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German Pages 368 Year 2014
Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule
Sozialtheorie
Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.)
Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus
In Zusammenarbeit mit der Fondation Bourdieu
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Inhalt
Einleitung. Rezeption, Wirkung und gegenseitige (Fehl-)Wahrnehmung
Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller & Franz Schultheis | 7 Die Produktion der herrschenden Ideologie Pierre Bourdieu | 29 Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln? Ullrich Bauer & Uwe H. Bittlingmayer | 43
I. POLARISIERUNGEN Endstation Frankfurt. Eine Polemik zur Rezeption Bourdieus in der deutschen Sozialphilosophie Stephan Egger | 85 Distinktion, Heteronomie und Eindimensionalität im Denken von Bourdieu und der Kritischen Theorie Tatjana Freytag | 107 „Worldmaking“ oder „die Durchsetzung der legitimen Weltsicht“. Symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt als Schlüsselkonzepte der Soziologie Pierre Bourdieus Maja Suderland | 121 Subjektivität und Habitus. Pierre Bourdieus Beitrag zu einer soziologischen Theorie des Subjekts und das Problem der ungesetzlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen Albert Scherr | 163
II. KONVERGENZEN Mit gemischten Gefühlen. Parallelen oder Differenzen zwischen Bourdieu und den Frankfurtern in ihrem Verhältnis zur Arbeiterbewegung? Margareta Steinrücke | 189 Kritikinstrument oder perfide Herrschaftsverlängerung? Differenzen und Gemeinsamkeiten im Bildungsverständnis zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule Uwe H. Bittlingmayer & Diana Sahrai | 215 Nomos und Habitus. Anmerkungen zu Gesellschaftstheorie, Arbeitsteilung und Herrschaft bei Adorno und Bourdieu Alex Demiroviü | 251
III. VERKNÜPFUNGEN Die Analyse von Macht und Herrschaft. Was soll sein? Gregor Bongaerts | 267 Bourdieu, Habermas und die kritische Pädagogik Sven Kluge | 287
IV. POLITISIERUNGEN Der Streit um den ästhetischen Blick. Politik und Ästhetik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière Jens Kastner | 317 „Konsequenzen ziehen“. Das soziologische Engagement Pierre Bourdieus Gerard Mauger | 341
V. AUSBLICK Ein intellektuelles Erbe hinterlassen und antreten
Louis Pinto | 353 Autorinnen und Autoren | 365
Einleitung Rezeption, Wirkung und gegenseitige (Fehl-)Wahrnehmung U LLRICH B AUER , U WE H. B ITTLINGMAYER , C ARSTEN K ELLER & F RANZ S CHULTHEIS
Kritische Theorie ist keine appélation controllée, wie man sie staatlich geschützt und öffentlich anerkannt bei Grands Crus aus der Region Bordeaux oder besonderen Lagen des Burgund kennt (wie auch bei fränkischen Weinen). Kritische Theorie findet sich typischer Weise und aus gutem Grunde in den Traditionen sozialwissenschaftlicher Diskurse und intellektueller Debatten vieler Nationen wie z.B. Frankreichs, wohingegen das Label „Frankfurter Schule“ tatsächlich eine nationale Institution am deutschen Main darstellt, deren Monopol auf diese Marke noch nicht einmal von Akteuren in und aus der Stadt Frankfurt an der Oder in Frage gestellt werden dürfte. Vielleicht müsste man dem Umstand, dass die Frankfurter Schule sich selbst den Anspruch auf „Kritische Theorie“ ins Stammbuch bzw. ins Pflichtenheft geschrieben hat, dadurch Rechnung tragen, dass man auch in anderen Ländern wie z.B. Frankreich, wenn von dieser Schule die Rede ist, nicht „Kritische Theorie“ mit „théorie critique“ übersetzt, sondern es beim deutschen Begriff belässt, bzw. zumindest dann, wenn von „théorie critique“ links vom Rhein gesprochen wird, diese bei Übersetzungen ins Deutsche klein buchstabiert und es bei „kritischer Theorie“ à la Française belässt. Soziologie als wissenschaftliche und akademische Disziplin ist schon von ihrer Soziogenese im Prozess der Modernisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts originär und essentiell ein „kritisches“ Unternehmen, entstanden nicht zuletzt aus der kollektiven Erfahrung einer auf Dauer gestellten krisenhaften Form der kapitalistischen Marktvergesellschaftung (Weber) und ihrer grundlegenden Widersprüche. Diese kritische Funktion und Rolle von Soziologie nahm dann je unterschiedliche nationale Entwicklungspfade, die sich wiederum nicht zuletzt durch die beachtlichen soziohistorischen Differenzen zwischen den im Prozess der Erfindung, Durchsetzung und Institutionalisierung von Sozialwissenschaft involvierten Gesellschaften nachvollziehen lassen, bedenkt man etwa, dass die Soziologie Durkheims im
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Geiste der III. Republik geboren wurde, zeitgleich und teils in Personalunion mit der „Erfindung“ der Sozialfigur des „intellectuél“, die der deutschen Nachbarn Simmel, Tönnies, Weber hingegen unter den Bedingungen eines autoritären politischen Regimes. Genau hier liegt wohl ein grundlegendes Problem des grenzüberschreitenden Theorievergleichs, das Bourdieu auf einen treffenden Nenner brachte: Unsere Gesellschaften und deren Sozialwissenschaften sind nach ihm oft auch dann keine „Zeitgenossen“, wenn das gleiche Kalenderjahr geschrieben wird. Und dies liegt nicht nur am erwähnten Umstand einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen aufgrund soziohistorischer Verschiedenheit der Kontexte, sondern auch am Problem der oft fehlenden bzw. – wenn vorhanden – gefilterten und verzerrten Wahrnehmung und Rezeption der Diskurse, die nicht dem eigenen nationalen Feld der Theorieproduktion und Forschung angehören. Die nationalen Felder der sozialwissenschaftlichen Produktion, dies ist nicht anders als bei den Märkten der künstlerischen, literarischen, philosophischen oder intellektuellen Güter, sind aufgrund ihrer Soziogenese als Arenen der Konkurrenz um Monopole legitimer Definition eben dieser symbolischen Güter hochgradig selbstreferentiell und bis in die Gegenwart immer noch weitgehend national geschlossen, drehen sich um sich selbst und nehmen die Produkte fremder nationaler Felder nur „in Grenzen“ wahr. Wenn etwa zur Zeit des 1. Weltkrieges ein Tönnies das Manifest der 100 deutschen Gelehrten unterzeichnet, in welchem die westlichen Zivilisationen angeklagt werden, einen Krieg gegen die deutsche Kultur zu führen und Durkheim zeitgleich sein Pamphlet „Deutschland über Alles“ verfasst, ist das ein beredtes Beispiel nationaler Selbstreferentialität in der Durchsetzungsphase der Soziologie. Zwar findet man in der Entstehungs- und Durchsetzungsphase von „Soziologie“ durchaus transnationale Bezüge, dies meistens aber auf der Grundlage ethnozentrischer Verzerrungen, Verkennungen und nationalistischer Etikettierungen wie die in der deutschen Gelehrtenwelt immer wieder bemühte pejorative Begriffspolitik gegen die Durkheim’sche Soziologie als „Soziologismus“. Wenn es demnach schon schwer fällt, transnationale Querbeziehungen zwischen chronologischen „Zeitgenossen“ wie Durkheim und Weber herzustellen, zwei herausragenden Figuren der Soziologien links und rechts des Rheins, die sich bekanntlich geflissentlich ignorierten und damit die wohl sublimste Form der wechselseitigen Miss- und Verachtung demonstrierten, so wird die Angelegenheit noch schwieriger, wenn wie in unserem Falle „kritischer Theorien“ beiderseits des Rheins noch ein Generationenunterschied hinzu kommt. Konkret: die Frankfurter Schule hatte, wenn wir uns nur auf ihre Hauptvertreter beziehen, Adorno, Horkheimer und Marcuse – ihre Flughöhe längst erreicht, als Bourdieu ins Leben startete, und in den 80er Jahren, als Bourdieu sich zum weltweit meist zitierten Sozialwissenschaftler aufschwang, wurde sie in vielen Abschlussversuchen so maßgeblich modifiziert, dass sie – wie bei Habermas und Honneth – nicht mehr mit der ganzen Schärfe einer stringenten Herrschaftskritik wahrgenommen wurde. Handelt
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es sich hier einfach um einen Prozess intellektuell-wissenschaftlicher Konjunkturen mit Prozessen des Erblühens und Verblühens, um sich ablösende Generationen kritischer Geister oder gar um zeitlich begrenzte intellektuelle Modeerscheinungen? Wenn beide Traditionen kritischer Theoriebildung auch durch einen Generationenunterschied geprägt sind, so weisen sie dennoch eine soziohistorische Koinzidenz auf: Just in dem Moment, in dem Bourdieu seinen definitiven Durchbruch als Vordenker kritischer Sozialwissenschaft schaffte, also in den Zeiten rund um 1968, in denen er mit „Die Erben“ eine schonungslose Kritik an der Illusion der Chancengleichheit vorlegte und den protestierenden StudentenInnen in Frankreich das Rüstzeug ihrer Gesellschaftskritik lieferte, erlebte die aus dem Exil zurück gekehrte Kritische Theorie in Deutschland eine Art Indian Summer, der nach einem nochmaligen Aufblühen allmählich verblassen sollte, während Bourdieus Flugbahn steil nach oben zeigte. Wie sich anlässlich der Verleihung des Bloch-Preises an Bourdieu im Jahre 1999 zeigen sollte, hatte dieser deren Werke, wie auch die anderer Vertreter der Kritischen Theorie in seinem Bücherregal, und wie man anhand von Randbemerkungen und Unterstreichungen sehen konnte, auch gelesen. Dennoch findet sich kaum je ein Verweis in seinen Büchern, ganz so, als ob es sich hier um einen für seine eigenen wissenschaftlichen und politischen Auseinander- und Durchsetzungen nicht direkt relevanten intellektuellen Planeten handelte. Denselben Vorwurf kann man den Hauptvertretern der Kritischen Theorie aufgrund des Generationenunterschieds selbstredend kaum machen. Ganz anders aber nehmen sich die Beziehungen zwischen den fast gleichaltrigen Habermas und Bourdieu aus, die sehr angespannt waren, wie durch den ein oder anderen öffentlich Eklat unschwer erkennbar wurde. Wie repräsentativ Habermas für die Kritische Theorie sein mochte oder mag, bleibt hier dahin gestellt (vgl. hierzu Demiroviü 1999). Jedenfalls wurde er sehr früh und umfassend ins Französische übersetzt, ganz wie Bourdieu umgekehrt ins Deutsche, und beide konnten dadurch doch tendenziell in die Rolle von Konkurrenten rund um die Geltung und Reichweite ihrer gesellschaftskritischen Theorieangebote geraten. Doch sollte man solche „Feldeffekte“ bei der Betrachtung der Beziehungen zwischen Bourdieu und den Spätausläufern Kritischer Theorie nicht überschätzen: Jürgen Habermas wurde im französischen Kontext immer als Philosoph ausgewiesen und spielte erst gar nicht in der gleichen Liga wie Bourdieu, der sein gesamtes Theoriewerk auf die Beine empirischer Sozialforschung stellte. Mit diesen skeptischen Vorbemerkungen zu den Schwierigkeiten grenzüberschreitender Theorievergleiche soll nun aber keineswegs einem kulturalistischen Relativismus das Wort geredet, sondern allein auf einige grundlegende theoretische und methodologische Probleme verwiesen werden, denen man sich besser von Beginn an bewusst stellen und sie immer wieder bemühen sollte, um Kurzschlüsse zu vermeiden, „Unvergleichbares ver-
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gleichbar“ (Durkheim) zu machen und dabei den Vergleich von Vergleichbarem zu unterlassen. Vergleichbares beider Traditionen kritischer Theoriebildung liegt z.B. vor, wenn man die erwähnten, ausgeprägt homologen Rollen in den symbolischen Kämpfen der 1968er Jahre betrachtet, die man mit Bourdieu auch als „kritischen historischen Moment“ verschiedener fortgeschrittener Industriegesellschaften in Zeiten von Wirtschaftswunder dies- und „30 Glorieuses“ jenseits des Rheins bezeichnen kann. Während die Frankfurter Schule mit ihren Theorieangeboten für eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, ihren Herrschaftsverhältnissen und Unterdrückungsmechanismen – nicht zuletzt in Fragen familialer Strukturen und Sexualmoralen – zentrale Impulse für die sozialen Bewegungen der Zeit bot, lieferten Bourdieu und seine Mitstreiter wie Passeron, Chamboredon, Boltanski und Castel der französischen Protestbewegung mit ihren Analysen zur gesellschaftlichen Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen und sozialen Ungleichheiten empirische und theoretische Grundlagen der Gesellschaftskritik. Bei allen strukturellen Homologien der beiden nationalen Felder symbolischer Kämpfe dürfen dabei aber wiederum die beachtlichen interkulturellen Differenzen der Inhalte und Ausdrucksformen politischen Protests nicht vergessen bzw. nivelliert werden. Auf deutscher Seite bildete die Erfahrung des Nationalsozialismus eine Hintergrundfolie für die immer auch wesentlich „intergenerationellen“ Konflikte der Zeit, die im französischen Kontext kein direkt vergleichbares Gegenstück fand. Oder vielleicht doch, wenn auch in abgeschwächter Form? War nicht der Algerienkrieg die zentrale Hintergrundfolie, wenn nicht gar der Entstehungskontext selbst, für die „kritische Theorie“ à la Française eines Pierre Bourdieu? Und teilte dieser nicht wie z.B. auch Derrida ein spezifisches „Generationenschicksal“, dass durchaus Analogien zur historischen Achsenzeit der frühen III. Republik mit ihrer „Dreyfus-Affäre“ aufweist und zu einem wichtigen Impuls für die französischen Intellektuellen betreffs ihrer gesellschaftskritischen Mission und Funktion wurde? Betrachten wir nun kurz Bourdieus soziobiographische Flugbahn hin zu dem uns heute bekannten kritischen Sozialwissenschaftler, eine ausgesprochen ungewöhnliche, ja unwahrscheinliche Flugbahn gegen die Schwerkraft des Sozialen und wider die Beharrungskräfte seines herkunftsgemäßen Habitus.
A LGERIEN 1960 – ZUR G ENESE EINER KRITISCHEN T HEORIE DES G ESELLSCHAFTLICHEN IN EINEM SOZIOLOGISCHEN L ABORATORIUM Mitte der 50er Jahre fuhr Pierre Bourdieu als Wehrpflichtiger in das von den Befreiungskämpfen gegen die französischen Kolonialherren gezeichnete Algerien; fünf Jahre danach kehrte er als „gestandener“ Ethnologe nach Paris zurück. Dazwischen liegen mehrere Jahre intensivster Feldforschung,
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teilnehmender Beobachtungen, umfassender statistischer Erhebungen und zahlloser Tiefeninterviews und Expertenbefragungen unter oft schwierigen, ja dramatischen Bedingungen. In dieser Zeit entwickelt Bourdieu schrittweise und weitgehend autodidaktisch eine empirisch fundierte kritische Theorie der gesellschaftlichen Welt, deren kritischer Impuls aus der Erfahrung omnipräsenter Herrschaftsprozesse in allen gesellschaftlichen Sphären ausgeht – von der kolonialen Unterwerfung der algerischen Bevölkerung, über die Zerstörung ihrer Subsistenzwirtschaft und deren ökonomischer Eigenlogik, über die Klassenbeziehungen innerhalb der französischstämmigen Bevölkerung Algeriens bis hin zu den Familienstrukturen im Allgemeinen und den Geschlechterverhältnissen im Besonderen (umfassend hierzu Schultheis 2007). Soziologie ist bei Bourdieu ähnlich wie bei Weber durch und durch, originär und essentiell „Herrschaftssoziologie“ und kann deshalb für ihn gar nicht anders sein als „kritisch“ (kritisch zu dieser Figur Eickelpasch 2002; siehe auch Bongaerts im Band). Mit der französischen Kolonisation erlebt Algerien, bis dahin geprägt durch eine vorkapitalistische Wirtschaftsweise und -ethik, eine dramatische Umgestaltung: brutale Durchsetzung zutiefst fremder ökonomischer Prinzipien, rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise, Entstehung eines neuen Subproletariats, ökonomische Prekarisierung und gesellschaftliche Entwurzelung als Los breiter Bevölkerungsschichten. Dem soziologischen Betrachter eröffnet sich hier ein breites Feld der Beobachtung und Analyse sozialen Wandels. Was wird aus einer Gesellschaft, wenn sie sich einer neuen ökonomischen Verkehrsweise und Handlungslogik ausgesetzt sieht, die im Widerspruch zu sämtlichen, seit Generationen gültigen sozialen Spielregeln (Bruder-Ethik, Reziprozität der Gabe etc.) steht? Wie erfährt die betroffene Bevölkerung die Konfrontation zwischen der sich so „überlegen“ gebärdenden Moderne und der von den Kolonialherren deklarierten „Unterentwicklung“? Inwieweit beschränkt der als archaisch, irrational oder rückständig denunzierte traditionelle ökonomische Habitus dieser Bevölkerung die Handlungsspielräume der sozialen Akteure und in welchem Maß strukturiert er Vorstellbares und Unvorstellbares, begrenzt er das Feld des Möglichen? Welche Formen des Leidens und Elends, materieller wie symbolischer Natur, gehen mit diesem Zustand sozialer Entwurzelung und Anomie und der Erfahrung einer Entwertung aller gewohnten Regeln und Handlungsmuster einher?1 Bourdieu vollzieht angesichts dieser Ausnahmesituation eine nicht minder außergewöhnliche biografische Konversion, bildet sich durch ständige Radikalisierung der eigenen intellektuellen und politischen Ansprüche und pausenloses Experimentieren mit allen zur Verfügung stehenden quantitativen und qualitativen Methoden der Sozialforschung zum Forscher. Bereits in seinem ersten Buch, Sociologie de ĐAlgérie, analysiert Bourdieu einen für die koloniale wie auch postkoloniale Konfiguration kennzeichnenden clash
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Siehe in diesem Zusammenhang auch Bourdieu 2000.
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of cultures und beschreibt die rapide und irreversible Transformationen einer traditionellen Subsistenzökonomie unter dem Druck der französischen Kolonialherrschaft – ein soziales „Laboratorium“, das gleichzeitig zu einem soziologischen wird. Diese denkbar scharfe biographische Zäsur verschwistert sich mit einer theoretischen insofern, als hier das durch die neue ökonomische Wirklichkeit hervorgerufene Auseinanderfallen von „rationalem“ – im Sinne von erwartbarem – und scheinbar „irrationalem“ faktischen Verhalten der Kolonisierten ein eigentümliches Beharrungsvermögen der Logik „eingelebter“ Praxis offenkundig macht. Gerade an der „Ökonomie“ der algerischen Berber zeigt sich für Bourdieu das völlig untrennbare Miteinander und Ineinander von „ökonomischen“ und „ethischen“ Motiven des Handelns, die ohne ein Verständnis der gesamten „vormodernen“ Lebensweise und der Struktur ihrer kollektiven Reproduktion nicht zu entschlüsseln war. Vielleicht handelte es sich bei Bourdieus Konversion vom angehenden Philosophen einer Pariser Eliteuniversität zum Vertreter der Paria-Wissenschaft Soziologie um einen sehr persönlichen Ausweg aus dem Dilemma der kolonialen Konstellation, aus der „Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren“. Die Teilhabe an der kollektiven Schuld arbeitet er ab, indem er, mit Marx gesprochen, die Waffen der Kritik zur Kritik der Waffen nutzt und seine wissenschaftliche Kompetenz in den Dienst einer Sicht algerischer Verhältnisse stellt, die den gängigen rassistischen Stereotypen, die sich die kolonialen Modernisierer von den ,Entwicklungsländernދ machen, zuwiderläuft. Es ging ihm darum, die symbolische Gewalt im Blick des Kolonialherrn bzw. im durch die Kolonisierten „auf sich“ und „in sich“ genommenen Blick auf sich selbst, sichtbar zu machen und die Prozesse zu analysieren, durch die die eingefleischten moralischen, ästhetischen oder ökonomischen Kategorien des Denkens und Handelns des Usurpators zum universellen Maßstab gemacht und dabei das „Andere“ oder „Fremde“ schlicht in Kategorien von Unterentwicklung und Mangel repräsentiert werden. Bourdieus Sicherung der Spuren einer untergehenden Welt verfolgt dabei von Beginn an eine Strategie der Rehabilitation mittels Analyse und Kritik von Herrschaftsmechanismen, deren subtilste und sanfteste, zugleich aber auch effizienteste und perfideste Form in einer aktiven Beteiligung der Beherrschten an ihrer eigenen Vermachtung und Unterwerfung besteht, für die Bourdieu erst später, nach seiner Rückkehr nach Paris, den Begriff „symbolische Gewalt“ prägen wird, nämlich rund um die Frage der schulischen Reproduktion sozialer Ungleichheit.
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DER K RITIK KOLONIALER H ERRSCHAFT ZU EINEM UMFASSENDEN P ROJEKT KRITISCHER G ESELLSCHAFTSFORSCHUNG UND - THEORIE Nach seiner Rückkehr nach Paris widmet sich Bourdieu einer ganzen Reihe neuer Forschungsgegenstände, insbesondere der Analyse gesellschaftlicher Reproduktionsmechanismen im Bildungssystem, vielfältigen Themen der Kultursoziologie und der Sozialstrukturanalyse im weitesten Sinne. Immer bleiben dabei aber die in Algerien entwickelten Fragestellungen, allen voran die herrschaftssoziologischen, weiterhin tonangebend und die dort in mühsamer „Arbeit am eigenen wissenschaftlichen Habitus“ erworbene radikale Reflexivität und kritische Distanz am Werke, wobei aber das Gefühl der Fremdheit gegenüber der heimischen Alltagswelt und deren vermeintlichen Evidenzen und Plausibilitäten konstruktiv gewendet werden kann. In dem gemeinsam mit Passeron verantworteten Werk La reproduction wird er im Jahre 1970 seine Theorie und Empirie der „symbolischen Gewalt“ avant la lettre systematisch auf den Begriff bringen. Bourdieu war sich der unglaublichen Macht des Bildungssystems aus eigener zutiefst „gespaltener“ Erfahrung bewusst und es ist kein biographischer Zufall, wenn er dieser gesellschaftlichen Platzierungs- und Etikettierungsanstalt, der er seine außergewöhnliche Flugbahn aus den in jeder Beziehung „kleinen“ Verhältnissen der französischen Provinz in die Säulenhallen der Pariser Hochkultur verdankte, für die er aber auch einen hohen Preis zu zahlen hatte, einen guten Teil seiner Forschungen widmete (siehe hierzu Bourdieu 2002). Das moderne Bildungssystem stellt sich in diesen Arbeiten als eine geradezu teuflisch „geniale“ Klassifikations- und Qualifizierungsmaschine dar, bei der fundamental ungleich verteilte und damit „willkürliche“ gesellschaftliche Charakteristika (soziale Herkunft und Bildungskapital der Eltern) bei der Ausgangslage für den Konkurrenzkampf um „Lebenschancen“ (Weber) mittels komplexer Prüfungs- und Weihemechanismen in legitime, da staatlich kontrollierte und sanktionierte, Differenzen zwischen Anwärtern auf gesellschaftliche Titel und Stellen, materielle und symbolische Güter umgemünzt werden. Diese gesellschaftliche Alchemie funktioniert dabei auf umso effizientere Art und Weise, als sie unterschiedliche Ressourcen und Lebenschancen nach offenbar transparenten, rein meritokratischen Verteilungsprinzipien zuteilt und sich angesichts dieses Fairplay der Chancengleichheit auch die Verlierer nicht beschweren können, sondern vielmehr einsehen müssen, dass es wohl an ihnen selbst gelegen haben muss. Das Schulsystem funktioniert nach einer Logik der Schließung/Ausschließung, die auf sanfte Weise brutale Effekte erzeugt: Dem Kind aus einfachen Verhältnissen wird nicht zu verstehen gegeben, dass es in den Regionen höherer schulischer Weihe nichts zu suchen hat, weil diese Verhältnisse nun einmal sind, was sie sind bzw. nicht sind, was sie sein sollten, um diesen Weihen gewachsen zu sein, sondern es wird ihm Prüfung auf Prüfung vor Augen geführt, dass es den
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hohen Erwartungen dieser Weiheanstalten, denen es selbst ja Respekt und Ehrfurcht entgegenbringt und die es über jedweden Zweifel erhaben erachtet, nicht genügt. Die hier zum Ausdruck kommende Gewalt bedient sich einer bestimmten Weltsicht, bei der als legitim und universell durchgesetzte, von ihren Ursprüngen und Funktionsweisen her aber zutiefst partikulare und willkürliche Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge auch über jene Macht ausüben, die geopfert werden und mangels alternativer Erklärungsmuster und Interpretationen dessen, was sie so leidvoll erfahren müssen, die Legitimität der zutiefst ungleichen gesellschaftlichen Zuteilungen an Gütern aller Art anerkennen und billigen müssen. Die Macht dieser gesellschaftlichen Schließungsprozesse ist umso wirkungsvoller, als sie sich den ihr unterworfenen Subjekten in Leib und Seele einschreibt und im Habitus eingefleischt als eine Art zweite Natur vermeintliche schicksalhafte Vorherbestimmung wie auch fatalistische Ergebenheit zum Ausdruck bringt. Bourdieus Soziologie findet in der Erkenntnis der Grundlagen und Funktionsweisen dieser perfiden Form „sanfter Brutalität“ von den ersten autodidaktischen Feldforschungen in Algerien an einen mächtigen und dauerhaften Antrieb: Was er aus seinen algerischen Erfahrungen in die europäische Moderne herüberrettet und dann schrittweise systematisiert, ist der kompromisslose politisch-aufklärerische Anspruch seiner wissenschaftlichen Arbeit.
K RITISCHE T HEORIE IM Z EICHEN DES N ATIONALSOZIALISMUS : V OM EMPIRISCH THEORETISCHEN F ORSCHUNGSPROGRAMM D IALEKTIK DER A UFKLÄRUNG
ZUR
Während für die Entwicklung von Bourdieus kritischer Soziologie der Algerienkrieg einen zeitgeschichtlich zentralen Hintergrund bildet, lässt sich die Genese der kritischen Theorie alias Frankfurter Schule nur vor dem Hintergrund des Faschismus deutscher Prägung verstehen, der sowohl die Biografien ihrer Vertreter als auch die Theorieentwicklung einschneidend beeinflusst hat. Das gilt zumindest für die erste Generation wie Horkheimer, Adorno, Marcuse, Pollock und Löwenthal, die die Erfahrung der Flucht aus Deutschland und des Exils in den USA teilen, findet aber noch bei Habermas und Honneth einen, freilich recht unterschiedlichen, Niederschlag. Das 1931 mit Max Horkheimers Übernahme der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt formulierte Forschungsprogramm (vgl. Horkheimer 1931/1988) sah vor, marxistisch-materialistische Theorie durch eine neuartige, beständige Vermittlungsarbeit zwischen Theorie und Empirie aus verschiedenen Einzeldisziplinen wie der Psychologie zu erweitern, insbesondere um die subjektiven und kulturell beeinflussten Prozesse der Anpassung und Unterwerfung an Herrschaft zu verstehen – wie sie sich etwa in
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einer Studie des Instituts zu Angestellten und Facharbeitern vor dem Hintergrund des heraufziehenden Nationalsozialismus andeuteten. Dieses interdisziplinäre, empirisch-theoretisch ausgerichtete Forschungsprogramm bleibt für die Vertreter der frühen Kritischen Theorie zwar weiterhin maßgeblich. Gleichwohl zerschlägt die diktatorische Machtübernahme 1933 doch die gerade erst gelegten Grundlagen seiner Realisierung: Die Forscher fliehen schubweise – angeleitet durch einen zeitsensiblen und das Institut jenseits des Atlantik verlegenden Horkheimer – nach Kalifornien und zugleich verstärkt sich in ihnen das Bedürfnis nach allgemeinen theoretischen Entwürfen, die die Durchsetzung von Diktatur und nationalsozialistischer Terrorherrschaft erklären. Die Flugbahn der Vertreter der frühen Kritischen Theorie ist infolge dieses zeitgeschichtlichen Einschnitts nicht nur nicht identisch, sondern eher invers zu Bourdieus Prägung durch Algerien, was das Verhältnis von Theorie und Empirie in ihren Arbeiten betrifft. Zwar werden im amerikanischen Exil die in Frankfurt begonnenen empirisch-theoretischen „Studien über Autorität und Familie“ abgeschlossen – deren Publikation den zugleich ersten und für zwei Jahrzehnte letzten Bericht des Instituts zu gemeinsamen Forschungen darstellt (Wiggershaus 1993: 171) –, woran sich dann das große Forschungsprojekt zur „Autoritären Persönlichkeit“ anschließt. Zugleich entstehen aber zentrale theoretische Werke, insbesondere die „Dialektik der Aufklärung“, verfasst im US-amerikanischen Exil 1944. Dieses Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno (1947/1969) ist ganz wesentlich der Ergründung des geschichtlichen „Umschlags“ in die nationalsozialistische Barbarei gewidmet, führt aber auch, besonders in dem Kapitel zur „Kulturindustrie“, Erfahrungen aus dem faschistischen Deutschland und der demokratisch-kapitalistischen USA zusammen. Die stärkere theoretische Orientierung bleibt bei den zentralen Vertretern der Kritischen Theorie wie Horkheimer, Adorno und Marcuse auch nach dem zweiten Weltkrieg und deren teilweiser Rückkehr nach Deutschland bestimmend. Das bedeutet nicht, dass keine empirische Studien mehr durchgeführt worden wären: So werden die einflussreichen Arbeiten zum „Gruppenexperiment“ oder Untersuchungen zu den Einstellungen von Studierenden im Rahmen des in Frankfurt wiedergegründeten Instituts für Sozialforschung realisiert. Horkheimer und Adorno fühlen sich bei der Wiedergründung des Instituts jedoch wesentlich den Ideen ihrer „Dialektik“ verpflichtet, die sie dann in zentralen Arbeiten wie der „Negativen Dialektik“ (Adorno 1966) sowie in Aufsätzen und Reden weitertreiben. Im Verhältnis dazu nimmt Marcuse, der in den USA verbleibt und dort stärker mit jener angelsächsischen empiristischen Forschungstradition konfrontiert bleibt, die einen Hintergrund für Horkheimer und Adornos Aversion gegen den „Positivismus“ bildet, eine etwas andere Position ein. Gleichwohl sind auch Marcuses spätere Hauptwerke wie „Triebstruktur und Gesellschaft“ (Marcuse 1955/1990), „Der eindimensionale Mensch“ (Marcuse 1964/2004) und „Die Gesellschaftslehre des sowje-
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tischen Marxismus“ (Marcuse 1957/1989) nicht durch eigene empirische Untersuchungen angeleitet und wesentlich theoretische Schriften.
H ERRSCHAFTSKRITIK
ALS GEMEINSAMER
Z UGANG ?
In diesem Band soll es nicht um einen systematischen Vergleich der beiden Ansätze kritischer Gesellschaftstheorie und Soziologie gehen, indem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze und Studien ausgelotet werden, die freilich bei der Frankfurter Schule schon vielfältig genug ausfallen, allein wenn man die Arbeiten der ersten Generation betrachtet. Ziel ist es, die beiden Ansätze in einen Dialog zu bringen, um bestimmte Charakteristika kritischer Gesellschaftstheorien beleuchten und im besten Fall aktualisieren zu können, die diesseits und jenseits des Rheins einen doch erheblichen Einfluss nicht nur auf die intellektuelle Szene ihrer Länder ausgeübt haben. Bei allen Unterschieden ist ihr gemeinsamer Ansatz die Kritik an gesellschaftlicher Herrschaft, wobei den Mechanismen dieser Herrschaft besonders bei den sozialen Akteuren und ihrer Körperlichkeit sowie in der Sphäre der Kultur und Symbolik nachgegangen wird. Dies ist eigentlich überraschend vor dem Hintergrund, dass Bourdieu ebenso wie die erste Generation der Frankfurter Schule durchaus einer (neo-)marxistischen Tradition angehören. Es verweist aber, neben dem in beiden Ansätzen starken Einfluss der Soziologie Max Webers (auf die eine wie die andere Weise), auf die geteilte Grunddiagnose, dass sich gesellschaftliche Herrschaft ganz wesentlich in den Bereich der Kultur und in die Mentalitäten und Körper der Subjekte verlagert. Während Horkheimer diese Diagnose programmatisch schon seiner im vorfaschistischen Deutschland entstandenen „Dämmerung“ (1934/1974) voranstellt, bezieht sie Bourdieu primär auf die Nachkriegsgesellschaften, zumindest was die Bedeutung kultureller Herrschaft betrifft. In „Die feinen Unterschiede“ schließt Bourdieu diesbezüglich, dass die Klassenkämpfe nicht länger als Arbeits- und Eigentumskämpfe zwischen Bourgeoise und Proletariat, sondern primär im Bereich der Kultur als Distinktionskämpfe ausgetragen werden, an denen die unteren Schichten nicht einmal teilnehmen. Die von der Frankfurter Schule thematisierten körperlichen Triebe und Impulse bilden aus diesem Blickwinkel das Pendant zu dem von Bourdieu postulierten Habitus, der sich als klassenspezifische Dispositionssystem in die Körper einschreibt und das Wahrnehmen, Denken und Handeln beeinflusst. Entsprechend der zentralen Verankerung von Herrschaft in den Körpern der sozialen Akteure kann die Perspektive von gesellschaftlicher Emanzipation in beiden Ansätzen auch nicht ohne die Befreiung von der körperlich internalisierten, zur leiblichen „Natur“ gewordenen Herrschaft – der Triebunterdrückung bzw. dem Klassenhabitus – gedacht werden. Für die Frankfurter gewinnt deshalb die Psychologie, namentlich die Psychoanalyse, als „Hilfswissenschaft“ von Anfang an einen wichtigen Stellenwert.
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Bourdieu rekurriert dagegen eher sporadisch auf Befunde der Psychologie, vielleicht eher indirekt durch seine Rezeption von Elias, und bleibt übrigens bei der Erklärung der klassenspezifischen Habitusgenese dem Leser blinde Flecken schuldig (Bauer 2012). Allgemeiner fasst er die körperlich-mentale Anpassung und Unterwerfung der Subjekte an Herrschaft mit dem Konzept der „symbolischen Gewalt“ (Schmidt/Woltersdorff 2008). Mit diesem Konzept verbindet er Phänomene von Herrschaft in der kulturell-symbolischen Sphäre und den Körpern, die bei den Frankfurtern noch mit unterschiedlichen Konzepten benannt werden. Denn die Herrschaftskritik der kulturellen Sphäre war für letztere wesentlich „Ideologiekritik“, und dabei spielte die Kritik an der „Kulturindustrie“, d.h. der standardisierten Populärkultur, eine herausgehobene Rolle. Bourdieu, der in seinen Arbeiten immer wieder Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinter dem Wirken kultureller und symbolischer Repräsentationen aufzudecken bemüht ist, begreift diese gleichwohl nicht als Ideologien. Eher versucht er mit einer ethnologischen Herangehensweise, Weltsichten, Repräsentationen und kulturelle Praktiken zu verstehen, ihre impliziten Normen ernst zu nehmen, um dann zu erklären, wie sie gesellschaftlich und klassenspezifisch konstruiert werden und welche Funktion sie erfüllen. Im Unterschied zu der Frankfurter Schule finden sich bei Bourdieu auch kein Konzept eines „falschen“ Bedürfnisses oder Bewusstseins. Mit diesem, letztlich aus der Marx’schen Klassentheorie auf den kulturellen Bereich übertragenen Konzept haben Horkheimer, Adorno und Marcuse beschrieben, wie die standardisierte Kulturproduktion dazu beiträgt, dass sich Menschen mit gesellschaftlich ungerechten Verhältnissen arrangieren, anstelle sie zu verändern (Steinert 1998; vgl. hierzu auch den Klassiker Haug 1971). Bourdieu richtet weniger Aufmerksamkeit darauf, dass kulturelle Produkte wie z.B. die Werbung mit manipulativen und profitorientierten Absichten hergestellt werden und so ein Bedürfnis künstlich stimulieren oder nur zum Schein befriedigen können. Er betrachtet stärker die „Homologien“ oder Wahlverwandtschaften, die zwischen Kulturproduzenten und -konsumenten existieren (Bourdieu 1982: 362f.). Zugespitzt formuliert bedeutet das, dass noch die in der Terminologie von Horkheimer, Adorno oder Marcuse so bezeichneten „Schundprodukte“, beispielsweise die Regenbogenpresse oder Hotelbunker am Meer, von Akteuren hergestellt werden, die an diese Produkte glauben, die mithin ihre Art wahrzunehmen, zu denken und zu schmecken in diesen Produkten ausdrücken. Wenn Bourdieu auch keinen Begriff eines falschen Bedürfnisses oder Bewusstseins kennt und den der Ideologie kaum verwendet, so hat er aber das Konzept der symbolischen Gewalt, mit dem er symbolische Herrschaftseffekte benennt. Zentral ist dabei auch sein Konzept der „Verkennung“, das dem von den Frankfurtern verwendeten Begriff der „Verschleierung“ durchaus verwandt ist. Bourdieus anderer wissenschaftlicher Zugang zu Formen der populären Kultur, die er – auch in expliziter Abgrenzung zu Arbeiten von Adorno (Bourdieu 1982: 602f.) – sich weigert als eine „Massenkultur“ und ihre
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Konsumenten als passive „Fans“ zu klassifizieren, korrespondiert auch mit einer anderen Auffassung der gesellschaftlichen Rolle und Position von Intellektuellen. Im Verlauf seiner biografischen Flugbahn hat Bourdieu die Erfahrungen mit der Pariser Hochkultur und ihres kulturellen Snobismus in eine systematische Kritik gegenüber der Position, von der aus Intellektuelle sprechen, verwandelt: Er erklärt die Intellektuellen zu einer Fraktion der herrschenden Klasse, die an den kulturellen Klassen- und Klassifikationskämpfen als Hauptakteure beteiligt sind (Bourdieu 1990, 1991). Dieser wahrscheinlich markanteste Unterschied zu den Vertretern der Frankfurter Schule, in dessen Licht der selbstbewusst auftretende, gegen „Halbbildung“, den hessischen Dialekt bei Lehrern oder Jazz polemisierende Adorno als Inkarnation eines unreflektierten Bildungsbürgers erscheinen mag – während umgekehrt Bourdieu aus der Perspektive von Adorno vielleicht jemanden repräsentiert, der jeglichen Sinn für den emanzipativen Gehalt von Kultur zugunsten ihrer Distinktions- und Tauschlogik verloren hat –, dieser Unterschied markiert eine zentrale Schnittstelle kritischer Gesellschaftstheorie. Zugleich mag er auch einer der Hauptgründe für Polemiken und Abgrenzungen zwischen den beiden Lagern sein, wobei es vermutlich eher im Sinne beider Theorien wäre, das hieraus fließende Spannungsverhältnis für einen Dialog zu nutzen. In einer Vogelperspektive fallen jedenfalls viele Gemeinsamkeiten ins Auge, die neben der (herrschafts-)kritischen Sicht auf Kultur und die leiblichen sozialen Akteure auch darin bestehen, dass beide Lager auf vielfältige Weise soziologische und philosophische Traditionen miteinander verbinden (Bauer/Bittlingmayer 2000; eine gekürzte Fassung findet sich als Wiederabdruck in diesem Band). In diesem Sinne repräsentieren sie eher Ansätze klassischer Universalgelehrter oder Intellektueller und nicht der auf Einzeldisziplinen festgelegten WissenschaftlerInnen, besonders wenn man hinzunimmt, dass sowohl Bourdieu wie die Frankfurter grundlegend zu diversen Kunstgenres wie der Photographie, Literatur oder Musik gearbeitet haben. Vielleicht gerade weil ihnen die Kultur als zentrales Medium der Stabilisierung und Legitimation von Herrschaft galt, entwickelten sie eine hohe Sensibilität für Kunst und Ästhetik und ließen diese auch in die unterschiedlichen Genres und Stile ihrer wissenschaftlichen Arbeiten einfließen. Eine eindeutige Zuordnung zu den Polen der sozialen Kritik oder der künstlerischen Kritik im Sinne von Boltanski und Chiapello (2003) ist für beide Linien kritischer Gesellschaftstheorie deshalb wohl nur schwer möglich, auch wenn sie per definitionem als Sozialwissenschaft eher dem Pol der sozialen Kritik zufallen müssten. Aber es mag eine ihrer Stärken sein, dass sie sowohl der Stimme der Individuen, ihrer gesellschaftlichen Deformation und ihrem Leiden Ausdruck verleihen, als auch die strukturellen, kulturellen und subjektiven Mechanismen sozialer Herrschaft und Ungleichheit auszuleuchten bemüht sind.
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A USBLICK : A KTUELLE D EBATTEN VON S OZIOLOGIE UND K RITIK
ZUM
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V ERHÄLTNIS
Jüngst entbrannte bei unseren linksrheinischen Debatten eine große sozialtheoretische Diskussion mit wechselnden Fronten und Akteuren, bei denen es um die Frage ging, ob denn Soziologie überhaupt eine gesellschaftskritische Stimme anschlagen und Funktion beanspruchen dürfe, solle, könne, müsse? Nachdem Boltanski viele Jahre seinen oft an ödipale Konflikte erinnernden Kampf gegen die Vorherrschaft Bourdieu’scher Soziologie genau mit der Verneinung dieser Frage beantwortete und immer aufs Neue die These vertrat, dass die kritische Soziologie längst obsolet geworden sei und definitiv durch eine Soziologie der Kritik ersetzt werden müsse, d.h. die von kompetenten und autonomen gesellschaftlichen Akteuren formulierte Kritik in Wort und Tat beobachtend und analysierend zu begleiten hätte, läutetet er mit seinem Buch „Soziologie und Sozialkritik“ (Boltanski 2010) kürzlich eine neue Trendwende ein und ging sogar im Juli 2012 so weit, in einem Interview in Le Monde die Unverzichtbarkeit der Gesellschaftskritik für die Demokratie zu postulieren.2 Eine Nummer der Zeitschrift Sociologies widmet sich ganz dieser Frage und demonstriert deren Aktualität beim französischen Nachbarn. Und diesseits des Rheins? Hier gibt es einige wichtige Veröffentlichungen jüngeren Datums, die das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Kritik systematischer in den Fokus rücken und zumindest teilweise vergleichsweise breit diskutieren (vgl. v.a. Dörre et al. 2009; vgl. auch Jaeggi/Wesche 2009; Ahrens et al. 2008, 2011). Das Verhältnis zwischen Soziologie und Kritik ist allerdings nicht unbelastet, kritische Positionen sind noch immer in der Defensive. Und noch immer sind dabei die Positionen im Anschluss an eine Kritische Theorie der Gesellschaft exponiert. Umkämpft sind aber die Zugangsvoraussetzungen für eine fortgesetzte kritische Perspektive (vgl. etwa Demiroviü 1999; Beerhorst et al. 2004, Steinert 2007 einerseits, Rasmussen 1996 oder Fraser/Honneth 2003 andererseits; vgl. auch die zu Unrecht wenig rezipierte Zeitschrift für Kritische Theorie, die mittlerweile im 18. Jahrgang vorliegt). Alex Demiroviü, selbst Vertreter einer Folgegeneration Kritischer Theorie, der den Impulsen der Gründerväter der Frankfurter Schule sicher am nächsten steht, formuliert als Grundvoraussetzung: „Mögliche Kriterien sollten nicht der Denunziation und der Ausgrenzung dienen, sondern der kritischen Reflexion auf den Gehalt der Emanzipation. Aber man darf es auch nicht zu harmlos nehmen. Denn es geht um etwas, nämlich um die 2
Daraufhin geriet er selbst in die zuvor aufgebaute Schmähecke und wurde von noch radikaleren Bourdieu-Gegnern wie Nathalie Heinich bezichtigt, Verrat an der zuvor eigenommenen kritischen Sicht auf kritische Soziologie zu üben. Eine ganze Nummer der Zeitschrift Sociologie ist diesen Debatten gewidmet und verweist auf die Virulenz unserer Thematik im Feld der französischen Sozialwissenschaften.
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Frage der Emanzipation der Individuen von allen sie unterdrückenden, entwürdigenden, ausbeutenden Verhältnissen. Theorie und Intellektuelle müssen sich daran bewähren, ob sie solche Prozesse fördern. Ob das der Fall ist, kann nicht von oben her autoritativ festgelegt werden. Aber von manchen wird diese demokratietheoretische Überlegung selbst wiederum mißbraucht, denn sie legen nahe, daß, weil niemand das Recht hat, für sich in Anspruch zu nehmen, im Namen der Emanzipation zu sprechen, es gar keine Kriterien mehr gibt. Doch so verhält es sich nicht. Ein Vorschlag der Kritischen Theorie besteht darin, daß sie das Kriterium in den begrifflichen Verhältnissen der Gesellschaft sieht, also darin, dass Begriffe in einem umfassenden Maße auf die Erschließung von Machtverhältnissen, auf deren grundlegende Veränderung und auf die kritische Reflexion auf die eigene Macht der intellektuellen Praktiken der Vernunft zielen.“ (Demiroviü 2012: 28f.) Den Zusammenhang zwischen den Arbeiten einer „klassischen“ Kritischen Theorie und dem Werk Pierre Bourdieus auszuloten, scheint dabei ein nicht zufällig zentraler Topos. Viele der Positionen, die kritisch sozialwissenschaftlich operieren, kritische Ansätze anwenden oder entwickeln, setzen sogar eine implizite Klammer um den Ansatz Bourdieus und den der Frankfurter Schule. Die systematische Kommunikation zwischen beiden Theoriestämmen wird dennoch zumeist vermieden. Zu unscharf scheinen auf den ersten Blick die Konvergenzen: Zum einen der Ansatz der Frankfurter Schule, der von Beginn an auf die Analyse und Veränderung von Herrschaftsverhältnissen zielt. Zum anderen die Bourdieu’sche Theorie, die eher an der Peripherie klassischer Ansätze der kritischen Soziologie und Philosophie ihren Grundstock fast unbemerkt gelegt hat (Honneth 1984). Auf der Seite der Kritischen Theorie die explizite Hinwendung zur Normativität, auf Seiten Bourdieus eine zunächst ebenso ausdrücklich abwehrend-normative Haltung (vgl. hierzu umfassender Bittlingmayer et al. 2011 und Hillebrandt 2011). Das Spannende und Interessierende ist indes, dass beide Theoriestränge dann Überschneidungen aufweisen, wenn darüber reflektiert wird, wie soziale Zusammenhänge, die mit Herrschaft durchzogen sind, trotzdem nahezu umstandslos einen Reproduktionsprozess durchlaufen, ohne dass die sozialen Akteure und gerade die, die unter der Ausübung von Herrschaft am meisten zu leiden haben, dagegen aufbegehren. Ähnlichkeiten existieren aber interessanterweise auch dort, wo Versäumnisse beider Ansätze auszumachen sind. Entwürfe und Forschungen zu den „harten“ Faktoren von Kapitalismus (Sozialstruktur, Wirtschaftssystem, ggf. Rechtssystem) wurden von Bourdieu wenig untersucht, eher vorausgesetzt; das Gleiche gilt für die Kritische Theorie, die eine tendenziell klassisch-marxistische Perspektive einnimmt (Wertgesetz, Klassen etc.). Bei der Bedeutung der kulturellen Sphäre treffen sich die Argumentationen. Sie gehen hier im Einklang mit der Neo-Marxistischen Tradition; und so sehr sie damit ein Zeitgeistphänomen kritischer Soziologie des 20. Jahrhunderts sind, scheinen die Positionen gerade darin, dass sie die komplexe Verschränkung zwischen strukturellen Zwängen, kulturell-symbolischen Ordnungsmustern, individueller Anpas-
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sung und subjektiv aktiver Mitgestaltung zu durchdringen versuchen, sich viel näher zu kommen als es die bisherige Rezeptionsgeschichte vermuten lässt.
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DES
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Mit den beiden zunächst folgenden Beiträgen, die beide Wiederabdrucke darstellen, soll weiterhin der Versuch unternommen werden, in die Thematik des Bandes einzuführen. Die „Produktion der herrschenden Ideologie“ ist ein aus dem Jahr 1975 stammender Text Bourdieus, der allerdings erst spät in der deutschsprachigen Diskussion zugänglich wurde. Die kämpferische Argumentation ist ein Hinweis darauf, dass der späte „politische“ Bourdieu viel weniger von seinem analytischen Hauptwerk abzutrennen ist, als es eine zwischen den Perspektiven der Wissenschaft und des Eingriffs polarisierende Perspektive vermuten lässt. Wenn Bourdieu schreibt: „Sie werden doch nicht so altmodisch (d.h. rechts oder links stehend) sein, um nicht zu wissen, dass der Gegensatz zwischen rechts und links überholt ist?“ verweist er implizit auf den Indikativ-Imperativ, jenen Herrschaft erzeugenden und reproduzierenden Effekt des Setzens von Prinzipien der sozialen Gliederung. Es ist kein Zufall, dass Bourdieu mit dieser frühen Theoriefigur später sowohl in sozial- als auch in poststrukturalistischen Diskursen viel Gehör erhalten wird. Die Wirtschaftswissenschaft als „Königswissenschaft“, die dienende Rolle der Soziologie (die „Technokraten des Glücks“) und das Verschwinden von links und rechts waren frühe und richtige Prognosen einer Analyse der gesellschaftlichen Ideologieproduktion im Zeichen der Neoliberalisierung der Gesellschaft. Dass die Kritische Theorie der Frankfurter Schule nur einen Steinwurf von Bourdieu entfernt genau diesen Blick auf die Anamnese der Genese eines gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhangs wirft und dabei mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede aufweist, versuchen Ullrich Bauer und Uwe H. Bittlingmayer in einem Theorieüberblick zu zeigen. Der ebenfalls als gekürzter Wiederabdruck erscheinende Text „Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln?“ sucht nach den Überschneidungen zweier Theoriegebäude. Dort wo ein Rekurs Bourdieus auf die Kritische Theorie überhaupt erfolgt, ist dieser ablehnend. Und doch sind die Ergebnisse der Theorieentwicklung, deren Ergebnisse von Bourdieu später als Ansatz eines verallgemeinerten Materialismus bezeichnet werden, nahe an dem, was die Vertreter der Frankfurter Schule aus der Tradition des historischen Materialismus heraus weiterentwickelt und auf den Bereich der Kultur anzuwenden versucht haben.
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Polarisierungen Mit dem ersten inhaltlichen Abschnitt Polarisierungen versammeln wir zunächst Positionen, die mit der Gegenüberstellung beider Theoriearchitekturen mehr oder wenige deutliche Positionsentscheidungen verbinden. Stephan Egger formuliert in „Endstation Frankfurt. Eine Polemik zur Rezeption Bourdieus in der deutschen Sozialphilosophie“ eine an vielen Stellen zugreifende Kritik an der Sozialphilosophie im Zeichen der Frankfurter Schule. Egger verfasst dabei eine Fundamentalkritik, die sich zwar auch gegen die erste Generation richtet. Genauer wird Egger aber in der Auseinandersetzung mit der Bourdieu-Rezeption von Axel Honneth, deren Unzulänglichkeiten er so pointiert aufzeigt, dass damit auch die Substanz der Nachfolgegeneration der Frankfurter Schule von Habermals bis Honneth zu bröckeln beginnt – eine Ansicht, die die frühe Frankfurter Schule möglicherweise eher geteilt als abgelehnt hätte. Tatjana Freytag postuliert mit ihrem Beitrag „Distinktion, Heteronomie und Eindimensionalität im Denken von Bourdieu und der Kritischen Theorie“, dass die „Beziehung zwischen dem Denken Bourdieus und der Hauptausrichtung der klassischen Kritischen Theorie […] eine ihrem Wesen nach divergente“ ist. Der große Unterschied ist Freytag zufolge, dass „der Ansatz der Kritischen Theorie von vornherein auf die Durchbrechung jeglicher Affirmation des strukturell falsch Bestehenden ausgestellt ist“, während Bourdieu sehr wohl um die gesamtgesellschaftlichen Determinanten des habituell Heterogenen weiß, es ihm aber, dem „wissenschaftlichen“ Bourdieu, nicht „um deren Überwindung geht“. Die Auseinandersetzung mit hoher Kultur (bei Adorno als „objektivem Gegenentwurf zum repressiv Bestehenden der sozial allgegenwärtigen instrumentellen Vernunft“) weist die offensichtlichen Unterschiede auf, wobei Freytag ebenso konzediert, dass Bourdieus Werk „sehr wohl einen emanzipativ ausgerichteten Aufklärungsimpuls“ aufweist. Bourdieu „gesellschaftskritische Emphase“ und der Ausweis einer „marxistischen Matrix“ in den frühen theoriebildenden Arbeiten zur Kunstwahrnehmung“ sind unzweifelbare Kennzeichen einer Wahlverwandtschaft auf Seiten der kritischen Sozialwissenschaft. Die Frage nach der Diagnose einer neuen gesamtgesellschaftlichen Eindimensionalität ist für Freytag aber ein Bruch: Bourdieu kann hiernach „die Prozesse der Eindimensionalisierung nicht für solche erachten, weil er sich dem strukturellen Blick aufs zivilisatorische Ganze nicht verschreiben will bzw. gar nicht in sein Forschungsblickfeld aufnimmt.“ Maja Suderlands Beitrag mit dem Titel „Worldmaking oder die Durchsetzung der legitimen Weltsicht“ wendet sich zuallererst gegen eine populäre Indienstnahme von Bourdieus begrifflichen Werkzeugen, die an seiner ursprünglichen Intention vorbeigehen. Suderland will dagegen „eine theoretische Positionsbestimmung von Bourdieus soziologischen Denkwerkzeugen symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt“ vornehmen, die einer falschen Instrumentalisierung vorbeugen soll. In der
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Tat entsteht damit eine tiefgründige Rekonstruktion und Ausformulierung Bourdieu’scher Intentionen, der Suderland eine ebenso umfassende Kommentierung der aktuellen Bourdieu-Rezeption zur Seite stellt. In dem Zugriff auf den kritischen Theoretiker Bourdieu, auf die Kommunikation mit Intersektionalitätsansätzen oder die Verbindung mit der Psychoanalyse lassen sich unterschiedliche Formen des work-in-progress und der no-goes erkennen, wofür und wogegen Suderland emphatisch argumentiert. Pierre Bourdieus Beitrag zu einer soziologischen Theorie des Subjekts und das Problem der ungesetzlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen“ beinhaltet dagegen einen strikt subjekttheoretisch argumentierenden Argumentationsstrang, der dezidiert danach fragt, „ob subjekttheoretische Bestimmungen, wie sie in der Kritischen Theorie entwickelt wurden, eine Kritik und Weiterentwicklung des Bourdieu’schen Habituskonzepts“ notwendig machen. Scherr entwickelt auf dieser Grundlage einen konzise argumentierenden Vorstoß gegen das reproduktionstheoretische Denken in der Soziologie und argumentiert, dass sich kritische Ansätze (so in seiner Sicht auch der Bourdieus) zu leicht in der Traditionslinie der älteren Sozialcharaktertheorien wiederfinden. Das Gegenmodell ist das dialektisches Subjekt-Konzept und „Subjektivität verweist damit auf für menschliche Lebenspraxis spezifische und konstitutive Potenziale von Eigensinn, Spontaneität und Kreativität, die dazu befähigen, unter Bedingungen entscheidungs- und handlungsfähig zu sein, die keine umfassende und in sich konsistente Festlegungen von Verhaltenserwartungen, Handlungs- und Kommunikationsregeln beinhalten und deshalb nicht zureichend als fraglosselbstverständliche, routinehafte Formen des Rollenhandelns bzw. der Regelbefolgung erklärbar sind.“ In der Kritischen Theorie hält eine Subjektkonzeption folglich an einem dialektischen Verständnis von Subjektivität als in sich widersprüchliche Einheit von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit fest. Konvergenzen Der Sinnabschnitt Konvergenzen ist deutlicher auf die Gemeinsamkeiten beider Zugänge ausgerichtet. Margareta Steinrücke arbeitet in ihrem Beitrag „Mit gemischten Gefühlen. Parallelen oder Differenzen zwischen Bourdieu und den Frankfurtern?“ bewusst Gemeinsamkeiten in der politischen Ausrichtung heraus. „Systematischer Grund für Gemeinsamkeiten zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule auch in dieser Frage ist die Tatsache, dass den Kern beider Theorien die grundlegende und unbestechliche Kritik von Herrschaft bildet, und zwar bis in die kleinsten Verästelungen alltäglicher Empfindungen und Handlungen hinein, ebenso wie in Strukturen und Werke in Bildung, Kunst und Politik: dass diese analysiert werden als formiert und deformiert durch das gesellschaftskonstituierende Prinzip kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft.“ Steinrücke sieht eine maßgebliche Konvergenz in der Rezeption von Marx, beide Ansätze teilen die zentralen
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Grundprinzipien der Marx’schen Theorie, „in gewisser Weise könnte man sowohl Bourdieus als auch der Frankfurter Arbeiten eine Kritik der Politischen Ökonomie des Alltags und der Kultur nennen. Steinrückes Argumentation ist beeindruckend überzeugend, auch dort, wo die Bezüge zu Analyse des Proletariats und der Arbeiterbewegung hergestellt werden. Die Perspektive auf Entfremdungsmechanismen ist ein zentraler Bezugspunkt und die Herausarbeitung der Ankerpunkte bei Adorno/Horkheimer auf der einen und Bourdieu auf der anderen Seite offenbart Einsichten, die in gerade der deutschen Diskussion bisher weitgehend unbekannt erscheinen. Auch Uwe H. Bittlingmayer und Diana Sahrai teilen in ihrem auf das Bildungsthema bezogenen Beitrag „Kritikinstrument oder perfide Herrschaftsverlängerung? Differenzen und Gemeinsamkeiten im Bildungsverständnis zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule“, dass „die beiden Positionen der Frankfurter Schule und Bourdieus weniger weit auseinander liegen als auf den ersten Blick scheint und in Teilen sogar komplementär sind.“ Die Aneignung bildungsbürgerlicher Kernbestandteile wird damit – vor allem bei Adorno – als Bedingung für Reflexionsfähigkeit und Gesellschaftskritik begriffen, Bildung ist damit funktional dafür, Gesellschaftskritik überhaupt betreiben zu können. Und dennoch wäre der verriegelte Bereich „wahrer“ Bildung, für den die Perspektive Adornos auch steht, zunächst unmittelbar mit Bourdieus Verdikt eines intellektuellen Rassismus und symbolischer Klassenherrschaft verbunden. Kultur und Bildung sind für Bourdieu zuallererst ein Instrument der Herrschaft, Intellektuelle sind beherrschte Herrschende und Bourdieu kritisiert intellektuelle Eliten gerade dafür, dass sie „ihre eigene gesellschaftliche Funktion und strukturelle Position ungenügend reflektieren.“ Für Bittingmayer und Sahrai ist das Credo etwas Verbindendes, trotz aller Divergenz sehen sie auch beim Bildungsbegriff Bourdieus eine „Wiederannäherung an die Thesen und Themen von Adorno, Horkheimer und Marcuse“. Dies gilt gerade für die Analyse der Arbeiterklasse und der kommenden Aufgaben kritischer Intellektualität. Bourdieu wird mithin „als soziologische Fortsetzung“ eines philosophischen Programms der negativen Dialektik verstanden. Alex Demiroviü postuliert in „Habitus und Nomos. Anmerkungen zu Gesellschaftstheorie, Arbeitsteilung und Herrschaft bei Adorno und Bourdieu“ die Übereinstimmung von Bourdieu und Adorno. „Für beide geht es um Aufklärung, Aufklärung der Aufklärung über sich und eine damit verbundene Verteidigung und Vermehrung der Vernunft.“ Gleichzeitig ist das Spezifische der Perspektive der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule das dialektische Kulturverständnis. „Die vom Klassenantagonismus hervorgebrachte Autonomie der Kultur gewährt dieser Sphäre die Möglichkeit zu Erkenntnis und Erfahrung ebenso wie er sie ihr nimmt. Emanzipation würde darin bestehen, auf dem Niveau höchster Autonomie der einzelnen kulturellen Objektivationen die Trennung dieser privilegierten Bereiche von anderen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu überwinden“. Demiroviü rückt Bourdieus reflexive Soziologie in die Nähe Adornos, er durchschreitet sie
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aber nach ihren inneren Widersprüchen und ungelösten Fragen. Das fehlende Moment rettender Kritik, der nicht vorhandene Versuch, „in den inneren Widersprüchen von Theorien, Philosophien oder Kunstwerken etwas wie die gesellschaftlichen Widersprüche und Kämpfe selbst zu dechiffrieren“ und der Mangel einer konsequenten Herrschaftstheorie sind dabei die zentralen Motive. Die Ordnung werde von der Gewohnheit gemacht, rekurriert Demiroviü auf Bourdieu und antwortet darauf: Aber wer macht die Gewohnheit? Verknüpfungen Der Abschnitt Verknüpfungen versammelt Beiträge, die sich um die Verbindung beider Ansätze bemühen. „Die Analyse von Macht und Herrschaft“ von Gregor Bongaerts postuliert: „Eine kritische Theorie muss also angeben können, warum man schlecht finden gut finden soll.“ Dafür analysiert Bongaerts den normativen Rahmen kritischer Theorien und stellt dabei eine Überprüfung von Bourdieus Theorie der Praxis in den Mittelpunkt. Die fünf Typen des Umgangs mit dem Problem der kritischen Theorie beinhalten im Kern, ob und wie Kritik als Theorieproblem thematisiert wird. Dass Bourdieus Ansatz kaum die Problematik der Normativität reflektiert, aber zusammenfassend als kritische Theorie beurteilt wird, die die Grundlage für eine Realpolitik der Vernunft bilden kann, ist ein Zentralergebnis dieser Überlegungen. Sven Kluge entwirft mit einem Überblick „Bourdieu, Habermas und die Kritische Pädagogik“ ein Panorama, in dem Bourdieus Kultursoziologie eine in weiten Teilen überzeugende und konstruktive Kritik an einer sich seit den 1970er Jahren etablierenden Hauptströmung der Erziehungswissenschaft darstellt, die an Jürgen Habermas anschließt. Kluge nimmt die von Habermas vollzogene Trennung zwischen Arbeit und Interaktion sowie seine Identifikation von Arbeit und funktionalistischer Vernunft zum Anlass einer kritischen Rezeption, die eine falsche analytische Differenzierung nahelegt. Denn obwohl gerade eine kritische Erziehungswissenschaft die Verflochtenheit ihrer Praxis mit den jeweiligen sozioökonomischen Zusammenhängen versucht transparent zu machen, hält sie mit Rekurs auf Habermas und Apel an einem im Kern fast schon als traditionell zu klassifizierenden „Aufklärungs- und Fortschrittsverständnis fest, das noch aus der vorMarx’schen Ära stammt.“ Bourdieus „fruchtbare Desillusionierungen“ werden dementgegen für den weiteren Gebrauch an praxisphilosophische Ansätze (Lefèbvres, Gramscis) angenähert und im besten Sinne als Bestandteil einer kritischen Theorie der Gesellschaft gesehen. Politisierungen und Ausblick Der letzte Abschnitt des Bandes Politisierungen beginnt mit Jens Kastners Beitrag „Der Streit um den ästhetischen Blick. Politik und Ästhetik zwi-
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schen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière“. Kastner führt hier ebenso detailliert wie unentschieden die Gegensätze zwischen Bourdieu und Rancière vor. Er gelangt damit zu einem Kernproblem der politischen Ästhetik, die er überraschenderweise weniger gegensätzlich wahrnimmt („In der Frage nach der Emanzipation treffen sich beide, in der jeweiligen Antwort darauf trennen sie sich grundsätzlich“) als es die Polarisierung beider Positionen vermuten lässt, während die Kritik an Bourdieus Annahme einer invarianten klassenmäßigen Teilung bei der Nähe zum Ästhetischen die Gräben nahezu unüberwindbar erscheinen lässt. „Rancière sieht also im Beschreiben ein Festschreiben“ und somit ist der soziologische Blick ein polizeiliches bzw. Herrschaftsinstrument, „als Exekutionsgehilfin der herrschenden Ordnung.“ Der Beitrag Gerard Maugers, „Konsequenzen ziehen: das soziologische Engagement Pierre Bourdieus“, liefert einen kurzen Überblick über die wichtigsten Implikationen des normativen Programms Bourdieus, mit Hilfe der Soziologie die Gesellschaft zum Besseren zu wenden. Dabei beginnt Mauger zunächst mit überraschenden Übereinstimmungen zwischen Bourdieu und der skeptischen Position Wittgensteins, allerdings gibt sich Mauger zufolge Bourdieu nicht mit einem derartigen Skeptizismus zufrieden. Er will einerseits die Soziologie als analytische Wissenschaft in die Nähe des Positivismus treiben, andererseits aber unter Rückgriff auf die Konstruktion eines kollektiven Intellektuellen die Soziologie auf die Programmatik der Aufspürung und Aufdeckung von Macht und Herrschaftsmechanismen festlegen. Die Soziologie muss so professionell wie möglich sein und ihre rücksichtslose Professionalität verbinden mit der unbedingten Analyse von Herrschaftsverhältnissen. Damit wendet sich Bourdieu in seiner späteren Phase Mauger zufolge gegen das Wertfreiheitspostulat von Max Weber, insbesondere mit dem Argument, dass jedes Verstehen des Sozialen innerhalb der Sozialwissenschaften immer schon einen Standpunkt (im Feld) voraussetzt und schon allein deshalb wertsetzend und wertverpflichtend ist. In unserem Ausblick unterstreicht Louis Pinto in seinem Beitrag „Ein kulturelles Erbe hinterlassen und antreten“, dass sich bei Bourdieu die Frage der Verwaltung, Aneignung und Überschreitung seines Werks sowie seines politischen Erbes besonders radikal vollzieht, weil seine Soziologie darauf ausgerichtet war, die sozialen Kämpfe hinter den legitimen und illegitimen Aneignungen kultureller Güter bloßzustellen und sie als Interessen geleitete Auseinandersetzungen um symbolische Profite durchschaubar zu machen. Zudem liegt eine besondere Herausforderung, das Bourdieu’sche Erbe antreten zu wollen, darin, dass seine Soziologie wesentlich auf soziale Praktiken abgezielt hat. „Es genügt nicht, diese Kämpfe zu objektivieren und sie auf spezifische Positionen zurück zu führen: das Risiko wäre, wenn man sie solcher Art fest verortete, dass man sich der eigentlichen Frage nach dem Erbe, bzw. (besser) nach der Spezifizität dieses Erbes entzöge. Die von Bourdieus Werk gestellte Frage ist folgende: Wenn das Wesentliche in einer Praxis besteht, wie kann man denn da eine Praxis erben? Wie wird sie weiter gegeben?“ Pintos durch Bourdieu inspirierte Antwort betont die Radika-
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lität der Selbstanalyse als ersten Akt der Erkenntnis, die konsequente Integration von Gegensätzen in der soziologischen Arbeit und die Entwicklung eines ganz praktischen wissenschaftlichen Habitus, der sich zum Ziel setzt, zugleich bescheiden und ehrgeizig zu sein, um im Spannungsfeld zwischen Korrumpierbarkeit, Eitelkeit, wissenschaftlichem Betrieb und der Notwendigkeit in der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit sichtbar zu sein, um politische Entscheidungen als Anwalt benachteiligter Gruppen beeinflussen zu können und den Kopf oben zu behalten.
L ITERATUR Ahrens, J./Beer, R./Bittlingmayer, U.H./Gerdes, J. (Hg.) (2008): Beschreiben und/oder Bewerten. Normativität in ausgewählten sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen. Münster. Ahrens, J./ Beer, R./Bittlingmayer, U.H./Gerdes, J. (Hg.) (2011): Normativität. Zu den Hintergründen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Wiesbaden. Bauer, U. (2012): Sozialisation und Ungleichheit. Eine Hinführung. Wiesbaden. Bauer, U./Bittlingmayer, U.H. (2000): Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln? In: Rademacher, C./Wiechens, P. (Hg.): Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten. Festschrift für Rolf Eickelpasch. Wiesbaden, 241-298. Beerhorst, J./Demiroviü, A./Guggemos, M. (Hg.): Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/Main. Bittlingmayer, U.H./Demiroviü, A./Bauer, U. (2011): Normativität in der Kritischen Theorie. In: Ahrens, J./ Beer, R./Bittlingmayer, U.H./Gerdes, J. (Hg.): Normativität. Zu den Hintergründen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Wiesbaden, 189-219. Boltanski, L. (2010): Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno Vorlesungen 2008. Frankfurt/Main. Boltanski, L./Chiapello, È. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main. Bourdieu, P. (1990): Was heißt sprechen? Wien. Bourdieu, P. (1991): Satz und Gegensatz. Frankfurt/Main, New York. Bourdieu, P. (2000): Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz. Bourdieu, P. (2002): Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt/Main. Demiroviü, A. (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Frankfurt/ Main.
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Die Produktion der herrschenden Ideologie∗1 P IERRE B OURDIEU
E INE
VERURTEILTE
V ERGANGENHEIT
Der herrschende Diskurs über die soziale Welt verdankt seine praktische Kohärenz der Tatsache, dass er auf der Anwendung einer kleinen Anzahl von generativen Schemata beruht, die sich selbst auf den Gegensatz zwischen einer überholten Vergangenheit und der Zukunft oder, in vageren und scheinbar begrifflicheren Ausdrücken, von Tradition und Moderne zurückführen lassen.1 Die fundamentalen Gegensätze dieses praktischen Systems: geschlossen/offen, blockiert/gelöst, klein/groß, abgeschlossen/offen stehend, lokal/universell usw., sind – wie die des Mythos – zugleich formale Relationen, die in den unterschiedlichsten Kontexten die verschiedenartigsten Gegenstände betreffend fungieren können, und empfundene Kontraste, widerstreitende Erfahrungen, wie der Gegensatz zwischen dem kleinen Dorf und der großen Stadt, dem Lebensmittelgeschäft und dem Drugstore, dem Markt und dem Supermarkt, zwischen der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit, zwischen Frankreich und Amerika usf. Das Schema, gleich auf welches Gebiet angewendet, erzeugt zwei gegensätzliche und hierarchisierte Begriffe und ineins die Beziehung, die sie verknüpft, d.h. den Evolutions- (oder In∗
1
Zuerst erschienen in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 1975, Nr. 2/3, S. 39-55; auf deutsch zuerst veröffentlicht in: Pierre Bourdieu (2003): Interventionen 1961-2001. Band 2: 1975-1990. Herrschende Ideologie & wissenschaftliche Autonomie. Laien & Professionelle der Politik. Erziehung & Bildungspolitik. Raisons d’agir. Aus dem Französischen von Franz Hector und Jürgen Bolder. Hamburg, S. 27-44. Wie man an der Verwendung sieht, die er in der Alltagskonversation oder in der politischen Auseinandersetzung findet, führt dieser Gegensatz, der je nach ideologischer Grundstimmung gleichermaßen die Klage über das Verlorene oder die Begeisterung über den Fortschritt stützen kann, zu an und für sich falschen Fragestellungen.
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volutions-)prozess, der vom einen zum anderen führt (wie z.B. das Kleine, das Große und das Wachstum). Jeder dieser fundamentalen Gegensätze evoziert, mehr oder weniger unmittelbar, alle anderen. So ergibt sich ein fließender Übergang von dem Gegensatz zwischen der „Vergangenheit“ und der „Zukunft“ zu dem zwischen dem „Kleinen“ und dem „Großen“, in der zweifachen Bedeutung von „weltweit“ und „komplex“, oder auch dem Gegensatz zwischen dem „Lokalen“, d.h. dem „Provinziellen“, oder dem „Nationalen“ (und Nationalistischen) und dem Kosmopolitischen, der sich, unter einem anderen Gesichtspunkt, mit dem Gegensatz zwischen dem „Unbeweglichen“ und dem „Beweglichen“ deckt. Unter noch einem anderen Gesichtspunkt evoziert der Hauptgegensatz den Gegensatz zwischen den erworbenen Rechten, dem Erbe, den „Privilegien“ und der „Dynamik“ oder der „Mobilität“, dem „Umbruch“ oder dem „Wandel“. Infolge einer systematischen Umkehrung der traditionalistischen Wertetafel stellt die Vergangenheit sich niemals positiv dar; sie erscheint stets nur als „Bremse“, die man lösen, als „Faktor der Rückständigkeit“, den man neutralisieren muss. Die Verteidiger schlechthin dieser „überholten“ Vergangenheit, die es zu überwinden gilt, sind die „Landwirte“ (und in geringerem Maße die „Handwerker“), deren „Bodenständigkeit“ ein Hindernis für die vom technologischen Fortschritt verlangte „Mobilität“ bildet. Durch den Gegensatz zwischen der „Abgeschlossenheit“ und der „Offenheit“, dem „Lokalpatriotismus“ und dem „kosmopolitischen Geist“ vermittelt, ergeben sich die Gegensätze zwischen dem „Blockieren“ und der „Freigabe“, der „Abkapselung“ und dem „Abbau der Trennwände“, kurzum, alle in dem Gegensatz zwischen „Frankreich“ und „Amerika“ implizierten Antithesen. [...] In dem Maße, in dem man die Bremsen und Widerstände mit der (poujadistischen)* Verteidigung der „erworbenen Rechte“ und der „Privilegien“ gleichsetzt, vermag man der von der Planung zu erfüllenden Funktion ihrer Beseitigung einen dezidiert fortschrittlichen Anstrich zu verleihen. Der unmittelbar politische Effekt des Hauptgegensatzes aber zeigt sich, wenn, unter Anwendung des neuen Klassifikationssystems auf den Gegensatz zwischen rechts und links, versichert wird, dass dieser fundamentale Gegensatz des politischen Raums und zugleich die Politik selbst „überholt“ seien. Vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Einteilung aus, die Bauern und Gewerkschafter, Staatsbürokratie und Parteibürokratien, „Poujadismus“ und „Kommunismus“ unterschiedslos ins Lager der „Ewiggestrigen“ einreiht, gibt es keinen schlagenderen Beweis für eine „vergangenheitsbezogene Mentalität“ (insbesondere der Intellektuellen) als die Weigerung, den
*
Nach Pierre Poujade (1920-2003) benannte, Mitte der 50er Jahre entstandene antiparlamentarische Bewegung des kleinen Mittelstandes der Handwerker und Händler mit extremistisch-faschistoiden Tendenzen (für den Fortbestand des französischen Kolonialreiches, gegen Großindustrie, Großhandel und Judentum (Anm. d. Übers.).
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Gegensatz zwischen rechts und links und alles, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit so etwas wie den Klassen und dem Klassenkampf aufweist, für Phänomene einer überholten Vergangenheit zu erklären. Im Namen dieses vollkommen impliziten Postulats kann ein Meinungsforschungsinstitut, in aller Unschuld und ohne die Absicht, seine Fragestellung aufzuzwingen, eine Frage wie diese stellen: „Lange Zeit hat man in Frankreich zwischen zwei großen politischen Strömungen, der Linken und der Rechten, unterschieden. Glauben Sie, dass diese Unterscheidung heute noch sinnvoll ist oder dass sie überholt ist?“ (Sofres, Februar 1970). Hinter der einzigen expliziten Aussage („man hat zwei große Strömungen unterschieden“) verbirgt sich eine ganze Reihe impliziter Aussagen: 1. Man unterscheidet heute zwei große Strömungen – doch fragt man sich, ob das noch Sinn hat; 2. diese Unterscheidung hatte einmal einen Sinn – in dem noch und überholt implizierte Aussage; 3. diese Unterscheidung ist bereits überholt oder im Begriff, es zu sein – denn man fragt sich, ob sie noch einen Sinn hat. Durch den bloßen Umstand, die Frage dem Gegensatz früher war das richtig/ist es heute auch noch richtig entsprechend zu konstruieren und damit den Entwicklungsgedanken einzuführen und mit ihm den, dass der Gegensatz zwischen rechts und links überwindbar ist, stellt man eine falsche Alternative auf zwischen: 1. hat noch einen Sinn (für einige), d.h. ist noch nicht überwunden, wird es aber mit der Zeit sein (ist folglich bereits für die passé, die wissen, dass sie es in jeder Hinsicht sein wird), und 2. ist bereits überholt. So verbirgt sich hinter der ostentativ objektiven Frage (vgl. die Ausgewogenheit am Schluss) eine politische These (die Unterscheidung ist überwindbar), die ihrerseits eine subtile Aufforderung zu mehr politischem Realitätssinn enthält: Sie werden doch nicht so altmodisch (d.h. rechts oder links stehend) sein, um nicht zu wissen, dass der Gegensatz zwischen rechts und links überholt ist? Man sieht, was alles in dem bloßen Umstand, die gegensätzlichen Begriffe als Momente einer notwendigen Entwicklung zu behandeln, impliziert ist. Der „Marxismus“ ist ein „Archaismus“ genau wie, spiegelgleich, der „Faschismus“ und der „Parlamentarismus“. Das Verhältnis zwischen dem „Abgeschlossenen“ und dem „Offenen“, der „Stagnation“ und dem „Wachstum“, dem „Kleinen“ und dem „Großen“, der „Unbeweglichkeit“ und der „Mobilität“, dem „Nationalen“ und dem „Multinationalen“, zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten, ist das zwischen überholter Vergangenheit und unvermeidlicher, darum wünschenswerter Zukunft. Das, was gegenwärtig „isoliert“, „geschlossen“, „hermetisch“, „sklerotisch“, „rigide“, „blockiert“ ist, ist vorab verurteilt, oder genauer, verurteilt sich selbst und ist es wert, verurteilt zu werden: der „Konservatismus“ der „traditionellen Eliten“ („Bürgermeister“, „Pfarrer“, „Gutsherr“), die Tendenz zum „Cäsarismus“, der „Poujadismus“, die „Kleinunternehmen“, der „Widerstand gegen den risikoreichen, monopolbedrohenden Wettbewerb“, der „Malthu-
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sianismus“,* die „Privilegien“, der „Widerstand gegen den Wandel“, das „Festhalten an den erworbenen Rechten und am sozialen Status“, der „Obskurantismus“, der „unfähige und unzeitgemäße Parlamentarismus“, der „Marxismus“ und seine „vergangenheitsorientierten Politiker“. Der Umbau, von dem man erwartet, dass er sich mit der Härte einer Darwinschen Selektion vollzieht: Die „Zukunftsangst“, die die „Traditionalisten“, d.h. die „sozial Schwächsten“ erfüllt, diejenigen, die sich, wie die „Bauern“, „Sorgen machen“, sich dem „Zukunftsschock“ nicht auszusetzen wagen, (soziale) „Sicherheit“ suchen, Schutzmaßnahmen fordern und nicht imstande sind, „ihre Zeit zu akzeptieren“, ist wohlbegründet: Die Zukunft gehört dem „technischen Fortschritt“, der „Öffnung“, der „Mobilität“, der „Kompetenz“, dem „Wettbewerb“, der „Kommunikation“. Zum Teil beruht die genuin symbolische Wirksamkeit des herrschenden Diskurses auf dem Umstand, dass die geschmeidige Logik und die partielle und von Winkelzügen geprägte Anpassung an die Wirklichkeit, die ihn kennzeichnen, ihm die Macht verleihen, sich all denen aufzuzwingen, die über kein konkurrierendes Klassifikationssystem verfügen. Und nicht selten selbst denen, die ihm zwar eine eigenständige geschlossene Doktrin entgegenzusetzen haben, aber unwissentlich von den Schemata Gebrauch machen, die ihm selbst zugrunde liegen. Eine Anwendung der herrschenden Schemata über den von den politischen Einteilungen vorgesehenen Geltungsbereich hinaus lässt sich immer wieder beobachten, und die Diskrepanz zwischen den Ausdrucksformen des Habitus und den bewussten und kontrollierten Bekundungen der genuin politischen Kompetenz ist für die politische Polemik ein besonderes Vergnügen. Der Grund hierfür ist, dass die institutionellen Laufbahnen, wie die politischen Einheiten sie vorzeichnen – ihrer selbst bewusste Gruppen, definiert durch die Grenzen, die sie sich in Bezug auf Einbeziehung und Ausschließung selbst setzen –, Diskontinuitäten in die Kontinuität des Habitus einführen. Mit dem Effekt, dass sich ähnlich strukturierte Köpfe auf beiden Seiten dieser Barrieren wiederfinden. Als System charakteristischer Unterschiede tendiert die politische Klassifizierung dazu, auf der Basis von Kontinuierlichem Diskontinuierliches zu schaffen (wie die Sprache, die distinkte Phoneme von einem klanglichen Kontinuum aus erzeugt) und die Abweichungen und Abstände zu maximieren, indem sie die politischen Gruppierungen zur Nutzung des ganzen, von ihr definierten, politischen Raumes zwingt. Die vom Habitus (etwa auf den nicht politisch konstituierten Gebieten) erzeugten Meinungen und Praktiken können so zu denjenigen in Widerspruch treten, die eine bestimmte Position im politischen Raum impliziert, und die die politische Kompetenz zur gleichen Zeit zu produzieren gestattet.
*
Nach T.R. Malthus benannte Bevölkerungstheorie im 19. Jahrhundert über den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelspielraum mit einer damals sich daraus ergebenden Forderung nach Geburtenkontrolle bei den Armen und heute bei den Entwicklungsländern (Anm. d. Übers.).
