7770) gemessen, nicht nur ungewöhnlich viele Angehörige des Kaufmannsstandes (17,3 %). Darüber hinaus befanden sich unter den 146 am Ort erklärten Vermögen immerhin vier der ersten und neun der zweiten Gilde ein überaus hoher Anteil für eine Kreisstadt. Ursache dafür war ein umfangreicher Transithandel, der in dieser nordöstlich von Tver' nahe der Wolga gelegenen Stadt abgewickelt wurde. 36 Wichtigstes Transportgut war Getreide. Insgesamt belief sich der Umsatz an Roggen, Weizen, Hafer, Buchweizen und anderen Kornarten, die in der näheren Umgebung sowie vor allem in Rybinsk, Niznij Novgorod und den Gouvernements Simbirsk, Tambov und Saratov aufgekauft und größtenteils auf dem Wasserwege 37 nach St. Petersburg weiterbefördert wurden, Anfang der sechziger Jahre auf die erhebliche Summe von einer Million Silberrubel. Ebenfalls einen beträchtlichen Umfang (600000 Silberrubel) erreichte der Handel mit Wein, den zwei „Ehrenbürger" von KaSin nicht nur auf den großen Jahrmärkten von Niznij Novgorod und Rostov (Velikij), sondern auch in mehreren Städten des Reiches vertrieben. Geringere Bedeutung kam dem Handel mit Leingarn und einfacher Leinwand zu. So ansehnlich die kommerzielle Tätigkeit in KaSin auch war, so diente sie doch nur vergleichsweise wenigen Familien als Einkommensquelle. Der Transithandel verlangte „große Vermögen, aber wenig Hände", wie der Revisor des Innenministeriums vermerkte. 38 Seine ungewöhnlich genauen und ausführlichen Angaben erlauben es, die Beschäftigungsstruktur näher zu beschreiben. Ihnen ist zu entnehmen, daß die 131 Kaufmannsfamilien, die 1851 gezählt wurden, tatsächlich fast ausschließlich vom Handel lebten; nur fünf waren dem Handwerk und der kaum entwickelten „Industrie" zuzuordnen. Die 724 meäöanstvo-Familien (= 2739 Personen beiderlei Geschlechts) verteilten sich auf folgende Erwerbs- bzw. Berufszweige: 39
35
) Vgl. VSO, Tverskaja gub. S.221, 245. ) Vgl. die Daten in ES Nr. 40 S. 21-23 sowie vor allem einen der gründlichen, zum allergrößten Teil verschollenen Berichte der Beamten des Miljutinschen Sonderdepartements für Stadtangelegenheiten beim Innenministerium: Gorod Kaäin, hier S. 192ff. 37 ) Die kommerzielle Bedeutung der Stadt ist um so erstaunlicher, als sie selbst keine schiffbare Verbindung zur Wolga besaß. Die Waren mußten deshalb außerhalb der Stadt in den Dörfern am Flußufer gelagert werden (vgl. Gorod Kaäin S. 193). 38 ) Vgl. ebenda S. 188. 39 ) Vgl. ebd. S. 188-191. 36
382
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
N
Familien %
„ständig mit Pässen abwesend" (Wanderarbeiter) ungelernte Arbeiter und Bedienstete in der Stadt bei den Alkoholausschankstellen in der Stadt und im Kreis beschäftigt Schreiber bei Behörden und Privatpersonen Schiffsarbeiter an der Wolga und anderen Flüssen Handwerker in der Stadt Händler unbekannt
221 57 21
30,5 7,9 2,9
7 9 195 190 24
1,0 1,2 26,9 26,2 3,3
gesamt
724
99,9
Unter den Handwerkern befanden sich einige Ikonenmaler, Vergolder, Ziselierer, Tischler, Anstreicher, Färber, Schneider, Handschuh- und Uhrmacher, überwiegend aber Schmiede (52 Personen), Schneider (39), Schuster (25), Sacknäher (94) und Strumpfwirker (134). Die Meister auf der einen und die Gesellen und Lehrlinge auf der anderen Seite hielten einander dabei zahlenmäßig die Waage (202:209). Mithin waren die Betriebe, soweit die Bezeichnung überhaupt angemessen ist, äußerst klein: Auf einen Meister kam gerade ein weiterer Arbeiter. Von 56 leibeigenen Bauern und Freigelassenen abgesehen, gehörten die Hilfskräfte überdies zur Familie. Solch hoher Anteil erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß die Aufstellung auch den Nebenerwerb der Bürgersfrauen berücksichtigte. Sie bildeten sogar „die größte und zugleich ärmste Gruppe der Handwerkerklasse". 40 Oft erhielten sie für die Säcke und Strümpfe, die sie zumeist im Auftrag von Kaufleuten anfertigten, kaum mehr, als ihnen für das Rohmaterial berechnet wurde. 41 Man darf davon ausgehen, daß auch in vielen anderen Städten nicht nur dieses Gouvernements ein großer Teil der meSöanki gezwungen war, durch solche, in der Regel im Hause ausgeübten Tätigkeiten zur Ernährung der Familie beizutragen. Unter Einbeziehung sämtlicher quantifizierbarer Informationen für alle Korporationen ergibt sich folgende beruflich-soziale Gliederung der Bürgerschaft einer mittelgroßen, kommerziell recht bedeutenden Kreisstadt iir der gewerblichen Kernzone des Reiches: Gut ein Drittel (38 %) trieb Handel, die Mehrheit davon (59 %) Kram-, Höker- und Straßenhandel, ein größerer Teil
Vgl. ebd. S. 189. ) Dies vermerkt mit Bezug auf ähnliche Verhältnisse in Tver': Ostrovskij, PuteSestvie S. 192. 41
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(37%) Ladenhandel; einige wenige (4%) wickelten die lukrativen Transitgeschäfte ab. Knapp ein Viertel (23,4%) lebte vom Handwerk; nur wenige brachten es dabei zu einem bescheidenen Wohlstand, der es ihnen ermöglichte, einer Gilde beizutreten (2,4%). Der größere Teil der meSöane (43,5%), entsprechend einem guten Drittel (37 %) der gesamten Bürgerschaft, zählte zur Kategorie der ungelernten Arbeitskräfte und Tagelöhner. Wenn man letzterer - und dafür spricht einiges - noch manche der als Handwerker rubrizierten Familien zurechnet, so läßt sich schätzen, daß mehr als die Hälfte aller Bürger im rechtlichen Sinne als wenig oder gar nicht qualifizierte Gelegenheitsarbeiter und sozial als ärmster Pöbel zu beschreiben war. Anzumerken ist dabei jedoch, daß sich diese Schicht in Gestalt der Freigelassenen überwiegend aus der Bauernschaft rekrutierte. Die Standeswechsler gehörten der Stadtgemeinde erst kurze Zeit (seit der letzten Revision) und nur formal an. Sie besaßen an ihrem neuen Wohnort „kein unbewegliches Eigentum", „hielten sich dort zumeist auch nicht einmal auf" und bildeten mit 221 Familien oder 26% aller Bürger den Kern der „Weggänger". 42 Dennoch wäre es verfehlt, daraus zu folgern, daß die Armut gleichsam von außen in die Stadt hineingetragen worden sei. Vielmehr bestimmte sie, wie die Angaben über die Handwerker und die Beschäftigung der übrigen meScane zeigen, in gleichem Maße das Los der meisten eingesessenen Bewohner Karins. Von Interesse sind unter dem Aspekt der sozialen Lage der Bürger ferner einige Daten zum Hausbesitz. Generell überwog auch in Kaäin die Holzbauweise bei weitem. Auf dreizehn hölzerne Privatbauten zählte man nur ein Steinhaus. Die meisten dieser wohlhabenderen Anwesen - 55 von insgesamt 64 - gehörten den Kaufleuten, keines dem Adel, der überhaupt kaum präsent war. Die Mehrzahl der Häuser insgesamt (490 von 901) befand sich im Besitz von meäiane. Dabei entsprach der Anteil ungefähr dem relativen Gewicht dieser Korporation an der gesamten städtischen Bevölkerung. 43 Schon daraus ist ein Tatbestand zu entnehmen, der - soweit ersichtlich - für fast alle Städte des Zarenreiches mit Ausnahme der westlichen Randgebiete und der wenigen großen Zentren zutraf: daß der größte Teil der „Kleinbürger" - in KaSin immerhin 68 % aller Familien - trotz ihrer bescheidenen Lebensverhältnisse über eine eigene Unterkunft verfügte. Zu dem Haus gehörte in der Regel auch ein Stück Land. Es ermöglichte seinen Eigentümern nicht nur, etwas Vieh zu halten 44 und sich selbst mit Gemüse, Obst und anderen Grundnah42
) Vgl. Gorod Kaäin S. 187. ) Vgl. ebd. S. 183 sowie ähnliche Angaben in MGS, Kaluiskaja gub. Bd. 2 S. 429 für Borovsk; in MGS, Cernigovskaja gub. S. 584 für sämtliche Städte dieses Gouvernements sowie in weiteren Bänden der MGS. ^ I n s g e s a m t zählte man etwa lOOOStück Vieh, d.h. knapp 1,4 pro „bürgerliche Familie". Vgl. ebd. S. 179. 43
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rungsmitteln zu versorgen, sondern darüber hinaus einige Erzeugnisse auf den örtlichen Märkten zu verkaufen. „Insbesondere die Ärmsten" machten von dieser Gelegenheit „ständig" Gebrauch, um ihre Einkünfte aufzubessern. 45 Auch darin ist ein deutliches Indiz für die enge Verwandtschaft zwischen Stadt und Land im Zarenreich zu sehen. Wie jeder Bauer, so besaß auch der niedrigste „Bürger" in der Regel seinen kleinen Hof (usad'ba), der ihn in ähnlicher Weise von den „kleinen Leuten" der meisten westeuropäischen Städte trennte wie - einer bekannten und für diese Zeit durchaus zutreffenden Äußerung Puäkins zufolge - den russischen, noch im Dorf verwurzelten Arbeiter vom obdachlosen und seiner Herkunft entfremdeten englischen Proletarier. 46 Der Wert der „bürgerlichen" Immobilien war freilich gering. Gut 3 2 % wurden in KaSin auf weniger als fünfzig Silberrubel taxiert, weitere 32 % auf 50-100 und knapp 25 % auf 100-500 Silberrubel. Reichere Anwesen gab es kaum. Auch die Erträge der Häuser waren insgesamt sehr niedrig. Von 825 Häusern wurden überhaupt nur 114 zumindest teilweise vermietet, so daß sie Gewinn abwarfen, ein Drittel davon (44) weniger als zwanzig und weitere 29 zwischen zwanzig und fünfzig Silberrubeln. Bei den meisten Häusern handelte es sich um kleine einstöckige hölzerne bäuerliche Hütten, die durchschnittlich fünf Personen beherbergten und in der Regel nur von der besitzenden Familie genutzt wurden. 47 Eine weitere wirtschaftlich recht bedeutende Kreisstadt war Torzok (16240 Einwohner). Auch hier stand der Getreidehandel im Vordergrund; er ernährte 311 Kaufmannsfamilien, von denen allerdings nur dreizehn der zweiten und keine der ersten Gilde angehörten. Daneben war die Stadt seit altersher für ihre mit Gold- und Silberstickereien verzierten Ledererzeugnisse bekannt. Dieses Handwerk beschäftigte 1085 Personen, darunter 563 Meister. Geht man von einer durchschnittlichen Familiengröße von vier bis fünf Personen aus, so ergibt sich für den Handel und das Handwerk ein Anteil von etwa einem Siebtel. Nicht wenige der übrigen männlichen „Bürger" dürften bereits in einer der 58, zumeist kleineren „Fabriken" gearbeitet haben. Andere verließen den Ort „zum Dienst bei verschiedenen Leuten"; an mediane wurden 883 Pässe ausgestellt. 48 VySnij Voloiok war bis zur Jahrhundertmitte ein wichtiger Handelsplatz, der von seiner günstigen Lage an der Moskauer Chaussee profitierte. Seine Einwohner (etwa 13900) genossen, wie berichtet wurde, ein „hohes Maß an
) Vgl. Gorod KaSin S. 187. ^ Vgl. A.S. Puäkin, Polnoe sobranie soCinenij v desjati tomach. 2. Aufl. Bd. 7, M. 1958, S. 289f; Pipes, Rußland S. 154f. 4 7 ) Vgl. zum Vorstehenden die Tabellen in: Gorod Kaäin S. 184-186. Vgl. E S Nr. 40 S. 3 5 - 3 7 ; VSO, Tverskaja gub. S. 221, 249f. 45
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Wohlstand". Diese Situation änderte sich - offenbar auf dramatische Weise seit der Eröffnung der neuen Eisenbahnverbindung zwischen Moskau und St. Petersburg (1851). Sowohl der Land- als auch der Wasserweg in die Hauptstadt büßten binnen kurzem ihre Bedeutung für den Warentransport ein. Das wirtschaftliche Leben von Vyänij Voloöok wurde schwer getroffen. Anfang der sechziger Jahre gab es dort „keinen Kapitalisten" mehr, „der einen bedeutenden Handel" unterhielt. Den Kaufleuten blieb einzig die Versorgung des sehr beschränkten lokalen Marktes. Dies um so eher, als das wenig entwickelte Handwerk den Verlust nicht ausgleichen konnte; es produzierte nur für die örtlichen Bedürfnisse. Auch die Industrie bot noch keinen Ersatz. Am Ort befanden sich lediglich sechs Fabriken, darunter allerdings eine große und moderne Baumwollspinnerei mit einigen hundert Arbeitsplätzen. Das „Hauptgewerbe" der einfachen Bürger war überdies traditionell der Lotsendienst auf den Lastkähnen gewesen. Noch 1856 wurden zu diesem Zweck 3290 kurzfristige Pässe (Billette) an meäöane ausgestellt. Auch diese Beschäftigung mußten viele nun aufgeben, da seit dem Bahnbau nur noch etwa ein Fünftel der Kähne den nahegelegenen Kanal passierte. Aus den Steuer- und sonstigen Schiffsleuten wurden Wanderarbeiter, die „an den verschiedensten Orten des Reiches" ein Auskommen suchten. 49 Die Kreisstadt Ostaskov lag abseits der größeren Land- und Wasserwege. Ein nennenswerter Handel konnte sich deshalb nicht entfalten. Dafür entstand hier ein ungewöhnlich breites und spezialisiertes Handwerk. OstaSkov war eine der sehr wenigen Städte, deren gewerbliche Erzeugnisse man „in ganz Rußland" kannte und „auf vielen großen Märkten" antreffen konnte. Das galt insbesondere für Schmiedewaren (Beile, Sicheln, Sensen) und Schuhe. Eine wichtige Einkommensquelle bildete ferner der Fischfang. Es wurde geschätzt, daß zwei Drittel aller ständigen Einwohner (10870) „ausschließlich" von diesen Beschäftigungen lebten. Daneben gab es 36 wohl eng mit dem Handwerk verbundene Lederfabriken und eine große, bereits mit zwei Dampfmaschinen produzierende Baumwollspinnerei. Obwohl allein hier 580 Arbeiter eine Anstellung fanden, blieb eine „große Zahl" von meäöane übrig, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der Stadt suchen mußten. 5 0 Ein zweiter Mittelpunkt des Handwerks im Gouvernement Tver' war Kaljazin (7700 Einwohner). Auch hier stellte man vor allem Schmiede- und Schlosserprodukte für eine größere Nachfrage her. Desgleichen befanden sich hier knapp vierzig kleinere Betriebe verschiedener Art. Dennoch absorbierte dieses Gewerbe einen weit geringeren Teil der Bürger und Stadtbewohner als in OstaSkov. Allein 771 meScane, rund ein Drittel aller männlichen Angehöri49
) Vgl. ES Nr. 40 S. 12-16; VSO, Tverskaja gub. S. 221, 248f. )Vgl. ES Nr. 40 S. 26-29; VSO, Tverskaja gub. S.250ff; Kalmykov, Vainejäie fabriki S. 6. 50
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gen dieses Standes, beantragten Pässe. Knapp 220 Seelen lebten vom Ackerbau. 51 Bezeck (5 600 Einwohner) 52 und Ves'egonsk (3 460 Einwohner) waren zwei kleinere Kreisstädte, die zwar die administrativen Zentren ihrer näheren Umgebung bildeten, aber wirtschaftlich recht unbedeutend blieben. Ein großer Teil der Einwohner von Ves'egonsk verdingte sich als „Schiffsarbeiter". 53 In Zubcov gingen gar, wenn man den Erhebungen glauben darf, nur 43 Einwohner einer Beschäftigung am Ort selbst nach; die übrigen (von 3540) taten dies in verschiedenen Städten des Reiches. 54 Handel und Handwerk in Koröeva, ebenfalls einer Kreisstadt, wurden als „außerordentlich geringfügig" bezeichnet. Unter den meSöane gab es viele ehemalige Adelsbauern, die ständig abwesend waren; andere verrichteten „Dienste" in der Stadt oder fanden eine Anstellung als „Ladengehilfen" bei den wenigen Kaufleuten. 55 In Starica trieben die Kaufleute etwas Handel mit Getreide. Es gab einige wenige Handwerker und einige kleinere „Fabriken". Die meisten Einwohner aber suchten ihr Auskommen ebenfalls in der Fremde, vorwiegend im nahegelegenen Rzev. 56 „Einzig die Einquartierung der Truppen belebt die Stadt", vermerkte ein Bericht über diesen durchschnittlichen Kreis. 57 Die Einwohner des Fleckens Selizarovskij-posad sicherten sich durch den Handel mit agrarischen Produkten ein bescheidenes Auskommen. 58 In der „nichtetatmäßigen Stadt" Krasnyj-Cholm waren darüber hinaus noch einige Handwerksstuben anzutreffen; gut die Hälfte aller meSöane lebte hier allerdings von der Landwirtschaft. 59 Ganz und gar ein Dorf blieb schließlich - ein seltener Ausnahmefall im Gouvernement Tver' - Pogoreloe-Gorodiiäe. „Fast alle ständigen Einwohner", immerhin 2300, beschäftigten sich hier mit dem Ackerbau, indem sie das Allmendeland, wie es in den umliegenden Bauerngemeinden Brauch war, „unter sich nach der Zahl der Seelen in jeder Familie aufteilten". 60 Zum nordöstlichen Teil des zentralen Industriegebietes gehörte auch das Gouvernement Jaroslavl'. Seiner verkehrsgeographischen Lage und seinem allgemeinen wirtschaftlichen Charakter nach war es der benachbarten Region
51
) Vgl. ES Nr. 40 S. 18-21; VSO, Tverskaja gub. S. 243f. ) Vgl. ES Nr. 40 S. 7-9; VSO, Tverskaja gub. S. 245-247. 53 ) Vgl. ÉS Nr. 40 S. 10-12; VSO, Tverskaja gub. S.247f. 54 ) Vgl. ES Nr. 40 S. 16-18; VSO, Tverskaja gub. S. 253f. 55 ) Vgl. ES Nr. 40 S.24f; VSO, Tverskaja gub. S.242f. 56 ) Vgl. ES Nr. 40 S. 32-35; VSO, Tverskaja gub. S. 254-256. 57 ) Vgl. Statistiko-istoriöeskij vzgljad na Starickij uezd (v Tverskoj gubernii). In: ¿ M V D ö. 14 (1834) No 10-12 S. 48-62, hier S.54. 58 ) Vgl. ES Nr. 40 S. 42f. Vgl. ES Nr. 40 S. 37-39; VSO, Tverskaja gub. S. 257. «O Vgl. ES Nr. 40 S. 40-42, hier S. 42. 52
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um Tver' aufs engste verwandt. Sowohl im Handel als auch im Handwerk und der Industrie Rußlands kam ihm eine bedeutende Stellung zu. Grundlegend dafür war auch hier der Durchfluß der Wolga. Sie verband die alte Fürstenstadt über zahlreiche Nebenarme sowohl mit den nördlichen Gouvernements und St. Petersburg als auch mit den südlichen, östlichen und südöstlichen Gouvernements im europäischen Teil des Reiches. Es entwickelte sich ein lebhafter Durchgangshandel vor allem mit Getreide, Eisen, Holz und Flachs. Die agrarischen Produkte wurden aus dem unteren Wolgagebiet, die Metalle aus dem Ural herangebracht und nach St. Petersburg und Moskau verschifft; in die umgekehrte Richtung transportierte man vor allem Gemüse, getrocknete Früchte und andere Eßwaren. Auch Industrie und Handwerk besaßen eine lange Tradition, da die geringen Erträge der Landwirtschaft die Bauern seit altersher zwangen, sich durch gewerbliche Erzeugnisse einen Nebenverdienst zu sichern. Weit verbreitet war aus diesem Grunde ebenso die Wanderarbeit, die ihrerseits eine wichtige Voraussetzung für den bäuerlichen Hausfleiß (bei dem durchaus auch Lohnarbeiter Verwendung fanden), die Manufakturindustrie und nicht zuletzt für den Handel darstellte. 61 Die Stadt Jaroslavl', mit 31600 Einwohnern eine der größten in Zentralrußland, bildete auch wirtschaftlich den Mittelpunkt des Gouvernements. In älterer Zeit hatte sie einen Großteil des Handels zwischen Archangel'sk und Moskau besorgt. Der Bau von St. Petersburg und die Umleitung des Warenverkehrs über die neue Residenz entzog ihr diese Funktion und minderte ihre Bedeutung erheblich. Der Verlust wurde aber durch den wachsenden Umfang des Güteraustauschs mit den südöstlichen und östlichen Regionen mehr und mehr ausgeglichen. Jaroslavl' blieb ein zentraler Handels- und Umschlagplatz. Nach wie vor sammelten sich hier an der Wolga, wie die erste eingehende Beschreibung durch Mitglieder der Miljutin-Kommission Anfang der fünfziger Jahre formulierte, „riesige Kaufmannsvermögen", deren Höhe man freilich nicht in Erfahrung bringen konnte, weil sich die Besitzer weigerten, irgendwelche genaueren Auskünfte zu erteilen. 62 Immerhin waren 33 Firmen im Großhandel engagiert. 63 Ein Jahrzehnt später bezifferte man den Umsatz allein bei den wichtigsten Gütern (Getreide, Eisen und Kolonialwaren, namentlich Wein) auf fünf Millionen Silberrubel. Insgesamt erklärte die Kaufmannschaft, die 1698 Köpfe oder 3,4 % der Stadtbevölkerung zählte, 277 Kapitale, davon acht der ersten Gilde, 31 der zweiten und 238 der dritten. Auch dieser hohe Anteil der oberen Korporationen verweist auf das große 61
) Vgl. VSO, Jaroslavskaja gub. S. 67f. Auch: ObSöee obozrenie Jaroslavskoj gubernii S. 316-318; Andreev u.a., Jaroslavl' S. 63 u. pass.; instruktiv zur Wanderarbeit: Haxthausen, Studien Bd. 1 S. 197ff. 62 ) Vgl. MVD. Statistiäeskaja ekspedicija , Istoriieskie i statistiieskie materialy, GPB-OR f. 37ed. ehr. 22 Bd. 1 1. 83ob; übrige Daten nach: ES Nr. 45 S. 3. w ) Vgl. MVD. Statistiieskaja ekspedicija Bd. 1 1. 86.
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Ausmaß der Handelstätigkeit in Jaroslavl'. Dem entsprach, daß fast alle Kaufleute ihren Geschäften weniger am Ort selbst als vielmehr in den beiden Hauptstädten und auf den großen Messen nachgingen. 64 Die Zahl der Handwerker in Jaroslavl' war groß, das Spektrum der ausgeübten Berufe breit. Es gab dreizehn Zünfte, 65 darunter solche für so qualifizierte Berufe wie die Gold- und Silberschmiede, Uhr- und Stellmacher. Insgesamt registrierte die Kommission Anfang der sechziger Jahre 1528 Handwerker. Nur 352 davon standen im Range eines Meisters, die übrigen arbeiteten nicht selbständig. Bemerkenswert ist ebenso, daß nicht einmal die Hälfte der Handwerker als Kaufleute, meSöane und entlassene Soldaten zu den festen örtlichen Residenten gehörte (716). Der Rest kam aus anderen Städten, einige sogar aus anderen Ländern. Auf die männliche Bevölkerung von Jaroslavl' bezogen, betrug der Anteil der einheimischen Handwerker deshalb lediglich 4,4%. Vor diesem Hintergrund wird das anerkennende, aber doch nüchterne Urteil der ersten Inspektoren aus dem Innenministerium verständlich. Sie bestätigten zwar, daß es in Jaroslavl' „jede Art von Handwerk" gebe, das „für ein halbwegs wohlhabendes Stadtleben unabdingbar" sei. Aber sie wiesen zugleich darauf hin, daß seine Erzeugnisse auch hier nur „zur Befriedigung der Bedürfnisse der Städter" dienten. 66 Trotz einer langen Tradition und einer äußerst günstigen Verkehrslage entwickelte sich in Jaroslavl' ebenfalls kein handwerkliches Exportgewerbe und keine spezialisierte Produktion für einen größeren Markt. 67 In gutem Ruf stand nicht zuletzt die Industrie von Jaroslavl'. Er verband sich vor allem mit der großen Leinenmanufaktur, die vom Kaufmann Ivan Zatrapeznov unter Peter I. gegründet worden und danach in die Hände Sawa Jakovlevs übergegangen war. Diese Manufaktur hatte ihre Blütezeit indes längst hinter sich. Sie konnte sich gegen die billigeren Produkte des bäuerlichen Hausfleißes nicht behaupten und verfiel zusehends. 68 An ihre Stelle traten kleinere, auf Lohnarbeit gegründete und weniger für den Luxuskonsum produzierende Fabriken. Anfang der sechziger Jahre gab es in Jaroslavl' acht solcher Unternehmen, darunter eine Baumwollspinnerei und drei Tabakfabriken. Hinzu kamen 67 eher handwerkliche Betriebe (zavody), die zumeist die üblichen Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (Kerzen, Leder, Holzgeschirr) herstellten. 69 Dank der Nachforschungen der Revisoren läßt sich sogar M ) Vgl. ES Nr. 45 S. 5. Details zu Gegenständen und Umfang des Handels: VSO, Jaroslavskaja gub. S. 68-87. 65 ) Vgl. VSO, Jaroslavskaja gub. S. 56; Andreev u.a., Jaroslavl' S. 65. Vgl. MVD. Statistiieskaja ekspedicija Bd. 1 1. 83-83ob. 67 ) Vgl. ES Nr. 45 S.6. Vgl. MVD. Statistiieskaja ekspedicija Bd. 11. 81; auch: Andreev u.a., Jaroslavl' S. 56f. 69 ) Vgl. ES Nr. 45 S. 6f; VSO, Jaroslavskaja gub. S. 65f.