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R HETORIK
Die Geschichte der Regime, der Institutionen, der Ereignisse oder der Ideen fungiert nicht als historische Bildung, als bloße Anhäufung symbolischer Güter, die sich Selbstzweck ist, sondern als Methode der politischen Wahrnehmung und des politischen Handelns, als ein Ganzes operativer Schemata, die ohne jede Bezugnahme auf die ursprünglichen Situationen mit geschichtlicher Erfahrung gesättigte Diskurse und Handlungen hervorzubringen gestattet. So fungiert ein rein rhetorisches Schema – es besteht der ausdrücklichen Lehre der Politologie zufolge darin, zwei extreme Positionen (Dirigismus und Liberalismus, Parlamentarismus und Faschismus usf.) einander entgegenzusetzen, um sie durch „Anhebung des Diskussionsniveaus“ zu überwinden – als eine Matrix allgemein übereinstimmender (d.h. mit den wohlverstandenen Interessen der Klasse übereinstimmender) Diskurse und Handlungen. Denn es reproduziert den gleichzeitigen Ausschluss der konservativen Nachhut und der fortschrittlichen Avantgarde, der den aufgeklärten Konservatismus definiert. Die Position, die es schafft, um sie zu verwerfen (und so einen dritten Weg aufzuzwingen), repräsentieren die geschichtliche Vergangenheit der herrschenden Klasse, die bereits von ihr beschrittenen Wege und die erlittenen Niederlagen, d.h. in erster Linie den radikalsozialistischen Parlamentarismus, der zur Volksfront, und den Vichysmus,* der zum Zusammenbruch von 1945 und zur „kommunistischen Gefahr“ führte. In der Rhetorik liegt eine Politik beschlossen, weil in ihr eine Geschichte beschlossen liegt. [...]
D AS E NDE DER I DEOLOGIEN DER G ESCHICHTE
UND DAS
E NDE
Aber die wichtigste Lektion der Geschichte ist die Entdeckung, dass von der Geschichte nichts mehr zu erwarten ist, dass das Universum der möglichen politischen Regime (der Herrschaftsformen) an seine Grenzen gestoßen ist. In den für die zurückgebliebenen Fraktionen der Klasse bestimmten Bekehrungs- und Umstellungsdiskursen wird das triadische Schema auf die großen Sackgassen der Vergangenheit – die historischen Versuchungen der herrschenden Klasse, Parlamentarismus oder Pétainismus,** Liberalismus oder *
Die Stadt Vichy war 1940-44 Sitz der und Bezeichnung für die französische Regierung in der unbesetzten Zone des Landes. Sie konnte Frankreich aus dem weiteren Krieg zunächst heraushalten, machte jedoch dafür Zugeständnisse und unterstützte bei einer grundsätzlich „attentistischen“ Haltung u.a. die nationalsozialistische Judenverfolgung (Anm. d. Übers.). ** Nach dem Marschall Philippe Henri Pétain (1856-1951), 1940-44 Staatschef im Vichyregime, der gegenüber der deutschen Besatzungsmacht einen Doppelkurs der begrenzten Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Verweigerung totaler Kollabo-
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Dirigismus, die die herrschende Klasse heute noch spalten, wie sie es in der Vergangenheit taten – angewendet, um die Notwendigkeit eines dritten Weges aufzuzwingen. An erster Stelle stehen hier der Parlamentarismus, der den Extremismus nach sich zieht, und der Faschismus, die permanente Versuchung der reaktionären Fraktion der herrschenden Klasse, in dem eine Gruppe von Intellektuellen, zumindest für einen Augenblick, ihren Traum von einer Diktatur der Kompetenz hatte wiedererkennen können. Die Geschichte hat die radikalsten Alternativen der Vergangenheit in ausweglose Dilemmata verwandelt.2 Faschismus und Kommunismus sind im Stalinismus eine tödliche Verbindung eingegangen. Wenn die gegenläufigsten Tendenzen konvergieren, ist die Zeit der Politik vorbei. Die Theorie von der Konvergenz (der kapitalistischen und kommunistischen Regime) lehrt, dass in der Geschichte kein Platz mehr ist für den Traum vom radikalen Bruch mit den immanenten Tendenzen, den man Revolution nennt. Im Osten nichts Neues. Die Geschichte hat das Universum der politischen Lösungsmöglichkeiten ausgeschöpft. In diesem begrenzten politischen Raum mit seinen allseits erkundeten Wegen, die wie der Faschismus, die nunmehr unmöglich gewordene Fortsetzung der liberalen Demokratie mit anderen Mitteln, nirgendwohin führen, oder, wie der Kommunismus bestenfalls zum selben Punkt führen, d.h. zum Wachstum, und das zu einem, zumindest für die einst Herrschenden, ungleich höheren Preis, hat es mit den „Ideologien“ ein Ende, und es bleiben, außer dem aufgeklärten Reformismus, nur noch die Utopien. Um den vollkommenen Schließungseffekt des Universums der Möglichkeiten zu erzielen, der Billancourt* dazu verurteilt, sich mit den von den neuen Herrschenden angebotenen Perspektiven zufriedenzugeben, reicht es aus, die Extreme einander gleichzusetzen, und damit die Alternativen in Dilemmata zu verwandeln. Der Liberalismus ist der Mittelpunkt einer Linie, deren Extreme sich berühren: faschistischer und kommunistischer Totalitarismus werden ununterscheidbar und umzingeln den liberalen Raum von allen Seiten. Weil sie in der gleichen Ablehnung ebenso gut einander entgegengesetzt wie gleichermaßen abgelehnt werden können, können die beiden „Autoritarismen“, der „faschistische“ und der „sowjetische“, entweder als die gegensätzlichen Pole eines politischen Raumes fungieren, dessen Mittel-, Gleichgewichts-, „größter Spannungspunkt“ der Liberalismus ist, oder, miteinander vereint, eines der beiden Extreme einer neuen Triade bil-
2
*
ration verfolgte. Er erreichte jedoch kaum deutsche Zugeständnisse und war in der Folgezeit nur noch Gallionsfigur, die Regierungsgeschäfte führte unter direkter deutscher Aufsicht Ministerpräsident Pierre Laval (Anm. d. Übers.). Der neue herrschende Diskurs lässt Menschen einander näher kommen, die von allem abgekommen sind: vom Faschismus, wenn sie von der Rechten, vom Kommunismus, wenn sie von der Linken kommen. Anspielung auf das Stammwerk von Renault im Pariser Vorort Billancourt und das dortige Industriearbeiterbewusstsein (Anm. d. Übers.).
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den: Hier stehen dann die „konzertierte Ökonomie“ oder die „indikative Planung“ im Gegensatz zur „autoritären Planwirtschaft“ einerseits und zur „liberalen Anarchie“ andererseits, ebenso wie der „rationalisierte Parlamentarismus“ zum („faschistischen“ oder „sowjetischen“) „Cäsarismus“ einerseits und zum „ineffizienten Parlamentarismus“ der V. Republik andererseits. Sind erst einmal alle Alternativen als überholt verworfen, bleibt nur die Evidenz der Entscheidung für die Sachzwänge des Wachstums und der liberalen Planung.3
D IE K ÖNIGSWISSENSCHAFT Der Fatalismus, der in der Ideologie vom Ende der Ideologien beschlossen liegt, und der mit ihm einhergehende Ausschluss aller Alternativen bilden die verborgene Voraussetzung für einen szientistischen Umgang mit der statistischen Prognose und der ökonomischen Analyse. Entsprechend der Begrenzung des Universums des Denkbaren ist die Wirtschaftswissenschaft (und, vor allem seit dem Mai 68, bei den Technokraten des Glücks, die Sozialwissenschaft) in dem Maße die Politik, wie sie unter dem Anschein, auszusprechen, was ist, verkündet, was sein soll. Entworfen und angewandt von Leuten, die jede grundlegende Veränderung der Axiomatik ausgeschlossen und sich den Gedanken zu eigen gemacht haben, dass es auf dem Gebiet der Politik, wie zu anderen Zeiten auf dem der Moral, genügt, „richtig zu urteilen, um richtig zu handeln“, und die ihre Wissenschaft für politisch und ihre Politik für wissenschaftlich halten, ist der Plan buchstäblich eine Politik. Freilich eine, wenn man so sagen darf, entpolitisierte, neutralisierte, in Technik transformierte Politik. Er stellt infolgedessen die Form schlechthin der performativen* Sprache dar. Wenn es eine politische Wissenschaft oder, was auf das Gleiche hinausläuft, eine wissenschaftliche Politik gibt, dann ist die Zukunft der Wissenschaft die einzige Zukunft, die den Kompetentesten gehört, deren Monopol auf die Politik durch ihr Monopol auf die Wissenschaft gerechtfertigt ist. Es ist das ökonometrische Modell, eine reproduktive Projektion, das es gestattet, aus der Vergangenheit die eine notwendige 3
*
Die Schließung des Feldes der Möglichkeiten und der „realistische“ Optimismus, den die Konvergenztheorie zwangsläufig hervorruft, sobald sie mit der Mystik des Wachstums verknüpft wird, lassen es nicht zu, die revolutionären Forderungen anders als nach dem Modell der Jacquerien* zu verstehen: als den, vom Ressentiment gespeisten, verzweifelten Wunsch nach Nivellierung und Gleichmacherei im Elend (vgl. z.B. P. Massé, „L’univers d’Edmond Maillecottin“, Le Monde, 3.7.1968). (* Jacquerien: Bezeichnung für unkoordinierte Bauernrevolten gegen die Grundeigentümer im Mittelalter und 19. Jahrhundert. [Anm. d. Übers.]). Performativ: eine mit einer sprachlichen Äußerung beschriebene Handlung zugleich vollziehend (z.B. „ich gratuliere dir“) (Anm. d. Übers.).
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Zukunft abzulesen, sofern man nur die Parameter als konstant ansetzt, von denen die Reproduktion der bestehenden Ordnung abhängt, d.h. der Gesamtheit der Ordnungsrelationen, die die Sozialstrukturen bilden. Daher der absolute Soziologismus des prospektiven Diskurses. Da jede Utopie per definitionem ausgeschlossen ist, bleibt nur die Wahl des Notwendigen, die in ihrer Evidenz Führern sich aufzwingt, die aufgrund ihrer Kompetenz und ihres Weitblicks, anders als die ihren privaten Interessen und verkürzten Sichtweisen verhaftete Allgemeinheit, zu einer Sicht des Ganzen zu gelangen vermögen. Die Politik ist die Königswissenschaft, von der im „Staat“ die Rede war. An ihr ist es, die unbezweifelbare Richtigkeit ihrer Optionen denen aufzuzwingen, die, außerstande, deren Notwendigkeit einzusehen, nur deren Folgen zu spüren bekommen (und die auf die mit ihnen verbundenen „unvermeidlichen Zwänge“, sei es mit fälschlicherweise beklagter „politischer Apathie“, sei es mit wirklich beklagenswerter Auflehnung reagieren). Hieraus erhellt, warum der aufgeklärte Konservatismus sich als unabtrennbar von einem groß angelegten Erziehungsunternehmen versteht, einer Art ökonomisch-politischer Aufklärung (im Original deutsch, d. Übers.), aus der der neue Mensch hervorgeht, der imstande ist, den Herrscher frei zu wählen, obschon seine Herrscher für ihn gewählt haben. [...] Weder Wissenschaft noch Trugbild, ist der herrschende Diskurs eine Politik, d.h. ein Diskurs von großer Schlagkraft, nicht wahr, aber in der Lage, sich zu bewahrheiten – was eine Form der Bestätigung wie jede andere ist –, indem er das eintreten lässt, was er verkündet, zum Teil einfach dadurch, dass er es verkündet. Die Wirksamkeit des Plans ist nicht die des Rechts, wiewohl seine wahre Natur in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass sich hinter scheinbar rein formalen Gegensätzen, wie geschlossen und offen, lokal oder kosmopolitisch, in Wirklichkeit eine Politik verbirgt: legislative und administrative (vor allem fiskalische) Maßnahmen, wie die Beseitigung der Zollschranken und der Schutzvorkehrungen, die das Überleben überzähliger Kategorien sichern. Wie Weber zufolge die Regel, wirkt der Plan nur dann, wenn das Interesse, sich nach ihm zu richten, stärker ist als das Interesse, ihn zu missachten. Seine Wirksamkeit verdankt er dem Umstand, dass er der Diskurs ist, in und durch den die neue herrschende Klasse sich selbst ihr Interesse signalisiert, dieses wohlverstandene Interesse, welches das einzige Gesetz einer rationalen Politik ist.4
4
Dies ist die keineswegs geheimnisvolle Grundlage der Macht, die der neue herrschende Diskurs der Information zuerkennt und über die Fourastié sich in seiner üblichen Unschuld offen ausspricht: „Die Leute davon überzeugen, dass sie etwas tun, aber sie durch Darlegung der Situation überzeugen, durch Bewusstmachen der Realität, und auf keinen Fall durch Vorschriften. Es geht nicht darum, die Leute zum Handeln zu zwingen. Vielmehr muss man sie über bestimmte Tatsachen informieren, sodass sie zu der Feststellung gelangen, dass es in ihrem Interesse liegt, ihrer Natur entspricht, ihr Handeln in bestimmte Richtungen zu len-
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Der herrschende Diskurs über die soziale Welt hat nicht nur die Funktion, Herrschaft zu legitimieren. Es ist ebenso seine Aufgabe, dem Handeln, das ihrer Aufrechterhaltung dient, eine Richtung zu geben, die Moral derer, die die Weisungen erteilen und ihn umsetzen, zu stärken und ihnen eine Moral, eine Orientierung und Richtlinien zu liefern. Deshalb kann er nur in dem Maße wirksam werden und sich als realistische Politik, d.h. als ein Aktionsprogramm mit hinlänglich sicheren Erfolgsaussichten aufzwingen, wie er eine Sicht bietet, die zugleich schief, weil partiell und interessengeleitet, und realistisch ist, d.h. eine Sicht, die ihre Notwendigkeit all denen aufzuzwingen vermag, die sich auf den Standpunkt stellen, von dem aus sie gewonnen ist, aber auch, in der Art einer perspektivischen Ansicht, nur diesen. So bezeichnen z.B. die grundlegenden Strukturen dieser Sichtweise, wie die Hauptgegensätze von offen und geschlossen, lokal und multinational, auf durchaus realistische Weise das Zentrum des Konfliktes zwischen der „technokratischen“ Avantgarde und den sozialen Gruppen auf lokaler Basis. Mit dem Parlamentarismus der örtlichen Notabeln Schluss zu machen, deren ausschließlich auf die korporativen und/oder lokalen Interessen gerichtete Aufmerksamkeit für die nationalen (d.h. multinationalen) Probleme blind macht, heißt auch mit den Gruppen, Bauern, Handwerkern, kleinen Kaufleuten, deren Interessen sie verteidigen, und in deren Namen sie sich den großen nationalen (d.h. multinationalen) Direktiven widersetzen, Schluss zu machen. Es heißt, die Vereinheitlichung des ökonomischen und symbolischen Marktes durch Beseitigung der lokalen Märkte, die einer relativ autonomen Logik gehorchen, zu betreiben. [...] Die genuin politische Macht beruht weder auf einer einfachen Anpassung an die strukturellen Tendenzen noch auf einer willkürlichen Aufzwingung unmittelbar interessengeleiteter Maßnahmen. Sie fußt vielmehr auf einer rationalen Ausnutzung der (von der Statistik ermittelten) strukturellen Tendenzen, die von den möglichen zukünftigen Entwicklungen diejenige durch eine gezielte Intervention zur wahrscheinlichsten machen soll, die den Interessen der Herrschenden am meisten entspricht. Dies ist der Ort, an dem die Information, deren Loblied die Ideologie des modernen „Chefs“ anstimmt, eine entscheidende Rolle spielt. Denn sie gestattet es, die wahrscheinlichen Entwicklungen zu antizipieren, deren „Verlangen zu existieren“, wie Leibniz sagte, abzuschätzen sowie die Kosten und die Erfolgschancen des Handelns, das die gewünschte Entwicklung herbeiführen soll, genau zu kalkulieren. Die neutralen Orte haben unter anderem die Funktion, das, was man gemeinhin Meinungsaustausch nennt, zu fördern. Sie dienen der wechselseitigen Information über die Zukunftsvorstellungen derjenigen Akteure, die nicht nur die meisten Informationen über die zukünftige Entwicklung, sondern auch den größeren Einfluss auf sie besitzen. Die wissenschaftlichen
ken und sich dabei bestimmter Methoden zu bedienen.“ (J. Fourastié, Planification économique en France, PUF, Paris, 1963, S. 32 und 40)
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Erkenntnisse über die Tendenzen wären nichts ohne die intimen Kenntnisse über die Vorstellung, die diejenigen sich von den Tendenzen machen, die in der Lage sind, Einfluss auf sie zu nehmen, d.h. ohne das wechselseitige Wissen um die Intentionen, für das sowohl die Orchestrierung der Habitus als auch die von den offiziellen oder informellen Treffen begünstigte Konzertierung sorgen. So ist der Bankier, der eine neue Form des Kredits einführt, nur deshalb so erfolgreich, weil er seine Erkenntnisse über die Tendenzen (die „Bedürfnisse der Kundschaft“) um ein Insiderwissen über die Politik ergänzt, die, ihrerseits auf Erkenntnissen über die Tendenzen basierend, zur Bestimmung der Tendenzen beiträgt, mit denen er rechnen muss (oder, wenn man das vorzieht, zur Erzeugung der „Bedürfnisse“, die er ausbeutet). Das Gleiche gilt auch umgekehrt. Eine Wirtschaftspolitik ist nur auf der Basis eines solchen zweifachen Wissens erfolgreich. Die Plankommissionen oder die Komitees der Weisen (die Verwaltungsräte oder die schicken Klubs nicht zu vergessen) bieten nicht nur die Gelegenheit zum Sammeln von Informationen über die neuen Tendenzen, sondern auch zu einem Vergleich der unterschiedlichen Vorstellungen von den Tendenzen und den zu ihrer Beeinflussung geeigneten Handlungen. Die Rolle, die bei diesem zirkulären Informationskreislauf die mit einer gemeinsamen schulischen (und, darin impliziert, sozialen) Herkunft zusammenhängende Homogenität der Habitus spielt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Produkte derselben Bedingungen und derselben Konditionierungen, mit denselben Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata ausgestattet, denken und wollen die (fast alle aus der Finanzinspektion hervorgegangenen) Leiter der Banken sowie die Leiter der staatlichen und zahlreicher privater Unternehmen das, was die für die politischen Entscheidungen Verantwortlichen, die mittelbar oder unmittelbar die Erfolgsbedingungen ihrer Entscheidungen bestimmen, denken und wollen, und umgekehrt. Der Grund für die Wirksamkeit des Handelns der Herrschenden liegt in deren Fähigkeit, Tendenzen vorauszusehen und sie zur Befriedigung ihrer Interessen auszunutzen. So haben, wie sich zeigen ließe, viele der rentabelsten „Innovationen“ (im Bankgeschäft z.B.) darin bestanden, wirtschaftlichen und politischen Gewinn aus dem Vorhaben zu ziehen, die Institutionen zu schaffen, die der Zukunft angepasst sind, wie sie in Gestalt der amerikanischen Gesellschaft, die als fortgeschrittene Form (im doppelten Sinne von Antizipation und Ideal) der französischen Gesellschaft erscheint, bereits gegenwärtig ist. In den amerikanischen Statistiken ein vorweggenommenes Bild der französischen Wirtschaft zu erkennen und in den ökonomischen Institutionen der Vereinigten Staaten die Zielsetzungen und die Instrumente einer zeitgemäßen Politik (des Staates, der Banken, der Industrie usf.), heißt, zumindest implizit, das politische Projekt akzeptieren, das darin besteht, aus einer möglichen Zukunft ein unabwendbares Schicksal zu machen: indem man so handelt, als ob genau diese Zukunft die einzig mögliche wäre und die symbolische Wirksamkeit der Prophetie nutzt, um ihr schneller und umfassender zum Durchbruch zu verhelfen.
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Der Fatalismus des Wahrscheinlichen, der dem ideologischen Gebrauch der Statistik zugrunde liegt, macht vergessen, dass das Erkennen des Wahrscheinlichsten auch die Möglichkeit bietet, bei einer anderen politischen Intention das am wenigsten Wahrscheinliche zu verwirklichen. Das Erkennen der strukturinhärenten Tendenzen ist die Voraussetzung für den Erfolg der politischen Aktionen, die mit der Struktur spielen müssen, um die am wenigsten wahrscheinlichen Entwicklungen zum Ziel zu führen. Der Großteil der politisch Tätigen waren die Agenten ihnen unbekannter sozialer Gesetze. Als von der Struktur bestimmte Werkzeuge der Struktur hätten sie indessen wohl auch bei Kenntnis der Strukturgesetze nicht anders gehandelt, weil sie nichts anderes wollten als das, was in der Struktur impliziert war. Eine Politik, die auf die Transformation der Strukturen und die Neutralisierung der Wirksamkeit der tendenziellen Gesetze zielt, müsste ihre Kenntnis des Wahrscheinlichen nutzen, um die Chancen des Möglichen zu verbessern. Die Kenntnis der tendenziellen Gesetze der sozialen Welt ist die Bedingung allen realistischen, d.h. nicht utopistischen Handelns, welches das Wirksamwerden dieser Gesetze vereiteln will. Wenn es eine Erkenntnis des Wahrscheinlichen gibt, dann steigen durch sie die Chancen des Möglichen. (Was Grund genug ist, dem antiwissenschaftlichen Fideismus, der üblichen Ausdrucksform der konfusen Schuldgefühle der Intellektuellen, eine Absage zu erteilen.) Alle Politik, die keine genaue Kenntnis des Wahrscheinlichen, das sie vereiteln will, besitzt, läuft Gefahr, gegen ihren Willen daran mitzuwirken, dass es eintritt, während die Wissenschaft, die das Wahrscheinliche enthüllt, zumindest den Vorzug hat, die Funktion des Laisser-faire zu enthüllen.
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Diese politischen Theorien im praktischen Zustand, Erkennungswerkzeuge der sozialen Welt, und als solche Machtinstrumente, bilden mit dem politischen Handeln, das sie anleiten und dem sie Ausdruck verleihen, einen Pleonasmus.* Den Anstrich des wissenschaftlichen Diskurses können sie sich deshalb geben, weil sie sich all denen als präskriptive Deskriptionen aufzwingen, die bewusst oder unbewusst die der Zensur unterliegende Axiomatik, auf der sie aufbauen (d.h. all das, was Implikat des Willens zur Aufrechterhaltung der Herrschaft ist), akzeptieren – und nur diesen, die freilich über die Mittel verfügen, sie in die Wirklichkeit umzusetzen und ihnen so, unter faktischem Ausschluss aller anderen Möglichkeiten, zu einer Form von Verifizierung zu verhelfen. Dadurch sind diese Theorien den mythischrituellen Systemen verwandt, die ihre absolute Evidenz – für den, der ihre Axiomatik praktisch akzeptiert – der Tatsache verdanken, dass sie die Sicht *
Pleonasmus: Häufung sinngleicher oder ähnlicher Wörter und Ausdrücke (Anm. d. Übers.).
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der sozialen Welt gemäß den Strukturen dieser Welt strukturieren. (Sodass es belanglos ist, zu wissen, ob sie dazu beitragen, sie zu schaffen, oder ob sie nur deren Abbild sind.) Diese politischen Theorien im praktischen Zustand – Mittel zur rationalen Erhaltung der Strukturen, die selbst das Produkt der zu erhaltenden Strukturen sind – verdanken ihren praktischen Systemcharakter und ihre praktische Angleichung an die Wirklichkeit dem besonderen historisch-sozialen Charakter der Schemata, deren Produkt sie sind. Denn diese Schemata sind ja selbst das geschichtliche Produkt der gesellschaftlichen Strukturen, auf deren Reproduktion sie zielen, und verbleiben stets innerhalb der Grenzen des geschlossenen Universums der politischen Lösungen, die auf einem bestimmten Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen für die herrschende Klasse akzeptabel und praktikabel sind. Um dem Idealismus zu entgehen, genügt es nicht, von „herrschender Ideologie“ zu sprechen. Um Dinge hervorzubringen, wird die Ideologie selbst zum Ding; und die Analyse muss die Metamorphosen verfolgen, die den herrschenden Diskurs in einen effizienten Mechanismus verwandeln. Der herrschende Diskurs ist nur die Begleiterscheinung von Politik, eine Prophezeiung, die zu ihrer eigenen Verwirklichung beiträgt, weil ihre Wahrheit im Interesse derer liegt, die sie bekannt machen, und weil es in deren Macht liegt, sie wahr zu machen. Die herrschenden Vorstellungen objektivieren sich fortwährend in den Dingen, und die soziale Welt enthält allerorts, in Gestalt von Institutionen, Gegenständen und Mechanismen (von den Habitus der Akteure nicht zu reden) Wirklichkeit gewordene Ideologie. Jede neue Wahl, die aufzuzwingen der herrschenden Politik gelingt, trägt dazu bei, das Universum der Möglichkeiten einzuengen oder, genauer, das Gewicht der Zwänge zu vergrößern, mit denen eine Politik rechnen muss, die auf die in einem fort ausgeschlossenen Möglichkeiten gerichtet ist. Das aber heißt, dass jede politische Aktion sich mit der Struktur der sozialen Welt, insofern sie selbst, zumindest zum Teil, das Ergebnis früherer politischer Aktionen ist, auseinandersetzen muss: Das geschichtliche Erbe ist auch ein Kapital. Durch den Niederschlag früheren politischen Handelns in den Gegenständen sieht die revolutionäre Intention sich vor die Notwendigkeit gestellt, zwischen der Vernichtung, der Disqualifizierung und der Umstellung eines großen Teils des akkumulierten Kapitals und einer bloßen Änderung der Methoden seiner Verwaltung und der ihm zugewiesenen Funktionen zu wählen. Die „Realisten“, deren nüchterner gesunder Menschenverstand seinen formalen Ausdruck in der ökonomischen Theorie externer Kosten oder in einer organizistischen Theorie der Systeme findet, haben immer die soziale Vernunft und zuweilen auch die Sozialwissenschaft auf ihrer Seite, wenn diese, implizit den Doppelsinn des Wortes „Gesetz“ nutzend, das Mögliche auf das Wahrscheinliche reduziert (Soziologismus). Die fortschreitende Objektivierung der auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung gerichteten politischen Vorstellungen und Handlungen ist das Äquivalent eines Alterungs- und, davon untrennbar, eines Enttäuschungs-
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prozesses, der den Antagonismus zwischen den beiden politischen Modalitäten des Wirklichkeitsverständnisses, dem Utopismus und dem Soziologismus (als einer Form des Realismus), tendenziell vertieft, indem er den Anteil an Utopismus kontinuierlich reduziert, zu dem der Realismus oder, besser, der realistische Utopismus berechtigt.
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Die Politik ist auch das Konstitutionsprinzip der „Allgemeinbildung“ und insbesondere der literarischen Bildung, die bei der mündlichen Aufnahmeprüfung der ENA verlangt wird: Die an Sciences-Po herrschenden politischen Taxonomien liefern die Prinzipien für die Wahl der jeweiligen Autoren sowie die Klassifizierungsprinzipien, die an sie angelegt werden. So unterscheidet beispielsweise der ENA-Vorbereitungskurs des Zentrums für berufliche Aus- und Weiterbildung (von dem die nachfolgende Liste stammt) bei den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zwischen den „Traditionalisten“ („Saint-Exupéry, G. Bernanos, H. de Montherlant“), den „NeoMonarchisten“ und „Neo-Faschisten“ („C. Maurras, M. Barrès, R. Brasillach“) und den „engagierten Schriftstellern“ auf der „Suche nach einem neuen Humanismus“ („S. Weil, E. Mounier: Der Personalismus und die Revolution des 20. Jahrhunderts“, „Der heroische Humanismus von Camus und Malraux“ etc.). Doch diese disparate Bildung, die sich ohne Zögern auf Sartre, Marcuse und Marx bezieht, ist nicht nur ein Instrument zur Verinnerlichung „viriler“ Werte – der des „Chefs“ – die von der ENA zum Kult erhoben wird: der „große physische Lyrismus des Sports“ („Montherlant“), „Volksnähe und Brüderlichkeit“ („Péguy“), der „Stoizismus“ („SaintExupéry“), die Suche nach der „Vereinigung dieser beiden tiefgehenden Passionen [...], der menschlichen und göttlichen Herrschaft“ („Teilhard de Chardin“). Ihre Funktion besteht auch darin, den zukünftigen hohen Funktionären, denen sie eingetrichtert wird, die nötigen Waffen zu liefern, um den Gegner auf dessen eigenem Terrain anzugreifen, nämlich dem des „linken, dem Kapitalismus gegenüber schlicht feindlich eingestellten Denkens“, also der marxistischen Bildung (so als Chirac in der Fernsehsendung „Face à face“ Marchais die „Grundprinzipien des Leninismus“ erklärte).
Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln?∗ U LLRICH B AUER & U WE H. B ITTLINGMAYER
Die nachfolgenden Ausführungen bilden keinen umfassenden sachsystematischen Theorievergleich. Dessen ungeachtet soll in diesem Beitrag die These entfaltet werden, dass Bourdieu eine spezifische Aktualisierung und Modernisierung spezifischer Aspekte der Kritischen Theorie liefert. Sein begriffliches Instrumentarium erlaubt es, die für die Vertreter der Frankfurter Schule konstitutive Frage nach der Stabilität und Reproduktion von Herrschaft konzeptionell zu refomulieren. Für beide Ansätze ist die Einsicht konstitutiv, dass die Ausübung physischen Zwangs in seiner nackten Gestalt für die Aufrechterhaltung einer bestehenden Herrschaftsordnung allein nicht ausreicht. Kultur avanciert in den fortgeschrittenen Gesellschaften zum zentralen Medium der Herrschaftsvermittlung. Diese Position ist sowohl für die Kritische als auch für die Bourdieu’sche Theorie bestimmend. Die Berechtigung für den folgenden um das Verhältnis von Kultur und Herrschaft gruppierten Theorievergleich haben nicht zuletzt Pierre Bourdieu und achtzehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Studie ‚La Misère du Monde‘ selbst geliefert, die eines der zentralen Topoi der Kritischen Theorie zu reanimieren scheint: Das (überflüssige) Leiden der Menschen beredt werden zu lassen. Für den folgenden Theorievergleich skizzieren wir zunächst schlaglichtartig die theoretische und begriffliche Grundlage der Kritischen Theorie der Gesellschaft. Durch eine theoriegeschichtliche Rekonstruktion soll hier ge∗
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des zuerst in der Festschrift für Rolf Eickelpasch: Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten, Hg. v. Claudia Rademacher und Peter Wiechens (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 241-298) erschienen gleichnamigen Beitrags. Er wird an dieser Stelle noch einmal veröffentlicht, weil einige grundlegende Aspekte eines Theorievergleichs zwischen Bourdieu und der frühen Frankfurter Schule im Beitrag enthalten sind.
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zeigt werden, warum gerade die Beschäftigung mit Kultur in das Zentrum der Gesellschaftstheorie rückt (1.1). Daran anschließend wird die Vermittlung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und ihren kulturellen Entsprechungen in den Ansätzen von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse seit den dreißiger Jahren fokussiert (1.2). Im zweiten Teil werden der praxeologische Erkenntnisansatz Bourdieus (2.1) und seine Herrschaftssoziologie anhand der Grundbegriffe Habitus, Feld und symbolische Ordnung/Gewalt dargestellt (2.2) und mit seiner politischen Soziologie konfrontiert (2.3).
1. E LEMENTE EINER K RITISCHEN T HEORIE DER G ESELLSCHAFT Der konstitutive Grundzug einer Kritischen Theorie ist die Reflexion auf die jeweils gegenwärtigen Ausprägungen des Herrschafts- und Machtapparates sowie die Vergegenwärtigung der vorhandenen emanzipativen, jene Apparate potentiell sprengenden Kräfte. Hieraus lässt sich zwar keinesfalls eine kanonisierte Liste von allgemeinen Kriterien ableiten. Das wäre unvereinbar mit einer Theorie, die „(sich) gegen das Wissen kehrt, auf das man pochen kann“ (Horkheimer 1981a [1942]: 23) und der „Wahrheit einen Zeitkern zuspricht“ (Horkheimer/Adorno 1969: IX). Es sind jedoch zentrale Momente benennbar, die konstellativ das Spannungsfeld abzubilden vermögen, in dem die Kritische Theorie – als „vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte Theorie der bestehenden Verhältnisse“ (Horkheimer 1992a [1937]: 215) – sich darum mühte, das überflüssige und sinnlose Leiden einer fremdbestimmten Mehrheit mit der geschichtlichen Möglichkeit seiner Verringerung oder Aufhebung zu konfrontieren. In einem ersten Schritt wird der abstrakte Maßstab der Kritischen Theorie rekonstruiert, vor dessen Hintergrund die Gesamtgesellschaft als auch einzelne kulturelle Manifestationen zu betrachten sind. In einem zweiten Schritt wird dann genauer das Kulturverständnis der Kritischen Theorie analysiert, und zwar vorrangig in Hinblick auf das Verhältnis von Kultur und Herrschaft. 1.1 Die Maßstäbe einer Kritischen Theorie aus dem Geist der gesellschaftlichen Möglichkeiten Historischer Ausgangspunkt einer Kritischen Theorie im umfassenden Sinne war zunächst das Projekt einer aufgeklärten Gesellschaft, das mit den bürgerlichen Revolutionen erstmals geschichtsmächtige Geltung erlangte. Mit ihnen verbunden war das Versprechen einer freien, gleichen und solidarischen Menschheit. Seit Marx zielte dabei die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft darauf, dass diese den emanzipativen Gehalt dieser Befreiungsbewegung auf die partikulare Befriedigung ihrer eigenen Interessen redu-
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ziert hat.1 Nicht etwa der ganzen Gesellschaft, sondern nur einem schmalen gesellschaftlichen Segment – dem Besitz- und Bildungsbürgertum – kam der Profit einer antifeudalen Rationalisierung der Verhältnisse zugute. Die überwiegende Mehrheit indes wird auf ihre physische Reproduktion, ihr ‚nacktes Überleben‘, zurückgeworfen. Die in der Aufklärung enthaltene Möglichkeit einer objektiven, die Interessen der Allgemeinheit repräsentierenden Vernunft wird hierdurch verraten. Vernunft bleibt subjektiv, verschmilzt mit wirtschaftlicher Rationalität und wird auf diese Weise zum Surrogat, zum bloßen Mittel der Selbsterhaltung (vgl. z.B. Horkheimer 1992b [1942]; Horkheimer/Adorno 1987: 67-103). Kritik an der Aufklärung – und das ist charakteristisch für alle Vertreter der Kritischen Theorie von Marx bis Marcuse – folgt dabei nicht dem Motiv einer Gegenaufklärung, sondern immanenter Kritik an der Nichteinlösung ihres Versprechens. Aufklärung wird gerade als das zu Rettende bestimmt. Stellvertretend Max Horkheimer: „[D]ie Aufklärung habe ich im Geiste der Aufklärung selbst angegriffen, nicht in dem des Obskurantismus.“ (Horkheimer 1996: 25) Das Festhalten an dem Projekt der Aufklärung nimmt dieses sie selbst erst rechtfertigende Versprechen ernst, den bewussten, reflektierten und geplanten Vollzug der eigenen Geschichte zum Prinzip aller menschlichen Vergesellschaftung zu erheben. Insofern hat die Kritische Theorie nicht aufgehört, die bürgerliche Gesellschaft an die Ideen ihrer Revolution zu erinnern (vgl. Horkheimer 1981c [1959]: 79) Entgegen der Verwirklichung einer möglichen „freudvollen Existenz und allgemeinen Gleichheit“ blieb die Mehrheit aber der „harte[n] Realität der individualistischen Gesellschaft“ (Horkheimer 1992c [1936]: 59) ausgeliefert. Der einzelne wird von der Gesellschaft getrennt und erfährt seine Existenz als partikular. Dabei ist für die Kritische Theorie ausgemacht, dass die Reproduktion dieser Vergesellschaftungsform ausgerechnet auch von jenen getragen wird, die am wenigsten von ihr profitieren: „Die Konstituierung der Welt geschieht hinter dem Rücken der Individuen und ist doch ihr Werk.“ (Marcuse 1965a [1937]: 119; Herv. der Verf.) Wird Geschichte nach diesem allgemeinsten geschichtsphilosophischen Prinzip im Denken der Kritischen Theorie damit immer noch von Menschen
1
Wenn Marx „vom Reich der Freiheit spricht, dann denkt er eben an die Entfaltung der Kräfte des einzelnen, die für das Bürgertum im Liberalismus bestanden hat und die seines Erachtens zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit der gesamten Gesellschaft werden sollte, so dass niemand mehr von ihr ausgeschlossen bleibt. Ihm kam es darauf an, dass diese Entwicklung der Kräfte nicht für den einen leichter ist, weil er mit einem Vermögen auf die Welt kommt, während der andere, Sohn des Proletariers, diese Möglichkeit nicht besitzt. Alle Menschen sollten sich frei entfalten dürfen. Das war letzten Endes, so scheint uns, eines der wichtigsten Motive in der Marx’schen Theorie.“ (Horkheimer 1981b [1968]: 144/145). Dieses Motiv war bis zuletzt bestimmend für die Frankfurter Schule (vgl. auch Demirovic 1999: 47-48).
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gemacht, ist somit die Möglichkeit ihrer eigenen Umkehrung – in der Metapher Walter Benjamins: eines Tigersprungs aus der Geschichte heraus – zugleich in jener enthalten: „Die Trennung von Individuum und Gesellschaft, kraft deren der Einzelne die vorgezeichneten Schranken seiner Aktivität als natürlich hinnimmt, ist in der kritischen Theorie der Gesellschaft relativiert. Sie begreift den vom blinden Zusammenwirken der Einzeltätigen bedingten Rahmen, das heißt die gegebene Arbeitsteilung und die Klassenunterschiede, als eine Funktion, die, menschlichem Handeln entspringend, möglicherweise auch planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unterstehen kann.“ (Horkheimer 1992a [1937]: 224)
Bleibt dieses virtuelle Handlungspotential in der menschlichen Praxis verborgen, ist das neben den brutalen und alltäglichen individuellen Sachzwängen der gemeinhin verklärten Dialektik von Individuum und Gesellschaft geschuldet. Diese Verklärung wird vor allem seit Marx erkannt als ursächlich bedingt durch die ökonomischen Verhältnisse und die mit ihr gekoppelten Basisinstitutionen der formalen Freiheit, des Privateigentums an Produktionsmitteln, der abhängigen Lohnarbeit und dem anonymisierten konkurrenzbasierten Markt. Eine solidarische Praxis wird nach Marx innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise durch die Verallgemeinerung des Konkurrenzprinzips systematisch verhindert, weil den nunmehr vereinzelten Individuen einerseits Gesellschaft als übermächtige und außerhalb ihrer Handlungsreichweite gelegene erscheint und ihnen andererseits die Mitmenschen in erster Linie als namenlose Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt begegnen. Die ökonomischen Verhältnisse sind insofern „als für das Ganze der bestehenden Welt verantwortlich“ (Marcuse 1965a: 102), indem sie die Menschen immer mehr zu bloßen untereinander konkurrierenden Anhängseln einer ihnen in ihrer Gesamtheit unbegriffenen Gesellschaft degradieren (vgl. auch Schmidt 1981: 32). Die (menschgemachte) Gesellschaft erstarrt zur zweiten Natur, zum Schicksal. Für die Kritische Theorie stellt sich in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, die ja in der Lage scheint, den größten Teil ihrer Bevölkerung mit massenindustriell gefertigten Gütern bei einem stetig wachsendem Lebensstandard zu versorgen, zunehmend die Frage nach dem Maßstab ihrer Kritik. Dass Adorno, Horkheimer und Marcuse, wenn auch in modifizierter Form, an ihrer radikalen Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit zu großen Teilen festgehalten haben, ist ursächlich begründet mit ihrem Maßstab, ‚Geschichte mit ihren Möglichkeiten zu konfrontieren‘, die in den Gegenwartsgesellschaften selbst (auf konkrete Weise) sichtbar werden (vgl. Horkheimer 1981a: 23; Marcuse 1999a: 46-66). Eine Gesellschaft wird vor allem anderen daran gemessen, was vor dem Hintergrund ihrer augenblicklichen Produktionskapazitäten machbar ist, bspw. in Hinblick auf die Reduktion der (fremdbestimmten) schweren und mühevollen Arbeit oder die Ausdehnung der freien und selbstbestimmten Zeit (vgl. z.B.
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Adorno 1979 [1968]). Insistiert wird auf diese Weise sowohl auf der Überflüssigkeit von Armut und daran gekoppeltem Leid und Elend als auch auf der Verkümmerung der Individuen inmitten einer durch gestiegene Konsumchancen großer Bevölkerungsgruppen geprägten sozialen Welt (vgl. Horkheimer 1981c: 86), die auf der „totalitäre(n) Diktatur der etablierten Tatsachen“ (Marcuse 1999a: 63) basiert und individuelle Freiheit im emphatischen Sinne aus dem denkmöglichen Horizont der sozialen Akteure gerade durch materielle Teilhabe am Massenkonsum verscheucht. Als Weiterentwicklung einer Kritischen Theorie ohne ‚eigentlichen‘ Adressaten nach der „Verbürgerlichung des Proletariats“ (Marcuse 1999a/ 1961: 43f.), die eine zunehmende Abstraktion der Kritik von der empirischen Verfasstheit der Gegenwartsgesellschaft einleitet, sind nach Michael Th. Greven drei idealtypische Kritikmodelle möglich (vgl. Greven 1999). Das ‚reformistische‘ Modell, vorangetrieben durch Jürgen Habermas und das gegenwärtige Frankfurter Institut für Sozialforschung, das die rechtlichen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaften herausstreicht und sie „als zumindest in Teilbereichen ‚rationales System‘“ (ebd.: 5) anerkennt. Maßstab der Kritik ist nunmehr die fehlende „Balancierung der Imperative einer kapitalistischen Reichtumsproduktion, [mit] de[n] Erfordernisse[n] einer auf den Arbeitsmarkt zentrierten Form der sozialen Integration sowie de[n] Rechtsgarantien und Teilhabechancen einer liberalen Demokratie.“ (IfS 2000; vgl. auch Habermas 1992) Das ‚hoffnungsgeleitete‘ Modell einer Kapitalismuskritik, vor allem verkörpert durch Marcuse, die stetig nach gesellschaftlichen Protestgruppen Ausschau hält, in denen der gegenwärtige Zustand der eindimensionalen Gesellschaft überschritten wird und sich neue Formen von Bedürfnissen und Solidaritäten artikulieren (vgl. insbesondere Marcuse 1969b, 1999b [1968], 1999c [1973]). Schließlich das ‚skeptische Modell‘, für das insbesondere Horkheimer und Adorno stehen, das die Hoffnung auf die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse mit dem nüchternen Blick auf seine unhinterfragte Vormachtstellung kombiniert (vgl. Adorno 1963: 9-10; Adorno 1975; Horkheimer 1981b [1968]). Allen drei Modellen gemeinsam ist das geschwundene Vertrauen in die Sprengkraft des Widerspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktionsmitteln und die Konstatierung einer enormen, von Marx weitgehend unterschätzten, Integrationsfähigkeit kapitalistischer Gesellschaften. Die nur noch in den letzten beiden Modellen normativ geforderte Änderung der Produktionsverhältnisse hängt demgegenüber „weithin ab von dem, was sich in der ‚Konsumsphäre‘ [...] zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtsein des Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßtes, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen. Unter diesen Umständen hat kritische Theorie sich der Phänomene des Überbaus anzunehmen“ (Schmidt 1981: 36; Herv. der Verf.). Diese Verschiebung bezeichnet den – in der Literatur häufig voreilig als ‚Ende der Ökonomie‘ verbuchten und erst in den vierziger Jahren verorteten – Paradigmenwechsel von einer durch das Programm des interdisziplinären
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Materialismus aktualisierten Kritik der politischen Ökonomie zur Analyse der über die Kultur vermittelten Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften. Im Folgenden wird darum das Kulturverständnis der Kritischen Theorie in das Zentrum der Betrachtung gerückt. 1.2 Kultur als gesellschaftlicher Kitt Die Betrachtung der Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft, die noch vor Ausbruch der faschistischen Periode in das Vorhaben einer kritischen Theorie der Kultur einging, sollte nicht von der engen Schematik des ‚BasisÜberbau-Modells‘ beschränkt bleiben; die Entfaltung einer kritischen Theorie der Kultur in den dreißiger Jahren war als theoriestrategische Erweiterung konzipiert (vgl. Dubiel 1982: 456). Gleichwohl hat sich die Reichweite und der Gegenstand der Kulturtheorie über die Jahrzehnte verändert. Zu unterscheiden ist das Projekt einer ,übergreifenden Kulturwissenschaft‘ im weiteren Sinne bis zum Ende der dreißiger Jahre (1.2.1), die Theorie der Kulturindustrie (1.2.2) sowie Marcuses Topos der Kultivierung der Zivilisation (1.2.3). 1.2.1 Kultur jenseits eines epiphänomenalen Überbaus Horkheimers Konzeption, neben der Analyse der ökonomischen Bedingungen auch kulturelle Prozesse als Bestandsbedingungen kapitalistischer Herrschaft zu fokussieren, geht auf die Idee einer kritischen Theorie als materialistische Theorie der Kultur zurück, die er erstmals 1931 in seiner Antrittsrede als neuer Direktor des Instituts für Sozialforschung umrissen hatte. (Vgl. Horkheimer 1981d) Danach umfasst Kultur nicht nur die „epiphänomenale Sphäre der Bewußtseinsformen“, die aus dem „,ens realissimum“ދ der ökonomischen Struktur kausal abgeleitet wird (Dubiel 1982: 462): An die Kritik am objektivistischen Standpunkt des kanonisierten Marxismus der Zweiten Internationale, die Politik wie Kultur nur als Ausdruck und Schein der Produktionsverhältnisse proklamierte (Demiroviü 1999: 34), schließt das Programm wie die Forschungstätigkeit des Instituts seit Beginn der dreißiger Jahre an. Es ist dies der Entwurf eines nicht positivistisch verkürzten, sondern materialistischen Kulturbegriffs. Dieser Grundzug zeigt sich vor allem in den 1936 in Paris erstmals erschienenen Studien zu Autorität und Familie. Ausgang der allgemeintheoretischen Überlegungen ist die Frage nach der Möglichkeit bzw. Verhinderung einer vernünftigen Regelung der Lebensverhältnisse der Menschen untereinander. Zur Erklärung der Aufrechterhaltung irrationaler Herrschaft reiche hiernach der Zwang in seiner nackten Gestalt nicht mehr aus. (Horkheimer 1992d [1936]: 134) Die Theorie, nach der menschliche Gesellschaften nur durch die den „Herrschenden zur Verfügung stehende Apparatur der Machtmittel“ zusammengehalten werden, ist unzulänglich und bleibt „rein mechanisch“ (Löwenthal 1982 [1934]: 241).
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Die Faktoren, die bewirken, dass die Mitglieder einer Gesellschaft eingepasst werden und insbesondere die beherrschten Klassen das „Joch so lange ertragen“ (Horkheimer 1992d: 134), werden als kulturelle in einem allgemeinen Sinne verstanden. Damit ist ein Kulturbegriff begründet, der Gewohnheiten, Sitten, Kunst, Religion und Philosophie ebenso umfasst wie die gesellschaftlichen Einrichtungen des Staats-, Rechts- und Erziehungswesens soweit sie nicht rein materieller Natur sind. (Ebd.: 130f.; Löwenthal 1982: 242) Gemeinsames Merkmal aller Kultur in diesem Sinne ist, dass sie in die geschichtliche Dynamik des Aufrechterhaltens oder Sprengens einer bestimmten Gesellschaftsform miteinbezogen ist: Sie stellt so je nach historischer Situation den Mörtel eines noch werdenden Baus, den Kitt seiner auseinandertreibenden Teile oder den Sprengstoff dar, „der das Ganze beim ersten Funken zerreißt“ (Horkheimer 1992d: 131). Das dominierende Merkmal der gesamten Kultur in der gegenwärtigen wie in allen vorherigen Epochen ist demnach ihr repressiver Charakter. Sie ist Medium der Herrschaft von Menschen über Menschen. Dieses Verhältnis als ein weiterhin notwendiges „im Inneren der Beherrschten selbst zu befestigen, ist eine der Funktionen des gesamten kulturellen Apparates“ (ebd.: 144). Kultur vermittelt damit den Glauben an die Unausweichlichkeit des Faktischen; dessen Anerkennung ist der „Glaube an Autorität“ (ebd.). Die Bejahung des Autoritätsverhältnisses zwischen den Klassen ist eine Funktion der gemeinen Praxis der beherrschten Klassen, Rechtsformen und Eigentumsverhältnisse als unmittelbare oder natürliche Tatsachen gelten zu lassen. „Autorität als bejahte Abhängigkeit“ (ebd.: 147) manifestiert sich im historischen Rückblick auch dort, wo vergangene und außereuropäische Kulturen dem Eindringen der westeuropäischen Lebensformen gegenüber Widerstand geleistet haben. Die „Resistenzfähigkeit jener Kulturen“ (ebd.: 136) wie der chinesischen oder der indischen gründete nicht etwa darauf, dass die ihnen angestammte Form der Produktion die vorteilhafteste wäre, sondern auf der „Unfähigkeit [...] aus der in die Seele jedes Individuums eingesenkten alten Glauben- und Vorstellungswelt hinauszutreten“ (ebd.: 137; Herv. d. Verf.). Das „relativ feste System eingeschliffener Verhaltensweisen“ (ebd.: 143) finde sich bei Menschen einer bestimmen Epoche wie auch Klasse. Es stellt – wie Horkheimer generalisiert – eine „Struktur von Vorlieben, Glaubensakten, Wertungen und Phantasien“ dar, durch die sich die Menschen mit ihren „materiellen Verhältnissen und den Grenzen ihrer realen Befriedigungen“ (ebd.) abfinden. Diese „innere Apparatur“ trage trotz ihrer Kompliziertheit den „Stempel der Notdurft“ an sich. An ihr wird nur deshalb festgehalten, weil das Heraustreten eine „erhöhte rationale Tätigkeit verlangt, Kraft und Mut, kurz, eine große seelische Leistung erfordert“ (ebd.: 144). Die „Schranken der Freiheit“ sind kraft ihrer tiefenpsychologischen Verankerung „also zugleich die Schranken des Gewissens“ (ebd.: 172). Die Abhängigkeit der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft durch scheinbar natürliche Umstände zu begründen und als unausweichlich hinzu-
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stellen, ist nach Horkheimer auch das unbewusste und bewusste Motiv eines Teils der geisteswissenschaftlichen Literatur. Das Verhältnis der Individuen zur Autorität ist aber niemals nur durch diese legitimatorischen Versuche in der ‚hohen Kultur‘ begründbar. Autorität wird dem Individuum vor allem durch eine Kultur des alltäglichen, routinemäßigen Handelns vermittelt. Die Familie ist dabei Hauptreproduktionsinstanz einer gesellschaftlich anerkannten Autorität und ebnet den Weg zur Analyse der autoritären Charakterbildung. Die autoritätsgläubige – autoritative – Haltung kann nicht erschöpfend durch die bewussten Maßnahmen öffentlicher Institutionen erklärt werden; sie wird „durch den stetigen Einfluß der herrschenden Zustände selbst, durch die gestaltende Kraft des öffentlichen und privaten Lebens, durch das Vorbild von Personen, die im Schicksal des Einzelnen eine Rolle spielen, kurz, auf Grund vom Bewußtsein nicht kontrollierter Prozesse“ (ebd.: 175) produziert. Alle grundlegenden Verschiedenheiten der „Menschentypen“ in der Geschichte sind dadurch vereinheitlicht, dass die in der „Charakterbildung immer wieder erzeugte Disposition zu autoritärer Gesinnung“ (Löwenthal 1982: 292) durch das die Gesellschaft kennzeichnende Herrschaftsverhältnis in allen Wesenszügen bestimmt ist. (Horkheimer 1992d: 145) Die Ansicht, dass der Charakter aus dem völlig isolierten Individuum zu erklären sei, gelte nach Horkheimer zwar seit mehr als hundert Jahren als verfehlt; gleichwohl pointiert er, dass menschliche „Triebe und Leidenschaften, die charaktermäßigen Dispositionen und Reaktionsweisen“ (ebd.) deswegen noch nicht als über die herrschende Kultur vermittelte erkannt werden. Als Momente eines je konkreten historischen Zusammenhangs gehören diese Züge jedoch zur Kultur, sie sind nur menschliche Eigenschaften von relativer Festigkeit (ebd.: 142). Im Inneren des Heranwachsenden spiegelt sich nur die herrschende Ordnung wider, in der sein äußeres Schicksal verläuft und die als unüberwindbar ausgegeben wird. Die Einsicht, dass individuelle Präferenzen, soziale Praktiken und selbst die bewusste Ausübung von Herrschaft keinesfalls als anthropologische Merkmale menschlichen Verhaltens zu hypostasieren, sondern als vermittelter „sozialer Druck“ zu enttarnen sind, ist konstitutiv für die Kritische Theorie und ihre Auseinandersetzung mit kulturellen Praktiken im Ganzen, so auch in den späteren Arbeiten zur kulturindustriell vermittelten Ausübung von Herrschaft. 1.2.2 Kulturindustrie als Verlängerung der irrationalen gesellschaftlichen Einrichtung In der Kulturindustriethese, wie sie vor allem in dem Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ in der Dialektik der Aufklärung entfaltet wurde, wird gegenüber der ersten Phase ein inhaltlich engerer, stärker an die unmittelbare Kultur- und Kunstproduktion rückgebundener Kulturbegriff vertreten, die gesellschaftstheoretische Bedeutung der kulturellen Sphäre aber nochmals aufgewertet. Vor dem Hintergrund der Zeitsignaturen des
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europäischen Faschismus, des sowjetischen Stalinismus und des amerikanischen Monopolkapitalismus erfolgte die Analyse der – in erster Linie amerikanischen – Kultur noch immer aus einer marxistischen Perspektive (vgl. Kellner 1982). Allerdings mit einer gegenüber dem Kulturkonzept der dreißiger Jahre entscheidenden Verschiebung der Kultur-Ökonomie-Relation. Betonte Horkheimer in Studien zu Autorität und Familie, dass die Kenntnis der materiellen Verhältnisse die Grundlage für das Verständnis der Kultur bildeten (vgl. Horkheimer 1992d: 134), so lassen sich diese beiden Momente in den gleichgeschalteten Gesellschaften der vierziger Jahre gar nicht mehr trennscharf voneinander sehen. „Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet.“ (Horkheimer/Adorno 1987 [1944/47]: 150). Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist aus ihrer marktwirtschaftlichkonkurrenzorientierten Phase herausgetreten und hat sich zu einem System weiterentwickelt, in dem die Regulierung der Märkte im Sinne eines ‚Staatskapitalismus‘ (vgl. Pollock 1941a; Pollock 1941b; vgl. auch van Reijen/Bransen 1987) die Antagonismen eines entfesselten ‚Manchesterkapitalismus‘ stillstellt. Unter diesen Umständen verlässt Kultur in Gestalt der Massenkultur endgültig die Sphäre des Anderen, Nicht-Ökonomischen, gibt ihre Position als Stellvertreterin des Reichs der Freiheit auf und mündet in ein massenwirksames kulturindustrielles System aus Printmedien, Radio, Film und Fernsehen (das Internet wäre heute zu ergänzen). Das bislang in erster Linie dem kapitalistischen Warenmarkt vorbehaltene Tauschprinzip wird auf alle gesellschaftlichen Bereiche (und Altersgruppen) ausgedehnt und übertragen (vgl. Paetzold 1995: 125). Kultur wird zur paradoxen Ware. Dass die Kulturproduktion nur noch um des Profites willen betrieben wird und zum reinen Geschäft mutiert, wird dabei von den „Lenkern“ der Kulturindustrie nicht mehr verheimlicht, sondern offensiv vertreten (vgl. Horkheimer/Adorno 1987: 145). Den Ausgangspunkt der Kritik Horkheimers und Adornos an der Kulturindustrie bildet nun nicht die Rettung der sogenannten ernsten Kultur (vgl. u.a. Auer et al. 1999: 124-130; ausführlich hierzu Bittlingmayer/Sahrai im Band), wie oftmals fälschlich angenommen wird (z.B. Gmünder 1985: 5861). Zwar bildet die avantgardistische Kunst den Widerpart der Kulturindustrie, das Jammern der „Kulturanwälte“ ist ihnen indes ein ebensolches Greuel wie der blinde, unreflektierte Genuss kulturindustrieller Güter. „,Leichte( ދsic!) Kunst als solche, Zerstreuung, ist keine Verfallsform. Wer sie als Verrat am reinen Ausdruck beklagt, hegt Illusionen über die Gesellschaft. Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluß der Unterklasse erkauft, deren Sache, der richtigen Allgemeinheit, die Kunst gerade durch die Freiheit von den Zwecken der falschen Allgemeinheit die Treue hielt.“ (Horkheimer/Adorno 1987: 160)
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Das Moment, in dem die Kulturindustrie zum Massenbetrug wird, liegt in dem falschen Versprechen der bereits vollzogenen Versöhnung zwischen dem Allgemeinen der gesellschaftlichen Interessen und dem Besonderen der individuellen Existenz und ihrer je spezifischen Bedürfnisse. Sie liefert standardisiertes Amusement statt entfesseltes, Unterhaltung und Zerstreuung statt Muße und gipfelt in der auf diese Weise vermittelten völlig unnötigen „Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus“ (ebd.: 162). Die durchschnittlichen Rezipienten der Kulturindustrie werden von Horkheimer und Adorno dabei als eine in ihrer Gesamtheit um die Einrichtung einer weniger repressiven Gesellschaft betrogene Masse bestimmt, die sich an die bestehenden Verhältnisse ohnmächtig anschmiegt und durch die identischen kulturindustriellen Produkte selber standardisiert wird. Das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf Individuation, das in ihrer frühen Phase die unteren Klassen durch materielle Schranken noch ausschloss, wird in der nachfolgenden Phase den gleichgeschalteten Massen ein weiteres Mal vereitelt. Durch die immergleichen kulturindustriellen Produkte verkümmern die Vorstellungskraft und Spontaneität der ‚pseudoindividuellen‘ Kulturkonsumenten und „die Liebe zu [...] Heldenmodellen nährt sich von der geheimen Befriedigung darüber, dass man endlich der Anstrengung der Individuation durch die freilich atemlosere der Nachahmung enthoben sei“ (ebd.: 183). So wird Imitation zum Grundmuster der Kulturindustrie und bezeichnet den Mechanismus, durch den das Bestehende apologetisch verdoppelt wird. Massenkultur wird zum totalitär integrierenden Medium. Damit entfällt die klassische Rechtfertigung für ihre Produktion, nach der die Menschen die kulturindustriellen Güter gerne konsumieren und deshalb selbst nachfragen würden, weil deren Bedürfnisse gerade ein Produkt des kapitalistischen Systems sind und nicht deren Ursache. Die Menschen sind – so die gegenteilige Hoffnung – immer noch besser als ihre Kultur. Der individuelle Kulturkonsum ist also vermittelt; weil die kulturindustrielle Versöhnung indes nur ein leeres Versprechen ist, die Kulturprodukte nicht einlösen, was sie vorgeben, wird gleichzeitig, so das psychoanalytische Argument, peinlich darauf geachtet, dass kein anderer dem an sich selbst geübten Betrug entkommt. „In der Kulturindustrie ist das Individuum illusionär [...]. Es wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht.“ (Horkheimer/Adorno 1987: 181) Ständig müssen die sozialen Akteure beweisen, dass sie auf dem Laufenden sind. Deshalb geschieht der Kulturkonsum zwanghaft als permanenter massenkultureller Initiationsritus. Gleichwohl kann der Genuss kulturindustrieller Erzeugnisse Dignität beanspruchen: „Der Hausfrau gewährt das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab, zum Fenster hinausblickte. Die Beschäftigungslosen der großen Zentren finden Kühle im Sommer, Wärme im Winter an den Stätten der regulierten Temperatur. Sonst macht selbst nach dem Maß des
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Bestehenden die aufgedunsene Vergnügungsapparatur den Menschen das Leben nicht menschenwürdiger.“ (Ebd.: 164)
Maßstab des individuellen Konsums ist einmal mehr die Befreiung der Menschen von schwerer Arbeit und die Ermöglichung eines Maximums an selbstbestimmter freier Zeit. Die aufklärerischen Impulse und positiven Momente, die kulturindustrielle Güter auch transportieren und die von Horkheimer und Adorno ebenfalls benannt werden (vgl. z.B. ebd.: 169), schrumpfen jedoch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Möglichkeiten. Erst in Verbindung mit der These, dass die Kulturindustrie die überflüssig gewordenen Mühen verlängert und der überwiegenden Mehrheit eine jetzt schon mögliche, bessere Zukunft vorenthält, ist diese radikale Kritik an dem ‚unbedarften ދKultur(industrie)konsum der ‚kleinen Leute‘ verständlich. 1.2.3 Kultivierung der Zivilisation und Perspektiven des Protests Die Auseinandersetzung Herbert Marcuses mit ‚Kultur‘ ist aus mindestens zwei Gründen hier eigens erwähnenswert. Zunächst hat Marcuse die Kulturindustriethese, deren Diagnose er weitestgehend teilt, in seiner Studie Der Eindimensionale Mensch systematischer als Horkheimer und Adorno ‚soziologisiert‘. Darüber hinaus war Marcuse stärker als jedem anderen Vertreter des engeren Kreises der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule daran gelegen, Gruppen innerhalb der bestehenden ‚eindimensionalen Kultur‘ zu bestimmen, die über die Verhältnisse hinausweisen und deren Lebensstile und Einstellungen, sofern sie den Status der Massenwirksamkeit erreichten, einen Vorgeschmack auf eine Kultur jenseits der unnötigen Repressivität zu liefern vermochten. Kultur ist bereits 1937 zentraler Topos in Herbert Marcuses Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur. Darin analysiert er den Verlust einer gesellschaftskritischen Haltung in der Gegenwartsgesellschaft aus sozialphilosophischer Perspektive. Kultur beinhalte danach das Schöne und das Gute, das den Imperativen des gesellschaftlich Notwendigen, der Zivilisation logisch wie historisch gegenübergestellt sei. Sie bezeichnet den vom reinen Nützlichkeitsdenken befreiten Ort, von dem aus die transzendierende Kraft menschlicher Erkenntnis die gesellschaftliche Praxis beeinflussen kann. In ihr ist die Sphäre der „ideellen Reproduktion“ repräsentiert, die bis in die bürgerliche Epoche hinein nur einer vom materiellen Mangel befreiten Minderheit zugänglich und damit geschichtlich notwendig von der Sphäre der „materiellen Reproduktion“ isoliert ist. Die bürgerliche Kultur kritisiert Marcuse dagegen jedoch als affirmativ, da sie – in einer Realität, befreit von den geschichtlichen Fesseln des allgemeinen Mangels – „die geistigseelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen“ (Marcuse 1965b [1937]: 63) erfolgreich im-
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stande war. Sie erhält das Schisma aufrecht und enthält damit den Entrechteten und Besitzlosen emanzipative Erkenntnis vor. Die bürgerliche Kultur behauptet zudem die Existenz einer besseren Welt, die aber von der Erfahrung des alltäglichen Lebenskampfes getrennt ist; Zugang zu diesem wertvolleren Leben habe jedes Individuum nur „von innen her“ (ebd.). Kultur in seiner affirmativen Gestalt verdeckt somit die in Wahrheit antagonistischen Daseinsverhältnisse: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein: solche Wahrheit ist keineswegs durch die falsche Auslegung erledigt, dass seelische Nahrung ein ausreichender Ersatz für zu wenig Brot sei.“ (Ebd.: 77) Wahre Erkenntnis darf nicht im Medium der Kultur abgeschlossen bleiben. Die Erfüllung der „promesse de bonheur“ (Glücksversprechen) bedarf der Durchdringung der Zivilisation durch die Kultur, nicht der Stillstellung ihres Gegensatzes. Diese gleichsam als emphatische Hoffnungsbekundung zu verstehende Erwartung Marcuses, die Aufklärung werde noch fortgeführt, wurde indes jäh ernüchtert. Nicht etwa integriert die Kultur die Zivilisation, sondern umgekehrt, die Imperative des ökonomischen Denkens durchdringen die Kultur und absorbieren ihren emanzipativen Gehalt. Marcuses Beschäftigung mit der Psychoanalyse war Grundlage für die Analyse der repressiven Dimension der verdinglichten Kultur, die zur Statthalterin der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse gerinnt: Die herrschende Kultur verbürgt nur noch einen repressiven, anstatt illuminativen Gehalt. Die Reformulierung Freuds in Triebstruktur und Gesellschaft ergibt, dass das „Ich“ sich nicht mit dem „Es“ auszusöhnen vermag, solange noch das über die herrschende Kultur vermittelte „Leistungsprinzip“, das Surrogat entfremdeter Arbeit, repräsentiert im „Über-Ich“, die Autonomie des Individuums verhindert. (Vgl. Marcuse 1990 [1955]: insbes. 51; vgl auch Marcuse 1957) Marcuses Arbeit Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1970 [1964]) expliziert die „absorbierende Macht der Gesellschaft“ (ebd.: 81), die alle Kultur aushöhle. Ihre Ideologie steckt heute „im Produktionsprozeß selbst“ (ebd.: 31; vgl. auch Adorno 1975: 62-64). Sie ist repräsentiert durch die technologische Rationalität des alltäglichen Handelns, das positivistische ebenso wie das empiristische Denken und den Operationalismus der Wissenschaft. Technologische Rationalität ist das Mittel, alle oppositionellen und transzendierenden Elemente einer autonomen und transzendierenden Kultur zu beseitigen: „Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt.“ (Marcuse 1970: 19) Dies ist die gemeinhin unbemerkte totalitäre Tendenz der Technik, gleichsam „angenehmere und wirksamere Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen“ (ebd.: 18). Bürokratie, Maschinisierung, technologische Organisation, Betriebsmanagement und Direktion garantieren das reibungslose Funktionieren: Herrschaft wird in Verwaltung überführt. Diese markiert die nicht-terroristische, ökonomisch-technische
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Gleichschaltung, die durch die Manipulation von Bedürfnissen eine Gesellschaft ohne Opposition erzeugt. Als langjährig präparierte Empfänger erliegen die Menschen der alltäglichen Propaganda und bilden die erwünschten Bedürfnisse nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen aus. Marcuses Begriff von Kultur erlangt damit im Vergleich zur früheren Werkperiode in den dreißiger Jahren eine ungleich breitere analytische Basis. Ansatzpunkte für eine alternative Bewegung fand Marcuse vor allem a) in der amerikanischen Studierendenbewegung, die seines Erachtens in ihrem politischen Kampf nicht ihre eigenen Interessen, sondern die der Allgemeinheit vertrat. „In den USA haben die Studenten für das ‚Civil-RightsMovement‘ und gegen den Krieg in Südostasien gekämpft. Alles andere ist sekundär.“ (Marcuse 1975: 63) Weiterhin b) in der Hippie-Bewegung, in der er eine radikale Infragestellung der kulturellen Werte des Bürgertums sah, das nur aufgrund der dadurch virulenten politischen Sprengkraft so repressiv reagierte. Die Hippies praktizierten „eine neue Sensibilität gegenüber leistungsfixierter und wahnsinniger Vernunft. [...] Zumindest jener Teil der Hippies, der die Rebellion auf sexuellem, moralischem und politischem Gebiet in sich vereinigt, demonstriert [...] eine nicht-aggressive Lebensform: eine aggressive Nicht-Aggressivität, die zumindest potentiell qualitativ andere Werte, eine Umwertung der Werte, vor Augen führen kann.“ (Marcuse 1969a: 100/101) Schließlich c) in der (zweiten) Frauenbewegung, in der Marcuse einen entscheidenden Protest gegen die kapitalistische destruktive Produktivität, gegen Aggression und gegen das unnötig verlängerte Leistungsprinzip ausmachte und der er eine Schlüsselrolle in der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft zusprach (vgl. Marcuse 1978: 73/74; vgl. auch Steuernagel 1994). Marcuse entdeckt sogar im ‚Weiblichen‘, „in den sogenannten weiblichen Qualitäten die Spuren eines dem kapitalistischen entgegenstehenden Realitätsprinzips“ (Marcuse 1978: 75). Auffällig an der hier skizzierten Entwicklung des Kulturverständnisses Marcuses ist, dass seine frühe Beschäftigung mit Kultur zunächst noch getragen war von der Polemik gegenüber der isolierten geistig-seelischen Stilisierung „dieser ewig besseren und wertvolleren Welt“ in der spätbürgerlichen Epoche, die zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung, zur Haltung des Sich-benehmen-könnens verkommt (vgl. Marcuse 1965b: 63, 71). Die zeitlich nachfolgenden Ausführungen verraten hingegen die nicht zu leugnende resignative Haltung späterer Arbeiten. Ist Kultur einerseits affirmativ, so gelte es doch zumindest den Freiraum zu retten, der ihr selbst als Ideologie zusteht und von dem aus sie frei ist, den – wenn auch ungehörten – Widerspruch zur Gesellschaft zu bewahren. (Marcuse 1965c: 152) Diese beiden Kulturverständnisse sind im Werk Herbert Marcuses unvermittelt. Deshalb erscheinen die Orte der Stilisierung der bürgerlichen Kultur Marcuse plötzlich als bewahrenswerte Anachronismen und die vorhergehende Verachtung weicht nun der Elegie auf das vergangene Zeremoniell: Der Salon, das Konzert, Oper und Theater waren dazu bestimmt, die „andere Di-
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mension der Wirklichkeit“ zu schaffen – ihr Besuch erfordert „feiertägliche Vorbereitung; sie unterbrechen die Alltagserfahrung und transzendieren sie“ (Marcuse 1970: 83). Trotz der relativen Unvermitteltheit der beiden Momente Affirmation und Kritik, die der Kultur nach Marcuse – zumindest unter kapitalistischen Bedingungen – inhärent sind, ist es zugleich Marcuses Stärke, ein dialektisches Kulturverständnis beschreiben zu können. Kultur enthält auch im Spätkapitalismus in Form der bürgerlichen Hochkultur noch die Glücksversprechen, an denen sich die Gesellschaft messen lassen muss. Dass diese bürgerliche Kultur in den 1930er Jahren von Marcuse scharf attackiert wurde, hängt mit dem Vorwurf zusammen, dass die richtigen Einsichten, die besonders in der Ideengeschichte aufbewahrt waren, sich mit der bürgerlichen Kultur in ein hochkulturelles Reservat zurückgezogen haben und die transportierten revolutionär-emanzipativen Gehalte von der gesellschaftlichen Praxis abgeschnitten wurden. 1.2.4 Kultur als Stabilisator zwischen Emanzipation, industrieller Produktion und repression surplus Es existiert, wie die Ausführungen gezeigt haben, kein einheitlicher, zeitlich invarianter Kulturbegriff der Frankfurter Schule im engeren Sinne. Gleichwohl läßt sich ein allgemeines Kulturverständnis konstatieren, das über die unterschiedlichen Werkperioden hinweg gesellschaftliche Integration als kulturell vermittelten Herrschaftsprozess deutet. In den Studien zu Autorität und Familie wird der Kulturbegriff aus seiner Engführung an den Exponaten der Hochkultur herausgeführt, um die kritische Analyse gegenüber omnipräsenten Herrschaftsverhältnissen im Alltag zu öffnen. Dieses Bemühen führt zu einem aus heutiger Sicht stärker soziologischen Kulturbegriff, der aber zu diesem Zeitpunkt noch auf die vorrangige Funktion der ökonomischen Verhältnisse verwiesen bleibt. Dieses umfassendere Verständnis wird in der Kulturindustriethese durch die Analyse der industriellen Produktion der Kulturgüter spezifiziert.2 Damit wird die Sphäre der organisierten Kultur fokussiert, die zum dominanten Integrationsmodus kapitalistischer Gesellschaften avanciert und alle nichtkulturindustriellen Erzeugungsformen und Güter marginalisiert. Jene Analyse ist aber nicht mehr von der vorgängigen Berücksichtigung der ökonomischen Produktionsweise abhängig, weil die konkrete Betrachtung die unauflösliche Verschmelzung von Kultur und industrieller Produktion anzeigt. Marcuse nimmt seinen Ausgang von einem industrie- und techniksoziologisch geerdeten Kulturbegriff. Während Horkheimer und Adorno transzendierende Momente der Gegenwartskultur vor allem durch ästhetische Aus2
Und nicht ersetzt. Insofern ist der vor allem in der Rezeption Jürgen Habermas’ betonte ‚Bruch ދzwischen dem Projekt eines interdisziplinären Materialismus und der Dialektik der Aufklärung längst nicht so stark wie oftmals behauptet.
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einandersetzungen mit Werken der Literatur, Musik und Malerei glaubten aufzeigen zu können (vgl. z.B. Adorno 1981), versucht Marcuse darüber hinaus, zwischenzeitlich konkrete soziale Akteure als Hoffnungsträger für eine veränderte gesellschaftliche Praxis zu identifizieren. Konstitutiv für das gemeinsame dialektische Kulturverständnis bleibt, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, dass Kultur sowohl repressive als auch befreiende Momente, die Verlängerung sinnlosen Leidens als auch diese Ordnung bestimmt-negierende Elemente beinhaltet. Es ergeben sich hieraus zwei Ebenen des Kulturverständnisses der hier referierten Vertreter der Frankfurter Schule, die aus unserer Sicht markante Erkennungsmerkmale einer Kritischen Theorie der Gesellschaft darstellen und bis heute für eine adäquate Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule unverzichtbar sind. Einerseits das Beharren auf dem Wahrheitsgehalt einer Kultur, der seit den bürgerlichen Revolutionen als emanzipatives Versprechen transportiert wird und der dadurch den normativen Maßstab für die Ausbildung eines Werturteils darstellt, das die wissenschaftliche Kritik der Gegenwartsgesellschaft zu tragen vermag. Andererseits führt der um die Kategorie des alltäglichen, routinemäßigen Handelns erweiterte analytische Begriff von Kultur dieselbe aus der Sphäre der Unschuldigkeit heraus und erhellt ihre zugleich affirmative und repressive Tendenz. Gewohnheiten, Sitten, Normen und Mentalitäten markieren nicht etwa das unvermittelte Unmittelbare der Lebenspraxis, sondern sind Manifestationen des Reproduktionsmodus gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Die Leistung dieses hier diskutierten nicht-positivistischen, materialistischen Kulturverständnisses der Kritischen Theorie besteht vielleicht gerade darin, die starre, mechanistische Vorstellung von der Aufrechterhaltung totalitärer Herrschaft durch ein dynamisches Verständnis der an der Reproduktion ihrer Unfreiheit selbst beteiligten sozialen Akteure zu ersetzen. Helmut Dubiel annotiert in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Kultur nach dem Verständnis der Kritischen Theorie unzweifelbar eine „Totalitätskategorie“ (Dubiel 1982: 457) darstelle. Das Bemühen Horkheimers, Adornos und Marcuses, diese die gesellschaftliche Unfreiheit perpetuierenden fest eingeschliffenen Bestandteile einer Kultur zu transzendieren, veranschaulicht – unabhängig von den auseinandergehenden Erwartungen an die Effekte bspw. der Protestkultur in den sechziger Jahren – die Bedeutung der Kulturkritik (und -analyse) für die Kritische Theorie. Die Kritik der Politischen Ökonomie wird von jener nicht abgelöst, sondern um die Fokussierung sozio-kultureller gegenüber sozioökonomischen Vergesellschaftungsmechanismen ergänzt und erweitert. Theoretisch unklar bleibt indes, warum sich die konkreten einzelnen dem über kulturindustrielle Güter vermittelten Kampf um gesellschaftliche Anerkennung in dieser Form verschreiben. Die (massen-)psychologischen Erklärungsmomente eines individuellen konsumorientierten Konformitätszwangs als Ersatzbefriedigung und einer komplementären kollektiven Verdrängung einer rationaleren gesellschaftlichen Einrichtung jenseits des Profitregimes als Bedingung individuellen Funktionierens, die dem vorrangigen
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Blick auf die Kulturgüter und -produkte seit den vierziger Jahren geschuldet sind, sind für ein umfassendes Verständnis der heutigen gesellschaftlichen Reproduktion sicher nicht ausreichend (vgl. auch Kastner im Band). Die richtigen Einsichten und Theoriemomente der Kritischen Theorie, so eine mögliche Einschätzung, sollten weiter soziologisch untermauert werden. Horkheimer selbst hat in Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie im Jahr 1931 ein entsprechendes Programm formuliert. Danach ist – und bleibt – die entscheidende Frage innerhalb der Soziologie, Psychologie und Philosophie die: „nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil usf.“ (Horkheimer 1981d: 43).
Die Analyse kohärenter kultureller Praktiken (z.B. in Form von Lebensstilen) der sozialen Akteure im Spätkapitalismus und ihre psychische Fundierung bleibt weitgehend ein – sicherlich auch durch die Emigration des Instituts bedingtes – Forschungsdesiderat. Dieses kann u.E. mit der Ungleichheits- und Herrschaftstheorie Pierre Bourdieus neu in den Blick genommen werden. Im folgenden Abschnitt wollen wir dahingehend die Theorie Pierre Bourdieus in ihren Grundzügen entfalten. Der spezifische Fokus wird bei der Rekonstruktion auf eben jenes Verhältnis zwischen kulturell vermittelter Herrschaft, kulturellen Praktiken und psychischen Dispositionen zu legen sein.
2. B OURDIEU ALS A KTUALISIERUNG K RITISCHEN T HEORIE ?
DER
Ob Pierre Bourdieu eine kritische Soziologie vorgelegt, kritische Theoriemomente transformiert und der Analyse der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften angepasst hat oder gar selbst ein „Kritischer Theoretiker“ ist, ist noch immer äußerst umstritten (vgl. bereits Honneth 1984; Giegel 1989; Herz 1996; Beer 1999: Kap. 4; Peter 1999). Bourdieu selbst hat in einem Interview seinen Anspruch herausgestellt, dass es ihm mit der Konstruktion seines genetischen Strukturalismus „letzten Endes [...] um die Kritik der gesellschaftlichen Ordnung [ging]“ (Bourdieu 1992a: 18). Zweifellos hat Bourdieu lauter als die meisten seiner akademischen Zeitgenossen die gesellschaftlichen Verhältnisse angeprangert (vgl. Bourdieu et al. 1997; Bourdieu 1998a; vgl. auch die Beiträge von Mauger und Pinto im Band) und damit zumindest selbst nahegelegt, sich in der Tradition einer Kritischen Theorie zu verorten. Das grundlegende Moment, in dem die Bourdieu’sche Theorie und die Kritische Theorie konvergieren, liegt u.E. – jenseits der
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oberflächlichen Übereinstimmungen – vor allem in dem Versuch Bourdieus, die Mechanismen der „Verschleierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ‚verborgenen Mechanismen der Macht‘ aufzudecken. Der Rückbezug auf gesamtgesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse noch der empirischsten Untersuchungen Bourdieus führt seine Theorie über eine ‚bloße‘ Kultursoziologie (etwa in der Lesart Hans-Peter Müllers 1992) oder eine Soziologie sozialer Ungleichheit hinaus (vgl. umfassend Schwingel 1993). Stets geht es Bourdieu um die Beantwortung der Frage, auf welche Weise gesellschaftlich herrschende Gruppen ihre Verteilungsprinzipien und ihre Sicht der Welt durchzusetzen und zu legitimieren imstande sind. Das ist gleichzeitig der Grund dafür, dass in der Bourdieu’schen Theorie die Ebene der Legitimation von Ungleichheiten, die sich in sozialen Definitionskämpfen manifestiert und die einen gegenüber den ‚objektiven‘ Ungleichheitslagen relativ autonomen Stellenwert besitzt, eine herausragende Bedeutung gewinnt. Bevor nun vor diesem Hintergrund eine Auseinandersetzung mit dem Bourdieu’schen Kulturverständnis erfolgt (2.2), soll knapp die Bourdieu’sche erkenntnistheoretische Theorieanlage dargestellt und sein praxeologischer Ansatz skizziert werden (2.1). Abschließend soll die Entwicklung einer spezifischen politischen Soziologie auf der Folie seiner Herrschafts- und Machtsoziologie diskutiert werden (2.3). 2.1 Praxeologie als verhinderte Gesellschaftstheorie Das Spezifikum der Bourdieu’schen Theorie ist die ethnologische Analyse der eigenen Gesellschaft (vgl. Schmeiser 1986). Ausgehend von ethnographischen Feldstudien in der Kabylei Algeriens bemühte sich Bourdieu bereits in den 1960er Jahren, die in der Ethnologie vorherrschende strukturalistische Theorie von Claude Levi-Strauss auf die Soziologie zu übertragen. (Vgl. z.B. Bourdieu 1987: 12) Eine Konsequenz dieser Übertragung ist der bis in die aktuellsten Schriften und Untersuchungen konstatierte Primat der Relationen,3 der zunächst im Kontext wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen vor allem gegen den Positivismus entstanden ist (vgl. Bourdieu et al. 1991). Die entscheidende Annahme des relationalen Paradigmas ist, dass der subjektive Handlungssinn „nicht dem Subjekt gehört, sondern dem kompletten System der Beziehungen“ (Bourdieu 1970a: 18/19). Für Bourdieu ist es gegen jedwede subjektivistische Theorie ausgemacht, dass innerhalb von Gesellschaften Strukturen existieren, die sich dem Willen und der direkten Beeinflussung durch soziale Akteure entziehen. In dieser Hinsicht ist das System der sozialen Lagen und Stellungen „von größerer Realität als die Subjekte, die sie einnehmen“ (Bourdieu 1970b: 74). Zwar nimmt Bourdieu noch in den früheren, stärker strukturalistisch als sozialkonstruktivistischen Schriften eine Art Metastruktur an, die so weit hinter den
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Zum Beispiel umfassender aufgezeigt innerhalb des Feldes der Kulturproduktion in Bourdieu 1999a.