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ungefähr ermitteln, wieviele Stadtbürger (im rechtlichen Sinne) von industrieller Arbeit lebten. Ihren Angaben zufolge stammten in der Stadt und dem Kreis Jaroslavl' nur 109 (von insgesamt 5 472) Fabrik- und Manufakturarbeitern aus einem städtischen Stand, 70 überwiegend sicherlich aus dem meäöanstvo und den Zünften. Das entsprach einem Anteil von nur 1,3% aller männlichen Mitglieder der Bürgerschaft - eine verschwindende Größe, zumal wenn man die weit überdurchschnittliche wirtschaftliche Bedeutung von Jaroslavl' in Betracht zieht. Erneut erhebt sich die Frage, welcher Beschäftigung die große Mehrheit der insgesamt 18870 meä6ane nachging. Die Kommission, die Anfang der sechziger Jahre einschlägige Materialien zusammenstellte, konnte ebenfalls nur eine ungefähre Antwort geben. Sie verwies auf die überaus starke Verbreitung des „Wandergewerbes" im ganzen Gouvernement. Fast alle Einwohner, so schrieb sie, wüßten, „was in diesem oder jenem Winkel Rußlands gefragt sei", und fänden deshalb „immer eine lohnende Tätigkeit". Auch die Bürger von Jaroslavl' selbst sahen sich genötigt, diese Kenntnisse zu nutzen. Denn obgleich die Gouvernementsstadt über einen regen Handel und zahlreiche Fabriken verfügte, reichten diese doch bei weitem nicht aus, „um all jenen eine Anstellung zu verschaffen, die ihre persönliche Arbeitskraft" anboten. Deshalb vermutete die Kommission, daß wohl noch mehr Personen die Stadt verließen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als aus anderen Städten und den Dörfern herbeiströmten. Wenn man die Anzahl der an meäöane ausgegebenen Pässe und Billette (2016) auf die Gesamtzahl der männlichen Angehörigen dieses Standes bezieht, ergibt sich, daß immerhin ein Viertel für kürzere oder längere Zeit abwesend war. 71 Mit Jaroslavl' wenn auch nicht an Größe, so doch an wirtschaftlicher Bedeutung fast zu vergleichen war die Kreisstadt Rybinsk (11560 Einwohner). Dank ihrer Lage an der Wolga diente diese alte Siedlung als ein zentraler Warenumschlagplatz nicht nur des Gouvernements, sondern der Gewerberegion um Moskau überhaupt. Sie bildete, wie die Übersicht zu Beginn der sechziger Jahre formulierte, „den Ausgangspunkt des Handels und der Schiffahrt des gesamten Wolgasystems". 72 Vorrangiges Handelsgut war auch hier Getreide, das in St. Petersburg stets auf rege Nachfrage stieß; hinzu kamen alle Arten von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für den Konsum (Fleisch, Butter, Kaviar) oder die Industrie (Flachs, Hanf) ebenso wie Rohstoffe (Eisen, Kupfer) und Fertigwaren, namentlich Textilien. 73 Ange-
70
) Vgl. ) Vgl. 72 ) Vgl. 73 ) Vgl. Rybinsk. 71
MVD. Statistiieskaja ekspedicija Bd. 2 Tabelle 1. 177ob-178. ES Nr. 45 S. 5ff (Zitate ebd.). ES Nr. 45 S.33. Gorod Rybinsk S.95; VSO, Jaroslavskaja gub. S.87ff. S. auch: Arsen'ev,
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sichts einer solch umfangreichen kommerziellen Tätigkeit nimmt sich die Zahl der erklärten Vermögen - 4 der ersten, 16 der zweiten und 134 der dritten Gilde - bescheiden aus. Die weitaus meisten Kaufleute gingen dabei aber ihren Geschäften am Ort selbst nach. 74 Auch das Handwerk erreichte in Rybinsk eine „höhere Entwicklungsstufe" als in den übrigen Kreisstädten des Gouvernements. 75 Die Kommission zählte 31 Werkstätten verschiedener Sparten mit 202 Meistern und 639 Gesellen und Lehrlingen. Gut die Hälfte der Meister stammte aus der Stadt selbst. Ihrer ständischen Herkunft nach gehörten sie zum meäöanstvo (90), zur Kaufmannschaft (17), zu den Soldaten (6) und sogar zum persönlichen Adel (1). Wenn man bei den Gesellen und Lehrlingen ein ähnliches Zahlenverhältnis zwischen Einheimischen und vorübergehend Ortsansässigen annimmt, so ergibt sich, daß etwa 10% der männlichen Einwohner von Rybinsk im Handwerk beschäftigt waren - ein ungewöhnlich hoher Anteil. Weitere 7,2% rechneten im ständischen und zum allergrößten Teil auch im beruflichen Sinne zur Kaufmannschaft. Es blieben gut 80%, die ihren Lebensunterhalt - am kodifizierten Gesellschaftsideal gemessen - überwiegend durch „nichtbürgerliche" und unstandesgemäße Tätigkeiten verdienen mußten. Einige verließen die Stadt, die meisten aber fanden am Hafen und auf den Schiffen Arbeit und Brot. 76 Daneben waren Fischfang, Pferdehandel, Marketenderhandel und Bootsbau verbreitete Gewerbe. 77 Von den übrigen Städten des Gouvernements fielen nur noch wenige durch nennenswerte wirtschaftliche Aktivitäten auf. In der Umgebung von Rostov (Velikij, 10290 Einwohner) wurde Gemüse angebaut, das im ganzen Reich bekannt und begehrt war. Glaubt man den Revisoren des Innenministeriums, so hatten die Einwohner diese Kunst zu Zeiten Peters I. von den Deutschen abgeschaut, als viele von ihnen in der Moskauer Ausländervorstadt Arbeit suchten. Der Anbau erreichte bald einen solchen Umfang, daß er sich zu einer einträglichen „Industrie" entwickelte. Von ihr lebten als Zwischenhändler auch die meisten Kaufleute der nahen Stadt (185 erklärte Kapitale). 78 Ugliö (10 880 Einwohner) profitierte von seiner günstigen Verkehrslage an der Wolga sowie an der Kreuzung wichtiger Durchgangsstraßen nach Jaroslavl' und Rostov. Auch hier trieben die Kaufleute lebhaften Handel vor allem mit Getreide, Flachs, Garn und Leinwand. Insgesamt schätzte man die Zahl der
74
) Vgl. ES Nr. 45 S. 36. ) VSO, Jaroslavskaja gub. S.61. 76 ) Daten nach: ES Nr. 45 S. 36-38; zum Handwerk auch: VSO, Jaroslavskaja gub. S.61ff; Arsen'ev, Rybinsk S. 189ff. Vgl. auch: Naäöokin, Naselenie S.67. 77 ) Vgl. Gorod Rybinsk S. 105. 78 )Vgl. MVD. Statistiieskaja ekspedicija Bd. 1 1.426; ES Nr. 45 S.28f; VSO, Jaroslavskaja gub. S.92f. Vgl. auch: USakov, Oierk charaktera. 75
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Händler auf etwa 300 (erklärte Kapitale: 208). Ebenfalls als „bedeutend" galt das städtische Handwerk, wenngleich es fast ausschließlich, mit Ausnahme der Herstellung von Leinensäcken, für die örtlichen Bedürfnisse produzierte. 79 Mit Uglic an Einwohnerzahl und wirtschaftlichem Gewicht zu vergleichen war die ebenfalls an der Wolga gelegene Kreisstadt Romanov-Borisoglebsk. Allerdings wurde deren Handel in zunehmendem Maße durch die übermächtige Konkurrenz des nahen Rybinsk beeinträchtigt. 80 Zu erwähnen bleiben sieben kleinere Provinzstädte (unter 5000 Einwohner), deren Gewerbe, welcher Art auch immer, als unerheblich eingestuft wurde. Die meisten waren Verwaltungszentren eines Kreises (Danilov, Ljubim, Mologa, Myskin, PoSechon') und dürften ihre Existenzgrundlage vor allem dieser Funktion verdankt haben; zwei (Petrovsk und Norskij) besaßen nicht einmal administrative Bedeutung. Die Kaufleute dieser Flecken mußten, abgeschnitten vom Durchgangshandel, mit der Versorgung der wenig wohlhabenden örtlichen Bevölkerung vorlieb nehmen. Welcher Art ihre „Nahrungsquellen" waren, läßt sich aus einer Beschreibung von PoSechon' ersehen, einem jener zahlreichen russischen Krähwinkel, deren Öde und Leblosigkeit bei den ausländischen Besuchern einen so nachhaltigen Eindruck hinterließen. Im Jahre 1843 gab es hier etwa 51 „Vermögen", davon eines der ersten Gilde. Bis zu acht Kaufleute bezogen aus den Gouvernements Moskau und Vladimir Tuch- und Baumwolltextilien und boten sie in PoSechon' sowie in einigen Nachbarorten feil. Etwa zehn Kaufleute handelten mit Kuhbutter, die sie auf den Basaren der Umgebung erwarben, sechs mit Getreide und fünf mit Kolonialwaren und Gemüse, die übrigen mit Kleineisen, gegerbten Häuten, Leinwand und Kramwaren. Einige Kaufleute besaßen auch kleine Handwerksbetriebe. 81 Bei allen genannten Städten vermerkten die Berichterstatter, daß ein sehr großer Teil der Bürger zur Saisonarbeit in anderen Gegenden gezwungen sei. In der Tat nahmen zwischen 30% und 50% aller männlichen meäöane, in Ljubim sogar über 80%, Pässe, die in der Regel eine Abwesenheit von einem Jahr erlaubten. 82 Rechnet man die Minderjährigen und Alten ab, so ist wahrscheinlich, daß wenigstens jeder zweite erwerbsfähige Angehörige dieses Standes den Lebensunterhalt für sich und seine Familie in der Fremde verdienen mußte. Landwirtschaft war dagegen selbst in den kreisfreien Städten und den Marktflecken des Gouvernements Jaroslavl' nicht anzutreffen. 83
79
) ) 81 ) 82 ) 83 ) w
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ES Nr. 45 S. 39-45; VSO, Jaroslavskaja gub. S.58f, 97-103. ES Nr. 45 S. 24-27; VSO, Jaroslavskaja gub. S.63, 106f. Promyälennost' i torgovlja v Poäechon'e S. 443-448. O iisle pasportov vydavaemych v Jaroslavskoj gub. S.40. ES Nr. 45 S.9-12, 12-14, 14-17, 18-21, 21-24, 43-^7.
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Wohl in keiner anderen Region des Reiches waren Manufakturen und Fabriken so dicht gestreut wie im Gouvernement Moskau.84 Soweit man für diese Zeit außerhalb des Bergbaus und der Eisenverhüttung überhaupt von einer „Großindustrie" sprechen kann, konzentrierte sie sich zu einem erheblichen Teil in der alten Zarenstadt und ihrer Umgebung. 8 5 Seit ihrer Entstehung unter Peter dem Großen galt das insbesondere für die Textilherstellung und andere Zweige der Leichtindustrie. Auch die schweren Verwüstungen, die das Gouvernement Moskau während des Krieges gegen Napoleon hinnehmen mußten, schmälerten seine wirtschaftliche Bedeutung nur kurzfristig. Sie begünstigten zwar den Aufstieg der Baumwollweberei in den Dörfern des Nachbargouvernements Vladimir. Aber die Moskauer Fabrikanten und Heimgewerbetreibenden vollzogen den Übergang von Leinen und Wolle zu dem neuen, zumeist aus England importierten Rohstoff ebenfalls und hielten Anschluß. Mehr noch als die zentralisierte Produktion erstarkte dabei der bäuerliche „Hausfleiß". 8 6 Keiner Erwähnung bedarf, daß dort, wo Industrie und Gewerbe eine solche Entwicklungsstufe erreichten, zumal in der Nähe eines so großen Marktes, wie die zweite Hauptstadt des Reiches ihn bildete, auch der Handel günstige Voraussetzungen antraf. In besonderem Maße galt für das Kolomna, mit etwa 14100 Einwohnern die größte der zwölf Kreisstädte. Am Schnittpunkt wichtiger Land- und Wasserwege gelegen, die den Südosten des Gouvernements mit Moskau verbanden, gehörte sie zu den wichtigsten Handels- und Industriezentren „des ganzen Reiches", wie die Übersicht von 1862 vermerkte. Alle über die Oka nach Moskau transportierten Waren wurden im Hafen von Kolomna umgeschlagen. Auch der Außenhandel der Stadt selbst war recht umfangreich, wovon schon die hohe Zahl der erklärten Vermögen Zeugnis ablegte (345, davon neun der zweiten Gilde). Ihre „wohlhabenden und unternehmungsfreudigen Kaufleute" beteiligten sich mit beträchtlichem Gewinn an der Versorgung der alten Zarenstadt. Insbesondere lieferten sie Getreide aus den Gouvernements Orel, Kaluga und Tambov, desgleichen Hornvieh aus der Ukraine, tierische Fette, Alkohol, Salz, Holz und Ziegel in großen Mengen. Viele engagierten sich darüber hinaus in der Industrie in und außerhalb der
w ) Die Stadt Moskau selbst bleibt im folgenden unberücksichtigt. Vgl. dazu gesondert unten S.448ff. 85 ) Vgl. dazu aus der Vielzahl der einschlägigen Beiträge: Materialy dlja istorii manufakturnoj promySlennosti; Fabriinaja i zavodskaja promyälennost'; Samojlov, Atlas promyälennosti; VSO, Moskovskaja gub. S. 150ff sowie aus der sowjetischen Literatur: IM Bd. 3 S. 175 und den informativen Überblick über die „Großindustrie" in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von V.K. Jacunskij in: Oierk ekonomiöeskoj istorii S. 118-220. M ) Vgl. Protopopov, O promyslach; ferner: Meäalin, Tekstil'naja promyälennost' S. 91ff; Tugan-Baranowsky, Geschichte S.253ff.