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menschlichen Handlungen liegt, dass sie selbst durch Bewusstwerdung kaum affiziert wird, „dass es zur Veränderung der realen Beziehungen nicht damit getan ist, nur die Vorstellungen zu verändern, die man sich von ihnen macht“ (Bourdieu 1970a: 25). Bourdieu warnt indes gleichzeitig ausdrücklich vor einem ‚Strukturrealismus‘, der stets einen „virtuellen Essentialismus“ (Bourdieu 1979: 142) mit einschließt, die Struktur hinter den sozialen Akteuren hypostasiert und diese jenseits der Handlungen und sozialen Praktiken der Akteure verortet (vgl. u.a. Bourdieu 1973: 93; Bourdieu 1987: Kap.1). Ausdrücklich setzt sich Bourdieu daher von einer substantialistischen oder essentialistischen Ausdeutung der konkreten empirischen Relationen ab, die eine zu einem Zeitpunkt erfasste Relation, bspw. die soziale Differenzen anzeigenden kulturellen Praktiken des Golfspielens und des Fußballspielens, festschreibt und die nur durch die Handlungen der sozialen Akteure reproduzierbare Relation reifiziert. Durch diese Essentialisierung werden die sozialen Relationen, die ausschließlich durch die stete soziale Praxis erneuert werden können, zu sachlichen Relationen, die die sozialen Inwertsetzungsprozesse der handelnden Individuen unterschlagen (Bourdieu 1998e: 14-18). Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis sozialer Akteure hebt darüber hinaus mit der erkenntnistheoretischen Einsicht an, dass die Wissenschaft vom Sozialen ihren Gegenstand zunächst konstruieren muss, um aus der Mannigfaltigkeit unzähliger und disparater geschichtlicher Handlungen einzelner strukturierte und sinnvolle Gesamtheiten zu bilden. Begriffe wie Struktur, Produktionsweise, Kapitalismus, Neoliberalismus, Arbeitsteilung oder soziale Klassen sind nach Bourdieu zunächst nicht mehr als soziologische Konstruktionen einer nur durch die stete Praxis der sozialen Akteure vollbrachten gesellschaftlichen Realität. Diese Konstruktionen, und das ist der Kern der Bourdieu’schen Theorie der Praxis, sind aber nicht unmittelbar identisch mit dem subjektiv gemeinten Sinn der sozialen Akteure, d.h. mit ihren eigenen Konstruktionen, Wahrnehmungen, Handlungsmotiven und Denkmustern (vgl. Bourdieu 1987: 56; Bourdieu 1979: 163). Was innerhalb des praxeologischen Ansatzes, und das ist gleichsam sein genuin gesellschaftstheoretisches Moment, in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist die spezifische Vermittlung von Struktur, Erfahrung und Handlung, wobei mit Bourdieu deutlich von einer Präponderanz (nicht: Determination) der Struktur gegenüber den Erfahrungen und Handlungen der sozialen Akteure auszugehen ist (vgl. auch Bourdieu 1998e: 26/27): „Die Konstruktion objektiver Strukturen (Preiskurven, Chancen des Zugangs zu höheren Bildungsinstitutionen, Gesetze des Heiratsmarktes) gestattet faktisch erst, das Problem der Mechanismen anzugehen, durch welche die Beziehungen zwischen den Strukturen und den Praktiken oder den mit ihnen einhergehenden Repräsentationen gestiftet werden – und keineswegs die zur determinierenden Ursache stilisierten und als ‚Grund‘ oder ‚Motiv‘ behandelten gedanklichen Gegenstände.“ (Bourdieu 1979: 149/150; Herv. der Verf.; vgl. auch Bourdieu 1987: 77/78)
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Aus der praxeologischen Erkenntnisweise folgt ein theoretischer Primat der praktischen Vernunft (vgl. Bourdieu 1992a: 31), der den Handlungen der sozialen Akteure gegenüber den objektiven Strukturen deshalb einen erkenntnistheoretischen Vorrang einräumt, weil sich diese Strukturen eben nicht unabhängig von der sozialen Praxis geltend machen. Insofern tritt das Motiv der Kritischen Theorie, dass Geschichte bzw. jede Struktur von Menschen gemacht wird, auch in der Theorieanlage Bourdieus deutlich zutage. Wird allerdings auf diese Weise die Praxis der sozialen Akteure in Hinblick auf die Strukturreproduktion in den Mittelpunkt geschoben, ergeben sich bereits aus der Theoriearchitektonik Vorentscheidungen über die innerhalb der Theorie der Praxis relevanten Fragestellungen. Aus dieser Perspektive interessieren in erster Linie die Mechanismen, vermittels derer die beherrschten Klassen die über sie ausgeübte Herrschaft als legitime und insofern gerechtfertigte anerkennen; die Anerkennung jeder Form der sozialen Herrschaft ist der Schlüssel zum Verständnis von gesellschaftlicher Strukturreproduktion. Bourdieu hat indes keine spezifische Theorie der Ökonomie im engeren Sinne vorgelegt, sondern umgekehrt, die Ökonomie in die Alltagspraktiken der sozialen Akteure verlagert und auf diese Weise die Theorie der Ökonomie zu einem „verallgemeinerte[n] Materialismus“ (Bourdieu 1987: 37) erweitert. Eine zentrale Begründung hierfür ist, dass nach Ansicht Bourdieus die benachteiligten sozialen Akteure bis tief in ihre kognitiven Strukturen, bis in ihre Wahrnehmung der sozialen Welt hinein beherrscht werden, indem sie die soziale Welt, die eigenen sowie die fremden Alltagspraktiken nach denselben Klassifikationsprinzipien betrachten und sortieren, die denjenigen nutzen, die gerade hieraus ihren ökonomischen und symbolischen Profit schlagen (vgl. z.B. Bourdieu 1985b: 59). 2.2 Symbolische Ordnung als habituell vermittelter Herrschaftszusammenhang Bourdieus Konzept eines verallgemeinerten Materialismus basiert auf einem Kulturbegriff, der mit dem Kulturverständnis der frühen Arbeiten der Frankfurter Schule vergleichbar ist. Kultur ist insofern in gesellschaftstheoretischer Hinsicht ein begrifflicher Container, der mit der Reichweite und dem Gegenstandsbereich des Konzepts der symbolischen Ordnung ganz offensichtlich mehr oder weniger konvergiert. Kultur umfasst bei Bourdieu nicht nur unmittelbar kulturelle Praktiken wie Konzertbesuche, Fußballspiele oder Fernsehkonsum, sondern Institutionen wie Märkte, Recht, Lohnarbeit oder Sozialversicherungssysteme sind nach Bourdieu ebenfalls kulturelle Materialisierungen. Die symbolische Ordnung bezeichnet dabei das Bedeutungssystem gesellschaftlich anerkannter Zeichen und Praktiken, mit denen und durch welche die soziale und materielle Welt wahrgenommen und erfahren wird. Dieser symbolische Ordnungsrahmen garantiert die Existenz einer gemeinsamen sinnhaften Welt: „einer Welt des sensus communis. Alle Akteure verfügen [...] über einen gemeinsamen Stamm von grundlegenden
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Wahrnehmungsmustern“ (Bourdieu 1982: 731). Die symbolische Ordnung einer Gesellschaft beinhaltet stets einen Bereich von Handlungen und Wahrnehmungsmustern, der jedweder Problematisierung und Infragestellung entzogen ist und von Bourdieu als doxa benannt wird. In allen Gesellschaften stellt die Demarkationslinie zwischen dem, was öffentlich diskutiert wird und damit zur potentiellen Veränderung ansteht, und dem, was außerhalb des gesellschaftlichen Denkhorizonts liegt, einen umkämpften Raum dar (Bourdieu 1979: 151). Der Bereich dessen, was außer Frage steht, bezeichnet nach Bourdieu immer einen Akt kultureller Willkür. Damit ist impliziert, dass kein kulturelles Gefüge einen natürlichen, gleichsam außergesellschaftlichen Kern besitzt. Das Reale ist aus dieser Sicht stets „durch und durch“ sozial und auch die scheinbar natürlichsten Klassifizierungen (z.B. Verhältnis Mann-Frau, Herrschende-Beherrschte) „beruhen auf Merkmalen, die nichts weniger als natürlich sind, sondern als das Ergebnis willkürlicher Festlegungen, das heißt das Ergebnis eines früheren Standes der Machtverhältnisse im Feld der Auseinandersetzungen um die legitime Grenzziehung“ (Bourdieu 1990: 96) betrachtet werden. Der Willkürcharakter der für eine Gesellschaft konstitutiven Relevanzsysteme offenbart sich, wenn man diese mit Hilfe der historisch und soziologisch vergleichenden Methode auf die Gesamtheit der gegenwärtigen, vergangenen oder denkbaren Kulturen bezieht. (Vgl. Bourdieu/Passeron 1973: 17) Das Bildungssystem (Universitäten, Schulen), demokratisch legitimierte Parlamente, das bürgerliche Rechtssystem und kapitalistische Finanzmärkte sind als Institutionen „moderner“ Gesellschaften nicht weniger kulturell willkürlich, d.h. immer auch anders denkbar, als der Gabentausch, das feudale System der Heiratsmärkte (z.B. Verheiratung mit der Parallelkusine) oder das Ablasszettel- und Beichtprinzip in „vormodernen“ Gesellschaften. Kulturelle Relevanzsysteme und Klassifizierungssysteme unterliegen nach Bourdieu immer auch dem Prinzip der Erzeugung durch spezifische gesellschaftliche Gruppen, ohne dass sie aber in ihrem Willkürcharakter von den handelnden Akteuren als potentiell veränderbar erkannt werden. Nach Bourdieu bezeichnet exakt dieses Verhältnis einen allgemeinen Herrschaftsmechanismus: Wenn an sich willkürliche Institutionen, die zum Beispiel an die Lebenspraxis eines spezifischen gesellschaftlichen Segments gekoppelt sind, von diesem naturalisiert werden, erscheinen sie für die jeweiligen sozialen Akteure als alternativlose, gleichsam schicksalhafte Handlungszwänge. Diese Argumentationsfigur der Herrschaftsbegründung erinnert an die bereits seit der Kritischen Theorie von Marx herausgestellte Dichotomie zwischen Partialinteresse (des Bürgertums) und Allgemeininteresse (aller Gesellschaftsmitglieder), ohne zunächst auf den Begriff der Ideologie und des falschen Bewusstseins zurückgreifen zu müssen. (Vgl. ähnlich Vester et al. 1993: 92-98; zur Funktion der Massenmedien bei der Inwertsetzung partikularer Interessen vgl. z.B. Marcuse 1970: 11) Die „Anamnese der Genese“ (Bourdieu/Passeron 1973: 18) kulturell willkürlicher Institutio-
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nen zeitigt als Effekt eine Essentialisierung bzw. Substantialisierung bspw. hierarchischer sozialer Verhältnisse und legitimiert jene auf diese Weise. Diese kulturell willkürlichen Institutionen sind nach Bourdieu gleichsam doppelt existent: einerseits als sozial konstruierte Relevanzsysteme in Form von Feldern, andererseits in den ‚Köpfen der sozialen Akteure‘ in Form von Habitus. 2.2.1 Habitus als internalisierte Struktur Das Habituskonzept soll einerseits dazu dienen, menschliches Handeln als durch eine umfassende Struktur konstituiert zu begreifen; das meint die Bezeichnung des Habitus als ein System von Grenzen oder „strukturierte Struktur“. Der Habitusbegriff soll aber darüber hinaus die aktive und kreative Seite der handelnden Akteure betonen, ohne gleichzeitig starke anthropologische oder metaphysische Konzepte eines bewusstseinsphilosophisch konstituierten Subjekts wieder aufzunehmen. (Vgl. z.B. Bourdieu 1997a: 61/62) Das bedeutet, dass einerseits Interaktionen zwar durch habituelle Filter vorstrukturiert sind, andererseits aber über den Habitus vermittelte Handlungen keine mechanischen Vollzüge der übermächtigen Strukturen darstellen. In diesem Sinne betont Bourdieu durchgehend das generative Prinzip des Habitus, nach dem nicht auch nur eine einzige menschliche Handlung unmittelbar prognostizierbar sei (Bourdieu 1985c: 386). Die Erzeugung situationsangemessener Handlungsmodi, die von der bloßen Reproduktion vorgegebener Strukturen bis hin zu nicht berechenbaren, emergenten Handlungen reichen, fasst Bourdieu komplementär als „strukturierende Struktur“ des Habitus.4 Das Habituskonzept ist dabei weniger ein wohldefiniertes Theoriegebäude als vielmehr ein offenes, beinahe heuristisches, theoretisches Konzept, das stets empirische Sättigung verlangt. Es übernimmt in der Bourdieu’schen Theorie die doppelte Funktion einer Handlungs- und einer Struktur- bzw. Gesellschaftstheorie. Handlungstheoretisch lässt sich das Habituskonzept als dispositionale Handlungstheorie formulieren. Die frühen Sozialisationsinstanzen prägen als spezifische Existenzbedingungen die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata bereits von Kindern. Dabei sind nach Bourdieu die ersten Erfahrungen und „Konditionierungen“ diejenigen, die am nachhaltigsten die späteren Dispositionen bestimmen. Bereits Heranwachsende eignen sich ihr ökologisches Umfeld an und entwickeln auf diese Weise in bestimmten Räumen eine Grundsicherheit, die an den Erfahrungsraum der Primärerfahrungen, also kontextgebunden ist. (Vgl. Bourdieu 1979: 189-202) Von Bourdieu wird wiederholt und bildreich hervorgehoben, wie die in einem bestimmten Kontext (Handlungsfeld) – zumeist der Nahumwelt des Heran-
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Analog bezeichnet Bourdieu die Dialektik zwischen Strukturierung und Emergenz in der Theorie des Habitus bzw. der Praxis auch als Dialektik von opus operatum und modus operandi.
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wachsenden – einmal erworbenen Erfahrungen zu einem Handeln in diesen mit der „Sicherheit eines Instinkts“ bzw. mit der Selbstverständlichkeit eines Fischs im Wasser führen. Der Habitus als auf Dauer gestellte „aktive Präsenz früherer Erfahrungen“ (Bourdieu 1987: 101) entfaltet nach Bourdieu auf der struktur- bzw. gesellschaftlichen Ebene eine über das allgemeine Handlungsprinzip hinausweisende, besondere Funktion: Er dient dazu, die materiellen und sozialen Lebensbedingungen, aus denen er hervorgegangen ist, zu perpetuieren – oder, um das Missverständnis des Determinismusvorwurfs zu vermeiden, der Tendenz nach zu reproduzieren. Bourdieu argumentiert, dass die „charakteristischen Strukturen“ der Daseinsbedingungen konkordante „Strukturen des Habitus“ (ebd.) erzeugen, die ihrerseits dazu tendieren, jene Handlungsformen zu bevorzugen, die die Struktur der Daseinsbedingungen reproduzieren.5 Sein Erklärungsmuster basiert darauf, dass sich die geschichtlichen Bedingungen der Erzeugung sozialer Strukturen in den psychischen Dispositionen der sozialen Akteure verankern. Das subjektive Handeln bildet aus dieser Perspektive keinen Gegensatz zu den objektiven Strukturbedingungen einer Gesellschaft (vgl. Bourdieu 1992a: 31). Vielmehr bilden diese – wie nachfolgend argumentiert wird – als gesellschaftliche Handlungsfelder einen individuell wahrnehmbaren Handlungsrahmen. 2.2.2 Felder als strukturierte Struktur Die den Habitus strukturierende objektive Struktur verweist bei Bourdieu auf zwei unterschiedliche Ebenen. Einerseits auf eine inkorporierte Sozialstruktur im Sinne einer hierarchischen objektiven Ressourcenverteilung, andererseits auf eine horizontale Differenzierung spezifischer, relativ autonomer Handlungsbereiche. Neben dem Habitus als körperlich bzw. Leib gewordener Geschichte unterscheidet Bourdieu mit seinem Begriff des Feldes eine zu Institutionen geronnene, Ding gewordene Geschichte und trägt auf diese Weise der Differenzierung und Teilautonomisierung verschiedener Sphären in modernen Gesellschaften Rechnung. Felder bezeichnen mithin historisch ausdifferenzierte objektive Strukturen, die einer je spezifischen (Feld-)Logik unterliegen (Bourdieu/Wacquant 1996: 127). Paradigmatische Beispiele sind für Bourdieu das Feld der Kunst (vgl. Bourdieu 1999) oder das Feld der Wissenschaft (vgl. Bourdieu 1988), in denen das unverschleierte Streben nach monetärem Erfolg, charakteristisch für das ökonomische Feld, verpönt ist und die feldspezifischen Prinzipien – zumindest der Selbstbeschreibung nach – des l’art pour l’art bzw. der nicht interessegeleiteten
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Dass der Habitus eben jene Strukturen durch sein Handeln bevorzugt und dadurch bestätigt, deren Produkt er ohnehin schon darstellt, bezeichnet Bourdieu als „Homogamie-Effekt“. (Vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 168) Dadurch „schützt“ sich der Akteur vor krisenhaften Erfahrungen, die sonst notwendig dazu zwingen, die eigenen Handlungsmuster zu reflektieren.
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Suche nach Wahrheit und Erkenntnisfortschritt dominieren. Das ökonomische Feld nimmt zwar eine besondere Stellung und tendenzielle Dominanz innerhalb der gesellschaftlichen Felder ein, weil „die Sanktionen besonders brutal sind und das unverhohlene Streben nach der Maximierung des individuellen materiellen Profits öffentlich zur Zielvorgabe des Verhaltens gemacht werden kann“ (Bourdieu 1998f: 170/171). Aber nach Bourdieu ist damit nicht verbunden, dass die Logik des Warentauschs überall in der Gesellschaft gelten muss: „Ganzen Provinzen der menschlichen Existenz, namentlich in den Bereichen der Familie, der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft und in gewissem Maße auch in jenem der Bürokratie, ist das Streben nach Maximierung der materiellen Profite zumindest noch großenteils fremd.“ (Ebd.) Felder bezeichnen bei Bourdieu gesellschaftliche Räume unterschiedlichster Reichweite. Auf der allgemeinsten Ebene ist das Feld der Macht angesiedelt, in dem die gesellschaftlich herrschenden Gruppen, insbesondere die ‚Verlängerungen‘ des Bildungs- und Besitzbürgertums, Auseinandersetzungen darüber führen, welche Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcenausstattungen welche gesellschaftliche Anerkennung erfahren sollen (Bourdieu 1999: 203) Vorrangig einbezogen in die Auseinandersetzungen innerhalb des Feldes der Macht sind die Felder der Ökonomie, der kulturellen Produktion (einschließlich der Wissenschaft) und der Politik. Innerhalb einzelner Felder wie denen der Wissenschaft oder dem der Kunst existieren weitere (Sub-)Felder wie bspw. das Feld der Mathematik und das Feld der Geisteswissenschaften oder das Feld der eingeschränkten Kulturproduktion (l’art pour l’art) und das Feld der Massenproduktion. Ungeachtet der mit dem Feldbegriff verbundenen theoretischen und empirischen Unschärfen sind für den Kontext unserer Überlegungen die von Bourdieu so bezeichneten strukturellen Invarianten zwischen den Feldern von zentraler Bedeutung. Wie bereits in der Erörterung der symbolischen Ordnung und der kulturellen Willkür verdeutlicht, spielt die Durchsetzung von gesellschaftlich relevanten Klassifikationen (oben/unten; rechts/links; Frau/Mann; arm/reich) bei Bourdieu eine herausragende theoretische Rolle. Der Kampf um die Durchsetzung der legitimen Sicht auf Welt ist ebenfalls konstitutiv für die Existenz von Feldern, nur durch den Kampf selbst treten sie in die Zeit ein (vgl. ebd.: 253). Jedes Feld hat spezifische eigentümliche Einsätze und feldspezifische Profite, die aber nur deshalb entscheidend für die Praxis der sozialen Akteure sind, weil sie die Einsätze und Profite als erstrebenswerte anerkennen. (Vgl. Bourdieu 1993: 108) Der gesellschaftstheoretische Grundgedanke Bourdieus, dass z.B. die Industriegesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form mitsamt den Institutionen Privateigentum etc. in den Köpfen der in ihr lebenden sozialen Akteure steckt, gilt für jedes einzelne Feld gleichermaßen. Das Feld der Wissenschaft ist bspw. davon abhängig, dass eine genügende Anzahl von Personen einen Hochschulabschluss erwirbt und es als erstrebenswert erachtet, in der
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Institution Universität Fuß zu fassen und die damit verbundenen Mühen, Einsätze und Auseinandersetzungen durchzustehen. Strukturell invariant sind die unterschiedlichen Felder nun vor allem in ihrem strukturalen Aufbau. Es existieren in jedem Feld mindestens zwei grundlegende Achsen: der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten und der Dynamik und feldspezifischen Wandel induzierende Gegensatz von (in biologischer oder sozialer Hinsicht) jungen ‚Feldrevolutionären‘ und alten ‚Feldkonservativen‘. Insofern bilden Felder spezifische Mikrokosmen, in denen die gesamtgesellschaftlichen Strukturierungsprinzipien und Kräfteverhältnisse in homologer Weise wiederkehren. Die Ressourcenausstattung eines sozialen Akteurs impliziert gemäß der Bourdieu’schen probabilistischen Erkenntnislogik eine spezifische Sicht auf Welt und führt innerhalb der unterschiedlichen Felder zu der akteursspezifischen Position in der Gesellschaftsstruktur kompatiblen Stellungnahmen und Einschätzungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Soziale Akteure, die von der Feldstruktur profitieren, werden zur Verteidigung der augenblicklichen Struktur neigen, soziale Akteure, die vergleichsweise wenig feldspezifische Profite abschöpfen oder noch wenig bekannt oder etabliert sind, werden tendenziell häretische Positionen vertreten und versuchen, ihren Kompetenzen und Fähigkeiten mehr soziale Anerkennung zu verschaffen. Dieser Mechanismus bezeichnet exakt die Schnittstelle, an der nach Bourdieu sozialer Wandel ansetzt. Die sozialen Strukturen und die individuellen Habitus stehen in einem engen, wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander, das von Bourdieu als unbewusst und dialektisch bestimmt wird. Unbewusst, weil das Agieren sozialer Akteure in einem Feld zur Abschöpfung der feldspezifischen Profite, wie Bourdieu nicht müde wird zu betonen, jenseits bewussten Strebens angesiedelt ist. (Vgl. z.B. Bourdieu 1993: 113f.) Dialektisch, weil Felder immer auch die Fixierung historischer Klassifikationskämpfe und durchgesetzter Strukturprinzipien anzeigen, die allerdings – gemäß der praxeologischen Grundannahme – durch die habituell angeleitete Praxis der sozialen Akteure stets reproduziert und von neuem bestätigt werden müssen (Bourdieu/Wacquant 1996: 160). Die sozialen Strukturen stellen die Rahmenbedingungen für individuelles Handeln dar; der einzelne Akteur wird in diesen Konfigurationen handlungsfähig durch Rückgriff auf das im Habitus enthaltene Handlungswissen. Dieses Handlungswissen – das Wissen über Notwendigkeiten, Anforderungen und diesen entsprechende Reaktionen – bezeichnet Bourdieu als den über den Habitus vermittelten „Praxis-Sinn“ sozialer Akteure. Der PraxisSinn, von Bourdieu synonym „praktische Vernunft“ oder „sozialer Sinn“ genannt, bezeichnet – analog zum Habitus – die Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmatrix des/der einzelnen, die die Rationalität von spezifischen Handlungsanforderungen als notwendig und natürlich anerkennt. Dagegen verschleiert die tendenzielle Homologie von Strukturen und Habitus, dass die Strukturen selbst lediglich das Ergebnis ihrer historischen, mithin
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kontingenten Genese darstellen. Die Anerkennung der Rationalität der Strukturen erfolgt lediglich über den „Glauben“ („doxa“, s.o.) an diese, der den Dispositionen des Habitus einverleibt ist. Die „doxa“ dient dazu, Strukturen aufrecht zu erhalten, selbst wenn – wie Bourdieu in seinen Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit paradigmatisch gezeigt hat – diese Strukturen die Unterdrückung der an sie glaubenden Akteure selbst bedingen. Bourdieu bezeichnet dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis von Habitus und Strukturen, dass die Individuen an Herrschaftsstrukturen „gemäß einer doxischen Modalität“ (Bourdieu 1992b: 143) anpasst, als „in die Habitus eingeschriebene Komplizenschaft“ (Bourdieu 1991b: 486). Die soziale Ordnung befindet sich aus dieser Perspektive also in einem Verhältnis der prästabilierten Harmonie mit den in ihr handelnden Akteuren, das Bourdieu als „Ur-Bejahung“ bezeichnet (Bourdieu 1990: 104). 2.2.3 Normalität als Totalität: Der Topos der symbolischen Gewalt Dieser Prozess, durch den die Akteure vermittels ihrer habitualisierten Dispositionssysteme zur Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung beitragen, stellt nach Bourdieu die Ausübung eines symbolischen Gewaltverhältnisses dar. Die symbolische Ordnung der Gegenstände, sozialen Beziehungen und institutionellen Autoritäten ist deshalb kein unschuldiges System der Zuschreibung von Bedeutungsinhalten. Im Gegenteil: Fällt diese symbolische Ordnung mit der Kategorisierung eines oben und unten – der Benachteiligungen und Privilegierungen einzelner Gruppen und Segmente der Sozialstruktur – zusammen, ist die symbolische Ordnung eine Herrschaftsordnung. Dass die sozialen Akteure an der Erfassung und Konstruktion ihrer gegenständlichen und sozialen Umwelt „aktiv“ beteiligt sind, gefährdet die Aufrechterhaltung dieser Ordnung kaum. Ihre Beteiligung bedingt erst wirksame soziale Kontrolle: Die in dem „Dunkel der Schemata des Habitus“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 209) gründenden Konstruktions- und Klassifizierungsprinzipien der sozialen Welt sind selbst bereits „Produkte der Einschreibung eines Herrschaftsverhältnisses in den Körper“ (Bourdieu 1997c: 170).6 Der Habitus als Ort dieser „Somatisierung“ ermöglicht, dass die Realität als selbstverständlich wahrgenommen und akzeptiert wird. Er vermittelt die soziale Realität über eine Alltagswelt, die Welt des Alltagsverstandes, in der die Realität selbst manifester sozialer Ungleichheiten als evident erscheint. Das alltägliche „Das ist nun einmal so!“ und „Es ist doch immer so gewesen!“ – der von Bourdieu so bezeichnete „Indikativ-Imperativ“ (Bourdieu et al. 1981: 29) – ist nichts weiter, als der Ausdruck dessen, dass dem Beherrschten nur jene Erkenntnismittel zur Verfügung stehen, die der herr6
Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Formen der männlichen Herrschaft bezeichnet Bourdieu den Prozess der Einschreibung in den Körper als „Somatisierung“ (Bourdieu 1997c: 162, 167; Bourdieu/Wacquant 1996: 210).
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schenden symbolischen Ordnung entnommen und nur dazu nützlich sind, diese zu legitimieren. Analog zu der Position der Vertreter der Frankfurter Schule schließt Bourdieu hieraus, dass die herrschende Ordnung von den darin Beherrschten weniger als Totalität denn als Normalität wahrgenommen und deswegen dem Willen zu Veränderung entzogen wird. Normal bedeutet, dass die Realität als „sinnhafte Totalität“ (Bourdieu 1997c: 167) akzeptiert ist; sie wird von den sozialen Akteuren als etwas Selbstverständliches wahrgenommen, weswegen ihre Überwindung immer auch außerhalb des Wünsch- und Denkbaren erscheint. Diese Einsicht ist zugleich zentral für die Kritische Theorie. So formuliert bspw. Max Horkheimer: Die Menschen haben gelernt, „gesellschaftliche Ungerechtigkeit als mächtige Tatsache hinzunehmen und mächtige Tatsachen als das einzige anzusehen, was zu respektieren ist. Ihr Bewusstsein ist Träumen von einer grundlegend anderen Welt ebenso verschlossen wie Begriffen, die, anstatt eine bloße Klassifikation von Tatsachen zu sein, an einer realen Erfüllung dieser Träume orientiert sind.“ (Horkheimer 1985: 89)7 Damit wird in Übereinstimmung mit der von uns skizzierten Auffassung der Hauptvertreter der frühen Kritischen Theorie auch von Bourdieu behauptet, dass die gesellschaftliche Ordnung durch mehr als nur den Zwang in seiner nackten Gestalt aufrechterhalten wird. Die sozialen Akteure sind „wissende Akteure“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 204), die auch dann, wenn sie Zwangsverhältnissen unterliegen, aktiv dazu beitragen, diese zu reproduzieren. Symbolische Gewalt wird in diesem Sinne von Bourdieu als jene Form der Gewalt definiert, die über soziale Akteure unter Mitwirkung der Akteure selbst ausgeübt wird. Die gesellschaftliche verankerte doxa in Gestalt des individuellen (sozialisierten bzw. habitualisierten) Glaubens an die Legitimität der sozialen Teilungsprinzipien ist ihr Instrument (Bourdieu 1998g: 171-176). Analog zum weiten Kulturbegriff der Kritischen Theorie – wie er in Arbeiten in den 1930er Jahren entwickelt wurde – stellt Kultur damit einen Totalitätszusammenhang dar, der über die Habitus verleiblicht wird und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf Dauer stellt. Damit bietet die Bourdieu’sche Theorie einen Rahmen, um die von der Kritischen Theorie
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Diese Verklärung von Herrschafts-, Unterwerfungs- und Abhängigkeitsbeziehungen – die Wirkung symbolischer Gewalt – wird durch affektive und emotionale Reaktionen begleitet. So etwa durch die Abhängigkeit vom Charisma der Herrschenden (Bourdieu 1998g: 171). Zugleich haben Bourdieus ungleichheitstheoretische Arbeiten den Effekt beschrieben, dass hierarchische Beziehungen das Schamempfinden der Unterlegenen (das sie daran hindert, die Auseinandersetzung mit den „Überlegenen“ zu suchen) begründet (instruktiv zu diesem Zusammenhang Neckel 1991). Komplementär dazu fungiert der Begriff der sozialen Angst in der Kritischen Theorie. Diese „Angst“ führt jedoch nicht dazu, die objektiven Ursachen für Unterlegenheitsgefühle einzusehen, sondern treibt die Individuen nur weiter dazu an, gesellschaftlich konform zu handeln.
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früh in den Mittelpunkt gestellten Mechanismen der Reproduktion von Herrschaft auf ein solides begriffliches Fundament zu stellen, das zum Beispiel spekulative Anleihen bei der Psychoanalyse vermeidet. Insbesondere auf der Ebene der sozialen Akteure ist es Bourdieu gelungen, den Zusammenhang zwischen individuellen Praktiken und undurchschauten gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen soziologischer als bislang theoretisch zu fassen und empirisch abzubilden. Im Folgenden soll die Bourdieu’sche Theorie auf ihre Aussagekraft für gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin befragt werden. Damit soll abschließend thematisiert werden, ob sich bei Bourdieu ebenfalls das innerhalb der Kritischen Theorie stets problematische Verhältnis zwischen ihren Einsichten und der fehlenden gesellschaftlichen Umsetzung stellt. 2.3 Soziologie als Politik Bourdieus Arbeiten insbesondere der 1980er und 90er Jahre zeugen davon, dass der Wissenschaftler Bourdieu nicht „nur“ bei einer kritischen Bestandsaufnahme der bestehenden Ordnung stehengeblieben ist. Sein praktisches Engagement geht weit über das gängige Einmischen ausgewiesener Intellektueller in den einschlägigen Feuilletons hinaus. Bourdieus Projekt einer „Internationale der Intellektuellen“ umfasste die Einrichtung eines europäischen Netzwerkes, in dem das politisch-kritische Denken grundlegend neu aufgebaut werden soll. „Bei der Schaffung sozialer Rahmenbedingungen für eine kollektive Produktion realistischer Utopien vermag die Gemeinschaft der Intellektuellen eine unersetzbare Rolle zu spielen. Sie kann als Geburtshelfer politisch und sozial aktive Gruppen in ihrem Bemühen unterstützen, sich darüber bewußt zu werden, was sie sind, was sie sein könnten, was sie tun sollten.“ (Bourdieu 2000: M4)8 In diesem Kontext entstand als Reaktion auf bereits manifeste Proteste von Arbeitslosen, Wohnungslosen und „illegalen“ Einwanderern in Frankreich im November und Dezember 1995 die Gruppe „Raisons d’agir“ zunächst als Zusammenschluss von Wissenschaftlern/innen und Intellektuellen, um das von Bourdieu populär gemachte Konzept eines „kollektiven Intellektuellen“ voranzutreiben. Gemeinsamer Bezugspunkt der differenzierten Versuche, eine kritische Gegenmacht aufzubauen, ist die Wahrnehmung einer ökonomischen Hegemonie seit den 1960er Jahren, die – verstärkt von der konservativen Wende in der Politik in den achtziger Jahren – in einem „globalisierten Turbokapitalismus“ gipfelt. Unmittelbare Folgen sind zum Beispiel der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, der Rückgang der öffentlich geförderten
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Ähnlich lautend, jedoch an einem gewiss nicht zufällig weniger exponierten Ort – dem Anhang einiger zu seinen Lebzeiten unveröffentlichter Aphorismen – fordert Adorno gegen die „zunehmende Undurchsichtigkeit der kapitalistischen Massengesellschaft eine Verbindung der Intellektuellen, die es noch sind, mit den Arbeitern, die noch wissen, dass sie es sind“ (Adorno 1997: 301).
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Wohlfahrtsprojekte, eine hohe Sockelarbeitslosigkeit sowie eine europäische Integration, die ausschließlich an Geldwertstabilität orientiert ist. Ursache dieser Entwicklung ist, dass sich die Legitimationsideologie der Herrschenden gesamtgesellschaftlich hegemonial in der Gestalt des neoliberalen Diskurses durchgesetzt hat. Dieser Diskurs, der der konservativen Politik ein „neues“ ideologisches Gerüst zur Verfügung stellt, erzeugt jene Art der „passiven Komplizenschaft“ (Bourdieu 1998b: 58), die für die Wirkung symbolischer Gewalt laut Bourdieu so bezeichnend ist. Neoliberalismus, Turbokapitalismus, Globalisierung und andere Schlagworte der ökonomischen Rhetorik, bezeichnen weit weniger die notwendige und schicksalhafte Realität gesellschaftlicher Entwicklung als sie Ausdruck einer negativen Utopie sind, die erst aufgrund fehlender Widerstandspotentiale zur Durchsetzung gelangt. Eines der wirksamsten Instrumente dieser „Utopie“ ist der Glaube an die Unausweichlichkeit ökonomischer, nach Bourdieu vorrangig semantischer, Zwänge, der den sozialen Akteuren die allgemein verbreitete fatalistische Haltung selbst der Gestaltbarkeit ihren eigensten vitalen Interessen gegenüber aufzwingt. Gegen diesen neoliberalen Grundkonsens als Ergebnis eines ‚neuen Korporatismus‘ aus Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft setzte Bourdieu das Projekt eines „europäischen Sozialstaates“: „Es ist unerläßlich, dem Europa des Geldes, das die sozialen Errungenschaften zerstört, ein soziales Europa gegenüberzustellen, das auf ein Bündnis der Arbeitnehmer der verschiedenen europäischen Länder gegründet und in der Lage ist, jene Bedrohungen zu neutralisieren, die, vor allem über das Sozialdumping, von den Arbeitnehmern eines jeden Landes auf diejenigen der anderen Länder ausgehen.“ (Bourdieu 1998c: 71) Eine zentrale Rolle wird dabei den Gewerkschaften, vor allem einer europäischen Gewerkschaftsbewegung“, zugesprochen, deren vordringlichste Aufgabe die „Koordination der Arbeiterkämpfe auf europäischer Ebene“ (ebd: 73) in Verbindung mit einem „wirklich kritischen Internationalismus“ (Bourdieu 1998i: 50) ist. Die sich hieraus zwangsweise ergebende Aufgabe der Sozialwissenschaft ist die Dekonstruktion der ökonomistischen Semantiken, die nicht nur im intellektuellen Elfenbeinturm verbleiben darf, sondern unter Rückgriff auf eine „klinische Soziologie“ eine gesamtgesellschaftliche, „kollektive Selbsterkenntnis“ (Bourdieu 1998k: 15) anzuleiten hat. Insbesondere hat die Sozialwissenschaft die sozialen Folgekosten der neoliberalen „symbolischen Wende“ (Bourdieu/Wacquant 1999: 5) zu ermitteln (vgl. auch Bourdieu 1991c).9 Obwohl Bourdieu mit seinen öffentli-
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Bedeutendes Beispiel dieser intellektuellen Praxis stellt die Studie Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997) dar, die Bourdieu gemeinsam mit 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Beginn der 1990er Jahre angefertigt hat. Über diese Studie urteilt Bourdieu selbst, dass sie eine doppelte – politische und wissenschaftliche – Funktion erfüllen sollte (Bourdieu/Wacquant 1996: 238). Eva Barlösius (1999) attestiert dieser Sozialreportage, die zu einem Drittel aus transkribierten
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chen Interventionen und Initiativen das Gegenfeuer auf die „neoliberale Invasion“ eröffnet hat, bleiben seine realistischen Utopien gemessen an seiner Herrschaftssoziologie eigentümlich unradikal. Zunächst ist eine Diskrepanz zu konstatieren, die von der Einsicht ausgeht, dass das unmittelbar politische Engagement auch der Intellektuellen mit unkontrollierten Herrschaftseffekten verknüpft ist (Eickelpasch 2002). Das Motiv, ‚anderen eine Stimme zu verleihen‘, unterliegt immer der Gefahr, zu einem ‚für andere zu sprechen‘ zu gerinnen. Bourdieus Analysen zum politischen Feld warnen ausdrücklich davor, dass das über ein Delegationsprinzip vermittelte Sprechen für andere (einerlei, ob in Parteien, Verbänden oder neugegründeten sozialen Bewegungen) die bloße Fortsetzung der Ohnmacht derer darstellt, für die gerade Partei ergriffen werden soll. (Vgl. Bourdieu 1989, Bourdieu 1991a; ähnlich Hall 1994; vgl. bereits Horkheimer 1981a [1942]: 16-17) Die sich daraus ergebende Konsequenz darf aber nach Bourdieu nicht zu einer „Weltflucht im Namen der Wertfreiheit“ im Sinne einer „gelehrten Enthaltsamkeit“ (Bourdieu 1998j: 7) führen. Stattdessen ist die nicht zu leugnende strukturelle Asymmetrie zwischen kritisch Partei ergreifenden Intellektuellen und sozial Entrechteten ihrerseits bewusst zu halten und gegebenenfalls selbst zum Thema der politischen Auseinandersetzung zu machen. Die Forderung nach der realistischen Utopie eines europäischen Sozialstaates ist aber in einem tiefergehenden Sinne problematisch. Bourdieus an sozialdemokratische Forderungen nach der Zähmung des ungebremsten Kapitalismus angelehnte, systemreformerische Perspektive entgeht nicht der Gefahr, dass die Grundstruktur des gesellschaftlich ungleichen Verteilungsprinzips – z.B. der Kapitalismus als mögliche Herrschaftsursache – unhinterfragt und unangetastet bleibt. Die Gefahr des sozialreformerischen Projekts beinhaltet aber auch – und erst recht wird dies durch die Bourdieu’sche Herrschaftssoziologie begründet –, dass die Einlösung politischer Sofortforderungen zur Linderung des eklatantesten Elends noch nicht das Ende der Ausübung des jetzigen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses herbeiführen. Der Verweis auf die mit Max Weber begründete Trennung zwischen dem Wissenschaftler, der eine allgemeine Theorie der Herrschaft entwickelt, und dem Bürger, der sich politisch einsetzt, erklärt übrigens keinesfalls die dargelegte Diskrepanz. Zum einen, weil Bourdieu bereits in früheren Arbeiten die Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischen Eingriffen erstellt hat (vgl. Bourdieu 1985b: 57); zum anderen weil Bour-
Interviews besteht, dass es darin „viel eindrucksvoller als den soziologisch ‚üblichen Armutsstudien‘“ (ebd.: 26) gelungen sei, das gegenwärtige Elend abzubilden. Das Besondere des Bourdieu’schen Elendsbegriffs stellt gewiss zudem der nur scheinbar paradoxe Befund dar, dass das Leiden an der Gesellschaft auch von denjenigen empfunden wird, die in ihr materiell abgesichert und außerhalb der Orte leben, an dem gemeinhin die Unterlegenen dieser Ordnung vermutet werden.
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dieu sich selbst gegen diese epistemologische Trennung bereits 1968 zu Wehr gesetzt hat (vgl. Bourdieu et al. 1991). Der offensichtliche Widerspruch zwischen der theoretischen Einsicht und dem politischen Engagement scheint auch aus der Perspektive einer Kritischen Theorie der Gesellschaft keiner zu sein, der Praxis stillstellen darf. Entgegen einem gängigen Vorurteil ihrer zumeist philosophischen Rezeption in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren stellt das praktische Engagement sogar den integralen Bestandteil der Tätigkeit der reemigrierten Mitglieder des Instituts für Sozialforschung seit Beginn der fünfziger Jahre dar.10 Das Eintreten für die Reformierung des Bildungswesens wie etwa auch Stellungnahmen zu tagespolitischen Ereignissen in Rundfunk- und Fernsehsendungen sind Beispiele für jene Formen ihres von Gunzelin Schmid Noerr so bezeichneten „volksaufklärerischen Engagements [...] das sich mit der diagnostischen Radikalität der Kritischen Theorie nicht immer bruchlos zur Deckung bringen“ (Schmid Noerr 1985: 460) ließ. Das Missverhältnis zwischen der Einsicht und dem Programm ist also eines, das nicht der Theorie immanent, sondern den gesellschaftlichen Bedingungen der Erzeugung einer auf Veränderung abzielenden Praxis eingeschrieben ist. Die Kritische Theorie muss – so ließe sich pointieren – diesen Widerspruch in ihrer eigenen Haltung aushalten und aufrechterhalten, damit das „notwendige Zugeständnis“ der Theorie an die Praxis nicht zu einem Selbstläufer wird. Wenn jenem nicht der normative Maßstab einer vollends befreiten Gesellschaft zur Seite gestellt wird, unterliegen gut gemeinte politische Programme stets auch der Gefahr, wohl Palliative für die gesellschaftlichen Mißstände zu installieren, deren Fundament aber unangetastet zu lassen. Adorno, Horkheimer und Marcuse haben in allen ihren Äußerungen die Sehnsucht nach dem ganz Anderen – der Hoffnung darauf, dass die Menschen einmal autonom, gerecht und solidarisch ihre Angelegenheiten untereinander regeln – stets präsent gehalten. Im Unterschied zur Kritischen Theorie bildet der Maßstab der gesellschaftlichen Möglichkeiten für Bourdieu keinen Referenzpunkt. Bourdieus Standpunkt ist relativistischer: Er ist vorrangig abhängig von der symbolischen Ordnung der analysierten Gesellschaft, die zwar aus einer ethnologisch aufgeklärten Perspektive – bspw. durch Begriffe wie kulturelle Willkür – dekonstruiert und in ihrem Kontingenzverhältnis dechiffriert wird. Der „Preis“ des relationalen Paradigmas ist allerdings der Verzicht auf eine vergleichende Bewertung zweier symbolischer Ordnungen.
10 Auf diese Form des praktischen Engagements hat jüngst Alex Demiroviü (1999) äußerst materialreich hingewiesen. Demiroviü hat damit eine Perspektive auf das praktische Wirkungsspektrum der Kritischen Theorie wiedereröffnet, die durch bloß sophistische Auseinandersetzungen in der posthumen Rezeption ihrer Hauptvertreter aus dem akademischen und öffentlichen Bewusstsein verbannt wurde.
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A USBLICK Der hier auf seine Kernaussagen für die Analyse dauerhafter Macht- und Herrschaftsverhältnisse zusammengefasste theoretische Ansatz Pierre Bourdieus stellt im Sinne unserer Fragestellung unzweifelhaft eine Aktualisierung der Basisannahmen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft dar. Damit befindet sich die Bourdieu’sche Theorie wesentlich näher am Anspruch, Erkenntnisinteresse und Vorgehen der Vertreter der Frankfurter Schule, als vereinzelte Aussagen Bourdieus dies nahelegen. Seine besondere Leistung besteht u.E. darin, die Bedingungen der vom freien Willen der Einzelindividuen unabhängigen Reproduktion eines gesamtgesellschaftlichen Unfreiheitsverhältnisses zum Gegenstand seiner Soziologie zu machen und diesem ein geeignetes analytisches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen. Von Bourdieus Soziologie ist zudem auch in praktischer Hinsicht eine kritische. Ihr Anliegen – und das wird in den jüngsten politischen Schriften Bourdieus immer evidenter – richtet sich auf die Veränderung der Gesellschaft auf Grundlage der wissenschaftlichen Einsicht in die verborgenen Mechanismen der Macht. Erst die Kenntnis der Handlungsmechanismen, die die Reproduktion der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse aufrecht erhalten, versetzt den einzelnen nach Bourdieu in die Lage, sich diesen zu entziehen. Für die Kritische Theorie ist diese Haltung von Beginn an konstitutiv. Horkheimer und Adorno bezeichnen als das politische Extrakt ihrer empirischen Erhebung zur autoritären Persönlichkeit: „Vielmehr setzt Freiheit die bewußte Erkenntnis jener Prozesse voraus, welche zur Unfreiheit führen, und die Kraft des Widerstands, die weder vor diesen Prozessen romantisch in die Vergangenheit flüchtet, noch sich ihnen blindlings verschreibt.“ (Adorno/Horkheimer 1997: 372) Beiden Auffassungen – der Kritischen wie der Bourdieu’schen Theorie – ist inhärent, dass die Veränderung nicht nach Vorschrift, sondern nur durch jene Wendung aufs Subjekt, die mündige Einsicht der Akteure selbst erfolgen kann. Den Schlüssel dazu stellt das Niederreißen jener Barrieren dar, die sich bereits in den Köpfen der Individuen befinden: Bourdieus Eintreten für die symbolische Revolution visiert diese radikale Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung an und befindet sich auf der gleichen Ebene wie Marcuses Forderung nach einer Kulturrevolution (vgl. Marcuse 1999d). Der politische Intellektuelle Bourdieu ist aus dieser Einsicht heraus zuletzt als derjenige in Erscheinung getreten, der um die öffentlichkeitswirksame Koordination jener intellektuellen Kräfte einer Gesellschaft bemüht ist, die sich der allgemeinen Konversion zur neoliberalen Weltsicht entgegenstemmen. Schließlich ist das gespannte Verhältnis zwischen theoretischer Einsicht und praktischem Engagement bei Bourdieu jedoch nicht nur – wie in der Kritischen Theorie herausgestellt – durch den allgemeinen Widerspruch zwischen aufgeklärtem Wissen und unaufgeklärter Gesellschaft determiniert. Bourdieus erkenntnistheoretisch unausgewiesener normativer Standpunkt gibt seiner Rezeption auch erhebliche Probleme auf. Es ist kein Zu-
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fall, dass Gegenpositionen, die sein politisches Engagement in Zweifel ziehen, auf eben Bourdieus eigene Analysen zurückgreifen können: Sein ethnologisches und kulturrelativistisches Vorgehen hat gerade den Blick dafür geschärft, selbst das „wohlmeinende“ Eintreten derjenigen, die – wie die Intellektuellen – glauben machen, es besser zu wissen, als unerkannte Machtansprüche zu entlarven. Damit trägt Bourdieu der Erkenntnis Rechnung, dass in einer Gesellschaft, in der Auseinandersetzungen um Macht und Profite konstitutiv sind, auch der symbolische Raum nicht frei von dieser Logik ist. Nur ist eben jenem formal relativistischen Vorgehen die Gefahr inhärent, jede erdenkliche Äußerung – selbst die, die „richtige“ Einsicht geltend machen will und kann – als Herrschaftsanspruch zu relativieren und von ihrem inhaltlichen Anspruch zu abstrahieren (hierzu ähnlich bereits Giegel 1989). Es kann aus der Sicht einer Kritischen Theorie der Gesellschaft jedoch nur davor gewarnt werden, diese Methode in ein rein formales, universales Paradigma der gesellschaftlich ubiquitären Kämpfe zu überführen, wie dies Markus Schwingel in einer gewiss nicht inkonsequenten Weiterführung Bourdieu’scher Andeutungen getan hat (vgl. Schwingel 1993). Das würde nur bedeuten, „das, was die Welt aus uns gemacht hat, fälschlich für die Sache selbst [zu nehmen]. [...] Die Gemeinsamkeit des sozialen Reagierens ist wesentlich die des sozialen Drucks.“ (Adorno 1969: 88, 92). Die Verabsolutierung der gesellschaftlichen Kämpfe zum theoretischen Paradigma, das als Filter vor die Analyse der je konkreten Gesellschaften geschaltet wird, „verzaubert das Vermittelte in ein Unmittelbares“ (ebd. 89). Die Kritische Theorie aber hat sich dieser Gefahr entzogen, wenn sie für ihr Werturteil einen erkenntnistheoretischen Ort angeben will, von dem aus wahre Erkenntnis (zum Wohle aller) von unwahrer Erkenntnis (lediglich dem partikularen Wohl dienlich) geschieden werden soll. Der oben referierte Kulturbegriff einer Kritischen Theorie der Vertreter der Frankfurter Schule hat diese Funktion durchaus erfüllen können. Kultur ist in ihrem Sinne gewiss immer auch Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses, das sich in die Ausdrucksformen einer Epoche übersetzt und durch kulturelle Schemata stabilisiert wird. Neben dieser affirmativen Funktion der Kultur, zumal in ihrer modernsten Form, der Kulturindustrie, beinhaltet Kultur aber immer auch jene Freiheit, das Bestehende zu transzendieren, das heißt: die Realität mit der von dieser verschleierten Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklung zu konfrontieren. Eben in jenen von der Ökonomie unversehrten Bereichen einer alternativen Kultur, die ein höheres Maß an kritischem Wissen anstatt der bloßen Verdoppelung des Gegebenen beinhaltet, verbleibt die Hoffnung, emanzipative Erkenntnis als Wert aufrechtzuerhalten und von dort in ein unstillbares Bedürfnis nach emanzipativer Praxis und einem Leben ohne ökonomische Existenzängste bei ihren Rezipienten zu transformieren.
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I. Polarisierungen
Endstation Frankfurt Eine Polemik zur Rezeption Bourdieus in der deutschen Sozialphilosophie S TEPHAN E GGER
Eine der entscheidenden Weichenstellungen für die Rezeption Bourdieus in Deutschland ist die Auseinandersetzung mit dem Werk im weiteren Umkreis der „Frankfurter Schule“ gewesen. Hier findet die ambivalente Nobilitierung eines Ansatzes statt, der nicht erst seit Die feinen Unterschiede, spätestens aber mit ihnen, einen intellektuellen Schock bedeutete – neben Foucault ist Bourdieu der Repräsentant des „französischen“ Geistes, dessen Herausforderungen die deutsche Sozialphilosophie bis heute nicht wirklich angenommen hat.1 1
Selbstverständlich ist diese „starke“ These in verschiedener Hinsicht erläuterungsbedürftig. Das betrifft am wenigsten noch die Subsumption der „deutschen Sozialphilosophie“ unter die „Frankfurter Schule“. Denn niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass gerade dieser Diskurs im Nachkriegsdeutschland seit den sechziger Jahren die weitaus bedeutendste Strömung einer philosophierenden Annäherung an „Gesellschaft“ war, eine Strömung, die den Terminus „Sozialphilosophie“ regelrecht erst begründet hat – ganz gleich, ob die perspektivische Sichtbarkeit dieses Diskurses nicht die ebenso unabweisbare Tatsache verdeckt, dass die „Kritische Theorie“ in Deutschland, weder damals noch heute, ausschließliche Deutungshoheit in einer robust an bestehenden Traditionen festhaltenden akademischen Philosophie gewonnen hat. Und natürlich ist die Rezeption Bourdieus nicht alleine Sache der Frankfurter Schule gewesen. Eine ebenso robuste Tradition der soziologischen normal science bestand schon in den siebziger Jahren, ausgerüstet mit einem szientistischen Instrumentarium, an dem nicht nur sozialphilosophische Deutungsansprüche, sondern auch Bourdieus kritische Neubestimmung empirischer Sozialwissenschaft aufgelaufen sind – eine Dreieckskonstellation zwischen „Frankfurt“, „Köln“ und dem französischen Import, bei der abschließend nicht gesagt werden kann, welche Rezeption „entscheidender“ gewesen ist. Entscheidend scheint aber gerade deshalb, dass der kritische Impetus der Bourdieu’schen Soziologie, trotz der gemeinsamen
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Aber noch weit radikaler als Foucault, der mit seinem genuin geschichtsphilosophischen Diskurs die Schattenseiten einer Aufklärung beleuchtet, von deren materiellen Dimensionen die „Kritische Theorie“ nur eine vage Vorstellung hatte,2 verkörpert Bourdieu die Infragestellung der philosophischen Perspektive schlechthin:3 Seine Verbindung von empirischer Vermessung und theoretischer Durchdringung der sozialen Welt, seine forschungsgesättigte Hermeneutik des sozialen Alltags lässt Umrisse einer Gesellschaftswissenschaft entstehen, von der sich die Frankfurter Schule in allen Belangen „links“ überholt sehen musste. Exemplarisch ist dieser Fall in verschiedener Hinsicht. Nicht nur, weil er alle typischen Merkmale der Wahrnehmung und Verbreitung neuen Gedankenguts nachverfolgbar macht, das erste Aufscheinen an den Rändern des akademischen Feldes, dann eine Phase der breiteren Auseinandersetzung
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Positionen gegen einen bewusstlosen sozialwissenschaftlichen Positivismus, in der Frankfurter Schule – oder ihren wirkmächtigen Ausprägungen – „kategorial“ ausgegrenzt wird: So überzeugend die Gemeinsamkeiten der Bourdieu’schen„Intentionen“ mit denen der Frankfurter Schule bisher herausgearbeitet worden sind, so klar ist doch auch, dass die Grenze dieser Gemeinsamkeiten genau dort liegt, wo die normativen Konsequenzen einer kritischen Sozialwissenschaft schon in ihre Konzeption eingebaut sind, statt sich aus ihr „evident“ ergeben zu können – eine derart massive Evidenz, die umgekehrt den positivistischen Furor gegen Bourdieus Soziologie immer auch begründet hat. Es ist also dieser die Gemeinsamkeiten unterschwellig verneinende Geist des philosophischen Deutungsvorbehaltes, gegen die sich eine Polemik hier in erster Linie richtet. Der Einwand, gerade die „frühe“ Kritische Theorie bei Horkheimer und Adorno habe sich mit der „Dialektik der Aufklärung“, gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung Auschwitz, besonders intensiv auseinandergesetzt, wäre hier zwar durchaus berechtigt, verfehlt aber das Argument im Hinblick auf eine fehlende empirische Sättigung dieser im Grunde hegelianisch gebliebenen Spekulation – das Bewusstsein ist wach, das genetische Material sieht man aber nur im geistigen Höhenflug, und mit Habermas verblasst auch diese Perspektive. Vgl. zu den Verwandtschaften gerade der „frühen“ Kritischen Theorie zu Bourdieus Ansatz sehr ausführlich Bauer & Bittlingmayer (2000), ein Vergleich, der sehr gut nachvollziehbar macht, weshalb die zumindest intentionale Schnittmenge zwischen der „ersten Generation“ aus Frankfurt und Bourdieus Soziologie größer ausfällt als mit der zweiten. Ungeachtet fortdauernder Differenzen bei der Beurteilung des kritischen Potentials gerade der „frühen“ Frankfurter Sozialphilosophie bin ich Uwe Bittlingmayer für wichtige Hinweise auf Schräglagen und Leerstellen der Argumentation sehr dankbar. Gerade weil zum Theorieprogramm der Frankfurter Schule zentral auch die überwindende Neudefinition der Grenze zwischen – akademischer – Philosophie und Soziologie gehört, sind die Reaktionen auf Bourdieu hier so vielsagend: Sie sind „scholastisch“ in einem abgrenzenden Sinn.
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und ihre Versuche der gedanklichen „Koordination“ mit dem Bestehenden, der Einordnung, der Vereinnahmung und Abgrenzung, schließlich die endgültige, wenn auch seltsam „befriedende“ Eingliederung in den wissenschaftlichen Kanon. Und auch nicht allein, weil diese Aneignungskämpfe die Struktur und Kräfteverhältnisse eines akademischen Raums transparent werden lassen, der sich in der hiesigen Sozialwissenschaft, wie überall, zwischen Außenseitern und Etablierten, „Päpsten“ und „Häretikern“, „Progressiven“ und „Konservativen“ aufspannt und damit wunderbar ein Bild Konturen annehmen lässt, das Bourdieu selbst im Begriff des „Feldes“ verdichtet hat. Das Alltagsbewusstsein der Beteiligten jedenfalls schleppt von diesen praktisch eingelebten Strukturen immer eine Ahnung mit. Sondern jenseits dieses allgemeinen Zugs beispielhaft ist für die die Rezeption Bourdieus vor allem ihre mehr oder weniger ungewollte Entblößung eines besonderen Merkmals der eigenen Denktraditionen: Die fundamental normative Ausrichtung und gleichzeitig zutiefst unpolitische Haltung der deutschen Sozialphilosophie. Die Geschichte dieser „Verdrängung“, besser vielleicht „Sublimation“ der empirischen wie politischen Legitimitätsgründe von „Sozialwissenschaft“ gehört nicht hierher. Unser Fallbeispiel beginnt dort, wo sich diese Tradition zunehmend vor die Frage gestellt sieht, was sie mit diesem Fremdkörper anfangen soll, einer „bekennenden“ Soziologie, die tatsächlich empirisch forscht und dabei theoretische Antworten gibt, und die „kritisch“ genug ist, um „politische“ Fragen zu ermöglichen.4
E RSTE B EGEGNUNG : B OURDIEUS „K ULTURKRITIK “ UND EIN „ KRITISCHES “ D ENKEN MIT V ORGESCHICHTE Auf Bourdieus frühe Forschung, seine Arbeit im kolonialen Algerien (Bourdieu 1958, Bourdieu & Darbel 1963, Bourdieu & Sayad 1964), ist man erst in den letzten Jahren aufmerksam geworden, die Studien zum Heiratsverhalten im Béarn lagern noch in den Asservatenkammern der Theoriegeschichte, der „Ethnologe“ Bourdieu, auch wenn dieses Etikett im Zusammenhang mit seiner Soziologie der französischen Gegenwartsgesellschaft gerne verwendet wurde, schält sich erst langsam aus der Rezeption (vgl. zuerst Schultheis
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Selbst wenn man mit Alex Demiroviü (1999) diese Behauptung für die maßgeblichen Vertreter der Kritischen Theorie noch abschwächen könnte, dann ist doch mit Habermas nicht nur ein Punkt erreicht, an dem die Frankfurter Schule im engeren Sinne politische Diskurse vermeidet, sondern diese Haltung auch derart monopolisiert, dass andere Positionen im Anschluss an die Kritische Theorie, zu deren Vertretern Demiroviü übrigens selbst gehört, kaum mehr sichtbar sind.
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2007). Die nationale und später dann internationale Ausstrahlung des Bourdieu’schen Unternehmens beginnt stattdessen mit den Studien zur „Bildungssoziologie“. Bourdieu und Jean-Claude Passeron veröffentlichen Mitte der sechziger Jahre Les héritiers (1964), einige Zeit später La reproduction (1970). Es sind diese beiden Publikationen, die den ambivalenten „Ruhm“ dieser Art von kritischer Soziologie begründen.5 Aber ähnlich wie in Frankreich bleibt die Auseinandersetzung mit dieser radikalen Position Episode: In den „subjektivistischen“ Erziehungswissenschaften konnte sie nicht Fuß fassen, die Bildungsforschung beschäftigt sich mit ihren „objektivistischen“, strukturanalytischen Aspekten, ohne den verstörenden Kern der Botschaft transportieren zu wollen, der beide Sphären verbindet – dass nämlich eine „Öffnung“ des Bildungswesens den tiefer liegenden Reproduktionszusammenhang nicht beseitigen kann, der soziale Herkunft und individuelle Lebenschancen verschränkt. Die Anfang der achtziger Jahre erschienene Sammlung Titel und Stelle (1981) mit länger zurückliegenden Arbeiten wirkt dann auch schon wie ein Abschied der Bourdieu’schen Bildungssoziologie aus der deutschen Rezeption. Lange wird sie nur in Nischen überleben, erst der enorme Aufschwung bildungspolitischer Fragen bringt Bourdieu ins Spiel zurück. Gleichzeitig beginnt sich hier noch während der siebziger Jahre eine zweite Linie der intellektuellen Auseinandersetzung in den Vordergrund zu schieben, die den „theoretischen“ Ertrag der Bourdieu’schen Soziologie zur Debatte stellt: Noch vor der ersten Übersetzung der Bourdieu’schen „Bildungssoziologie“ wird Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970) veröffentlicht, kurz darauf die Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt (1973), dann der Entwurf einer Theorie der Praxis (1976) – hier sickert zuerst die Ahnung einer im Gegensatz zu anderen Strömungen eben nicht schroff „marxistischen“, gleichwohl „kritischen“ Neuverhandlung des Verhältnisses von „Gesellschaft“ und „Kultur“ in die deutsche Rezeption. Doch wie viel sich dabei auch dem radical chic einer im Umkreis des französischen Strukturalismus eingeordneten „Revolution“ des „philosophischen“ Denkens zuordnen lässt, die Herausforderung Bourdieus für die Frankfurter Schule ist eine andere: Die Tatsache, dass mit der kulturtheoretischen Wendung einer „Kritik der Moderne“ die „Klassengesellschaft“ diesem Denken schlicht abhanden gekommen war – das echte Erstaunen über Bourdieus „Klassenbegriff“ von „Kultur“ ist augenfällig
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Vgl. insbesondere die erste deutsche Sammlung bildungssoziologischer Schriften als Die Illusion der Chancengleichheit (Bourdieu & Passeron 1971). Wie ambivalent allerdings diese Rezeption geblieben ist, das zeigt der massive roll back, den etwa John Goldthorpe (2006) affirmativ dokumentiert, die Diskussion ausführlich bei Kramer (2011).
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genug, um hier einen nachhaltigen intellektuellen Schock vermuten zu können.6 Und tatsächlich weist die Rezeption der Bourdieu’schen „Kultursoziologie“ im Umkreis der Frankfurter Schule eine Art von Schizophrenie auf: Die ungeheuren Verdrängungsleistungen eines „kritischen“ Unternehmens, das „theoretisch“ ständig von „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ spricht, den empirischen Nachweis der Klassengebundenheit von Herrschaftsverhältnissen aber selbst nur als „verdinglichend“ begreifen kann, eines Unternehmens, das die „Moderne“ ohne Klassengesellschaft, ohne Herrschende und Beherrschte thematisiert. Genau das geschieht aber in Bourdieus Die feinen Unterschiede derart unmissverständlich, dass hier nicht nur die Empiriedefizite der Frankfurter Schule eklatant hervortreten, sondern auch ihre theoretische Selbstgefälligkeit. Schon bei Adorno ist dieses Muster beispielhaft zu sehen. Auf der einen Seite nicht allein das oft so typische Unvermögen, die Intentionen eines Denkansatzes überhaupt einschätzen zu können, der sich außerhalb des eigenen Diskurses bewegt, sondern eine fast schon hysterische Strategie der begrifflichen Dichotomisierungen, mit denen das Eigene vom Anderen abgesetzt wird. Adornos vernichtende Kritik der durkheimschen Soziologie zeigt diese Krankheit im Vollbild (vgl. Adorno 1970). Der Meisterdenker der „Kritischen Theorie“ hatte es offenbar für nötig gehalten, die Schriften Durkheims zur Erkenntnistheorie und Moralphilosophie als Anlass für eine grundsätzliche Abrechnung zu nehmen, und diese Abrechnung geschieht in einem Jargon der vermeintlichen „Uneigentlichkeit“, der dennoch keinen Zweifel aufkommen lassen will: Der durkheimsche „Totalitätsanspruch“ und sein „Positivismus“, der gebiete, man solle die „Dinge als schlechthin Gegebenes traktieren“, eine Doktrin, mit deren „Tabus“ er „die französischen Soziologen seiner Periode weithin sich gefügig“ machte, diese Beschreibung lässt sich nur mit einem gewissen Wohlwollen noch als bloß „tendenziös“ einstufen. Denn die Kaskaden negativer Klassifikationen kommen erst zu einem Ende, wenn Durkheims Bündnis mit dem „falschen Bewusstsein“ im letzten Satz dieser „Einführung“ besiegelt wird.7
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Dieser trifft im Hinblick auf die Rezeption Bourdieus natürlich nur die damals bis heute „Überlebenden“ der Frankfurter Schule: Bei Habermas und Honneth ist in der Tat keine „Klassengesellschaft“ mehr zu erkennen. Allerdings: Selbst wenn Adorno, Horkheimer und Marcuse noch mit dem Begriff operieren – „operativ“ ist er schon dort nicht mehr. Vor allem aber verblasst schon damals die Vorstellung, dass hinter dieser Klassengesellschaft auch so etwas wie „Klassen“ stehen – falls sie jemals konkreter vorhanden war. Vielleicht bedurfte es eines Posthaltersohnes aus der französischen Provinz, um die praktischen Dimensionen des bloßen Begriffs wieder sinnfällig zu machen. Diese Episode ist in jeder Hinsicht bezeichnend. Adorno wendet fast vierzig Seiten auf, um eine Schriftensammlung von gerade einmal hundert Seiten „einzu-
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Auf der anderen Seite die Ausprägungen einer „kritischen Kulturtheorie“, die sich als „Verdinglichungskritik“ begreift und damit die sozialen Grundlagen der Kulturaneignung tendenziell aus ihrem Kategorienbestand verdrängt: Die frühe Frankfurter Schule – auch wenn sie sich als kulturtheoretische Avantgarde versteht und hier einen deutlichem Gegensatz zu den Legitimationsdiskursen der bürgerlichen Hochkultur aufmacht – betreibt im Wesentlichen eine Kritik der kapitalistischen „Massenkultur“ und ihrer Herrschaftseffekte, ohne doch die Struktur dieser grundsätzlichen Deprivation und ihrer massiven symbolischen Gewalt wirklich dingfest machen zu können.8 Stattdessen erhebt sich der Totalitätsanspruch einer Philosophie des „falschen“ Bewusstseins, deren normative Färbung weder eine Theorie „tatsächlicher“ Herrschaftsverhältnisse noch ihre empirische Vergegenwärtigung zulässt.9 Und trotz der unverkennbaren „Politisierung“ dieses Ansatzes, mit dem die zweite Generation der Kritischen Theorie Schule macht, ist das typische Muster einer Verbindung von massiven Antipathien gegen jede empirisch verfahrende „Wissenschaft vom Menschen“, der umgekehrt „kategorial“ normativen Voreinstellung des gesamten Denkens und dem erkenntnistheo-
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führen“. Die übliche, zurückhaltendere Form des Nachworts wird verlassen, um die Unmissverständlichkeit der in diesem „Kommentar“ ausgesprochenen Verdikte zu verdeutlichen. Und die dort ausbrechenden Antipathien sind so wenig gehemmt, dass man von einer regelrechten Hinrichtung sprechen kann – das ist, selbst wenn man die insgeheime Gleichsetzung von Soziologie und „Studentenprotest“ in Rechnung stellt, der damals die erste Generation der Frankfurter Schule erschütterte, ein doch starker Hinweis auf die erahnten Kränkungen, die eine solche Wissenschaft der faits sociaux dem philosophischen Diskurs auch „theoretisch“ zufügen konnte. Bei Horkheimer gibt es dafür nur Ansätze, mit Adorno gehen solche Erwägungen vollends in einem avantgardistischen Geschmacksbewusstsein unter, vgl. Adorno (1973), für eine differenzierte Sichtweise allerdings Steinert (1998) und Demiroviü (1999). Im Übrigen lässt sich natürlich darüber streiten, wie „dingfest“ Herrschaftseffekte der „Klassengesellschaft“ in der frühen „Frankfurter Schule“ gemacht werden können: Für einen ausgesprochen „intellektuellen“ Zugang wird dort sicher genug geboten – für einen konkreten, praktischen, und leider auch wieder: empirischen, eben nicht. Für eine Kontextualisierung dieses eigenartigen Charakters des Frankfurter Denkens ist hier ersichtlich kein Platz. Die Sensibilität für Phänomene des „beschädigten Lebens“, von denen gerade bei Adorno oft gesprochen wird, zeigt aber die ganze Problematik des Entwurfs: Das tatsächlich beschädigte Leben ist das eigene. Für eine gute Beschreibung des Weges der Frankfurter Schule durch Weimarer Republik und Nationalsozialismus, amerikanisches Exil und die neue Bundesrepublik vgl. Wiggershaus (1986). Die enorme Diskrepanz zwischen persönlicher Erfahrung und dem Erleben der „Massen“ bleibt davon allerdings unberührt.
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retischen Pathos der ebenso „kategorialen“ Kritik derart robust, dass alles, was diesen Anforderungen nicht entspricht, in Frankfurt Halt machen muss.10
10 Die sträfliche Knappheit dieser Charakteristik lässt sich natürlich in diesem Rahmen nicht ausbessern. Einige Anmerkungen sind dazu allerdings unumgänglich. Die erste: Betont werden sollte in jedem Fall, dass die anti-empirische Haltung der Frankfurter Schule eher jüngeren Datums ist. Adorno, Horkheimer, Marcuse, Fromm und Löwenthal haben empirische Studien betrieben, die damals sicher den state of the art markierten – in der Tat gehört es zu den konstitutiven Elementen der Kritischen Theorie, die akademische Philosophie mit dem „Boden der Tatsachen“ in Berührung zu bringen, eine Tradition, von der sich Habermas seit Erkenntnis und Interesse (1968) dann verabschiedet hat. Allerdings ist schon der Zwei-Fronten-Krieg gegen die damalige „Schulphilosophie“ und den philosophischen „Positivismus“, in dessen Einzugsgebiet die empirischen Versuche der Kritischen Theorie angesiedelt sind, von Ambivalenzen geprägt, die – wenn man sich Adornos Durkheim-Rezeption ansieht – einen philosophischen Deutungsvorbehalt gegenüber der „verdinglichenden“, „positivistischen“ Soziologie so vehement verteidigen, dass gerade der Fall Durkheim nur auf massiven Missverständnissen beruhen kann. Es wäre also einerseits regelrecht falsch, würde man der frühen Kritischen Theorie Empirieferne unterstellen – eine solche Behauptung hieße, genau der strategischen Erzählung ihrer Gegner aus „Köln“, der soziologischen normal science zu folgen. Auf der anderen Seite ist mit Jürgen Habermas tatsächlich eine Art „Politisierung“ der Kritischen Theorie erfolgt, die Verschiebung der Perspektive hin zur „öffentlichen“ Sphäre, von der aus dann bei Habermas mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) das gesamte Feld einer „Diskursethik“ aufgespannt wird. Diese Ausrichtung kennzeichnet, noch dreißig Jahre später, auch Axel Honneths „Anerkennungstheorie“ (Honneth 1992). Die zweite: Mit dieser Wendung einher geht eine paradoxe „Entpolitisierung“ des Ansatzes, die völlige Unterdrückung seiner kritischen Ansprüche in einer Theorie der „Intersubjektivität“. Das für die erste Generation der Frankfurter Schule typisch bildungsbürgerliche Unverständnis von über „Klassen“ konzeptualisierten Annäherungsversuchen an die soziale Welt und ihre kulturkritische „Ästhetik“ weicht einer durchaus „kleinbürgerlichen“ Ignoranz für alles, was nur annähernd von „echten“ Kämpfen, „echter“ Ungleichheit, von „Herrschaft“ und „Gewalt“ spricht – der harmonisierende akademische Diskurs über den „Diskurs“, die geradezu pastorale Ethik der „Verständigung“ und ihre „kategoriale“ Selbstgewissheit ist noch weiter von der Realität entfernt, als es die Dialektik der Aufklärung je war. Der Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse über den „Jenaer Hegel“ zu klären, illustriert bestens die Verdrängungsarbeit dieser Art von Philosophie. Und die dritte: Eine Geschichte der Rezeption Bourdieus in der deutschen Sozialphilosophie darf nicht vergessen, dass sich in den Reaktionen der Frankfurter Schule ohne Zweifel ein komplexer Bedrohungszustand widerspiegelt, der in diesem Bereich des akademischen Feldes strukturell angelegt ist. Denn die „Meinungsführerschaft“ der Kritischen Theorie, ihre Schlüsselrolle
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A NZIEHUNG , M ISSTRAUEN , A BWENDUNG : E INE „ KRITISCHE “ T HEORIE RINGT UM THEORETISCHE F ASSUNG Diese Ausgangslage ist es nun, von der die Rezeption Bourdieus in Deutschland zunächst bestimmt wird. Zwar gibt es, als wenn der Soziologe ein Beispiel für seine Vermutung der „Homologie“ der Strukturen hätte abliefern wollen, an den Rändern der Disziplinen eine damals beginnende und bis heute fast ungebrochene, echt konstruktive Auseinandersetzung mit dem Werk.11 Auch in der Sozialstrukturforschung, seit Die feinen Unterschiede gleichzeitig hellhörig für den „Lebensstil“ und taub gegenüber den weitreichenden Implikationen des Ansatzes, ist das „Paradigma“ schnell „verarbeitet“ worden: Abgesehen von den geradezu zwangläufigen Einwänden, die den „Gallozentrismus“ der Bourdieu’schen Klassenanalyse bemängeln, also behaupten, jenseits des Rheins würden die dort festgestellten Regelmäßigkeiten nicht gelten, fällt hier eine seltsam beschwichtigende Rezeption auf, die dann von „klassenübergreifenden Disparitäten“ spricht, um damit eine These von der „Individualisierung“ gesellschaftlich bestimmter Lebensverhältnisse in einer „Risikogesellschaft“ zu befördern – die nivellierenden „Wohlstandsgewinne“ des Fordismus will sich die deutsche Sozialstrukturforschung von Bourdieu nicht ausreden lassen.12
gibt es nur in einer spezifischen scientific community. In der Soziologie dominiert immer stärker der positivistische Berechenbarkeitsglaube, in der Philosophie noch das „klassische“ Erbe, auch die politischen Verwerfungen der sechziger Jahre machen es nicht einfacher, einen gleichzeitig „kritischen“ und „theoretischen“ Standpunkt zu formulieren. Genau diese, letztlich prekäre Position ist es, wodurch die von Bourdieu so anschaulich beschriebene illusio, die „Besetzung“, der Glaube an die feldspezifischen „Einsätze“, derart unbedingt aktualisiert wird – auch die Frankfurter Schule ist Gefangene des „Spiels“. 11 Ohne hier diesen Rezeptionskontext im Detail ausbreiten zu können: Fest steht, dass Bourdieu gerade in den weniger prestigeträchtigen Fächern und Unterfächern der Humanwissenschaften, immerhin auch der Ethnologie, vor allem aber der Bildungssoziologie, der Literaturwissenschaft, der Geschlechterforschung, zuerst den Fuß in die Tür bekommt.. Ebenso selbstverständlich wird dann die Tatsache, dass die Rezeption in den „sakraleren“ Bereichen des Feldes durch die, jedenfalls dort, junge „Avantgarde“ erfolgt, die Wirkung aber bei Weitem nicht so spektakulär ausfällt wie etwa bei Foucault und Derrida, oder, noch „eigenwilliger“, bei Deleuze, Lacan, Lyotard, Baudrillard. 12 Vgl. für eine angeblich „empirische“ Kritik Hradil (1989), den „Gegenentwurf“ zu Bourdieu liefert Ulrich Beck schon mit seiner Risikogesellschaft (1986). Wären solche Versuche, die Klassenbedingtheit von „individuellen“ Lebenslagen durch „Milieus“ oder „Lebensstile“ zu ersetzen, nicht so hoffnungslos naiv, müsste man diese Art von „Soziologie“ als theoriegeschichtlich durchaus „revisionistisch“, gesellschaftspolitisch als mindestens „schönfärberisch“ bezeich-
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Eine „theoretische“ Gewichtung der Bourdieu’schen „Kulturtheorie“ bleibt allerdings der „kritischen“ Sozialphilosophie vorbehalten. Und hier werden die „Defizite“ in einer reflexartigen Aneinanderreihung von Verstößen gegen die bestehende Orthodoxie ausführlich benannt: „Utilitarismus“, „Ökonomismus“, „Reduktionismus“, alles eine Verletzung der „Regeln der Kunst“ – im „Soziologismus“ Bourdieus sind sämtliche Irritationen auch des „kritischen“ Geistes im Angesicht der subversiven Gegenmacht der Fakten auf beispielhafte Weise verdichtet. Axel Honneths frühe Darstellung des „kultursoziologischen Werks“ (1984) liefert dafür sämtliches Anschauungsmaterial (vgl. auch Honneth 1990 und 1999).13 Denn trotz der immer wieder erkennbaren Faszination für die „originelle“ Art des Bourdieu’schen Unternehmens, jenseits der eingetretenen Pfade „soziologischer Theoriebildung“ den Zusammenhang von „Klassen“ und „Kultur“ zu thematisieren, brechen hier ständig die Einwände der „Normativität“, die klassifikatorischen Schemata des philosophischen Theorievorbehalts durch.14 Wenn wir einmal den scheinbar notwendigen Hang beiseite lassen, diesem „Unherkömmlichen“ mit vereinfachenden Zuordnungen beizukommen, eine Verfahrensweise, die Bourdieu zunächst zu einem „Marxisten“ macht, der aber anfangs „vollkommen“ unter dem Einfluss des „Strukturalismus“ steht, dann setzt nämlich diese Kritik wesentlich an eben jenen Stellen ein, die den dogmatischen Grundbestand der Frankfurter Schule markieren. Denn nach-
nen – anders die produktive Verarbeitung der Bourdieu’schen Soziologie etwa bei Vester et al. (2001). 13 Ohne hier nahelegen zu wollen, Honneths „zerrissene Welt“ sei für die „Frankfurter“ Rezeption Bourdieus mit Abstand die maßgebende gewesen oder sogar für die deutsche Rezeption überhaupt, und damit eine Deutungshoheit der Sozialphilosophie zu unterstellen, wie es, „kontrafaktisch“, gerne die konservativen Fraktionen des hiesigen intellektuellen Feldes tun – an ihr zeigt sich paradigmatisch ein dort geradezu konstitutiver „Autismus“, der, in diesem Fall, Sozialwissenschaft nur als „Sozialphilosophie“ begreifen kann. Dass Honneth hier nur ein besonders ausgeprägtes Beispiel abgibt, sich aber dabei in allerbester Gesellschaft befindet, will die notwendige Nennung von Eigennamen, eine Gegenkritik ad personam, nicht nur abschwächen. Sondern gerade diese kollektive Resistenz zeigt beispielhaft, dass der Import von „fremdem“ Gedankengut mit den je eigentümlichen Strukturen einer intellektuellen Welt zu rechnen hat, die tiefer prägt als die herrschenden „Ideen“ selbst – wer sich dabei an Bourdieus Konzept des intellektuellen Feldes erinnert fühlt, dem fällt es leichter, diese Gegenkritik nicht als persönlich verstehen zu müssen. 14 Diese Rhetorik ist umso erstaunlicher, oder, wenn man die hier nahegelegte These einer „Verdrängung“ des Eigenen etwas überspannen wollte, umso weniger erstaunlich, als Honneth in seinen sozialphilosophischen Essays ansonsten eher großzügig mit den Autoren umgeht – die Reizbarkeit entsteht dann auch genau dort, wo das „Alltagswissen“ der Kritischen Theorie einen vermeintlich „undogmatischen“, aber desto unwillkürlicheren Einspruch herausfordert.