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Stadt. In Kolomna selbst gab es 32 Fabriken, darunter drei große Seiden- und zwei große Baumwollfabriken. Daß viele mediane außer im kommerziellen Bereich auch hier beschäftigt waren, ist anzunehmen. Dessenungeachtet war die Zahl der „Abwesenden" groß. Fast ein Drittel der männlichen Kleinbürger befand sich - zumeist allerdings ,,in Handelsangelegenheiten", nicht als Wanderarbeiter - in der Fremde. Im Vergleich dazu ernährte das durchaus entwickelte Handwerk nur wenige Bürger, zumal viele Meister und Gesellen aus den Dörfern und anderen Städten kamen. 87 Auch Serpuchov (10600 Einwohner), ebenfalls südlich von Moskau gelegen, bildete ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, daß die gewerbliche Produktion hier offenbar größeren Raum einnahm als der Handel. Schon zu Beginn der vierziger Jahre stellte ein Bericht fest, daß die Kaufmannschaft hauptsächlich unternehmerisch tätig sei und „Baumwoll-, Segeltuch- und Tuchfabriken" betreibe. 88 Die Baumwollwebereien der Kaufleute Konäin und Tret'jakov zählten zu den größten des Reiches. Anfang der fünfziger Jahre waren allein in dieser Branche 7400 Arbeiter beschäftigt. 89 Auch der Handel mit Getreide und Holz erreichte ein beträchtliches Ausmaß. Allerdings konnte Serpuchov in dieser Hinsicht trotz ähnlich günstiger Lage an der Oka nicht mit Kolomna konkurrieren. Trotz zahlreicher Arbeitsplätze in der ortsansässigen Industrie suchten sehr viele mesöane ihren Broterwerb in der Fremde, vorwiegend im nahen Moskau. Über 80 % der männlichen Angehörigen dieser Korporation ließen sich einen Paß ausstellen. 90 Bekannt für seine Manufakturen und Fabriken war schließlich die Kreisstadt Bogorodsk. Die Kürze des Weges nach Moskau hatte dem Handel hier kaum Entfaltungsmöglichkeiten gelassen. Eine gewisse Belebung brachte lediglich die Lage an der Fernstraße nach Niinij Novgorod, bis der Bau einer Bahnlinie auch diesen Vorteil zunichte machte. Größere Bedeutung kam von Anfang an dem Textilgewerbe zu, das auf den umliegenden Dörfern schon zur Hauptbeschäftigung der Bevölkerung geworden war. 91 Immerhin befanden sich in dem kleinen Flecken, der von der Einwohnerzahl her (1300) eher
87 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 20-24; teilweise identisch mit VSO, Moskovskaja gub. S.230-232. 88 ) Vgl. Statistiöeskie svedenija o gorodach Moskovskoj gubernii. Gorod Serpuchov. In: Moskovskie gubernskie vedomosti. Pribavlenie k N o l 4 (4. April 1842) S. 302-311, hier S. 309. 89 ) Vgl. Krjukov, Oierk S. 120. Vgl. die vorstehenden Daten in: ES Nr. 21 S. 32-34. " ) Vgl. die sehr informative Übersicht: Statistiöeskie svedenija o Bogorodskom uezde. Auch: Statistiieskie svedenija o naselenii i promyälennosti gorodov: Bogorodska, Bronnic, Klina, Dmitrova, Zvenigoroda, Sergievskogo posada (Moskovskoj gubernii). In: ¿ M V D ¿.33 (1839) S. 29-44.
394
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einem Dorf glich, sechs Fabriken. Die Kattunweberei und -druckerei des Kaufmanns Elagin zum Beispiel verfügte sogar über eine Dampfmaschine und führte 616 Arbeiter auf ihrer Lohnliste. Die Fabriken der Kaufleute Blochin und Selaev waren ebenfalls recht moderne und große Unternehmen. Zahlreiche Händler dürften für die Lieferung der Rohmaterialien und den Verkauf der Fertigprodukte gesorgt haben. Jedenfalls gab es ungewöhnlich viele Gildenangehörige in Bogorodsk (246 „Vermögen"), von denen die wenigsten allerdings am Ort selbst tätig waren (25). Die meSöane andererseits verließen die Stadt nicht. 92 Sie fanden wohl überwiegend in den Fabriken eine Anstellung. Zu den größeren Kreisstädten zählte Vereja (5 380 Einwohner) im Südwesten des Gouvernements. Aufgrund der ungünstigen Verkehrslage und der Konkurrenz von Borovsk (Gouvernement Kaluga) und Mozajsk entwickelte sich hier jedoch weder ein nennenswerter Handel noch eine bedeutende gewerbliche Produktion. Die Kaufleute - insgesamt wurden 132 „Kapitale" erklärt, davon vier für die erste und fünf für die zweite Gilde - beschränkten ihre Geschäfte vorwiegend auf agrarische Erzeugnisse der Umgebung, vor allem auf Leinsamen und -öl. 93 Genauere Aufschlüsse über die Art ihrer Tätigkeit vermittelt ein offizielles Verzeichnis, das von der Stadtduma Anfang der dreißiger Jahre angefertigt wurde. Ihm ist zu entnehmen, daß von damals 91 Kaufleuten zwanzig an anderen Orten, zumeist wohl in Moskau, lebten. Drei unterhielten Herbergen und Garküchen, neun besaßen Schmieden und kleine Handwerksstuben, in denen sie mit Hilfe von zwei, drei Arbeitskräften Fausthandschuhe nähten. Mehr als ein Drittel schließlich (33) trieb weder Handel noch Gewerbe. Auch unter den meäöane gab es Händler, Garküchenbesitzer und Handwerker, namentlich Schmiede, Kürschner, Handschuhmacher und Kattundrucker, insgesamt aber nur wenige (etwa 50 Familien). 94 Letztere bedienten ebenso wie neun weitere Kleinbetriebe, die zu Beginn der sechziger Jahre vor allem Lederprodukte herstellten, ausschließlich den örtlichen Markt. Angesichts dessen ist es verwunderlich, daß relativ wenige mescane außerhalb der Stadt, in Moskau und anderswo, Arbeit suchten. 95 Einen anderen wirtschaftlichen Charakter besaßen die Gebiete im Norden und Westen des Gouvernements. Das bäuerliche Heimgewerbe hatte sich hier 92 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 3-5; auch: StatistiCeskie svedenija o gorode Bogorodske 1841. In: Moskovskie gubernskie vedomosti. Pribavlenie k N o 2 2 (30. Mai 1842) S.490. 93 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 8-10; VSO, Moskovskaja gub. S. 234-236; für eine frühere Zeit: Statistiöeskie svedenija o gorode Veree Moskovskoj gubernii, za 1841 god. In: Moskovskie gubernskie vedomosti. Pribavlenie k N o 2 8 (1. Juli 1842) S. 651-657. 94 ) Vgl. CGIAM f. 16 op. 4 d. 84556 1.74-85 (Kommerteskaja zapiska uöinennaja v Verejskoj gorodskoj dume sostojaäiim v g. Veree torgovym i promyälennym zavedenijam 1833 g.). 95 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 9.
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kaum entfaltet, der Ackerbau blieb die vornehmliche Beschäftigung auf dem Dorfe. Dementsprechend fehlten die Impulse, die im Süden auch auf die Städte einwirkten, und trugen diese in stärkerem Maße das agrarische Gepräge ihrer Umgebung. Der Handel von Bronnicy (2900 Einwohner) wurde als „unbedeutend" eingestuft. Das Handwerk umfaßte nur die einfachsten Fertigkeiten (Bäcker, Schuster, Schneider). Vier Ziegeleien und Talgsiedereien verdienten den Namen „Fabrik", unter dem sie firmierten, sicherlich nicht. Folglich sah sich ein großer Teil der Bevölkerung gezwungen, die Stadt zu verlassen. Etwa ein Fünftel aller registrierten Familien lebte außerdem vom Ackerbau und der Gemüsegärtnerei auf Gemeindeland. 96 Auch die Kaufleute von Dmitrov (7100 Einwohner) versorgten trotz größerer Umsätze nur den engen städtischen Markt. Das Handwerk war nicht der Rede wert. Um so größere Bedeutung kam der Wanderarbeit und vor allem der Landwirtschaft zu, die als „Hauptgewerbe" der Bürger gelten konnte. 97 Ähnliche Verhältnisse waren in Zvenigorod (1690 Einwohner) anzutreffen. Nicht nur meäcane, auch Kaufleute befaßten sich hier mit der Gemüsegärtnerei. 98 In Podol'sk (3800 Einwohner) gab es zwar 182 Kaufleute, aber nur 32 davon blieben am Ort. Einige meäöane und Kaufleute unterhielten Herbergen, da die Stadt an der Kreuzung zweier wichtiger Fernstraßen, nach Char'kov und nach Warschau, lag. Die meisten Familien aber - 200 von etwa 500 - trieben Ackerbau und Gemüsezucht. 99 Ruza war trotz einiger „Fabriken" und Handwerksstuben eine überwiegend agrarische Stadt. Die Übersicht aus der Reformzeit vermerkt, daß 250 Seelen beiderlei Geschlechts (von insgesamt 573) aus dem Kaufmannsstand und 950 (von 1963) aus dem meSöanstvo dem „landwirtschaftlichen Gewerbe" nachgingen. Die Erzeugnisse dienten dabei allein der Selbstversorgung und wurden nicht verkauft. 100 Nichts anderes als arme Kleinbauern waren auch die meisten der 2900 Einwohner von Voskresensk.m Dagegen bot der Ackerbau in den Kreisstädten Mozajsk (3570 Einwohner), Klin (4600) und Volokolamsk (2270) keinen Ausweg aus dem Dilemma unzureichender Erwerbsquellen. Obgleich Handel und Handwerk hier - insbesondere in Mozajsk - etwas weiter vorangeschritten waren, sahen sich die meisten Bürger zur Arbeit in der Fremde genötigt. Von Klin berichtete die Kommission, daß sich überhaupt nur ein Drittel der Einwohner ständig in der Stadt aufhielt. Die übrigen zwei Drittel arbeiteten
96
) Vgl. £ S Nr. 21 S. 6-8; VSO, Moskovskaja gub. S. 244f. " ) Vgl. ES Nr. 21 S. 13-16; VSO, Moskovskaja gub. S. 242f. 98 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 16-18; VSO, Moskovskaja gub. S. 239f. " ) Vgl. ES Nr. 21 S. 26-28; VSO, Moskovskaja gub. S.245f. 10 °) Vgl. ES Nr. 21 S. 29-31; VSO, Moskovskaja gub. S. 240f. 101 ) Vgl. £ S Nr. 21 S. 35-37; VSO, Moskovskaja gub. S. 246.