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dem Honneth in seiner Skizze Bourdieus frühen Bruch mit dem damals so prominenten strukturalistischen Paradigma im Verlauf der Studien in Algerien nachgezeichnet hat, wird die entscheidende Divergenzlinie benannt: Es sind die „utilitaristischen Gedankenmotive“ und ihre daran anschließende „Ökonomisierung der soziologischen Theorie“, die den unverbesserlichen Defekt des Bourdieu’schen Denkens ausmachen (Honneth 1999: 180-181).15 Und dieser Grunddefekt, der Bourdieus „Theorie“ offenbar ständig anhaftet, wird dann in allen vermeintlichen Spielarten anhand der Feinen Unterschiede durchdekliniert, auch wenn sich immer wieder, bei unzweifelhafter Anerkennung der Einzigartigkeit des Entwurfs, Abneigungen gegen den gesamten Denkstil zeigen, den „agnostischen“ Zug der Bourdieu’schen Soziologie.16 Allerdings fällt hier eine geradezu verzweifelte Wiederholung
15 Und natürlich „lag dieser utilitaristischen Transformation des ethnologischen Strukturalismus bereits im Anfang eine Unklarheit zugrunde, die bis heute der Theorie Bourdieus anhaftet“, allerdings eine, die so nur für eine normativ ausgerichtete Sozialtheorie besteht: Nämlich ob die symbolischen Kämpfe als Auseinandersetzungen „um die Interpretation eines intersubjektiv anerkannten Wertesystems“ oder aber von „gruppenspezifischen Klassifikationsweisen“ gedacht werden müssen, „denen die verbindende Gemeinsamkeit eines sozialen Konsenses überhaupt fehlt“ – als ob nicht überdeutlich wäre, dass die gesamte Bourdieu’sche Theoriebildung vom historischen Stand eines praktisch durchgesetzten und eben nicht verständigten „Konsenses“ ausgeht, der deshalb auch in unterschiedlicher Weise von Gruppen „geteilt“ wird, zwischen denen dann in der Tat Kämpfe um dessen Legitimität ausgetragen werden. Überdeutlich ist aber auch, dass diese Art der „Vermitteltheit“ für die deutsche Sozialphilosophie immer unverständlich bleiben muss, dort, wo sich alles ganz ernsthaft um die kategoriale „Konstitution“ des Zusammenhangs dreht, und die deshalb so ungeheuer steril geblieben ist. 16 Dazu gehört etwa die Feststellung eines sicher noch mehrdeutig gemeinten „bösartigen Blicks“, den Bourdieu in Algerien auszubilden gelernt habe (Honneth 1999: 182). Dann weiter die gewiss richtige, aber doch fast als geschmacklos empfundene Tatsache, dass es Bourdieu in seiner einleitenden Kritik des klassisch „kantschen“ Bildes vom „interesselosen Wohlgefallen“ nicht um die „argumentative Auseinandersetzung mit einer kunsttheoretischen Position, sondern um die soziologische Dekonstruktion der Sphäre des Ästhetischen überhaupt“ gehe (184). Daran anschließend kommt der etwas suggestive Hinweis auf die für einen angeblichen „Marxisten“ wie ein „Denkfehler“ dargestellte Unterscheidungslosigkeit „von produktivem Kapital und unproduktivem Vermögen“ (186), der allerdings im Hinblick auf Bourdieus Klassentheorie schlicht unzutreffend ist. Einige Zeilen danach werden die tatsächlich erheblichen Schwierigkeiten, „kulturelles Kapital“ quantitativ vermessen zu können, gleichzeitig als Beleg für die tendenzielle empirische Unzugänglichkeit dieses Komplexes genommen und als Grund für Bourdieus offenbare Entscheidung, „mit dem weitaus weniger anspruchsvollen Begriff“ des „Bildungskapitals“ zu operieren, auch dies in fast
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der Begriffe „Utilitarismus“, „Ökonomismus“ oder „Reduktionismus“ auf, die trotz ihrer eigentümlichen Repetitivität allein rhetorisch nur empfinden kann, wer den echten Schock nicht begreift, der von einer solchen „Theorie“ ausgeht: Sie bedeutet nämlich die produktive Dekonstruktion sämtlicher Feindbilder der Frankfurter Schule. Bourdieus Soziologie lässt am ökonomistischen Marxismus, am strukturalistischen Reduktionismus, am handlungstheoretischen Rationalismus „rechter“ Prägung ohnehin, im Grunde keinen Stein auf dem anderen – und noch dazu im Rahmen einer empirisch gesättigten Argumentation, die überdies ungeheure herrschaftskritische Ausstrahlung besitzt.17
schon gewollt anmutender Verkennung nicht nur des historisch außerordentlich engen Zusammenhangs beider Größen, sondern auch Bourdieus subtiler methodischer Annäherung an den Gegenstand, die spätestens ein Blick in die Anhänge der Feinen Unterschiede hätte deutlich machen müssen. Und schließlich noch eine Stelle, an der die theoretischen, ästhetischen und moralischen Aversionen seltsam ineinander laufen, bei Honneths Kritik der Bourdieu’schen Darstellung des „Notwendigkeitsgeschmacks“ (192). Denn der letzte Rest einer Verbindung „kritischer“ Theorie mit dem Bewusstsein gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse ist derart beschränkt, dass diese Teile der Untersuchungen Bourdieus deshalb „nicht zum Besten“ gehören, weil der Habitus der einfachen Leute „durch empirische Belege und skizzenhafte Beschreibung aufzuhellen“ versucht wird, wo doch „spannend“ nur die „phänomenologischen Detailstudien“ sein können, „enttäuschend“, weil die „Einzelbeobachtungen hastig wieder in das theoretische Schema des proletarischen Habitus gezwängt werden“, wo doch Platz sein müsste „für die anders gelagerten Bedeutungen einer Alltagskultur“ und deren „expressive oder identitätsverbürgende Elemente“, für die Bourdieu kein, wohlgemerkt, „theoretisches“ Sensorium entwickle. Dieser in den Grenzen phänomenologischer „Einfühlung“ oder „theoretischer“ Explikation gefangene AntiEmpirismus, der sich mit seinem letztlich romantisch gefärbten Normativitätsdiskurs nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch auf der richtigen Seite weiß, wirkt gerade deshalb etwas geschmäcklerisch, weil sich bei Bourdieu nicht nur feine „Detailstudien“ zu den „expressiven“ und „identitätsverbürgenden“ Elementen der proletarischen Alltagskultur finden, sondern auch eine kaum verhohlene, wenn auch darin reflexive Zuneigung, eine Art von Mitgefühl, das allerdings, anders als bei der Kritischen Theorie, an den realen Zwängen und nicht den „theoretisch“ normativen Ansprüchen auf „Anerkennung“ entsteht. 17 Deutlich wird diese Herausforderung auch daran, dass Honneth trotz seiner zwei Jahre zuvor erfolgten „Abrechnung“ in der Kölner Zeitschrift Bourdieu an der Maison des Sciences de l’Homme befragt hat (Bourdieu et al. 1986) und im vorangestellten Editorial das Interesse an Bourdieu ganz klar mit dessen Beiträgen „zu einer empirischen Kultursoziologie in herrschaftskritischer Absicht“ begründet. Dort zeigt sich aber auch, dass gerade Honneth immer wieder mit dem Problem ringt, ob Bourdieu nicht den Strukturalismus „nur um den Preis einer Wiedereinführung des utilitaristischen Paradigmas der Nutzenmaximierung“ über-
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Gerade aber diese unorthodoxe Austreibung der reduktionistischen Geister des sozialen Denkens scheint einen weiteren Rückzug der Kritischen Theorie ins „Normative“ zu erzwingen, nachdem doch die Bourdieu’sche „Kulturtheorie“ als „Klassentheorie“ angestammte Gebiete der Frankfurter Schule zu besetzen im Begriff war. Anders ist nicht zu erklären, dass die rhetorische Einstimmung auf den reduktionistischen „Utilitaristen“ Bourdieu derart grobschlächtig verfährt – hier wird der Gegner so zurechtgestutzt, dass er auf dem „theoretischen“ Rückzugsgebiet der Frankfurter Schule den Kampf eigentlich nur noch verlieren kann. Denn was sich im Text immer wieder nur als eine Art Einschub in die Erläuterungen durchringen muss, so die Darstellung, dass dem Begriff des „Habitus“ ein „reduktionistisches Vorstellungsmodell“ zugrunde liege, Bourdieu die gruppenspezifischen Verhaltensmuster „strikt“ unter dem „funktionalistischen Gesichtspunkt der kulturellen Anpassung an soziale Klassenlagen interpretiert“ habe, eine Deutung, die jeden verwundern muss, der Die feinen Unterschiede unvoreingenommen gelesen hat und umso befremdlicher wirkt, weil gerade das Habituskonzept zu dieser Zeit einhellig als produktive Begriffsbildung aufgefasst wurde, die dem Verhältnis von „Handlungstheorie“ und „Strukturtheorie“ eine ausgesprochen „dialektische“ Fassung gibt (Honneth 1999: 192),18 dieses grundsätzliche Unbehagen bricht dann in der Gesamtbewertung des „kultursoziologischen Werks“ vollends heraus. Und es lässt sich dabei durch „selbst die überraschendsten Entlarvungen und die triftigsten Deutungen“ nicht irre machen: „Bourdieus Theorie der Alltagskultur, das konzeptuelle Bindeglied seiner empirischen Analysen, ist verwirrend, ja zweideutig; selbst wenn wir davon jedoch absehen, bleibt eine Unstimmig-
winden könne (1986: 151), man in seiner Theorie nicht „immer ein Stück unbewältigten Utilitarismus“ vermuten müsse (1986: 155). Was allerdings im Gespräch wie ein Nebenschauplatz wirkt, war in Honneths Aufsatz bereits unfreundlich in den Vordergrund getreten. 18 Die Tatsache, dass der „Funktionalismus“, trotz „unglücklicher“ Annäherungsversuche (vgl. Joas 1986) seit jeher eines der Schreckgespenster der Kritischen Theorie gewesen ist, verleiht diesem Verdikt natürlich ein besonderes Gewicht. Nur ist dann weder verständlich, weshalb Honneth, gut funktionalistisch, von – offensichtlich höheren – „Aufgaben“ einer kollektiven Identitätssicherung spricht, noch, weshalb er übersieht, dass Bourdieu so etwas nirgendwo tut. Ein derartiges rhetorisches Vorgehen wird selbst durch die Vermutung nur schlecht entschuldigt, dass damals Bourdieus epistemologischer „Wegeweiser“ in die Soziologie, Le metier du sociologue (1968), noch nicht im Deutschen erhältlich war. Denn was dort an Möglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung vorgeführt wird, hat mit „Funktionalismus“ ebenso wenig zu tun wie Bourdieus „Kulturtheorie“.
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keit, die Bourdieus Theorie im Ganzen innezuwohnen scheint“ (Honneth 1999: 197).19 Der Versuch einer Erläuterung dieser „Unstimmigkeit“ ist dann allerdings auf sehr eigenwillige Interpretationen angewiesen, deren Missverständnisse fast schon „strategisch“ anmuten. Denn nur, wenn Lebensformen und Geschmackseinstellungen bei Bourdieu „eine rein instrumentelle Funktion“ ausüben, nämlich das Verhalten der Mitglieder sozialer Gruppen „genau die strategisch angemessenen, also auf die Verbesserung ihrer sozialen Position gerichteten Handlungen“ vollziehen lassen, entsteht jene „Diskrepanz“ zum Begriff der „Distinktion“, dem die Annahme zugrunde liege, „dass die sozialen Gruppierungen sich untereinander zu unterscheiden versuchen, indem sie wechselseitig voneinander abgegrenzte Lebensstile einzuüben lernen“ (Honneth 1999: 197-198). Aber auch wenn unschwer zu erkennen ist, worauf diese Argumentation abzielt: auf die Behauptung des Auseinanderfallens von zwei – bei Bourdieu in ihrem Verhältnis nicht „hinreichend geklärten“ – „Funktionsbestimmungen“ klassenspezifischer Lebensstile (Honneth 1999: 198), also eines Nebeneinanders von „utilitaristischen“ und „normativen“ Dimensionen der Lebensweise, wird sie dadurch nicht richtiger, sondern stellt sich auf groteske Weise als „kategorial“ befangen dar. Die derart „strategisch“ erscheinende Dichotomisierung der Bourdieu’schen Theoriearchitektur ist hier nämlich nur Ausdruck des eigenen, akademisch angezüchteten Unvermögens, über die soziale Welt „theoretisch“ nicht anders als in Kategorien von „Interesse“ und „Moral“ denken zu können: Obwohl oder gerade weil sich der Entwurf Bourdieus so quer zu den epistemologischen Gegensatzpaaren der humanwissenschaftlichen Theoriegeschichte bewegt, wird immer wieder der Rückgriff auf begriffliche Schablonen nötig, die dann als vermeintliche Beschreibungen eines „Sachverhalts“ im Laufe der Argumentation das Gesagte auf eine Weise ins Grobe rastert, die keinen Zweifel an der Unzulänglichkeit des „Beschriebenen“ lässt. Die „utilitaristischen Gedankenmotive“ und ihre „Ökonomisierung der soziologischen Theorie“ verdichten sich im „Habitus“, einem „reduktionistischen Vorstellungsmodell“ und seinem „strikt“ instrumentellen „Funktionalismus“, der in kulturellen Lebensformen „allein die symbolischen Ausdrucksformen von kollektiven Nutzenerwägungen zu vermuten brauchte“, so dass der „normative“ Grund der symbolischen Kämpfe „im Rahmen des verallgemeinerten Nutzenkonzeptes“, der Vorstellung, die Bourdieus „utili-
19 Dass Bourdieu die für das „Erkenntnisinteresse“ der Frankfurter Schule ganz traditionelle Frage, welche „Rolle“ die „kollektiven Geschmackskulturen in gegenwärtigen Gesellschaften überhaupt spielen“, weder in den Feinen Unterschieden noch anderswo beantworten will, und uns darüber keineswegs „eigentümlich im Unklaren lässt“, sollte an dieser Stelle zumindest erwähnt werden.
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taristisches Handlungskonzept nahelegt“, tatsächlich „unbegriffen bleiben muss“ (Honneth 1999: 180-182).20 Von solchen Gedanken ist in Bourdieus Text zwar nie die Rede. Aber diese ohnehin schon falsche Unterstellung eines „utilitaristischen Handlungskonzeptes“ wird im Verlauf der Argumentation durch eine immer stärker intentionalistisch gefärbte Sprache „wiedergegeben“, die Bourdieus gedankliche Konstruktion alltagssprachlich weiter banalisiert: Nicht nur die „Handlungsstrategien“, mit denen sich soziale Gruppen „zu behaupten versuchen“, sondern auch die „kulturellen Lebensformen“, in denen die sozialen Gruppen „ihre kollektive Identität“ zu „bewahren trachten“, die Frage, weshalb soziale Gruppen ihre Wertmaßstäbe gegenüber anderen Gruppen „durchzusetzen versuchen“, weil sie nämlich „in ihren eigenen Lebensstilen“ nicht nur „ein Mittel der Verbesserung der eigenen Klassenposition sehen“, sondern „vor allem den symbolischen Ausdruck eigener Wertvorstellungen“, und eben nicht „in wohlverstandener Nutzenerwägung“ die eigene Alltagskultur „immer“ den Lebensstilen „anzupassen wissen“, die in der Gesellschaft „gerade zur Herrschaft gelangt sind“ (Honneth 1999: 199-200), das alles legt den Schluss nahe, dass hier „vermenschlicht“ wird, was mit den eigenen, den Kategorien der Frankfurter Schule, notgedrungen „unbegriffen“ bleiben muss. Natürlich lässt sich bei Bourdieu keiner der genannten „Defekte“ erkennen. Doch selbst wenn der „Habitus“ nicht gerade eine Konstruktion zur Ausschaltung „rationalistischer“, „ökonomistischer“ oder „utilitaristischer“ Momente der klassischen Handlungstheorie wäre, in den Feinen Unterschieden nicht ständig die relationale Eigenlogik des Verhältnisses von „Habitus“ und „Klassenlage“ betont würde, man dort nicht völlig den Gedanken von irgendeiner Art „wohlverstandener Nutzenerwägung“ zur „Verbesserung“ der eigenen gesellschaftlichen Lage vermieden hätte, dem Leser dabei nicht auf Schritt und Tritt die unzertrennliche Durchsetzung von „Klassenlage“, „Lebensweise“ und „Lebenshaltung“ begegnen müsste, von materieller und symbolischer – und damit auch „normativer“ – Gewalt, selbst dann bliebe der „kritische“ Gegenentwurf in seinen Schablonen befangen.21 Denn hier zeigt sich ein Hang zur Intentionalisierung eines kollek-
20 Selbstverständlich ist dieser akademische „Hospitalismus“ der Frankfurter Schule kein Einzelfall, sondern nur ein besonders prominentes Beispiel für die gründlich anerzogene, bis in die Tiefen der Fächer und Unterfächer reichende, mit eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Ausdrucksweisen ausgestattete „Besetzung“ der universitären Arbeit, die deshalb meist ein unüberwindliches Hindernis für den intellektuellen Dialog, und nicht nur in den Humanwissenschaften bleiben wird. 21 Bourdieu selbst hat diesen „eingebauten“ akademischen Reduktionismus in unzweideutiger Weise beim Namen genannt (vgl. Bourdieu 1989), eine Antikritik, deren Lektüre die hier vorgetragene Argumentation „theoretisch“ eigentlich
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tiven „Kampfes um Anerkennung“, der den bei Bourdieu so massiv unterstellten „Reduktionismus“ selbst nun auf dem Feld der „Moralphilosophie“ verankert.22
D AS N ORMATIVE UND DAS F AKTISCHE : D IE S OZIALPHILOSOPHIE FLÜCHTET ZURÜCK IN DEN E LFENBEINTURM Die Implikationen einer solchen kollektiven Bewusstseinsphilosophie normativer Auseinandersetzungen haben auch für ihren „kritischen“ Anspruch fatale Konsequenzen, weil die eigentlich offen zutage liegende „Konvergenz“ der Befunde Bourdieus „mit der These, dass sich in kollektiven Lebensstilen auch konkurrierende Moral- und Kulturmodelle gegenüberstehen“, dort unterbrochen wird, wo wieder nur die Dichotomie zwischen einer „Logik“ der Verteilungskämpfe und der moralischen Kämpfe aufgemacht werden kann, sich die soziale Geltung eines Lebensstils nicht nach einem „Volumen an Wissen oder Reichtum“ bestimme, sondern „nach Maßgabe der Traditionen und Wertvorstellungen, die in der entsprechenden Gesellschaft sozial verallgemeinert und institutionalisiert werden konnten“, also „nach dem Grade, bis zu dem die jeweiligen Handlungsnormen und Wertvorstellungen gesellschaftlich Anerkennung gefunden haben“ (Honneth 1999: 200). Hier wird der Draht zu einer kritischen Gesellschaftstheorie „kategorial“ abgeschnitten, deren Ergebnisse immer darauf verweisen, dass die in ihrem „Ausdruck“ als „Lebensstil“ nach „Wertschätzung“ verlangende „Lebenshaltung“ das praktisch eingelebte Ergebnis einer Geschichte sozialer „Verteilungskämpfe“ ist, bei denen sich „ökonomische“ und „symbolische“ Momente nur um den Preis des „Reduktionismus“ trennen lassen, und die gleichzeitig deutlich machen, dass dadurch Herrschaftsverhältnisse bezeichnet sind, dass es „Sieger“ und „Verlierer“ in diesen Kämpfen gibt, gegeben hat und immer geben wird.23
überflüssig macht, „praktisch“ aber diesem Versuch der Vergangenheitsbewältigung ein gewisses Recht einräumen dürfte. 22 Wie hartnäckig diese reduktionistischen Dichotomisierungen von „Logiken“ des „Interesses“ und der „Moral“ sind, zeigt auch der fast ein Jahrzehnt später unternommene Versuch, immerhin beide „Sphären“ nebeneinander zu stellen: Bourdieus Arbeit gehört nun zu den Ansätzen, die das Spektrum „interessegeleiteter“ Kämpfe „dadurch erweitern wollen, dass sie in die Bestimmung der gruppenspezifischen Reproduktionschancen kulturelle und symbolische Güter miteinbeziehen“, während an einem „kollektiven Unrechtsempfinden“ ein „Konfliktmodell“ ansetze, das Entstehung und Verlauf sozialer Kämpfe auf „moralische Erfahrungen“ zurückführt, wobei das „anerkennungstheoretische Modell“ das „utilitaristische Modell“ nicht „ersetzen, sondern allein ergänzen“ will (Honneth 1992: 265). 23 Die abschließend aufgeworfene Frage, ob Bourdieu das „grundlegende Problem, wie nämlich innerhalb einer Gesellschaft die Wertschätzung, der Distinktions-
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Was mit dieser „kritischen“ frühen „Darstellung“ des „kultursoziologischen Werks“ beginnt, endet mit ihr in gewisser Weise auch: Die „theoretischen“ Argumente, die in der Folge gegen Bourdieus Klassenanalyse vorgetragen werden, ähneln sich in solch frappierender Weise, dass man hier von einem diskursiven Konsens, der letztlich hermetische Anlage eines gesamten Denkstils ausgehen muss. Dass zu diesem Habitus nicht nur reflexartig zahllose Wiederholungen der „reduktionistischen“, „utilitaristischen“ und „ökonomistischen“ Einwände gegen Bourdieus „Kulturtheorie“ gehören, sondern auch „positive“, ausgesprochen aufklärungsgläubige Formen der „Gesellschaftskritik“, zeigt das ganze Dilemma des „Frankfurter Denkens“: Wenn Bourdieus Klassenanalyse die „Lernprozesse“ einer „Gesellschaft“ im Hinblick auf eine Veränderung oder Auflösung von Klassenstrukturen ebenso vernachlässigt wie die „post-konventionellen Lernprozesse“ der „Individuen“, wenn umgekehrt seine „ökonomistische“ Anlage gesellschaftlicher Verhältnisse den „ideologiekritisch“ unverzichtbaren Horizont des „gerechten und freien Tauschs“ aufgibt (vgl. Eder 1989), dann ist hier, in vorauseilendem Gehorsam, der akademische Friede mit der sozialen Wirklichkeit gemacht – der zutiefst beschwichtigende Diskurs des „kommunikativen Handelns“, mit dem die philosophische Deutungshoheit über reale Geschehnisse verteidigt wird, verliert jede herrschaftskritische Dimension. Die politische „Nachgeschichte“ Bourdieus ist dazu nur noch eine Fußnote: La misère du monde, seine „politischen“ Interventionen, sie alle kön-
wert eines Lebensstils sozial festgelegt wird, theoretisch einfach übergangen“ habe, oder ob er nicht doch die „irrige Vorstellung“ erzeuge, „als ob die soziale Anerkennung eines Lebensstils und der in ihm verkörperten Werte auf demselben Wege zu erwerben seien wie ein ökonomisches Gut“, zeugt von den abstrusen Denkverboten der Kritischen Theorie: Alle empirischen Belege für das herrschaftsdurchwirkte Verhältnis von „Lebensstil“ und „sozialer Anerkennung“ sind ohne – die „richtige“ – „Theorie“ vergeblich, stichhaltig aber die „theoretische“ Unterstellung einer bei Bourdieu scheinbar platt materialistischen Weltanschauung. Es ist ein Glück für die Geschichte nicht nur des sozialwissenschaftlichen Denkens, sondern auch einer kritischen Gesellschaftstheorie, dass Bourdieu, unter Inkaufnahme dieses „gravierenden Missverständnisses“, vor dem ihn nur „eine entschiedene Preisgabe des utilitaristischen Rahmens“ seiner, immerhin „empirischen“, Studien hätte „bewahren können“ (Honneth 1999: 201-202), einen weniger leichten Weg gewählt hat. Eine „kritische Theorie“ jedenfalls muss sich hier mit der aufs Neue beschworenen „Eigenlogik“ der „moralischen“ Dimensionen gesellschaftlichen Lebens, ihrer „kategorialen“ Andersartigkeit, vollends aus dem „Sozialen“ der „Sozialphilosophie“ verabschieden, auch wenn sie sich selbst als Rettung des kritischen Potentials der Frankfurter Schule begreift (vgl. nur Honneth 1986). Diese Insistenz auf eine „akademische Lösung“ des „Problems“ ist umso unverständlicher, weil gerade dieser Diskurs wirklich niemandem „wehtut“, die Forschungen Bourdieus aber offensichtlich nicht nur den akademischen Kreisen.
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nen diesen akademischen Konsens nicht in Frage stellen, dass eine „kritische“ Theorie sich unbedingt im engeren Sinne „politischer“, möglichst „empirischer“ und letztlich auch „theoretischer“ Einlassungen darüber zu enthalten habe, dass es in unseren modernen Gesellschaften Menschen gibt, die nicht nur „diskursiv“, sondern tatsächlich, „objektiv“ wie „subjektiv“, im Bild jeder Wahrnehmung, schlechter gestellt sind. Die „Paradoxien“ des Bourdieu’schen Engagements spiegeln die Widersprüche des akademischen Milieus in dieser Frage beispielhaft. Denn hier wird nun umgekehrt ein angeblicher ethischer „Dezisionismus“ Bourdieus bemängelt, der allerdings in der Tat alle Gepflogenheiten der professoralen Zurückhaltung in politischen Fragen außer Kraft setzt (vgl. etwa Eickelpasch 2002). Dabei ist die Sensibilität des akademischen Habitus für das mögliche „Andere“ seiner Selbstgenügsamkeit zwar so ausgeprägt, dass sich dieser Schock nur in übertreibender und abschätziger Form ausdrücken lässt: Bourdieu, der scheinbar in den Medien eine „derartige Omnipräsenz genießt“, um damit ein „erhebliches Störpotential für den Pragmatismus der Regierenden in Europa“ entfalten zu können, sieht sich „zunehmend in der Rolle eines Vordenkers“ für eine „wiedergeborene absolute Linke“, seine „Attacken und Appelle“, seine „politisch moralisierenden Statements“ weisen in ihrer „provokanten Unmittelbarkeit“ einen „Hang zur medialen Selbststilisierung“ auf, der hier nur als ein „irritierender Bruch“ zwischen seinem „Gestus“ wissenschaftlicher Seriosität und der „zunehmenden Radikalisierung seiner politischen Einlassungen“ wahrgenommen werden kann (Eickelpasch 2002: 49-50).24
24 Die hier kaum gezügelten Aversionen des akademischen Habitus verschleiern der eigenen Selbstgenügsamkeit natürlich einige nicht unerhebliche Tatsachen: Erstens die wirklichen medialen „Omnipräsenzverhältnisse“, deren Untersuchung unbedingt zu den Aufgaben einer „kritischen“ Gesellschaftswissenschaft gehörten, in denen diese Wissenschaft faktisch aber nur die Rolle eines Handlangers spielt, zweitens die mediale Selbststilisierung eines immer größeren Teils der diskurskonformen akademischen Gemeinden, gegen die sich Bourdieus Einmischungen hoffnungslos marginal ausnehmen, drittens die Selbstreflexivität dieser „Einlassungen“, wie man sie etwa in Sur la télévision nachlesen kann, schließlich und vor allem die wissenschaftlichen Grundlagen dieser „Attacken und Appelle“ – Bourdieu versteht auch seine „ideologiekritischen“ Stellungnahmen ganz selbstverständlich als Konsequenz von Forschung, nur eine schlichte Bibliographie aller empirischen Studie, mit denen Bourdieu und seine Mitarbeiter seit den sechziger Jahren eine „kritische“ Analyse des Bildungswesens, der Wissenschaft, des „Staates“, der idéologie dominante, des politischen und ökonomischen Feldes und ihrer später immer sichtbareren Verwerfungen vorgenommen haben, vor allem auch der Hinweis auf die umfangreiche, forschungsgesättigte Literatur der Actes de la recherche en sciences sociales zu diesen politisch-ökonomischen Verwerfungen selbst, würde jeden akademischen „Artikel“ schon vom bloßen Umfang her in den Schatten stellen (vgl. insgesamt Egger & Pfeuffer 2002). Im Übrigen ist hier auf die nicht erst „in den letzten Jahren“, sondern die dem
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Aber zu diesem Habitus gehört auch, eine „grundsätzlichere Frage“ nach dem „Verständnis von Gesellschaftskritik und verändernder Praxis“ zu stellen, das sich aus Bourdieus „theoretischen Prämissen“ ergibt. Der gefühlte „gesellschaftskritische, emanzipatorische Anspruch Bourdieus“ steht dann sehr schnell „in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu seiner Theoriebildung und seinen materialen Gesellschaftsanalysen“, in denen er „von einer zähen, in unbewussten Denk- und Reaktionsschemata verankerten Statik der etablierten gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeht“ (Eickelpasch 2002: 50).25 Wie kann eine solch „deterministische Sicht der sozialen Welt“ mit Bourdieus „ethischem Dezisionismus“ zusammengehen? Die Antwort ist, wenn man und weil man über eine nicht empirische, von „materialen Gesellschaftsanalysen“ unbelastete Sicht der Dinge verfügt, nur beredtes Schweigen – die von Bourdieu „unterstellte Omnipräsenz von Macht und Herrschaft“ wird zwar empfunden, um der „theoretischen“ Möglichkeit der Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft willen aber verurteilt, weil sich die „Überwindung“ realer Herrschaftsverhältnisse nur noch in der selbstvergessenen akademischen Hermeneutik von „Kommunikationsverhältnissen“ abspielt.26 Es sind die Regeln dieses Spiels, von denen grund-
akademischen Gesichtsfeld erst jetzt wahrnehmbaren „politischen“ Stellungnahmen zu verweisen, mit denen Bourdieu seit Beginn der sechziger Jahre gerade die intellektuelle Welt immer wieder zur Reflexion aufgerufen hat (Bourdieu 2002). 25 Es würde dieser Kritik allerdings Unrecht getan, wenn man nicht zumindest erwähnte, dass ähnlich geartete Einwände eine der wesentlichen Irritationen im Angesichts der Bourdieu’schen Soziologie ausdrückten – und fast schon nicht mehr zu beziffern sind. 26 Dass der immer wieder als „Determinist“ klassifizierte Soziologe nun eine Wandlung zum „Dezisionisten“ durchgemacht hat, zeigt die völlige Sterilität gerade solcher Diskussionen, in die dann auch jene Fragen nach dem „Maßstab“ einer „kritischen“ Sozialwissenschaft gehören, wie sie nur der hermeneutische Vorbehalt in der Sozialphilosophie „richtig“ erst zu stellen meint. An den Maßstäben einer derartigen „Wissenschaft“ lassen sich allerdings kaum mehr als kategorial verbrämte Selbstverweise erkennen, die aber eines wirklich leisten: einen erstaunlich hermetischen Deutungsanspruch zu betonieren, der jeden kritischen Zug einer „Wissenschaft vom Menschen“ im gedanklichen Kreisverkehr akademischer Scholastik still stellt. Denn der kritische Maßstab der Soziologie sind doch nur diese Verhältnisse selbst, ist das Willkürliche im Gegebenen, das Gemachte im Bestehenden, die Genese ihrer Geltung, ihre kritische Leistung besteht darin, eben die Diskrepanz von Geltung und Genese empirisch zu verdeutlichen – auf das „verzweifelte und aussichtslose Bemühen“, sich „wie Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem Meer der Kontingenzen“ zu ziehen (vgl. Eickelpasch 2002: 60), läuft deshalb nicht Bourdieus reflexive Soziologie, sondern der Begründungsvorbehalt der „kritischen“ Sozialphilosophie hinaus. Eine Ahnung davon, weshalb selbst der gutwilligste Versuch, im Kern der beiden „Projekte“,
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sätzlich Enthaltsamkeit in gesellschaftspolitischen Fragen, gerade von der soziologischen Abteilung des Elfenbeinturms erwartet wird, derart tief verinnerlicht, dass sich die faktisch ohnmächtige Stellung des homo academicus nur als theoretisch wortreiche Verbrämung des Verzichts auf Stellungnahme erweisen kann.27 Aber wenn die Begegnung der Frankfurter Schule mit Bourdieus „Kultursoziologie“, die ganz unmissverständlich auch „Klassentheorie“ war und sein wollte, den endgültigen Rückzug des „kritischen“ Denkens aus dem Zusammenhang der Artikulation von Herrschaftsverhältnissen besiegelt, dann wird mit ihr auch das Ende ihrer eigenen Wirksamkeit offenbar: Die weitere theoretische Sublimierung ihrer Ausgangsfragen in der „Auseinandersetzung“ mit Strömungen des Pragmatismus, mit Foucault, Derrida, mit den „philosophischen“ Herausforderungen dessen, was als „Gesellschaftskritik“ wahrgenommen wird, hat längst das Verfallsdatum einer genuinen, auf reale Phänomene gerichteten „kritischen Theorie“ überschritten, hat sich in den „Kulturwissenschaften“, die nun ihre eigene Geschichte schreiben, derart aufgelöst, dass kaum mehr bleibt als ständige Huldigungen an ihre „demokratischen“ Wurzeln – zu wenig selbst für ein „philosophisches“ Programm. In einer Geisteslandschaft, die mehr als jede andere den unpolitischen, ihren eigenen Voraussetzungen gegenüber fast apolitischen Denkstil pflegt, sind die konkreten Erträge der Bourdieu’schen Soziologie bis heute nur auf eher abgelegenen Gebieten zu erkennen, ihre „starken“ Begriffe gut vermarktetes Allgemeingut, die gesamte Art der Argumentation aber hat im Zentrum des deutschen Denkens nie heimisch werden können. Natürlich konnte diese Art von Wissenschaft, eine Wissenschaft nicht nur von den sozialen Anfangsgründen unseres Weltverhältnisses, sondern den Dimensionen der „Herrschaft“, die diesem Verhältnis innewohnen, auch in ihrem Herkunftsland nie wirklich in den erlauchten Kreis der „Lehrmeinungen“ dringen, dessen Grenzen das soziale Denken überwacht. Aber die Reaktionen der „kritischen“ Theorie auf diese Herausforderung zeigen besonders deutlich die intellektuellen Beschränkungen eines akademischen Hospitalismus, der Angst bekommt, wenn sich die eigene Welt öffnet, der nur mit
dem der „Kritischen Theorie“ und Bourdieus Soziologie, Ähnlichkeiten zu entdecken, am Ende auf Bourdieus „erkenntnistheoretisch unausgewiesenen normativen Standpunkt“ verweisen muss, vermitteln auch noch ausgesprochen positive Kommentare (vgl. Bauer & Bittlingmayer 2000). 27 Daran ändern „Stellungnahmen“ nicht das Mindeste, die wenigstens Habermas in seinen „kleinen politischen Schriften“ auf mittlerweile ein Dutzend Bände gebracht hat, zuletzt wieder über den Sog der Technokratie (Habermas 2013) – zu wenig schmerzhaft sind diese Positionierungen schon immer gewesen, und der Sturm im Wasserglas, den Habermas Mitte der 1980er mit dem „Historikerstreit“ entfacht hat, zeigt deutlich, wie selbstreferentiell diese Einlassungen allein im intellektuellen Feld verankert sind.
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Stereotypen auf das Neue zu antworten in der Lage ist, der nicht wahrnehmen will und nicht annehmen kann, dass ihre Welt eine andere imaginiert als das, was „draußen“ geschieht. Die Durchsicht der deutschen Rezeption Bourdieus belegt dieses Muster immer wieder aufs Neue: Die „kritische“ Theorie kann sich grundsätzlich nicht mit einer Wissenschaft anfreunden, von der ganz zu Recht immer das Gegenteil behauptet wurde: Nämlich dass sie die ganze Brutalität von sozialen Verhältnissen zeigt, die jenseits aller „normativen“ Kraft zur Verständigung liegen.
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Distinktion, Heteronomie und Eindimensionalität im Denken von Bourdieu und der Kritischen Theorie T ATJANA F REYTAG
Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa entfaltende kritische Denktradition, welche ihre Spuren in den Begriffen der Gesellschaft und des Politischen hinterlassen hat, weist unterschiedliche Entwicklungsstränge auf. Deutlich unterscheidet sich dabei das reformistische Ideal Englands von der revolutionären Emphase Frankreichs, wie denn das positivistische Sozialwissenschaftsideal Frankreichs sich deutlich von den dialektischen Analysen eines Marx und der Verstehenssoziologie Max Webers in Deutschland unterscheidet. Als paradigmatisch für die Divergenzen und Konvergenzen der verschiedenen Entwicklungsstränge können die Denker der Frankfurter Kritischen Theorie auf deutscher und Bourdieu, einer der herausragendsten Soziologen der letzten Dekaden, auf französischer Seite gesehen werden. Beide Seiten sind der infolge der europäischen Aufklärung sich nach und nach herausbildenden, allgemeinen kritischen Denktradition zuzurechnen. Die Beziehung zwischen dem Denken Bourdieus und der Hauptausrichtung der klassischen Kritischen Theorie ist eine ihrem Wesen nach divergente. Dies nicht etwa, weil die gesinnungsmäßige Emanzipationsemphase dem Denken Bourdieus fremd wäre (die Auseinandersetzung mit den Defiziten moderner Gesellschaften darf als zentrales Anliegen seines Werkes gelten), sondern weil sich aus dem jeweiligen Ansatz beider Denkuniversen ein unterschiedliches Verständnis von dem, was sich an gesellschaftlicher Emanzipation erwarten lässt bzw. unter den bestehenden Strukturen überhaupt ermöglicht, ableitet. Dem mag zugrunde liegen, dass die Denker der Kritischen Theorie sich einem Theorieverständnis verpflichtet wissen, welches das Ganze mitbedenkt, wenn es sich dem empirischen Detail bzw. diesem oder jenem konkreten sozial-kulturellen Aspekt zuwendet (so redet etwa Adorno vom „universellen Verblendungszusammenhang“ bzw. vom Ganzen als dem Falschen; Marcuse von der umfassenden Eindimensionalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft und Horkheimer von der „total
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verwalteten Welt“. Selbst Benjamin war schon bestrebt, mit den Pariser Passagen Paris als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, mithin als „Hölle“ zu dekodieren und zu ergründen). Dieser Begriff vom Ganzen, der auf Hegels und Marx’ Denkkategorien zurückzuführen ist, ist bei Bourdieu so nicht zu finden (als methodischer wie theoretischer Ansatz). Natürlich weiß Bourdieu um den Gesamtkontext dessen, um was es ihm inhaltlich geht. Nicht die dialektische Wirkmächtigkeit der Wechselbeziehung vom Ganzen und dem Detail arbeitet er heraus, vielmehr ist er bestrebt, die Differenzierung als ein Konglomerat von Unterschiedlichem (die distinction) zu verdeutlichen, wie sie sich in dem niederschlägt und empirisch findet, was er als Habitus oder Feld bezeichnet. Man könnte es sich leicht machen und behaupten, dass der im Wesen empirische Ansatz Bourdieus das Distinktive der realen Heterogenität im Blickfeld behalten muss, was dazu führt, dass das Ganze der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Struktur zwangsläufig in den Hintergrund gerät (wenn es nicht gar ganz in Abrede gestellt wird). Aber das würde eine wichtige Dimension des metatheoretischen Unterschieds zwischen beiden Denkund Forschungsansätzen außer Acht lassen: Denn während der Ansatz der Kritischen Theorie von vornherein auf die Durchbrechung jeglicher Affirmation des strukturell falsch Bestehenden ausgestellt ist, erweist sich der Ansatz Bourdieus letztlich als im Wesen bestätigend: Es geht ihm um die Sichtung des zwar gesellschaftlich Generierten, aber nun mal so zustande gekommenen real Bestehenden, das er gegebenenfalls mit der Analyse und Formulierung unterschiedlicher Legitimationsinstanzen für das je Unterschiedliche stützt. Bourdieu weiß sehr wohl um die gesamtgesellschaftlichen Determinanten des habituell Heterogenen, aber nicht um deren Überwindung geht es ihm (jedenfalls nicht in seiner Wissenschaft). Genau um die tendenziell mögliche Überwindung dieser sich als Ganzes manifestierenden Determinanten geht es aber den Frankfurter Denkern, und zwar selbst dann noch, wenn sie zur Einschätzung gelangen, dass diese Überwindung in der gegenwärtigen historischen Phase nicht zu leisten ist. Um dies zu verdeutlichen, seien hier Koordinaten im Werk von Bourdieu und Adorno vergleichsweise erörtert. Bourdieu ist es nicht zuletzt darum zu tun, die traditionelle Dichotomisierung von „hoch“ und „niedrig“ in der Kultur durch Auffächerung aufzubrechen. Dieses Anliegen scheint ihm gerade angesichts der rasanten Entwicklung und Verbreitung der Populärkultur im 20. Jahrhundert unabdingbar, und so versteht sich sein Differenzierungswerk zunächst primär diagnostisch, und zwar sowohl im Hinblick auf das reale Bestehen der unterschiedlichen Kultursphären als auch in Bezug auf ihre so genannte „Legitimität“. Entsprechend unterscheidet er zwischen (1) einer „Sphäre der Legitimität mit universalem Anspruch“, der er die Musik, Malerei und Skulptur sowie Literatur und Theater zuordnet und die sich auf „legitime Instanzen der Legitimation“ berufen kann (etwa Universitäten und Akademien); (2) einer „Sphäre der Praktiken, die der Legitimität teilhaftig werden können“, der er den Film, die Fotografie, den Jazz
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und den Chanson zuordnet und die mit „konkurrierenden Legitimierungsinstanzen mit Anspruch auf Legitimität“ (etwa Kritiker und Klubs) korrespondieren; (3) und einer „Sphäre des Beliebigen im Hinblick auf die Legitimität“ (bzw. der Sphäre der partiellen Legitimität), der er Kleidung und Kosmetik, Innenausstattung der Wohnung, Küche sowie „sonstige ästhetische Wahlen im Alltag (Sportveranstaltungen etc.)“ zuordnet, wobei sich diese Sphäre auf „illegitime Legitimierungsinstanzen“ (wie Haute Couture, Werbung etc.) zu berufen pflegt (Bourdieu 1983: 107). Diese Unterteilung entstammt noch den 1960er Jahren. Von selbst versteht sich daher, dass einiges vom Aufgelisteten mittlerweile eine merkliche Verschiebung erfahren hat. So sind Film, Fotografie und der Jazz längst schon zu anerkannten Medien der „hohen“ Kultur avanciert, wohingegen das klassische Chanson inzwischen nahezu verschwunden ist. Und wenn man heute die zahllosen Kanäle gängiger TV-Kultur durchforstet, scheint es so, dass Küche und Kleidung sich längst nicht mehr um Instanzen der Legitimität zu bemühen brauchen: Nicht nur findet man viele Kanäle, die sich gänzlich der Mode mit all ihren offiziellen Zweigen und subkulturellen Praktiken widmen, sondern selbst Kochsendungen – früher eher als behäbiges kulturelles Nebenher gehandhabt – haben mittlerweile Kult- und Starstatus mit dazugehörigem Glamour erlangt. Dabei wertet Bourdieu nicht, sondern ist bemüht, die jeweiligen Kultursphären zunächst als solche zu registrieren und aus ihrer inneren Logik heraus zu begreifen. Es liegt klar auf der Hand, dass er sich darin einerseits einem allgemeinen – wenn man will, anthropologischen – Kulturbegriff verpflichtet weiß, andererseits aber auch dezidiert darauf aus ist, den normativen Status der unterschiedlichen Sphären als Resultat ihres gesellschaftlichen Kontexts (also heteronom) zu ergründen und nicht vordringlich aus der Immanenz ihrer Inhalte und Gehalte. So besehen wäre die späte Akzeptanz von Film, Fotografie und Jazz in erster Linie das Resultat sozialer Kanonisierungsprozesse und struktureller Verschiebungen im Bereich der Rezeption und des eher kontingenten Publikumsgeschmacks. Bourdieu sieht sich davon nicht abgeschreckt, sondern will ganz im Gegenteil die unterschiedlichen Praktiken als solche allesamt als „legitim“ verstanden wissen. Der hochkarätige „Problemfilm“ (wie er früher genannt wurde) hätte entsprechend dem Genre des Westerns an sich nichts vor; allenfalls wäre der Grad der Dekodierungsfähigkeit des jeweiligen Werks in beiden Schaffensbereichen zu differenzieren, was aber für sich genommen noch nichts über den inhaltlich-gehaltlichen Anspruch der Werke selbst aussagt, sondern lediglich über das Niveau des Rezipienten/der Rezipientin bzw. das Rezeptionsniveau. Der Western mag demnach komplex rezipiert werden wie denn das anspruchsvolle Werk „flach“ bzw. inadäquat. Adornos im Spätwerk zunehmend radikalisierte Dichotomisierung von autonomer Kunst und Kulturindustrie weiß sich einer ganz anderen intellektuellen Emphase verpflichtet. Auch er weiß um die Realität unterschiedlicher Kultursphären; anders aber als späterhin Bourdieu ist er bemüht, auf
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die ideologische Funktion ihrer sozialen Genese und Wirkmächtigkeit hinzuweisen, mithin eine Wertung vorzunehmen, die sich zwar einer akribischen Analyse der Werke und des gesellschaftlichen Kontexts ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung verdankt, zugleich aber auch ihre Rolle bei der Bewusstseinsformung des modernen Subjekts im Auge behält. Bei der Begründung der Verwendung des Kulturindustrie-Begriffs lässt Adorno keinen Spielraum für eventuellen Zweifel aufkommen: Nicht um „etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur“ handle es sich, sondern um „die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst“. Vielmehr füge Kulturindustrie „Altgewohntes zu einer neuen Qualität“ zusammen. „In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch die Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen“. Von Bedeutung ist dabei, dass die einzelnen Sparten der Kulturindustrie sich „fast lückenlos zum System“ ordnen, was sich sowohl durch die Mittel der Technik als auch durch die Konzentration von Wirtschaft und Verwaltung ermögliche. So erweise sich denn Kulturindustrie als „willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben“, zwinge mithin auch die „jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst“ zusammen (Adorno 1977: 337). Adorno unterscheidet aber Kulturindustrie nicht nur von „authentischer Volkskunst“, sondern begreift sie zugleich auch als manifeste Antithese zur („hohen“) autonomen Kunst. Dieser schreibt er als objektivem Gegenentwurf zum repressiv Bestehenden der sozial allgegenwärtigen instrumentellen Vernunft, welcher sich schon von ihrer schieren Zwecklosigkeit herleitet, eine letztlich emanzipative Funktion zu. Er weiß zwar darum, dass auch autonome Kunst als Ware gehandelt werden kann, und doch aber in dem, was ihre Autonomie als ästhetisches Gebilde ausmacht, auch nie in der Ware bzw. in heteronomer Warenförmigkeit vollkommen aufgeht. Davon ausgehend, dass Ideologie „Unwahrheit, falsches Bewusstsein, Lüge“ sei, stellt Adorno fest, dass Kunstwerke „ihre Größe einzig daran“ hätten, dass sie „sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewusstsein hinaus“ (Adorno 1990: 51). Mit Bezug aufs Kunstgenre des lyrischen Gedichts postuliert er, dass in diesem „das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich selbst zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag muss gefunden haben. Er wird umso vollkommener sein, je weniger das Gebilde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je unwillkürlicher es vielmehr von sich aus sich kristallisiert“ (ebd.: 55). Dieses Unbewusste großer Kunst ist, Adorno zufolge, bei standardisierten Produkten der Kulturindustrie verloren gegangen. Denn wenn wahre Kunst immer schon auch, nie aber nur Ware war, versteht sich das Erzeugnis der Kulturindustrie einzig noch als Ware. Entsprechend ist Kulturindustrie nicht auf die Herausforderung des Bewusstseins, auf kritische Hinterfragung seiner ideologischen Strukturen aus, sondern ganz im Gegenteil auf
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seine manipulative Trübung, auf seine Reproduktion als Bewusstsein von perpetuiertem Immergleichen und Stereotypischen. Was also Bourdieu als Differenz im Bestehenden festmacht, gilt Adorno angesichts des falsch Bestehenden als Ideologie der Differenz. Wenn Bourdieu dezidiert auf die Herausarbeitung der Distinktion von Kunstgeschmack unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zielt, begreift Adorno die Verhältnisse einer im Wesen repressiven Gesellschaft als Ferment vermeintlicher Distinktion, die in ihrer Scheinhaftigkeit ideologischer Integration umso effektiver zuspielt. Der Unterschied zwischen den beiden Denkern könnte in dieser Hinsicht kaum deutlicher sein: Während Bourdieu das Bestehende als Realität sich herausbildender Heterogenität und Differenz begreift, nimmt sich für Adorno dies real Bestehende als Erzeugnis einer im Wesen repressiv verlaufenen zivilisatorischen Herrschaftsgeschichte aus, die im modernen Kulminationspunkt des Spätkapitalismus nicht nur seichte Massenkultur, sondern eben auch Auschwitz gezeitigt hat. Dass für ihn beide in ein und derselben Logik menschheitsgeschichtlicher Tendenz angelegt sind, lässt sich schon daran ablesen, dass das Kulturindustrie-Kapitel nicht weniger als im Zentrum der „Dialektik der Aufklärung“ postiert ist – zwischen dem ersten Kapitel, das eine geraffte Zivilisationstheorie anbietet, und dem letzten, das sich mit „Elementen des Antisemitismus“ befasst (Horkheimer/Adorno 1947, 1988). Das darf nicht missverstanden werden. Bourdieus Werk weist sehr wohl einen emanzipativ ausgerichteten Aufklärungsimpuls auf, wie sich denn Adornos soziologische Emphase durch eine differenzierte Kategorienbildung im Empirischen auszeichnet. Mag sich Adorno bei der Darlegung „Typen musikalischen Verhaltens“ noch so bescheiden und behaupten, sie seien „lediglich als qualitativ bezeichnende Profile gedacht, an denen etwas über musikalisches Hören als einen soziologischen Index, möglicherweise auch über seine Differenzierungen und Determinanten aufleuchtet“ (Adorno 1975: 15). Was er dann aber an Typen besagten musikalischen Verhaltens darstellt und ausleuchtet – etwa den Typen des „Experten“, des „guten Zuhörers“, des „Bildungskonsumenten“, des „emotionalen Hörers“, des „Ressentiment-Hörers“ oder des Hörers von „Musik als Unterhaltung“ – kann es, selbst noch als idealtypisierende Entwürfe, nicht nur mit jeder quantitativempirischen Forschung des musikalischen Rezeptionsfeldes aufnehmen, sondern bezieht im Typologisierenden noch Seitenaspekte dessen ein, was den relevanten Bezug zum gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang musikalischer Rezeption erst ausmacht. Dabei geht Adorno sehr wohl vom Bestehenden aus, verrät mithin nicht die soziale Realität dessen, was es zu deuten oder auch zu entlarven gilt, ohne jedoch je die normative Matrix der Einsicht in die ideologischen Strukturen bzw. die Strukturen des falschen Bewusstseins, die im Ganzen als Falschen bzw. im umfassenden Verblendungszusammenhang notwendig angelegt sind, zu verlassen. Ähnlich wie bei Walter Benjamin ist auch bei Adorno das konkrete Einzelne der Ausgangspunkt für den Nachweis der Wirkmächtigkeit des falschen Ganzen, die
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gleichsam monadenartige Einfassung der globalen Entfremdung im Einzelnen. Die gesellschaftskritische Emphase lässt sich freilich auch bei Bourdieu (zumindest beim frühen Bourdieu) deutlich ausmachen. Als paradigmatisch hierfür darf sein im Jahr 1970 publizierter Aufsatz „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“ gelten, in welchem er sowohl die Voraussetzungen angemessener Kunstwahrnehmung im Hinblick auf die Immanenz des rezipierten Kunstwerks als auch die sozialen Bedingungen der Kompetenzaneignung für besagte Rezeption des Kunstwerks akribisch darlegt und erörtert. „Als Schlussstein eines Systems, das nur funktionieren kann, wenn es seine wahre Funktion verschleiert, erfüllt die charismatische Vorstellung von ästhetischer Erfahrung ihre mystifizierende Funktion niemals so gut wie in den Fällen, in denen sie sich eine ‚demokratische‘ Sprache entlehnt. Dem Kunstwerk die Macht einzuräumen, in jedermann die Gabe der ästhetischen Illumination zu erwecken, wie verarmt in kultureller Hinsicht er auch sei, heißt, sich anmaßen, den unergründbaren Zufällen der Begnadung oder der Willkür der Begabungen Fähigkeiten zuzuschreiben, die stets das Produkt einer in ungleichem Maße erteilten und verteilten Erziehung sind, heißt also ererbte Fähigkeiten als eigentümliche, natürliche und zugleich verdiente Vermögen zu behandeln“ (Bourdieu 1974: 200f.). Diese Einsicht gewinnt noch an Verve und Emphase in der Schlusspassage des Artikels: „Die charismatische Ideologie besäße nicht die Macht, die sie effektiv hat, wenn sie nicht das einzig formal unanfechtbare Mittel wäre, das Recht der Erben auf die Erbschaft zu legitimieren, ohne dabei in Widerspruch zum Ideal der formalen Demokratie zu geraten, und wenn sie insbesondere nicht dazu führte, das exklusive Recht der Bourgeoisie auf die Appropriation der Kunstschätze, d.h. ihre symbolische, nämlich einzig legitime Art der Aneignung als ein Naturrecht zu begründen, und das in einer Gesellschaft, die so tut, als überlasse sie allen auf demokratischem Wege die Hinterlassenschaft einer aristokratischen Vergangenheit“ (ebd.: 201). Diese Zeilen erinnern an die Argumentation der klassischen Kritischen Theoretiker. Und doch tritt schon in diesem frühen Aufsatz Bourdieus der Doppelcharakter seines Denkens zutage. Zum einen weist dieses Denken eine marxistische Matrix auf, die nicht zuletzt die ideologische Dimension dessen, was gemeinhin als „Kunstverstand“ oder auch „Liebe zur Kunst“ apostrophiert wird, aufzeigt, und sich dabei auch dezidiert auf den Klassencharakter dieser Ideologie einlässt. Zum anderen ist jedoch nicht minder unabweisbar, dass das, was er bereits in eben diesem frühen Artikel als „symbolisches“, späterhin auch als „kulturelles Kapital“ benennt, sich dahingehend seiner ideologischen Funktion entschlägt, als es als solches auf Kultursphären verstanden wissen will, die (nach Adornos Auffassung) den Bereichen der Kulturindustrie zuzurechnen sind. Diese relative Autonomie des zwar sozial verankerten und doch freischwebenden „symbolischen Kapitals“ birgt eine deutlich affirmative Dimension in sich, die Adorno als das eigentlich Ideologische, mithin zu Kritisierende gesehen haben dürfte. Ob damit
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bereits eine Öffnung zu gewissen Strömungen postmodernen Denkens geleistet wird, ließe sich gesondert erörtern. Im hier anvisierten Zusammenhang lässt sich feststellen, dass das, was Bourdieu als heterogene Auffächerung der Kultursphären anbietet (als Demokratisierung ihrer sozialen wie wissenschaftlichen Wahrnehmung), nicht minder als Legitimation eindimensionalisierender Ideologie begriffen werden kann. Dies darf umso rigider in einem Zeitalter postuliert werden, in dem Kulturindustrie längst schon die ursprünglichen Sphären traditioneller Kunstpraxis überschritten und ihren makabren Einzug in nahezu alle Lebensbereiche erhalten hat. Denn wenn es Bourdieu noch um eine wahrhafte Demokratisierung von Erziehung und damit einhergehender wirklicher Kulturaneignung ging, so ist mittlerweile ebendiese Demokratisierungsemphase in eine krude Ideologie umgeschlagen, die nicht mehr, wie von Bourdieu noch angeprangert, lediglich der herrschende Bourgeoisie zugute kommt, sondern in ihrer expansiven Eigenlogik inzwischen das Bewusstsein der gesamten gesellschaftlichen Hierarchie kolonisiert hat und von dieser mit kaum noch hinterfragbarer Euphorie zelebriert wird. Dass Adorno heutzutage für elitistisch gehalten wird und Bourdieu für demokratisch, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass das, was noch vor einigen Jahrzehnten als „illegitim“ angesehen wurde, mittlerweile die Maßstäbe für das Legitime qua Akzeptierte gesetzt hat. Ob Bourdieu diese ideologische Einebnung im Sinne gehabt hat, darf bezweifelt werden. Dass sie aber in der Logik seines Forschungsansatzes lag, muss gleichwohl angezeigt werden. Es kommt eben darauf an, ob man sich dem rigorosen Diktum Adornos, es gebe kein richtiges Leben im Falschen, zu verschreiben gewillt ist oder nicht. Was hier über das divergierende Denken Adornos und Bourdieus mit Bezug auf ihre Begriffe von Kunst in gesellschaftlichem Kontext dargelegt wurde, lässt sich nicht begreifen, wenn man die hier postulierte Entwicklung einer eindimensionalisierten Diversität bzw. einer Vielfalt auf einer Dimension nicht genau ins Auge fasst. Um dies zu erläutern, sei im Folgenden näher auf diese alt-neue Erscheinungsform der Eindimensionalität eingegangen. Eindimensionalität als Kritik-Begriff steht dem poststrukturalistisch postulierten pluralistischen Vielheitsdiskurs diametral entgegen. Die Betonung von Vielfalt, wie sie im globalen Kapitalismus so eloquent als Aufmarsch, als Feier der ‚multitude‘ praktiziert wird, verschleiert die prinzipielle Vereinseitigung der gegenwärtigen Lebenswelten. Was bedeutet die gegenwärtige Überbetonung von Heterogenität, Differenz und Vielheit, die auch mit Diversity umschrieben wird? Die Neuorientierung in der Thematisierung von Differenz als Normalisierung von Differenz mutet merkwürdig an. Ressourcenorientiert soll der einzelne Mensch nicht mehr in einer Art Mangelperspektive wahrgenommen werden, sondern unter intersektionellem Fokus in seinen Handlungsmöglichkeiten aufblühen. Bourdieu, der ja besonders die Distinktionen in den Alltagskulturen untersucht hat, wusste am Ende genau, dass sich die Handlungsspielräume immer durch die jeweilige Kapital-
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ienausstattung des Einzelnen bestimmen und erdet somit die kulturellen Ausdifferenzierungen sozial. Der inflationäre und diffuse Gebrauch von Diversität, wie er hier und da im Diskurs verwendet wird, gemahnt in diesem Kontext eher an aktivierungspolitische Lebensgestaltungsmaßnahmen, die sich individualistisch an kollektiven- wohlfahrtsstaatlichen Problemlagen abarbeiten sollen. Behauptete Proliferationen von Vielfalt haben dabei numerischen Charakter, weisen keine substanzielle Qualität auf und wiederholen sich oftmals als das Immergleiche. Vielfalt auf einer Dimension meint genau diese Suspendierung qualitativer Vielheit, die mit dem Verblassen des Spannungsgefüges von Besonderem und Allgemeinem verloren geht. Diese falsche, weil verdrehte Einheit, die sich als verkapptes, abgespaltenes Partikulardenken entpuppt, dabei aber das Allgemeine zu vertreten vorgibt, ist der Struktur nach das dem Kapitalismus inhärente Supplement. Vielfalt, im qualitativen Sinne und daher nicht mit numerischer zu verwechseln, wird im globalen Marktgeschehen absorbiert. Homogenisierend wirkt dabei die dem kapitalistischen Produktionsverhältnis konstitutive Logik des universalen Tauschverkehrs, in dem der Gebrauchswert, das Besondere, das spezifisch Eigene, mithin das Historische subsumiert wird unter ein abstraktes Gleiches. Die synthetisierende Abstraktion im Tausch konstruiert auf der Basis von Eindimensionalität eine über die Wirklichkeit der Ungleichheit des Getauschten hinwegtäuschende konstruierte Gleichheit, welche aber dann zur einzig anerkannten Wahrheit avanciert. Von diesem Prinzip der gesellschaftlichen Organisation bleibt auch das Subjekt nicht unangetastet. Bis in den letzten Winkel dringt das Tauschprinzip in die menschlichen Beziehungsverhältnisse, verselbstständigt sich in ihnen ein fetischisiertes Bewusstsein, welches seinerseits den gesellschaftlichen Schein verfestigt. Die Absorption von Vielfalt, wie sie sich unter den Bedingungen eines global entfesselten Kapitalismus durch seine integrativen, homogenisierenden Dynamiken in unterschiedlichster Weise auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollzogen hat und sich fortwährend vollzieht, präsentiert sich im ideologischen Gewand vielfältiger Wahlmöglichkeiten und variierender Erscheinungsbilder. Der stabile Motor einer fortwährenden Reproduktion des Weltmarktes basiert genau auf dieser ideologischen Textur, nämlich auf der Behauptung einer gelebten Wahlvielheit kultureller, ethnischer, geschlechtsspezifischer und religiöser Art (welche sich gemeinhin als diverse Lebensstile gibt). Es handelt sich hierbei zumeist aber um geschlossene Partikularisierungsprozesse, die angesichts der Wirkmächtigkeit einer entfesselten Globalisierung oftmals reaktionäre Wünsche nach Homogenität, nach verhängnisvoller Einwurzelung ‚enracinement‘ (Weil 1956) aufkommen lassen. So hält sich das Ganze in seiner Struktur durch die produzierte Scheinvielfalt in einer Bewegung von Diversifikation und Vereinheitlichung aufrecht. Das Ideologische schlägt sich dabei zweifach nieder, einmal in der Scheinvielfalt der realen Struktur selbst, zum anderen aber auch in der Matrix ihrer
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Wahrnehmung, also der Scheinvielfalt des falschen Bewusstseins dieser realen Struktur. Dabei ist ‚eindimensional‘, und diese Hervorhebung kann gar nicht genug betont werden, nicht mit einem bloßen Vereinheitlichungsprozess zu verwechseln im Sinne einer sich irgendwie vollziehenden Gleichschaltung. Eindimensionalität als Kritikbegriff markiert die Frage nach dem Unterschlagenen, dem Zukurzgekommenen, welches als Latenz mehr und mehr aus dem Blick zu geraten droht und damit das Proportionsgefüge von Einund Mehrdimensionalität zugunsten nur einer Dimension von Vielen auflöst. Eindimensionalität ist nicht zu denken ohne Mehrdimensionalität, diese, hier als qualitative Vielfalt verstanden, kann somit als unentbundene Seite der Eindimensionalität gelten, die in sich schon den Verweis auf Mehrdimensionalität trägt. Sie ist eben Teil jener und ohne ein Bezugsverhältnis gar nicht denkbar. Ein konstruierter Gegensatz würde zur Formel erstarren, die das sie konstituierende Spannungsgefüge stillstellt. Im globalen Kapitalismus stellt Vergleichbarkeit eine zentrale Kategorie des Wettbewerbs dar. Nicht umsonst wird ohne Unterlass evaluiert, werden Maßstäbe geschaffen, um den optimalen Wert von Effizienz zu steigern. Zwar wäre ohne ein effizienzlogisches Denken Kapitalismus kaum vorstellbar, mit dem Wegfall der Bipolarität aber gab es einen zusätzlichen Schub an Ausformulierungen globaler Standards und Normierungen. Die damit verbundenen Durchschnittsvorstellungen avancieren zu der Wertgröße, nach der auf allen gesellschaftlichen Ebenen (nicht nur der ökonomischen) gehandelt werden soll. Standards und Normierungen werden dabei als identifizierbare Quanta gehandelt, die unter allen Umständen das Kriterium der Vergleichbarkeit garantieren und als solche nicht mehr hinterfragt werden. Vergleichbarkeit als zentrale Kategorie im globalen Wettbewerb wird zu einer regelrechten Ordnungsmacht, die für die Restrukturierung zentraler gesellschaftlicher Bereiche geltend gemacht werden (Altvater/Mahnkopf 2002: 51). Dabei ist die Herstellung von Durchschnitten, wie sie beispielsweise sich im Zuge von ‚benchmarking‘ vollzieht, immer auch mit der Reduktion von Vielfalt verbunden und nicht etwa mit einem Zugewinn von Pluralität und Differenz. Das für die kapitalistische Gesellschaft konstitutive Verhältnis der Subjekte zueinander ist vom Tausch durchdrungen. Der Tausch abstrahiert von allen qualitativ besonderen Momenten, um zur formalen Vergleichbarkeit zu gelangen, die ihrerseits nur durch quantitative Abmessung gewährleistet ist. Dieses Strukturmoment der kapitalistischen Gesellschaft überformt den Gebrauchswert und schafft im Tauschwert eine sich auf das rein Quantitative reduzierende Vergleichbarkeit gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit unter dezidierter Aussparung jeglicher Besonderheit. Alles konkret Einzelne wird im Tauschakt subsumiert, unter das Identitätsprinzip abstrakter Vergleichbarkeit gebracht. Nimmt man diese strukturelle Logik des Tausches ernst, ist die Annahme der Vervielfältigung der Differenz, die nach Negri
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und Hardt sich besonders auf dem Weltmarkt realisiere, schlechterdings nicht haltbar. Eindimensional wäre gegenwärtig der Zustand, in welchem dem Wissen diese negative Gewissheit abhanden gekommen ist, ohne sich den Verlust in Erfahrung gebracht zu haben. Es wäre dies dann in der Tat die Manifestierung eines nachkritischen Zustands, der der „Entfesselung, Entwertung und Vergleichgültigung der Kritik“ (vgl. Türcke 1998: 7) entspräche, des Zustands postmoderner Beliebigkeit. In ihm sedimentierte sich ein Denken, welches der metaphysischen Erfahrung der Differenz von Wesen und Erscheinung nivellierte und die Beschränkung auf das rein Faktische fixierte. Auf Transzendenz-Angewiesenheit einer demokratischen Gesellschaft übertragen bedeutet die damit angesprochene Differenz von Sein und Sollen das Verhältnis vom Gegenstand und seinem Begriff. Es ist nach Adorno ein erster Ansatz der Kritik, dass „sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen: die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere.“ (Adorno 1997a: 792f.) Gesellschaftstheorie als Erbin der Aufklärungsbewegung (daher auch ihr notwendig kritischer Charakter) hat sich seit ihrer Entstehung die Erkenntnis der Gegenwart in ihrer Widersprüchlichkeit und Dynamik zum Auftrag gemacht; ohne historischen Zugang ist sie freilich nicht zu haben. So besehen, begreift sich der Zweck kritischer Gesellschaftstheorie im Aufzeigen der Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit. Dass dabei auf Gesellschaft kritisch reflektiert werden muss, ist dem Umstand geschuldet, dass diese zu benennen wäre „als die auf ihren Begriff gebrachte Negativität, welche die Welt so macht, wie sie ist“ (Adorno 1997b: 171). Und wie sie ist, rein deskriptiv festgestellt, befördert das Auseinanderklaffen von human-vernünftigem Potenzial und irrationaler Realität in der Gesellschaft. Dabei gilt es aber festzustellen, dass das, was sich Sozialwissenschaften zu ihrem Untersuchungsgegenstand erwählen, gleichgültig ob subjektiver oder objektiver Beschaffenheit, durch Gesellschaft vermittelt ist. Ihr Untersuchtes ist somit epiphänomenal, selber kein Letztes, sondern stets Bedingtes. Gibt man diese Unterscheidung auf, streicht man mit ihr auch zwangsläufig die von Wesen (Potenzialität) und Erscheinung (bestehende Aktualität). Die Wissenschaft von der Gesellschaft, die die innere normativ geprägte Differenz des Sollens im Sein nicht mehr zu begreifen gewillt ist, die jeden Maßstab für das Richtige abgegeben hat, verüberflüssigt sich geradezu selbst, macht sich zum Tummelfeld bloßer Fassadenkletterer: „Eine Soziologie, die davon sich abdrängen lässt und um des Idols kontrollierbarer Tatsachen willen auf die zentrale Kategorie, die der Gesellschaft selber, verzichtet, durch die alle sogenannten Tatsachen erst vermittelt, wenn nicht überhaupt konstituiert sind, fiele hinter ihre eigene Konzeption zurück und ordnete jener geistigen Regression sich ein, die selbst zu den bedrohlichen Symptomen der totalen Vergesellschaftung zählt.“ (Institut für Sozialforschung 1956: 36).
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Standardisierung und Integration als zentrale Kennzeichen von Eindimensionalität bilden die Klammer um eine fragwürdige Fortschrittsauffassung, die inmitten von globaler Irrationalität partikularen Fortschritt meint. Ein ungehemmter kalter Realismus treibt in der gegenwärtigen historischen Epoche sein Unwesen, dessen unmittelbaren Interessen einzig an das Nützliche und Machbare gebunden sind, wobei diese als allein gültiger Maßstab des objektiv Vernünftigen ausgegeben wird. Von selbst versteht sich dabei, dass sich diese Feststellung nicht gegen den notwendigen Zweckrationalismus einer für die gesellschaftliche Reproduktion unabdingbaren instrumentellen Vernunft geht. Problematisch wird es allerdings, wenn das Nützliche und Instrumentelle als einzig gültiges Richtmaß anerkannt wird. Die Kritik nimmt bei der Erörterung des beschriebenen Gesamtzustands Bezug auf vier Punkte. Erstens die Macht des Faktischen: Der sich gegenwärtig manifestierende Hang zum Faktischen, d.h. zur ablesbaren, nachprüfbaren Tatsache, die in ihrer scheinbaren Konkretion berechenbar und damit eine Anwendungsbezogenheit vorgibt, ist trügerisch. Zweitens Standard und Norm: Im globalen sozioökonomischen Modernisierungsgeschehen wird das Denken und Handeln gegenwärtig vor allem an betriebswirtschaftlichen Kalkülen ausgerichtet. Drittens Liquidierung der Kritik: Die Möglichkeit, ein besseres Anderes zu denken, ist nach 1989 in den Gesellschaftswissenschaften als Utopismus verschrien. Kritik ist nur noch inflationär und verlottert auf der Basis von sogenannter ‚Konstruktivität‘, also positiv zu haben. Viertens Identität und Individualisierung: Ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeits- und Identitätsdiskurse moderner Gesellschaften, die auf unwiderruflichen und Einheit stiftenden Hermetiken basieren, lassen Kultur zur Unkultur geraten, vor allem weil das Individuum dabei durch die gesellschaftlichen Vermittlungs- und Fragmentierungszusammenhänge zum Subjekt einer lediglich formalen Freiheit verkommt. Die andauernde Feier des Selbst und des Eigenen, die Bestrebungen zu einer Rückkehr zum Individuum, ist das im Wesen ideologische Schmackhaftmachen von bloßer Selbstbehauptung in Zeiten erodierender Sozialsysteme. Der Spätkapitalismus sei, so der vorherrschende Diskurs, mit dem Ende der Blockkonfrontation und der angeblich darin angelegten Auflösung der Binär-Codes an sein Ende gekommen und mit ihm die Kategorien einer Kritischen Theorie, die sich aus seiner Negation abgeleitet haben. Ihnen wird ein Veralten nachgesagt, dass sich aus dem Wegbrechen ihres Bezugsrahmens erklären ließe. Solange die Anatomie der gegenwärtigen Gesellschaft jedoch eine kapitalistische ist, leiten sich die Kategorien aus deren immanenten Widersprüchen ab. Das, was sich ändert, sind die über der Struktur liegenden Formgestalten oder Erscheinungsweisen, die es zu dechiffrieren gilt. Eindimensionalität ist, wie hier dargelegt, eine solche aktuelle Dechiffrierungskategorie und setzt als Kritikbegriff dort an, wo die Geschichte bis heute sich als gelebtes Miteinander in Differenz und Vielfalt nicht verwirklicht hat. „Konkreter heißt Dynamik, in der Geschichte bis heute, zunehmende Beherrschung äußerer und innerer Natur. Ihr Zug ist eindimensional,
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geht zu Lasten der Möglichkeiten, die der Naturbeherrschung zuliebe nicht entwickelt werden; stur, manisch das Eine verfolgend, verschlingt die losgelassene Dynamik alles andere. Indem sie das Viele reduziert, potenziell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche, in Statik.“ (Adorno 1997b: 235).1 Dieser verschlingende Charakter von Eindimensionalität, das langsame und unmerkliche Verzehren von Vielheit, das sich so unscheinbar unter der Tarnhülle von global wuchernder Scheinvielfalt vollzieht, ist eben deshalb so fatal, weil es nicht nur den Außenverhältnissen ihr regressives, einfältiges Signum aufprägt, sondern auch die Innendimension der Subjekte nicht unangetastet lässt, sie vielmehr eindimensional abschleift, ausrichtet und abfindet. Dort, wo keine wahrhaftige Kritik mehr gefragt ist, obschon Objektivität sich als kritikwürdig erweist, dort, wo Alternativen nicht mehr denkbar sind, obwohl das Bestehende nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, dort, wo Phantasien verdrängt und Utopien verlacht werden, wo kein Widerspruch sich trotz aller Widersprüchlichkeit mehr regt, waltet das Immergleiche, perpetuiert sich gesellschaftliche Statik, der Stillstand potenzieller Emanzipation ins menschliche Verderben. Wie verhält sich nun das eingangs vorgestellte Denken Adornos und Bourdieus zu dieser Zeitdiagnose einer neuen gesamtgesellschaftlichen Eindimensionalität? Da die Diagnose selbst sich weitgehend auf Kategorien der Adorno’schen Gesellschafts- und Kulturkritik beruft, richtet sich diese Frage primär auf Bourdieus Werk. Das Werk des französischen Soziologen weist die Kategorien der Differenz und der Distinktion auf. Das gesellschaftliche Ganze firmiert bei ihm aber nicht als ein theoretischer Bezugspunkt zum sich im Ganzen heterogen Differenzierenden. Zwar begreift er „die Welt“ außerwissenschaftlich als Ort historischer und sozialer Leiderfahrung, aber dies fasst sich ihm nicht als paradigmatischer Gesamtkontext bzw. bietet sich ihm nicht als wissenschaftliche Matrix seiner Ausrichtung auf das Diversive. Was also Adorno als wesentliche Struktur der spätkapitalistischen Moderne erscheint, muss sich Bourdieu schon rein konzeptuell verschließen: Er kann die Prozesse der Eindimensionalisierung nicht für solche erachten, weil er sich dem strukturelle Blick aufs zivilisatorische Ganze nicht verschreiben will bzw. gar nicht in sein Forschungsblickfeld aufnimmt. Ist dieser Befund Bourdieus als Defizit anzukreiden? Wohl nur dann, wenn man sich den Adorno’schen Denkkategorien verschreibt. Wenn man es aber tut, dann erhebt sich die Frage des Gesellschaftlichen anders als bei Adorno. Dass Gesellschaft schon in ihrer Stratifikation als heterogen zu sehen ist, darf als Gemeinplatz jeglicher Soziologie gelten. Dass, so besehen, der Habitus, die Lebenswelt, das spezifische soziale Feld, Eigenarten aufweist, darf als gesichert erachtet werden. Zu fragen bleibt dennoch, wo und wie gerade diese Differenzen den forschenden Sozial- und Kulturwis-
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Adorno, T. W. (1997b): Negative Dialektik. a.a.O., 235.
D ISTINKTION , H ETERONOMIE
UND
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senschaftler für übergreifende Vereinheitlichungsprozesse, mithin für eine eindimensionalisierende Gesamtausrichtung der Gesellschaft (wie sie zumindest im globalen Tausch als Prinzip des Kapitalismus in der gegenwärtigen historischen Phase nachweisbar ist) blind machen. Im gegenwärtig vorherrschenden akademischen Diskurs mag schon allein diese Frage als unzulässig angesehen, gar behauptet werden, dass es das Normative des Ansatzes gerade einem Adorno, nicht dem „objektiven“ Wissenschaftler anzukreiden sei. Inwieweit sich freilich gerade ein solcher Begriff von Objektivität als Ideologie erweisen mag, wäre gesondert zu erörtern. Dem kritischen Denken muss er schon immer suspekt erscheinen, weil er sich mit dem Bestehenden, mithin dem deskriptiv Feststellbaren und faktuell Hinnehmbaren begnügt.
L ITERATUR Adorno, T. W. (1975): Einführung in die Musiksoziologie. Frankfurt/Main. Adorno, T. W. (1977): Resume über Kulturindustrie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1. Frankfurt/Main, 337-345. Adorno, T. W. (1990): Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11. Frankfurt/Main, 64-105. Adorno, T. W. (1997a): Kritik. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 10.2. Frankfurt/Main, 785-793. Adorno, T. W. (1997b): Negative Dialektik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt/Main, 7-412. Altvater, E./Mahnkopf, B. (2002): Globalisierung der Unsicherheit. Arbeit im Schatten, schmutziges Geld und informelle Politik. Münster. Bourdieu, P. (1974): Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/Main, 75-124. Bourdieu, P. et al. (1983): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/Main. Horkheimer, M./Adorno, T. W. (1947/1988): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main. Institut für Sozialforschung (Hg.) (1956): Soziologische Exkurse. Frankfurt/ Main. Türke, C. (1998): Das Altern der Kritik. In: Pädagogische Korrespondenz Nr. 22, 6-19. Weil, S. (1956): Die Einwurzelung. München.
„Worldmaking“ oder „die Durchsetzung
der legitimen Weltsicht“1 Symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt als Schlüsselkonzepte der Soziologie Pierre Bourdieus M AJA S UDERLAND
1. E INIGE Ü BERLEGUNGEN ZU DEN STENOGRAFISCHEN K ÜRZELN IN DER S OZIOLOGIE B OURDIEUS Die theoretischen Konzepte Pierre Bourdieus erfreuen sich in den letzten Jahren nahezu ungebremst großer Beliebtheit. Nicht allein die Soziologie, sondern auch zahlreiche andere Fachdisziplinen sowie Medien, Politik und Kultur greifen zunehmend auf ausgewählte „Denkwerkzeuge“ Bourdieus zurück (Bourdieu/Wacquant 1996: 197), um Hintergründe und soziale Wirkmechanismen in den verschiedensten Feldern mit deren Hilfe zu beschreiben (vgl. Fröhlich/Rehbein 2009b: 381). Das Werk Bourdieus wird dabei gelegentlich auch „als Steinbruch benutzt“ (ebd.), jedoch ohne die daraus entnommenen Begriffe immer im komplexen ‚Werkzeugkasten‘ der Bourdieu’schen Konstrukte zu kontextualisieren oder ihre theoretischen Implikationen tatsächlich auszuloten (vgl. Buchholz 2009). So wird etwa häufig der Begriff ‚Bildung‘ durch den Bourdieu-Begriff „kulturelles Kapital“ ersetzt, und zwar verkürzt im Sinne einer Aneignung von „hochkultureller Kompetenz für Erfolg im Bildungssystem“ (ebd.: 393) – eine Engführung, die keineswegs dem Bourdieu’schen Konzept entspricht.2
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Bourdieu (1992a: 151 u. 147). Buchholz verweist in ihrem Artikel zur Rezeption Bourdieus im angelsächsischen Raum darauf, dass diese Engführung der Anwendung Bourdieu’scher Konzepte zum Teil auch die Grundlage für eine Kritik an Bourdieus theoretischen Konstrukten wurde – also sind hier nicht Bourdieus Arbeiten selbst, son-
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Dass hierdurch eine von Bourdieu nicht intendierte Nähe zu den Theorien rationalen Handels3 und deren Logik der Gewinnmaximierung erzeugt wird, bleibt dabei unbeachtet und mag mehrere Gründe haben: Zum einen operiert Bourdieu tatsächlich bei seinen theoretischen Konzepten mit ökonomischen Begriffen, um die „Logik der Praxis“ (Bourdieu 1987: 147ff.) als eine Ökonomie der Praktiken zu beschreiben – allerdings um zu zeigen, dass die Ökonomie der Wirtschaft nur ein besonderer Fall dieser „Ökonomie der Praxis“ ist (Bourdieu 1992b: 51). Zum anderen sind – wie Bourdieu schon in seinen frühen Arbeiten zu Algerien zeigen konnte (z.B. Bourdieu 1976; 2000) – ökonomische Kategorien und Wertmaßstäbe in das Alltagsdenken kapitalistischer Gesellschaften westlicher Prägung derart eingegangen, dass sie geradezu naturalisiert erscheinen und deren Dekonstruktion eines erheblichen analytischen Aufwandes bedürfen. Da die Kapitalkonzepte bei Bourdieu stärker als seine anderen theoretischen Begrifflichkeiten einem ,Denken in Substanzen‘ in gewisser Weise Vorschub leisten,4 scheint die ,missbräuchliche‘ Anwendung dieser Konzepte erklärbar. Weil Bourdieu seine konzeptionellen Begriffe als „stenografische Kürzel“ für eine „theoretische Positionsbestimmung“ und eine „methodologische Wahl“ versteht (Bourdieu/Wacquant 1996: 198), birgt dies zugleich die praktische Gefahr, dass diese Kürzel extrahiert und isoliert, d.h. ohne die theoretische Positionsbestimmung und methodologische Wahl, in andere Kontexte exportiert werden – so wie dies auch mit vielen anderen soziologischen Begriffen geschieht. Beispielsweise sind „Klasse“, „Schicht“, „Milieu“, „Rolle“, „Individualisierung“, „System“ oder gar „Konstruktion der Wirklichkeit“ und zahlreiche weitere soziologisch-theoretische Konzepte nicht nur ein Stück weit in den Alltagssprachgebrauch eingegangen, sondern werden auch in vielfältigen wissenschaftlichen Kontexten verwendet, ohne dass dabei immer eine Beschäftigung mit den entsprechenden Theorien er-
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dern die z.T. verengte Bourdieu-Rezeption zur maßgeblichen Größe der Kritik geworden. (Siehe Buchholz 2009: 393). Für den Bildungsbereich ist hier vor allem Raymond Boudon (1974) zu nennen; andere prominente Vertreter der so genannten Rational-Choice-Theorien sind etwa James Samuel Coleman (1991; 1992; 1994) oder Gary Becker (1976), gegen den Bourdieu vielfach explizit Stellung bezogen hat (z.B. in Bourdieu 1998b: 195ff.). Beate Krais sieht darin gar einen „theoretischen Bruch in Bourdieus Argumentation“ (Krais 2005: 97f., insbes. 98, Fn. 9). Allerdings spricht gegen eine solche Auffassung, dass Bourdieu mit seinen Theoriewerkzeugen auch bei anderen Aspekten des Symbolischen z.T. auf Substanzielles zurückgreift – beispielsweise bei den materiellen Aspekten der Lebensstile, die im „Raum der Lebensstile“ die Entsprechung zu den Kapitalsorten im „Raum der sozialen Positionen“ darstellen (Bourdieu 1982: 212/213) – und auch diese in einer verengten Auslegung fälschlich auf ihre Materialität beschränkt werden können.
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kennbar ist.5 Der genauere komplexe Sinn der Bourdieu’schen Begriffe ist indes nur durch gründliche Auseinandersetzung mit ihnen nachvollziehbar, d.h. die Begriffs-Bausteine können dem „Steinbruch“ (Fröhlich/Rehbein 2009b: 381) nur um den Preis der Sinnentstellung oder -verflachung entnommen werden. Bourdieu selbst erläutert die „Immigration von Ideen“ in einem Text (Bourdieu 1991a), von dem weiter unten noch die Rede sein wird: „If the ‚immigration of ideas‘, as Marx puts it, rarely happens without these ideas incurring some damage in the process, this is because such immigration seperates cultural productions from the system of theoretical reference points […], sign-posted by proper names or concepts ending in ‚-ism‘, a field, that always defines them far more than they contribute to defining it. That is why ‚immigration‘ situations make it particulary necessary to bring to light the horizon of reference which, in ordinary situations, may remain implicit.“ (Bourdieu 1991a: 163)
Da Bourdieu mittlerweile in den Stand eines „Klassikers“ der Soziologie6 erhoben wurde, scheint mit derartigen Anleihen aus seinem Werk nicht nur eine legitimierende Absicht, sondern zugleich eine gewisse legitimierende Wirkung verbunden zu sein. Dieser hier nur angedeutete selektive Gebrauch des theoretischen Instrumentariums Pierre Bourdieus führt allerdings auch häufig zu einer verkürzten Rezeption und einer nicht hinreichend informierten und sehr kurz greifenden Kritik, und zwar sowohl zu einer lückenhaften Wahrnehmung des Potenzials seiner theoretischen Konzepte als auch zu einer Verkennung der Intentionen Bourdieus. Dessen Soziologie zirkuliert im Kern stets um Herrschaftsfragen, und zwar auch bei solchen Konzepten wie bspw. Habitus oder Kapital, denen dieser Herrschaftsbezug nicht unbedingt auf den ersten Blick anzusehen ist. David L. Swartz (1997) bezeichnet die Soziologie Bourdieus deshalb auch als „political economy of symbolic power“ (ebd.: 65). Wird also bei einem fehlenden Bezug zum Bourdieu’schen Referenzrahmen dieser immanente Herrschaftsaspekt häufig übersehen oder marginalisiert, so stehen auch seine explizit herrschaftstheoretischen Begriffe wie symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt nicht im Zentrum der Bourdieu-Rezeption. Erst in den letzten Jahren kann in der Sekundärliteratur eine gewisse Aufmerksamkeit für diese Begriffe entdeckt
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Dagegen scheinen sich die Begrifflichkeiten der Frankfurter Schule – wie beispielsweise „negative Dialektik“ – gegen eine solche ‚Entnahme‘ eher zu sperren. Z.B. auf der Website „50 Klassiker der Soziologie“ (http://agso.uni-graz.at/lexikon) oder Kaesler (1999: 252-271).