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entweder in den Fabriken der Umgebung oder übten in anderen Städten „die verschiedensten Berufe" aus. 102 Eine Stadt neuen Typs, die erst 1845 aus dem Dorf Vochna entstand, war Pavlovskij posad (3430 Einwohner). Die wirtschaftliche Entwicklung ging hier der rechtlichen Umwandlung voran. Der Ort gehörte zu jenen Industriedörfern, in denen sich das bäuerliche Heimgewerbe konzentrierte, zum Teil die Gestalt fabrikmäßiger Produktion annahm und denen weit eher die Bezeichnung einer Stadt im sozialökonomischen Sinne gebührte als mancher Siedlung, die unter Katharina Wappen und Urkunden erhalten hatte. Schon die erste Beschreibung vermerkte, daß ,,fast alle Einwohner Fabrikanten, Händler oder Handwerker" seien. 103 Zu Anfang der sechziger Jahre zählte man unter anderem sechs Kattunfabriken, zwölf Seidenwebereien und siebzehn Färbereien. Allein die Seidenwebereien beschäftigten zehn Jahre zuvor etwa 2140 Arbeiter 104 , die zumeist aus den umliegenden Dörfern stammten. Die neuen meS6ane webten und färbten dagegen in ihren eigenen Häusern Materialien, die sie von den Kaufleuten erhielten. Sie wurden, wie auch die Mehrzahl der bäuerlichen kustarniki, verlegt. Städtische Handwerker traditioneller Art fehlten fast völlig. 105 Der wirtschaftlichen Struktur nach mit der näheren Umgebung Moskaus eng verwandt war das Gouvernement Vladimir. Es galt spätestens seit den zwanziger Jahren als zweites Zentrum der Textil-, insbesondere der Baumwollindustrie. Mehrere Faktoren haben diese Entwicklung gefördert. Eine grundlegende Voraussetzung bestand auch hier darin, daß der Boden mit Ausnahme weniger Kreise (Jur'ev, Pereslavl', Vladimir und Suzdal') von schlechter Qualität war und nur geringe Erträge abwarf. Hinzu kamen die günstige geographische Lage zwischen Moskau und Niinij Novgorod, vorteilhafte Transportmöglichkeiten zu Lande und zu Wasser, ein reichlicher Vorrat an billigem Brennmaterial und die Verfügbarkeit von Arbeitskräften, die durch eine lange heimgewerbliche Tradition geschult waren. 106 Nicht zuletzt zog Vladimir Nutzen aus der Katastrophe von 1812. Als Moskau und seine großen Manufakturen in Flammen aufgingen, begann für die Industrie des östlichen Nachbargebietes, was die Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts bald als goldenes Zeitalter werteten. 107 Kennzeichnend für diesen Vorgang war 102 ) Vgl. ES Nr. 21 S. 10-13, 18-20, 24-26; VSO, Moskovskaja gub. S. 236-239, 241f. - Daß die Städte im Westen des Gouvernements Moskau - ausgenommen bis zu einem gewissen Grade Vereja - ihren landwirtschaftlichen Gesamtcharakter bewahrten, bestätigt auch: Danilova, Ekonomiieskoe razvitie, bes. S. 82f, 89 u. 95. 103 ) Vgl. Pavlovskij posad. In: ZMT 1845 6.1 S. 235-242, hier S.236. 104 ) Vgl. Krjukov, Oterk S. 109. 105 ) Zum Vorstehenden insgesamt: ES Nr. 21 S. 37-39. 106 ) Vgl. VSO, Vladimirskaja gub. S. 163. 107 ) Vgl. Nesytov, Oterk XXV-letnego razvitija, hier 1854 1.1 S. 121; Garelin, Gorod Bd. 1 S. 184; Tugan-Baranowsky, Geschichte S. 261f. Aus der umfangreichen
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freilich, daß er fast ausschließlich auf den Dörfern stattfand. Die Bürgerschaft profitierte davon nur in geringem Maße. Mit besonderer Deutlichkeit zeigte sich im Gouvernement Vladimir, daß die Städte von der beginnenden Industrialisierung lange Jahrzehnte hindurch kaum berührt wurden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war die Gouvernementshauptstadt selbst. Vladimir (14660 Einwohner), einst Fürstenresidenz und eine der ältesten Städte Rußlands, trug ganz und gar den Charakter eines Verwaltungszentrums. Schon die ständische Zusammensetzung der Bevölkerung machte das sichtbar: Nur 6 % gehörten der Kaufmannschaft an, aber gut 16 % dem Adel, vor allem dem persönlichen Adel, d.h. der Beamtenschaft. Dementsprechend gering war die Bedeutung von Handel und Gewerbe. Es gab in Vladimir, wie die Übersicht aus den sechziger Jahren festhielt, keine größeren Handelshäuser und nur wenige, durchweg kleine „Fabriken". Gerade in industrieller Hinsicht blieb die immerhin größte Stadt im Gouvernement hinter zahlreichen Kreisstädten und vor allem Dörfern zurück. Das Handwerk beschäftigte zwar viele Arbeitskräfte. Aber nur ein kleiner Teil davon (131 Personen) stammte aus der örtlichen Bürgerschaft selbst. Überdies war die Produktion gering und allein auf die lokalen Bedürfnisse ausgerichtet. Die große Mehrheit der meSüane und auch der Kaufleute sah sich auf andere Einkommensquellen verwiesen. Wie unter der Bevölkerung des Gouvernements insgesamt war auch unter den Bürgern der Hauptstadt die „Neigung zum gewerblichen Weggang... in bedeutendem Maße" verbreitet. „Fast das ganze Jahr hindurch" lebten sie in der Fremde, namentlich in Moskau und St. Petersburg. Wer die Stadt nicht verließ, ernährte sich größtenteils vom Obstanbau. „Jedes Haus" in Vladimir besaß einen kleinen Garten, in dem zumeist Kirschbäume angepflanzt wurden. Die Früchte fanden in Moskau, JaroslavF, Kostroma und anderen größeren Städten der Umgebung zahlreiche Abnehmer. Wie ihre Vorgänger fast hundert Jahre zuvor wiesen die Berichterstatter darauf hin, daß der Verkauf von Obst und jungen Bäumen „für viele Einwohner... die einzige Quelle der materiellen Sicherung" bildete. Die einfachen Bürger blieben wirtschaftlich gesehen Gärtner. Auch zahlreiche „Wanderarbeiter" unter ihnen übten diese und nicht etwa eine handwerkliche oder industrielle Tätigkeit aus. 108 Eine ganz andere sozioökonomische Struktur besaß Suja, die drittgrößte Stadt im Gouvernement (8600 Einwohner). Sie repräsentierte den Typus einer Fabrikstadt, den es, von einigen neuen „posady" und den beiden Literatur zur gewerblichen Tätigkeit im Gouvernement Vladimir vgl. ferner: O promyslach Vladimirskoj gubernii; Solov'ev, Obzor chozjajstva; V S O , Vladimirskaja gub. S. 162ff, bes. S. 224ff sowie die in A n m . 120 dieses Kapitels zitierten Titel. 108 ) Vgl. ES Nr. 6 S. 3 - 8 , Zitate S. 6. Auch: V S O , Vladimirskaja gub. S. 260f. Für eine frühere Zeit: Svedenija o gorode Vladimire. In: Z M V D 6 . 1 8 (1835) S. 495-507; Zablockij, ObSCee obozrenie, hier S. 115, 118.
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Metropolen abgesehen, in Rußland ansonsten noch nicht gab. Schon im achtzehnten Jahrhundert war sie für ihre Lederwerkstätten und Seifensiedereien bekannt. 109 Aber erst das bäuerliche Textilgewerbe legte den Grundstein für ihren wirtschaftlichen Aufschwung. „Die Vermögen", faßte ein zeitgenössischer Lokalhistoriker zusammen, „entstanden und bildeten sich in Suja zumeist seit 1800 durch die freigelassenen handeltreibenden Bauern" aus der Umgebung. 110 Sie machten die Stadt zu einem „äußerst bedeutenden Zentrum der Manufakturindustrie und des Handels", das sich durch einen „ungewöhnlichen Wohlstand" auszeichnete. Suja konnte sich schon in den vierziger Jahren seiner gepflasterten Hauptstraßen rühmen, eine „schöne und solide" Brücke überspannte die Tesa, die Gottesdienste fanden in steinernen Kirchen statt, deren prachtvolle Ausschmückung auf den Reichtum und die Großzügigkeit der ortsansässigen Kaufleute schließen ließ. Zu dieser Zeit wurden acht Patente der ersten und sechzehn der zweiten Gilde genommen. 111 Knapp zwanzig Jahre später, nach dem Krimkrieg und der anschließenden Wirtschaftskrise, waren die großen Vermögen auf eines - das wohl den bekannten Baumwollhändlern Kiselev gehörte - geschrumpft, aber 21 Familien konnten sich noch in die zweite und 160 in die dritte Gilde einschreiben. Die meisten dieser Kaufleute waren als Unternehmer zu bezeichnen; immerhin gab es in Suja 61 Textilfabriken und 55 kleinere Betriebe verschiedenster Art. Einige wenige besorgten den lukrativen Zwischenhandel mit den industriellen Rohmaterialien, vor allem mit Baumwollgarn und Brennholz. Breiter gestreut war der Vertrieb der Fertigprodukte. Hinzu kamen nicht unbedeutende Umsätze von Getreide, Kolonial- und Eisenwaren. 112 Auch die meäöane lebten zum Teil vom Kleinhandel. Eine größere Zahl arbeitete darüber hinaus in den Fabriken, wo sie Positionen „vom Angestellten bis zur ungelernten Hilfskraft" bekleideten. 113 Allerdings bildeten sie unter den 4300 Personen, die um 1850 in der Industrie von Suja beschäftigt waren 114 - andere Schätzungen sprechen sogar von 10000115 - nur eine kleine Minderheit. Erstaunlicherweise pachteten selbst in dieser Stadt nicht wenige Bürger Allmendeland. Der Kommissionsbericht fügte freilich hinzu, daß die Landwirtschaft in den meisten Fällen nur als zusätzliche Einkommensquelle neben Fabrikarbeit und Handel zu gelten habe. Angesichts niedriger Löhne und Gewinne scheint sie aber nötig gewesen zu sein.
109
)Vgl. ES Nr. 6 S. 51. ) Vgl. Borisov, Opisanie S. 140. lu ) Vgl. den von sichtlichem Stolz erfüllten Bericht des bekannten Statistikers K.I. Arsen'ev, Zapiska o gorode Sue. In: ZMVD 1844 £. 7 N o 7 - 9 S. 186-192, hier S. 186f. m ) Daten nach: ES Nr. 6 S. 48f, 51. 113 ) Vgl. VSO, Vladimirskaja gub. S. 283. 114 ) Vgl. Statistiieskie tablicy o sostojanii gorodov (1852) S. 5. 115 ) Vgl. Borisov, Opisanie S. 137. no
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Die Militärstatistiker wiesen jedenfalls ausdrücklich auf die große A r m u t der mescane von Suja hin, die sie als Kontrapunkt und Komplement zum ungewöhnlichen Reichtum der Kaufleute werteten. 1 1 6 Im Charakter mit Suja durchaus verwandt waren die Kreisstädte Jur'ev, Vjazniki und Pereslavl'. Allerdings erreichten sie keine vergleichbare Bedeutung. 1 1 7 Nicht nur von der industriellen Entwicklung geprägt, sondern durch sie hervorgebracht wurde - gleich Pavlovskij posad im Gouvernement Moskau die kleine, 1853 gegründete Beistadt Voznesenk (etwa 1300 Einwohner) im Kreis Suja. Sie verdankte ihre Entstehung Kaufleuten und freigelassenen Bauern, die aus dem benachbarten leibeigenen Dorf Ivanovo aussiedelten, um ihre U n t e r n e h m e n und Geschäfte auf eigenem G r u n d und Boden zu betreiben. D e r Besitzer von Ivanovo, Graf D . N . Seremetev, hatte ihnen zwar erlaubt, Fabriken und Häuser zu errichten, aber gegen Zahlung einer Pacht und mit dem Vorbehalt, daß ihm die G e b ä u d e im Falle des Weggangs zufielen. Solche Einschränkungen veranlaßten manche der neureichen Baumwollindustriellen und Händler, von den umliegenden Gutsbesitzern Land zu erwerben. Es bildeten sich „Freisiedlungen" (slobody), die zunächst der Gemeinde Suja zugerechnet, dann aber auf Bitten der Einwohner zu einer selbständigen Verwaltungseinheit mit Stadtrecht zusammengeschlossen wurden. 1 1 8 Gewiß ist zutreffend, daß sich die Gründung von Voznesensk gegen feudale Einbindungen und Privilegien richtete, daß in ihr Widersprüche und Spannungen zwischen einer neuen, auf freier Verfügung über das Eigentum beruhenden Wirtschaftsform und der Leibeigenschaftsordnung zutage traten. Zugleich ist jedoch darauf hinzuweisen, daß sie nicht nur vom Adelsstaat vollzogen, sondern überhaupt erst durch eine langjährige Symbiose zwischen kapitalistischer Industrialisierung und Leibeigenschaft - die Bauern durften Fabriken betreiben und besitzen, ja sogar Land mit „ S e e l e n " kaufen 1 1 9 ermöglicht wurde. Überdies blieb der Vorgang, obgleich er in vieler Hinsicht kennzeichnend war f ü r die Risse im ü b e r k o m m e n e n Wirtschafts- und Sozialgefüge, einzigartig und unvollendet: Ivanovo selbst konnte sich ebensowenig aus der Abhängigkeit befreien und in eine Stadt umwandeln wie alle anderen Gewerbedörfer. Das besorgte erst die R e f o r m von 1861, die faktisch auch den rechtlichen Begriff der Stadt obsolet machte und durch den sozialökonomischen ersetzte. Nicht ohne G r u n d trug Ivanovo-Voznesensk, wie der Ort bald hieß, den stolzen Beinamen eines russischen Manchester. Allein im neuen Ortsteil gab
U6
) Vgl. VSO, Vladimirskaja gub. S. 283. ) Vgl. ES Nr. 6 ~S. 54-58, 12-16, 31-35. U8 ) V g l . ES Nr. 6 S. 61f; Garelin, Gorod Bd. 1 S.209ff; PoluSin, Oierk naiala S. 251f; Ciiov, Spor. 119 ) Vgl. dazu unten S. 532ff. U7