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werden.7 Da allerdings in den vergangenen Jahren ganz allgemein ein erhöhtes Interesse am Thema Gewalt festzustellen ist und vor allem in den Medien, aber auch in einigen Fachdisziplinen, als eine Zunahme von Gewalt in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen thematisiert wird, strahlt diese Entwicklung möglicherweise auf die Bourdieu-Rezeption zurück und führt zu einer Re-Lektüre der Werke Bourdieus unter diesem Fokus. Schon jetzt ist jedoch dabei eine gewisse Vorliebe für den Begriff der symbolischen Gewalt feststellbar – also den Aspekt von Herrschaft, der am stärksten auf der Ebene sozialen Handelns angesiedelt ist und Spektakuläreres zu versprechen scheint als (Herrschafts-)Verhältnisse oder (Macht-)Potenziale, und es deutet sich auch hier Extraktion und Isolation der Verwendung eines ,schmissigen‘ Begriffes an.8 Da Bourdieus Soziologie im Kern also eine Herrschaftssoziologie ist und damit eine kritische Stoßrichtung verfolgt, deren Nähe oder Differenz zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule in den verschiedenen Aufsätzen dieses Bandes reflektiert und diskutiert wird, versteht sich dieser Beitrag vor allem als eine theoretische Positionsbestimmung von Bourdieus soziologischen Denkwerkzeugen symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt, die einer informierten Rezeption der folgenden Beiträge dienen kann. Dazu werde ich zunächst näher beleuchten, aus welchem wissenschaftlichen wie biografischen Kontext die Begriffe entstanden sind, was sie bezeichnen und welche Analyseperspektiven mit ihnen erfasst werden, um sie dabei auch im übrigen theoretischen Instrumentarium Bourdieus zu verorten und zu kontextualisieren (2.). Abschließend werde ich auf häufig genannte Kritik an Bourdieus ‚Soziologie der Herrschaftsverhältnisse‘ eingehen und versuchen – zumindest kursorisch – aufzuzeigen, welche Potenziale und Anschlussmöglichkeiten an andere, auch neuere, soziologische Entwicklungen sich daraus ergeben können (3.).
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Z.B. Peter (2004); Mauger (2005); Böhlke (2007); Koller/Marotzki/RiegerLadich (2007); Schmidt/Woltersdorff (2008); Fröhlich/Rehbein (2009a); Schmitt (2010); nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrags erschien auch ein von Stephan Moebius und Angelika Wetterer herausgegebenes Themenschwerpunktheft „Symbolische Gewalt“ der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie (Moebius/ Wetterer 2011a), darin vor allem als grundlegende Einführung der Beitrag von Lothar Peter (Peter 2011). So z.B. bei dem von der DFG geförderten Projekt „Symbolische Gewalt – Gewalt der Symbole“ an der Freien Universität Berlin, bei dem es um die Erforschung des „Wandel[s] der Gewaltsymbolik in den Zeitschriften der verschiedenen palästinensischen Bewegungen vom dominierenden Symbol der Kalaschnikow über die Symbolik der Steine […]“ ging. Siehe http://www.polsoz.fu-berlin.de/pol wiss/forschung/international/vorderer-orient/forschung/abgeschlossen/symbolische _gewalt.html [am 15.05.2011].
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2. S YMBOLISCHE H ERRSCHAFT – S YMBOLISCHE M ACHT – S YMBOLISCHE G EWALT Wie auch bei Pierre Bourdieus anderen theoretischen Begriffen handelt es sich bei symbolischer Herrschaft, symbolischer Macht und symbolischer Gewalt um „Denkwerkzeuge“, die als Modi Operandi wissenschaftliches Arbeiten praktisch anleiten und strukturieren sollen (Bourdieu/Wacquant 1996: 197). Theorie ist bei Bourdieu stets empiriegeleitet, erfüllt also niemals einen Selbstzweck und beinhaltet deshalb gewissermaßen immer auch ein wissenschaftliches Arbeitsprogramm. Die von ihm dazu jeweils gefundenen Begriffe umfassen daher sowohl eine theoretische Positionsbestimmung als auch eine methodologische Wahl (ebd.: 198). „Begriffe, die aus praktischen Schwierigkeiten des Forschungsprozesses heraus entstanden sind, müssen auch in der Forschungspraxis evaluiert werden“ (ebd.). Zum Verständnis der Bourdieu’schen Soziologie ist daher zunächst sowohl nach den Entstehungskontexten und der Art des zu klärenden empirischen Problems zu fragen, das der Begriffsfindung vorausging, als auch nach dem Referenzrahmen theoretischer Positionen, die ihr innewohnen, bevor durch eine Überprüfung anhand von Bourdieus eigenen Arbeiten wie auch an neuen Fragestellungen deren Reichweite und Anschlussmöglichkeiten an andere Theoriekonzepte festgestellt werden kann. Pierre Bourdieu hätte bei seiner Einberufung zum Militär im Jahr 1955 als exzellenter Absolvent eines Philosophiestudiums an der Pariser Eliteuniversität „École Normale Supérieure“ (Bourdieu 1970b: 138) seinen Wehrdienst als Offiziersanwärter mit privilegierten Tätigkeiten verbringen können. Aber dies wollte er nicht: „Ich hatte es abgelehnt, die Reserveoffiziersschule zu besuchen, nicht zuletzt deshalb, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, anders als die einfachen Soldaten sein zu müssen, und vielleicht auch, weil ich für die Offiziersanwärter, oft Betriebswirte und Juristen, mit denen mich innerlich kaum etwas verband, wenig übrig hatte.“ (Bourdieu 2002: 46)
So wurde er schließlich nach seiner Grundausbildung wegen seiner erkennbar algerienfreundlichen politischen Haltung (ebd.) zur Zeit des dort tobenden Befreiungskrieges9 zur Ableistung seines Wehrdienstes in Algerien verpflichtet. Dieser Krieg ist in die Geschichte der Kolonialkriege als besonders brutal eingegangen: „Massive Zwangsumsiedlungen ländlicher Bevölkerungsteile, Folterpraktiken, willkürliche Inhaftierungen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren“ (Stora 2011: 3) waren währenddessen an der Tagesordnung. Als immer schon sehr politisch denkender, ‚linker‘ Zeitgenosse (Krais/Gebauer 2002: 82) hatte Pierre Bourdieu ohnehin bereits ein 9
Dieser Krieg dauerte von 1954-1962 und endete in der Unabhängigkeit Algeriens. (Vgl. Stora 2011).
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kritisches Verhältnis zur Position Frankreichs in diesem Krieg, der dort damals im offiziellen Sprachgebrauch noch euphemisierend als „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ bezeichnet wurde, in Algerien dagegen als „Revolution“ (Stora 2011: 3). Sich dieser brutalen Gewalt nun in Uniform ‚von der falschen Seite her‘ – wie er es zwangsläufig empfinden musste – nähern zu müssen, sensibilisierte ihn noch stärker für die Leiden der Unterdrückten. Aber nicht nur die rohe Gewalt, sondern auch den ignoranten und herablassenden Umgang der französischen Okkupatoren mit der algerischen Bevölkerung empfand er zugleich als gewalttätig wie auch beschämend. Dies veranlasste ihn dazu, den Verhältnissen näher auf den Grund zu gehen (siehe dazu insbes. Bourdieu 2000; 2002: 46ff.; Schultheis 2003). Bereits in seinen daraufhin mit enormem persönlichen wie methodischen Aufwand betriebenen ethnologischen Studien in Algerien wurde Bourdieu auf die symbolische Dimension sozialer Verhältnisse aufmerksam, die offenbar auch dann überdauern, wenn ihre Entstehungsbedingungen längst nicht mehr existent sind. Besonders eingehend erforschte er das damals noch archaisch und vorkapitalistisch geprägte und in auffälligem Kontrast zu den kapitalistischen Kolonisatoren aus Frankreich stehende Leben der kabylischen Bevölkerung, die ursprünglich in kleinen Dörfern entlegener Regionen des Atlasgebirges im Norden Algeriens gelebt hatte und inzwischen durch Zwangsumsiedlungen in Baracken- oder Hochhaussiedlungen ‚verpflanzt‘ worden war (siehe insbesondere die Fotos in Schultheis/Frisinhelli 2003). Bourdieu entdeckte, dass im Alltagsverständnis der Kabylen die symbolischen Aspekte auch unter den zwangsweise veränderten und verschlechterten Lebensbedingungen von nachhaltiger Bedeutung für deren soziales Miteinander waren. Hierbei zeigte sich, dass vor allem Ehre sowie die grundlegende Strukturierung der kabylischen Gesellschaft entlang der Geschlechterdichotomie in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ besondere Relevanz für verschleierte Formen von Herrschaft besaßen (Bourdieu 1976; 1987; 1997a; 2005). Im alltäglichen Leben der Kabylen folgte dabei die „praktische Logik“ der Handelnden (Bourdieu 1976: 228ff.) ihrem impliziten Verständnis der verwendeten symbolischen Formen als Ausdruck einer unhinterfragbaren und daher nicht direkt thematisierbaren Geschlechterordnung und verschleierter, nicht kenntlich gemachter, althergebrachter Herrschaftsverhältnisse, die (noch) nicht von kapitalistischer Ökonomie geprägt waren. Im „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1976 [1972]), worin er insbesondere diese Ökonomie des Handelns am Beispiel der Kabylen in Algerien reflektiert, weist er auf die stets „doppelte Wahrheit der essentiell doppelten und mehrdeutigen praktischen Handlungen“ hin (ebd.: 345). Das Sichtbare als unmittelbar Gegebenes wird immer auch von Unsichtbarem mitbestimmt, sodass die Wahrheit der Interaktion niemals allein durch ein-
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faches Beobachten fassbar wird10 (Bourdieu 1992a: 139). Vorhandene, jedoch verschleierte Interessen erfordern nämlich ein „kollektiv abgestimmtes So-tun-als-ob“ (Bourdieu 1976: 338), das darum bemüht ist, die Eigenart der verschleierten Interessen zu verneinen. Es seien solche „Wirkungen [...] am durchschlagendsten, die [...] nicht der Worte bedürfen, sondern des Schweigens auf der Grundlage eines objektiven wechselseitigen Einverständnisses“ (ebd.: 365). Neben die elementaren Formen der Herrschaft, die sich offensichtlicher und brachialer11 Gewalt bedienen, wie bspw. die Sklaverei, treten also „zensierte und euphemisierte, verkannte und anerkannte symbolische Gewalt“ (ebd.: 369). Sinnbildlich für diese beiden Gewaltarten steht auf der einen Seite die Schuld als öffentlich dokumentierte Abhängigkeit und auf der anderen Seite das Geschenk als Ursache für moralische und affektive Verpflichtung (ebd.). Die Verwendung von Symbolen – Worten, Gesten, Gegenständen – ist vor allem deshalb bei der Erzeugung von Machtasymmetrie so wirkmächtig, weil diese an Stelle von etwas anderem stehen, das nicht explizit gemacht werden muss. Diese Symbole werden von allen Beteiligten, also auch von den Beherrschten, als legitim erkannt und anerkannt. Die Basis der Erzeugung einer solchen symbolischen, klassifizierenden Ordnung ist folglich ein gewisses stillschweigendes Einverständnis und damit eine Art Komplizenschaft der Beherrschten. In seinen frühen ethnologischen Forschungen legte Bourdieu bereits die Grundsteine für seine später verfeinerten soziologischen Theoriewerkzeuge. Hier findet sich schon die Analyse der nachhaltigen Wirkung verschleierter Herrschaftsverhältnisse (symbolische Herrschaft), die Internalisierung des Sozialen und deren Grundlage für mentale, kognitive wie auch physiologische Dispositionen, die wiederum ursächlich für Emotionen und Affekte sind („Inkorporation“; „Habitus“), die Bedeutung von Zeit für die Wirkungen alles Sozialen (z.B. in der Trägheit des Habitus, die er später als „Hysteresis“ bezeichnet) wie auch ein relationales Denken in Beziehungen, das versucht, die jeweiligen Positionen und damit verbundenen Perspektiven zu rekonstruieren (was später in den Konzepten des „sozialen Raums“ und der „sozialen Felder“ systematischer erarbeitet wird). Und auch der in der Bourdieu-Rezeption so beliebte Begriff „Kapital“ taucht hier bereits auf,
10 Mit dieser Begründung beurteilt Bourdieu später die netzwerktheoretisch basierten, empirischen Arbeiten als unzureichend, da sie sich allein mit dem Sichtbaren befassen und bspw. eine „Verneinung“ nicht als „symbolische Verneinung“ erfassen können (vgl. Bourdieu 2007: 264). 11 Der Begriff der brachialen Gewalt ist nach meinem Dafürhalten ein sehr geeigneter Gegenbegriff zur symbolischen Gewalt, verweist er doch auf das lateinische „bracchium“ („Arm“). Brachialgewalt meint also wörtlich „Gewaltanwendung unter Zuhilfenahme der Arme“ und bezeichnet damit als wesentlichen Aspekt die physische, direkte Gewaltanwendung und in übertragenem Sinne offensichtliche Gewalt (vgl. Duden Bd. 7: 79).
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wenngleich noch nicht in seinen spezifischen ‚substanziellen‘ Ausformungen, sondern in seiner Bedeutung als „symbolisches Kapital“, das auf der Handlungsebene Ehre, Anerkennung, Vertrauen und Kreditwürdigkeit erzeugt – Aspekte, die grundlegend für die gesamte Soziologie Bourdieus bleiben werden. Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich zu Beginn der 1960er Jahre richtete er seinen derart geschärften Blick auf durch Symbole euphemisierte gesellschaftliche Beziehungen. Durch die Analyse der eigenen Gesellschaft wird er nun gewissermaßen zum Soziologen. Bereits in seinen frühen Texten über Frankreich beschreibt Pierre Bourdieu gesellschaftliche Verhältnisse als „symbolische Beziehungen“ oder „Bedeutungsbeziehungen“, die zugleich „Herrschaftsverhältnisse“ seien (Bourdieu 1970a [1966]: 74). Die von ihm etwas später in diesem Kontext mehr oder weniger systematisch angewandten Begriffe symbolische Herrschaft, symbolische Macht und symbolische Gewalt charakterisieren sowohl den von den beteiligten Akteuren zu entschlüsselnden Zeichencharakter, der als Verhüllung des Bedeutungskerns dient, als auch den zentralen Sinn, der auf Ungleichheitsverhältnisse verweist. Dieser von ihm anfänglich verwendete Begriff „Bedeutungsbeziehungen“ wäre für die Rezeption seiner Schriften vielleicht ein deutlicheres ‚stenografisches Kürzel‘ als der der „symbolischen Beziehungen“. Denn auch der Begriff des Symbolischen bei Bourdieu wird gelegentlich missverstanden – etwa in dem Sinne, dass, wenn etwas symbolisch sei, es ‚nicht wirklich existiert‘.12 Eine solche Rezeption beruht möglicherweise auf der Vorstellung, dass symbolische Herrschaft, -Macht oder -Gewalt etwas Ähnliches seien, wie das, was gemeinhin unter „Symbolpolitik“ verstanden wird, nämlich eine wirkungslose, sich auf leere Zeichen beschränkende Politik, der keine Taten folgen (Jessen 2006). Bourdieu beabsichtigt das Gegenteil mit diesen Begriffen, nämlich ein Bewusstsein für solche nur scheinbar ‚gewaltfreien‘ Gewaltformen und den „zwanglosen Zwang“13 zu schaffen, die auch in modernen Gesellschaften existieren – in Gesellschaften, in denen brachiale, direkte Gewaltanwendung durch demokratische Grundordnungen aus den Herrschaftsverhältnissen weitgehend verbannt ist, und wenn es sie gibt, stellt sie ein staatliches Monopol dar oder aber sie ist kriminalisiert. In Frankreich galt Bourdieus starkes Interesse schon frühzeitig dem Bildungssystem, über das er zusammen mit Jean-Claude Passeron unter dem Titel „Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt“ (Bourdieu/Pas-
12 So habe ich bei meiner eigenen Lehrtätigkeit im Fach Soziologie die Erfahrung gemacht, dass Studierende sich mit der Vorstellung von symbolischer Gewalt als einer ‚richtigen‘ Gewalt häufig sehr schwer tun, weil sie ein Verständnis des Begriffs „symbolisch“ in der Bedeutung von ‚nicht real‘ haben. 13 In Schmidt/Woltersdorff (2010: 313) als Anspielung auf Habermas’ „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995: 161).
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seron 1973 [1970]) schrieb. Hierbei traten die gesellschaftliche Legitimation ästhetischer Einstellungen und deren Vermittlung als herrschaftsbegründend wie auch sprachliche Kommunikation zur Durchsetzung von Herrschaftsverhältnissen in den Fokus seiner Analysen. Bourdieus eigene biografische Erfahrung als nach Anerkennung hungerndes ‚Kind vom Lande‘ aus einfachsten Verhältnissen – also einer als unterprivilegiert empfundenen sozialen Herkunft – in einem Schulsystem, das von ihm nicht nur schulische Leistung, sondern auch symbolische Unterwerfung verlangte und ihn dafür mit Erfolg belohnte,14 mögen sein frühes und explizites Interesse an dem Beitrag der Bildungseinrichtungen zur Manifestation von Herrschaftsverhältnissen angestoßen haben (v.a. Bourdieu 2002). Dieser eher sperrig zu lesende Text, der im Kleid eines Manifestes daher kommt, vierstellige Untergliederungspunkte aufweist und dessen Kernaussagen sich hinter logischen Formeln zu verstecken scheinen – dies stellt vielleicht selbst einen Legitimierungsversuch des noch nicht arrivierten Bourdieu dar? – liefert gleich zu Beginn eine Art Leitsatz, der als Grundlage für alle späteren, umfänglicheren, beziehungsreicheren und akteursbezogeneren Erklärungsversuche angesehen werden kann: „Jede Macht zu symbolischer Gewalt, d.h. jede Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen, fügt diesen Kräfteverhältnissen ihre eigene, d.h. eigentlich symbolische Macht hinzu.“ (Bourdieu/Passeron 1973: 12; Hervorhebungen M.S.)
Noch ist diese Definition frei von sozialen Akteuren, was sich in Bourdieus späteren Texten deutlich ändern wird, wenn er sich stärker von den philosophischen Schreibtraditionen befreit hat und die Handelnden und ihr praktisches Verhältnis zur Welt explizit ins Zentrum seines Interesses stellt. Aber doch wird hier schon die Bedeutungstrias von Macht als Chance, Gewalt als Handlung und Herrschaft (Kräfteverhältnis) als Ungleichheitsrelation hier sehr deutlich.
14 Pierre Bourdieu wuchs zunächst in einem kleinen Pyrenäendorf auf. Sein Vater, der anfänglich Briefträger und später Vorsteher des Postamtes war, stammte aus einer Familie landloser Bauern. Auch seine Mutter war bäuerlicher Herkunft. Aufgrund seiner hervorragenden schulischen Leistungen wurde er auf ein Gymnasium in der Bezirkshauptstadt Pau versetzt, wo er dann Internatsschüler war (Bourdieu 2002). Seine Erfahrungen mit der Verachtung seiner bäuerlichen Herkunft und Aussprache durch herrschaftlich auftretende, großbürgerliche, städtische Sprösslinge beschreibt Bourdieu in der soziologischen Analyse seines wissenschaftlichen Werdegangs als sehr prägend – sowohl für seine Forschungsinteressen als auch für seine Arbeitsweise (ebd.: v.a. 113ff.). Eine speziell auf die Besonderheiten des französischen Bildungssystems eingehende Kurzbiografie findet sich in Krais (2004: 179-183).
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In einem anderen relativ frühen Text, der auf einen Vortrag Bourdieus in Chicago im Jahr 1973 zurückgeht und der 1977 erstmals unter dem Titel „Sur le pouvoir symbolique“ erschien (Bourdieu 1977), versucht Bourdieu sich in einer knappen systematischen Darstellung dessen, was er als symbolische Macht bezeichnet, und zeigt die geistigen Wurzeln und damit den theoretischen Referenzrahmen seines Konzeptes auf.15 In diesem Text kann man gewissermaßen beobachten, wie sich Bourdieu selbst über die Genese seines Herangehens Klarheit verschafft16 und aufzeigt, wie er die theoretischen Gegensätze der herangezogenen Referenztheorien überwindet. Dabei will er seine Ausführungen explizit nicht als akademische Geschichte einer abgeschlossenen Theorie verstanden wissen, sondern zeigen, von welchen Denkrichtungen er beeinflusst war („to bring to light the horizon of reference“; Bourdieu 1991a: 164), während er die Frage nach einer omnipräsenten, aber als solche nicht erkennbaren Macht und ihrer Wirkungen erforschte (Bourdieu 1991a: 163). Da dieser Text in der deutschsprachigen Sekundärliteratur selten herangezogen wird, möchte ich etwas näher auf ihn eingehen. Bourdieu verweist hierin zum Einen auf die neo-kantianische Tradition, namentlich auf Wilhelm von Humboldt und Ernst Cassirer, wie auch in den USA Edward Sapir und Benjamin Whorf als Vertreter der Ethnolinguistik, die „symbolische Universen […] als Instrumente zur Welterschaffung und Welterfassung“ und „symbolische Formen“ als „aktive Aspekte der Erkenntnis“ betrachten (Bourdieu 1991a: 164).17 Auch auf Erwin Panofsky und dessen Behandlung von „Perspektive als historische Form“18 (ebd.) weist er hin, mit dessen Werk Bourdieu sich schon früh befasste, was ihn
15 Ich danke Beate Krais für ihren Hinweis auf diesen Text, der bislang nicht in deutscher Sprache vorzuliegen scheint. Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum er in der deutschsprachigen Bourdieu-Rezeption selten zitiert wird. In englischer Übersetzung findet er sich in einem Sammelband über Sprache und symbolische Macht (Bourdieu 1991a). Der in der Online-Bourdieu-Bibliografie „HyperBourdieu“ gegebene Hinweis, die deutsche Übersetzung dieses Textes befinde sich in dem Band „Was heißt sprechen?“ (Bourdieu 1990a), ist leider unzutreffend (siehe http://hyperbourdieu.jku.at/hb70-79.htm). Im vorliegenden Beitrag stütze ich mich zumeist auf die englischsprachige Version „On Symbolic Power“ (Bourdieu 1991a), in der ich die Originalversion des englischen Vortrages vermute. 16 In seinem „Soziologischen Selbstversuch“ schreibt Bourdieu gleich zu Beginn: „Doch ich weiß sehr genau, und werde das auch nicht verheimlichen, daß mir, selbst bei meinen Forschungen, tatsächlich erst nach und nach die Grundsätze klargeworden sind, die meine Arbeiten bestimmt haben.“ (Bourdieu 2002: 10) 17 Hier wie im Folgenden eigene Übersetzung aus dem englischen Text (Bourdieu 1991a). 18 Panofsky hat im Jahr 1924 einen Vortrag mit dem Titel „Die Perspektive als symbolische Form“ gehalten, in dem er sich auf die Philosophie Cassirers stützte (Panofsky 1927).
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dazu gebracht hatte, den Begriff „Habitus“ zu systematisieren (siehe Bourdieu 1970b). Als explizit soziologische Wurzel seines Denkens in „strukturierenden Strukturen“ gibt er die Arbeiten von Emile Durkheim an, der die Grundlage für eine Soziologie der symbolischen Formen als Klassifikationsformen geschaffen habe und solche damit als künstlich hergestellt und daher sozial determiniert auffasst (Bourdieu 1991a: 164; Durkheim/Mauss 1993). Voraussetzung für diese Klassifikationsschemata sei das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Konsens’, der den Modus Operandi, also die Art und Weise, wie die Zustände ‚hergestellt‘ werden, bestimme und dadurch Objektivität erzeuge (Bourdieu 1991a: 165). Als zweiten wichtigen Aspekt seiner theoretischen Konzeption symbolischer Macht benennt er die Strukturiertheit der Strukturen, die Beschaffenheit der Symbole, der hergestellten Dinge – von Bourdieu auch als opus operatum bezeichnet (Bourdieu 1991a: 166). Hierbei geht es um die Offenlegung der den Symbolen immanenten strukturellen Bedingungen, die beispielsweise in der strukturalistischen Tradition Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“ oder Ferdinand de Saussures linguistischen Analysen zu finden sei (ebd.: 165f.). Hier wird die Strukturiertheit der Symbole als Bedingung zur Herstellung eines Konsens’ angenommen. Bourdieu arbeitet nun zwei Synthesen dieser verschiedenen Denkrichtungen heraus, die im Konzept der symbolischen Macht münden: Erstens besteht die soziale Funktion symbolischer Systeme in sozialer Integration und zwar im Sinne einer Erhaltung der bestehenden sozialen Ordnung. Damit bewirken symbolische Systeme zugleich Konsens über bestehende Ordnungen, und zwar auch bei denen, die eine ‚unterlegene‘ oder ‚benachteiligte‘ Position innerhalb dieser Ordnung innehaben (ebd.: 166). Hier schlägt Bourdieu nun einen Bogen zur marxistischen Tradition, mit der diese soziale Funktion symbolischer Systeme auch als politische Funktion beschrieben werden kann, da sie die Interessen der herrschenden Klasse konsensuell durchzusetzen helfe, während sie tatsächlich jedoch allein zur Integration der herrschende Klasse beitrage. Die derart kommunikativ hergestellte Fiktion einer „Gesellschaft als Ganzes“ (ebd.: 167) führe zur „Demobilisierung“ (Bourdieu 1977: 408)19 (nach Marx: dem „falschen Bewusstsein“; ebd.) der Beherrschten, die ihre Zustimmung zu den symbolischen gesellschaftlichen Differenzierungslinien stillschweigend erteilten. Zweitens kann symbolische Macht dadurch akkumuliert werden, dass in symbolischen Kämpfen stets diejenigen überlegen sein werden, die über die symbolischen Mittel zur „Durchsetzung der legitimen Weltsicht“ verfügen. Symbolische Macht ist das Instrument, mit dessen Hilfe die Herrschaft gesichert werden kann, weil sie auf bereits bestehenden Machtverhältnissen be-
19 Hier habe ich mich in der Übersetzung an den Begriff im französischen Aufsatz gehalten (Bourdieu 1977: 408), der mit „démobilisation“ etwas anderes bezeichnet als der im englischen Text verwendete Begriff „apathy“ (Bourdieu 1991: 167) und vor allem stärker den Aspekt der Einwirkung betont.
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ruht (Bourdieu 1991: 167). Weil Symbole nicht allein bereits von (Herrschafts-) Strukturen bestimmt sind, sondern ihrerseits diese prägen, erfüllen sie ihre politische Funktion der Beherrschung der in diesen symbolischen Kämpfen Unterlegenen. In diesem Kontext verweist Bourdieu auf symbolische Gewalt („violence symbolique“, Bourdieu 1977: 408, „symbolic violence“, Bourdieu 1991a: 167) – ein Begriff, der im französischen Original wie in der englischen Übersetzung ‚Gewalttätigkeit‘ bedeutet – und stellt damit einen Zusammenhang zwischen dem Potenzial der symbolischen Macht und ihrer Wirkung als Gewalt auf der Handlungsebene zur Sicherung der Herrschaftsverhältnisse her. Unter der Überschrift „Quellen und Wirkungen der symbolischen Macht“ verweist er auf spezifische, relativ autonome soziale Felder, in denen Spezialisten dazu delegiert sind, die Produktion symbolischer Güter zu besorgen – es gibt also eine gesellschaftliche Arbeitsteilung der Herrschaft. Diese Spezialisten haben ein eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse und ihrer damit verbundenen Position. Insofern erfüllt die Produktion symbolischer Güter niemals einfach nur die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse, sondern kann auf die Unterstützung der legitimierten Spezialisten zurückgreifen, die mit dieser Produktion beauftragt sind und diese Position ebenfalls verteidigen (Bourdieu 1991a: 169). Damit rücken sie auf in die herrschenden Klassen, wenngleich sie selbst in gewisser Weise beherrscht sind – Bourdieu spricht hierbei gelegentlich auch von „beherrschten Herrschenden“ (z.B. 1991b: 63). Dieses komplexe Bündnis verschleiert den Kern symbolischer Kämpfe – als Kämpfe um die Definitions- bzw. Klassifikationsmacht. Die beiden oben beschriebenen Wissenschaftstraditionen der strukturierenden Strukturen und strukturierten Strukturen bewertet Bourdieu ihrerseits als erkenntnistheoretische Beiträge zu symbolischer Macht. Nur wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung zur Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsverhältnisse als „Instrumente der Beherrschung“ (ebd.: 165) in den Blick kommen, was mit dem Konzept der symbolischen Macht möglich werde, leiste die Soziologie nicht selbst einen Beitrag zur Erhaltung symbolischer Macht, sondern trage zur Offenlegung verschleierter Machtverhältnisse bei. In diesem frühen Text plädiert Bourdieu also bereits für eine Soziologie als kritische Wissenschaft. Er stellt seinen erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen für diese Art Soziologie hier sogar grafisch dar, sodass das Bild eine gewisse Ähnlichkeit mit einem ‚philosophisch-soziologischen Stammbaum‘ hat, der in einer ‚dritten Säule‘, die sich auf Marx und Weber bezieht, Bourdieus Beitrag zur Demaskierung verschleierter gesellschaftlicher Machtverhältnisse kennzeichnet (Bourdieu 1977: 406; Bourdieu 1991a: 165).20
20 In einem Interview beschreibt Bourdieu diesen frühen Text als „ganz schulmäßig“, er entspreche „der gewöhnlichen Vorstellung von der Philosophie oder der Theorie mehr als die Mehrzahl [s]einer Schriften.“ Als Hauptschwäche des Tex-
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In seinen späteren Schriften, in denen symbolische Macht eine bedeutende Rolle spielt, treten stärker die sozialen Akteure ins Zentrum seiner Betrachtungen und er beschäftigt sich mit deren praktischem Verhältnis zur Welt. So distanziert sich Bourdieu stark von der Vorstellung der Existenz sozialer Regeln zugunsten von Strategien der handelnden Akteure und stellt sowohl subjektive Erfahrungen als auch deren objektive Bedingungen in den Mittelpunkt seiner Forschung, um die sinnhafte Beziehung zwischen Handelnden und Handlungen zu rekonstruieren. (Vgl. auch Jurt 2008: 41; Suderland 2009e) Eine zentrale Stellung in seinem Konzept des Symbolischen nehmen Geschmack und Sprache ein. So ist beispielsweise in den feinen Unterschieden (Bourdieu 1982 [1979]) der „legitime Geschmack“ Ausdruck symbolischer Herrschaft und daher als ein Schlüssel zur Dechiffrierung hierarchisierter sozialer Konstellationen anzusehen. Aspekte euphemisierter Gewalt durch Worte, Begriffe, Ausdrucks- und Sprechweisen hat Bourdieu in verschiedenen Schriften kenntlich gemacht und eingehend analysiert (z.B. Bourdieu 1990a [1982]; 1993a [1978]; 1993b [1980]). Die soziale Praxis symbolischer Herrschaft beruht auf einem „performativen Diskurs“ (Bourdieu 1992a: 152) – also einem sprachlich und körperlich-gestisch inszenierten Diskurs –, der auf ein allseits anerkanntes System von Symbolen zurückgreift, denn ohne eine „Symbolik der Macht“ kann es auch keine symbolische Macht geben (Bourdieu 1990a: 55). Die Kenntnis solcher Symbole ist in den Habitus der sozialen Akteure tief verwurzelt und daher für alle Beteiligten evident und handlungsleitend. Im Gegensatz zu roher physischer Gewalt kann symbolische Gewalt daher auf sanfte, raffinierte und verschleierte Praktiken zurückgreifen, deren Wirkungen aufgrund der mangelnden Transparenz besonders nachhaltig sind und die tatsächlich vorhandenen Machtasymmetrien gegenüber den Beherrschten verschleiern oder symbolisch verneinen. Bourdieu bezeichnet diese symbolische Verneinung auch als „Strategie der Kondeszendenz“, also Herablassung, die die dominierende Position nicht in Frage stellt. Gibt sich also beispielsweise ein Politiker, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, besonders volksnah, indem er sowohl im Festzelt mit den ‚einfachen Leuten‘ plaudert und ‚eine Maß‘ Bier trinkt als auch auf der Techno-Party erscheint und als DJ die Stimmung anheizt, so wird das seine ‚überlegene‘ Position stärken und nicht
tes bezeichnet er das Fehlen des Staates, „der die Realisierung der symbolischen Macht par excellence ist“ (vgl. Bourdieu 2007: 269; siehe dazu auch die Herausgabe seiner Vorlesungen am Collège des France 1989-1992 „Sur l’Ètat“; Bourdieu 2012). Dass Bourdieu in anderen Schriften auch noch auf weitere Referenzen verweist, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, jedoch ohne ausführlicher darauf einzugehen. Hier sei lediglich auf die Philosophie Pascals verwiesen (insbesondere in Bourdieu 2001), auf Claude Lévi-Strauss oder Norbert Elias. Vgl. dazu auch Schmidt/Woltersorff (2008); Schmidt (2009), Fröhlich/Rehbein (2009a); Schmidt/Woltersdorff (2010).
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schwächen. Ihre Wirkungsweise als Herrschaftsverhältnis wird durch symbolische Verneinung unkenntlich, zugleich jedoch ihre praktische Anerkennung erzielt.21 Die „Ökonomie der Verneinung“ (Bourdieu 1987: 234) ist deshalb im Grunde eine äußerst rationale Strategie, „weil sie in den Grenzen der Zwänge dieser Welt die wirksamste“ ist (ebd.: 238). Bourdieu erläutert: „Man kann sich der objektiven Distanzen so bedienen, dass man von Nähe und Distanz gleichermaßen profitiert, das heißt von der Distanz und der Anerkennung der Distanz, die die symbolische Negierung der Distanz verschafft.“ (Bourdieu 1992a: 140; Hervorhebung M.S.)
Pierre Bourdieu analysiert die „soziale Welt als ein Universum des symbolischen Tausches“ (1990a: 11). Als Machtressource gilt dabei Kapital, das in verschiedenen Erscheinungsformen auftritt (ökonomisch, kulturell, sozial), seine Wirkung auf der Ebene der sozialen Praxis aber stets nur als symbolisches Kapital entfalten kann, das heißt auf der Basis einer allseitigen Anerkennung als Kapital (Bourdieu 1992b). Diese Anerkennung funktioniert wie ein „Kredit [...], d.h. eine Art Vorschuss, den die Gruppe und nur sie allein jenen gewährt, die ihr am meisten materielle und symbolische Sicherheiten geben“ (Bourdieu 1976: 352). Die hieraus entstehende und sozial wirksame symbolische Macht besteht vor allem darin, „Bedeutungen durchsetzen“ zu können (Bourdieu/Passeron 1973: 12), d.h. es geht dabei um „die Durchsetzung der legitimen Weltsicht“ (Bourdieu 1992a: 147). Symbolische Macht ist das „Vermögen des Worldmaking“ (ebd.: 151) und damit die „Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen“ (153). Die Kämpfe, die um diese Durchsetzung einer bestimmten Weltsicht ausgefochten werden, bedienen sich der Strategien symbolischer Gewalt, die „diese besondere Form von Zwang [ist], die nur mit der aktiven – was nicht heißt willentlichen oder bewussten – Komplizenschaft derer wirksam werden kann, die ihr unterworfen [sind]“ (Bourdieu 2004: 17). Wenn also symbolische Herrschaft erlangt oder gefestigt werden soll, müssen die Beherrschten und die Herrschenden über gemeinsame Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata verfügen, d.h. sie müssen derselben sozialen Welt entstammen, damit sich ihre Selbstwahrnehmung mit der Wahrnehmung durch die Herrschenden deckt. Diese Wahrnehmung fußt jedoch nicht auf „Überlegung und Entschluss“ und entzieht sich der schlichten „Alternative Zustimmung oder Zwang“ (Bourdieu 2001: 254f), sondern hat ihre Grundlage im Habitus, also den praktischen Dispositionen, die die sozialen Akteure durch die sozialen Verhältnisse erworben haben, unter denen sie leben. Bei symbolischer Gewalt sind objektive und subjektive Strategien zu unterscheiden. Objektiv werden individuelle oder kollektive Repräsenta-
21 Bspw. könnte sich das ‚Phänomen Guttenberg‘ und dessen ungebrochene Popularität trotz nachweislicher Verfehlungen damit in einer analytischen Herangehensweise erklären lassen.
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tionshandlungen eingesetzt, die „einer bestimmten Realität“ zu einer sichtbaren Existenz und Geltung verhelfen können, wie etwa Demonstrationen, die einer Gruppe öffentliche Wahrnehmung verschaffen und ihre Anliegen sichtbar machen. Die subjektiven Strategien konzentrieren sich in der Regel auf „Wörter und Namen“. Diese können auf individueller Ebene Beleidigungen, Gerüchte, Klatsch, Verleumdungen oder Verdächtigungen enthalten. Auf kollektiver Ebene sind es zumeist Beschwörungen der Vergangenheit oder „schöpferische Prophezeiungen zwecks Eingrenzung des immer offenen Sinns der Gegenwart“ und konstruieren, kategorisieren und klassifizieren dadurch die soziale Wirklichkeit (Bourdieu 1992a: 147f.). Wenn z.B. in den Debatten um die Bedeutung des Islam für Deutschland – bei denen es eigentlich um die Rolle der Muslime in Deutschland geht – die „christlichjüdischen Wurzeln der deutschen Kultur“ als Gegenargument bemüht werden,22 ist als das eine Strategie zur Eingrenzung der prinzipiell offenen Zukunft zu bewerten, die, wenn sie offen bliebe, Muslime möglicherweise ohne Vorbehalt in die Gesellschaft integrieren könnte. Die Bedeutung von Sprache muss daher im Zusammenhang mit den verschleierten Formen von Gewalt und Herrschaft als sehr hoch eingeschätzt werden, da die Suggestivkraft der Wörter und Begriffe zur Perzeption der sozialen Welt beiträgt. Bourdieu verwendet in diesem Zusammenhang häufig das Wortspiel „Vision und Division“ der Welt (z.B. Bourdieu 1990b: 95; 1997b: 227) und verweist dadurch auf den Zusammenhang, dass mit der Sichtweise (Vision) immer eine Einteilung (Division) im Sinne von Grenzziehung und Klassifikation einhergeht. Transportiert werden Vision und Division über Wörter und Begriffe, denn erst die Benennung und Etikettierung lässt die Dinge existent erscheinen. „Wie [...] ein Sternbild erst dann zu existieren beginnt, wenn es selegiert und als solches bezeichnet wird, so beginnt tatsächlich eine Gruppe, Klasse, ein Geschlecht, eine Region, eine Nation erst eigentlich zu existieren, und zwar für die jeweiligen Mitglieder wie für die anderen, wenn sie oder es entsprechend einem bestimmten Prinzip von den anderen Gruppen, Klassen usw. unterschieden wurde, das heißt vermittels Erkennen und Anerkennen.“ (Bourdieu 1992a: 153; Hervorhebungen M.S.)
So wie die Benennung durch „Wörter und Namen“ (ebd.: 148) die Wahrnehmung steuern kann und Dinge in spezieller Weise erst existent werden lässt, so sind auch Nicht-Benennung und (Ver-)Schweigen Formen symbolischer Gewalt, um Dinge, Menschen, Gruppen unsichtbar und damit auch unverhandelbar zu machen. Wie das oben angeführte „Sternbild“-Zitat erkennen lässt, ermöglicht es das Konzept symbolischer Macht verschiedene Differenzierungsachsen mit dessen Hilfe in den Blick zu nehmen – Bourdieu nennt sowohl „Gruppen“
22 So von zahlreichen christlich-konservativen Politikern häufig als Argument für die Negierung der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland angeführt.
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und „Klassen“ als auch „Geschlecht“ und „Region“ oder „Nation“, womit eine Grundlage für die Analyse von Geschlechterverhältnissen als auch von ‚rassischen‘ oder ‚ethnischen‘ Ungleichheiten geschaffen ist; das Konzept ließe sich mit dieser Beschreibung mühelos auch für andere Unterscheidungslinien öffnen, um noch weitere Ungleichheitskonstellationen zu analysieren. Darauf hat Bourdieu an verschiedenen Stellen selbst hingewiesen (z.B. in Bourdieu 1997d), obwohl im Zentrum seiner eigenen empirischen Arbeiten zweifelsfrei die Analyse von Klassenverhältnissen steht. Jedoch hat er sich bereits in seinen Arbeiten zu Algerien eingehend mit Geschlechterverhältnissen befasst und sich später in die feministisch geprägte Debatte um Geschlecht eingemischt. Wenngleich er den Problemkomplex ‚Ethnie‘ oder ‚Rasse‘ kritisch thematisierte, gibt es aus Bourdieus eigener Feder neben gelegentlichen verstreuten Bemerkungen dazu nicht viele Texte, die explizit zur Thematik beitragen. Wiederholt verwendet er den Begriff „Klassenrassismus“ (z.B. in Schultheis 2003: 26). Obwohl dieser Begriff als Gegenbegriff zu „Rassenrassismus“ in der Rassismusforschung durchaus geläufig ist, um eine sozialdarwinistische Komponente von Rassismus zu betonen (vgl. Hund 2007), müssen wir davon ausgehen, dass er im Kontext der Bourdieu’schen Konzepte mit einer eigenen Nuancierung versehen ist. Einen Hinweis darauf gibt eine Textstelle, an der Bourdieu seinen Rassismus-Begriff näher erläutert und damit tieferen Aufschluss über die Idee gibt, die dessen Verwendung im Zusammenhang seiner Soziologie zu Grunde liegt. In diesem „Der Rassismus der Intelligenz“ überschriebenen, sehr kurzen Text erläutert Bourdieu: „Zunächst möchte ich zu bedenken geben, dass es nicht einen Rassismus gibt, sondern viele Rassismen: so viele, wie es Gruppen gibt, die eine Rechtfertigung dafür brauchen, dass sie existieren, wie sie existieren, denn das ist die invariante Funktion von Rassismen“ (Bourdieu 1993a: 252; Hervorhebung i.O.).
Ein Merkmal aller Rassismen ist Bourdieu zu Folge eine „Scheinverwissenschaftlichung“ der Argumentation (ebd.: 253), mit deren Hilfe es möglich ist, den Rassismus zu euphemisieren (vgl. ebd.). Sein Interesse gilt daher nicht so sehr dem offenkundigen und brutalen Rassismus, sondern den im alltäglichen sozialen Leben durch „Legitimierungen zweiten Grades“ (ebd.: 256) verschleierten Ausgrenzungsmechanismen, wie sie beispielsweise im Schulsystem zu finden sind. In seinem Text „Die Macht der Repräsentation“ (Bourdieu 1990b [1982]) beschreibt Bourdieu die Entstehung ‚ethnischer Identitäten‘ stärker von der anderen Seite her: als Strategien der Selbst-Repräsentation als „Mobilisierungskraft“ (ebd.: 101), um Machtinteressen durchzusetzen.
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„Wie die Verwandtschaftskategorien setzen die ‚ethnischen‘ oder ‚regionalen‘ Kategorien Realität, indem sie sich der Macht der Offenbarung und der Konstruktion bedienen, die von der Objektivierung im Diskurs ausgeht.“ (Bourdieu 1990b: 97; Hervorhebungen i.O.)
Besonders streicht er heraus, dass die Wissenschaft mit ihrem kategorisierenden Fachjargon in solchen Diskursen Position bezieht und so selbst zu einem „Teil der Realität der Klassifizierungskämpfe“ wird (ebd.: 100). Das liegt daran, dass „das bloße Zeigen schon so wirken [kann], als würde mit dem Finger auf etwas gezeigt, als würde es auf den Index gesetzt und an den Pranger gestellt […] oder, umgekehrt, sichtbar und geltend gemacht. Dies gilt für die Einteilung in soziale Klassen ebenso wie für ‚Regionen‘ oder ‚Ethnien‘. Daher ist es auch notwendig, die Beziehung zwischen den Kämpfen genau und vollständig aufzuklären, die sich im wissenschaftlichen Feld um das Prinzip der legitimen Vorstellung und Gliederung abspielen (und bei denen aufgrund ihrer besonderen Logik den Intellektuellen eine maßgebliche Rolle zukommt).“ (Bourdieu 1990b: 100; Hervorhebung i.O.)
Daher sei es besonders wichtig, dass Wissenschaft „die Eigenlogik eines Kampfes [erfasse,] bei dem die soziale Macht der Vorstellungen nicht unbedingt an ihrem Wahrheitsgehalt zu messen ist (das heißt daran, wie in ihnen der Stand der Machtverhältnisse zum betreffenden Zeitpunkt zum Ausdruck gebracht wird).“ (Ebd.: 101)
Die Art und Weise, wie Bourdieu das Thema Rassismus bzw. ethnische Zuschreibung thematisiert, zeigt zunächst einmal, dass es ihm gelingt, den Fragenkomplex in den allgemeinen Zusammenhang von Herrschaftsdiskursen einzuordnen – also nicht durch Herauslösen als ein Problem ganz eigener Qualität zur Verschleierung des Problems wie auch des Diskurses beizutragen. In der Bourdieu-Rezeption ist dies bislang nur wenig beachtet worden (außer bspw. Weiß 22011). Bedeutsam für die selbstkritische Reflexion der Wissenschaftler/innen sind die hier deutlich ausgeführten Überlegungen zu ihrer Mitwirkung an symbolischer Herrschaft, indem sie selbst durch Kategorisierungen symbolische Gewalt ausüben. Dass Bourdieu diesem hochgesteckten Anspruch selbst nicht immer gerecht wird (oder werden kann), zeigt sich in einer zumeist überlesenen Fußnote in dem sehr bekannten Text „Sozialer Raum und ‚Klassen‘“ (Bourdieu 1985: 42f., Fn. 3): „In bestimmten sozialen Bereichen sind die den sozialen Raum strukturierenden Teilungsprinzipien – wie Kapitalstruktur und Kapitalvolumen – überlagert durch andere Gliederungsprinzipien, zum Beispiel ethnische oder Religionszugehörigkeit. In diesem Fall erscheint die Verteilung der Akteure als Ergebnis der Überschneidung
138 | MAJA SUDERLAND zweier relativ unabhängiger Räume: Eine im Raum der Ethnien unten angesiedelte Gruppe kann dementsprechend zwar in allen Feldern und in jeglicher Position [des sozialen Raums; M.S.] vertreten sein, letzten Endes aber in einem geringeren Verhältnis als die weiter oben [im Raum der Ethnien; M.S.] angesiedelte Gruppe. Eine Ethnie lässt sich mithin anhand der folgenden Merkmale definieren: soziale Positionen ihrer Angehörigen [im sozialen Raum; M.S.], Dispersionsgrad dieser Positionen, Grad der sozialen Integration trotz Dispersion (ethnische Solidarität kann kollektive Mobilität sichern).“ (Bourdieu 1985: 42f., Fn. 3)
Es erstaunt mich sehr, dass der sprachliche Duktus in dieser Passage völlig verschleiert, dass sowohl der „soziale Raum“ als auch die „Gliederungsprinzipien“ Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit sind und durch Zeigen zur substanziellen Realität des Bezeichneten beitragen (s.a. Suderland 2009e). Dass Bourdieu bei seiner Verwendung des Ethnien-Begriffes seinen explizit formulierten Anspruch an den Gebrauch der Wissenschaft an dieser Stelle selbst nicht einzulösen vermag, zeigt zuallererst, in welcher Weise symbolische Gewalt in Begriffe eingeht, denn diese wirkt ja in erster Linie dadurch, dass „wir in eine Welt hineingeboren werden [und; M.S.] eine Reihe von Postulaten und Axiomen [akzeptieren], die sich von selbst verstehen und keines mühseligen Lernprozesses bedürfen. […] Von allen Formen der ‚unterschwelligen Beeinflussung‘ ist die unerbittlichste die, die ganz einfach von der Ordnung der Dinge ausgeübt wird“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 205; Hervorhebungen i.O.).
Auch „Die männliche Herrschaft“ (v.a. Bourdieu 1997a; 1997b; 2005) sieht Bourdieu als paradigmatisches Beispiel für symbolische Herrschaft (Bourdieu/Wacquant 1996: 208), womit er den Diskurs über Geschlechterverhältnisse in einen allgemeiner herrschaftstheoretischen Kontext zurückholt.23 Bei der männlichen Herrschaft werde das „inkorporierte soziale Programm […] auf alle Dinge in der Welt und in erster Linie auf den Körper selbst in seiner biologischen Wirklichkeit angewandt“ (Bourdieu 2005: 8). In genauerer Weise als in anderen Kontexten führt Bourdieu in seinen Texten zur „männlichen Herrschaft“ aus, inwiefern symbolische Gewalt nicht allein auf Strukturen und kognitive Dispositionen wirkt, sondern ebenso stark auf die Körper. Häufig finden wir in diesem Kontext Bourdieus Hinweis auf die „Somatisierung“ von Herrschaft (z.B. Bourdieu/Wacquant 1996: 210). Leidenschaften oder Gefühle wie Liebe, Bewunderung oder Respekt, gehören ebenso dazu wie „körperliche Emotionen“ (Bourdieu 2005: 72), die als „Scham, Erniedrigung, Schüchternheit, Beklemmung, Ängstlichkeit, aber auch Zorn oder ohnmächtige Wut“ (ebd.) schmerzlich und oft auch unübersehbar in äußeren Anzeichen wie Erröten oder Stottern zum Ausdruck
23 Sehr gute Einführungen zur männlichen Herrschaft geben sowohl Beate Krais (2011) als auch Irene Dölling (2009).
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kommen. Die „sozialisierten Körper“, die sich die sozialen Verhältnisse dauerhaft einverleiben (ebd.: 73), reagieren auf diese Verhältnisse: emotional hingebungsvoll, affektiv verpflichtet, die auferlegten Schranken stillschweigend akzeptierend. Somit tragen Menschen häufig ohne ihr Wissen und oftmals sogar gegen ihren bewussten Willen zur Aufrechterhaltung einer Herrschaft bei, der sie selbst als Beherrschte unterlegen sind. Dieses „unterirdische Einverständnis“ wirkt wie eine Gewalt, weil es sich – „wenngleich manchmal im inneren Konflikt“ – den Beschlüssen des Bewusstseins entzieht (Bourdieu 2001: 217). „Die Legitimation der sozialen Ordnung ist nämlich nicht, wie manche glauben, das Produkt eines intentional auf Propaganda und symbolische Durchsetzung orientierten Handelns“ (Bourdieu 1992a: 149), sondern beruht auf der „schlafenden Kraft“ des Habitus (Bourdieu 2001: 216). Die im Habitus einverleibten Dispositionen werden insbesondere durch die performativen Äußerungen angestoßen und entfalten ihre volle Wirkmacht – Bourdieu spricht auch von „Zauber“ (ebd.) – nur dann, wenn sie Bedingungen ihrer Möglichkeit vorfinden. Ohne entsprechende Dispositionen bei den Adressaten können diese „stummen Befehle“ (Bourdieu 2001: 181) ihr Ziel nicht erreichen, weil die Empfänger nicht „empfänglich“ für sie sind (ebd.: 218). Die „Ordnungsrufe“ sind nämlich nur für diejenigen vernehmbar, die über eine entsprechende Voreinstellung verfügen (ebd.: 225). „Alles deutet darauf hin, dass die für die Konstruktion des Habitus entscheidenden Anweisungen gar nicht über Sprache und Bewusstsein, sondern, unterschwellig und suggestiv, über scheinbar ganz bedeutungslose Aspekte der Vorgänge, Situationen oder Praktiken des Alltagslebens vermittelt werden: Die Begleitumstände dieser Praktiken, die Art und Weise, wie jemand blickt, sich verhält, schweigt oder auch redet (ob er nämlich ‚missbilligend blickt‘, etwas in ‚vorwurfsvollem Ton‘ oder mit ‚vorwurfsvoller Miene‘ sagt, usw.), sind geladen mit Anordnungen, die nur deshalb so beherrschend werden und so schwer rückgängig zu machen sind, weil sie stumm und unterschwellig, nachdrücklich und eindringlich sind […]. Die über Dinge und Personen wirkende Suggestivkraft, die dem Kind nicht (als Befehl) sagt, was es tun soll, sondern was es ist, und es damit nachhaltig dazu bringt, das zu werden, was es werden soll – sie ist die Voraussetzung dafür, dass später alle Arten von symbolischer Macht einen für diese Wirkung empfänglichen Habitus erfolgreich beeinflussen können.“ (Bourdieu 1990a: 28f.; Hervorhebungen i.O.)
Im Theoriegeflecht Pierre Bourdieus ist symbolische Gewalt unlöslich mit den Konzepten der symbolischen Macht und der symbolischen Herrschaft verbunden. Ohne im Sinne eines Theorieentwurfs ‚Merksätze‘ mit exakten Definitionen anzubieten wird deutlich, dass symbolische Gewalt (violence symbolique) dabei als soziale Praxis oder Strategie zur Durchsetzung und gleichzeitigen Verschleierung von Machtinteressen auf der Handlungsebene zu verstehen ist. Sie bedient sich des Einsatzes sinnhafter Zeichen zur Herstellung von symbolischer Herrschaft (domination symbolique), also unglei-
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chen, asymmetrischen Kräfteverhältnissen. Symbolische Macht (pouvoir symbolique) stellt dabei das Potenzial dar, symbolische Gewalt zur Durchsetzung von symbolischer Herrschaft erfolgreich einsetzen zu können. Als Machtressource dient dabei symbolisches Kapital, das nach außen das Ausmaß an Verfügungsgewalt sinnbildlich dokumentiert und nur durch Anerkennung als solches wirken kann. „Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das heißt ganz einfach Daseinsberechtigung“ (Bourdieu 2001: 309). Diese symbolische Macht wird nicht nur von individuellen sozialen Akteuren ausgeübt, sondern „namentlich durch den Staat […]: als Zentralbank des symbolischen Kapitals.“ (Ebd.: 308) Die in der Soziologie so beliebte analytische Trennung in Mikro-, Mesound Makroebene wird durch das Instrumentarium Bourdieus gewissermaßen obsolet, weil sich dessen Konzepte stärker dem Zusammenspiel und der komplexen Verwobenheit des Sozialen hinwenden. Ein besonderes Problem – und für deutsche Leserinnen und Leser mithin verwirrend – ist der im deutschen Sprachgebrauch mehrdeutige Begriff „Gewalt“: Er bedeutet sowohl brachiale, unverschleierte Gewalt (im Sinne des frz. violence als Gewalttätigkeit) als auch Macht (im Sinne des frz. pouvoir) als Potenzial und Chance zu herrschen, wie es in den Begriffen „Gewaltenteilung“, „Staatsgewalt“, „Verfügungsgewalt“ oder „elterliche Gewalt“ zum Ausdruck kommt. Bei der Lektüre der deutschen Übersetzungen von Bourdieus französischsprachigen Originaltexten kommt daher das Problem hinzu, dass der Gewaltbegriff im Deutschen unterschiedlich verstanden werden kann, möglicherweise aber auch missverständlich oder unscharf übersetzt wurde. Eine weitere Erschwernis beim Umgang mit diesem komplizierten theoretisch-empirischen Konstrukt ist, dass auch Formen nackter Gewalt stets symbolische Dimensionen aufweisen (Bourdieu 2001: 220), die als Akte der Unterwerfung oder des Gehorsams daherkommen. Diese symbolische Dimension unterscheidet sich jedoch grundlegend von der bei Bourdieu beschriebenen, denn Unterwerfung und Gehorsam erfolgen in diesen Fällen als Konsequenz aus offener Gewalt. So ist etwa, um ein Beispiel aus der Geschichte zu bemühen, nach einer kriegerischen Auseinandersetzung in der frühen Neuzeit die symbolische Schlüsselübergabe der unterlegenen an die an die überlegene Partei zwar eine symbolische Übergabe der Verfügungsgewalt über eine Stadt, die aber als Folge tatsächlicher brachialer Gewalt zu verstehen ist – und diese Gewalt wird nicht verschleiert, sondern durch den demütigenden Charakter der symbolischen Handlung noch unterstrichen. Die symbolische Übergabe markiert hier die faktische Übergabe der Herrschergewalt. Wenngleich eine solche Unterwerfung durchaus symbolische, häufig auch rituelle Züge aufweisen kann, so fehlt ihr völlig der Aspekt der Verschleierung und symbolischen Verneinung, der jedoch ein wesentliches Moment der Bourdieu’schen Begriffswerkzeuge ausmacht. Auch kommt es in politischen Konflikten und ihren Folgen immer wieder zu hemmungsloser Gewalt gegen Symbole, die häufig Teil der Gewalt-
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aufführung sind, wie beispielsweise beim demonstrativen Verbrennen von Staatssymbolen wie Nationalflaggen, bei der Zerstörung religiöser Symbole wie Kruzifixen, oder der Verwüstung von Kultstätten usw. (Greyerz/ Siebenhüner 2006). Hier handelt es sich allerdings um Formen offener und unverschleierter Gewalt, die stellvertretend an dinglichen Objekten verübt wird und als Androhung von Gewalt gegen Menschen zu verstehen ist, zu der sie nicht selten nur einen Auftakt darstellen.24 Im Unterschied zu diesen oben genannten Aspekten symbolischer Dimensionen von Gewalt wird deutlich, dass es sich bei den Bourdieu’schen „Denkwerkzeugen“ symbolische Gewalt, symbolische Macht und symbolische Herrschaft um komplexe und diffizile Modi Operandi handelt, die eine tief gehende Kenntnis dieser – wie auch der übrigen – Bourdieu’schen Begriffswerkzeuge voraussetzt. Es lässt sich allerdings festhalten, dass sich diese Konzepte insbesondere dazu eignen um auszuleuchten, wie die praktische Durchsetzung einer bestimmten Weltsicht ohne den Einsatz physischer, unverhüllter Gewalt funktioniert. Damit können Herrschaftsverhältnisse durch bestimmte Formen sozialen Handelns als legitim etabliert und stabilisiert werden. Das Habitus-Konzept, das Konzept des sozialen Raums als symbolischer Raum, der Begriff des symbolischen Kapitals sowie das Konzept der sozialen Felder stellen dabei den analytischen Kontext für das empirisch Erfassbare dar, der es erlaubt, in unterschiedlichsten Bereichen des sozialen Lebens zu untersuchen, wie symbolische Herrschaft konkret in Erscheinung tritt. Die besondere Beharrlichkeit der aus symbolischer Gewalt entstehenden Strukturen, deren Abschaffung oder Veränderung trotz dahin gehender Absichten nicht durch einfache Beschlussfassungen möglich ist, wird mit diesen Theoriekonzepten plausibel. Im Vorwort zur „männlichen Herrschaft“ (Bourdieu 2005) erläutert Bourdieu, dass dies seinem grundlegenden Forschungsinteresse entspreche, weil er sich immer schon über die Beharrlichkeit sozialer Ordnungen gewundert habe: „Die Tatsache, dass die Weltordnung, so wie sie ist, mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrverboten, im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, ihren Verpflichtungen und Sanktionen grosso modo respektiert wird und dass es nicht zu mehr Zuwiderhandlungen oder Subversionen, Delikten und ‚Verrücktheiten‘ kommt […]. Oder dass sich, was noch erstaunlicher ist, die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen, ihren Rechten und Bevormundungen, ihren Privilegien und Ungerechtigkeiten, von einigen historischen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und dass die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können.“ (Bourdieu 2005: 7; Kursivierung i.O.)
24 Hier sei beispielsweise an den 9. November 1938 erinnert, die so genannte „Reichskristallnacht“, bei der die gewaltsame Zerstörung von Synagogen ein furioser erster Höhepunkt einer Entwicklung war, die in der Vernichtung von Millionen europäischer Juden endete. Vgl. Suderland (2009a).
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Gerade weil es nicht Bourdieus primäres Forschungsinteresse war, sich mit Veränderungen zu befassen, so kann diese Persistenz sozialer Praktiken schließlich aber auch in Zusammenhängen sichtbar gemacht werden, in denen die „schlafende Kraft“ des Habitus (Bourdieu 2001: 216) zu einer verborgenen Energie des (politischen) Widerstands wird und es selbst brachialer Gewalt nicht gelingt, hergebrachte Strukturen aufzubrechen, da sie als einverleibte Dispositionen immer noch für die durch Symbole hervorgerufenen „Ordnungsrufe“ aus der Vergangenheit empfänglich sind. Bourdieus früheste Studien in der algerischen Kabylei haben eigentlich genau das zeigen können.25 Den Begriffen „Herrschaft“, „Macht“ und „Gewalt“ wird im Kontext der Bourdieu’schen Soziologie damit eine besondere Tiefenschärfe verliehen.
3. K RITIK , P OTENZIALE UND A NSCHLUSSMÖGLICHKEITEN Bei meinem hier unternommenen und zweifellos beschränkten Versuch, Bourdieus theoretische Konzepte von Herrschaft, Macht und Gewalt zu erläutern, möchte ich nun nochmals zu meinen einführenden Überlegungen zu den ‚stenografischen Kürzeln‘ in der Soziologie Bourdieus zurückkehren. Bourdieu selbst weist darauf hin, dass seine Konzepte durch bereits existierende Theorien beeinflusst und angeregt waren und er versucht explizit (Bourdieu 1977; 1991a) darzustellen, welche Aspekte seiner Überlegungen auf die „Immigration von Ideen“ (ebd.) zurückgehen und worin sein eigener Beitrag zum Konzept symbolischer Macht besteht. Seine Texte sind nicht zuletzt deshalb häufig schwierig zu lesen und zu verstehen, weil solche Bezugnahmen aller Orten in seinen Schriften – manchmal eher beiläufig – auftauchen und meist äußerst voraussetzungsvoll sind. Und gelegentlich passiert es auch Bourdieu selbst, dass er derartige Kürzel aus fremden Zusammenhängen exportiert und sie eher alltagssprachlich verwendet.26 Bourdieu stellt mit seinem theoretischen Instrumentarium ein hochkomplexes Analysewerkzeug zur Verfügung, das sehr unterschiedliche Perspektiven miteinander in Beziehung setzen kann. Es geht dabei um die Rekonstruktion der Interessen unterschiedlicher sozialer Akteure und Fraktionen, die an konkrete Standpunkte im sozialen Raum gebunden sind und daher verschiedene Sichtweisen auf die Welt haben. Daraus ergibt sich ein Denken in Relationen, das nicht nur Verhältnisse der unterschiedlichen Positionen
25 Zur subversiven Kraft der Beharrlichkeit des Habitus im Kontext der nationalsozialistischen Konzentrationslager siehe auch Suderland (2008; 2009a). 26 So kritisiert etwa Ulrike Kadi (2006: 25), dass Bourdieu ständig mit dem Begriff des ‚Unbewussten‘ arbeite, ohne sich über dessen psychoanalytischen Implikationen in allen Nuancen Klarheit verschafft zu haben.
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zueinander, sondern auch die jeweilige Chance zur Durchsetzung von Interessen sowie das soziale Handeln einbezieht, mit dem sie tatsächlich durchgesetzt werden. Bourdieu macht immer auch „die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand“, um sich mit den Grenzen der Erkenntnis auseinanderzusetzen (Bourdieu 1997b: 220): „Übersetzt man das durch eine beherrschte soziale Gruppe gestellte soziale Problem umstandslos in eine soziologische Fragestellung, dann verurteilt man sich dazu, von vornherein das zu verfehlen, was gerade die Realität des Gegenstandes ausmacht.“ (Bourdieu 1997a: 214)
Dies verlangt von den ausübenden Wissenschaftler/innen einen hohen Grad an Reflektion über die „Eigenlogik“ der symbolischen Kämpfe (Bourdieu 1990b: 101). Aber auch Selbstreflektion über die eigene Position ist hierfür erforderlich, die die Verhältnisse, in die man als Wissenschaftler/in eingebunden ist, wie auch das eigene wissenschaftliche Tun in die Analyse einbezieht und zugleich ein Bewusstsein für die symbolische Macht schafft, die der Wissenschaft inne wohnt. Bourdieus Konzepte können daher auch als Aufforderung an die Wissenschaftler/innen verstanden werden, die symbolische Macht der Wissenschaft zu nutzen (Mauger 2005: 223), indem sie Herrschaftsverhältnisse und Machtkonstellationen nicht perpetuiert, sondern zur „Enthüllung“ der „verborgenen Mechanismen der Macht“ beiträgt (Bourdieu 1992c). Bourdieu ist für sein Konzept der symbolischen Macht von verschiedenen Seiten kritisiert worden (Feministische Studien 2002/20; zusammenfassend in Thebaud 2005; Schmidt/Woltersdorff 2008: 15f.; Fröhlich/Rehbein/Schneickert 2009; Schmidt/Woltersdorff 2010: 328ff.). Vor allem wurde moniert, dass die Betonung des Symbolischen im Konzept Bourdieus dazu verleite, Gewalt auf solch symbolische Formen zu fokussieren und dadurch direkte Formen brutaler Gewalt zu marginalisieren. Bourdieu selbst hat diesen Kritikpunkt aufgegriffen und zu klären versucht. Zu dem Irrtum, das Symbolische sei nicht real, schreibt er: „Obgleich ich mich nicht der Illusion hingebe, von vorneherein alle Missverständnisse ausräumen zu können, möchte ich doch vor den gröbsten Entstellungen warnen, die der Begriff der symbolischen Gewalt gemeinhin erfährt. Sie alle beruhen auf einer mehr oder weniger reduktionistischen Interpretation des Adjektivs ‚symbolisch‘, das ich hier in einem Sinn verwende, den ich für streng halte und dessen theoretische Grundlagen ich in einem schon vor langer Zeit erschienen Artikel dargelegt habe.27
27 In einer Fußnote verweist er an dieser Stelle auf Bourdieu 1977 – den Artikel, der zur grundlegenden Erklärung seines Konzeptes auch im vorliegenden Beitrag herangezogen wurde und der offenbar wenig rezipiert wird (s.a. Bourdieu 1991a).
144 | MAJA SUDERLAND Versteht man ‚symbolisch‘ in einer seiner geläufigsten Bedeutungen, so führt dies bisweilen zu der Annahme, dass die Betonung der symbolischen Gewalt gleichbedeutend sei mit der Verharmlosung der Rolle physischer Gewalt und einem Vergessen(machen) der Tatsache, dass Frauen geschlagen, verletzt, ausgebeutet werden, oder schlimmer noch, mit der Absicht verbunden sei, die Männer von dieser Form der Gewalt zu exkulpieren. Davon kann selbstverständlich keine Rede sein.“ (Bourdieu 2005: 64: Hervorhebungen M.S.)
Insbesondere von feministischer Seite wurde zudem das von Bourdieu herausgestellte Prinzip der „mitwirkenden Komplizenschaft“ als Beitrag zu Ungleichheitsverhältnissen heftig in Frage gestellt und sogar als „soziologischer Terrorismus“ bezeichnet (Jeannine Verdès-Lecroux zit. in Thébaud 2005: 235). Bourdieu war sich dieser Gefahr offenbar deutlich bewusst: „Das Risiko, dass man die bestehende Ordnung zu rechtfertigen scheint, wenn man Eigenschaften an den Tag bringt, mit denen die Beherrschten […], so wie die Herrschaft sie gemacht hat, zu der über die ausgeübten Herrschaft beitragen können, darf man nicht scheuen.“ (Bourdieu 2005: 195)
Eine allgemeinere Kritik an Bourdieus Konzepten lautet dahin gehend, dass diese Sichtweise auf Habitus und Herrschaftsstrukturen deterministisch sei und Spielräume für Veränderungen nicht erkennbar wären (Rieger-Ladich 2005; Suderland 2009b; s.a. verschiedene Beiträge in Fröhlich/Rehbein 2009a). Mit diesem Determinismusvorwurf hat Bourdieu sich oftmals auseinander gesetzt: „Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vorneherein gesetzt sind. Als unendliche, aber dennoch strikt begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung ist der Habitus nur so lange schwer zu denken, wie man den üblichen Alternativen von Determiniertheit und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewusstem und Unbewusstem oder Individuum und Gesellschaft verhaftet bleibt, die er ja eben überwinden will. Da der Habitus die unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (konditionierter) Freiheit Hervorbringungen […] zu erzeugen, die stets den in historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.“ (Bourdieu 1987: 102f.)
Da Bourdieus eigenes Forschungsinteresse auf die Beharrlichkeit sozialer Ungleichheitsverhältnisse gerichtet war, ist schließlich danach zu fragen, wie mit seinem theoretischen Instrumentarium Veränderungsprozesse beschrieben und erklärt werden können. Sein Habituskonzept macht zwar deutlich, das, was durch stetige Prägung entsteht, nur in stetiger Auseinandersetzung in einem langwierigen Prozess verändert werden könne (Bour-
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dieu 2001: 54). Oftmals hat Bourdieu dennoch die „befreiende Kraft der Bewusstwerdung“ (Bourdieu 2001: 44) beschworen, die bei ihm aber mit performativen, d.h. zugleich physischen Aspekten eng verknüpft bleibt. Vor allem im Zusammenhang mit den Strategien symbolischer Macht weist er auf die Potenziale sozialer Bewegungen hin, in die er selbst als kritischer Intellektueller ab Mitte der 1990er Jahre immer wieder eingegriffen hat: „Die symbolische Überschreitung einer sozialen Grenze hat aus sich heraus eine befreiende Wirkung, weil sie das Undenkbare praktisch heranführt. Aber sie selbst ist nur möglich und effizient […], wenn bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt sind. Damit ein Diskurs oder eine Handlung (Bilderstürmerei, Terrorismus usw.) mit dem Ziel, die objektiven Strukturen in Frage zu stellen, Aussichten hat, als legitim (oder gar als vernünftig) anerkannt zu werden und beispielhaft zu wirken, müssen die Strukturen, gegen die solchermaßen protestiert wird, selbst schon in einen Zustand der Fragwürdigkeit und Krisenhaftigkeit übergegangen sein, der ihre Infragestellung und die kritische Bewusstwerdung ihres willkürlichen Charakters und ihrer Zerbrechbarkeit begünstigt.“ (Bourdieu 2001: 304; Hervorhebung M.S.)
Die entgegengesetzte Richtung der Bourdieu-Rezeption greift die oben genannten Kritikpunkte als besondere Stärken seiner Konzepte heraus und betont, dass es dessen besonderes Verdienst sei, auch Formen sanfter Gewalt und ihre überaus starken Wirkungen sichtbar gemacht zu haben, deren Zustandekommen nur durch die Mitwirkung der Beherrschten und das Habituskonzept vollständig erklärbar werde. Die Wirkungsweise und insbesondere die Trägheit des Habitus28 könne dabei plausibel machen, warum Veränderungen nicht allein aus einem Bewusstsein heraus geschehen können. Die Stärke bestehe in der Veranschaulichung des Zusammenhangs zwischen symbolischer Ordnung und Körperlichkeit (z.B. Krais 2006; Moebius/ Wetterer 2011b) und der Macht der Geschichte. Die soziale Welt als Zusammenwirken zweier Zustände der Geschichte zu betrachten – nämlich den objektivierten Zustand der Geschichte in den Dingen und den inkorporierten Zustand „vergessene[r] Geschichte“ (Bourdieu 1987: 105) in den Habitus – trage zur Aufdeckung des „gesellschaftlichen Unbewussten“ bei (z.B. Steinrücke 1997; auch Kadi 2006). Wenn zuvor soziologische Theorien Herrschaft und „Diskriminierung als ausschließlich ökonomische oder politische Frage begriffen“ hätten, werde mit Bourdieu nun auch „das unendlich Kleine der Herrschaft“ fassbar (Thébaud 2005: 238). Als Potenzial wird dabei gesehen, dass Bourdieu keine abstrakte Theorie entwerfe, sondern mit seiner steten Hinwendung zur empirisch feststellbaren sozialen Praxis die Motive und Strategien der sozialen Akteure als „Logik der Praxis“ (1987: 147ff.) nachvollziehe, mithin also tatsächlich eine „Soziologie der Perzeption der sozialen Welt“ anbiete (Bourdieu 1992a: 143). So können ganz ohne die, ansonsten in der Wissenschaft gebräuchliche,
28 Zur Trägheit des Habitus siehe auch Suderland (2009c).
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„scholastische“ Herablassung (Bourdieu 1998a: 201ff.) des Besserwissens gesellschaftliche „Normalitäten“ (Krais 2008: 56; Suderland 2009a: 140) dargestellt werden, die dabei auch nicht als „falsches Bewusstsein“ über ‚tatsächliche Bedürfnisse‘ diskreditiert werden müssen. Trotz manch augenfälliger Gemeinsamkeiten mit dem Herrschaftsbegriff der Kritischen Theorie,29 in denen Ullrich Bauer und Uwe Bittlingmayer „unzweifelhaft eine Aktualisierung der Basisannahmen der kritischen Theorie der Gesellschaft“ erkennen (Bauer/Bittlingmayer 2000: 286), wird doch etwa am Beispiel der Verwendung des bei Marx eingeführten und auch gelegentlich von den Vertretern der Kritischen Theorie bemühten Ideologiebegriffs als „falsches Bewusstsein“ (z.B. Adorno 1998: 465) ein wesentlicher Unterschied in ihrem Gestus kenntlich. Zwar zeigen beide Theorierichtungen sowohl eine Bezugnahme auf zum Teil identische Referenzrahmen (z.B. Hegel, Marx, Freud), als auch insbesondere die frühen Arbeiten Horkheimers und Löwenthals aus den 1930er Jahren eine inhaltliche Nähe zu Bourdieus Habituskonzept und Konzept symbolischer Herrschaft, wie Bauer und Bittlingmayer detailliert und kenntnisreich herausgearbeitet haben (Bauer/ Bittlingmayer 2000). Diese findet sich beispielsweise bei Horkheimer, wo er von der menschlichen „Unfähigkeit“ schreibt, „aus der in die Seele jedes Individuums eingesenkten alten Glaubens- und Vorstellungswelt hinauszutreten.“ (Horkheimer 1992: 137, zit. n. Bauer/Bittlingmayer 2000: 252). Oder an anderer Stelle: „Die geistige Welt, in die das Kind […] hineinwächst, wie auch die Phantasie, durch welche es die wirkliche beseelt, seine Träume und Wünsche, seine Vorstellungen und Urteile sind vom Gedanken an die Macht von Menschen über Menschen, des Oben und Unten, des Befehlens und Gehorchens beherrscht. […] Die Notwendigkeit einer auf natürlichen, zufälligen, irrationalen Prinzipien beruhenden Hierarchie und Spaltung der Menschheit wird dem Kinde so vertraut und selbstverständlich, daß es auch Erde und Universum, selbst das Jenseits nur unter diesem Aspekt zu erfahren vermag; jeder neue Eindruck ist bereits durch ihn präformiert.“ (Ebd.: 183, zit. n. Bauer/Bittlingmayer 2000: 254)
Auch Bourdieu selbst konstatiert gelegentlich Gemeinsamkeiten zur Kritischen Theorie, z.B. mit Habermas (z.B. in 1997c: 89). Gleichwohl wird seine Kritik an dem eher normativen Duktus der Frankfurter Schule und deren weit gehenden Empirieabstinenz zumindest ebenso deutlich (dazu auch Bauer/Bittlingmayer 2000: 241). So zeige etwa Habermas darin einen „Irr-
29 Zur differenzierten Betrachtung der Kongruenzen und Divergenzen zwischen dem theoretischen Instrumentarium Bourdieus und dem der Frankfurter Schule siehe die anderen Beiträge in diesem Band. Auch Stephan Voswinkel und Gabriele Wagner befassen sich im Themenhaft der ÖZS mit der reflexiven Verbindung kritischer Soziologie mit einer Soziologie der Kritik (Voswinkel/Wagner 2011).
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tum“, dass er die Wirkung des Diskurses in der „eigentlichen sprachlichen Substanz“ des Wortes finde, denn er übersehe dabei, „daß die Sprache ihre Autorität von außen bekomm[e]“ (Bourdieu 1990a: 73). Habermas’ „herrschaftsfreier Diskurs“ müsse den Regeln einer nicht realen, sondern „idealen Sprechsituation“ folgen (Habermas 1992) und lasse damit eine gewisse Habitusblindheit erkennen (vgl. auch Schmitt 2010: 49). Dagegen ist Bourdieus „gewaltfreie Kommunikation“ (Bourdieu et al.1997: 781ff.) eine empiriegeleitete Anleitung, um von der „Selbstvergessenheit“ zur „Konversion des Blicks“ zu gelangen (ebd.: 788), um schließlich den Standpunkt der Sprechenden „verstehen“ zu können (ebd.: 779ff.). Auch wenn „das grundlegende Moment, in dem die Bourdieu’sche Theorie und die Kritische Theorie konvergieren, […] vor allem in dem Versuch Bourdieus [liegt], die Mechanismen der ‚Verschleierung‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ›verborgenen Mechanismen der Macht‘ aufzudecken“ (Bauer/Bittlingmayer 2000: 265), so verweist m.E. insbesondere ein Begriff wie „falsches Bewusstsein“ im Zusammenhang mit diesem „Verstehen“ auf eine wesentliche Differenz in der Haltung der beiden Theorierichtungen. Indessen spricht Bourdieu von „démobilisation“ (Bourdieu 1977: 408; s.a. Fußnote 19) und verwendet damit einen Begriff, der in seiner Konnotation die realen asymmetrischen Kräfteverhältnisse transportiert und sich einer normativen Vorstellung enthält. Als die gesellschaftlich relevanten Akteure reduziert Bourdieu Menschen nicht auf ihr „Bewusstsein“ und es geht bei ihm eben nicht zu aller erst um die „kognitive Repräsentation der Realität“, „psychische Dispositionen“ oder „geistige Barrieren“, auf die Bauer und Bittlingmayer den Habitus in ihrer Betrachtung zuweilen beschränken (Bauer/Bittlingmayer 2000: 286; vgl. auch 274f.). Stattdessen liefert er uns mit der Vorstellung von der „schlafenden Kraft“ des Habitus (Bourdieu 2001: 216) und dessen „unterirdische[m] Einverständnis“ (ebd.: 217) mit den Verhältnissen starke soziologische Argumente für die Erkenntnis, dass „[d]er Habitus [nichts] ist […], was sich auf den ‚Geist‘ oder das ‚Bewusstsein‘ des Individuums reduzieren ließe: Die Menschen sind als körperliche Wesen in der Welt, und so ist soziales Handeln immer auch körperliches Handeln, gestützt auf eine sinnliche Wahrnehmung, die ihrerseits sozial codiert ist, und wir handeln nicht nur mit Bewusstsein, sondern zugleich über weite Strecken intuitiv. Der Habitus ist, wie Bourdieu sagt, inkorporierte Geschichte, ‚das Körper gewordene Soziale‘ […]. Der sozialisierte Körper ist daher nicht das Gegenteil von Gesellschaft, sondern eine ihrer Existenzformen.“ (Krais 2011: 38f.)
So weist meiner Ansicht nach Bourdieu trotz einiger Überschneidungen mit den Ideen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, auf die Bauer und Bittlingmayer zu recht aufmerksam machen, wesentlich darüber hinaus, indem er mit seinen soziologisch-theoretischen Erkenntniswerkzeugen ein Instrumentarium bereitstellt, das eine sowohl empirische wie auch theoreti-
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sche – vor allem jedoch eine nicht-normative! – Rekonstruktion der unterschiedlichen Sichtweisen auf die soziale Welt ebenso wie auf die divergierenden Standpunkte innerhalb dieser sozialen Welt ermöglicht, ohne Menschen in ein ‚Bewusstsein‘ und einen andersartigen „Rest“ auseinander zu dividieren. Wir finden daher bei ihm auch nicht den scholastischen Verweis auf eine „mündige Einsicht der Akteure“ (Bauer/Bittlingmayer 2000: 287; Hervorhebung M.S.), die Veränderung herbeiführe durch das „Niederreißen jener Barrieren, die sich bereits in den Köpfen der Individuen befinden“ (ebd.; Hervorhebung M.S.) – auch nicht einen erkenntnistheoretischen Ort, „von dem aus wahre Erkenntnis (zum Wohle aller) von unwahrer Erkenntnis (lediglich dem partikularen Wohl dienlich) geschieden werden soll“ (ebd.). Stattdessen lesen wir bei Bourdieu von einer praktischen Heranführung an das bislang Undenkbare durch symbolische Überschreitung von sozialen Grenzen (Bourdieu 2001: 304). Dies ist eine Art der Grenzüberschreitung, die sich nicht allein in den Köpfen abspielt, sondern unbedingt einer physischen Erfahrbarkeit bedarf und dadurch Fakten schafft, die zuvor nicht mal gedacht werden konnten. Der Unterschied wird unmittelbar deutlich, wenn wir etwa kluge und gut argumentierte Reden gegen die Macht der Banken den Aktionen der Occupy-Bewegung gegenüber stellen: Richtet sich das eine gezielt an den Intellekt eines kritischen Publikums, so sind die anderen mit ihren Zelten und Transparenten als physische Masse am Ort der Banken präsent und haben tatsächlich bereits eine unsichtbare Grenze überschritten. Sie bewirken nicht nur im Alltag der Banker gewissermaßen eine ‚Bildstörung‘, sondern auch das Frankfurter Opernpublikum wird in seiner scheinbar politik- und machtfreien Welt der angenehmen musikalischen Zerstreuung empfindlich beeinträchtigt.30 Insofern teile ich weder Ullrich Bauers und Uwe Bittlingmayers Ansicht, dass Bourdieus „Praxeologie als verhinderte Gesellschaftstheorie“ zu betrachten sei (Bauer/Bittlingmayer 2000: 266; Hervorhebung M.S.), noch dass sie einen „unausgewiesene[n] normative[n] Standpunkt“ transportiere (ebd.: S. 287; Hervorhebung M.S.). Mit dem „sozialisierten Körper“ (Bourdieu 1997a: 165) lässt sich nämlich die Beharrlichkeit nicht allein von Herrschaft, sondern insgesamt alles Sozialen erklären (s.a. Suderland 2009c). Wenngleich Bourdieu selbst den Begriff „Gesellschaft“ nicht häufig verwendet, lässt er mit seinen Konzepten wichtige Aspekte des Gesellschaftlichen überhaupt erst sichtbar werden und verweist auf die „Somatisierung“ des Sozialen (Bourdieu/Wacquant 1996: 210), die eben auch zu einer sozialen „Libido“ führt (s.a. Suderland 2009d). Seine Begriffswerkzeuge sind
30 Die Frankfurter Oper befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Europäischen Zentralbank und anderen Banken, sodass die Operngäste, wenn sie in der Pause in ihren schönen Kleidern mit Sektgläsern in den Händen auf und ab spazieren, nur durch die Glasfenster von den weithin sichtbaren und daher auch dort präsenten Aktionen der Occupy-Bewegung getrennt sind. Zur Occupy-Bewegung siehe beispielsweise http://www.occupydeutschland.de/ [Zugriff am 28.05.2012].