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es zu Beginn der sechziger Jahre 32 Fabriken, darunter eine Baumwollspinnerei, sieben -Webereien und 24 -druckereien. Hinzu kamen dreizehn kleinere Zulieferbetriebe wie Bleichereien und Färbereien. In Ivanovo befanden sich weitere 35 Textilfabriken und eine Eisengießerei. Einige dieser Unternehmen zählten zu den größten und technisch fortgeschrittensten des Reiches, in denen englische Dampf- und Spinnmaschinen für eine rationelle Produktion und vergleichsweise hochwertige Erzeugnisse sorgten. Bekannt waren insbesondere die Fabriken der Familien Garelin, Baburin, Sodöin, Kuvaev (in I v a n o v o ) , Kokuäkin, Durdenevskij, Zubkov und Burylin (in Voznesenk), 1 2 0 die fast alle zu den leibeigenen Bauern der Grafen Seremetev gehört und sich freigekauft hatten. 121 Das hohe industrielle Entwicklungsniveau spiegelte sich nicht zuletzt in der Stärke und Struktur des Kaufmannsstandes. So wurden in dem kleinen Flecken Voznesenk, dessen Einwohnerzahl die eines Dorfes kaum überschritt, 179 V e r m ö g e n erklärt, davon immerhin sechs für die erste und neunzehn für die zweite Gilde. D i e Angehörigen der dritten Gilde waren überwiegend keine Fabrikanten. Sie trieben zumeist - etwa 100 Familien Ladenhandel in Ivanovo. D e n Absatz der Manufakturerzeugnisse auf den Messen in Niznij N o v g o r o d , Rostov, Irbit und in der Ukraine besorgten die größeren Handelshäuser. Daneben kam den sogenannten „ o f e n i " , einer im Gouvernement Vladimir beheimateten besonderen Gruppe vorwiegend bäuerlicher Wanderhändler, eine unentbehrliche Funktion zu. Sie trugen die Fabrikwaren „fast in ganz Rußland" 1 2 2 bis in die entferntesten D ö r f e r des Südens, des Kaukasus und Sibiriens aus. 123 Im übrigen bestand für die Bürger und Einwohner
von
Voznesensk
und
Ivanovo
keine
Notwendigkeit
zu
auswärtiger Arbeit. Soweit die meäcane nicht im Bereich des Kleinhandels eine ausreichende Erwerbsquelle fanden, waren sie in den Fabriken beschäftigt. Es ist bemerkenswert, daß sie dabei in aller R e g e l zu den ungelernten Kräften zählten, zu jenem Teil sogar, den der Lokalhistoriker und Fabrikant Garelin im Gegensatz zu den Adelsbauern als „schlechtesten", weil allem Anschein nach weniger disziplinierten und arbeitswilligen, dem Trünke und der Bummelei ergebenen bezeichnete. 124 D i e große Masse der Arbeiter kam
1 2 0 )Vgl. ES Nr. 6 S. 64f; Krjukov, Oierk S. 16; Garelin, Gorod Bd. 1 S.209. Zu Ivanovo s. ferner: PoluSin, Ocerk naiala; K.J. Arsen'ev, Selo Ivanovo. In: Z M V D 18446. 7 N o 7-9 S. 132-136; V . Bezobrazov, Selo Ivanovo; Borisov, Opisanie S. 146ff; M . Vlas'ev, Selo Ivanovo; Garelin, Zameianija; Zurov, Zametki; Nesytov, Manufakturnaja i torogovaja proizvoditel'nost', hier S. 26ff; V S O , Vladimirskaja gub. S. 288-294. 121 ) Vgl. dazu unten S. 538ff. 122 )
Vgl. Vgl. 124 ) Vgl. Ivanovo die 123 )
Ofeni Vladimirskoj gubernii S.24. ES Nr. 6 S. 65. Garelin, Gorod Bd. 1 S. 48. In grellen Farben zeichnete Vlas'ev, Selo Trunksucht, Rohheit und „Sittenlosigkeit" der armen Bevölkerungsschich-
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401
freilich aus den umliegenden D ö r f e r n . Ivanovo und Voznesensk waren wichtige Zielpunkte der Mobilität mit stark schwankender Einwohnerschaft. E n d e der fünfziger Jahre wurde die Zahl der fluktuierenden Bevölkerung mit 10000 angegeben; ständig am Ort lebten dagegen nur 5 000. 125 W ä h r e n d viele Bürger Vladimirs und mancher anderer Städte die Heimat regelmäßig verlassen m u ß t e n , weil es ihnen unmöglich war, dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zog das Dorf Ivanovo aufgrund seiner umfangreichen industriellen Tätigkeit mehr Menschen an, als die meisten Städte Einwohner zählten. Mit gutem G r u n d hat man diese paradoxe Erscheinung als typischen Ausdruck der Wirtschaftsstruktur und des Städtewesens in Rußland gewertet. 1 2 6 N e b e n den übrigen wirtschaftlich recht b e d e u t e n d e n , dabei aber stärker vom Handel lebenden Kreisstädten Murom, Melenki und Aleksandrov127 waren auch im G o u v e r n e m e n t Vladimir nicht wenige städtische Siedlungen anzutreffen, die trotz einer zum Teil erheblichen Bevölkerungszahl zu den öden, nicht einmal durch ihre administrative Funktion belebten Flecken rechneten. Nichts außer den Baudenkmälern erinnerte in Suzdal' (6520 Einwohner), einst großfürstliche Residenz, an den Glanz und den Reichtum vergangener Tage. Die ehedem ausgedehnten Handelsbeziehungen zu den ukrainischen Märkten waren abgerissen, die Kaufleute (vier der zweiten und 133 der dritten Gilde) beschränkten sich fast ausschließlich auf die Versorgung der Stadt selbst. Getreide, Kurz- und Lederwaren standen dabei an oberster Stelle. A u c h das H a n d w e r k befand sich, wie die Kommission vermerkte, „in keiner beneidenswerten Lage". Von der „ G e w a n d t h e i t in Kunst und Gewerb e " , die in alter Zeit gerühmt wurde, konnte nicht mehr die R e d e sein. Es gab lediglich die üblichen, wenig Geschick und Kenntnisse erfordernden Berufe, vom Flickschuster über den Schneider, Tischler, Böttcher und Kürschner bis zum Schmied. Zumeist arbeiteten diese allein oder höchstens mit ein, zwei Hilfskräften; auf 462 H a n d w e r k e r insgesamt kamen 219 Meister. Selbst die neun Leinen- und Baumwollfabriken am Ort waren technisch rückständig und sehr klein. A u s Mangel an Arbeit verließ etwa ein Siebtel der Einwohner die Stadt. Viele meSüane ergänzten ihre E i n k o m m e n , indem sie während der Wintermonate im A u f t r a g e von Fabrikanten aus Moskau, Suja und Voznesensk Baumwollstoffe webten. Ein großer Teil der Kaufleute und fast alle meäcane lebten von der Gemüsegärtnerei, deren weithin bekannte Erzeugnis-
ten in Ivanovo. Freilich stieß seine Darstellung auf heftigen Widerspruch (vgl. Garelin, Zameianija und Zurov, Zametki). f25 ) Vgl. Zurov, Zametki S. 3, die A n g a b e n Vlas'evs korrigierend. m ) Vgl. namentlich Korsak, O formach S. 104ff; Milukow (Miljukov), Skizzen Bd. 1 S.65ff. 127 ) Vgl. E S Nr. 6 S. 27-31; V S O , Vladimirskaja gub. S.285; ES Nr. 6 S. 23-26, V S O , Vladimirskaja gub. S.276f; ES Nr. 6 S. 8-12; V S O , Vladimirskaja gub. S . 2 6 8 .
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se die eigentliche Grundlage der städtischen Wirtschaft bildeten. 128 Von der kreisfreien Gemeinde Kiriaä (2 740 Einwohner) wußten die Abgesandten des Innenministeriums wenig zu berichten. Gut siebzig Kaufleute und weitere siebzig Handwerker - entsprechend etwa einem Viertel aller Familien versorgten die Bürger mit dem Allernötigsten. Einige kleine Seiden-, Baumwoll- und Kupferfabriken setzten ihre Produkte sogar auf auswärtigen Märkten ab. Nicht alle meScane fanden am Ort eine Beschäftigung. 129 Ein Teil arbeitete in der Textilindustrie von Moskau und Aleksandrov, andere zogen als Zimmerleute durch die Lande oder ernährten sich am Ort selbst vom Ackerbau. Insgesamt lebten sie, obgleich vom Hunger verschont, in Armut. 1 3 0 Die Kreisstadt Pokrov (3 030 Einwohner) gehörte zu den Gründungen, bei denen Katharina II. keine glückliche Hand bewiesen hatte. Einzig die nicht ungünstige Lage an der Fernstraße zwischen Moskau und Niznij Novgorod bescherte den mescane und Kaufleuten einige Erwerbschancen in Gestalt des Unterhalts von Herbergen. Auch diese Quelle versiegte indes nach dem Bau einer Eisenbahnlinie. 131 An hilfreichen verkehrsmäßigen Voraussetzungen fehlte es ebenso in Gorochovec (2570 Einwohner) nicht. Aber die dortigen Kaufleute versäumten - so jedenfalls lautete die Erklärung der Übersicht aus den sechziger Jahren - die Gelegenheit, sie zu nutzen, teils, weil sie zu wenig „Unternehmungsgeist" bewiesen, teils, weil es ihnen an Kapital mangelte. Stattdessen ernährten sich die Bürger vor allem vom Gemüseanbau. Dieser bildete „für viele die einzige Beschäftigung" und Nahrungsgrundlage, obgleich die Erträge oft kaum für die geleistete Arbeit entschädigten. Verbreitet war darüber hinaus das Spinnen von Leingarn. Die mescanki von Gorochovec entwickelten dabei eine ungewöhnliche Geschicklichkeit, die ihren Erzeugnissen in den benachbarten Gouvernements den Ruf besonderer Feinheit eintrug. 132 Vollends unerheblich waren schließlich Handel und Handwerk in der Kreisstadt Sudogda (1570 Einwohner). Die Kommission vermochte gerade sieben Schuster und Schneider zu entdecken. Sowohl die Kaufleute als auch die meScane lebten, wie die Militärstatistiker herausfanden, vor allem vom Herbergsbetrieb, von Postdiensten auf den Straßen nach Saratov und Moskau, daneben auch vom Kleinhandel und vom
128 ) Vgl. ES Nr. 6 S. 41-45, Zitat S.42f; VSO, Vladimirskaja gub. S.274; Krjukov, Oöerk S. 13f. Der Gartenbau wurde teilweise durchaus kommerziell betrieben. So wird berichtet, daß die reicheren Kaufleute der Stadt vom Frühjahr bis zum Herbst „bis zu vierzig Arbeitskräfte" zu diesem Zweck anheuerten. Vgl. I. Nesytov, Obozrenie promyälennosti goroda Suzdalja i ego uezda. In: Vladimirskie gubernskie vedomosti. Cast' neoficial'naja 1854 N o 8 (27. Nov.) S. 375-378, hier S. 377. 129 )Vgl. ES Nr. 6 S. 58-61. 13 °) Vgl. VSO, Vladimirskaja gub. S. 287. m ) Vgl. ES Nr. 6 S. 36-38; VSO, Vladimirskaja gub. S. 270. 132 ) Vgl. ES Nr. 6 S. 16-19, Zitat S. 18; VSO, Vladimirskaja gub. S.278.
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Ackerbau. Unter allen Städten des Gouvernements war Sudogda diejenige, die trotz der Anwesenheit von Behörden, Beamten und Soldaten in besonderem Maße „das Gesicht eines einfachen Dorfes" bewahrte. 133 Der Handel im Gouvernement Kaluga bestand vornehmlich in der Weiterbeförderung von Gütern aus anderen Landesteilen. Dank ihrer geographischen Lage fiel dieser Region eine wichtige Rolle bei der Versorgung von Moskau und St. Petersburg mit Getreide und Hornvieh aus der Ukraine und Südrußland sowie für den gesamten Warenverkehr zwischen den Schwarzmeerhäfen und Nordrußland zu. Auch Exportfracht wie Getreide, Leder, Pelze, Eisen und Segeltuch wurde von hier aus über Gfatsk (Gouvernement Smolensk) auf den Weg nach Riga gebracht. Von dieser Tätigkeit profitierte indes im wesentlichen nur die Hauptstadt (35000 Einwohner) selbst. 134 Hier existierte auch ein relativ bedeutendes, zünftig organisiertes Handwerk, das in 382 Betrieben 1320 Personen, davon 43 Kaufleute und 1277 meSüane (entsprechend knapp 14 % aller männlichen Angehörigen der letztgenannten Korporation) aus der örtlichen Bürgerschaft beschäftigte. 135 In den Kreisstädten dagegen konnten sich Handel und Handwerk kaum entwickeln. In den Läden wurden zumeist lediglich „billige Waren des alltäglichen Bedarfs" angeboten; die Umsätze blieben durchweg „unerheblich". 1 3 6 Wenig Hilfe brachte die alteingesessene, bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichende Leinenindustrie. Zum einen war sie ebenfalls vornehmlich eine Angelegenheit des Dorfes. Zum anderen versäumten die kustarniki und Kaufleute dieses Gouvernements im Gegensatz zu ihren Konkurrenten um Moskau und Vladimir nach der Jahrhundertwende, sich auf die zukunftsträchtigen Baumwollstoffe umzustellen. Der Absatz stockte, die Unternehmen gerieten in eine tiefe Strukturkrise, die mancherorts auch einige meäöane um Arbeit und Brot brachte. 137 Im Gouvernement Niznij Novgorod war die Diskrepanz zwischen der Hauptstadt und den übrigen Siedlungen, deren Einwohner Bürgerrecht genossen, in jeder Hinsicht besonders groß. Erstere verdankte ihre wirtschaftliche Bedeutung gleich Jaroslavl', Rybinsk oder Tver' vor allem ihrer Lage an
133 ) Vgl. ES Nr. 6 S. 38-41, Zitat S. 39. Auch: I. Nesytov, Obozrenie promyälennosti goroda Sudogda i ego uezda. In: Vladimirskie gubernskie vedomosti. Cast' neoficial'naja 1854 Nr. 49 (4. Dez.) S. 381-383. 134 ) Vgl. VSO, Kalufekaja gub. S. 102f; MGS, Kaluiskaja gub. Bd. 1 S.653. 135 ) Vgl. ES Nr. 14 S. 5. Zu den Zünften ausführlicher: MGS, Kaluiskaja gub. Bd. 1 S. 634ff. 136 ) Vgl. MGS, Kaluiskaja gub. Bd. 1 S.653. 137 ) Vgl. VSO, Kaluiskaja gub. S. 96f. Zur Krise der Leinenindustrie ferner: V.K. Jacunskij, Krupnaja promySIennost' Rossii v 1790-1860gg. In: Oierki ekonomiieskoj istorii S. 138ff; Isaev, Rol' S.215ff; Paiitnov, Oierki. Chlopöatobumainaja. .. promyälennost' S. 179 u. pass.