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deshalb auch hilfreich dabei, alles Gesellschaftliche in seiner „mit Macht“ wirksamen Ambivalenz zu beleuchten. Zudem ist Bourdieus eigene politische Stellungnahme stets – und auch bereits in seinen ganz frühen Arbeiten – klar erkennbar. Gleichwohl maßt er sich kein Urteil über ein „falsches Bewusstsein“ der gesellschaftlich Unterlegenen an, sondern bietet mit seinem Programm einer verstehenden Soziologie Instrumente zu der tief gehenden Einsicht in die Funktionsweise solcher Herrschaft, die auch ohne die Anwendung brachialer Gewalt auskommt. Dieses nicht-normative Verstehen-Wollen war ja gerade der Impetus zu seinen ersten soziologischen Arbeiten, die sich keineswegs politischer Positionen enthielten. Wenn aber Bourdieus theoretische Erkenntnisse tatsächlich zutreffend sind, so ist es nicht nur erklärbar, sondern es muss sogar zwingend so sein, dass auch er selbst den von ihm identifizierten „sozialen Mechanismen“ unterliegt. Wir verdanken diesem „Verstehen“ (Bourdieu 1997f) nicht nur die Einsicht, dass kein Soziologe und keine Soziologin außerhalb der sozialen Welt stehen kann, die sie analysieren (auch wenn sie uns zuweilen das Gegenteil glauben machen möchten), und daher wie alle anderen auch ihrer Wirkung unterliegen. Es wird dadurch auch deutlich, dass es tatsächlich ein ebenso weiter wie mühsamer Weg vom geänderten Bewusstsein zum veränderten Habitus ist, dessen „unterirdisches Einverständnis“ (Bourdieu 2001: 217) auch dann noch nachwirkt, wenn der Intellekt bereits gegenteilige Beschlüsse gefasst hat. Und genau in diesem Punkt sehe ich die Radikalität in Bourdieus Soziologie,31 da er ohne Herrschaft zu rechtfertigen, die praktische Logik ihrer Wirksamkeit aufzeigt, und zugleich nicht nur die Erkenntnis zulässt, sondern geradezu herbei zwingt, dass wir alle – und daher auch er selbst – uns dieser Wirkung von Herrschaft nicht vollständig und schon gar nicht durch einfachen Beschluss des Bewusstseins entziehen können.32 Dadurch, dass Bourdieu sich nicht auf eine bestimmte Perspektive bzw. Analyse-Ebene beschränkt, seinen Blick also immer – wenngleich je nach Forschungsfrage in unterschiedlicher Gewichtung – sowohl auf die Mikro-, die Meso- und Makroebene des sozialen Geschehens lenkt und er sich außerdem durch die empirische Ausrichtung seiner eigenen Forschungsarbeiten zahlreichen, sehr verschiedenen Untersuchungsgegenständen zugewandt hat, bieten sich viele Anschlussmöglichkeiten an andere Forschungsrichtungen.33 Bourdieu selbst hat in erheblichem Maße durch seine
31 Dagegen meinen Ullrich Bauer und Uwe Bittlingmayer, dass „seine realistischen Utopien gemessen an seiner Herrschaftssoziologie eigentümlich unradikal“ blieben. (Bauer/Bittlingmayer 2000: 283) 32 Geradezu greifbar wird dies im Film „Soziologie ist ein Kampfsport“ in jenen Szenen, die ihn mit seinem vertrauten Mitarbeiter und Schüler Loʀc Wacquant oder mit seiner Sekretärin zeigen. (Carles 2008) 33 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Bourdieus Konzept der symbolischen Macht und anderen Machttheorien siehe: Beate Krais vergleicht Bour-
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Untersuchungen Anknüpfungsmöglichkeiten an die Sprach-, Bildungs-, Kultur- und an die Politikwissenschaft geschaffen. Darüber hinaus ergeben sich weitere Potenziale, die zum Teil noch auf ihre Bearbeitung warten und von denen ich hier nur einige nennen möchte. Durch den expliziten Bezug zur Verschränkung von Klassenunterschieden, Geschlecht und Ethnizität an verschiedenen Stellen in Bourdieus Schriften bietet sich eine Verbindung zur Intersektionaliät geradezu an. Vereinzelt gibt es dazu auch bereits Hinweise in der Literatur (bspw. Fowler 2007). Der Mainstream der Intersektionalitätsforschung ist aber eher mit der unablässigen Suche nach weiteren Grunddualismen beschäftigt – Helma Lutz und Norbert Wenning kommen gar auf dreizehn Differenzierungsachsen! (Lutz/Wenning 2001: 20), wobei sie den epistemologischen Irrtum begehen, was in der sozialen Praxis bei den Akteuren untrennbar zusammen wirkt, durch theoretische Analyse bis zur Unkenntlichkeit zu separieren und schließlich nicht mehr zusammenzubringen zu können. Das theoretische Angebot Bourdieus, gesellschaftliche Differenzierung immer im Zusammenhang von Herrschaftsfragen zu kontextualisieren, bleibt damit im Rahmen intersektioneller Analysen bislang noch weit gehend ungenutzt, bewirkt durch die permanente Suche nach immer neuen Gegensatzpaaren eine Zergliederung und trägt mithin also eher selbst zur Verschleierung von Herrschaft bei. Gelegentlich wird aber in neuerer Zeit auch auf eine systematische Integration der Differenzierungslinien der sozialen Praxis in die Ungleichheitsforschung hingesteuert. So arbeiten Nina Degele und Gabriele Winker an einer systematischen Unterscheidung der Struktur-, Repräsentations- und Identitätsebene und plädieren – auch mit Bezug auf Bourdieu (Degele/Winker 2007: 11) – für eine Mehrebenenanalyse, damit die Achsen der Differenz theoretisch erfasst, empirisch verdeutlicht und die Wechselwirkungen zwischen Ebenen und Kategorien methodologisch reflektiert werden können. (Degele/Winker 2011) Da Bourdieu explizit den Körper ins Blickfeld der Soziologie gerückt hat, liegen hier Anknüpfungspunkte auf der Hand. So gibt es auch inzwischen eine von Bourdieu inspirierte Körper-Soziologie, die sich nicht nur mit körperlichem Ausdruck des Sozialen und dessen Einbindung in Herrschaftsverhältnisse beschäftigt (Alkemeyer et al. 2003; Schmidt 2010; 2012), sondern auch soziale Veränderung über die Einübung neuer Körperpraktiken erforscht (z.B. Schmidt 2004). Da Bourdieu von „performativen Diskursen“ spricht (z.B. Bourdieu 1992a: 152), wäre auch ein Einbezug in
dieu und Foucaults Machttheorie (Krais 2008); ein Vergleich von Bourdieus Gewaltkonzept mit dem von Norbert Elias findet sich in einem Beitrag von Bridget Fowler (Fowler 2008). Paula-Irene Villa hat für das Themenheft „Symbolische Gewalt“ der ÖZS einen Beitrag zu Bourdieu und Butler verfasst (Villa 2011); Anne Waldschmidt befasst sich ebenda im Kontext einer Soziologie der Behinderung und symbolischer Gewalt mit einem Vergleich von Goffman, Foucault und Bourdieu (Waldschmidt 2011).
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erweiterte, stärker habitusorientierte diskursanalytische Arbeiten denkbar und sinnvoll. In der Soziologie Bourdieus ist damit eng verbunden, dass Menschen emotional und affektiv handeln, was seinen Ausdruck auch im Körperlichen findet. Bemerkungen zu Emotionen und Affekten sind in Bourdieus Arbeiten von Anfang an eingestreut34 – so spricht Bourdieu in den Meditationen etwa von „sozialisierten Affekten“, die er auch als eine „soziale libido“ beschreibt (Bourdieu 1997a: 216; Suderland 2009d) – sodass Robert Schmidt und Volker Woltersdorff sogar so weit gehen, Bourdieus Soziologie als eine „Phänomenologie des Affektiven“ zu bezeichnen (Schmidt/Woltersdorff 2010: 320). Bourdieu benutzt sowohl den Begriff der ‚Emotionen‘ als auch den der ‚Affekte‘, wobei m.E. Emotionen im Sprachgebrauch Bourdieus mehr den Bereich der Dispositionen bezeichnen (im Sinne etwa von Gefühlszuständen) und Affekte eher auf der Handlungsebene (als sichtbare Gefühlsbewegungen mit starkem Ausdruck, z.T. auch im Sinne von Gefühlsausbruch) verwendet werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur erstaunlich, dass immer wieder behauptet wird, Bourdieu äußere sich kaum zu Gefühlen (bspw. Fröhlich/Rehbein/Schneickert 2009: 406), sondern auch, dass sich die Soziologie der Emotionen nicht längst auf Bourdieus Arbeiten „gestürzt“ hat. Entweder wird Bourdieu in diesem Zusammenhang nicht einmal genannt (z.B. Schützeichel 2008; Hopkins et al. 2009) oder es wird moniert, dass Bourdieu dazu keine umfassende Theorie entwickelt habe (z.B. Scheve 2009: 14f.). Ein solches Urteil ist nur im Kontext der (auch in der Soziologie) äußerst populären Theorien rationalen Handelns erklärbar, in denen Emotionen keinen systematischen Ort haben, sodass nach einer neuen speziellen Soziologie gerufen werden muss. Eine systematische Analyse der Bedeutung von Emotionen im Werk Bourdieus und damit auch ihrer Bedeutung für Herrschaftsverhältnisse steht also noch aus und es zeichnet sich derzeit nicht ab, dass diese in Angriff genommen wird. Eine eigene ‚Soziologie der Emotionen‘ würde sie m.E. obsolet machen, da unter Bezug auf Bourdieu die Bedeutungszusammenhänge erhalten blieben und eine Kontextualisierung ermöglichten. Mit der Thematisierung von Emotionen ergeben sich auch Verbindungen zur Psychoanalyse. Ulrike Kadi (2006) schlägt in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Bourdieus Verwendung psychoanalytischer Begriffe vor, Bourdieus Theorie als eine Psychoanalyse des Sozialen zu betrachten. Zudem regt sie an, „[d]en Habitus als Forschungsgegenstand [in die Psychoanalyse; M.S.] einzubeziehen, ihn als einen möglichen Angriffspunkt von Veränderung zu analysieren, [denn dies; M.S.] wäre in diesem Sinne ein lohnendes Unternehmen“ (Kadi 2006: 28). Auch in der Neuropsychologie
34 Sogar bereits seine philosophische Dissertation, die er nie fertig gestellt und eingereicht hat, befasst sich mit den „Zeitstrukturen des Gefühlslebens“ („Structures temporelles de la vie affektive“ 1955-1957, siehe http://hyperbourdieu.jku.at/ hb53-69.htm; vgl. auch Bourdieu 2002: 48f.).
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gibt es einen ersten Versuch, durch Integration des Habituskonzeptes Amnesieerscheinungen zu erklären (Kastl 2004), wobei der herrschaftstheoretische Aspekt des Habituskonzeptes hier nicht herausgearbeitet wurde. Durch die deutliche Thematisierung der Verschleierung bietet sich eine Integration der Bourdieu’schen Konzepte in die Soziologie des Vergessens geradezu an (Dimbath/Wehling 2011). Peter Wehling hat dazu kürzlich einen Beitrag veröffentlicht (Wehling 2011). Bourdieus Modell des sozialen Raums, das ja nicht nur Lebensstile als symbolische Praktiken der Distinktion, sondern soziale Positionen im Sinne von Machtpositionen abbildet, ist häufig schon auf den konkreten physischen Raum übertragen worden. So spricht Bourdieu nicht nur von einer „Sozialtopologie“ (Bourdieu 1985: 9), sondern hat diesem Thema auch eigene Texte gewidmet (Bourdieu 1991c; 1997e), in denen er ausführt, in wie fern soziale Positionen im physischen Raum zum Ausdruck kommen (s.a. Suderland 2009e). Nach dem ‚spatial turn‘ – nicht allein in der Soziologie – ist er damit sowohl für die Stadt- und Raumsoziologie interessant als auch für die Humangeografie, die in den letzten Jahren zunehmend auf seine Konzepte zurückgreift (Dirksmeier 2011). Geradezu rätselhaft erscheint es mir, dass Bourdieus expliziter Zeitbezug in allen seinen Konzepten noch nicht stärker in den Fokus des soziologischen Interesses gerückt ist. Das Thema ‚Zeit‘ kann als ursprüngliche Domäne der Philosophie angesehen werden. Da Bourdieu seine wissenschaftliche Ausbildung in der Philosophie erhielt, ist es sicherlich kein Zufall, dass die Bedeutung der Zeitlichkeit in solch starkem Maße in sein Schaffen einging. Seine geplante, jedoch niemals fertig gestellte, philosophische Dissertation, die er bei Georges Canguilhelm schreiben wollte, befasste sich mit dem Thema „Zeitstrukturen des Gefühlslebens“, worin er sich vorwiegend auf die Phänomenologie Husserls stützte (s.a. Fußnote 34; Bourdieu 2002: 48f.). Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand haben als bislang einzige im deutschsprachigen Raum Gunter Gebauer und Christoph Wulf das Thema Zeitlichkeit in Bourdieus Soziologie in ihrem „Zeitmimesis“ betitelten Aufsatz explizit aufgegriffen (Gebauer/Wulf 1993). Darin geht es allerdings hauptsächlich darum, „die Vielzahl der Einzelzeiten in der sozialen Praxis selbst […] übersichtsweise“ zu erfassen, um schließlich zu analysieren, welche linearen oder komplexen „Zeitmodelle“ die Sozialwissenschaften der „geschrieben Literatur“ verdanken (ebd.: 293) – damit stellt dieser Beitrag keine systematische Analyse der Bedeutung der Zeitlichkeit in Bourdieus Soziologie ins Zentrum. Selbstverständlich gibt es daneben eine Vielzahl soziologischer Arbeiten zur Zeitlichkeit des Sozialen.35 Als Klassiker ist hier allen voran sicherlich „Über die Zeit“ von Norbert Elias zu nennen (Elias 1984), der sich in erster Linie mit den verschiedenen Bewusstseinsformen von Zeit in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Kulturen befasst. Hartmut Rosa (2005) weist
35 Einen Überblick gibt Hartmut Rosa (2005).
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darauf hin, dass es „geradezu Berge an zeitsoziologischen Untersuchungen“ gebe (ebd.: 20), denen es allerdings „an einer sorgfältigen und theoretisch wie empirisch gehaltvollen sozialwissenschaftlichen Analyse der Zeit nach wie vor mangele“. Es fehle ihnen entweder an einer Anschlussfähigkeit an soziologische Theoriebildung (ebd.) und die „Zeit [werde] als selbstevidente Größe behandel[t]“ (ebd.: 21), oder aber sie machten auf einem völlig abstrakten theoretischen Niveau eine empirische Rückbindung unmöglich (ebd.). Eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche „Zeitsoziologie“ stelle daher nach wie vor ein unerfülltes Forschungsdesiderat dar (ebd.: 22).36 Während viele soziologische Theorien den Faktor Zeit völlig auszublenden scheinen oder bestenfalls als ‚Situation‘ denken können, stellt Bourdieu selbst diesen Bezug ohne Unterlass und konsequent bei allen seinen konzeptionellen Begriffen her: „Das Verhältnis von Habitus und Feld, verstanden als zwei Existenzweisen der Geschichte, gibt die Grundlage einer Theorie der Zeitlichkeit ab, die gleich mit zwei konträren Philosophien bricht: einerseits mit der metaphysischen Sichtweise, die (mit der Metapher des Flusses) die Zeit als eine vom Akteur unabhängige Realität an sich behandelt, und andererseits mit der Bewusstseinsphilosophie. Die Zeit ist eben keineswegs eine transzendentale Bedingung a priori von Geschichtlichkeit, sondern sie ist etwas, das das praktische Tun in eben dem Akt produziert, durch den es sich selbst produziert. Weil die Praxis das Produkt eines Habitus ist, der selber das Produkt der Inkorporierung der immanenten Regularitäten und Tendenzen der Welt ist, enthält sie in sich selber eine Antizipation dieser Tendenzen und Regularitäten, das heißt einen nicht-thetischen Bezug auf eine in der Unmittelbarkeit der Gegenwart angelegte Zukunft. Die Zeit erzeugt sich in eben dieser Ausführung des Aktes (oder des Gedankens) als Aktualisierung einer Potentialität, die per definitionem die Vergegenwärtigung von etwas Nicht-Aktuellem ist, also eben das, was der common sense als das ‚Vergehen‘ von Zeit definiert. […] In dem Maße, wie die praktische Tätigkeit Sinn hat, sinnvoll ist, vernünftig, das heißt von einem Habitus hervorgebracht wird, der an die immanenten Tendenzen des Feldes angepasst [ist], transzendiert sie die unmittelbare Gegenwart durch die praktische Mobilisierung der Vergangenheit und die praktische Antizipation der in der Gegenwart im Zustand der objektiven Potentialität angelegten Zukunft. […] Diese Analyse müsste präzisiert, verfeinert, diversifiziert werden […].“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 171f.; Hervorhebungen M.S.)
Nach den ungezählten ‚Turns‘ der vergangenen Jahre37 scheint es mir erklärungsbedürftig, warum die Zeitstrukturen in der sozialen Praxis und damit in
36 Seine eigene Arbeit will Hartmut Rosa im Kontext von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen als Beitrag zur Frage nach „Beschleunigung“ verstanden wissen. (Rosa 2005: 24) 37 Vom „practice turn“ über den „visual“, „spatial“ bis zum „emotional“ und „body turn“, um hier nur einige anzuführen.
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der Perpetuierung und Herstellung von Herrschaftsverhältnissen in der soziologischen Analyse keine stärkere Berücksichtigung finden – zumal mit den Konzepten Pierre Bourdieus Erkenntniswerkzeuge vorliegen, mit denen auf allen gesellschaftlichen Ebenen der Faktor Zeit als machtvolle Einflussgröße mitanalysiert werden kann. Hierzu wäre allerdings weder ein ‚temporal Turn‘ erforderlich, noch ließe sich die Analyse der Zeitlichkeit des Sozialen durch schlichten Export der „stenografischen Kürzel“ aus der Herrschaftssoziologie Bourdieus herbeiführen.
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Subjektivität und Habitus Pierre Bourdieus Beitrag zu einer soziologischen Theorie des Subjekts und das Problem der ungesetzlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen A LBERT S CHERR
Die Frage, wie das Verhältnis von sozialen Strukturen und Prozessen zur Individualität und Subjektivität der Individuen angemessenen zu konzipieren sei, stellt eine Kernfrage soziologischer Sozial- und Gesellschaftstheorien dar. Denn jede soziologische Theorie operiert einerseits mit Annahmen über die Eigengesetzlichkeit sozialer Strukturen und Prozesse, die nicht als Ergebnis des absichtsvollen Handelns von Individuen begriffen werden können. Andererseits muss jede soziologische Theorie in Rechnung stellen, dass die Entstehung, Reproduktion und Transformationen sozialer Strukturen und Prozesse sprach- und handlungsfähige Individuen voraussetzt, deren Handlungen nicht umfassend durch soziale Festlegungen determiniert sind. Denn soziale Prozesse lassen sich nicht als Vollzug eines vollständigen und widerspruchsfreien Sets von Algorithmen beschreiben, die eindeutig festlegen, was als nächstes geschieht.1 Für Theorien, die sich mit der Entstehung, Reproduktion und Veränderungen sozialer Strukturen und Prozesse befassen, ist es deshalb unhintergehbar auszuweisen, welchen Stellenwert sie der sozial nicht vollständig determinierten Handlungsfähigkeit individueller und kollektiver Akteure einräumen (s. dazu auch Emirbayer/Goodwin 1994; Joas 1996). Für soziologische Theorien der Individualität und Subjektivität stellt sich umgekehrt die Frage, wie die sozialen Ermöglichungsbedingungen und zugleich die Begrenzungen und Formierungen der Subjektivität des Individuums angemessen zu bestimmen sind. Die damit aufgeworfenen Fragestellungen werden in unterschiedlichen soziologischen Theorien ersichtlich uneinheitlich beantwortet. Im Folgen1
Gerade dies aber unterstellen die unterschiedlichen Spielarten des Strukturalismus auch dann, wenn sie, wie explizit bei Piaget (1980), einen genetischen Strukturalismus entwickeln, der sich nachdrücklich gegen eine Verabschiedung des Subjektbegriffs wendet.
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den soll es darauf bezogen darum gehen, vor dem Hintergrund einer dialektischen bzw. paradoxalen2 Fassung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit, wie sie in der Tradition der Kritischen Theorie insbesondere bei Adorno entwickelt wurde (s. zusammenfassend Ritsert 1983: 169ff.; Ritsert 2001: 124ff.), eine Einschätzung dazu zu entwickeln, ob bzw. in welcher Weise das Bourdieu’sche Habituskonzept zur Weiterentwicklung einer nicht-reduktionistischen soziologischen Theorie der Subjektivität beiträgt.3 Dabei gehe ich davon aus, dass ein gemeinsames Interesse der Kritischen Theorie (der Frankfurter Schule) und der Bourdieu’schen Soziologie darin gesehen werden kann, die gesellschaftliche Bestimmtheit des Erlebens, Denkens und Handelns von Individuen in einer Weise in den Blick zu nehmen, die die Scheinalternative zwischen sozialdeterministischen und subjektivistischen Sozialtheorien vermeidet. Für beide Varianten sozialwissenschaftlicher Theorie kann zudem die Marx’sche Einsicht, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse hinter den Rücken der Individuen, aber durch ihr Handeln hindurch reproduzieren, als ein Bezugspunkt verstanden werden. Und in beiden Theorievarianten wird – in unterschiedlicher Weise – zum Thema, dass sich die gesellschaftlichen Zugriffe auf die Individuen hinreichend weder als Effekt von sanktionsgestützten Rollenerwartungen, noch von ökonomischen Zwängen erklären lassen, sondern eine soziale Formierung der inneren Verfasstheit der Individuen umfassen. Zudem lässt sich bei Bourdieu ein Motiv ausmachen, das in durchaus ähnlicher Weise auch für die Kritische Theorie bedeutsam ist: In seiner Inauguralvorlesung am Collège de France weist er der Soziologie einleitend die Aufgabe zu,
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Adornos Verständnis von Dialektik geht in Distanz zu Konzepten der Aufhebung und Versöhnung der Widersprüche; entsprechend wird Dialektik als „das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität“ charakterisiert (Adorno 1966: 17). Dem entspricht das systemtheoretische Postulat der unaufhebbaren Differenz von sozialen und psychischen Systemen, die eine paradoxe Grundkonstellation des Sozialen bedingt. Zum Habituskonzept liegt inzwischen eine umfangreiche Sekundärliteratur vor, in der auch über die Bedeutung einzelner Textpassagen in den unterschiedlichen Arbeiten Bourdieus kontrovers und mit philologischer Akribie diskutiert wird. (S. etwa Krais/Gebauer 2002; Meier 2004; Reckwitz 2000: 308ff; Reckwitz 2008; 39ff.; Wigger 2008) Auf die diesbezüglichen Interpretationsprobleme wird im Folgenden nur in dem Maß eingegangen, wie es für die Argumentation unverzichtbar ist. Ansonsten wird davon ausgegangen, dass bei Bourdieu selbst hinreichend klare Begriffsbestimmungen vorliegen (s. Bourdieu 1970: 40; Bourdieu 1976: 186f.; Bourdieu 1987: 98, Bourdieu 2001: 177), deren unterschiedliche Fassungen bzgl. der Annahme überstimmen, dass es sich bei Habitus um a) kollektive Dispositionen handelt, die b) als generative Strukturen wirksam werden, die c) einen begrenzten Möglichkeitsraum für individuelle Wahrnehmungen, Deutungen, Bewertungen und Handlungen etablieren.
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„soziologische Waffen gegen die gesellschaftlichen Determinismen doch gerade in der Wissenschaft zu finden, die sie offenlegt“ (Bourdieu 1985: 50); und er schließt diese mit der Aufforderung, dass Soziologie dazu beitragen solle, „den gesellschaftlichen Subjekten die Herrschaft über jene trügerischen Transzendenzen wieder zu überantworten, die durch Verkennung und Verleugnung stets aufs neue erzeugt werden“ (ebd.: 81). Damit ist eine Programmatik formuliert, die in ihren Grundintentionen mit denen Kritischer Theorie übereinstimmt. Eine theorienvergleichende Perspektive kann insofern auf überstimmende Problemstellungen und Bezugsproblematiken verweisen und danach fragen, wie diese bearbeitet werden. Wie im Weiteren zu zeigen sein wird, liegt mit Bourdieus Habituskonzept jedoch nicht einfach eine soziologische Fortführung oder Weiterentwicklung der für kritische Subjekttheorien grundlegenden Annahme vor, dass Subjektivität als in sich widersprüchliche Einheit von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit zu fassen ist. Denn die innere Widersprüchlichkeit von Subjektivität findet – trotz wiederkehrender Distanzierungen von einem deterministischen Verständnis des Individuums – im Habituskonzept m.E. keine zureichende und systematische Berücksichtigung.4 Insofern ist es, wie abschließend zu zeigen sein wird, erforderlich, im Interesse einer Weiterentwicklung kritischer Subjekttheorie auch über Bourdieu hinauszugehen.
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Die Stärke des Habituskonzepts liegt m.E. vielmehr gerade darin, in dezidierter Abgrenzung „gegen die Philosophie des Subjekts“ (Bourdieu 1983: 73) auf sozial erworbene generative Regeln hinzuweisen, die es als verinnerlichte Dispositionen ermöglichen sollen, bestimmte Wahrnehmungen, Deutungen, Bewertungen und Handlungen „und nur diese“ (Bourdieu 1979: 143) durchaus kreativ hervorzubringen, deren Möglichkeitsraum durch diese Regeln festgelegt ist. Dies wird bei Bourdieu immer wieder betont, so wenn er auf die Analogie zu den generativen Regeln der Grammatik (Bourdieu 1979: 143) verweist oder den Habitus „als eine Art historisch aufgebauter Programme (im Sinne der Informatik) (Bourdieu 1993: 74) kennzeichnet. Damit dem Habitus die Funktion generativer Regeln zugesprochen werden kann, muss er aber als in sich widerspruchsfreies System von Dispositionen konzipiert werden, da paradoxe Regeln bekanntlich zu Blockaden führen. Weicht man das Habituskonzept dagegen im Sinne einer Markierung mehr oder weniger starker sozialisatorischer Einflüsse auf, dann geht seine spezifische Pointe und seine theoretische Verortung verloren; Bourdieu wird dann als ein Sozialisationstheoretiker unter anderen gelesen, der problemlos adaptierbar ist; s. dazu Goldthorpe 2007 und Brosziewski 2010.
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B EGRIFFLICHE G RUNDANNAHMEN : S OZIOLOGIE DER S UBJEKTIVITÄT Für die weitere Argumentation ist es zunächst erforderlich, knappe begriffliche Klärungen vorzunehmen, um Missverständnisse zu vermeiden, die aus der uneinheitlichen (und gelegentlich auch unpräzisen) Verwendung der Termini Subjekt und Subjektivität in sozialwissenschaftlichen Texten resultieren (s. dazu auch Scherr 2008 und 2010). Dabei ist davon auszugehen, dass die Verwendung des Subjektbegriffs im Kontext soziologischer Theorie durchaus problematisch und folglich begründungsbedürftig ist. Denn mit einiger Plausibilität kann eine Differenzsetzung der Soziologie zur Sozialphilosophie des deutschen Idealismus darin gesehen werden, dass „Soziologie […] mit der Dekonstruktion des Subjekts“ beginnt (Nassehi 2003: 93), d.h.: mit der Infragestellung der Annahme eines vor- oder außersozialen Subjekts, das der Erkenntnis, dem Handeln, sozialen Strukturen sowie sich selbst zu Grunde liegt. Soziologische Theorien können folglich mit einiger Plausibilität als heterogene Varianten der Subjektkritik interpretiert werden. Um dies exemplarisch zu verdeutlichen (s. dazu etwa Habermas 1988; Ritsert 1981 und 2009): Für die Marx’sche Theorie ist die Analyse und Kritik der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem Willen und dem Bewusstsein der Individuen zentral. Émile Durkheim akzentuiert die soziale Genese der Denkkategorien, die der individuellen Wirklichkeitsaneignung zu Grunde liegen. George Herbert Mead analysiert die sozialen Prozesse, in denen sich das individuelle Selbst herausbildet und in denen es situiert ist (s. Habermas 1988). Adorno (1966: 10) kennzeichnet die Programmatik seiner Theorie als die „Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“. Und Luhmann (1995a: 129) formuliert in der Kritik vertragstheoretischer Gesellschaftsmodelle: „Nicht die Individuen begründen die Gesellschaft, indem sie sich zum Zusammenleben entschließen und einen entsprechenden Vertrag schließen, sondern die Gesellschaft begründet die Individuen, indem sie es ihnen ermöglicht, sich als Individuen zu behandeln, Verträge zu schließen, sich wechselseitig zu binden, verantwortlich zu machen, zu sanktionieren.“ Eine Übereinstimmung soziologischer Perspektiven ist folglich – bei allen Differenzen der erwähnten und weiterer Theorietraditionen5 – darin zu 5
Eine grundlegende Differenz besteht darin, ob das Individuum als Teil, oder wie konsequent bei Luhmann, als Umwelt des Sozialen betrachtet wird. Luhmanns Option weist m.E. stärkere Nähe zu der für die Kritische Theorie grundlegenden Differenzsetzung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse (s. Jacoby 1980: 94ff.) auf als holistische Theorien, die eine konstitutionstheoretische Unterscheidung von Sozialität und individueller Subjektivität unterlaufen. Was die Luhmann’sche Theorie diesbezüglich gleichwohl grundlegend von Varianten der Kritischen Theorie unterscheidet, ist ihr Verzicht auf die Idee einer möglichen
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sehen, dass ein Verständnis von (individueller oder transzendentaler) Subjektivität als der Grund bzw. die Ursache des Wahrnehmens, Denkens und Handelns von Individuen als nicht tragfähig betrachtet wird. Daraus folgt jedoch nicht zwingend, wie etwa bei Nassehi (2006: 69ff.) angenommen wird, dass soziologische Theorie auf den Subjektbegriff verzichten muss, und m.E. auch nicht, dass sie darauf folgenlos verzichten kann. Analytisch erforderlich ist es vielmehr „nur“, Subjektivität selbst als sozial mitkonstitutiertes6 und zugleich begrenztes Potenzial von Individuen sowie als interne Dimension sozialer Strukturen und Prozesse (s. Scherr 2011) in den Blick zu nehmen. In normativer Hinsicht bleibt Autonomie „der Subjektbegriff „als Chiffre für eine humane Gesellschaft […] unverzichtbar, weil sie protestiert gegen reale Fremdbestimmungen, wenngleich deren vollständige Beseitigung aussichtslos ist“ (Meyer-Drawe 2000: 64). Wenn im Folgenden von Subjektivität die Rede ist, dann ist damit deshalb nicht ein konstitutionstheoretisches Primat des Individuums bezeichnet, sondern erstens „nur“ die allen menschlichen Individuen prinzipiell zuzurechnende Fähigkeit zu Deutungen, Bewertungen, Urteilen und Handlungen, die weder genetisch noch sozial vollständig determiniert und folglich auch nicht vorhersagbar sind.7 Subjektivität verweist damit auf für menschliche Lebenspraxis spezifische und konstitutive Potenziale von Eigensinn, Spontaneität und Kreativität, die dazu befähigen, unter Bedingungen entscheidungs- und handlungsfähig zu sein, die keine umfassende und in sich konsistente Festlegungen von Verhaltenserwartungen, Handlungs- und Kommunikationsregeln beinhalten und deshalb nicht zureichend als fraglosselbstverständliche, routinehafte Formen des Rollenhandelns bzw. der Regelbefolgung erklärbar sind. (S. dazu Oevermann 2004) Zweitens verweist der Subjektbegriff darauf, dass Eigensinn, Spontaneität und Kreativität mit einer mehr oder weniger bewussten, reflektierten, rationalen und informierten Auseinandersetzung mit eigenen inneren Dispositionen sowie mit sozialen Bedingungen, Zwängen, Konventionen, Normen und Werten einhergehen und damit unterschiedlich ausgeprägte sowie sozial voraussetzungsvolle Potenziale der Autonomie, d.h. der Distanzierung, Entgegensetzung und Selbstbestimmung umfassen.
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Versöhnung von Individuum und Gesellschaft. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Aufgrund der Leiblichkeit des Individuums ist die weitergehende Annahme einer rein sozialen Konstitution von Subjektivität m.E. nicht plausibel (s. dazu MeyerDrawe 2000: 63ff). Das umfasst mehr als Möglichkeiten von Spontaneität und Kreativität innerhalb des durch habituelle Dispositionen vorgegebenen Rahmens, etwa das, was auf den Goffman’schen Hinterbühnen geschieht, wenn sich Individuen von der Anstrengung entlasten, sich und anderen ihre Passung zu sozialen Verhaltenserwartungen vorzuzeigen.
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Stellt man dabei in Rechnung, dass Individuen sich nur in sozialen Beziehungen zu sprach- und handlungsfähigen Subjekten bilden können sowie dass Ausprägungen und das Ausmaß von Eigensinn, Spontaneität, Kreativität, Rationalität und Selbstbestimmungsfähigkeit von biografisch vorgängigen Erfahrungen und aktuell gegebenen sozialen Bedingungen abhängig sind, dann zwingt dies zu einer Soziologisierung des Subjektbegriffs, die es zugleich ermöglicht, die klassischen Dualismen von sozialer Abhängigkeit und individueller Autonomie, sozialer Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit zu unterlaufen: Subjektivität wird nicht normativ und/oder als naturwüchsig immer schon gegebene Eigenschaft von Individuen postuliert, sondern als soziale Subjektivität gefasst, d.h. als sozial voraussetzungsvolles und sozial begrenztes Potenzial von Individuen, die ihre sozial voraussetzungsvolle und begrenzte Selbstbestimmungsfähigkeit nicht als von anderen unabhängige Individuen, sondern nur in gesellschaftlichen Kontexten sowie in „gemeinschaftlichen“8 sozialen Beziehungen zu Anderen entwickeln und erhalten können, die idealiter durch die wechselseitige Anerkennung von Bedürfnissen und Fähigkeiten gekennzeichnet sind (s. dazu Habermas 1988; Ritsert 1981; Ritsert 2001: 89ff.; Scherr 2005). Damit stellt sich für eine Soziologie der Subjektivität die Aufgabe, theoretisch und empirisch die Bedingungen zu bestimmen, die für die Formierung individueller Subjektivität folgenreich und für die Ermöglichung individueller Selbstbestimmungsfähigkeit mehr oder weniger förderlich und hinderlich sind (s. Scherr 2008). Subjektivität ist folglich nicht als konstitutive Subjektivität, die sich selbst sowie dem Sozialen zu Grunde liegt, zu fassen und auch nicht mit Individualität – im Sinne der Besonderheit von Individuen, die sie von allen anderen unterscheidet – gleichzusetzen. Denn nur mittels einer soziologischen Eingrenzung entgeht man den in unterschiedlichen Varianten vorgetragenen Einwänden gegen Varianten von Subjektkonzeptionen, die im Kern auf die Autonomieillusionen männlicher besitzbürgerlicher Individualität (s. etwa zur Lippe 1975; Taylor 1996; Klinger 2006) bzw. die soziologisch nicht tragfähige Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft als vertragsförmige Vergesellschaftung voneinander unabhängiger Einzelner verweisen (s. Luhmann 1995b). Für soziologische Subjekttheorien und -forschung ist demgegenüber weiter die Annahme von grundlegender Bedeutung, dass Subjektivität als
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Darauf, dass es für eine Theorie der Subjektivität unverzichtbar ist, Strukturen der Vergesellschaftung systematisch von Strukturen der Vergemeinschaftung zu unterscheiden, hat Ulrich Oevermann wiederkehrend nachdrücklich und m.E. überzeugend – auch in Kritik an Adorno – hingewiesen (s. etwa Oevermann 2004a: 226ff.); problematisch ist dabei jedoch, dass er den Vergemeinschaftungsbegriff überdehnt, wenn er die politische Vergesellschaftung von StaatsbürgerInnen in Anlehnung an Hegel als politische Vergemeinschaftung konzipiert.
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soziale Subjektivität nicht „nur“ sozial voraussetzungsvoll, sondern zugleich auch sozial situiert ist: Das Selbst- und Weltverständnis, auf dessen Grundlage – immer schon sozialisierte, in gesellschaftlichen Kontexten und sozialen Beziehungen situierte – Individuen zu einem Verständnis ihrer Situation sowie ihrer Bedürfnisse und Interessen gelangen, ist ersichtlich keine autonome Schöpfung der Einzelnen, sondern Resultat der sozial-kommunikativen und individuell-reflexiven Verarbeitung der sozial vorgegebenen Wissensvorräte, die Individuen sich angeeignet haben und die ihnen aktuell zugänglich sind. Subjektivität ist folglich in Relation zu sozialen Bedingungen und Beziehungen, d.h. als ein Potenzial zu denken, das dem widersprüchlichen Zusammenhang von sozialer Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit nicht entkommt, sondern diesen widersprüchlichen Zusammenhang in unterschiedlichen Formen entfaltet, ohne ihn als solchen auflösen zu können. D.h.: Der Begriff Subjektivität bezeichnet eine Potenzialität der sozialen situierten Lebenspraxis, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen in Abhängigkeiten von sozialen Bedingungen, Kontexten und Beziehungen entfaltet, welche die Entwicklung und Realisierung von Eigensinn, Spontaneität, Kreativität, Reflexivität und Selbstbestimmungsfähigkeit in je spezifischer Weise ermöglichen und begrenzen. Von diesen Überlegungen ausgehend, die darauf ausgerichtet sind, einen gemeinsamen Fluchtpunkt durchaus heterogener Varianten einer Soziologie der Subjektivität kenntlich zu machen, werden im Weiteren zunächst einige Spezifika der Subjektkonzeptionen der Kritischen Theorie dargestellt, um vor diesem Hintergrund dann auf den Beitrag des Bourdieu’schen Habituskonzepts zu einer soziologischen Theorie und Empirie der Subjektivität einzugehen.
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BEI
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Die durchaus unterschiedlichen theoretischen Bestimmungen von Subjektivität, die im Kontext der Kritischen Theorien v.a. von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und Herbert Marcuse entwickelt wurden, schließen nicht zuletzt an Bestimmungen des Verhältnisses von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion an, die in der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie vorliegen (s. dazu Hack 1977: 46ff.; Scherr 1985: 18ff.; Vogel 1983; Wolf 1977). Denn schon bei Marx findet sich nicht nur bereits in den frühen Schriften eine fundamentale Kritik eines a-historisch und a-sozial gefassten Verständnisses menschlicher Subjektivität; darüber umfasst die Marx’sche Analyse des Prozesses der Kapitalreproduktion systematische Bestimmungen des Zusammenhanges von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion. Ausgangspunkt hierfür ist die Annahme der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem Willen und Bewusstsein der Individuen, die Etablierung des Werts als „automa-
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tisches Subjekt“ bzw. als „übergreifendes Subjekt“ des Prozesses der Kapitalreproduktion (MEW 23: 168)9; Antriebskraft der „rastlosen Bewegung des Gewinnens“ (ebd.: 168) sind Marx zufolge entsprechend gerade nicht die Motive konkreter Individuen; diese resultieren stattdessen aus strukturellen Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie. In dieser sind die konkreten Individuen zwar (nur) als „Personifikation ökonomischer Kategorien“ von Bedeutung, denen „die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze“ aufgeherrscht werden (MEW 23: 618). Dass es sich bei diesem Personifikationsprozess aber gleichwohl um ein Herrschaftsverhältnis handelt, in dem bestimmte Zugriffe auf „das Arbeitsvermögen des lebendigen Subjekts“ (MEW 25: 943) erfolgen, welche Widerstände hervorrufen, die aus den Eigeninteressen der als Träger der Ware Arbeitskraft vergesellschafteten Individuen resultieren, wird bei Marx nicht zuletzt in seiner Analyse der Auseinandersetzungen um die Begrenzung der Arbeitszeit analysiert. In diesem Zusammenhang nimmt Marx eine genuin soziologische Bestimmung der Subjektkategorie vor, in dem er die Verkürzung der Arbeitszeit als eine notwendige Bedingung der „freie(n) Entwicklung der Individualitäten“ (Marx Grundrisse 139/1974; 593) fasst. Weiter wird bei Marx argumentiert, dass der bloße ökonomische Zwang zur Sicherstellung der gesellschaftlichen Reproduktion nicht genügt, sondern dass die Entwicklung einer Arbeiterklasse erforderlich ist, „die aus Erziehung, Tradition und Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“ (MEW 23: 765). Damit sind knapp Grundannahmen einer Theorie der Theorie der Subjektivität angedeutet, die ihre Pointe in der Annahme hat, dass Formierungen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung individueller Subjektivität in der Struktur und Dynamik kapitalistischer Vergesellschaftung begründet sind. An diese Annahme schließt die Kritische Theorie an (s. Vogel 1983) – und dies in einer durchaus nicht unproblematischen Weise (s. Oevermann 2004a). Auch bei Max Weber, dessen Theorie bekanntlich für die Kritische Theorie einen weiteren zentralen Bezugspunkt bildet, ist in vergleichbarer Weise von Veränderungen des „Lebensstils“ sowie „des Empfindens“ und „der Gebarung“ (Weber 1922/1972: 48) als Erfordernis und Folge der Durchsetzung der „kapitalistischen Arbeitsorganisation“ die Rede. Dezidiert wird bei Weber (ebd.: 45) weiter formuliert: „Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Weg der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – deren er bedarf.“10
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Das hier vom Wert als Subjekt die Rede ist, stellt zweifellos keine terminologische Ungenauigkeit dar, sondern resultiert aus Marx’ materialistischer Wendung der Hegel’schen Selbstbewegung des Geistes; s. dazu etwa Schmied-Kowarzik 1981. 10 Entsprechend war die Frage nach dem Vermittlungszusammenhang von ökonomischer Struktur und individueller Subjektivität in der Tradition des westlichen
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Vor diesem Hintergrund war für die ältere Kritische Theorie der Versuch zentral, eine Soziologie des Subjekts durch theoretische Bestimmungen zu entwickeln, die v.a. in Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Dialektik, der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie sowie nicht zuletzt der Freud’schen Psychoanalyse hervorgebracht werden (s. Dahmer 1980). Dabei ist für die Analyse des Vermittlungszusammenhanges von Gesellschaftsstruktur und individueller Subjektivität der Begriff des Sozialcharakters von zentraler Bedeutung (vgl. Ritsert 1981).11 Diesen bestimmt Max Horkheimer (1968: 284) als den „typischen Charakter“ der Mitglieder sozialer Gruppen bzw. Schichten, wie er sich „im Zusammenhang mit der früheren wie mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung herausgebildet hat“. In Hinblick auf den Sozialcharakter wird dezidiert vom Vorrang der sozialen Bestimmtheit im Verhältnis zur individuellen Besonderheit ausgegangen: „Noch die biografische Einzelperson ist eine soziale Kategorie. Sie bestimmt sich einzig innerhalb des Lebenszusammenhanges mit anderen, der ihren Sozialcharakter bildet; erst in ihm hat ihr Leben unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Sinn; erst in ihm ist sie, die soziale Charaktermaske, möglicherweise auch Individuum.“ (Institut für Sozialforschung 1965: 43)12
Marxismus wiederkehrend Gegenstand theoretischer Analysen – nicht allein in der Kritischen Theorie, sondern auch bei einer Reihe gegenwärtig kaum mehr diskutierter Autoren wie etwa Agnes Heller, Henri Lefebvre und E.P. Thompson (vgl. Scherr 1985). 11 Ich neige diesbezüglich zu der Annahme, dass der Begriff des Sozialcharakters – und in vergleichbarer Weise auch der Habitusbegriff (s.u.) – zu kompakt gefasst ist, um die komplexen Prozesse der Verarbeitung heterogener sozialer Erfahrungen durch Individuen zu bestimmen; jedenfalls dann, wenn er von einem Verständnis von Individualität als Subjektivität abgelöst wird und damit die falsche Alternative von Objektivismus und Subjektivismus letztlich doch im Sinne einer sozialdeterministischen Sozialisations- und Handlungstheorie aufgelöst wird. 12 Die Stellung des Begriffs Sozialcharakter in der Theoriearchitektur der Kritischen Theorie ist durchaus mit der des Habitusbegriffs bei Bourdieu vergleichbar: In beiden Fällen geht es um die Analyse sozialer Formierungsprozesse von Subjektivität im Hinblick auf funktionale Erfordernisse der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Dass Bourdieu, anders als in der Kritischen Theorie, aber in Übereinstimmung mit Norbert Elias (1991: 244ff.) von Habitus und nicht von Sozialcharakteren spricht, lässt sich theoriegeschichtlich möglicherweise damit erklären, dass bei Bourdieu die Bezüge auf Max Weber bedeutsamer sind als auf die Psychoanalyse; denn bereits bei Weber wird der Terminus Habitus vielfältig verwendet, nicht nur im Kontext der Religionssoziologie, sondern auch, um die Auswirkungen der industriellen Arbeitsbedingungen auf Psyche und Körper zu beschreiben, so in seiner Studie zur „Psychophysik der industriellen Arbeit“ (Weber 1988). Darin, dass Bourdieu dann jedoch in den Meditationen (Bourdieu 2001: 210) explizit
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In solchen Formulierungen wird deutlich, dass die Kritische Theorie – in Übereinstimmung mit Marx von der Annahme einer „Vormacht des Allgemeinen“ (Adorno 1966: 306) gegenüber dem Besonderen ausgeht – und dies noch in der Negativen Dialektik auch ganz explizit unter Bezugnahme auf Marx. Dabei geht die Kritische Theorie jedoch einen entscheidenden Schritt über Marx hinaus: In den Blick genommen wird nicht „nur“ die Unterwerfung der Individuen unter gesellschaftliche Verhältnisse, die „als ein Verhängnis außer ihnen“ (Marx, zit. nach Adorno 1966: 329) existieren. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen des Scheiterns der proletarischen Revolution und der Etablierung des Faschismus wird die Analyse der „Übermacht des Objektivierten in den Subjekten, die sie daran hindert, Subjekte zu werden“ (Adorno 1966: 173), insbesondere bei Adorno, zu einem zentralen Thema der Kritischen Theorie. In einer durchaus problematischen Weise wird bei Adorno dabei immer wieder der Verlust von Identität, Individualität und Subjektivität angenommen. So wird etwa – in erneuter terminologischer Anlehnung an Marx – in den Minima Moralia die Diagnose einer wachsenden „organischen Zusammensetzung des Menschen“ (Adorno 1970: 307) formuliert: „Das, wodurch die Subjekte in sich selbst als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.“ (Ebd.) Gleichwohl münden die subjekttheoretischen Überlegungen der Kritischen Theorie m.E. nicht in eine Perspektive ein, die eine umfassende Auflösung oder Zerstörung von Subjektivität – und damit implizit die Unmöglichkeit von Kritik13 – annimmt. Zwar gibt es bei Adorno durchaus Textstellen, die eine solche Lesart stützen. So ist in der Negativen Dialektik zwar vom „Verfall von Individualität“ (Adorno 1966: 344) sowie der „innere(n) Bestimmtheit des Individuums durch das Allgemeine“ (ebd.: 344) die Re-
auf psychoanalytische Kategorien Bezug nimmt, um die Habitusgenese zu erklären, und einfordert, dass sich „Soziologie und Psychoanalyse zusammentun“ sollten (ebd.: 212), kann man einen Hinweis darauf sehen, dass es sich nicht um einander ausschließende begriffliche Optionen handelt. 13 Ich gehe von einem Verständnis der Kritischen Theorie Adornos aus, die im Subjektbegriff den normativen Maßstab vermutet, der als zentraler Bezugspunkt einer Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse im Sinne einer „bestimmten Negation […] der je konkreten Gestalt von Unfreiheit“ (Adorno 1966: 230) beansprucht wird, also von einem Verständnis Kritischer Theorie als Theorie, die darauf zielt, Bedingungen und Potenziale der Individuierung zum Subjekt zu bestimmen; s. dazu Ritsert 2009. Dies ist durchaus mit einer solchen Interpretation Kritischer Theorie in Übereinstimmung zu bringen, die deren Ausgangspunkt und Zentralreferenz in der Marx’schen Kapitalismustheorie sieht. Denn nicht nur in den Frühschriften, auch noch in der Kritik der politischen Ökonomie wird die „volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ (MEW 23: 618) als „Grundprinzip“ einer nachkapitalistischen „höheren Gesellschaftsform“ bestimmt.
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de.14 Es wird jedoch der Anlage der Adorno’schen Theorie m.E. nicht gerecht, entsprechende Textstellen von der grundlegenden Annahme einer nicht stillstellbaren inneren Widersprüchlichkeit des Vergesellschaftungsprozesses abzulösen. Für diese ist die sozialtheoretische Überlegung fundamental, dass es „aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu Subsumierenden – nach der Marx’schen Terminologie des Gebrauchswerts – bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere“ (ebd.: 22). Die Logik der kapitalistischen Waren- und Tauschgesellschaft kann sich demnach nicht als ein totales Vergesellschaftungsprinzip etablieren. Denn die Erfordernisse der körperlichen und psychischen Reproduktion der Individuen stehen in einem unauflöslichen Widerspruch zu den Prinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung. Insofern ist es konsequent, dass Adorno zufolge Psychologie und Soziologie nicht ineinander auflösbar sind und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf der Grundlage eines Verständnisses von „Dialektik als das konsequente Bewusstsein von Nicht-Identität“ (ebd.: 229) bestimmt wird. Adornos Subjektkonzeption geht entsprechend nicht in eine kulturpessimistische Zerfallsdiagnostik auf, sondern hält an einem dialektischen Verständnis von Subjektivität als in sich widersprüchliche Einheit von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit fest. So wird etwa in der Einleitung zu den Minima Moralia formuliert: „In den hundertfünfzig Jahren, die seit Hegels Konzeption vergingen, ist von der Gewalt des Protests vieles wieder ans Individuum übergegangen. Verglichen mit der altväterischen Kargheit, die dessen Behandlung bei Hegel charakterisiert, hat es an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt und ausgehöhlt wurde.“ (Adorno 1970: 11) Die dialektische Anlage der Adorno’schen Subjektkonzeption wird auch in seiner Theorie der Halbbildung (Adorno 1972) deutlich: Die Idee einer Subjekt-Bildung, welche die Einzelnen dazu befähigt, „in einer vernünftigen Gesellschaft als vernünftige, in einer freien Gesellschaft als freie sich zu bewähren“ (ebd.: 98), wird dort in Kritik der Transformation von Bildung in Halbbildung, in „Informiertheit“ (ebd.: 115), „in zur Norm, zur Qualifikation gewordene, kontrollierte Bildung“ (ebd.: 106) entwickelt. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen von Bildungsprozessen, zu denen Adorno zentral „Autonomie“ sowie „Muße“ und „eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar Lückenhaftigkeit der Gesellschaft“ (ebd.: 106) rechnet. Adorno
14 Und in der Adorno-Nachfolge war dann etwa von einer „universellen Tendenz des Kapitals, die Menschen zu überflüssigen, wirr vor sich hin brabbelnden Rentnern zu machen, die einander weder ernst nehmen, noch verstehen, noch wirklich lieben oder hassen können“, die Rede (Pohrt/Schwarz 1974: 165); s. zur Kritik der damaligen „subjekttheoretischen Verelendungsgewissheit“ Floßdorf 1979.
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ist nahe genug an Marx, um zudem in den „Bedingungen der materiellen Produktion“ (ebd.: 100) sowie der „Differenz zwischen gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht“ (ebd.: 101) – und nicht allein in der Etablierung der Kulturindustrie – eine diesbezüglich zentrale Problematik auszumachen.
V OM A DORNO ’ SCHEN S UBJEKT B OURDIEU ’ SCHEN H ABITUS ?
ZUM
Die knapp skizzierte Subjektkonzeption Kritischer Theorie bietet m.E. eine15 Grundlage für eine soziologische Forschung (sowie eine pädagogische und politische Praxis), die darauf zielt, die sozialen Bedingungen empirisch gehaltvoll zu bestimmen, die zu sozialen Formierungen der individuellen Subjektivität führen, die zugleich als widersprüchliche Einheit von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit16 in den Blick zu nehmen ist. Die spezifische Leistungsfähigkeit der Bourdieu’schen Soziologie liegt darauf bezogen m.E. zunächst zentral darin, in den Blick zu rücken, dass und wie Prozesse der Subjektkonstitution mit symbolischen Gewaltverhältnissen sowie mit Strukturen sozialer Ungleichheit verschränkt sind. Denn soziale Ungleichheit besteht – folgt man Bourdieu – gerade nicht „nur“ in der Ungleichverteilung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, sondern nicht zuletzt in der Hervorbringung von Gefühlen der Inkompetenz und der Unwürdigkeit sowie im Erwerb eines „Sinns für die eigene Stellung im sozialen Raum“ (s. etwa Bourdieu 2001: 230ff.).17 Soziale Ungleichheit umfasst demnach nicht „nur“ die Ungleichverteilung materieller Lebensbedingungen, sondern auch die auferlegte Anerkennung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse sowie die Ungleichverteilung von Chancen zur Entwicklung subjektiver Handlungskompetenz, zur Teilnahme an Bildungsprozessen und zur Aneignung von Kultur – und damit in der Ungleichverteilung der Chancen einer Individuierung zum selbstbestimmungsfähigen Subjekt.18 15 Hierfür ist es zweifellos auch erforderlich, über Adorno hinauszugehen, in dessen Theorie, wie insbesondere Jürgen Ritsert in Bezug auf George H. Mead und Ulrich Oevermann mit seiner Rehabilitierung der Unterscheidung Gemeinschaft und Gesellschaft gezeigt haben, die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität unterbestimmt bleiben. 16 Systemtheoretisch reformuliert: von Selbstreferenz und Fremdreferenz. 17 Bourdieu verweist bzgl. des Terminus ‚sense of one’s place‘ wiederkehrend auf Goffman als Referenzautor. M.E. hat jedoch Herbert Blumer diesen Begriff – er spricht vom ‚sense of one’s position‘ – im Kontext seiner rassismustheoretischen Arbeiten entwickelt; s. Blumer 1961; Scherr 2010. 18 Auf einen diesbezüglich m.E. zentralen Aspekt hat Lothar Hack hingewiesen: „Die Deprivationen und Versagungen, denen in der gegenwärtigen Klassenge-
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Trotz solcher Anschlussmöglichkeiten sind die Übereinstimmungen zwischen einer dialektischen Subjektkonzeption und der Bourdieu’schen Sozial- und Gesellschaftstheorie jedoch begrenzt – zumindest wenn man von einer Lesart Bourdieus ausgeht, die den Habitusbegriff als zentrale Vermittlungskategorie zwischen Struktur und Praxis fasst und dabei zugleich von der Annahme eines singulären, die Individuen in ihrem Erleben, Wahrnehmen, Denken und Handeln determinierenden Habitus ausgeht. Eine solche Lesart wird zwar von Bourdieu selbst immer wieder in Frage gestellt, aber durchaus systematisch nahegelegt. So wird der Habitus etwa als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ bestimmt, der „die Erzeugung all jener Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen“ bedingt, „die der so wohlbegründeten illusio als Schöpfung von unvorhersehbarer Neuartigkeit und spontaner Improvisation erscheinen“ (Bourdieu 1974: 40). Weiter ist vom Habitus als einem „System von Dispositionen“ die Rede, „die alle gemeinsam haben, die dieselben Konditionierungen durchlaufen haben“ (Bourdieu 1987: 122) sowie vom Habitus als einem „immanente(n) Gesetz“, einer „den Leibern durch identische Geschichte/n aufgeprägten „lex insita“ (ebd.: 111). In diesem Zusammenhang wird weiter formuliert, dass die „Soziologie […] alle biologischen Individuen als identisch“ behandelt, „die als Erzeugnisse derselben objektiven Bedingungen mit denselben Habitusformen ausgestattet sind“ (ebd.: 111). Hier wie in anderen Formulierungen tritt das Individuum als Träger habitueller Dispositionen in den Blick – und nicht zugleich auch als selbstbestimmungsfähiges Subjekt. Denn für die habituellen Dispositionen wird zwar durchaus nicht behauptet, dass sie im Sinne eines mechanistischen Determinismus bestimmte Praktiken notwendig und eindeutig hervorbringen. Gleichwohl wird angenommen, dass die Struktur, vermittelt über den Habitus, die Praxis „regiert“ (ebd.: 102), in dem der Habitus strikte „Einschränkungen und Grenzen“ (ebd.: 102) des Möglichkeitsraums umfasst, innerhalb dessen sich „die konditionierte und bedingte Freiheit“ der individuellen Praxis entfaltet. Zwar unterscheidet Bourdieu auch zwischen dem „Klassenhabitus“ und dem „individuellen Habitus“ (ebd.: 12) und markiert damit eine Differenz, die die Individuen nicht in ihrer Ähnlichkeit zu Anderen aufgehen lässt, die gleichen sozialen Bedingungen unterliegen. Damit wird jedoch keine Unterscheidung vorgenommen, die einen theoretischen Ort dafür bieten würde, das in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit Nicht-Aufgehende, das NichtIdentische des Individuums zu bestimmen. Denn der individuelle Habitus ist
sellschaft die ‚Unterprivilegierten‘ ausgesetzt sind, bestehen demnach weniger darin, dass sie von allem etwas weniger bekommen […], sondern sie bestehen vor allem darin, dass die entsprechenden Lebensbedingungen sich […] so auswirken (können), dass Denken und Handeln nur noch darum kreisen, unter den ‚auferlegten‘ Bedingungen gerade eben funktionsfähig zu bleiben […].“ (Hack 1997: 110)
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für Bourdieu nichts anderes als eine „strukturale Variante“ (ebd.: 113) der Dispositionen, die ein Individuum mit anderen Mitgliedern einer „Klasse (oder Gruppe)“ als „subjektives, aber nichtindividuelles System verinnerlichter Strukturen, gemeinsamer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (ebd.: 112) teilt. Zwar grenzt sich Bourdieu (2001: 191) gegen eine streng deterministische Lesart des Habitus auch mit folgenden Argument ab: „Die Dispositionen führen nicht einfach in bestimmter Weise zu einem bestimmten Handeln: Nur unter geeigneten Umständen und in der Beziehung zu einer bestimmten Situation enthüllen und äußern sie sich.“ Damit wird der Habitus als eine latente Disposition gefasst, die kontextabhängig aktualisiert oder nicht aktualisiert wird. Dies führt aber nicht nur zur Preisgabe der sozialdeterministischen Grundannahme des Habituskonzepts, sondern zu ihrer Erweiterung im Sinne der Überlegung, dass eine jeweilige Konstellation von Kontext und Habitus das Handeln erklärt: „Das Bestehen einer Disposition (als lex insita) erlaubt jedoch vorherzusehen, dass eine bestimmte Gruppe von Akteuren sich unter allen denkbaren Umständen einer bestimmten Ära in einer bestimmten Weise verhalten wird“ (ebd.). Die Stärke – und m.E. damit zugleich die spiegelbildliche Schwäche – des Habituskonzepts liegt so betrachtet darin, dass das individuelle Wahrnehmen, Denken und Handeln konsequent soziologisch als Effekt verinnerlichter sozialer Dispositionen (Habitus) und äußerer sozialer Bedingungen (Feld) betrachtet wird. Die Tatsache, dass es empirisch jedoch keine eindeutigen Kausalrelationen von Habitus und Feldern zu Praktiken gibt, d.h. dass sich keineswegs tatsächlich alle Angehörigen einer Gruppe, für die ein bestimmter Habitus angenommen wird, unter gleichen Umständen in gleicher Weise verhalten, wird auch von Bourdieu nicht bestritten, obwohl sie seinem Erklärungsmodell durchaus widerspricht. Diesen Widerspruch löst Bourdieu dahingehend auf, dass er die theoretisch postulierten Kausalbeziehungen empirisch nicht als notwendige, sondern nur als wahrscheinliche Beziehungen fasst (s. dazu Bourdieu 1981: 173ff.). Die damit einhergehenden Annahmen einer „Kausalität des Wahrscheinlichen‘“ (ebd.) sowie „statistisch relevanter Habitusklassen“ (2001: 201) ermöglichen es zwar, dass in empirischen Arbeiten habitus- und feldtheoretisch nicht erklärbare Praktiken mit den gängigen statistischen Kalkülen als vernachlässigbar betrachtet werden; sie weicht aber dem subjekt- und handlungstheoretisch zentralen Problem aus, wie Wahrnehmungen, Denkweisen und Handlungen verstanden und erklärt werden können, die keiner verinnerlichten kollektiven Disposition entsprechen, für die keine „lex insita“ angegeben werden kann und die sich insofern als – in einem habitustheoretischen, nicht juristischen Sinn – als ungesetzliche darstellen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem seiner Theorie immanenten Problem der ungesetzlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen findet sich bei Bourdieu meiner Kenntnis nach nicht. Und dies ist m.E. inso-
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fern nicht zufällig, weil dieses Problem innerhalb der letztlich strukturdeterministischen Grundannahmen seiner Theorie nicht lösbar ist (s.u.).19 Diese sind aber für den Habitusbegriffs deshalb unverzichtbar, weil dieser in der Theorie Bourdieus als für die Erklärung sozialer Reproduktionsprozesse zentrale Vermittlungskategorie von Struktur und Praxis fungiert (s. Reckwitz 2000: 339ff.) und ihm damit in der Theoriearchitektur Bourdieus eine Funktion zukommt, die er nur erfüllen kann, wenn er als Übersetzung sozialer Bedingungen und Zwänge in innere Verhaltenszwänge gefasst wird. Diese Funktion wird von Friedrich Balke (2003: 161) m.E. treffend wie folgt charakterisiert: „Bei Bourdieu hat der Habitus die Funktion, nach dem Zerfall der Standesgesellschaft den Effekt ständischer Zuordnung als Akt unbewußter Selbstzuschreibung in das innere der Individuen zu verlegen. In dem Maße, wie der direkte Zugriff der Sozialordnung nachlässt, wird der Wegfall explizit-normierender Standesregelungen durch eine quasi-somatische Instanz kompensiert […].“
D.h.: Im Unterschied zur Ethnomethodologie wird nicht angenommen, dass die soziale Ein- und Anpassung von Individuen als ein prinzipiell prekärer Effekt von sozialen Praktiken zu analysieren ist, mit denen Erwartungen, Zwänge, Regeln und Normen situativ gültig gemacht werden; und im Unterschied zur Luhmann’schen Systemtheorie wird die Selbstdisziplinierung von Individuen in Hinblick auf soziale Erwartungen nicht als ein Ergebnis sozialer Prozesse in den Blick genommen, die bewirken, dass „die Beteiligten, was immer psychisch in ihnen abläuft, dazu bringt, sich im Sozialsystem, also kommunikativ, als Person zu geben und die Überraschungsqualitäten ihres Verhaltens entsprechend vorsichtig zu dosieren“ (Luhmann 1995: 149). Vielmehr wird die soziale Regulierung des individuellen Wahrnehmens, Denkens und Handelns mit dem Habitusbegriff in die unbewusste organische und psychische Tiefenstruktur hinein verlagert. Dazu ist es erforderlich, den Habitus als eine Instanz zu fassen, durch die sich soziale Bedingungen und Zwänge in innere Dispositionen der Individuen transformieren. Und innerhalb einer solchen Theoriearchitektur sind zwar Veränderungen des Habitus denkbar; es wird aber explizit (s. Bourdieu 2001: 207) und notwendig ausgeschlossen, dass diese „radikal“ sein können. Theoretisch denkbar sind in der Bourdieu’schen Theorie Anpassungen des Habitus an veränderte Kontextbedingungen, die zu „neuen Erfahrungen“ (ebd.) führen. Theoretisch undenkbar ist in diesem Rahmen aber ein Wahrnehmen, Denken und Handeln jenseits der habituellen Dispositionen. Dies ermöglicht es dann, für sozial typische bzw. wahrscheinliche Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen, die empirisch beobachtet werden können, eine erklärende Instanz zu behaupten, die sich selbst jedoch
19 Auf eine ähnlich gelagerte Problematik weist E.P. Thompson (1980) in seiner Auseinandersetzung mit Louis Althusser hin.
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der empirischen Beobachtung entzieht. Denn der Habitus selbst ist – anders als die Praktiken, als deren Ursache er postuliert wird – nicht sichtbar. Daraus resultiert ein forschungsmethodisches Problem, das ganz analog auch bei Sozialcharaktertheorien vorliegt:20 Soziologische Rekonstruktionen eines Habitus, die ex-post zur Erklärung empirischer Daten entwickelt werden, sind prinzipiell nicht widerlegbar; Annahmen über die Ausprägung eines Habitus sind vielmehr nur empirisch überprüfbar, wenn sie in prognostische Annahmen übersetzt werden, die zutreffen oder nicht zutreffen können.21 Plausibel ist die Inanspruchnahme des Habitus als innere generative Instanz, die Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen zu Grunde liegt, zudem erstens nur dann, wenn eine letztlich sozialdeterministische Subjektkonzeption angenommen wird, die von sozial erzeugten unbewussten Dispositionen ausgeht, von denen Individuen sich nicht distanzieren, die sie nicht reflektieren und die sie folglich auch nicht aufbrechen und überwinden können (s. dazu auch Wigger 2006). Zwingend ist sie zweitens nur dann, wenn die Herstellung einer Übereinstimmung von sozialen Bedingungen und individuellen Praktiken nicht als Ergebnis von sozialen Prozessen in den Blick genommen wird, durch die immer wieder erneut und mehr oder weniger erfolgreich versucht wird, Individuen zu solchen Verhaltensweisen zu veranlassen, die sozialen Vorgaben und Erwartungen angepasst sind, sondern und unterstellt wird, dass die inneren Dispositionen der Individuen gewöhnlich gewährleisten, dass eine entsprechende Passung von vornherein gewährleistet ist.22 An Stelle des für Adorno konstitutiven Verständnisses von Subjektbildung als in sich widersprüchliche Einheit von Vergesellschaftung und Individuierung tritt damit zwar kein kruder Sozialdeterminismus, sondern eine soziologisch produktive Suche nach den Spuren der sozialen Erfahrung, die sich in den Dispositionen der Individuen niederschlagen. Bourdieus Theorie umfasst jedoch keinen expliziten, theoretisch begründeten Begriff von Indi-
20 Falk und Steinert (1973: 22f.) verweisen diesbezüglich auf eine „Reifikationstendenz“, die darin liegt, dass „Abstraktionen für Vielzahlen von Leuten, Oberbegriffe, die häufig wiederkehrende Konfigurationen der Elemente benennen, zu ‚Wirklichkeiten‘ eigener Art, die jetzt auch direkte Wirkungen entfalten“, werden. Darauf – also auf die Frage, ob Sozialcharaktere und Habitus als analytische Abstraktionen zu fassen sind, oder aber als tatsächlich gegebene Eigenschaften von Individuen oder Kollektiven, kann hier nicht weiter eingegangen werden. M.E. spricht einiges für die zuerst genannte Option. 21 Entsprechend wird bei Bourdieu (2001: 191) explizit beansprucht, bei Kenntnis des Habitus künftiges Verhalten vorhersehen zu können. 22 Diese beiden Annahmen stützen sich wechselseitig ab: Wenn davon ausgegangen wird, dass der Habitus bestimmte Praktiken hervorbringt, dann ist es weder erforderlich noch sinnvoll, nach situativen und interaktiven Prozessen der Hervorbringung von Handlungen zu fragen.
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vidualität oder Subjektivität als kritisches Potenzial der Reflexivität und Autonomie, keine dialektische Bestimmung des Nicht-Identischen und der ungesetzlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen. Zwar finden sich bei Bourdieu durchaus Anmerkungen, in denen entsprechende Sympathien aufscheinen. So wird die Aufgabe der Soziologie im Vorwort zu „Sozialer Sinn“ (Bourdieu 1987: 45) wie folgt gefasst: „Sie bietet auch das vielleicht einzige Mittel, und sei es auch nur über das Bewusstsein der Determiniertheiten, dazu beizutragen, so etwas wie ein Subjekt zu konstituieren, eine Aufgabe, die sonst der sozialen Welt anheimfällt.“ In den Meditationen wird darauf hingewiesen, dass soziale Akteure durchaus über Dispositionen verfügen können, die es ihnen ermöglichen, sich sozialer „Degradierung zu erwehren“ (Bourdieu 2001: 300); dies sei dann der Fall, wenn „Ironie, Humor oder […] ‚Eigensinn‘ […] und viele andere ‚verkannte Formen‘ des Widerstands […] dauerhaft in den Habitus eingeschrieben wurden“ (ebd.: 300). Anderorts wird Soziologie als „ein höchst machtvolles Instrument der Selbstanalyse“ charakterisiert, „die es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, indem es einem die sozialen Bedingungen, die einen zu dem gemacht haben, was man ist, sowie die Stellung begreifen lässt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat“ (Bourdieu 1992: 223). Den Individuen, jedenfalls denjenigen, die Zugang zur Soziologie finden, wird also die Fähigkeit zur Reflexion, zur bewussten Auseinandersetzung mit eigenen habituellen Dispositionen durchaus zugetraut. Diese Hinweise führen jedoch nicht zu einer systematischen theoretischen Bestimmung derjenigen Dimensionen von Individualität und Subjektivität, die im Habitus nicht aufgehen bzw. nicht aufgehoben sind. Vielmehr werden noch die soziale Unangepasstheit und das Leiden der Individuen bei Bourdieu als Folge ihrer habituellen Dispositionen erklärt. In einem „Mißverhältnisse, Mißklänge, Mißlingen“ (ebd.: 204ff.) überschriebenen Abschnitt der Meditationen geht Bourdieu diesbezüglich über das Konzept des Hysteresis-Effekts hinaus. Dort wird die These formuliert, dass der Habitus nicht „notwendigerweise kohärent“ sei (ebd.: 206) und „zerrissene, in sich widersprüchliche Habitus“ (im Plural) vorzufinden sind, „deren innere Gespaltenheit Leiden verursacht“. Dies sei dann der Fall, wenn „widersprüchliche Positionen“, die ein Individuum einnimmt, auf dieses „strukturelle ‚Doppelzwänge‘“ (ebd.) ausüben. Damit wird gleichwohl nicht die Einverleibung habitueller Dispositionen als solche als eine mögliche Bedingung individuellen Leidens bzw. als problematische Formierung der individuellen Subjektivität thematisiert, sondern „nur“ die Ablagerung positional bedingter Widersprüche im Subjekt. Dass Bourdieu wiederkehrend ein Vokabular gebraucht, das deterministische Lesarten seiner Habitustheorie nahelegt (Prägung, Konditionierung), ist vor diesem Hintergrund nicht zufällig. Denn selbst dort, wo Bourdieu näher auf die Frage der biografischen und sozialisatorischen Genese des Habitus eingeht, wird eine prinzipiell problemlose Verinnerlichung der sozialen Dispositionen angenommen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie
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sich die Verwandlung der in der primären familialen Sozialisation entstandenen libidinösen Besetzungen auf außerfamiliale Akteure und Institutionen vollzieht (s. Bourdieu 2001: 210ff.). Bourdieu nimmt an, dass sich die Umwandlung der familialen Dispositionen in feldspezifische in einem langwierigen Prozess vollzieht, der in der Kindheit beginnt und sich bis zum Aufbau eines spezifischen beruflichen Habitus „meist ohne Krisen und Konflikte“ fortsetzt (ebd.: 211). Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang vermerkt, dass dies zwar „Phasen moralischen und psychischen Leidens, die als Prüfungen zu den Entwicklungsbedingungen der illusio gehören“ (ebd.), einschließt, diese jedoch als ein nachrangiges Moment erscheinen.
F OLGERUNGEN Vor diesem Hintergrund kann Bourdieus Habituskonzept m.E. als Grundlage einer Forschungsstrategie verstanden werden, die – in der Traditionslinie der älteren Sozialcharaktertheorien –, darauf ausgerichtet ist, zu untersuchen, wie in jeweiligen sozialen Kontexten fraglos-selbstverständliche Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster in vorbewusste individuelle Dispositionen eingehen, die es Individuen ermöglichen, den Regeln des sozialen Kontextes angepasste Praktiken zu realisieren. Eine darauf ausgerichtete empirische Forschung und Theoriebildung sollte m.E. jedoch aus zumindest vier Gründen über Bourdieu hinausgehen: Erstens ist es m. E. erforderlich, zwischen den tatsächlich vorbewussten, der individuellen Selbstreflexion und der sozialen Kommunikation nicht zugänglichen habituellen Dispositionen einerseits und andererseits den mehr oder weniger bewussten klassen-, milieu- und/oder feldspezifischen Erwartungen zu unterscheiden, auf die man sich immer wieder einstellt, von denen man sich aber auch immer wieder distanziert, die also den Charakter von sozialen Bedingungen und Erwartungen haben, mit denen sich Individuen als reflektierende Subjekte auseinandersetzen, die – worauf klassisch bereits Georg Simmel hingewiesen hat –, zwischen sozialen Verpflichtungen und eigenen Motiven durchaus zu unterscheiden wissen. (S. dazu auch Willis 1991) Zweitens ist die Annahme eines singulären und in sich konsistenten Habitus des Individuums, der sich biographisch aufbaut und verfestigt, nicht zwingend und m.E. nicht überzeugend (s. dazu Lahire 1998). Denn schon bei Bourdieu selbst werden unterschiedliche soziale Bezugsgrößen des individuellen Habitus angenommen – insbesondere: Klassen, Geschlechter und soziale Felder. Diesbezüglich kann nicht unterstellt werden, dass die jeweiligen Habitus konsistent aufeinander abgestimmt sind und individuell als ein singuläres System von Dispositionen angeeignet werden, das angemessene Handlungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten ermöglicht. Zudem ist in einer differenzierungstheoretischen Perspektive anzunehmen, dass die sozialen Felder, bzw. die sozialen Teilsysteme moderner Gesellschaften, kei-
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ner einheitlichen Logik folgen, sondern uneinheitliche und wechselseitig widersprüchliche Dispositionen erfordern23: Im Bereich der Familie und der privaten Beziehungen gilt die Strukturlogik vertrauensbasierter und individuierter Sozialbeziehungen, welche prinzipiell die ganze Person einbeziehen; im Bereich der schulischen Erziehung und Erwerbsarbeit ist es Individuen abverlangt, sich auf die Logik rollenförmiger Beziehungen unter Bedingungen der individualisierten Leistungskonkurrenz einzustellen; im Freizeit- und Konsumbereich werden hedonistische Formen der Selbstverwirklichung abgerufen, usw. Weiter ist zu berücksichtigen, dass klassen- und milieuspezifische Dispositionen im Sinne eines auf Bildung und Beruf bezogenen ‚sense of one’s place‘ biografisch nicht einfach nur bestätigt und verfestigt, sondern im Fall von Ausstiegs- oder Abstiegskarrieren in Frage gestellt und ggf. transformiert werden können. Im Hinblick auf die unterschiedlichen habituellen Dispositionen scheint es insofern angemessener, nicht davon auszugehen, dass Individuen einen singulären und in sich konsistenten Habitus erwerben; plausibler ist es anzunehmen, dass Individuen in modernen Gesellschaften vor der Anforderung stehen, sich heterogene habituelle Dispositionen anzueignen und diese in ein Selbstkonzept zu integrieren, welches ihnen erlaubt, sich selbst als handlungsfähige Person zu erleben und darzustellen. In Anschluss an Norbert Elias (1991: 245) ist es folglich erforderlich, in den Blick zu nehmen, wie sich im Individuum mehrere Schichten der Habitusformierung überlagern. Individuelle Subjektivität wäre folglich eher als „eine Kette von Widerspruchsmontagen“ (M.R. Vogel) in den Blick zu nehmen, die Identitätsarbeit erforderlich machen, denn als Artikulationen stabiler und konsistenter Dispositionen. Soziologisch von Interesse wären folglich auch die sozialen Prozesse, durch die bestimmte habituelle Dispositionen in jeweiligen sozialen Kontexten aktualisiert, andere dagegen stillgestellt werden. Drittens ist es in einer subjekttheoretischen Perspektive unverzichtbar, Prozesse der Habitusformierung bzw. -stabilisierung in konkreten sozialen Kontexten als solche Prozesse zu untersuchen, die sich nicht notwendig als Anpassung innerer Dispositionen an vorgefundene Bedingungen vollziehen, sondern die der Möglichkeit nach mit Abwehr, Widerstand oder Distanzierung einhergehen. Folgt man der Simmel’schen bzw. Adorno’schen Annahme eines nicht-stillstellbaren Widerspruchs von Individuum und Gesellschaft, dann ist anzunehmen, dass dieser Widerspruch auch durch Habitualisierung nicht aufgehoben wird, sondern dass er sich als Unzufriedenheit mit sich selbst und/oder den sozialen Verhältnissen, als Abwehr, Leiden, Sehnsucht, Phantasie usw. bemerkbar macht. Folglich sind Ausdrucksformen von Subjektivität, die in den feldspezifisch funktionalen bzw. den Reproduktionsprozess sozialer Ungleichheiten gewährleistenden habituellen Disposi-
23 Insofern ist es nicht zufällig, dass das Habituskonzept bei Bourdieu als analytisches Instrumentarium bei der Untersuchung vormoderner Formen der Vergesellschaftung entwickelt wurde.
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tionen nicht aufgehen, theoretisch und empirisch durchaus nicht vernachlässigbar. Zudem ist viertens zu berücksichtigen, dass die von Bourdieu nahe gelegte Analogisierung von sozialem Handeln und Sprechakten im Sinne der Annahme, dass es unbewusste Regeln als generative Prinzipien gibt, die es ermöglichen, dass Individuen Regeln folgen, die sie selbst nicht kennen, eine Differenz übersieht: Anders als die Regeln der Grammatik stehen die Regeln, denen soziales Handeln in jeweiligen Kontexten folgen soll, keineswegs immer schon fest und sie sind, anders als die Regeln der Grammatik, auch nicht unstrittig. Folglich ist in Kontexten sozialer Praxis mit einer Unbestimmtheit und Offenheit zu rechnen, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume eröffnet. Vereindeutigungen und Schließungen von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten durch Macht und Herrschaft sind jedenfalls nur dann begründet analysierbar und kritisiert, wenn Potenziale, die über die Reproduktion etablierter Strukturen hinausweisen, in der Anlage von Sozial- und Gesellschaftstheorien systematisch vorgesehen sind.
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II. Konvergenzen
Mit gemischten Gefühlen Parallelen oder Differenzen zwischen Bourdieu und den Frankfurtern in ihrem Verhältnis zur Arbeiterbewegung? M ARGARETA S TEINRÜCKE MIT U NTERSTÜTZUNG VON J ÜRGEN B OLDER
„Kooperation statt Konkurrenz zugunsten einer rücksichtslosen Analyse überflüssiger gesellschaftlicher Herrschaft“ í diesem Motto der Herausgeber für die Analyse des Verhältnisses zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule kann ich mich, was beider Verhältnis zur Arbeiterbewegung angeht, vorbehaltlos anschließen. Entgegen dem í von ihren kulturtheoretischen Liebhabern teilweise gezielt entpolitisierend erzeugten í Anschein gravierender Differenzen gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten zwischen Bourdieu und den Frankfurtern, was ihre Einschätzung der Arbeiterbewegung, aber auch ihren Umgang mit deren real existierenden Organisationen in Gestalt von Gewerkschaften und sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien angeht. Differenzen gibt es natürlich auch. Diese sind aber weniger systematischer Natur, als vielmehr unterschiedlichen Kontexten von Generation (Horkheimer und Adorno sind um 1900, Bourdieu ist 1930 geboren), nationaler politischer Geschichte und Kultur (Nationalsozialismus, Exil in den USA, Antikommunismus und Adenauer-Ära in Deutschland; Algerienkrieg, zeitweise Linksregierung von Sozialisten und Kommunisten, Mai ’68 in Frankreich) und Klassenherkunft geschuldet (Horkheimer und Adorno großbürgerlicher und großstädtischer Herkunft, Bourdieu Kleinbürgerkind vom Lande), die sich auf den jeweiligen theoretischen Blickwinkel und praktischen Zugang zu Arbeitern, zur Arbeiterbewegung und zu deren Organisationen auswirken. Systematischer Grund für Gemeinsamkeiten zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule auch in dieser Frage ist die Tatsache, dass den Kern beider Theorien die grundlegende und unbestechliche Kritik von Herrschaft bildet, und zwar bis in die kleinsten Verästelungen alltäglicher Empfindungen und Handlungen hinein, ebenso wie in Strukturen und Werke in Bildung, Kunst und Politik: dass diese analysiert werden als formiert und de-
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formiert durch das gesellschaftskonstituierende Prinzip kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft. Dabei ist für beide die Marx’sche Theorie Grundlage ihrer Analyse kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse. Sowohl Bourdieu, als auch die Frankfurter gehen von der Gültigkeit zentraler Marx’scher Kategorien wie Ausbeutung, Wert und Mehrwert, Profit, Kapital, Akkumulation, Reservearmee etc. aus, wenn sie diese auch teilweise verschieden gewichtet und unterschiedlich weiterentwickelt haben.1 So etwa Adorno, wenn er auf dem Soziologentag 1968 die Frage, ob die heutige Gesellschaft als Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft zu betrachten sei, unmissverständlich so beantwortet: „Die gegenwärtige Gesellschaft (ist) durchaus Industriegesellschaft nach dem Stand ihrer Produktivkräfte. [...] Demgegenüber ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen. Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marx’schen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie, [...] bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen“ (Adorno 1975: 158ff.). Oder Bourdieu, wenn er zusammen mit Jean-Claude Passeron in seiner Grundlegung einer Theorie der symbolischen Gewalt die Marx’sche Theorie (neben der von Durkheim und Weber) als zentral für die Analyse von Gesellschaft als Herrschaftszusammenhang bezeichnet, weil sie diese als „Produkt einer Klassenherrschaft“, als objektive Struktur statt nur „interindividuelle Einfluss- und Herrschaftsverhältnisse“ zu begreifen und „hinter den Legitimitätsideologien die Gewaltverhältnisse aufzudecken“ erlaube (Bourdieu/ Passeron 1973: 13). Bourdieu wie die Frankfurter teilen mit Marx die Abwendung von der reinen Theorie als nur Philosophie, betonen die Unerlässlichkeit empirischer Forschung für die Gesellschaftsanalyse, wiewohl sie anders als der positivistische Mainstream der Soziologie auf die Erkenntnisinstrumente und normativen Errungenschaften der Philosophie insbesondere von Kant und Hegel, aber auch von Pascal, der französischen Aufklärer, von Leibniz, Spinoza, Schopenhauer u.a. nicht verzichten, ebenso die grundlegende materialistische Annahme, dass das Handeln der Menschen im unreflektierten Normalzustand herrschaftsförmiger Gesellschaften von (ökonomischen) Interessen geleitet ist, was nicht heißt, dass diese bewusst und absichtsvoll verfolgt werden. Im Gegenteil sind Interessen vielfach verschleiert und treten gerade im Bereich der Kultur als Interesselosigkeit in Erscheinung. Bourdieu wie
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Sehr schön nachgezeichnet haben das für Bourdieu Loïc Wacquant: Notes tardives sur le ‚marxisme‘ de Bourdieu, in Actuel Marx 20, Okt. 1996, 83-90, engl. Kurzfassung Further Notes on Bourdieu’s Marxism, International Journal of Contemporary Sociology, Vol. 38, No. 1, April 2001, 103-109, und Oskar Negt für Adorno: Adorno als Marxist, in Joachim Perels (Hg.): Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover 2006, 9-26.