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der Wolga. Hinzu kam, daß vor ihren Toren beim Kloster von Makar'ev seit altersher eine Messe stattfand, die sich bald zum wichtigsten Großhandelsplatz des ganzen Reiches entwickelte 138 und 1817 nach Niznij Novgorod selbst verlegt wurde. Vom „intermittierenden Handelsfieber" des temporären Marktes 139 war die Wirtschaftstätigkeit der Stadt selbst zu trennen. Zwar verschaffte dieses Ereignis vielen der gut 38000 Einwohner lohnende Erwerbschancen, etwa den Bäckern oder den mesöane zweier Vororte, die ihre Häuser zur Messezeit vermieteten. 140 Doch waren die Auswirkungen durchaus ambivalent. Dem Einzelhandel fügte die alljährliche Konkurrenz großen Schaden zu, da sich nicht nur die Bürger, sondern auch die Adeligen und Bauern der Umgebung mit Vorräten für den ganzen Winter eindeckten. 141 Dennoch blieben für die 221 Kaufmannsfamilien der Stadt genügend Einkunftsquellen übrig. Sie bestanden vor allem im lukrativen Groß- und Transithandel mit Getreide, Salz, Eisen, Stahl, Holz, Fisch und Filzprodukten, der am Hafen abgewickelt wurde. 142 Daraus erklärt sich, daß der größte Teil der meäöane und sonstigen Einwohner der Stadt, zumal außerhalb der Messezeit, seinen Lebensunterhalt vom Erlös aus verschiedenen Tätigkeiten am Hafen und auf den Schiffen bestritt. Anderen Wirtschaftszweigen kam demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle zu. Die Industrie beschäftigte kaum mehr als tausend Arbeiter. Weitere 2120 Personen, darunter 1200 örtliche Bürger - entsprechend 22 % aller männlichen meäcane und Zunftangehörigen - übten ein Handwerk aus. Sie stellten allerdings keine spezialisierten Erzeugnisse her und bedienten nur den örtlichen Markt. 1 4 3 Unter den Kreisstädten besaß Arzamas (11480 Einwohner), an der Kreuzung der Fernstraßen nach Saratov und Simbirsk günstig gelegen, eine gewisse Bedeutung als Handelsort. 144 Vor allem aber ragte trotz seiner erheblich niedrigeren Einwohnerzahl (3130) Gorbatov hervor. Die dortigen Kaufleute erzielten „bedeutende" Umsätze als Grossisten für Schlosserwaren, die sie aus den bäuerlichen Werkstätten der Umgebung bezogen. Besonderer Berühmtheit erfreuten sich unter diesen Gewerbedörfern die Besitzungen des Grafen Seremet'ev Pavlovo und Vorsma, die Enthusiasten des wirtschaftli-
138 ) Vgl. u.a.: Ostrouchov, Niiegorodskaja jarmarka; Bezobrazov, Oöerki Niiegorodskoj jarmarki; Mel'nikov, Niiegorodskaja jarmarka; VSO, Niiegorodskaja gub. S.77ff. Aus der umfänglichen Reiseliteratur insbes.: Haxthausen, Studien Bd. 2 S. 420ff; Dupré de Saint-Maure, Péterbourg Bd. 1 S. 143ff; Barry, Neues Rußland S. 219ff. 139 ) Vgl. Kennan, Sibirien S. 11. 140 ) Vgl. ES Nr. 22 S.8f. 141 ) Vgl. Ostrouchov, Niiegorodskaja jarmarka S.214, 217f. 142 ) Daten nach ÉS Nr. 22 S. 5f. 143 ) Vgl. ES Nr. 22 S. 7-9. 144 ) Vgl. ebd. S. 15-19; VSO, Niiegorodskaja gub. S. 102f.
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chen Fortschritts in Rußland gar mit Birmingham verglichen. 145 Die Analogie war gewiß vermessen; immerhin aber glichen diese Siedlungen, in denen sich fast jeder Hof in eine Schmiede verwandelt hatte, in der Tat einer dezentralisierten Fabrik, die Messer, Scheren, Beile, Sicheln und andere Metallwaren für Märkte im ganzen Reich herstellte. Die Kaufleute der nahen Stadt profitierten von der bäuerlichen Kunst, sei es, daß sie die Handwerker verlegten oder die Lieferung von Rohstoffen und den Verkauf der Fertigwaren übernahmen, ohne eine direkte Abhängigkeit darauf zu gründen. Bezeichnend ist, daß nur zwölf von 61 Gildenmitgliedern in Gorbatov selbst Handel trieben. Die übrigen lebten ständig auf den Dörfern. Zweifellos befanden sich darunter - neben Stadtbürgern, die an den Ort ihrer Hauptbeschäftigung umsiedelten - auch manche ehemals leibeigenen Besitzer größerer Schmiedewerkstätten, denen es gelungen war, sich freizukaufen und der Bürgerschaft beizutreten, ohne daß sie deshalb ihren tatsächlichen Wohnsitz wechselten. Keinen Gewinn bescherte die bäuerliche Hausindustrie den meSiane; sie befaßten sich in Gorbatov vornehmlich mit der Fertigung von Schiffs- und Fischfanggeräten. 146 In sehr geringem Maße entsprachen die übrigen Städte des Gouvernements der Funktion, die sie neben den administrativen Aufgaben eigentlich wahrnehmen sollten. Nur gelegentlich erwähnte die Kommission spezielle Handwerke. 147 Keines davon bediente einen größeren Markt. Der Handel beschränkte sich auf den Verkauf der üblichen Kleinwaren. Gelegentlich reichte er nicht einmal aus, um die Stadtbewohner mit dem Allernötigsten zu versorgen. 148 Der überwiegende Teil der Bürger war gezwungen - soweit er nicht vom Ackerbau lebte 149 - in der Fremde einen Broterwerb zu suchen. Viele fanden ihn an den Kais und auf den Schiffen der Wolga sowie auf der Messe von Niinij Novgorod. 150 Andere trieben Viehherden durch die Steppe, schleppten, wie zahlreiche Bauern, Lastkähne stromaufwärts oder gingen gar als Goldschürfer nach Sibirien. 151 Schon zur Schwarzerdzone rechneten nach der üblichen geographischen Einteilung die Gouvernements Tula und Rjazan'. In wirtschaftlicher Hinsicht freilich wiesen zumindest die nördlichen Kreise Merkmale auf, die sie eher 145 )Vgl. Mel'nikov, Pavlovskaja promySIennost' S. 101; ferner: Selo Pavlovo. In: ZMT 1846 i. 4 S. 356-367; Labzin, Issledovanie; Vodarskij, PromySlennye selenija S. 165ff; Serbina, Krest'janskaja ielezodelatel'naja promyälennost' S.72ff, 117ff. 146 ) Vgl. ES Nr. 22 S.27f. 147 ) Vgl. ebd. S.21, 38, 35. 148 ) Vgl. ebd. S. 41. 149 ) Vgl. ebd. S. 14, 41 u. 43. 15 °) So vor allem Ardatov (ebd. S. 14), Balachna (S.22), Vasil' (S.25), Knjaginin (S. 31) und Makar'ev (S.36). 1S1 ) Vgl. ebd. S. 41 (Sergaö')-
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
mit dem zentralen Gewerbegebiet verbanden 152 und auch den Städten einen ähnlichen Charakter gaben. Einen herausragenden Platz nahm dabei insbesondere die Gouvernementsstadt Tula ein. Sie verdankte diese Stellung nicht nur der großen Einwohnerzahl (knapp 58000), sondern vor allem den vielen Metallfabriken. Mit gutem Grund galt Tula als bedeutendstes Industriezentrum nach Moskau und St. Petersburg. 153 Das Fundament für diese Entwicklung hatte Peter I. gelegt, als er die Stadt wegen einiger Eisenerzvorkommen in der näheren Umgebung zum Standort einer staatlichen Waffenmanufaktur bestimmte. 154 Noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts produzierten die 73 größeren Unternehmen 1 5 5 in erster Linie für den Armeebedarf. Daneben waren insgesamt etwa 5 700 Personen verschiedener Standeszugehörigkeit im Handwerk tätig, das ebenfalls vor allem Metallerzeugnisse herstellte. Allerdings stammten die weitaus meisten davon aus anderen Städten. Zu den dauerhaft Ansässigen gehörten lediglich knapp 2000 oder 6 , 5 % der männlichen Einwohner. Selbst in Tula lebte mithin nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung vom Handwerk. Die Mehrheit dürfte auch hier im Bereich des Handels ihr Auskommen gefunden haben. Für das große Gewicht auch dieses Wirtschaftszweiges spricht jedenfalls die hohe Zahl der erklärten Vermögen (322, davon drei der ersten und 21 der zweiten Gilde). 156 Neben Tula verdiente noch der weitaus kleinere Ort Belev (7 820 Einwohner) Erwähnung. Aufgrund seiner günstigen Lage an der Oka gehörte er ,,zu den ganz wenigen Kreisstädten" des Gouvernements, „die einen bedeutenden Handel" trieben. 157 Ansonsten beschränkte sich der Warenverkehr, obwohl etwa in Efremov, Bogorodick, Kasira, Krapivna, Venev und Odoev überdurchschnittlich viele Gildenpatente erworben wurden, auf die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen des alltäglichen Bedarfs. Die Prädikate, welche die Regierungsprüfer dafür fanden, wechselten zwischen „bedeutungslos" und „völlig nichtig". 158 Nur wenige Städte wie Kasira vermochten diesen Mangel auf Dauer durch eine besondere Entfaltung von Handwerk und Gewerbe auszugleichen. 159 Angesichts dessen erhebt sich erneut die Frage, wovon die große Mehrheit der Bürger eigentlich lebte. Auch für das Gouvernement Tula kann die allgemeine Antwort gegeben werden: von Wanderarbeit aller Art, von
152
) Vgl. VSO, Tul'skaja gub. S.62; MGS, Rjazanskaja gub. S. 164f. ) Vgl. ES Nr. 41 S.5. >54) Vgl. VSO, Tul'skaja gub. S. 122. 155 ) Vgl. Krjukov, Oöerk S.213f. 156 ) Daten nach ES Nr. 41 S. 4-6. 157 ) Vgl. ES Nr. 41 S. 17. 158) V g l e b d s g_42 pass. 153
159
) Vgl. ebd. S. 30.
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
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Anstellungen beim Alkoholausschank, vom Fischfang, vom Gemüseanbau 160 und von verschiedenen Diensten, sei es als Kaufmannsgehilfe, Briefbote oder Türsteher. Hinzu kam als Besonderheit von Belev der Marketenderhandel beim Heer. Als russische Truppen die geschlagenen Bataillone Napoleons verfolgten, soll es „kaum einen Bürger von Belev" gegeben haben, der nicht „ganz Deutschland" durchquert hätte und in Paris gewesen wäre. So zwang der Mangel an ausreichenden Erwerbsquellen in den Städten selbst die Einwohner zu einem überwiegend gewiß armseligen nichtseßhaften Handel, der zum Teil über Generationen tradiert wurde. 161 Die Hauptstadt des benachbarten Gouvernements Rjazan' (25 000 Einwohner) konnte sich in wirtschaftlicher Hinsicht nicht im entferntesten mit Tula messen. Sie verdankte ihren relativen äußeren Wohlstand einzig der administrativen Funktion. 162 Überhaupt hatten Handel und Gewerbe nur in drei Provinzstädten ein nennenswertes Niveau erreicht: in Egor'evsk dank der Gründung einer der modernsten Baumwollspinnereien des Reiches (durch die Chludovy) im Jahre 1846, in Zarajsk und Kasimov dank traditioneller Transitgeschäfte mit Getreide und Vieh. 163 Von den übrigen Städten wußten die Inspektoren nichts Vorteilhaftes zu berichten. Die Einwohner der Kreisstadt Spassk blieben, was sie immer gewesen waren - einfache Bauern. Sie gaben sich keine Mühe, wie tadelnd vermerkt wurde, sich dem „Ehrenrang eines Bürgers" würdig zu erweisen. 164 Da lohnende Alternativen fehlten, taten sie auch richtig daran. Denn die meäöane, die etwas Boden besaßen oder ihn von der Gemeinde oder Privatpersonen pachten konnten, standen sich bei aller Beengtheit ihrer Lebensverhältnisse noch vergleichsweise gut. 165 Schlechter war es um diejenigen bestellt, denen diese Möglichkeit aus verschiedenen Gründen, sei es aus Mangel an Allmendeland oder wegen zu hoher Pachtpreise, versperrt war. Solche meSöane konnten, wie man aus der Kreisstadt Pronsk berichtete, „ihren Unterhalt kaum fristen". Ihre „ A r m u t " war „groß", und oft fehlte es ihnen an den „Gegenständen des allerdringendsten Bedarfs, wie etwa Rindfleisch". 166 Die Enquete der Stadtreformkommission aus den sechziger Jahren ermöglicht es aufgrund ihrer Vollständigkeit und relativen Einheitlichkeit, die
160 )Vgl. ebd. S. 11 (Aleksin), 22 (Venev), 31 (Kaäira), 36 (Novosil'); VSO, Tul'skaja gub. S. 137 u. pass. 161 ) Vgl. ES Nr. 41 S. 18. 162 ) Vgl. ES Nr. 32 S. 3-6, hier S. 4; MGS, Rjazanskaja gub. S. 499. 163 )Vgl. MGS, Rjazanskaja gub. S. 500-506, 523-527; ES Nr. 32 S. 9-11, 11-14, 14-18. 164 ) Vgl. MGS, Rjazanskaja gub. S. 522. 165 ) Vgl. ebd. S. 145. 166 ) Vgl. ebd. S. 511.