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die Frankfurter betrachten dies allerdings mit Marx, der ja eine Kritik der Politischen Ökonomie geschrieben hat, als zu kritisierende Grundlage insbesondere der kapitalistischen Gesellschaft, nicht affirmativ.2 In gewisser Weise könnte man sowohl Bourdieus als auch der Frankfurter Arbeiten eine Kritik der Politischen Ökonomie des Alltags und der Kultur nennen. Desweiteren teilen Bourdieu und die Frankfurter mit Marx das grundsätzlich historische und relationale Denken, einen bei unterschiedlichen Zugängen im Detail gleichen anti-essentialistischen Impetus. Die Integration der tätigen Seite des Idealismus mit der sinnlichen Seite des Materialismus, wie Marx sie in den Feuerbachthesen skizziert hat, zu einer materialistischdialektischen Methodik, die den Vereinseitigungen von Subjektivismus und Objektivismus entgeht3 und schließlich die Zentralität der Analyse des Fetischismus (wobei die Frankfurter hier den Akzent mehr auf den Warenfetisch4 gelegt haben, Bourdieu mehr auf den Kapitalfetisch in seinen sämtlichen Ausformungen, insbesondere in Bildung und Politik5), sowie die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft als Klassengesellschaft und von Klassenherrschaft als dominanter Herrschaftsform. „Gesellschaft bleibt Klassenkampf, heute genauso wie zu der Zeit, als dieser Begriff entstand“ (Adorno 1969/70: 149). Dabei gehen weder Bourdieu, noch die Frankfurter davon aus, dass die Existenz von Klassen per se mit Klassenbewusstsein einhergeht. Und nicht zuletzt teilen beide mit Marx die Empörung über das durch die Herrschaft des Profitprinzips in dieser Gesellschaft verursachte massenhafte Leiden und den moralischen Impetus, dass dies aufhören soll, wozu Arbeiter und Intellektuelle ihren Beitrag zu leisten haben, gemäß dem Marx’schen kategorischen Imperativ: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
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Weshalb der z.B. gegen Bourdieu gelegentlich erhobene Vorwurf, er sei Utilitarist, völlig den Kern seiner Theorie verfehlt. Bourdieu analysiert das Handeln von Menschen als interessengeleitetes kritisch mit dem Impetus, durch die kritische Analyse dieser Interessen und ihrer Genese zu einer Befreiung von durch diese vermittelte Herrschaft beizutragen. S. hierzu z.B. Bourdieu in Entwurf einer Theorie der Praxis (1976), Teil 2 Bourdieu/Wacquant in Reflexive Anthropologie (1996), Adorno in Negative Dialektik (1966), Horkheimer in Materialismus und Metaphysik, Zeitschrift für Sozialforschung H. 1, 1933. Z.B. Adorno (1938): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Zeitschrift für Sozialforschung, H. 3. Bourdieu (2010): Delegation und politischer Fetischismus. In ders.: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2. Konstanz 2010, 23-42. Bourdieu (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main; Bourdieu (1992): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. v. M. Steinrücke, Hamburg, 49-80.
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verächtliches Wesen ist“6. Ihre Theorie, Bourdieus wie die der Frankfurter, kann man mit Horkheimers Worten als „die theoretische Seite der Anstrengungen, das vorhandene Elend abzuschaffen“ bezeichnen (Horkheimer 1968: 91). All das bedeutet allerdings nicht, dass Bourdieu und die Frankfurter nicht durchaus auch kritische Einwände gegen die Marx’sche Theorie gehabt hätten. Ganz abgesehen davon, dass sie alle mit Marx sagten: „Moi, je ne suis pas marxiste“, und einen dogmatischen Sowjetmarxismus als für die Sache der Befreiung schädlich bekämpft haben, beziehen sich diese Einwände im Einzelnen auf die zu positive Einschätzung der Produktivkraftentwicklung und deren potenzieller Sprengkraft in Bezug auf die Produktionsverhältnisse durch Marx; auf Marx’ Objektivismus, der ihn z.B. die subjektive Seite der Arbeit, die Identifikation mit der Arbeit trotz des objektiven Ausgebeutetseins und die Zuarbeit der Beherrschten zu ihrer Beherrschung hat unterbelichten lassen; auf Marx’ Ineinssetzung von konstruierter, wahrscheinlicher Klasse und realer Klasse und seine naive Vorstellung von Klassenbewusstsein, das tatsächlich einen seltenen und nur durch eine langwierige Arbeit der Repräsentation, Mobilisierung und Organisation herzustellenden Grenzfall des „normalen“ Klassenunbewussten oder praktischen Klassensinns darstellt (Bourdieu 1985: 12ff)7 und letztlich auf Marx’ Revolutionstheorie, die sie für teilweise deterministisch (die Gesellschaft muss nur zur Reife kommen, der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sich zuspitzen), und teilweise voluntaristisch (das Proletariat „muss“ die Revolution machen) halten. Einerseits ist die Marx’sche Prämisse der Revolutionstheorie, die massenhafte Verelendung des Proletariats, in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften aufgrund der wohlfahrtsstaatlichen Eindämmung von deren Auswüchsen nicht eingetreten, was auch durch terminologische Umdeutungsversuche wie „relative“ oder „psychische“ Verelendung nicht weginterpretiert werden kann. Das Proletariat hat hier mehr zu verlieren als seine Ketten (Adorno 1975: 17). Gleichwohl gibt es massenhaftes Leiden in diesen Gesellschaften,8 das außer in Armut (die es nach wie vor und heute wieder vermehrt gibt), aber vor allem in Erfahrungen der Ohnmacht, der Entwürdigung, des Ausschlusses von wichtigen Entscheidungen und legitimer Kultur bei den Beherrsch-
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Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In ders.: Die Frühschriften, Stuttgart 2004, S. 283. Bourdieu spricht auch vom „Theorieeffekt“ der Marx’schen Theorie, demzufolge die Arbeiterklasse in gewisser Weise erst durch die Marx’sche Theorie, die sie als solche definiert hat, und Arbeiterorganisationen, die sich auf diese Theorie berufen, zur Existenz gebracht worden ist (Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen. In ders. (1992): 84 f). Für Frankreich z.B. in all seinen Facetten in der von Bourdieu (1997) angeleiteten Untersuchung „Das Elend der Welt“, Konstanz (Orig. La Misère du Monde, Paris 1993) dargelegt.
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ten begründet ist (ebd.: 22). Andererseits hat Marx der Frage der politischen Mobilisierung und Organisation der Arbeiter, der Frage, welcher praktischen Schritte es bedarf, damit (s)eine Theorie die Massen ergreift, zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Differenz gibt es bei aller Gemeinsamkeit in der Einschätzung der Brauchbarkeit und der Begrenztheit der Marx’schen Theorie zwischen Bourdieu und den Frankfurtern, die sich allerdings nur auf den terminologischen Umgang mit zentralen Marx’schen Begriffen bezieht: in einem Klima des wütenden Antikommunismus erst in den USA, dann im Deutschland der Adenauer-Ära sahen die Frankfurter sich gezwungen, Begriffe wie Klassenkampf, klassenlose Gesellschaft, Kommunismus zu umschreiben. „Marxismus in Zeiten der Konterrevolution“ hat Jürgen Seifert die kritische Theorie deshalb genannt (Seifert, zit. n. Demiroviü 2006: 11). Während Bourdieu in einem Frankreich, in dem zeitweilig Sozialisten und Kommunisten die Regierung stellten und viele Intellektuelle bekennende Weggefährten des Kommunismus sowjetischer Prägung waren, eher Probleme mit seiner Kritik an deren Schlichtversion von Marxismus und seiner Nutzung bürgerlicher Theorien wie z.B. der von Max Weber für die Entwicklung seiner herrschaftskritischen Theorie hatte.9 Wie nun die Marx’sche Theorie maßgeblich für das Denken sowohl Bourdieus als auch der Frankfurter10 war und beide ihre Theorie als Beitrag zur Beseitigung des herrschenden Elends und zur Erkämpfung einer klassenlosen, „befreiten“ Gesellschaft (Adorno, Horkheimer) betrachteten, in der jede/r mündig (Adorno 1970), ihr/sein eigene/r SprecherIn sein soll (Bourdieu 1993: 18) und in der es (frei nach Marx und Engels, MEW 3: 379) keine Maler, Politiker etc. mehr gibt, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen, politisch tätig sind etc. (Bourdieu 1982: 620), so ist für beide zunächst das Proletariat die Klasse, die ein Interesse an der Erkämpfung einer solchen klassenlosen Gesellschaft hat. D.h. die Arbeiter und ihre Organisationen, die Arbeiterbewegung sind Gegenstand ihrer Hoffnungen und Analysen. So hielten die Frankfurter Anfang der 1930er Jahre revolutionäre Aktionen für das einzige Mittel gegen den von ihnen für wahrscheinlich gehaltenen Sieg des Nationalsozialismus. „Wir dachten an einen Aufstand im eigenen Land“ (Horkheimer 1981: 9). Und das von ihnen geleitete Institut für Sozialforschung hatte „seine Bedeutung [...] darin, dass es zum ersten Mal alles, was die Arbeiterbewegung in
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S. z.B. Bourdieu (1982): N’ ayez pas peur de Max Weber (Keine Angst vor Max Weber, eigene Übersetzung). In: Libération 6.7.1982, 25. 10 So betonte Horkheimer noch 1971 im Vorwort zu Martin Jays (1981) Geschichte der Frankfurter Schule „Dialektische Phantasie“ ausdrücklich, dass nach der Emigration nach Amerika „die marxistische Interpretation sozialer Ereignisse ohne Zweifel weiterhin bestimmend für uns“ blieb (S. 9), allerdings nicht im Sinne eines dogmatischen Materialismus.
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den wichtigsten Ländern der Welt betrifft, sammelt“,11 was Horkheimer noch 1962 in seiner Rede zum 40jährigen Bestehen der Akademie der Arbeit dazu bringt, für den Bildungskanon der Gewerkschaften anzumahnen: „Auch die Arbeiterbewegung, die deutsche zumal, hat ihre Märtyrer. Selten wird ihnen die Ehre zuteil, vor der Jugend genannt zu werden“ (Horkheimer 1985: 219). Aus seiner Sympathie und Verehrung für die Vorkämpfer der deutschen Räte-Revolution 1918/19, insbesondere für Rosa Luxemburg, hat Horkheimer keinen Hehl gemacht. Und noch 1962 ruft Horkheimer das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse in Erinnerung, wenn er in Bezug auf die mögliche Verteidigung der Demokratie gegen die Machtübernahme durch von Papen am 20.07.1932, die der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten voran ging, sagt: „Und die deutschen Arbeiter hätten gekämpft.12 Ihre Verbindung mit der Demokratie steht außer Zweifel“, und als Auftrag der Organisationen der Arbeiterbewegung heute formuliert: „Es ist die Pflicht all derer, die ihre Interessen zu vertreten haben, die Verbindung zu stärken“ (Horkheimer 1985: 215). Bourdieu wiederum hat sich von Beginn seiner empirischen Forschung an intensiv den Arbeitern und ihrem Schicksal gewidmet. Angefangen bei seiner ersten Studie 1962 über das algerische Subproletariat bis zur späten Summe seiner intellektuellen Tätigkeit, den „Méditations pascaliennes“ (1997) hat er immer wieder die Bedingungen der Entwicklung von Klassenbewusstsein unter Arbeitern untersucht. So etwa die von Marx unterbelichtete „doppelte Wahrheit der Arbeit“ (Bourdieu 1997: 241f.), dass auch mit jeder noch so entfremdeten Arbeit ein gewisses Maß an Identifikation einhergeht, diese also immer Ausbeutung und Identifikation beinhaltet, und nicht nur Basis des Lohnes, sondern, neben Lebensplanung und Zeitstruktur, auch der persönlichen Würde ist.13 Am Beispiel des algerischen Subproletariats zeigt Bourdieu, wie erst relativ stabile Arbeitsverhältnisse von (Fach-)Arbeitern diesen eine längerfristige Planungsperspektive, die Fähigkeit zu Vorausplanung und rationalem Kalkül eröffnen, die eine Voraussetzung für die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein darstellt, während die permanente Unsicherheit des Subproletariats das Leben ohne jede Planung als Schicksal oder Lotteriespiel erscheinen lässt, und rein affektive Verarbeitungsweisen mit unrealistischen Wünschen, Verschwörungstheorien und Anfälligkeit für Demagogen befördert (Bourdieu 2010: 269ff.). Legt Bourdieu hier sein Augenmerk darauf, dass „das Bewusstsein der Entfremdung ein Privileg (derer ist), die nicht mehr so vollständig entfrem-
11 Henryk Grossmann, Brief an Paul Mattick, zit. nach Jay 1981: 33. 12 Wären sie nicht durch das Zögern der Sozialdemokratie und die Spaltungspolitik der Kommunisten, die mit ihrer Sozialfaschismusthese an erster Stelle die Sozialdemokraten statt die Nazis bekämpften, aufgehalten worden. 13 Deshalb bezeichnet Bourdieu „Arbeitslosigkeit als Tragödie des Alltags“, in ders. a. a. O., 142 ff.
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det sind“ (ebd.: 272) so stellt er in seinen Überlegungen zur Ouvrierisation (mit Verarbeiterung nur sehr unzulänglich übersetzt) die Frage, ob der Übergang von der primären, tendenziell gewaltsamen Revolte der Arbeiter(bauern) der ersten Generation zur sekundären, geordneten Revolte der integrierten Arbeiter der zweiten und folgenden Generationen, zur Formulierung und Organisierung der Arbeiterforderungen durch Gewerkschaften, eine Erweiterung oder eine Verengung der Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter darstellt; und inwiefern die Sozialisation durch die Institutionen der symbolischen Gewalt wie Militär, Justiz, Sozialhilfe, v.a. aber die Schule, zum Erlernen von Wohlverhalten in den Klassenbeziehungen, zur Domestikation der Arbeiter führt (Bourdieu 2010b: 325ff.). In der ausführlichsten Untersuchung von Habitus und Lebensstil von Arbeitern, im Abschnitt „Klassengeschmack und Lebensstil“ seiner großen Klassenanalyse des Alltags „Die feinen Unterschiede“ (1982), konstatiert Bourdieu zwar, dass es keine wirklich der herrschenden Kultur opponierende Gegenkultur der unteren Klassen gebe, v.a. nicht bei (Fach-)Arbeitern, weil die Abgrenzung gegen die Besitzlosigkeit und Unsicherheit des Subproletariats diese mit der Bourgeoisie verbinde. Gleichwohl seien alle Elemente eines potenziell alternativen Lebensstils vorhanden: eine dichte Sprache mit Witz, Spott und der Profanierung „höherer“ Werte der bürgerlichen Kultur, eine Lebensweisheit aus der Erfahrung von Leiden und Erniedrigung, ein Sinn für Lebensfreude und fröhliches Feiern, für Selbstverwirklichung und praktische Solidarität (Bourdieu 1982: 616f.), die Betonung von physischer Kraft und Männlichkeit (als Basis der eigenen Arbeits- und Kampfkraft),14 eine kollektive Orientierung aufgrund der Risiken der Arbeitswelt mit ihrer Sinnlosigkeit individueller Aufstiegsstrategien und der Ungewissheit der ganzen Existenz (Bourdieu 2010: 323f.), und „die Tradition der Gewerkschaftskämpfe, in denen die einzige, wahrhafte Grundlage für eine Gegenkultur zu finden sein könnte, wo jedoch, wie wir noch sehen werden, die Einflüsse kultureller Unterdrückung nicht nachlassen“ (Bourdieu 1982: 616). Gehen also sowohl Bourdieu als auch die Frankfurter von einem objektiven Interesse der Arbeiter als beherrschter Klasse an einer Aufhebung kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse und vom Potenzial eines entsprechenden Klassenbewusstseins aus, so sehen beide sehr scharfsichtig die Wirkung der ganzen Herrschaftsmechanismen gerade auf Arbeiter als Teil der beherrschten Klassen und die entsprechende Einschränkung ihrer Fähigkeit zu Protest und Widerstand. Allerdings legen sie den Schwerpunkt bei der Analyse dieser Mechanismen der Integration von Arbeitern in die kapitalistische Klassengesellschaft auf verschiedene Aspekte, während sie bei der Einschätzung des Beitrags der Organisationen der Arbeiterbewegung zu dieser Integration wieder
14 Bourdieu 2010: 288 f. und Ders. (1993a): 14 f.
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zu relativ identischen Urteilen kommen í Grundlage einer Art Hassliebe beider zur Arbeiterbewegung. Adorno und Horkheimer gehen davon aus, dass, obwohl „der Begriff des Proletariats in seinem ökonomischen Wesen unerschüttert“ sei (Adorno 2003: 301), das empirische Proletariat auf vielfältige Weise in die bestehende Gesellschaft integriert werde: durch den „technologischen Schleier“ des Arbeitsprozesses, der die viel besser ausgebildeten Arbeiter, „die hellen Mechaniker von heute“ (Adorno 1975: 24), viel gründlicher im Sinne des herrschenden Systems modelt als der unverstandene Arbeitsprozess von ehedem; durch die verbesserte materielle Situation, die permanente Bedürfnisbefriedigung in den herrschenden Grenzen, die völlige Immanenz anstelle des früheren Ausschlusses; vielfach verstärkt durch die „Techniken der Massenkultur, die ihren Augen, Ohren und Muskeln die industrialistischen Verhaltensmuster einbläuen, während ihrer Freizeit wie während der Arbeitsstunden“ (Horkheimer 1943: 89); durch das, trotz besserer Ausbildung und Informiertheit, Fehlen, bei den Arbeitern wie bei ihren Organisationen, von Theorien und Träumen von einer grundlegend anderen Welt, durch das positivistische Bewusstsein, das sie gesellschaftliche Ungerechtigkeit als mächtige Tatsache hinzunehmen gelehrt hat. Verstärkt wird die Anpassung ans herrschende System noch durch den allgegenwärtigen Konformitätszwang, die Spaltungen der Arbeiter nach Alter, Geschlecht, Berufen, Industriezweigen, entwickelten und weniger entwickelten Ländern, den Triumph der partikularistischen Rationalität gerade aufgrund der erfolgreichen Vertretung ihrer jeweiligen partikularen Interessen durch die Gewerkschaften (Horkheimer 1943: 90 f) und die Intellektuellenfeindlichkeit, die den Zugang zur für die Durchdringung der Herrschaftsverhältnisse notwendigen Theorie verstellt (Adorno 2003: 301f). Aber obwohl Adorno und Horkheimer von einer umfassenden Integration der Arbeiter in das System des Spätkapitalismus und von der raffinierten Reproduktion ihrer Ohnmacht ausgehen, sehen sie doch auch Risse in diesem System. Im Vergleich zu frühkapitalistischen Zuständen habe „die Arbeiterklasse als ganze unglaubliche Fortschritte gemacht“, und der „riesige physische, organisatorische und kulturelle Druck, der erforderlich ist, um sie in diesem Zustand festzuhalten“, verrate „die wachsende Furcht vor der Beseitigung von Angst und Unterdrückung. Fieberhafte Anstrengungen werden unternommen, die immer größer werdende Wut, die sich in den Massen entwickelt, weil sie ihre eigenen Grundbedürfnisse unterdrücken müssen, zu kanalisieren und zu verhindern, dass diese Wut schließlich der Einsicht in die immer stärker wachsende Sinnlosigkeit dieser Unterdrückung und in die reale Gemeinsamkeit der menschlichen Interessen weichen wird. Eine solche Kanalisierung, die schon immer das Geschäft der Herrschenden, ihres Kultur- und Terrorapparates war, ist nun auch zum Geschäft der Arbeiterorganisationen geworden, welche die Arbeiter gleichzeitig in den Konkurrenzkampf treiben und diesen verschärfen“ (Horkheimer 1943: 94).
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Bourdieu setzt den Akzent hier ein wenig anders. Zwar hält auch er den Konformitätsdruck für einen zentralen, Emanzipation verhindernden Mechanismus gerade in der Arbeiterklasse. Und auch er geht von einem über die Klassensozialisation in den Habitus eingeprägten Grundeinverständnis mit den herrschenden Verhältnissen bei den Beherrschten aus, der „Entscheidung für das Notwendige“ (Bourdieu 1982: 585 ff.), die eigene untergeordnete Position in der Gesellschaft als unhinterfragte Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Aber anders als Adorno und Horkheimer misst er der Integration durch den industrielle Arbeitsprozess und dessen Monotonie keine Bedeutung zu, sondern sieht den entscheidenden Mechanismus der Integration in der prinzipiellen Enteignung der Arbeiter vom Produkt ihrer Arbeit; in ihrer Reduktion auf ausführende Organe von Anweisungen hierarchisch höher Stehender und das damit einhergehende Erlernen der Akzeptanz der Spaltung in gebildete Profis und ungebildete Laien, und zwar auf allen Gebieten von Arbeit, Kultur und Politik. „Die wenig kulturelles Kapital besitzen, können mit Werken der legitimen Kultur (und auch mit vielen Fließbandprodukten des show business) nur Erfahrungen machen, die Spielarten einer grundsätzlicheren und alltäglicheren Erfahrung sind: die der Zäsur zwischen praktischer, partieller und stummer Kompetenz und theoretischen, systematischen und expliziten Kenntnissen (dies verlängert sich bis in den Bereich der Politik), der Kluft also zwischen Wissenschaft und Technik, Theorie und Praxis, „Konzeption und Ausführung“ zwischen dem „Intellektuellen“ oder „Schöpfer“ ... und dem „Handarbeiter“, dem ausführenden Organ einer Intention, die er nicht kennt, und dem das Nachdenken über seine Tätigkeit verwehrt ist“ (Bourdieu 1982: 604f.). Dieses zentrale Verhältnis der Entfremdung in der Arbeit wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft einschließlich Kultur und Politik ist Bourdieu zufolge auch und ganz besonders in den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterbewegung wirksam. Die Analyse der Entfremdungsmechanismen insbesondere in den Organisationen der Arbeiterbewegung umfasst einen beträchtlichen Teil von Bourdieus Gesamtwerk.15 Er hat sein Augenmerk erheblich breiter und intensiver auf die innere Verfassung der Organisationen der Arbeiterbewegung gelegt als die Frankfurter; diese bildet einen Teil seiner grundlegenden Analyse des politischen Feldes und der Mechanismen symbolischer Gewalt, die dort genauso wirksam sind wie im schulischen oder im kulturellen Feld.
15 S. hierzu den von Stephan Egger und Franz Schultheis verdienstvoll zusammengestellten Band „Politik“ von Bourdieus Schriften bei UVK, Konstanz, 2010, in dem Bourdieus wichtigste Arbeiten zu Politik von 1972 bis 2001 versammelt sind. Eine Zusammenstellung von Bourdieus Interventionen zu diesem Problemkreis findet sich in dem von Franck Poupeau und Thierry Discepolo luzide eingeleiteten Abschnitt „Laien und Professionelle der Politik“ in den von denselben herausgegebenen „Interventionen“ von Pierre Bourdieu (2003) Bd. 2, 51-78.
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Den Grundimpuls einer Kritik an den real existierenden Organisationen der Arbeiterbewegung, den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien einerseits, den Gewerkschaften andererseits: nämlich die Interessen der Arbeiter in verschiedener Hinsicht stark beschränkend zu vertreten, teilen Bourdieu und die Frankfurter allerdings. Ich will mich in einem ersten Schritt ihrer Kritik der Arbeiterparteien zuwenden, um dann in einem zweiten Schritt ihre gründlichere Analyse und auch ambivalentere Haltung zu den Gewerkschaften zu untersuchen. Bei Adorno und Horkheimer richtete sich die Enttäuschung darüber, dass die Organisationen der Arbeiterbewegung im Grunde genauso autoritär, konformistisch, instrumentell und nur noch verwaltend geworden waren wie das System, das sie bekämpften, in Form einer doppelten Kritik an eine revisionistisch und opportunistisch gewordene Sozialdemokratie ohne Motivation zu wirklicher Veränderung einerseits und an eine zentralistische, moskauhörige, alle Protestbewegungen von Arbeitern und den Marxismus als Legitimationswissenschaft instrumentalisierende kommunistische Partei andererseits (Horkheimer 1934: Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse). Die Verweigerung der Alternative von Unterstützung einer reformistischen Sozialdemokratie oder einer von Moskau geführten kommunistischen Partei war geradezu ein Gründungsmotiv für das Institut für Sozialforschung durch die Frankfurter. Im Institut sollte durch eine gründliche Prüfung der marxistischen Wurzeln der Arbeiterbewegung zur Überwindung der Zerrissenheit der sozialistischen Idee beigetragen werden.16 Es sollte an den radikalen Impulsen des Marxismus „ohne ... Identifikation mit einer empirisch existierenden Partei“ (Horkheimer in einer Diskussion mit Adorno 07.10.1946. In ders. [1985] Bd. 12, 598) festgehalten werden. Schon 1943 hatte Horkheimer als Aufgabe einer kritischen Arbeiterpolitik formuliert, sie dürfe sich nicht an traditionelle Parteimuster klammern, sondern müsse darin bestehen, „die monopolistische Struktur, die in ihre eigenen Organisationen eingeht und ihr Bewusstsein individuell überdeckt, zu erkennen und ihr zu widerstehen“ (Horkheimer 1985: 86). Eine kritische Theorie, die sie darin unterstützen wolle, dürfe sich deshalb von einer rückhaltlosen Kritik an der westlichen Demokratie nicht wegen der Tendenzen zur Tyrannei in der Sowjetunion und von einer rückhaltlosen Kritik an der Sowjetunion nicht wegen der dort existierenden fortschrittlichen Potenziale abhalten lassen (Horkheimer 1985: 598). Die Kritik an den autoritären, zentralistischen und instrumentalistischen Tendenzen von bolschewistischer Parteipolitik und Sowjetmarxismus („Denkerei des Ostblocks“ (Negt 2006: 22) hat Adorno diesen abfällig genannt) durchzieht die politischen Arbeiten von Adorno und Horkheimer von den 30er Jahren bis zum Ende ihres Wirkens, aber auch die Kritik an der re-
16 S. Martin Jays, Kapitel „Die Gründung des Instituts für Sozialforschung und seine ersten Frankfurter Jahre. In ders. (1981), 21 ff.
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visionistischen, auf jede radikale Kritik und Überwindung des kapitalistischen Systems verzichtenden Haltung der Sozialdemokratie. So hat Adorno z.B. in den 60er Jahren, als die SPD sich mit dem Godesberger Programm von den letzten Resten ihres systemverändernden Anspruchs zu „befreien“ anschickte, erwogen, nach dem Vorbild der von Marx verfassten „Kritik des Gothaer Programms“ eine grundlegende „Kritik des Godesberger Programms“ zu schreiben, was er nur aus taktisch-politischen Erwägungen dann doch nicht getan hat. In einem Brief an Günter Grass vom 04.11.1968 schreibt Adorno: „Ich kann aber nicht vergessen, dass die Sozialdemokratie auf ihrer großen Linie sich seit 1914 treu geblieben ist. Das Godesberger Programm stellt wohl das einzigartige Beispiel eines Dokuments dar, in dem eine Partei allen, aber auch wirklich allen theoretischen Gedanken abschwört, die sie einmal inspiriert hatten. Es war meine Absicht, eine Kritik dieses Programms zu schreiben, und sie wäre wohl nicht ohne Wirkung geblieben. Ich habe diese Absicht nicht ausgeführt - einzig aus dem Grund, weil ich, trotz allem, in der gegenwärtigen Situation es nicht glaubte verantworten zu können, öffentlich gegen die SPD etwas zu tun, zumal ja keine Alternative besteht, da, was sich für links von der SPD hält, entweder jene anarchistischen Aktivisten sind, die unter die Kritik von Marx fallen, oder moskauhörig und bereit, selbst die Scheußlichkeiten des Überfalls auf die Tschechoslowakei zu decken“ (Adorno 1968. In Kraushaar (Hg.) (1998) Bd. 2 Dokumente, Nr. 238, 473). Anders als Adorno und Horkheimer, die im antikommunistischen und konservativ regierten Deutschland die SPD als das kleinere Übel nicht öffentlich kritisierten, hielt Bourdieu es im zeitweilig sozialistisch und unter Beteiligung von Kommunisten regierten Frankreich mit Karl Kraus: „Zwischen zwei Übeln ... weigere ich mich, das kleinere zu wählen“ (Bourdieu 1993a: 18f.). So kritisierte er 1981 die gerade gewählte Linksregierung für ihre Nicht-Reaktion auf den Militärputsch in Polen und gründete zusammen mit anderen Intellektuellen und der damals noch eher antiautoritären, auf Selbstverwaltung orientierten Gewerkschaft CFDT ein Solidaritätskomitee für die in Polen unterdrückte Gewerkschaft Solidarnosc. Unter dem Motto „Die libertäre Tradition der Linken wiederfinden!“ (Libération vom 23.12.81, in Bourdieu, 2003: 59ff.) rief er zur Unterstützung von Solidarnosc auf als „große, nicht militarisierte Arbeiterbewegung“ und „Bewegung gegen den Staatssozialismus“ als „System, bei dem die Bewegung von oben ausgehen sollte“ (ebd.: 61). Für ihn war völlig klar, dass die kommunistischen oder realsozialistischen Regime, die dann 1989 zusammengebrochen sind, niemals kommunistisch oder sozialistisch (Bourdieu 2004: 125), sondern eine „Karikatur“ von Sozialismus waren, die die Machthaber der stalinistischen Parteien, „die Männer des Apparats“ (Bourdieu 1991: 39) aus diesem gemacht haben. Aber auch die PS, von der er schon 1981 abfällig meinte: „Die Bürgermeisterämter sind für die sozialistische Partei die einzige ernst zu nehmende Sache“ (Bourdieu 2010: 84), ist Gegenstand seiner generellen Kritik an den
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Parteien und ihren Verselbstständigungstendenzen, die dazu führen, dass es auch in der linken Politik letztlich nur noch um die Interessen der Gewählten, nicht mehr der Wählerinnen und Wähler geht. Die linken Apparatschiks „haben die Linke auf die Rechte versetzt“ (Bourdieu 2003: 112). Um auf den Ausschluss der Normalsterblichen von der Politik durch die Profis auch der Linken aufmerksam zu machen, hat Bourdieu z.B. 1981 demonstrativ die provokative „Kandidatur“ des Komikers Coluche zur Präsidentschaftswahl unterstützt und 1998, nach der Enttäuschung durch die Politik der traditionslinken Sozialisten und Kommunisten unter Jospin17 und Hue zur Bildung einer „linken Linken“ (Bourdieu 2004: 150) aufgerufen, die ausgehend von sozialen Bewegungen wie den Sans Papiers, den Arbeitslosen, den streikenden Lehrern, von attac u.a. Programme und Perspektiven wirklich im Interesse der breiten Masse der Wählerinnen und Wähler entwickeln sollte (ebd.: 153). Es sollte eine andere Art des Politikmachens, konsequent aus der Sicht der Opfer (Bourdieu 2003: 83) sein, gegen die traditionelle Politik von Berufspolitikern und staatlicher Verwaltung. Aus seiner großen Untersuchung über das Leiden in und an dieser Gesellschaft, „La misére du monde“ (Das Elend der Welt, 1997b) hatte Bourdieu viele Hinweise auf eine solche Politik erhalten, die er in Vorschläge, auf eine andere Art Politik zu machen, umgesetzt hat. Was Bourdieu am Ende seiner Laufbahn als kritischer Intellektueller besonders ergrimmt, aber vielleicht auch ein wenig erheitert hat, war die Tatsache, dass die ehemals kommunistischen Intellektuellen, mit denen er sich schon seit Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer wieder angelegt hatte (wegen ihres kritiklosen Weggefährtentums gegenüber den stalinistischen kommunistischen Parteien [2003, Bd. 2: 64], wegen ihrer abstrakt-idealistischen Überschätzung der Schule als Medium der Chancengleichheit (2003, Bd. 1: 65, 79) ihm nun, selbst von allen linken Traditionen abgefallen, vorwarfen, dass er an kommunistischen Ideen festhalte: „Ich war Anti-Kommunist, als alle Intellektuellen Kommunisten waren ... Ich werden in Frankreich als jemand angegriffen, der die alte Linke wieder haben möchte. Das sind ehemalige Kommunisten, die ich bekämpfte, als sie noch Kommunisten waren, die mir jetzt vorwerfen, dass ich zu dem Kommunismus zurück will, aus dem sie sich selbst gerade herausentwickelt haben“ (1997d, 116). Bourdieu hatte in den 70er Jahren eine ebenso scharfsichtige wie beißende Kritik am bolschewistischen Organisationsmodell geleistet. Er sah in den kommunistischen Parteien den Widerspruch auf die Spitze getrieben, dem alle politischen Unternehmen unterliegen, deren Ziel die Subversion der etablierten Ordnung ist, also insbesondere die Organisationen der Arbei-
17 Auf Jospin hatte Bourdieu 1997 aufgrund von dessen Integrität noch Hoffnungen gesetzt (Bourdieu, 1997d, 118), während er ihn dann 1998 als Teil der „neoliberalen Troika Blair-Jospin-Schröder“ betrachtete, aus der die europäische Mehrheitslinke bestand (2004, 153).
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terbewegung: „Dass nämlich die Ausdrucks- und Repräsentationsfunktion der Mitglieder und WählerInnen der mechanischen Logik des Apparats (unerlässlich für die Mobilisierung) geopfert wird; aus Mitgliedern und Wählern werden Befehlsempfänger, aus innerparteilicher Demokratie eine „Ratifizierungsdemokratie“ (Bourdieu 2010c: 94), die jede Kritik als Vorstoß gegen die notwendige Geschlossenheit der Organisation und als Kollaboration mit dem Feind betrachtet und so von ganz allein zu einstimmigen Beschlüssen führt“ (ebd.: 95). Diese Militarisierung der Arbeiterorganisationen ist von Stalin zur Vollendung gebracht worden (Bourdieu zufolge dessen einziger origineller Beitrag zum bolschewistischen Denken, ebd.: 94). Das politische Paradoxon, dass genau die Organisationen, die am lautesten behaupten, die Masse des Volkes zu vertreten (insbesondere also Kommunisten und Sozialisten, aber auch Gewerkschaften), am unabhängigsten von der Kontrolle durch die Nachfrage der Mitglieder sind und am freiesten, allein der Logik der Konkurrenz zwischen Politprofis zu folgen, erklärt sich Bourdieu zufolge daraus, dass politische Organisationen umso mehr nach der Logik von Apparaten funktionieren je weniger kulturelles Kapital ihre MandantInnen besitzen und je bedingungsloser diese deshalb zur dauerhaften Delegation statt zur persönlichen Äußerung ihrer politischen Meinung geneigt sind (ebd.: 90); je älter und je größer eine Organisation und damit ihr objektiviertes politisches Kapital (Posten etc.) ist; je ausdrücklicher eine Organisation auf Kampf und damit auf militärische Mobilisierungsstrategien ausgerichtet ist und je weniger kulturelles und ökonomisches Kapital ihre Funktionäre besitzen, d.h. je abhängiger diese von der Organisation sind, weil sie ihr alles (teilweise selbst ihre Bildung) verdanken (weswegen z.B. der Korpsgeist in der kommunistischen Partei mit vielen Arbeitern als Funktionären erheblich stärker ist als in der sozialistischen Partei mit ihren vielen Lehrern (ebd.: 92), von den Grünen heute ganz zu schweigen). Inwiefern all diese Verselbstständigungs- und Bürokratisierungstendenzen politischer Organisationen, insbesondere der Arbeiterbewegung, keiner bösen Absicht entspringen, sondern dem Zusammentreffen der sozialen Zwänge, denen ihre MandantInnen unterliegen, mit der Logik des politischen Feldes, hat Bourdieu in einer Reihe von Arbeiten in den 70er und 80er Jahren analysiert. In „Beschreiben und Vorschreiben“ (Bourdieu 1981, in Bourdieu 2010) zeigt er, dass das Ziel politischen Handelns, die UrBejahung der bestehenden Ordnung im Interesse einer sozialen Gruppe zu durchbrechen, zu seiner Realisierung in mehrfacher Hinsicht der Sprache bedarf. Nur durch sprachliche Artikulation, durch die politische Aussagearbeit der Repräsentation (durch Parolen, Reden, Theorien, Programme etc.) werden die unausgesprochenen, unklaren Erfahrungen auf die Ebene eines objektivierten politischen Diskurses gehoben, die Gemeinsamkeit in den Einzelerfahrungen und damit die soziale Gruppe selbst, um deren Erfahrungen es geht, für sich und andere erst sichtbar gemacht (Bourdieu 2010: 11ff.). Deswegen ist es Bourdieu zufolge völlig irreführend, von den mo-
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mentanen Dispositionen und Verhaltensweisen sozialer Akteure auf deren revolutionäres oder angepasstes Bewusstsein zu schließen. Entscheidend ist vielmehr das Vorhandensein von Personen und Organisationen, die imstande sind, auf der Grundlage einer realistischen kritischen Theorie eine realitätsgerechte Explikation der impliziten, kritischen Erfahrungen vorzunehmen (ebd.: 21). Dazu bedarf es sprachmächtiger, artikulationsfähiger Menschen. Je weniger gut Menschen kulturell und bildungsmäßig ausgestattet sind, desto eher neigen sie dazu, sich für politisch nicht kompetent zu halten und das Sprechen, insbesondere das politische, anderen zu überlassen.18 Sie stehen in der Politik vor der Alternative, zu schweigen oder andere für sich sprechen zu lassen, ihre politische Meinung an Wortführer zu delegieren. Die Mechanismen der Verselbstständigung dieser Delegierten auf Basis des „Urzirkels der Repräsentation“ (Bourdieu 2010a: 24) hat Bourdieu in seiner 1984 erschienen Schrift „Delegation und politischer Fetischismus“ (2010a) genau analysiert. Eine soziale Gruppe beauftragt einen Wortführer, sie zu repräsentieren, aber als Symbol der Gruppe bringt er diese überhaupt erst zum Erscheinen, in einem Akt sozialer Magie verwandelt sich ein einzelner in die Verkörperung eines kollektiven Akteurs. In der Delegation ist potenziell immer schon die Usurpation enthalten: Aus dem für jemanden sprechen wird ein an seiner Stelle sprechen. Mit der Permanenz der Freistellung der Funktionäre19 (die normalen Mitglieder können die meisten Organisationsaufgaben schon aus Zeitmangel, nicht nur aus Mangel an kulturellem Kapital, nicht wahrnehmen), die i. d. R. mit der Existenz eines Büros einhergeht, ist der von Bourdieu sogenannte „Büro-Effekt“ (ebd.: 39) verbunden: Aufgrund der Konzentration der Macht im Büro nimmt die Zahl der Teilnehmenden an Versammlungen ab. Diese sind nur noch vom Büro einberufene Repräsentativitätsdarsteller, die vom Büro vorgefasste Entscheidungen ratifizieren. Der eigentliche Entscheidungsträger ist das Büro. Die Mitglieder sind für die Entscheidungen nicht mehr konstitutiv, nur noch für deren nachträgliche Legitimierung. Da sie das spüren, bleiben sie weg, was ihnen wiederum von den Hauptamtlichen als „politisches Desinteresse“ (ebd.: 41) vorgeworfen wird. All diese Mechanismen sind natürlich auch, teilweise ganz besonders, in den Gewerkschaften, wirksam. An diesen haben Bourdieu wie die Frankfurter eine ganz spezifische Kritik, die aber gleichzeitig begleitet ist von einer grundsätzlichen Sympathie und Achtung für die Gewerkschaften als unverzichtbaren Verteidigerinnen von Demokratie und sozialstaatlichen Errun-
18 S. Bourdieus ausführliche Analyse dieses Zusammenhangs in „Politische Fragen“ (2010, 125-208), die Bourdieu ursprünglich 1977 in den Actes de la Recherche en Sciences Sociales veröffentlicht und später zum zentralen Kapitel über „Politik und Bildung“ in „Die feinen Unterschiede“ (1982, 620-726) gemacht hat. 19 „Funktionär“ heißt auf französisch auch „permanent“.
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genschaften. Dies hat auch immer wieder zu punktuellen Bündnissen geführt. Bei Horkheimer und Adorno etwa anlässlich des Kampfes gegen die Notstandsgesetze 1968 mit der IG Metall, bei Bourdieu anlässlich des Versuchs der konservativen Regierung 1995, die französische Sozialversicherung zu schleifen, mit den dagegen streikenden Eisenbahnern und den diese unterstützenden Gewerkschaften CGT (kommunistisch) und insbesondere SUD (basisdemokratisch). Adorno und Horkheimer haben zunächst auf Basis ihrer Beobachtungen der US-Gewerkschaften im amerikanischen Exil eine überaus kritische Einschätzung der Gewerkschaften. Horkheimer hat den von ihm 1942 in „Geschichte der amerikanischen Arbeiterschaft“ (Horkheimer 1985, Bd. 12) skizzierten geschichtlichen Gang des Proletariats von der Bildung zur Klasse und zur Weltrevolution hin zum „racket“20 mit „Privilegien innerhalb der nationalen Grenzen“ (ebd.: 260) 1943 in seiner „Soziologie der Klassenverhältnisse“ (ebd.: 75-104) ausgeführt. Die Gewerkschaften hätten die Auseinandersetzung um den Preis der Ware Arbeitskraft in ein Geschäft wie jedes andere verwandelt, den früher doppelt als Kampf um „die Abschaffung des Lohnsystems und das Erreichen höherer Löhne innerhalb des Systems“ (ebd.: 84), geführten Klassenkampf in ein System des Ver-Handelns zwischen monopolistischen Verbänden, in „ein Mittel der Klassenanpassung“ (85) verwandelt. Die Gewerkschaftsführer hätten sich zu einer habsüchtigen Gruppe unter anderen entwickelt, die zwar zur Realisierung ihrer eigenen Vorteile gewisse Vorteile für die von ihr Vertretenen durchsetzen müssten (97), wobei sich diese häufig auf die Arbeiteraristokratie beschränkten, aber von der Struktur ihres Handels und den mit ihrer Position verbundenen Macht und Privilegien mehr mit den anderen Führungseliten als mit den von ihnen Vertretenen zu tun hätten und wie diese anderen Führungseliten vollkommen von der Weiterexistenz des herrschenden Systems abhängig seien (88). Allerdings müssten Gewerkschaften doch konstitutiv anders als andere „rackets“ Rücksicht auf die Mitgliedermassen und demokratische Organisationsmuster nehmen, auch wenn jede Gewerkschaftsführung versuche, so wenig Mitgliederversammlungen wie möglich durchzuführen (96). So sieht Horkheimer immer noch die Möglichkeit einer kritischen Arbeiterpolitik, „die monopolistische Struktur, die in ihre eigenen Organisationen eingeht ... zu erkennen und ihr zu widerstehen“ (86) und aus der kritischen Analyse dieser monopolistischen, d.h. zentralistischen, korruptionsanfälligen, undemokratischen Struktur der existierenden Gewerkschaften das Gegenbild einer wirklich demokratischen Organisations- und Gesellschaftsstruktur zu entwickeln (103). Zurück in Deutschland scheint sich dieses sehr pessimistische Bild der Gewerkschaften doch wieder etwas gewandelt zu haben. 1962 formuliert Horkheimer in seiner Rede zum 40jährigen Bestehen der gewerkschaftli-
20 Racket = organisierte Vorteilsnahme für eine (mafiöse) In-Group.
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chen Akademie der Arbeit (1985, Bd. 8, 201-220), dass die Gewerkschaften, gemäß dem Gelöbnis auf ihrem Gründungskongress, „dass Diktatur unerträglich ist“ (215), ein konstitutives Interesse daran haben, „Demokratie ... in ihrer traditionellen Gestalt, als Inbegriff der Institutionen, die das Recht der Einzelnen gegen Willkür garantieren, lebendig zu erhalten, weiter zu entfalten und zu schützen“ (214), ja meint sogar: „Gewerkschaften sind ihrem Wesen nach geschworene Feinde der totalitären Diktatur, sie müssen sie bekämpfen“ (215), und als ihr dringlichstes Erziehungsziel formuliert er: „die vorhandene Bindung der Arbeiter an die Demokratie zu stärken durch die Vermittlung einer geistigen Verfassung, die ohne Autonomie, ohne die Möglichkeit, unabhängig zu denken und sich auszudrücken, nicht leben kann“ (215). Praktisch wirksam wurde diese Einschätzung der Gewerkschaften als Verteidigerinnen der Demokratie z.B. 1968 beim Kampf gegen die Notstandsgesetze. Hier gingen Adorno und Horkheimer, die ein durchaus solidarisches Verhältnis zu einigen Vorstandsmitgliedern der IG Metall, insbesondere Otto Brenner hatten, auf diese zu, um sie zum gemeinsamen Auftreten gegen die Notstandsgesetze zu bewegen, was dann auch in verschiedenster Form erfolgte (so O. Negt in einem unveröffentlichten Interview über die Frankfurter und die Arbeiterbewegung mit M. Steinrücke, Hannover, 09.12.2010). Ansonsten seien O. Negt zufolge die Gewerkschaften kein zentraler Gegenstand der Analysen von Horkheimer und Adorno gewesen. Wo in den Seminaren von ihnen die Rede war, sei ihre Verteidigung als notwendige demokratische Organisation aber unstrittig gewesen, bei gleichzeitiger Kritik an den Tendenzen zu Verselbstständigung und Korruptionsanfälligkeit, die die Gewerkschaften in den Köpfen der alten Frankfurter mit allen Institutionen staatlich organisierter Art geteilt hätten (Negt, ebd.). Wirklich intensiver Kontakt bis hin zu langjähriger Zusammenarbeit sei allerdings zwischen der ersten Generation der Schüler von Adorno und Horkheimer und den Gewerkschaften entstanden, z.B. durch Fritz Opel, Rainer Zoll, Eberhard Schmidt als Pressesprecher der IG Metall, und Oskar Negt selbst in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit bis hin zur Entwicklung der viel diskutierten und genutzten Konzeption gewerkschaftlicher Bildungsarbeit „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ (1968) mit den daran anschließenden vier Heften zum Themenkreis Betrieb: „Industriearbeit und Herrschaft“, „Konflikt um Lohn und Leistung“, „Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Betrieb“ und „Die Würde des Menschen in der Arbeitswelt“ (Brock u.a. 1969). Eine genaue Analyse der Organisationsprobleme der Gewerkschaften bzw. der Arbeiterbewegung allgemein habe auch nie im Zentrum des Interesses von Adorno und Horkheimer gelegen. Damit haben sich, aufbauend auf den Vorarbeiten von Habermas in „Strukturwandel und Öffentlichkeit“ (1962) und der Einleitung zur Neuausgabe von „Theorie und Praxis“ (1971), erst Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrer Untersuchung des Verhältnisses von Lebenszusammenhang der Arbeiter, proletarischer und bürgerlicher
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Öffentlichkeit „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1972) ausführlich und mit größter Genauigkeit und Sensibilität befasst.21 Oskar Negt hat die Gewerkschaften bis heute solidarisch-kritisch begleitet, u.a. mit seiner Unterstützungsschrift zu ihrem Kampf um die 35-Stundenwoche „Lebendige Arbeit, enteignete Zeit“ (1984) oder seiner Streitschrift „Wozu noch Gewerkschaften?“ (2004). Bourdieu hatte, insbesondere ab den großen Streiks 1995 gegen die Zerstörung der Sozialversicherung in Frankreich, ein intensiveres Verhältnis zu den Gewerkschaften als die „alten“ Frankfurter, das aber auch einige Enttäuschungsmomente umfasst. In seiner grundlegenden Einschätzung und Kritik der Verselbstständigungs-, Bürokratisierungs- und Anpassungstendenzen der Gewerkschaften ist er den Frankfurtern allerdings sehr verwandt. In seiner ersten (1981) systematischen Untersuchung des Repräsentationsdilemmas von Arbeiterorganisationen „Die politische Repräsentation“ (2010c) rekurriert er auf Gramsci und dessen Analyse von Gewerkschaftsfunktionären als „Menschenbankiers“ (80), die mit Mitgliederzahlen genauso handeln wie andere Bankiers mit Umsatz- und Renditezahlen, und die, je größer ein Gewerkschaftsapparat ist und je mehr Posten er zu bieten hat, sich desto mehr von aktiven Mitgliedern mit Hingabe und Klassenbewusstsein zu geistig trägen und korrumpierbaren „Pfründnern“ (Max Weber) mit kleinbürgerlicher Beamtenseele entwickeln (85). Gleichzeitig sind Arbeiter aber aufgrund ihrer relativen Austauschbarkeit und ihrer geringen Ausstattung mit kulturellem Kapital viel stärker als andere soziale Gruppen auf die Existenz eines (Gewerkschafts-)Apparats angewiesen, der die Mobilisierung, Organisierung und Repräsentation für die hier einzig wirksamen kollektiven Strategien, insbesondere den Streik, übernimmt. Wobei der Delegierte, der Gewerkschaftsfunktionär ineins die (sprachlichen) Mittel liefert, das unausgesprochene Unbehagen und die Forderungen der Mitglieder zum Ausdruck zu bringen, und das Spektrum der Forderungen und die Form ihrer Vertretung auf den Rahmen des in der herrschenden Kultur Vertretbaren einschränkt (2010b: 324), womit er teilweise die Einpassung der Arbeiter in die von Journalisten, Arbeitgebervertretern, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern verbreiteten „kollektiven Anstandsregeln“ (322) noch verstärkt. So hat Bourdieu auch immer wieder mit Gewerkschaften zusammengearbeitet, erstmals demonstrativ öffentlich 1981 mit der damals linkssozialistischen, an Arbeiterselbstverwaltung orientierten CFDT beim Protest gegen die Unterdrückung der basisdemokratischen Gewerkschaft Solidarnosc durch das „staatssozialistische“ Militär in Polen (2003 Bd. 2: 61), später
21 Leider ist diese luzide deutsche Untersuchung der Verarbeitungs- und Entfremdungsmechanismen, denen Arbeiter und ihre Organisationen in einer bürgerlichen Öffentlichkeit und Kultur unterliegen, von Bourdieu nie rezipiert worden, vermutlich aufgrund der Sprachbarriere durch Nichtübersetzung ins Französische. Viele ihrer Motive sind den seinen sehr verwandt.
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dann ab 1995 mit den Gewerkschaften, die den großen Streik der Eisenbahner gegen die konservative „Reform“ der Sozialversicherung unterstützten, insbesondere der SUD, einer Abspaltung von der CFDT, nachdem letztere die Regierung unterstützte. Für ihn ging es in dem Streik „um die Verteidigung der sozialen Errungenschaften eines Teils der Arbeiter ... und damit einer ganzen im Sozialstaat verkörperten und von ihm garantierten Zivilisation, fähig, das Recht auf Arbeit, das Recht auf eine Wohnung, das Recht auf Bildung zu verteidigen“.22 Grundsätzlich war Bourdieu allerdings davon überzeugt, dass der Sozialstaat gegen die Angriffe des Neoliberalismus nur auf europäischer Ebene zu verteidigen sein würde. So hat er verschiedentlich seine Überlegungen dazu vor österreichischen, Schweizer und deutschen Gewerkschaften vorgetragen, wobei er hier Hoffnungen insbesondere auf die Gewerkschaft ver.di setzte. So hat er z.B. auf einem Forum des DGB Hessen im Juni 1997 in Frankfurt/Main Grundlinien eines neuen Internationalismus skizziert, für den die Gewerkschaften eine unverzichtbare Säule darstellen (Bourdieu 1997:11ff.): im Kern müsse es um den Aufbau eines europäischen Sozialstaats gehen mit gemeinsamen Standards gegen Korruption, Steuerhinterziehung und Sozialdumping; einer Arbeitszeitverkürzung perspektivisch auf 30 Wochenstunden in allen europäischen Ländern zum Abbau der Arbeitslosigkeit; einem regional differenzierten Mindestlohn; der Entwicklung eines gemeinsamen Sozialrechts mit dem Recht auf Arbeit, Bildung und Wohnung; einer gemeinsamen Investitionspolitik mit dem langfristigen Erhalt von Arbeitsplätzen und Umwelt und der Förderung alternativer Ökonomie (1997: 23f.). Er war fest davon überzeugt, dass es dafür neuer Formen von Gewerkschaftsarbeit auf EU-Ebene bedürfe (der EGB sei leider nur ein Phantom). Erste Ansätze zu einer europäischen Mobilisierung sah er in dem Europamarsch der Arbeitslosen und den Europäischen Betriebsräten (ebd.: 22). Besonders wichtig erschien ihm aber, den von der Gewerkschaft SUD in der Streikbewegung 1995 entwickelten Ansatz, die sozialen Bewegungen außerhalb der Gewerkschaften, v.a. die „sans“-Bewegungen = sans papier, sans résidence, sans travail, d.h. die Papierlosen, die Obdachlosen, die Arbeitslosen,23 aber auch die Bewegungen zur Gleichstellung von Männern und Frauen, Homo- und Heterosexuellen, InländerInnen und ImmigrantInnen, miteinzubeziehen und zu unterstützen. Dabei schien ihm die Unterstüt-
22 Rückblick auf die Streiks vom Dezember 1995. Gespräch mit M. Steinrücke, in Bourdieu 2004, Bd. 3, 128; Nachdruck v. ders.: Gegen die blinde Logik der Ökonomie. In Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/1997, 1-7). 23 Von der Arbeitslosenbewegung sagt Bourdieu, es sei eigentlich ein Wunder, dass sie entstanden sei, weil der Verlust von Zeitperspektive, die Scham und die Isolation eine Organisierung von Arbeitslosen enorm behindern, das aber mit Hilfe unorthodoxer GewerkschafterInnen wie denen von der SUD zustande gebracht worden sei (Bourdieu: Die Arbeitslosenbewegung - ein gesellschaftliches Wunder, in ders. (1998), 103 f.; ders. (2004) Bd. 4, 147 ff.).
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zung der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entscheidend für eine politische Bewegung für eine Alternative zur Herrschaft des Neoliberalismus, da die permanente Ungewissheit der prekär Beschäftigten und der Druck, den sie objektiv auf die fest Angestellten und deren Arbeitsbedingungen ausüben, eine Hauptgeschäftsgrundlage der bestehenden neoliberalen Herrschaftsordnung und den Hauptgrund für die Demobilisierung der Beherrschten bilden.24 In diesem Zusammenhang kritisiert Bourdieu das Verhalten politischer Funktionäre der Linken und traditioneller Gewerkschaften, die die Unterstützungsarbeit für die Arbeitslosenbewegung als Manipulation angeprangert haben (Bourdieu 1998: 103). In einem im November 2001 geführten Interview „Incorrigiblement optimiste“ (2002) gibt er seiner Enttäuschung über die traditionelle und seiner Hoffnung auf die neue Gewerkschaftsbewegung Ausdruck: „Es gibt auch all diese wirklich bewundernswerten Männer und Frauen (ich benutze dies Wort, obwohl ich Heiligenverehrung nicht mag), die einige der im engeren Sinne politischen Aktionen, an denen ich beteiligt war, mir erlaubt haben kennenzulernen. Ich will nur ein Beispiel geben, das von Annick Coupé, einer der Gründerinnen der Gewerkschaft SUD, die eine sehr große Rolle in einer Vielzahl von, insbesondere feministischen, Bewegungen spielt, und die für mich eine perfekte Antithese und ein perfektes Gegengift darstellt gegen die negativen Intellektuellen und die Apparatschiks der Partei oder der Gewerkschaft, die mich wirklich in den absoluten Pessimismus stürzen können. Es sind Menschen wie diese Frau, die den am meisten zum Verzweifeln gedrängten Schichten zu widerständigen Verhaltensweisen verhelfen können, und die bewirkt haben, dass eine Bewegung wie die der Arbeitslosen, obwohl sie soziologisch völlig unwahrscheinlich ist ..., möglich und wirklich geworden ist.“ (Bourdieu 2002: 241f.; 2012). Bourdieu sieht hier VorreiterInnen einer neuen Form von Bewegung, die er schon 1979 in seinem Aufriss der Bedingungen zur Entwicklung politischer Gegenkultur, „Die Kunst, den Parolen zu widerstehen“, skizziert, aber noch als Traum bezeichnet hat: „Jedem die Mittel an die Hand zu geben, seine eigene Rhetorik zu entwickeln, ... sein eigener wirklicher Wortführer und Sprecher zu sein, selbst zu sprechen, statt dass einem die Worte in den Mund gelegt werden – das sollte der Ehrgeiz aller Wortführer sein, die sicher etwas anderes wären als das, was sie gegenwärtig sind, setzten sie sich das Ziel, an ihrem eigenen Absterben zu „arbeiten“. Man darf doch wohl mal träumen ...“ (1993a: 18). Seine Vorstellung von politischer Organisation heute hat Bourdieu 2001 dann noch einmal in einem von F. Poupeau und T. Discepolo herausgegeben Beitrag „Against the policy of depoliticization“ umrissen: „Zurückweisung traditioneller Formen politischer Mobilisierung, Einfluss der Selbstverwaltungsbewegung, Förderung von Graswurzelbewegungen und direkter Ak-
24 „Prekarität ist überall“, in Bourdieu (1998), 96 ff.
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tion“ (Studies in polical economy 69, 2002: 31-41). Eine solche Weiterentwicklung von Gewerkschaften hin zu sozialen Bewegungen von unten und deren Erfolg in den sozialen Kämpfen hat allerdings zwei Bedingungen: zum einen das wachsende kulturelle Kapital der (potenziellen) Mitglieder, zum anderen die Kooperation mit wirklich unabhängigen Intellektuellen. Schon 1981 in seiner Kritik der politischen Repräsentation (2010c) hatte Bourdieu als Gegentendenz zur Delegationsneigung und politischen Enteignung durch die Funktionäre der mit wenig kulturellem Kapital Ausgestatteten das allgemein steigende Bildungsniveau beschrieben (2010: 52): je besser (aus)gebildet die Basis einer Organisation, desto weniger lässt sie sich das Recht, mit bzw. selbst zu reden und zu bestimmen, nehmen. So sah er in der wachsenden Zahl von angelernten Arbeitern mit Abitur eine Chance für eine solche Entwicklung (1982: 247), wie er überhaupt auf die Entwicklung von Protestbewegungen durch die immer besser ausgebildeten Jugendlichen setzte, die aufgrund zunehmender Arbeitslosigkeit und der Inflation ihrer Titel immer weniger Chancen auf einen (sicheren) Arbeitsplatz haben (241f., 276).25 Die zweite Bedingung, die Kooperation wirklich unabhängiger Intellektueller mit den sozialen Bewegungen, insbesondere den Gewerkschaften, durchzieht Bourdieus politische Überlegungen ebenfalls schon lange. So hatte er z.B. 1981 anlässlich des Militärputsches in Polen als „einzige effiziente Gegenmacht“ gegen die politische Enteignung des Volkes durch die Konzentration politischer Macht „intellektuelle Kritik und gewerkschaftliches Handeln“ (2003, Bd. 2: 60) bezeichnet. Allerdings eine Kritik nur von solchen Intellektuellen, denen das Interesse an Wahrheit wichtiger ist als die Loyalität zu einer Organisation (wie im Weggefährtenmodell, das viele kommunistisch orientierte Intellektuelle an wirklicher Kritik gehindert hat, (ebd.: 63). Bourdieu schwebte die Organisation eines kollektiven Intellektuellen vor (ebd.: 64),26 in dem auf Basis völliger wissenschaftlicher Autonomie der/die jeweils fachlich Kompetenteste im Namen des Kollektivs eine Analyse, eine Kritik, einen Vorschlag unterbreitet. Dabei schwebte ihm einerseits eine kritische Analyse der Herrschaftseffekte des kapitalistischen Gesellschaftssystems vor, und zwar, inspiriert durch die Erfahrungen mit der großen von ihm angeleiteten Untersuchung „Das Elend der Welt“, von einer gegen die technokratisch deformierte, insbesondere Wirtschafts-Wissenschaft gerichteten Wissenschaft, die „den Menschen und den Wirklichkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, mehr Achtung entgegenbringt“ (1998: 38). Andererseits sah er die Aufgabe eines solchen kollektiven Intellektuellen darin, Entwürfe für Alternativen zum herrschenden System zu entwickeln, so z.B. Entwürfe für ein demokrati-
25 Eine Prognose, die sich z.Z. in Tunesien und den anderen nordafrikanischen Staaten zu bewahrheiten scheint, wo die Protestbewegungen von verzweifelten gut ausgebildeten arbeitslosen Jugendlichen ausgingen. 26 Vgl. Steinrücke, 2004b, 116f.
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sches, soziales und ökologisches Europa mit Vollbeschäftigung, 30Stundenwoche, Recht auf Arbeit, Bildung und Wohnung und Schutz von Umwelt und Gesundheit.27 In dieser Vision einer Kooperation von nicht-integrierten Arbeitern und anderer unterdrückter Gruppen und ihrer Organisationen mit wirklich unabhängigen Intellektuellen trifft Bourdieu sich wiederum mit Adorno und Horkheimer, so wie es Adorno etwa in einem erst 2003 veröffentlichten Aphorismus aus den Minima moralia bei aller Skepsis formuliert hat: „Zugleich aber sind die Produzenten mehr als je auf die Theorie verwiesen, zu der die Idee des richtigen Zustandes in ihrem eigenen Medium, konsequentem Denken, kraft insistenter Selbstkritik sich entfaltet. An der Klassenspaltung der Gesellschaft haben auch die teil, welche der Klassengesellschaft opponieren: sie scheiden sich untereinander, nach dem Schema der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit, in Arbeiter und Intellektuelle. Diese Scheidung lähmt die Praxis, auf die es ankäme. Sie ist nicht willkürlich zu überwinden. Während aber die mit geistigen Dingen beruflich Befassten selbst immer mehr zu Technikern werden, macht die zunehmende Undurchsichtigkeit der kapitalistischen Massengesellschaft eine Verbindung der Intellektuellen, die es noch sind, mit den Arbeitern, die noch wissen, dass sie es sind,28 aktueller als vor dreißig Jahren ... Heute ... wäre die Rolle der Intellektuellen nicht mehr, die Dumpfen zu ihrem nächstliegenden Interesse zu erwecken, sondern den Gewitzigten jenen Schleier von den Augen zu nehmen, die Illusion, der Kapitalismus, welcher sie temporär zu Nutznießern macht, basiere auf etwas anderem als ihrer Ausbeutung und Unterdrückung“ (2003: 301f.). Liegen die Schwerpunkte auch etwas verschieden, so lässt sich doch sagen, dass in ihrer Grundeinschätzung der Arbeiterbewegung und von deren Möglichkeiten heute die Frankfurter und Bourdieu weitgehend einer Meinung waren: bei aller harschen Kritik an den Bürokratisierungstendenzen der etablierten Organisationen der Arbeiterbewegung hielten sie doch eine Organisierung der Arbeitenden, dank zunehmender (Aus-)Bildung sogar mehr als früher, im Interesse der Überwindung des bestehenden Herrschaftssystems und der Einrichtung einer von Ausbeutung und Herrschaft befreiten Gesell-
27 So 1996 in dem gemeinsamen Aufruf zu den „Generalständen der sozialen Bewegung“ (2004, l Bd. 4, 132 f.) oder in seinem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 13.06.1997 anlässlich des DGB-Forums „Protest ohne Alternativen? Für einen europäischen Wohlfahrtsstaat – gegen ein neoliberales Europa“ am 07.06.1967 in Frankfurt/Main (in Bourdieu u.a., 1997, 123). 28 Hervorhebung von mir, M. Steinrücke. 29 Grundidee und wesentliche Recherchen dieser Arbeit verdanke ich Jürgen Bolder, Köln, einem der wenigen Intellektuellen dieser Art ind Deutschland. Ohne seine Inspiration, Unterstützung und die Diskussion mit ihm wäre dieser Beitrag nicht zustande gekommen.
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schaft für nötig und möglich, allerdings nur, wenn verantwortungsbereite und gleichzeitig unabhängige Intellektuelle sie dabei wissenschaftlich unterstützen.
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Kritikinstrument oder perfide Herrschaftsverlängerung? Differenzen und Gemeinsamkeiten im Bildungsverständnis zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule U WE H. B ITTLINGMAYER & D IANA S AHRAI „Keineswegs sind alle klugen Leute Intellektuelle und nicht alle Intellektuellen sind sonderlich klug.“ Rainer Rilling
Die Positionen der Frankfurter Schule und die Positionen Bourdieus bilden nach Meinung vieler Sozialwissenschaftler und Philosophen eine Reihe starker Gegensätze, die kaum zu überbrücken seien (Egger/Pfeuffer 2002; Beer 2002; siehe auch die Beiträge von Egger, Freytag und Suderland im Band). Hier die bildungsbürgerlichen Philosophen aus gutem Hause, dort der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und in einer bäuerlichen Gegend fern von Paris aufgestiegene Soziologe, der dem philosophischen Gestus überhaupt den Kampf angesagt hat: „Meine originellsten theoretischen Gedanken – wenn ich überhaupt theoretische Gedanken habe – sind mir in der Praxis gekommen, beim Codieren eines Fragebogens.“ (Bourdieu 1992: 44; systematischer entfaltet in Bourdieu 2002a) Auf der einen Seite stellvertretend Adorno, der sich über den hessischen Dialekt der Lehramtsstudierenden in der mündlichen Philosophieexamensprüfung mokiert und den Dialekt insgesamt in mehr oder weniger starken Gegensatz zur allgemeinen Reflexionsfähigkeit stellt (Adorno 1968a: 44-46). Auf der anderen Seite Bourdieu, der von Diskriminierungserfahrungen berichtet, die ihm genau aufgrund seines ursprünglich bäuerlichen Dialekts am Pariser Elitegymnasium widerfahren sind (Bourdieu 2002b). Während die Vertreter der Frankfurter Schule Bildung im bildungsbürgerlichen Sinne mit ihren Bezügen zur Hochkultur, zur Kunst, zum Theater usw. als letzte Bastion und unhintergehbare Ressource der Gesellschaftskritik konzeptualisieren, auf die sich „nach dem versäumten Augenblick“ der ausgebliebenen Revolution einzig
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setzen lässt, analysiert Bourdieu in seiner zentralen Studie „Die feinen Unterschiede“ (1982) den bildungsbürgerlich-aristokratischen Habitus als besonders verkannten Teil einer umfassenden symbolischen Klassenherrschaft, die Bildung als Mittel sozialer Distinktion nutzt (vgl. auch Bourdieu 1991, 1993a). Während also bei den Frankfurtern Bildung als unverzichtbare Ressource der Reflexion und Gesellschaftskritik verstanden wird, so begreift Bourdieu Bildung als Mittel zur symbolischen Herrschaft. Wir möchten im Rahmen dieses Beitrags zeigen, dass – trotz schwer zu leugnender markanter Differenzen – die beiden Positionen der Frankfurter Schule und Bourdieus weniger weit auseinander liegen als es auf den ersten Blick scheint und in Teilen sogar komplementär sind. Zu diesem Zweck werden wir in einem ersten Schritt den Bildungsbegriff, das Bildungsverständnis und die von Bildung erwarteten Emanzipationschancen rekonstruieren, wie sie in den Schriften der Frankfurter Schule – hier insbesondere am Beispiel von Adorno – enthalten sind (I.). In einem zweiten Schritt werden wir dann analog mit der Perspektive Bourdieus auf Bildung verfahren und auch seine Position rekonstruieren (II.). In einem dritten Abschnitt werden wir schließlich beide Positionen punktuell im Zusammenhang mit der Rolle und Funktion von Intellektuellen und ihrer symbolischen Dominanz innerhalb der kulturellen Sphäre zusammenführen (III.). Das geschieht im Rahmen eines einzelnen Beitrags notwendig selektiv. So sollte ein Vergleich der Bildungskonzeptionen Bourdieus und der Frankfurter Schule und der Analyse der in ihnen enthaltenen Herrschaftsmotive, etwa auch gemeinsame Schwachstellen und blinde Flecken benennen und systematisch ausleuchten, wie sie etwa in der Ausblendung ethnischer Differenzen vorliegen. Alle diese Aspekte müssen hier unberücksichtigt bleiben, wären aber lohnenswert für anschließende Untersuchungen.
I. B ILDUNG A BSICHT
IN FUNKTIONALISTISCH - HUMANISTISCHER
Die Frage, wie genau der Einstieg gewählt werden soll, um den Bildungsbegriff von Adorno, Horkheimer oder Marcuse zu entwickeln, ist bereits eine theoretische Entscheidung. Die klassische und häufig praktizierte Möglichkeit ist der direkte Zugriff auf die Schriften der Frankfurter Schule, die einen expliziten Bezug zum Thema Bildung aufweisen. Durch die Diskussion solcher Texte – etwa die Theorie der Halbbildung Adornos (1980d/1959) oder Horkheimers Beitrag über den Bildungsbegriff von 1952 (Horkheimer 1985/1952) – lässt sich dann ein immanentes Verständnis und von dort aus eine Kritik der zentralen Motive des Bildungsbegriffs der Frankfurter entfalten. Das scheint auch der nahe liegendste Weg zu sein, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie sehr vor allem Adorno auf die Praxis einer immanenten Kritik gedrängt hat. Wir wollen allerdings in diesem Beitrag etwas anders verfahren. Unsere Perspektive ist eher funktionalistisch
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ausgerichtet und zielt auf die Frage ab, was der Bildungsbegriff der frühen Frankfurter Schule leisten und welche Funktion er übernehmen soll. Hintergrund dieser Perspektive ist die Überlegung, dass sich das theoretische und praktische Projekt der Kritischen Theorie nur unter groben Verkürzungen auf die Diskussion eines Einzelbegriffs festlegen lässt, weil die einzelnen Begriffe wie Bildung, Freiheit, Aufklärung, Herrschaft, gesellschaftliche Totalität usw. selbst in einem immanenten Zusammenhang stehen (vgl. etwa Demiroviü 2008). Wir wählen deshalb als Einstieg den Umweg über die zeitdiagnostische Analyse. Der Bildungsbegriff als funktionales Element einer übergreifenden Kritischen Theorie Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule lässt zunächst kaum Zweifel daran, dass sie die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse sehr scharf und radikal kritisiert. In einem berühmten Vortrag, mit dem er den Soziologiekongress in Frankfurt/Main 1968 eröffnet hat, kennzeichnet Adorno die bestehende Gesellschaft sowohl als spätkapitalistische als auch als Industriegesellschaft (Adorno 1980a/1968). Die Diagnose der Industriegesellschaft zielt Adorno zufolge zurecht darauf ab, dass es einen spürbaren industriellen Fortschritt und auf dieser Grundlage mittlerweile bescheidenen Wohlstand für die große Bevölkerungsmehrheit gegeben hat, so dass akute gesamtgesellschaftliche Konflikte in Form von sichtbaren Klassenkämpfen außerhalb der ritualisierten Tarifverhandlungen nicht mehr zu finden sind. Die These von der „Integration des Proletariats“ in das gesellschaftliche Gesamtgefüge wurde von Adorno, Horkheimer und Marcuse explizit geteilt. Aber Adorno charakterisiert die Gesellschaft gleichermaßen als spätkapitalistische, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass die Gesamtgesellschaft nach wie vor von insbesondere ökonomischen Herrschaftsverhältnissen durchzogen ist und die Menschen eben noch nicht den freiheitlichen Status erreicht haben, der ihnen seit der Französischen Revolution versprochen ist. Dieser doppelte Zugang, den Adorno auf dem Vortrag entfaltet, soll sich zwischen unterschiedlichen Polen und unvollständigen Alternativen bewegen: Die Frage, ob sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als Industriegesellschaft oder als Spätkapitalismus fassen lassen – oder in der aktuellen Variante als Wissensgesellschaft oder Spätkapitalismus (Bittlingmayer 2001; sehr gehaltvoll hierzu Resch 2005; Resch/Steinert 2008) – wird von Adorno so beantwortet, dass kein „entweder – oder“ und auch kein „sowohl als auch“ zulässig ist, sondern dass sich Motive beider Diagnosen in den gesellschaftlichen Strukturen als vermittelte finden lassen (Adorno 1980a). Für diese komplexe Position ist zunächst ein empirischer Zugang zwingend, der einerseits die gesellschaftlichen Realitäten detailliert aufnimmt, der aber gleichzeitig eine philosophische Perspektive auf die Empirie wach hält (vgl. umfassender hierzu Adorno 1980b/1955).
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Das wird besonders deutlich in Adornos Analyse von gesellschaftlichem Wandel und Fortschritt. Adorno analysiert in einem früheren Text die deutsche Gesellschaft der 60er Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts als ein Gefüge, das eine ungeheure Dynamik aufweist, sowohl im Bereich der Produktivkräfte, der Maschinisierung von Arbeitsprozessen, als auch der Explosion kulturindustrieller Bezüge und Sphären (vgl. hierzu auch den Beitrag von Kastner im Band). Gleichzeitig analysiert Adorno die Verhältnisse als ungemein statisch, was die Frage der Organisation zwischenmenschlicher Beziehungen, der Produktionsverhältnisse und vor allem der Herrschaftsbedingungen angeht (Adorno 1980c/1961). „Weder lässt die Soziologie nach einem statischen und einem dynamischen Teil sich schematisieren, noch zergeht ihr einfach die Differenz von Statik und Dynamik. […] Konkreter heißt Dynamik, in der Geschichte bis heute, zunehmende Beherrschung äußerer und innerer Natur. Ihr Zug ist eindimensional, geht zu Lasten der Möglichkeiten, die der Naturbeherrschung zuliebe nicht entwickelt werden; […]. Indem sie [die Dynamik; d.V.] das Viele reduziert, potentiell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche, in Statik.“ (Adorno 1980c: 234-235) Vor allem Adornos Bemühungen, zwischen falschen Alternativen und Dichotomien hindurch zu steuern, erinnern dabei bereits an dieser frühen Stelle unseres Vergleichs frappierend an das Bourdieu’sche soziologischethnologische Projekt eines Entwurfs einer Theorie der Praxis oder an die ersten vier Kapitel aus der Studie „Sozialer Sinn“ (Bourdieu 1979, 1987). Im Kontext dieser spezifischen komplexen Sichtweise auf Gesellschaft kommt der Bildung nun zuerst die Aufgabe innerhalb der Kritischen Theorie zu, eine komplexe Perspektive, die davon absieht, unzulängliche Vereinseitigungen zugunsten verbesserter wissenschaftlicher Orientierungen durchzuführen, zu ermöglichen – man denke auch an das von Bourdieu geschätzte und häufig verwendete Zitat von Bachelard, nachdem das Einfache immer auch das Vereinfachte ist. Eine solche kompromisslos komplexe Analysestrategie erfordert also bereits selbst ein hohes Maß an Komplexität (hier: Bildung) auf Seiten des wissenschaftlichen Personals. Hier wird auch virulent, dass Kritische Theorie sich selbst als eine Praxis im Zusammenspiel gesamtgesellschaftlicher Bedingungen zu begreifen versucht (vgl. die hierfür zentrale Studie Demiroviü 1999). Diese ganzen Vermittlungsmotive verweisen auf eine notwendig hohe Reflexionskapazität, die in der Regel mit Bildung, jedenfalls im klassisch-humanistischen Sinne, assoziiert wird. Um also Kritische Theorie der Gesellschaft betreiben zu können, so könnte man zuspitzen, muss man als eine Grundvoraussetzung selbst gebildet sein im Sinne eines hohen Maßes an Reflexionsfähigkeit und eines hohen Maßes an Distanzierungsfähigkeit gegenüber den aktuellen Zuständen. Über dieses Motiv erhält Bildung in der Kritischen Theorie einen eminent funktionalen Charakter, der sich sowohl auf die Kritischen Theoretiker bezieht, aber nicht auf sie reduziert werden kann. Denn Bildung ist nicht nur
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als Bedingung der Möglichkeit zu verstehen, selbst Kritische Theorie zu betreiben, sondern wird auch als die zentrale subjektive Ressource aller Bevölkerungsmitglieder begriffen, Spielräume zu schaffen und die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse als historisch Willkürliche zu durchschauen (vgl. v.a. Marcuse 1937; Adorno 1968b, 1968c, 1980d; Horkheimer 1985). Dieser funktionale Bezug von Bildung als individuelle Widerstandsressource ist eingebettet in eine wichtige Traditionslinie, die bereits sehr früh bei Marx, Engels und daran anschließend vor allem bei Lasalle, Lenin, Bebel und Karl Liebknecht innerhalb der Marx’schen Theorietradition zu unmittelbaren Forderungen nach Praktiken von Arbeiterbildung führt1. Allerdings ist das Motiv der Bildung als Widerstandsressource selbst ambivalent: Den Emanzipationshoffnungen, die etwa mit Arbeiterbildung verknüpft wurden, stehen historische Erfahrungen entgegen, dass eine bessere oder höhere Bildung der Arbeiter eben nicht zwangsläufig zu einer Stärkung emanzipativer Perspektiven führt, sondern auch mit integrativen Tendenzen derjenigen einhergehen, die ja gegen die kritikwürdige Gesellschaft aufbegehren sollen. Mit Blick auf die Bildung bislang von ihr ausgeschlossener sozialer Gruppen formuliert Adorno dieses Dilemma bereit in den 1940er Jahren in der Minima Moralia: „Es wäre schlechte Psychologie, die annähme, das, wovon man ausgeschlossen ist, erwecke nur Haß und Ressentiment; es erweckt auch eine beschlagnahmende, unduldsame Art von Liebe, und jene, welche die repressive Kultur nicht an sich heranließ, werden leicht genug zu deren borniertesten Schutztruppe. Noch in dem auftrumpfenden Hochdeutsch des Arbeiters, der als Sozialist ‚etwas lernen‘, am sogenannten Erbe teilhaben will, klingt das mit, und die Banausie der Bebels besteht nicht sowohl in ihrer Fremdheit zur Kultur als in dem Eifer, mit dem sie sie als Tatsache hinnehmen, mit ihr sich identifizieren und damit freilich in ihrem Sinn verkehren.“ (Adorno 1993/1951: 51; zum Verhältnis der Frankfurter Schule und Bourdieus zur Arbeiterbewegung vgl. Steinrücke im Band)
Daraus lässt sich natürlich nicht das Argument ableiten, dass Bildungsbemühungen für bislang bildungsferne Gruppen vergeblich und im Sinne der Aufklärung und der Herstellung solidarischer gesellschaftlicher Verhältnisse kontraproduktiv sind, sondern dass die bloße Reklamation von Teilhabe am Bestehenden unter Bedingungen sozialer Herrschaftsverhältnisse stets ein konservatives Moment mit transportiert. Vor diesem Hintergrund ist aus der Perspektive der Kritischen Theorie die allgemeine Forderung nach Bildung unterbestimmt. Man könnte argumentieren, dass sich von hier aus die impliziten funktionalen Bezüge von
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Nach wie vor lesenswert Negt 1971; Brock et al. 1978; aktuell etwa die Arbeiten von Peter Faulstich, Christine Zeuner und Helmut Bremer, z.B. Faulstich/Ludwig 2004; Bremer 2007; Zeuner/Faulstich 2009; Möller/Zeuner/Grotlüschen 2011; Faulstich/Bayer 2012.