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B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
Städte, wenn auch sehr grob und ohne Anspruch auf statistische Genauigkeit, nach bestimmten Aspekten ihrer wirtschaftlichen Struktur und Bedeutung zu rubrizieren. Ein solcher Versuch zeigt zusammenfassend (vgl. Tabelle 39 und 40), daß die industrielle und kommerzielle Tätigkeit in fast allen Gouvernementshauptstädten und gut der Hälfte der 94 Kreis- und sonstigen Städte des zentralen Gewerbegebietes (unter Einschluß des Gouvernements Moskau) ein erhebliches oder doch zumindest nennenswertes Ausmaß erreichte. Merklich geringeres Gewicht kam dem Handwerk zu. Die Landwirtschaft überwog in 19 Siedlungen, die Stadtrecht genossen, während in über vierzig die Mehrheit und in vielen weiteren (etwa 34) ein großer Teil der Bevölkerung gezwungen war, ihr Auskommen außerhalb des Heimatortes als Wanderarbeiter, Bedienstete aller Art, Handlungsgehilfen oder reisende Händler zu suchen. Auch in der zentralen Gewerberegion boten mithin Handel, Handwerk und Industrie noch gegen Ende der Leibeigenschaftsperiode den Bürgern keine ausreichende Lebensgrundlage.
3.
Die übrigen Regionen
In knapperer Form sei die wirtschaftliche und soziale Struktur der Städte in den übrigen europäischen Regionen des Zarenreiches beschrieben. Dies ist um so eher angezeigt, als im großen und ganzen keine neuen Typen und Erscheinungen zu beobachten sind. Ein Unterschied ist lediglich darin zu sehen, daß außerhalb der gewerblichen Kernzone - die baltischen Länder 167 und die Schwarzmeerküste ausgenommen - noch mehr und in manchen Gouvernements sogar vorwiegend Städte anzutreffen waren, die diese Bezeichnung lediglich aufgrund ihrer rechtlichen Lage sowie ihrer administrativen und militärischen Funktion trugen, in sozialökonomischer Hinsicht aber weitgehend Dörfer blieben. Soweit die verfügbaren Quellen Einsicht gewähren, boten die Bürgergemeinden in diesen Regionen, insgesamt betrachtet, ein wenig differenziertes Bild, arm nicht nur an besonderen Merkmalen, Funktionen und Leistungen, sondern vor allem auch an Bewegung und Veränderung. Was an den Städten des zentralen Landwirtschaftsgebietes als erstes auffällt, ist neben ihrer großen Zahl der Bevölkerungsreichtum. Nicht wenige Gouvernementshauptstädte rechneten zu den größten des Reiches: Saratov (83800 Einwohner), Kazan' (59400), Char'kov (50300), Voronez (39500) und Orel (35 800). Bemerkenswerter noch war, daß auch die Kreis- und sonstigen kleineren Städte in der Regel erheblich mehr Menschen zählten als 167 ) Diese Region bleibt im folgenden wegen ihrer mannigfachen, historisch begründeten Besonderheiten außer Betracht.
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
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vor allem in der nördlich angrenzenden Region. Im Gouvernement Orel etwa gab es unter elf Städten fünf, in denen über zehntausend Menschen lebten. Elec (25 400) oder Kozlov (24170 im Gouvernement Tambov) konnten sich mit vielen Residenzorten von Provinzregierungen messen. Ursache dieser Größenverhältnisse war die allgemein hohe Bevölkerungszahl in der zentralen Schwarzerdzone. Die Städte spiegelten lediglich ein demographisches Kennzeichen der Umgebung. Nichts spricht dafür, daß sie attraktiver gewesen wären als in anderen Gegenden und eine überdurchschnittliche regionale Mobilität in Gang gesetzt bzw. davon profitiert hätten. Diese Vermutung ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die höhere Einwohnerzahl sich offenbar nicht, wie man erwarten könnte, fördernd auf Handel und Gewerbe der Städte auswirkte. Aus Tabelle 40 ist zu entnehmen, daß über die Hälfte (108 von 183) der Kreis- und kreisfreien Städte sowie der posady zu jenen Flecken rechneten, deren kommerzielle Tätigkeit von den staatlichen Inspektoren als völlig unbedeutend eingestuft wurde. Besonders viele dieser Orte fanden sich in den Gouvernements Cernigov, Char'kov, Poltava, Penza, Kursk, Simbirsk und Kazan', weniger in den wirtschaftlich stärker entwickelten Gouvernements Orel und Tambov. Es verdient Beachtung, daß nicht nur Marktflecken und kleinste Orte, wie zumeist im zentralen Industriegebiet, sondern auch Kreisstädte mit größerer Bevölkerung unter diese Kategorie fielen. In Konotop nahmen von knapp 10000 Einwohnern nur 34 ein Gildenpatent, in Krolevec (beide im Gouvernement Cernigov) von 7270 Einwohnern nur 27, in Lebedin von 13750 nur 25, in Achtyrka (beide im Gouvernement Char'kov) von 17320 Einwohnern nur 36; an weiteren Beispielen herrscht kein Mangel. 168 Von selbst versteht sich, daß fast alle Vermögen für die dritte Gilde erklärt wurden und solche der beiden ersten Gilden noch dünner gesät waren als im zentralen Industriegebiet. 169 Viele dieser kleinen Kaufleute gingen ihren Geschäften überdies nicht in den Städten nach und trieben keinen seßhaften Handel. Sie lebten zum Teil auf den Dörfern, um engeren Kontakt zu den Bauern zu halten, deren Produkte sie erwarben. 1 7 0 Meistens aber reisten sie durchs Land, kauften die verschiedensten Waren auf und verkauften sie in den Städten an wohlhabendere Standesgenossen, die vielleicht schon der zweiten Gilde angehörten. „Abwesenheit aus geschäftlichen Gründen" zählte zu den häufigsten Gründen für die Beantragung von Pässen, von denen im übrigen nicht wesentlich weniger ausgestellt wurden als im zentralen Industriegebiet. 171 Beide Tatbe168
) Vgl. ES Nr. 44 S. 15f u. 18; Nr. 42 S. 10 u. 27. ) Vgl. unten Tab. 33. 170 )Vgl. ES Nr. 27 S.20 (Nünij-Lomov, Gouvernement Penza); ebd. Nr. 35 S. 19 (BalaSov, Gouvernement Saratov). 171 ) Vgl. u.a. ES Nr. 13 S. 22 (Svijaisk, Gouvernement Kazan"); Nr. 39 S. 9 (Borisoglebsk), S.24 (Lipeck, beide Gouvernement Tambov); Nr.26 S.20 (Elec), S. 35 169
410
B. Zur sozialen Kennzeichnung des Bürgertums im 19. Jh.
stände, die geringe Zahl der Vermögen und die weite Verbreitung der sogenannten „Aufkäuferei" (kulaöestvo, prasol'stvo), legen die Annahme nahe, daß sich selbst der Kram- oder Ladenhandel in den Städten der zentralen Schwarzerdgouvernements kaum entfaltete. Die Einwohner brauchten nur wenig Waren. Sie lebten, da sie die Nabelschnur zum bäuerlichen Dasein noch nicht durchtrennt hatten, weitgehend subsistent. Dies galt um so eher, als ihre Bedürfnisse, wenn man den ständig wiederholten Formulierungen der Enquete glauben darf, äußerst bescheiden waren. Soweit die Ansprüche dennoch über den Markt befriedigt wurden, geschah dies zudem vor allem auf den wöchentlichen Basaren und den jährlichen Messen. 172 Dem ständigen Handel in den Läden und Buden fehlte in noch höherem Maße die Grundlage als in den Städten Mittelrußlands - war hier doch immerhin eine nicht geringe Zahl gewerblicher Wanderarbeiter zu ernähren und die Subsistenzmöglichkeit durch Landmangel und schlechte Bodenqualität stark eingeengt. Auch die Gegenstände des Handels waren naturgemäß im zentralen Schwarzerdgürtel teilweise andere. Sie beschränkten sich fast ausschließlich auf Erzeugnisse der Land-, Vieh- und Waldwirtschaft. An erster Stelle rangierten Getreide und Hornvieh. Ferner gehörten tierische Fette, Leinöl, Leinsamen, Flachs, Holz, Felle und Häute aller Art, Wachs, Honig und Birkenteer zu den häufigsten Waren. Nur selten berichteten die staatlichen Prüfer von einem nennenswerten Handel mit gewerblichen und Manufakturprodukten. Er konzentrierte sich an den wenigen großen Umschlagplätzen für Waren aller Art, namentlich in Kazan', Saratov, Char'kov und anderen Gouvernementsstädten, aber auch in einigen Kreisstädten wie Brjansk (im Gouvernement Orel) oder Kremenüug (Gouvernement Poltava). 173 Darin ist ein gewisser Unterschied zum zentralen Industriegebiet zu sehen. Zur Genüge ist bezeugt, daß das Handwerk unter den Bürgern und den übrigen Stadtbewohnern der zentralen Schwarzerdzone eher noch weniger Verbreitung fand als der Handel. Schon der quantitative Anteil der damit befaßten Personen blieb, wie gezeigt wurde (vgl. Tabelle 35) unerheblich. Dem entsprachen das niedrige qualitative Niveau und die geringe Bandbreite der Produkte. Ausschließlicher noch als im zentralen Gewerbegebiet beschränkte sich das Handwerk auf die Verarbeitung agrarischer und tierischer Rohmaterialien. Zu den häufigsten Erzeugnissen zählten Schuhe und Stiefel, aus Schafsfellen gefertigte sogenannte Bauernpelze, Kerzen, Bindfäden und ähnliches mehr. Ganz selten wurden, wie etwa in Kuzneck (Gouver-
(Maloarchangel'sk, beide Gouvernement Orel); Nr. 9 S. 15 (Boguöar) u. S. 18 (Valujki, beide Gouvernement Voronei). 172
) Vgl. Ryndzjunskij, Gorodskoe graidanstvo S.254. ) Vgl. ES Nr. 13 S. 5-7; MGS, Kazanskaja gub. S. 396ff; ES Nr. 35 S. 5-9; Nr. 42 S. 5-7; Nr. 9 S. 4-6; Nr. 26 S. 13; Nr. 30 S. 21f. 173
II. Wirtschaftliche Tätigkeit und soziale Gestalt
411
nement Saratov) Metallgegenstände hergestellt, 174 in erstaunlich geringem Maße auch Textilien. Daneben gab es natürlich die üblichen Handwerke, die Gegenstände bzw. Dienstleistungen des täglichen Bedarfs anboten. Qualifizierte Gewerbe, die einen größeren Markt mit hochwertigen Gütern versorgten, aber fehlten sogar in den meisten Gouvernementsstädten. Eine Ausnahme bildeten lediglich Kazan', dessen diversifiziertes, bedeutendes Handwerk insbesondere für seine Pelze und Equipagen berühmt war, Char'kov, das unter anderem Teppiche exportierte, und Voronez, wo ebenfalls Kutschen für den Verkauf auf den Messen des Reiches angefertigt wurden. 175 Andererseits fanden die Inspektoren selbst in einer so großen Stadt wie Saratov keine Handwerke, die „sich durch irgendeinen besonderen Charakter ausgezeichnet" hätten. 176 In Tambov gab es für gut 33700 Einwohner gerade 310 selbständige Meister, darunter 143 Einheimische, in Poltava (28500 Einwohner) immerhin 901 Handwerksbetriebe. Letztere produzierten freilich ebenfalls „auf einer sehr niedrigen Stufe der Vollendung" und bedienten, wie in Kursk, Saratov, Cernigov und den meisten Gouvernementsstädten auch, nur den örtlichen Markt. 177 Kein anderes Bild boten erwartungsgemäß die Kreis- und sonstigen kleineren Städte. Einige wenige verfügten über ein nennenswertes Handwerk: Sudza im Gouvernement Kursk konnte sich seiner Schmiedewaren rühmen, die als die besten der ganzen Gegend galten; in Saransk (Gouvernement Penza) verdiente das Schusterhandwerk Beachtung, in Ardon (Gouvernement Cernigov) die Stellmacherei und Strumpfwirkerei, in Achtyrka (Gouvernement Char'kov) die Lederverarbeitung und Töpferei; in Bolchov und Brjansk (Gouvernement Orel), Sumy (Gouvernement Char'kov) oder Kremeniug (Gouvernement Poltava) entwickelte sich schon aufgrund der großen Bevölkerungszahl ein relativ vielgestaltiges Gewerbe. 178 Doch waren solche Fälle selten. Wenn man die Mittel- und Kleinstädte auf der Grundlage der Enquete von 1862 hinsichtlich der Bedeutung des Handwerks gruppiert, so ergeben sich folgende ungefähre Proportionen (vgl. Tabelle 40): acht waren zur obersten Kategorie zu rechnen, 34 zur mittleren und 137 zur untersten. In den Orten der letztgenannten Kategorie wurden in der Regel lediglich die einfachsten Berufe ausgeübt. In Zolotonoäa (Gouvernement Poltava, 6720 Einwohner) etwa gab es nur Schneider, Schuster und Schmiede, insgesamt 94 an der Zahl, in Konstantinograd (3690 Einwohner, ebenfalls Gouvernement
174
) Vgl. ES Nr. 35 S. 30. ) Vgl. ebd. Nr. 13 S. 7; MGS, Kazanskaja gub. S. 345ff; Nr. 42 S. 7; Nr. 9 S. 6. 176 ) Vgl. ES Nr. 35 S. 9 (Zitat). 177 ) Vgl. ebd. Nr. 39 S. 5 u. Nr. 30 S. 5 (Zitat). 178 )Vgl. ES Nr. 18 S. 33; Nr. 27 S.23; Nr. 44 S. 48; Nr. 42 S. 10; Nr. 26 S. 10, 14 Nr. 42 S. 32f; Nr. 30 S.22f. 175
412
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