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Bildung noch einmal deutlich verschärfen und geradezu definitorischen Charakter erhalten. Der Erwerb von Bildung, die nicht dazu führt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zunächst als kritikwürdig durchschaut werden, ist – unabhängig von den tatsächlichen Chancen auf radikale gesellschaftliche Veränderung – gar kein Bildungserwerb im Sinne der Frankfurter Schule. Genau von hier aus führt unserer Ansicht nach die Argumentationslinie zur berühmten Unterscheidung von Bildung, die Gesellschaftskritik nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erzwingt, und bloßer Halbbildung, die im Sinne von kulturellem Kapital akkumuliert werden kann, aber dem Einverständnis mit den bestehenden Verhältnissen nicht entgegen steht (Resch/Steinert 2003; Liessmann 2008; Pasuchin 2012; Adorno 1980d). Individuell erworbene Bildung, die zur unproblematischen gesamtgesellschaftlichen Integration beiträgt, ist immer schon Halbbildung, ist gewissermaßen „schlecht funktional“. Bildung, die die gesellschaftlichen Verhältnisse als historische und willkürliche durchschaut und – im besten Fall – zur Rebellion gegen die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, zur humanistischen Sensibilisierung, zum Protest führt, ist Bildung im emphatischen Sinne, ist „positiv funktional“ (vgl. hierzu auch Marcuse 1969).2 Das Bildungsbürgertum als Maßstab? Von dieser funktionalen Bestimmung der Bildung ausgehend, wird vielleicht verständlicher, warum die Autoren der Frankfurter Schule bestimmte kulturelle Güter und Praktiken stärker wertschätzen als andere. Das Grundmotiv bleibt dabei funktionalistisch: Wenn der Maßstab von Bildung die Kritik des Bestehenden ist, dann ist alles das an Kulturgütern und Praktiken, was sich harmonisch ins Bestehende einfügt, prinzipiell verdächtig. Das ist der Hintergrund der Diagnose, dass in hoch entwickelten industriellen Gesellschaften mit Notwendigkeit eine auf Integration ins Bestehende ausgerichtete Industrie der Kultur existiert, kurz Kulturindustrie, die auf Sozialintegration im umfassendsten Sinne programmiert ist (Horkheimer/Adorno 1991/1947; Marcuse 1964; vgl. die gute Einführung von Steinert 1998; vgl. u.v.a. Kellner 1982, 1989, Gebur 1998). Im Unterschied lassen sich Kulturgüter in Literatur, Musik, Malerei bestimmen, die entweder Momente von Freiheit, Autonomie, Gleichheit, Solidarität, Mündigkeit usw. bewahren oder das Widersprüchliche der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse thematisieren (und kritisieren) oder schließlich die einfache Integration durch ästhetische Provokation und durch intendierte Herausforderungen an die Seh-, Lese- und Hörgewohnheiten der
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Natürlich ließe sich hier eingehender die Frage der Maßstäbe der Kritik diskutieren, aber zum einen würde das vom Hauptmotiv Bildung relativ weit weg führen und zum anderen halten wir diese durch Habermas, Honneth und Bonß maßgeblich initiierte Fragestellung für deutlich überschätzt. Vgl. hierzu das starke Buch von Steinert 2008.
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Gesellschaftsmitglieder verbauen und genau dadurch mit dem Verständnis von Bildung als Reflexion und Herrschaftskritik gut in Verbindung zu bringen sind. Adorno hatte „einen Begriff von Kunst und Kultur […], nach dem dieser Bereich sich widerständig zur Gesellschaftsverfassung verhielt. Dieser Begriff war das Ergebnis einer historischen Analyse: Kultur ist in der bürgerlichen Gesellschaft als der Gegenbereich zur Wirtschaft eingerichtet worden, dort war man Mensch und nicht Funktionsträger, dort durfte man’s sein. Die Künstler und Wissenschaftler haben diesen Status ausgebaut und verteidigt und Autonomie durchzusetzen versucht: Kultur sollte ein Bereich sein, der nur seinen eigenen Regeln folgt und genau dadurch seinen Beitrag der Kritik, der Innovation, des Eröffnens von Möglichkeiten leistet. Das Schöne, Gute, Wahre, die feineren Bedürfnisse, die Nachdenklichkeiten, das Humane eben, von dem die bürgerliche Gesellschaft genau wusste, daß es im Alltagsbetrieb der Konkurrenz und der wirtschaftlichen Notwendigkeiten keinen Platz hat, sollte wenigstens eine Nische behalten.“ (Steinert 1998: 178)
Von hier aus führt der Gedanke an Bildung als Herrschaftskritik zunächst zur starken Wertschätzung bildungsbürgerlicher Gehalte, die dann dadurch als solche qualifiziert sind, dass sie die gesellschaftlichen Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse darstellen und öffentlich machen und sich auf diese Weise gegen das Bestehende stemmen – Adornos Interpretationen von Becketts Theater, seine Vorliebe für die Kunstrichtung des Expressionismus, seine emphatischen Kommentare über die disharmonische Zwölftonmusik geben hiervon Zeugnis.3 In dieser Argumentationslinie liegt ein auf den ersten Blick starkes objektivistisches Motiv. Notwendig ist die Unterscheidung zwischen kulturellen Gütern und Praktiken, die zur bloßen Sozialintegration in das kritikwürdige gesellschaftliche Ganze beitragen, die eine mehr oder weniger gedankenlose Rezeption nahe legen und das Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht besonders fördern. Auf der anderen Seite der Unterscheidung stehen dann kulturelle Güter und Praktiken, die die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse radikal kritisieren oder aber die Versprechungen der bürgerlichen Revolutionen konservieren und dadurch als Maßstab bewahren. Das lässt sich so lesen, dass spezifischen kulturellen Gütern und Praktiken ein objektiver Gehalt von Gesellschaftskritik oder zumindest von Widerständigkeit gegen das Bestehende innewohnt, d.h. die Kritik, die Re-
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Es existiert eine sehr breite Sekundärliteratur, die sich vor allem mit Adornos ästhetischer Theorie auseinander setzt. Wir können keine Auseinandersetzung an dieser Stelle liefern und verweisen neben den Studien von Heinz Steinert auf die Arbeiten von Heinz Paetzold, Burkhardt Lindner und W. Martin Seel.
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flexivität, das Humane in den bildungsbürgerlichen Kulturgütern und Praktiken selbst liegt.4 Wenn das stimmt, dann ist die Verteidigung bildungsbürgerlicher Kulturgüter und Praktiken nicht nur als Feier des eigenen bildungsbürgerlichen Lebensstils zu brandmarken, sondern enthält eine andere Qualität. Die angemessene Rezeption und Aneignung der bildungsbürgerlichen Kernbestandteile wird als eine Bedingung für Reflexionsfähigkeit und Gesellschaftskritik begriffen und enthält auf diese Weise zumindest Potenziale, gesellschaftliche Verhältnisse zu überwinden, an denen die meisten Menschen leiden. Und von diesem Punkt aus wird das starke Insistieren auf Bildung der Frankfurter Schule in ihrer Verbindung und Verschränkung mit dem Bildungsbürgertum und seinen Praktiken verständlich, wenn mit dieser Form von Bildung eben die umfassende Erkenntnis über die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche und die Rezeption weniger komplexer Kulturgüter und Praktiken mit der Verlängerung von überflüssigen Herrschaftsverhältnissen theoretisch assoziiert ist. Es ist uns also wichtig zu betonen, dass auch in der Verteidigung und Aufwertung bildungsbürgerlicher Gehalte mehr steckt als die Selbstverliebtheit in die eigenen (hoch-)kulturellen Kompetenzen Adornos, Horkheimers und Marcuses (scharfe Kritik liefern etwa Marcuse 1937 und Horkheimer 1985/1952; wir greifen dieses Motiv im dritten Abschnitt noch einmal kurz auf). Das Verhältnis zwischen bildungsvermittelter Herrschaftskritik und intellektuellem Rassismus Die bisherige Rekonstruktion hat vor allem Adorno einen Bildungsbegriff zugeschrieben, der vor allem anderen funktional dafür sein soll, Gesellschaftskritik überhaupt betreiben zu können. Die Rezeption der bildungsbürgerlichen Kulturgüter und Praktiken wurden dabei im Gegensatz zu den kulturindustriellen Massengütern als notwendiger Treibstoff für die Entwicklung von Bildung konzeptualisiert. Diese Argumentationslinie muss nun in doppelter Weise differenziert werden – zunächst gilt es, die durchaus vorhandenen starken Ressentiments vor allem Adornos und Horkheimers gegen jedwede Form von Massenkultur nachzuzeichnen. Im Anschluss daran muss mit Blick auf die These der Kulturindustrie als Vergesellschaftungsform (Steinert 1998: 42) die blinde Feier bildungsbürgerlicher Kulturgüter und Praktiken deutlich eingeschränkt werden.
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Es ist natürlich stark umstritten, inwieweit die bildungsbürgerlichen Kulturformen und Praktiken hier einen Exklusivitätsanspruch aufrecht erhalten können. Inwieweit zum Beispiel auch die Popkultur (Punkrock, Gangster-Rap, Underground etc.) Motive von Widerständigkeit für sich reklamieren kann, trotz ausgereifter Kommerzialisierung, ist eine empirische und eine theoretische Frage, die wir hier aber nicht weiter verfolgen können; vgl. hierzu auch Kastner im Band.
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Es lassen sich an vielen Stellen insbesondere in den Vorträgen und kürzeren Texten Adornos eine Reihe von Hinweisen finden, die auf einen intellektuellen Rassismus im Bourdieu’schen Sinne hindeuten und die kaum zu beschönigen sind. Aus soziologischer Perspektive besonders kritisch ist dabei die Frage danach, inwieweit die sozialen Akteure, die eine unterprivilegierte und schulbildungsferne Primärsozialisation durchlaufen haben, im weiteren biografischen Verlauf prinzipiell überhaupt noch imstande sind, Bildung im Sinne der Kritischen Theorie zu erwerben. Diese Frage wird umso virulenter, wenn Adorno sehr scharf die fehlende Bildung von in dieser Zeit privilegierten Lehramtsabsolventen kritisiert, also einer in den Sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit sehr viel kulturellem Kapital ausgestatteten Gruppe. Adorno macht hier etwa einen starken Gegensatz auf zwischen der städtischen Bildung und den Bildungspraktiken und Wissensformen in ländlichen Gebieten. „Zur Bildung gehört Urbanität, und ihr geometrischer Ort ist die Sprache. Keinem Menschen ist es vorzuhalten, daß er vom Lande stammt, aber auch keiner dürfte daraus sich ein Verdienst machen und dabei beharren; wem die Emanzipation von der Provinz missglückte, der steht zur Bildung exterritorial.“ (Adorno 1968a: 46) Bildung wird von Adorno damit als Gegengift zum Ländlichen begriffen, das die „kulturelle Ungeformtheit des Agrarischen“ (ebd.: 47) austreiben soll. Das folgende, in einem solchen Beitrag ungewöhnlich lange Zitat fördert die Skepsis und die Antipathie Adornos gegen „Bildungsaufsteiger vom Lande“ sehr drastisch zutage und wird deshalb von uns in dieser Ausführlichkeit dokumentiert: „Von Bildung ist wohl zu erwarten, daß sie das Ungeschliffene der regionalen Sprache zu milderen Sitten gewöhnt. Davon kann keine Rede sein. Der Konflikt zwischen dem Hochdeutschen und dem Dialekt endet mit einem Remis, an dem niemand seine Freude hat, nicht einmal der zukünftige Lehrer selbst, dessen Mißvergnügen in jedem Wort scheppert. Die Nähe des Dialekts zum Redenden, das Moment, daß er, wo dieser Dialekt noch bäuerlich ist, wenigstens in seiner Sprache selber rede, so, wie es populär heißt, ‚wie ihm der Schnabel gewachsen ist‘, ging verloren; die objektive Hochsprache aber ist nicht erreicht, sondern bleibt entstellt von den Narben des Dialekts; es klingt so, wie jene Jünglinge in Kleinstädten aussehen, die man, damit sie beim Sonntagsandrang aushelfen, in Kellnerfräcke steckt, die ihnen nicht sitzen. Ich will gewiß nichts gegen die freundliche Institution der akademischen Ausländerkurse im Deutschen sagen, aber Kurse für Inländer wären doch vielleicht noch wichtiger, wenn sie auch nicht mehr erreichten als dem zukünftigen Lehrer jenen Tonfall abzugewöhnen, in dem die Brutalität des Rustikalen mit der zukünftigen pädagogischen Würde trüb sich vermischt. Komplementär zu dem Vulgären verhält sich das Hochtrabende, die Neigung zu Wörtern, die außerhalb des Erfahrungshorizontes der Sprecher liegen, und die deshalb aus ihrem Munde so herauskommen, als wären sie jene Fremdwörter, derentwegen sie vermutlich einmal ihre Schüler schikanieren werden. Solche Ausdrücke sind fast stets herabgesunkenes Kulturgut der Oberschicht oder,
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Die Beschreibungen Adornos der unterschiedlichen Aneignungsweisen, Aneignungsbestrebungen und Aneignungsmöglichkeiten von Hochkultur erinnern phänomenologisch deutlich an Bourdieus Analysen des Prätentionsgeschmacks, der so bestimmt ist, dass alles, was er anfasst, nicht zu Gold, sondern zu abgewertetem Kulturgut wird, von dem sich die distinguierte herrschende Klasse abzusetzen bemüht (vgl. das Kapitel Bildungsbeflissenheit in Bourdieu 1982: 500-584). Der Unterschied ist hier lediglich, dass Adorno durchaus das Ressentiment der herrschenden Klasse gegen das Kleinbürgertum teilt und den angehenden Lehrkräften vom Lande eben jene Bildung abspricht, die seines Erachtens fundamental ist für die Entwicklung einer gesellschaftskritischen Perspektive. In der Tat lässt sich an dieser Stelle gegen Adorno einwenden, wie denn genau ein Zugang zu Bildung, die den Namen verdient, gedacht und hergestellt werden kann, wenn die Mutter keine bekannte Opernsängerin ist, die eigene soziale Herkunft also nicht unmittelbar im Bildungsbürgertum verankert ist. Dass Bildung von Adorno gegen fachliche Schulung abgegrenzt wird, macht die Sache des Bildungserwerbs nicht gerade einfacher (Adorno 1968c: 54). Mit erheblichen Problemen ist allerdings Adornos Perspektive verhaftet, dass sich bereits biografisch sehr früh entscheidet, ob ein Zugang zu tatsächlicher, emphatischer Bildung zumindest potenziell gelingen kann oder nicht. „Bildung läßt sich, dem Spruch aus dem Faust entgegen, überhaupt nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eines. Eben dadurch aber, daß sie dem Willen sich versagt, ist sie in den Schuldzusammenhang des Privilegs verstrickt: nur der braucht sie nicht zu erwerben, der sie schon hat.“ (Adorno 1980d: 107) Nach Adorno, hierin orthodoxer Freudianer, entscheidet sich also bereits in den ersten Lebensjahren, wie sich die wesentlichen Selbstbezüge und Bildungsaneignungen gestalten. Wenn hier keine grundlegenden Weichen gestellt werden, ist ein späterer Erwerb für Adorno nur noch sehr schwer denkbar – damit erhält Bildung ein Moment von Wesensbestimmung, das für Adorno sonst recht untypisch ist. „Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt: sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu, sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloß lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Kindheit entschieden.“ (Adorno 1968b: 42/43)
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Ganz hoffnungslos ist der Erwerb wahrer Bildung für Menschen, die nicht direkt aus dem Bildungsbürgertum stammen, nicht. Es ist selbst bei Adorno kein geschlossener Determinationszusammenhang, obwohl die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände in den Bildungsvermittlungsinstitutionen einen Zirkel nahe legen, in dem die Bildungsaneignung immer nur wieder der Reproduktion des herrschaftlichen Ganzen dient. Ein Indikator für gelingende Bildungsprozesse ist die Kritik am Bestehenden: die Menschen – bzw. die bei Adorno in den Blick genommenen Studierenden – „müßten mit aller Energie der Selbstkritik dem [gesellschaftlichen; die Verf.] Zustand sich stellen […], und müßten ihn zu verändern suchen. Eben dieser Versuch, gar kein fixiertes Resultat, wäre die Bildung, welche die Kandidaten erwerben sollen […]; daß den zukünftigen Lehrern ein Licht aufgeht in dem, was sie selbst tun, anstatt daß sie darin begriffslos befangen bleiben. Die Handycaps, unter denen, wie ich wohl weiß, viele stehen, sind keine Invarianten. Selbstreflexion und kritische Anstrengung haben darum ihre reale Möglichkeit. Sie wäre das Gegenteil jenes blinden und verbissenen Fleißes, zu dem die Majorität sich einmal entschlossen hat. Er widerspricht der Bildung und der Philosophie, weil er von vorneherein definiert wird von der Aneignung eines bereits Vorgegebenen und Gültigen, in der das Subjekt, der Lernende selbst, sein Urteil, seine Erfahrung, das Substrat von Freiheit abwesend sind.“ (Adorno 1968b: 48)
Doch dieses Urteil gilt nicht nur für Studierende, sondern bezeichnet nach Horkheimer und Adorno einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang: „Die Abschaffung des Bildungsprivilegs durch Ausverkauf leitet die Massen nicht in die Bereiche, die man ihnen ehedem vorenthielt, sondern dient, unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, gerade dem Zerfall der Bildung […].“ (Horkheimer/Adorno 1988 [1944/47]: 169) Die Schwierigkeit aus einer Bourdieu’schen Perspektive liegt bei einem solchen Bildungsverständnis zunächst vor allem darin, dass die Aneignungsweisen von Personen, die nicht aus dem Bildungsbürgertum stammen, verurteilt und abqualifiziert werden. Hierin äußert sich der intellektuelle Rassismus und die symbolische Klassenherrschaft und wird schlagend deutlich, dass diese Fraktion des Bürgertums selbst zur herrschenden Klasse gehört. Alle nicht bildungsbürgerlichen Aneignungsweisen werden als defizitär beschrieben und die Möglichkeiten, Bildung im emphatischen Sinne zu erwerben als deutlich eingeschränkt konzeptualisiert, wodurch sich der zu überwindende Herrschaftszusammenhang immer von neuem reproduziert. Selbstverständlich lassen sich solche Beschreibungen als elitistisch problematisieren – in ihnen lässt sich selbst ein Herrschaftsanspruch nachzeichnen, der in der Abwertung anderer sozialer Praktiken und Bildungszugänge als den eigenen begründet liegt. Doch selbst in den letzten Zitaten von Adorno wird vorrangig auf die Funktion von Bildung hingewiesen. Selbst in diesen
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vergleichsweise bildungselitären Formulierungen geht es darum, dass durch Bildung die Herrschaft des Menschen über den Menschen durchbrochen werden soll. Der bildungsbürgerliche Standesdünkel ist ein Motiv, das in abwertenden Beschreibungen anderer Praktiken aus unserer Perspektive dazu tritt, aber keineswegs die systematischere funktionalistische Argumentationslinie außer Kraft setzt. Selbst wenn man auf die abwertenden Beschreibungen nicht bildungsbürgerlicher Bildungspraktiken verzichtet und solche Formulierungen ihrerseits als selbst herrschaftsstabilisierend begreift, ist die Position noch immer stark, dass Bildung im emphatischen Sinne notwendig ist für die Überwindung einer herrschaftsdurchsetzten Gesellschaft, weil nur durch ihre Vermittlung die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die eigenen Zwangsverhältnisse durchschaut und Handlungsfreiheiten erweitert und im Sinne gesellschaftsverändernder Praxis genutzt werden können. Kritikwürdig bleibt sicher das Verhältnis zwischen dieser funktionalistischen Bestimmung von Bildung und den abwertenden Beschreibungen anderer sozialer Praktiken, aber letztere sind nicht zwingend. Objektivität in den Kulturobjekten? Eine zweite Differenzierung ist in Hinblick auf die oben angesprochene Objektivität von spezifischen hochkulturellen Kulturgütern, die in vielen Formulierungen Adornos anklingen, angezeigt. Hier lässt sich eine objektivistische Betrachtung zunächst noch in der Weise verschärfen, dass Adorno zufolge offensichtlich eine besondere subjektive Dechiffrierfertigkeit notwendig ist – wenn nur unzureichend Gebildete Kunstwerke konsumieren, dann kann ihr objektiver und gesellschaftskritischer Gehalt erst gar nicht erschlossen werden. Insofern existiert hier scheinbar eine prästabilisierte Harmonie zwischen bildungsbürgerlichen und hochkulturellen Gütern und dem Bildungsbürgertum selbst, das hier den einzig richtigen Zugang reklamiert und die Definitionsmacht festhält. Auch hier drückt sich deshalb auf den ersten Blick ein gleichermaßen relationales wie rigides Klassenverhältnis aus: den gesellschaftlichen Aufsteigern, den materiell immer besser gestellten Arbeiter- und Angestelltenmilieus ist mehr oder weniger prinzipiell der Zugang zur Bildung verwehrt, ihnen bleibt immer nur ein schwacher Ersatz echter und emphatischer Bildung. „Die Wahlverwandtschaft von Halbbildung und Kleinbürgertum liegt auf der Hand; mit der Sozialisierung der Halbbildung aber beginnen auch ihre pathischen Züge die ganze Gesellschaft anzustecken, entsprechend der Instauration des auf Touren gebrachten Kleinbürgers zum herrschenden Sozialcharakter.“ (Adorno 1980d: 118) Die Differenz zwischen dem Kleinbürgertum und der bildungsbürgerlichen Bildung ist deshalb eine systematische, weil es Adorno – und auch Bourdieu und Michael Vester (vgl. Vester et al. 2001, Vester 2004) – zufolge dem Kleinbürgertum ganz wesentlich um gesellschaftliche Integration und Anerkennung geht, während das Bildungsbürgertum mit Bildung im strengen Sinn die Individuierung und Besonde-
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rung verbunden hat. Es geht deshalb bei bildungsbürgerlicher Bildung gerade nicht darum, dazu zu gehören und irgendwo angekommen zu sein, sondern um individuelle Sinnsetzungsformen, d.h. gerade um die Differenz zwischen einer übermächtigen und anonymen Gesellschaft einerseits und einem bürgerlichen Ich, das das aushalten kann andererseits. Die Aneignung hochkultureller Güter soll mithin in einem Fall den eigenen biografischen Aufstieg dokumentieren und auf diese Weise die erreichte legitime gesellschaftliche Zugehörigkeit signalisieren,5 im anderen Fall gerade die Nichtidentität von Subjekt und Gesellschaft festhalten und bewahren.6 Darüber hinaus muss die verbreitete Lesart der Kulturtheorie Adornos und Horkheimers, dass in den hochkulturellen Gütern gewissermaßen die objektiven gesellschaftskritischen Gehalte schlummern und darauf warten, von Bildungsbürgern in regelmäßigen Abständen erweckt zu werden, in doppelter Hinsicht relativiert werden und entspricht selbst zum Teil eher antibürgerlichen und antiintellektuellen Ressentiments. Die erste notwendige Relativierung einer kritiklosen Feier bildungsbürgerlicher Praktiken durch die Frankfurter Schule liegt zunächst auf der Seite der Objekte selbst. Denn der Genuss der hochkulturellen Gehalte und Güter waren keineswegs immer das Andere von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. „Wenn Max Frisch bemerkte, daß Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipierten, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten, so ist das nicht nur ein Index fortschreitend gespaltenen Bewußtseins, sondern straft objektiv den Gehalt jener Kulturgüter, Humanität und alles, was ihr innewohnt Lügen, wofern sie nichts sind als Kulturgüter.“ (Adorno 1980d: 94/95) Der Objektivismus ist in der Kulturtheorie der Frankfurter Schule deshalb nicht durchgezogen. Der objektive Gehalt von hochkulturellen Gütern wird damit nicht bestritten, aber selbst als gesell-
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Auch von hier aus führt eine direkte Linie in den Argumentationsgängen der Frankfurter Schule zur These der Kulturindustrie. Die Kulturindustrie verlangt und liefert permanente gesellschaftliche Integration. „Das Existieren im Spätkapitalismus ist ein dauernder Initiationsritus.“ (Horkheimer/Adorno 1988 [1944/47]: 162). Individualität als Gegenfolie kann nur noch in durch die Kulturindustrie selbst vorgefertigten Schemata gedacht werden. Diese starke Unterscheidung wäre sogleich wieder soziologisch zu differenzieren, vor allem weil in Zeiten einer starken Individualisierungsideologie zumindest offiziell Sozialintegration und Ankommen in der Gesellschaft keine selbstverständlichen übergreifenden Ziele von Bildungsaufsteiger_innen sind; aber auch, weil die radikale Selbstbezogenheit des Bildungsbürgertums selbst zum Teil mythologisch ist. Wir lassen aber die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Zwecksetzungen und Integrationsmodi hier als klassenspezifische Trennung von Aneignungsweisen von Bildung zunächst gelten mit dem expliziten Hinweis, dass hier noch größerer Differenzierungs- und Forschungsbedarf besteht.
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schaftlich vermittelter verstanden. Das heißt, dass Adorno und andere der Frankfurter Schule sich zwar trauen, unterscheiden zu können, welche Kulturgüter (z.B. Zwölftonmusik) sich eher für die Ausbildung eines gesellschaftskritischen Bewusstseins und die Entwicklung von Individualität eignen als andere (z.B. deutsche Hitparade der Volksmusik). Und in diesem Festhalten an Unterscheidungsmöglichkeiten ist ein objektives Moment enthalten. Auf der anderen Seite lassen sich hochkulturelle Güter aber nicht von den sozialen Verwendungsweisen loslösen. Wenn in Arbeitslagern permanent Zwölftonmusik gespielt würde, wären die individualisierungskonstitutiven Gehalte mit Sicherheit beschädigt. Die zweite Relativierung Adornos liegt in der Bestimmung des Bildungsbürgertums als einer sozialen Gruppe, die dem gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis keineswegs durch ihren privilegierten Zugriff auf hochkulturelle Güter entzogen ist. Konrad Paul Liessmann zufolge, der die Adorno’sche These der Halbbildung in Zeiten der „Wissensgesellschaft“ als „Theorie der Unbildung“ reformuliert und aktualisiert hat, ist das Bildungsbürgertum ohnehin heute nicht mehr in derselben Weise existent wie in früheren Zeiten der bürgerlichen Gesellschaft. „Das Bildungsbürgertum, das sich […] zeitweilig nicht nur als eigener Stand etablieren, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt eine mehr oder weniger verbindliche Kultur vorgeben konnte, die zum Maßstab erstrebenswerter Bildung geworden war, ist mittlerweile verschwunden.“ (Liessmann 2008: 67) Die Transformation der bildungsbürgerlichen Kulturelite in die offiziellen Bewahrer hochkultureller Praktiken, in Kulturanwälte, muss scheitern (Horkheimer/Adorno 1988 [1944/47]: 128-176). Das haben die Vertreter der Frankfurter Schule deutlich gesehen. Und selbst Adorno, als einer der geschichtlich wirkmächtigsten Bildungsbürger des Zwanzigsten Jahrhunderts hat sich, trotz seiner vielen Hinweise auf den Verfall bildungsbürgerlicher Gehalte, der mehr oder weniger totalen Zurüstung der Subjekte durch die Gesellschaft und der Anklagen an die kulturindustrielle Überformung von Freiheitsvorstellungen, nicht eingebildet, ein gesellschaftliches Außen und einen unproblematischen universellen Standpunkt zu repräsentieren. Ende der fünfziger Jahre weist Adorno im berühmten Aufsatz über die Theorie der Halbbildung auf seine eigene Verstricktheit in die von ihm analysierten gesamtgesellschaftlichen Bewegungsgesetze hin: „Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen.“ (Adorno 1980d: 120) Diese notwendig mitzudenkenden Relativierungen Adornos im Zusammenhang mit den Diagnosen der Halbbildung und auch der Kulturindustrie weisen darauf hin, dass die Vorstellung, Adorno entscheide auf der Grundlage seiner bildungsbürgerlichen Kompetenzen souverän darüber, welche Kulturgüter noch als bildungsbürgerliche Bestandteile gelten dürfen und welche bloß Insignien fortschreitender Halbbildung (bzw. Unbildung) oder kulturindustriellen Verfalls sind, so nicht haltbar ist. Gerade Adorno sieht,
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dass die bildungsbürgerlichen Maßstäbe selbst brüchig geworden sind, dass das Bildungsbürgertum als ehemaliger Subjektgarant7 selbst korrumpiert und dass die bildungsbürgerlichen Praktiken keine eigenständigen Freiheitsversprechen mehr generieren können. Stattdessen begreift Adorno die zeitgemäße Organisation von Bildung und Bildungsinstitutionen, die organisierte Halbbildung, als Bestandteil (spät-)kapitalistischer Vergesellschaftungsbedingungen. Das folgt der Argumentationslinie, dass die Kulturindustrie einen eigenständigen, unter Gesichtpunkten sozialer Herrschaft problematischen Vergesellschaftungsmodus bezeichnet und nicht bloß ein Jammern ehemaliger Definitionsmächtiger über seichte Kulturpraktiken und -güter (Steinert 1998; Steinert 2006: 128-150). Wir würden also insgesamt festhalten wollen, dass das Bildungsverständnis der Frankfurter Schule vor allen eigenen bildungsbürgerlichen Praktiken einem funktionalistischen Zugriff verhaftet ist, der Bildung und die Möglichkeit von radikaler Gesellschaftskritik und der Distanzierung gegenüber bestehender gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen zusammenschweißt. Der intellektuelle Rassismus, zu dem sich insbesondere Adorno immer wieder hat hinreißen lassen, wäre aus unserer Perspektive kein Argument dafür, die herrschaftskritische Analyse von Bildungsprozessen und -institutionen der Frankfurter Schule vollständig zu ignorieren. Im folgenden Abschnitt soll es um die Rekonstruktion der Bourdieu’schen Perspektive auf Bildung gehen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede konturieren zu können.
II. B ILDUNG
ALS H ERRSCHAFTSAUSÜBUNG MIT SYMBOLISCHEN M ITTELN
Bourdieus Verständnis von Bildung ist nicht weniger komplex als das der Frankfurter Schule, setzt aber am ganz anderen Ende an und ist im Effekt geradezu komplementär. Sein Blick auf Bildung ist zuallererst auf den Nachweis gerichtet, dass es eine Umstellung im gesellschaftlichen Reproduktionsmuster sozialer Klassen und Klassenfraktionen vom primär familialen hin zum schulischen Reproduktionsmodus gegeben hat (Bourdieu et al. 1981; sehr präzise hierzu Bauer 2011: 147-159). Der Grund dieser Umstellung liegt vor allem im Wandel des Ökonomischen begründet. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts haben insbesondere John Kenneth Galbraith (1968) und Daniel Bell (1973) diese Ver-
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Auch hier wäre zu differenzieren – das Bildungsbürgertum hatte den Gegenstandsbereich Subjekt doch recht eng festgezogen auf „weiße Männer“; weder waren Frauen noch Minderheiten in der Regel mit adressiert; vgl. hierzu etwa das noch heute höchst informative und spannende Interview zwischen Herbert Marcuse, Silvia Bovenschen und Marianne Schuller (Marcuse/Bovenschen/Schuller 1978).
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schiebung eindringlich und statistisch gut abgesichert beschrieben. Besitz von Produktionsmitteln und Produktivitätserfordernisse treten auseinander, nicht mehr der Eigentümer bestimmt über die Produktentwicklungen, sondern eine große Anzahl von Techniker_innen, Ingenieur_innen und Manager_innen (Bourdieu et al. 1981: 25-38).8 Diese Umstellung hat erstens zur Folge, dass sich die Arbeitsplatzbeschreibungen in Richtung auf eine Akademisierung wandeln (Kraemer/Bittlingmayer 2001). Der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften und Akademikern wird in den Industriebetrieben stetig größer, gleichzeitig liefert die formale Öffnung des Bildungssystems und die Expansion höherer Bildungsinstitutionen die notwendige Masse an entsprechend ausgebildeten Personen. Werden akademisch ausgebildete Personen eingestellt, so bestimmen diese in ihrer Arbeitspraxis die für ihre Arbeitsplätze notwendigen Kompetenzen, Zertifikate und Fähigkeiten und legen damit fest, was zukünftig notwendig ist, um diesen Arbeitsplatz wieder zu besetzen (ausführlicher in Bittlingmayer 2005: Kap. 4 und 5).9 Zweitens verliert im Zuge dieser Wandlungsprozesse im ökonomischen Feld die Familie als Ort der direkten Vererbung von Status und Lebenschancen an Bedeutung. Die direkte Vererbung ökonomischen Kapitals – etwa die Übergabe der Fabrik an den Sohn – weicht einer komplexeren sozialen Reproduktion, die die Übergabe an den Erwerb eines akademischen Titels – etwa ein abgeschlossenes BWL-Studium – bindet (Bourdieu et al.
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Eine weitere Phase der Differenzierung zwischen Produktionsmittelbesitz, der Herstellung von Gütern und der Erzeugung einer Marke, sog. Branding, – etwa Nike, Thomy Hilfinger oder Adidas – ist seit einem Jahrzehnt zu beobachten. Der Konzern Nike besitzt keinen einzigen Produktionsstandort mehr, sondern lagert alles in Subcontracts aus. Die Konzernleitung konzentriert sich auf Marketing, Forschung und Entwicklung, Produktdesign, campaign making etc.; siehe hierzu die sehr starke Studie von Naomi Klein (2005: 205-284). Im Zuge gestiegener akademischer Bildungsabschlussquoten gilt diese Festlegung und der Kampf um die Definitionsmacht notwendiger Kompetenzen aber nicht nur für neue technische Berufe und akademische Arbeitsplätze, sondern auch traditionell hochrangige, aber relativ seltene Berufe können sich dem nicht entziehen. Diesen Mechanismus beschreibt Bourdieu als Kampf privilegierter Klassen gegen Bildungsaufsteiger. „Zum Schutz gegen überzählige Individuen sind die Träger seltener Titel und Inhaber seltener Arbeitsstellen, zu denen diese Zutritt gewähren, nun gehalten, eine Definition der Arbeitsstelle zu verteidigen, die letzten Endes nichts weiter darstellt als die Definition derer, die sie bei einem bestimmten Stand der Seltenheit von Titel und Stelle bekleiden: Indem sie öffentlich proklamieren, daß der Arzt, der Architekt oder der Professor der Zukunft so zu sein habe, wie er jetzt ist, d.h. so wie (und was) sie selbst sind, schreiben sie der Definition der Stelle für immer jene Eigenschaften und Merkmale ein, die ihr nur aufgrund der geringen Zahl ihrer Inhaber zugewiesen werden“. (Bourdieu 1982: 268)
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1981). Selbstverständlich ist die Familie bis heute der zentrale Ort, an dem sich biografische Chancen und Möglichkeitsräume von Beginn an entscheiden (Büchner/Brake 2006; Grundmann et al. 2006; Becker/Lauterbach 2010). Allerdings müssen alle sozialen Akteure, selbst hoch privilegierte, zur Statusreproduktion erfolgreich durch die Bildungsinstitutionen gehen. Dadurch wird eine Struktur erzeugt, die auch dazu führt, dass es nicht allen Personen aus der herrschenden Klasse gelingt, ihren hohen Status zu reproduzieren (Bourdieu 1996). Drittens lässt sich ein Wandel in den Legitimationsmustern gesellschaftlicher Ungleichheiten nachweisen, der über die Umstellung zum schulischen Reproduktionsmodus an die Vorstellung von Chancengleichheit gebunden ist. Indem die Schule auf die objektive Benotung individueller Leistungen durch staatlich ausgebildete Lehrkräfte abhebt, wird der Erfolg in den Bildungsinstitutionen unmittelbar personalisiert – gerade die Erbringung standardisierter Leistungen fungiert hier durch die Zurechnungspraxis als Individualisierungsmaschine (Foucault 2012). Genau hier setzt die Analyse Bourdieus und seiner Mitarbeiter_innen Jean-Claude Passeron, Luc Boltanski, Monique de Saint Martin und Pascale Maldidier-Pargamin bereits in den sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts an.10 Der prinzipielle Zugang der Bourdieu’schen Analyse des Bildungssystems ist ein strukturfunktionalistischer (Bourdieu et al. 1981). Es geht Bourdieu darum, zu zeigen, dass die Versprechen, die mit der Öffnung des Bildungssystems und mit der Umstellung auf den schulischen Reproduktionsmodus einhergehen, ideologisch sind: „Das Bildungswesen hat die geheime Funktion, die Gesellschaftsordnung zugleich zu perpetuieren und zu legitimieren, es perpetuiert sie um so wirksamer gerade dadurch, daß seine konservative Funktion unter einem ideologischen Selbstverständnis verborgen ist.“ (Bourdieu/Passeron 1971: 16). Bourdieu liefert eine gegenüber den Analysen des Bildungssystems insbesondere Adornos stärker soziologisch-ethnologisch-empirisch ausgerichtete Perspektive. Bourdieu sagt deutlicher als Adorno, dass das Bildungssystem nicht das potenziell Andere gesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen ist, sondern ihr unmittelbarer Ausdruck. Beide Analysen sind radikal institutionenkritisch, nur greift Bourdieu von einer anderen Seite an. Die Bildungs-
10 Die Neigung, Bourdieu als einen einsamen Wissenschaftstank zu beschreiben, der sich gegen alle Konventionen des Akademikertums stemmt, unterschätzt hoffnungslos, wie stark Bourdieu von produktiven Köpfen umgeben war. Sein beeindruckender Erfolg ist nicht allein auf Bourdieus Person, sondern ebenso auf seine engsten Mitstreiter zurückzuführen. Besonders augenfällig wird dies in dem Großprojekt „Das Elend der Welt“ (vgl. Bourdieu et al. 1997). Deshalb ist eine Kontrastierung der Frankfurter Schule mit Pierre Bourdieu mindestens unscharf. Vgl. zu den frühen engen Arbeitskooperationen von Bourdieu etwa mit Abdelmalek Sayad Schultheis 2007: 42f. sowie das lange Interview von Franz Schultheis mit Bourdieu in Bourdieu 2003.
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institutionen, auch die besten, sind ihm gerade der Garant für die Unhinterfragbarkeit gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, indem Schüler_innen in gesellschaftliche Hierarchien hineinsozialisiert werden, die auf den ersten Blick nur von ihren eigenen Leistungen abhängig sind. Diese radikal institutionenkritische Perspektive zielt nicht primär darauf ab, dass die Resultate der Bildungsanstalten in Hinblick auf die Erzeugung von subjektiver Kritikfähigkeit suboptimal sind, dass sie, weil sie nicht gut genug gemacht sind, zur Perpetuierung schlechter und ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen (vgl. etwa Liessmann 2008), sondern dass sie genau dafür da sind (vgl. zu den moralischen Implikationen des Bourdieu’schen Ansatzes die starke Studie von Lempert 2011). Eine grundlegende Änderung der Bildungsinstitutionen in eine Richtung, die die tatsächliche Emanzipation von Individuen gewährt, würde bereits eine andere Gesellschaft voraussetzen. Mit dieser radikal institutionenkritischen Perspektive sind Bourdieu und seinen Mitarbeiter_innen gerade in den sechziger und siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht allein. Sie ist auch Ausdruck eines Zeitgeistes, der alle bürgerlichen Institutionen unter den Generalverdacht stellt, zur Herrschaftserzeugung und deren Legitimation beizutragen. Hierzu gehören die Studien von Foucault zu den dunklen bürgerlichen Institutionen (1973, 1976) ebenso wie das in den siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts breit diskutierte Buch „Entschulung der Gesellschaft“ von Ivan Illich (1977) oder schließlich die Analysen des Bildungssystems als Stabilisierungsinstanz kapitalistischer Vergesellschaftung von Samuel Bowles und Herbert Gintis (1978). Das besondere an Bourdieus Perspektive besteht gegenüber allen anderen radikalen Ansätzen allerdings darin, dass er seine Institutionenkritik mit einer systematischen Sozialstrukturanalyse verbindet. In der synthetischen Studie „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) werden die Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Folgen für die sozialen Positionierungen von Klassen und Klassenfraktionen konsequent in ein relationales Sozialraummodell eingetragen, das die durch die Bildungsinstitutionen geschaffenen sozialen Demarkationslinien widerspiegelt. Die Schule übernimmt Bourdieu zufolge die Funktion der Kirche aus dem Mittelalter als Garant für die Erzeugung legitimer sozialer Differenzierungen und tritt – mehr oder weniger gleichberechtigt – strukturell an die Seite des ökonomischen Kapitals. Die Folge: „(N)ot one but two species of capital now give access to positions of power, define the structure of social space, and govern the life chances and trajectories of groups and individuals: economic and cultural capital.“ (Wacquant 1996: X) Es ist diese systematische Verbindung zwischen der Analyse der ideologischen Funktionen des Bildungssystems und der Konstruktion des sozialen Raums, die Bourdieus Perspektive auf Bildung so leistungsstark macht (vgl. auch Vester 2004, 2006 und Bremer 2007). Die Analyse der systematischen Beziehung zwischen einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung und bildungs- bzw. schulund hochschulbasierten Grenzziehungen, die keineswegs in der „Natur von
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Gesellschaften“ liegen, sondern selbst Bestandteil kontinuierlicher Kämpfe um soziale Platzierungen sind, liefert Bourdieu zuletzt in der Studie zum Staatsadel: „No one can deny that the school plays a crucial role in the distribution of knowledge and know-how […], but it is equally clear that it also contributes, and increasingly so, to the distribution of power and privilege and to the legitimation of this distribution. It is currently the school that has the responsibility for performing the magical action of consecration (often entrusted to religious authorities in other domains) that consists in effecting a series of more or less arbitrary breaks in the social continuum and in legitimating these breaks through symbolic acts that sanction and ratify them […]. It is largely through the crucial role it plays in individual and collective transactions between employers […] and employees […] that the educational system directly contributes to the reproduction of social classification.“ (Bourdieu 1996: 116, 121)
Die Schule wird aus dieser Perspektive nicht nur zu einer Instanz ungleicher (schlechter oder guter) Bildungsvermittlung, die die sozialen Hierarchien, die der Schule vorgängig sind, reproduziert, sondern die Schule produziert in strengem Sinne die sozialen Klassifikationen, die der Konstruktion des sozialen Raums zu Grunde liegen, mit (vgl. hierzu auch Bittlingmayer/ Grundmann 2006). Um diesen Gedanken kurz zu plausibilisieren: In Deutschland existiert die soziale Kategorie der Förderschüler_innen, die mit schweren Stigmatisierungen und erheblichen Einschränkungen beim Zugang auf Ausbildungsund Arbeitsmärkten einher gehen, in erster Linie deshalb, weil es Förderschulen als räumlich segmentierte, das deutsche Schulsystem unterschichtende Institution gibt. Förderschulen (früher Schwachsinnigenschulen, dann Sonderschulen) selbst sind Ausdruck einer erfolgreichen Durchsetzung der Professionsinteressen der Heilpädagogik, der es in Deutschland (aber nicht in Skandinavien oder Italien) gelungen ist, berufsständische Interessen als professionelles Hilfsangebot zur Entlastung regelschulischer Institutionen zu monopolisieren (vgl. hierzu Wocken 2007; Bittlingmayer et al. 2011; Pfahl 2011; van Essen 2012; Bauer/Bittlingmayer 2012). Die soziale Gruppe der Förderschüler_innen wird auf diese Weise als eine Problemgruppe im sozialen Raum erzeugt, an die sich eine ganze Reihe von sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Dienstleistungen anlagern kann. Diese Bourdieu’schen Analysen der Bildungsinstitutionen sind ungleich soziologischer ausgerichtet als die der frühen Frankfurter Schule11 und liefern hier ganz an-
11 Auch wenn man hier wieder sofort relativieren und auf die soziologischen Studien des späteren Direktors des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Ludwig von Friedeburg hinweisen muss, der die Hessische Bildungsreform maßgeblich mit initiiert und begleitet und Hessen über Jahrzehnte eines der progressivsten Bildungssysteme beschert hat. Insbesondere ist hier von Friedeburgs Kampf gegen das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland zu erwähnen und gegen
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dere Einsichten in den Zusammenhang von Bildung und Herrschaft. Diese konsequent soziologische Perspektive führt Bourdieu auch dazu, die Beherrscher der Bildung, die Intellektuellen, die von den durch die Schule und Hochschule erzeugten gesellschaftlichen Spaltungslinien unmittelbar profitieren, im sozialen Raum zu verorten und ihnen eine besondere Rolle bei der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Herrschaft zuzuschreiben. In Hinblick auf die ideologischen Funktionen von Bildung als besonders nachhaltige und schwer durchschaubare Legitimationsinstanz von Klassenherrschaft lässt sich also noch ein weiteres Motiv benennen, das gerade im Rahmen eines Vergleichs mit der Frankfurter Schule von besonderer Bedeutung ist: Bourdieus Analyse der Intellektuellen. Die Intellektuellen als beherrschte Herrschende Bourdieus Analyse der Intellektuellen als Repräsentant_innen von legitimer Bildung und einer bestimmten gesellschaftlichen Position im sozialen Raum ist mehrdimensional angelegt (vgl. hierzu auch Peter 2007; Pinto 2007 sowie die Beiträge von Pinto und Mauger im Band). Bourdieu hat hier nicht nur empirische und theoretische Analysen des akademischen Feldes vorgelegt, sondern auch intellektuelle Sprecherpositionen analysiert und die Interaktionen von Intellektuellen und Nicht-Intellektuellen unter der Perspektive der symbolischen Machtausübung untersucht (vgl. Bourdieu 1982, 1988, 1989, 1990, 1991, 1993, 1996). Eines der zentralen Argumente von Bourdieu gegen eine spezifische Praxis von Intellektuellen lautet, dass sie die Institutionen verteidigen, deren Produkt sie sind und deren sie ihre gesellschaftliche Stellung verdanken. Allein deshalb wird ausgerechnet von den Intellektuellen, deren Selbstbeschreibung die Aufdeckung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zur fundamentalen Aufgabe erhebt, die Willkürlichkeit in den Grenzziehungen zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Distinktionsressourcen und aus Sicht hochkultureller Maßstäbe illegitimen Praktiken, Hobbies und Verhaltensweisen nicht in Frage gestellt. Bourdieus ethnologischer Zugang liefert ihm hier zunächst eine radikale Perspektive. Er betont an vielen Stellen, dass Intellektuelle in der Regel als Anwälte universaler Prinzipien – wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Freiheit usw. – auftreten und diese universalen Prinzipien gleichermaßen als Berechtigung für ihr eigenes öffentliches Engagement fungieren. Bourdieus Kritik setzt dabei an drei Stellen an – erstens wirft er den Intellektuellen vor, ihre eigenen Interessen, also zum Beispiel das Streben nach Reputation, Prestige und Anerkennung im eigenen Handlungsfeld oder an der Schnittstelle zum politischen Feld zu verschleiern: „die Intellektuellen sind Profis in
das Fach Deutsch als Hochsprache, weil hier direkte Überschneidungen mit einer Bourdieu’schen Perspektive vorliegen. Vgl. resümierend von Friedeburg 1989. Ferner die wichtige und diskursbestimmende Untersuchung aus dem Bereich der Hochschulforschung „Student und Politik“ (Habermas et al. 1961).
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der Kunst des Maskierens, des Verschleierns.“ (Pachnicke/Bourdieu 1991: 15) Hierzu gehört auch, dass sie über etwas sprechen, von dem sie wenig Kenntnisse haben oder aber, dass sie sich unterschiedlichen sozialen Gruppierungen andienen, etwa der politischen Kaste, einer Partei oder „der Arbeiterklasse“. Der schwerwiegendere Vorwurf ist aber, dass gerade das Eintreten für das Universelle ein Akt partikularer Interessen sein kann und häufig ist. Zweitens kritisiert Bourdieu, dass Intellektuelle ihre eigene gesellschaftliche Funktion und strukturelle Position ungenügend reflektieren. Die Vorstellung eines idealen Intellektuellen wie Sartre, einen Sprecherort außerhalb der Gesellschaft beziehen und von dort aus objektiv und universal über alle gesellschaftlichen Fragen urteilen zu können, blendet aus, dass auch der unabhängigste und ressourcenstärkste Intellektuelle in soziale Kämpfe eingebunden bleibt (Bourdieu 1992: 41-43). Bourdieu beschreibt nicht zuletzt die mit einem Objektivitätsanspruch ausgestatteten Universitäten (Freiheit in Forschung und Lehre!) als einen Ort permanenter Konkurrenzkämpfe, die für Hochschulmitglieder nicht hintergehbar sind. Das „universitäre Feld – wie jedes andere auch – [ist] Stätte der Auseinandersetzung und des Kampfes […], in dem es um die Bestimmung der Voraussetzungen und Kriterien der legitimen Zugehörigkeit und Hierarchie geht“. (Bourdieu 1988: 45) Die Konstruktion einer gesellschaftlichen Ortlosigkeit, eines Nicht-Ortes (Wiechens 1997), zur Legitimation intellektueller Kritik ist nach Bourdieu also eine Ideologie. Sowohl die Verstricktheit von Intellektuellen, Künstler_innen, Literat_innen usw. in ihre feldspezifischen Kämpfe, als auch ihre Position im sozialen Raum sind zu beachten, wenn diese Gruppen ihre selbsternannte Aufgabe der Verteidigung des Universellen vernünftig erfüllen wollen. „Auch der Intellektuelle hat seinen Ort im sozialen Gefüge und ist tatsächlich nur in dem Maße frei, wie er sich seiner sozialen Stellung bewußt ist. […] Nur wenn du, Intellektueller, dir bewußt bist, daß du da stehst, bist du ein bißchen frei. Sobald du aber meinst, nirgendwo zu stehen, hast du deine Freiheit schon verloren, bist du entfremdet, und deine besondere Entfremdung beruht dann in dem Glauben, nirgendwo zu stehen.“ (Bourdieu 1992: 41/42) Es ist kaum zu bezweifeln, dass Bourdieu den Frankfurtern Horkheimer, Adorno und vermutlich am stärksten in seiner Rolle als Wortführer der 68er-Bewegung Herbert Marcuse den Vorwurf des schlechten Universalismus machen würde. Drittens schließlich kritisiert Bourdieu nicht zuletzt die hochkulturell angelegten Lebensstile der Intellektuellen und die intellektuelle Verurteilung des Populären im Allgemeinen und des populären Lebensstils im Besonderen. Zunächst ist Bourdieu zufolge diese in der Regel scharfe Verurteilung des bloß Materiellen, des Schlichten, Einfachen selbst Folge der spezifischen Funktion und Stellung der Intellektuellen im sozialen Raum, einer Gruppe der beherrschten Herrschenden. Das Fundament ihrer Macht besteht nicht zuletzt in der souveränen Beherrschung der hochkulturellen Güter, in der Möglichkeit der Ästhetisierung des eigenen Lebens. Dadurch behaupten sich Intellektuelle nicht nur gegen die ressourcenstärkeren Fraktionen aus
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den mittleren und rechten Bereichen des oberen Teils des sozialen Raums, sondern grenzen sich auch gegen die Lebensstile der kleinbürgerlichen Fraktionen und der Arbeiter- bzw. Volksklasse ab. Vor allem in der Distinktion der mit viel kulturellem Kapital ausgestatteten Gruppen nach unten steckt ein Herrschaftsmoment, über das in intellektuellen Diskursen selten Rechenschaft abgelegt wird. „[D]as, was Kultur oder Bildung heißt, d.h. legitime Kultur […] [fehlt] den unteren Klassen komplett – und das nicht ohne Grund: denn diese Kultur und Bildung ist im allgemeinen gegen sie gerichtet. […] Per definitionem sind die unteren Klassen nicht distinguiert. Sobald sie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus. […] Damit ist keineswegs behauptet, daß die unteren Klassen nichts hätten. Sie haben etwas und sie sind etwas, sie haben ihren Geschmack und ihre Vorlieben – nur läßt sich das häufig nicht zum Ausdruck bringen, und wenn doch einmal, dann wird es sofort objektiv entwertet.“ (Bourdieu 1992: 39/40)
Diese Passage, die sich bei Bourdieu nur auf die Volksklasse bezieht, aber mühelos auf das Kleinbürgertum übertragbar ist, ist komplementär zu der Adorno’schen Behauptung, dass die Bildungsaufsteiger aus Kleinbürgertum und Arbeiter- bzw. Volksklasse, die später gekommenen – von den nicht aufgestiegenen ganz zu schweigen – den souveränen Umgang mit hochkulturellen Gütern nicht durch Fleiß erreichen können. In Abwandlung des berühmten Märchens vom Wettrennen zwischen dem Hasen und dem Igel könnte man sagen: Der Igel ist immer schon woanders. Die Intellektuellen selbst ziehen und erneuern permanent die Grenzlinien und regeln den Zugang zu den legitimen Kulturgütern und Praktiken und wirken auf diese Weise ausgrenzend und herrschaftsstabilisierend. Wegen dieser Verstrickung der Intellektuellen in die Ausübung eigener Herrschaft – vor allem symbolischer Herrschaft und Gewalt (vgl. hierzu den instruktiven Band von Schmidt/Woltersdorff 2008) – müssen sie „ihre eigene Situation und Existenzweise viel stärker analysieren. Gebraucht wird eine Soziologie der Intelligenz – eine realistische, also pessimistische Soziologie.“ (Pachnicke/ Bourdieu 1991: 19) In diesem Plädoyer für eine Notwendigkeit einer Soziologie der Intelligenz und den vorangegangenen Statements von Bourdieu zur notwendigen Reflexion der Intellektuellen auf die eigene Verortung im sozialen Raum und im intellektuellen Feld klingt bereits an, dass Bourdieu keineswegs eine einfache Verdammung der intellektuellen Gesellschaftskritik im Sinn hat, sondern in diese in der Regel ausgeblendete Dimension von sozialer Herrschaft durch Bildung hindurch die Herrschaftskritik selbst hineintragen will. Damit nähert sich Bourdieu dann wieder zumindest der funktionalistischen Programmatik der Frankfurter Schule an, durch Bildung die willkürlichen sozialen Herrschaftszusammenhänge transparent werden zu lassen und dadurch Handlungsspielräume überhaupt erst zu eröffnen.
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III. E RWARTBARE UND K ONVERGENZEN
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UNERWARTETE
Wir hatten in der Einleitung angekündigt, dass wir der Auffassung sind, dass die Positionen von Bourdieu und der Frankfurter Schule weniger weit auseinander liegen, als in der Regel angenommen (vgl. bereits Bauer/ Bittlingmayer 2000 und den Beitrag von Steinrücke im Band). Die bisherigen Ausführungen sollten bereits einige Motive einer komplementären Lesart mit gleichgerichteter Zielsetzung – Herrschaftskritik (vgl. z.B. Steinrücke 2007 und Demiroviü 2008) – der beiden Positionen verständlich gemacht haben. In diesem letzten Abschnitt soll es darum gehen, in aller Kürze von Bourdieus starker Position einer Herrschaftskritik der Intellektuellen, die am weitesten von der Frankfurter Schule entfernt scheint und sicher auch bestimmte Statements und Praktiken der Frankfurter Schule trifft (auch wenn sie primär gegen das intellektuelle Paris, insbesondere gegen Sartre, Levy Strauss und Althusser gerichtet war) eine Wiederannäherung an die Thesen und Themen von Adorno, Horkheimer und Marcuse zu suchen. Zunächst einmal lässt sich die Bildungstheorie der Frankfurter ebenfalls als Aufforderung an die eigene Zunft lesen, mit dem bildungsbürgerlichen Erbe nicht unkritisch zu verfahren (Adorno 1980d). Marcuse strich in einem Aufsatz aus den dreißiger Jahren heraus, dass die gesellschaftskritischen Momente der bürgerlichen Kultur und des Idealismus aufgebraucht sind und der Frieden mit der bestehenden Gesellschaft längst vollzogen wurde – insofern ist die Bezugnahme normativer Bildungskonzepte auf das Bildungsbürgertum und seine Inhalte und Praktiken im Kontext von Herrschaftskritik sehr früh problematisiert worden (Marcuse 1937). Noch weiter geht Max Horkheimer, wenn er in einem Vortrag vor Studierenden die „Operationalisierung“ von bildungsbürgerlicher Bildung als eitle Selbstentfaltung und weltabgewandte Persönlichkeitsentwicklung scharf kritisiert (Horkheimer 1985/1952). Horkheimer geht sogar davon aus, dass „eine der geistigen Ursachen der Bildungskrise gerade im Festhalten des aufs vereinzelte Ich bezogenen Bildungsbegriffs gelegen ist, in der Vergötzung des sich selbst genügenden Ichs […]. Indem unter dem Titel der Bildung der gestaltende Wille, und das heißt die Liebe, von der Realität auf das seiner eigenen Formung lebende Individuum sich zurückwandte, kündigte die Barbarisierung der Menschheit bereits im neunzehnten Jahrhundert sich an.“ (Ebd.: 414/415) Auch in der Analyse der Arbeiterklasse – so weit sie auch soziologisch etwa in der jeweiligen Klassentheorie auseinander liegen – gibt es eine zentrale Überschneidung beider Denkrichtungen. Sowohl Bourdieu als auch die Frankfurter Schule wehren sich vehement gegen einfache Projektionen, in denen die Arbeiterklasse als das Authentischere, Bessere oder als historisches Subjekt gefeiert wird und klagen nachhaltig Intellektuelle an, die sich in den Dienst einer kommunistischen Partei oder Arbeiterpartei stellen (vgl. u.a. Bourdieu 1993a; Peter 2007; vgl. aber auch Fromm 2001/1928; Hork-
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heimer 1936, umfassend hierzu Demiroviü 1999; eine aktualisierte gesellschaftskritische Programmatik liefert Demiroviü 2008). Bourdieus Programm einer Kritik der Intellektuellen ist kein antiintellektualistisches Unternehmen (Bourdieu 1993b: 66ff.). Es zielt vielmehr darauf ab, auch die Intellektuellen als eine durch und durch sozial bedingte und gesellschaftlich vermittelte Erscheinung transparent zu machen. Damit reiht sich Bourdieu unmittelbar in die Reihe der radikalisierten Aufklärer_innen ein, die das Programm der Aufklärung besonders ernst nehmen, indem er diejenigen, die aufklärerische Positionen öffentlich vertreten, über sich selbst aufklären möchte. Das kann nur gelingen, wenn ein Modus der Reflexivität eingenommen wird, der auch und permanent die eigenen intellektuellen Statements und Positionen auf die eigene gesellschaftliche Verstricktheit abklopft, ohne den in Anspruch genommenen Wahrheitsgehalt der eigenen Aussagen aufzugeben. „Das Privileg des Soziologen – wenn es denn eines ist – besteht nicht darin, weit über den von ihm Klassifizierten zu stehen, sondern sich selbst als Klassifizierter bewußt zu sein und zu wissen, wo er in etwa im Rahmen dieser Klassifizierungen steht. […] Tatsächlich bemühe ich mich zu zeigen, daß das, was als Soziales bezeichnet wird, von Grund auf Geschichte ist. […] Mit meiner ganzen Energie versuche ich, die Geschichte dort auszumachen, wo sie sich am besten versteckt: im Gehirn der Menschen und in deren Leib. Das Unbewußte ist Geschichte. Das gilt zum Beispiel für die Denk- und Wahrnehmungskategorien, die wir spontan auf die soziale Welt anwenden.“ (Bourdieu 1993b: 71, 73)12
Diese Perspektive ist nahezu identisch mit der Forderung einer radikalen Reflexion auf die eigenen wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten, der wissenschaftlichen Praxis im Kontext einer in der Regel unhinterfragten gesellschaftlichen Arbeitsteilung und schließlich der verwendeten Begriffe wie sie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule durchgängig verlangt werden, und zwar gerade als Reaktion auf die Abstumpfung aufklärerischer Waffen. Gleichzeitig hielten Adorno und Horkheimer gerade in der Nachkriegszeit an der Funktion des Intellektuellen als Gesellschaftskritiker_in fest: „Gegen alle Angriffe verteidigten und propagierten sie [Horkheimer und Adorno; d.V.] die Rolle des Intellektuellen als eines Kritikers der Gesellschaft gegenüber dem bloßen Spezialisten und Fachmann; gleichzeitig kritisierten sie die Funktion des Intellektuellen, die von ihm verkörperte und organisierte Trennung der geistigen von der körperlichen Arbeit, und vertraten das emanzipatorische Ziel einer vernünftigen
12 Ohne diesen Punkt hier vertiefen zu können, wäre ein Vergleich der frühen geschichtsphilosophischen Programmatik aus Adornos „Die Idee der Naturgeschichte“ zu Bourdieus sozio-historischer Position reizvoll und würde sicherlich umfassendere Analogien zu Tage fördern; vgl. Adorno 2003/1932.
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Reorganisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der alle das Glück der Wahrheit genießen können sollten. Die Position, von der aus sie ihre Gesellschaftstheorie formulierten, war von dem systematisch gewollten Widerspruch der Verteidigung und der Kritik des Intellektuellen bestimmt.“ (Demiroviü 1999: 29/30)
Hieraus ergibt sich als normativer Horizont, dass alle Menschen über die Bedingungen verfügen sollten, sich der Gesellschaft gegenüber kritisch zu verhalten – wenn man so will, eine Universalisierung der Bedingungen für die Herausbildung intellektueller Kompetenzen (wir werden weiter unten auf diesen Punkt aus der Bourdieu’schen Perspektive zurückkommen). Die Positionen Bourdieus und der Frankfurter Schule, so unterschiedlich sie in ihren einzelnen Formulierungen, in den analysierten Gegenstandsbereichen und den verwendeten Begriffen und Instrumenten auch sein mögen, laufen darauf hinaus, dass gerade von den Intellektuellen, Aufklärer_innen und Wissenschaftler_innen Höchstleistungen in Permanenz verlangt wird, wollen diese ihrem Selbstanspruch, (radikale) Gesellschaftskritik zu betreiben, tatsächlich gerecht werden. In diesem Sinne formuliert Heinz Steinert kongenial zu vielen Äußerungen Bourdieus: „Kritische Theorie kritisiert […] in erster Linie die Intellektuellen. Sie werden als angepasst und als Verkäufer wie Verwalter in den Dienst von Herrschaft übergelaufen vorgeführt. ‚Kulturindustrie‘, die Herrschaftsform, die im Fordismus zur Blüte und Auffälligkeit kam, wirkt durchdringend und subtil, müsste aber zumindest von den Intellektuellen nicht mit Unterwerfung hingenommen werden. Sie sind im Grundsatz zu Reflexivität und ‚Nonkonformismus‘ imstande. Wenn Kritische Theorie Anforderungen stellt, dann an die Intellektuellen: Sie könnten genauer, rücksichtsloser gegen sich selbst, weniger schlampig sein. Sie müssen das allerdings ganz allein tun und ohne sich auf Herrschaft oder Gegenmacht stützen zu können, in hart erarbeiteter Analyse von Herrschaft, wo und in welcher Form immer sie auftritt. Sie können reflexiv denken und diese Reflexivität auch auf die Errungenschaft der Aufklärung anwenden.“ (Steinert 2008: 20)
Auch wenn es nicht darum gehen kann, die Positionen der Frankfurter Schule und Bourdieus so weit abzuschleifen, dass sie identisch und nicht mehr unterscheidbar werden, so muss man doch konstatieren, dass selbst im Rahmen der Bourdieu’schen Soziologie bzw. Kritik der Intellektuellen wichtige programmatische Übereinstimmungen bestehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich noch ein weiteres, bedeutsames Motiv der Analyse intellektueller Praktiken und Lebensstile diskutieren, in dem größere Nähe besteht, als von den Verfechtern der jeweiligen Theorietraditionen gemeinhin angenommen. Gemeint ist Bourdieus Analyse der Intellektuellen als eine beherrschte Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse, als eine selbstständige Fraktion der herrschenden Klasse also, die selbst Herrschaft ausübt. Die Ausübung intellektueller Herrschaft verläuft gerade über die Bildungstitel und Bildungspraktiken der Intellektuellen als Inhaber,
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Verwalter und Verfechter des kulturellen Kapitals. Bourdieus zentrale Kritik an den Intellektuellen lautet hier, dass ausgerechnet die Intellektuellen die Bildungsinstitutionen und ihre willkürlichen Einschnitte und Demarkationslinien im sozialen Raum verteidigen oder ihnen zumindest unkritisch gegenüber stehen, weil sie selbst von diesen Grenzsetzungen profitieren. Die Herrschaft der Intellektuellen bzw. der Inhaber hohen kulturellen Kapitals verläuft vorrangig von oben nach unten: Während innerhalb der herrschenden Klasse das kulturelle Kapital in einen permanenten Kampf darum verstrickt ist, gegenüber dem ökonomischen Kapital relativ autonom zu bleiben (mit immer schlechteren Karten und immer neuen Landnahmen der Ökonomie; vgl. u.v.a. Keller/Schöller 2002; Rößler 2006; Krautz 2007; Liessmann 2008) und gegen die offensive ökonomistische Logik eine eigene Ökonomie kulturellen und symbolischen Tauschs festzuschreiben (hierzu umfassend Pinto/Schultheis 1997 und Bourdieu 1999), wird gegenüber sozialen Akteuren mit mittlerem oder geringem kulturellem Kapital insbesondere eine Form symbolischer Herrschaft ausgeübt, die sehr subtil funktioniert. Sie verläuft nicht entlang der Quantität von Wissensformen oder Fachkompetenzen, weil das gar nicht quantifizierbar ist – wie soll man das Quantum Wissen einer Friseurin mit dem eines Softwareentwicklers oder eines Schriftstellers oder das Quantum eines Autodidakten mit einem Titelinhaber vergleichen (vgl. hierzu auch Bittlingmayer 2006). Die symbolische Herrschaft verläuft vielmehr über Formen der legitimen kulturellen Praktiken, über Zugehörigkeiten und über Reputation. Sie ist vor allem sprachlich vermittelt und grenzt gegenüber der legitimen, von Intellektuellen selbst benutzten Sprache differente Sprechweisen, Dialekte, Akzente als minderwertig, weniger reflektiert etc. ab – das oben aufgeführte lange Zitat Adornos ist hier eine gute Illustration (zur Kritik an diesem Muster vgl. die sozio-linguistischen Studien von Labov 1980 und Trudgill 2000; vgl. auch den modernen Klassiker von Gogolin 2008/1994). Sowohl die Sprachverwendung als auch die Präferenzen und kulturellen Praktiken der Intellektuellen werden nach Bourdieu als spezifischer Ausdruck ihrer Stellung im sozialen Raum dechiffriert. Intellektuelle beherrschen die Welt der kulturellen Sphäre und entscheiden darüber, was als legitime, wertvolle, aufklärerische kulturelle Praktik gelten kann – z.B. ein Konzert von Bach hören oder einen öffentlichen Vortrag über den Islam besuchen – und was nicht – zum Beispiel im Privatfernsehen zu Unterhaltungszwecken eine Hass-Talkshow schauen. Durch diese Entscheidungen produzieren Intellektuelle herrschaftsbezogene Praktiken der Distinktion, d.h. der Umformung kultureller Unterschiede und Differenzen in der Lebensführung in sozial wertvollere und sozial weniger wertvolle, also hierarchisch sortierte Lebensstile und Praktiken (vgl. hierzu mit Blick auf die Institution Schule auch Grundmann et al. 2004). In Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“ finden sich nun in Hinblick auf die Distinktionspraktiken der Intellektuellen als beherrschte Herr-
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schende zwei mögliche Argumentationslinien.13 Die Argumentationslinien unterscheiden sich im Grad der angenommenen Radikalität sozialer Konstruktionen im Zusammenhang mit Distinktionspraktiken. Die Frage ist, inwieweit Intellektuelle bzw. Inhaber_innen hohen kulturellen Kapitals als souveräne Beherrscher_innen der kulturellen Sphäre entlang beliebiger sozialer Praktiken (vom Schlammcatchen bis zum Opernbesuch) Distinktionslinien konstruieren können, mit denen dann diejenigen sozialen Akteure, die mit weniger kulturellem Kapital ausgestattet sind, symbolisch beherrscht und ausgegrenzt werden. Eine stark sozialkonstruktivistische Lesart Bourdieus würde genau das postulieren, vielleicht mit der wichtigen Einschränkung, dass dem intellektuellen Klassenhabitus auf der Grundlage seiner inkorporierten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster spezifische soziale Praktiken von vorne herein nicht in den Blick kommen. Aber das Material, das den Intellektuellen gegenüber anderen sozialen Gruppen als Distinktions- und Abgrenzungspraktik dient, ist nicht festgelegt und schon gar nicht auf bildungsbürgerliche Inhalte eingeschränkt, sondern mehr oder weniger unwichtig. Wenn das so wäre, dann wäre die symbolische Herrschaft der Intellektuellen eine ähnlich universelle wie die der Ökonomie, gewissermaßen ein Strukturgesetz, das ähnlich über die Köpfe bzw. hinter dem Rücken der sozialen Akteure wirkmächtig ist wie das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation in kapitalistischen Gesellschaftsregimen (ähnlich argumentiert etwa Schwingel 1993). Die Distinktionslinien zwischen Intellektuellen und den sozialen Akteure im mittleren oder unteren Raum wären konstitutiv für Gegenwartsgesellschaften, weil sie etwa durch die Bildungsinstitutionen selbst vorgegeben sind. Ein Promovierter weiß es immer schon besser als ein Nichtpromovierter. In gewisser Hinsicht ist das die soziologische Erklärung für Adornos selbst bildungsbürgerlich durchtränkte Vermutung, dass Bildung in strengem Sinne nicht erworben werden kann – man hat sie durch Sozialisation ohne Anstrengung verfügbar oder eben nicht. Tertium non datur! Diese Perspektive ist sicher in radikaler Weise aufklärerisch und kritisch, weil sie auf eine Herrschaftsform hinweist, die sich selbst als herrschaftskritisch beschreibt, in ihrem Vollzug aber genau diejenigen gesellschaftlichen Spaltungen bestätigt, die die Intellektuellen offiziell überwinden wollen. Allerdings lässt sich von diesem abstrakten Strukturgesetz aus nur sehr schwer zu einer emanzipatorischen Perspektive und Praxis zurück
13 Wir möchten hier keinesfalls die Position vertreten, dass eine davon richtig und die andere falsch ist. Das ist aus unserer Perspektive selbst ein akademisches Spiel. Es geht uns eher darum, Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Frankfurtern und Bourdieu zu systematisieren und genau mit dieser Zielrichtung gibt es unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Lesarten. Aber es lassen sich für beide Lesarten genügend Zitate im Bourdieu’schen Werk finden, was darauf schließen lässt, dass Bourdieu selbst an dieser Stelle eher unentschieden ist.
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finden. Vermutlich hatte Bourdieu diese Zusammenhänge im Blick als er in einem Interview über die Rolle und Funktion von Intellektuellen Folgendes formulierte: „Ich lasse mich von einem soziologisch fundierten Utopismus leiten, der die Minimalforderung als Utopie setzt. Ich ziehe es vor, enttäuschend zu sein, als irreführend und betrügerisch.“ (Pachnicke/Bourdieu 1991: 31). Allerdings ist diese Lesart der Studie „Die feinen Unterschiede“ nicht zwingend und es gibt zumindest eine komplementäre, die nicht weniger herrschaftskritisch, aber vielleicht direkter mit emanzipatorischen Perspektiven verknüpfbar ist. In dieser zweiten Lesart wäre das „Distinktionsmaterial“ nicht so beliebig, sondern würde sich zumindest zum großen Teil aus den Beständen der bildungsbürgerlichen Praktiken speisen. Intellektuelle haben keine angeborene Begabung, etwa expressionistische Werke zu decodieren oder darüber zu streiten, ob Becketts Theaterstücke radikal kapitalismuskritisch oder „nur“ ästhetizistisch sind (um zwei für Adorno wichtige Referenzen zu nennen), sondern weisen ebenso wie eine Friseurin eine eher simple Kompetenzgenese auf. Die soziale Magie, wie Bourdieu das nennt, besteht dann vor allem darin, die Kompetenzgenese erfolgreich vergessen zu machen und formale, ästhetische und abstrakte Weltzugänge mit personenbezogener Brillanz in Verbindung zu bringen. Hier spielen nicht nur die Bildungsinstitutionen eine überragende Rolle, sondern auch die Selbstbeschreibungen von Besitzer_innen hohen kulturellen Kapitals, die in der Regel nicht davon ausgehen, dass Menschen mit Haupt- oder Förderschulabschluss ähnlich komplexe Gedanken haben wie sie selbst, etwa weil die sprachlichen Äußerungsformen adjektivarm sind. Aber exakt dieser intellektuelle Rassismus, oder, im Kontext von Lebensstilen, um einen glücklichen Ausdruck von Margareta Steinrücke (2007: 59) zu verwenden, „ästhetische Rassismus“ ist im Unterschied zur symbolischen Herrschaft als Strukturmerkmal überwindbar. Bourdieu nähert sich in dieser Lesart wieder deutlich den Positionen der Frankfurter Schule an. Wenn Bourdieu einräumen muss, dass das Distinktionsmaterial nicht beliebig ist, dann liegt tatsächlich ein, wenn auch sehr schwer benennbares, objektives Moment in den Dingen und Praktiken selbst wie insbesondere Adorno und Horkheimer postuliert haben. Die Pointe ist dann, dass Bourdieu sich in dieser Hinsicht als negativer Dialektiker positioniert, indem er konsequent darauf verzichtet, die Alltagspraktiken und kulturelle Güter nach einem eigenen Maßstab (etwa komplex vs. weniger komplex; kritisch vs. affirmativ) zu sortieren. Auch Bourdieu rechnet vor allem im ersten Teil der Studie „Die feinen Unterschiede“ implizit damit, dass formale Weltzugänge nicht nur anderes, sondern auch mehr von der Gesellschaft erkennen und damit eine wichtige – aber keine notwendige! – Bedingung für die Ausbildung eines kritischen Weltzugangs bilden (lesenswert hierzu Beer 2002). Indem Bourdieu aber der Versuchung widersteht, die Ausbildung solcher Kompetenzen in die Auseinandersetzung oder Beschäftigung mit spezifischen hochkulturellen Gütern zu verlegen, entgeht er
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selbst elegant dem Vorwurf des intellektuellen Rassismus. Diese Strategie lässt sich aus unserer Sicht hervorragend mit einem negativistischen Zug der Kritischen Theorie verbinden: In dem Moment, in dem etwa die Werke von Mozart oder Alban Berg, das Theater von Beckett oder Brecht oder die Malerei von Neo Rauch oder Frida Kahlo zu offiziellen und mit theoretischen Weihen versehenen Kulturgütern erklärt werden, durch die eine herrschaftskritische Kompetenzgenese erreicht werden kann, haben sie den kritischen Status bereits wieder eingebüßt und drohen in Ideologie zu erstarren. Insofern lässt sich Bourdieu, an dieser argumentativen Stelle, als soziologische Fortsetzung des bislang stärker philosophischen Programms einer negativen Dialektik verstehen, das die (sozial-)philosophischen Zugänge und Deutungen nicht ersetzt, aber spezifisch ergänzen und dadurch stärken kann.
E INE
KURZE
S CHLUSSBETRACHTUNG
Wir wollten in diesem Beitrag der Frage nachgehen, welche Analysen des Zusammenhangs von Bildung und Herrschaft in den Theorien Bourdieus und der Frankfurter Schule vorliegen und ob diese beiden oft als konträr wahrgenommenen Sozialtheorien tatsächlich so inkompatibel und entgegengesetzt sind, wie oft von ihren jeweiligen Verfechter_innen behauptet wird. Natürlich wollen wir die zum Teil deutlichen Differenzen, die ja in unseren Rekonstruktionen der Ansätze auch zu Tage traten, in diesen beiden großen Traditionslinien nicht bestreiten. Aber wir würden doch dafür plädieren, dass eine komplementäre Lesart der Frankfurter Schule und Bourdieus hilfreich ist, und das aus (mindestens) zwei Gründen. Zum einen vervollständigen Bourdieus Analysen der Intellektuellen und seine Theorie der symbolischen Herrschaft durch kulturelles Kapital die von der Frankfurter Schule angestrengte, radikale Herrschaftskritik. Bourdieu beleuchtet die Kehrseite bildungsbürgerlicher Praktiken und Lebensstile, die nicht einfach als Gegenpol gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse konzeptualisiert werden können, sondern tief in diesen verstrickt sind. Auf der anderen Seite liefern ausgerechnet die Arbeiten der Frankfurter Schule zumindest im Kontext von Bildung einen positiven begrifflichen Horizont, der von Bourdieu weitestgehend vernachlässigt wird. Es ist dann die besondere Pointe, dass genau an dieser Stelle Bourdieu als negativer Dialektiker gelesen werden kann, der sich zurecht davor scheut, den Genuss konkreter hochkultureller Werke mit Reflexionsfähigkeit zu verbinden und der dann in die Analyse der herrschaftsproduzierenden Distinktionsmomente solcher Praktiken umschwenkt. Im Kontext einer soziologischen Bildungstheorie sind aus unserer Sicht die beiden hier referierten Positionen unverzichtbar – eine funktionalistisch gewendete Bildungstheorie der Frankfurter Schule und eine negativ dialektisch gewendete Bildungstheorie Bourdieus sind überaus zentrale Bausteine,
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um das Verhältnis von Bildung, Herrschaft und Emanzipation angemessen verständlich zu machen. Zugleich tauchen gerade durch eine komplementäre Lesart der beiden Theoriestränge für die Analyse von Bildungsprozessen und ihre Rolle für die Produktion und Reproduktion von sozialer Herrschaft eine Reihe wichtiger Fragen auf: Erstens ist der Zusammenhang zwischen Reflexionsfähigkeit und kulturellen Praktiken nach wie vor ziemlich ungeklärt. Die Vorstellung, dass nur Intellektuelle komplexe Gedanken haben, ist soziolinguistisch und sozialanthropologisch längt widerlegt und wir können davon ausgehen, dass Reflexivität kein Privileg weniger ist. Zweitens wird dann fraglich, wie genau die prinzipielle Reflexivität von sozialen Akteuren so kanalisiert wird, dass sie ihnen selbst nicht so erscheint. Hier sind Bourdieus Analysen symbolischer Herrschaft unhintergehbar, sie müssen aber fortgeführt und auf eine empirisch breite Grundlage gestellt werden. Drittens stellt sich die Frage, wie eine radikalisierte Aufklärung konkret aussehen soll. Dass ein radikalisiertes Aufklärungsprogramm notwendig ist, darin sind sich die meisten kritischen Ansätze einig. Unklar ist aber, wo genau soziale Praxis und theoretische Programmatik Schnittstellen aufweisen. Wir wissen mittlerweile, dass ein Eintauchen in die schulische Curriculumsentwicklung den Zusammenhang von Bildung und Herrschaft nicht zu lockern vermag. Offen ist dann aber tatsächlich, wo anzusetzen wäre, wenn nicht in den Bildungsinstitutionen (vgl. auch Bauer/Bittlingmayer 2005a, 2005b). Viertens schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Defiziten und Differenzen im Kontext von Bildungsprozessen. Eine Position wäre hier zunächst noch zu entwickeln, die Defizite benennt, ohne herrschaftsanfällige Standards und Normen zu setzen und gleichzeitig Differenzen in einen theoretisch aufgeklärten Blick nimmt, der unterschiedliche Bildungskonzepte, -inhalte und -praktiken hierarchiearm konzeptualisiert, ohne in vollständige Beliebigkeit von Bildungsprozessen abzudriften. Die für die Analyse von sozialen Herrschaftsverhältnissen eminent wichtige Bildungsthematik ist also immer noch mit großen Fragezeichen versehen. Wer immer die Fragen aus herrschaftskritischer Perspektive in Angriff nehmen will, kommt aus unserer Sicht an der gemeinsamen Berücksichtigung von Bourdieu und der Frankfurter Schule nicht vorbei.
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Nomos und Habitus Anmerkungen zu Gesellschaftstheorie, Arbeitsteilung und Herrschaft bei Adorno und Bourdieu A LEX D EMIROVIû
Wie und in welcher Hinsicht lassen sich die Theorien von Bourdieu und Adorno miteinander vergleichen? Der Vergleich ist schwierig, weil in mancherlei Hinsicht gerade die kleine Differenz einen großen Unterschied macht. Obwohl ihre Hintergrundannahmen, ihre Bezugsautoren, ihr disziplinäres Selbstverständnis, ihre Untersuchungsgegenstände sehr verschieden sind, zielt das Interesse beider Autoren auf eine sozialwissenschaftliche Anthropologie, sie treten beide für ein genaues empirisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse ein, ohne sich darauf zu beschränken, sie befassen sich mit Klassenunterschieden vor allem im Bereich der Kultur und der Bildung, sie verfolgen in mancherlei Hinsicht ähnliche wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Ziele. Bourdieu versteht sich als Soziologe und möchte zu einer soziologisch-ethnologischen Theorie der Ökonomie des symbolischen Tauschs oder der Praxis beitragen. Adorno begreift seine Theoriebildung als Beitrag zu einer marxistisch verstandenen Gesellschaftstheorie. Seine Theorie stellt eine kritische Selbstreflexion auf den Marxismus dar, eine Selbstreflexion auf die Emanzipationsansprüche, wie sie von diesem im Anschluss an die Tradition der Aufklärung vertreten wurden und die schließlich im „Totalitarismus“ mündeten. Diese Reflexionen auf die Grundlagenbegriffe der Aufklärung haben zum Ziel, nicht nur diesen Umschlag von Emanzipation in ihr Gegenteil zu begreifen, sondern auch jene Erkenntnisbedingungen herzustellen, die es gegen die gesellschaftliche Tendenz ermöglichen könnten, die versöhnte Menschheit herbeizuführen. Vielleicht würde Bourdieu nicht von einer versöhnten Menschheit sprechen, aber auch ihm geht es darum, jene Bedingungen zu ändern, unter denen sich in der Realität und in den Köpfen Hierarchien bilden. Er formuliert als Ziel die „Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zum Allgemeinsten, was die geschichtliche Gegenwart zu bieten hat“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 118). An diesem Punkt gibt es durchaus eine Berührung von Bourdieu und Adorno. Für beide geht es um Aufklärung, Aufklärung der Aufklärung über sich und eine da-
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mit verbundene Verteidigung und Vermehrung der Vernunft. „Entgegen dem Anschein bedeutet es keinen Widerspruch, gleichzeitig gegen die mystifizierende Heuchelei des abstrakten Universalismus zu kämpfen und für die Universalisierung der Zugangsmöglichkeiten des Universellen – ein vorrangiges Ziel jedes wahrhaften Humanismus, den die universalistische Predigt ebenso vergißt wie die (falsche) nihilistische Subversion. Als Voraussetzung einer permanenten Aufklärung der Aufklärung ist die Kritik der formal universalistischen Kritik um so zwingender geboten, als die Neigung zur Universalisierung des Sonderfalls, die sämtlichen Spielarten des Ethnozentrismus zugrunde liegt, in diesem Fall den Anschein von Großzügigkeit und Tugend für sich hat.“ (Bourdieu 2001: 91f) Die Mittel zur Erkenntnis des Universellen müssen universell zugänglich sein; und die Aufklärung, die dafür eintritt, muss sich selbst reflektieren unter dem Gesichtspunkt, ob sie einem solchen Prozess der Aufklärung und Universalisierung entgegensteht und Partikularismen begünstigt, die zwangsläufig neue Hierarchien mit sich bringen. Dies scheint mir ein geeigneter Bezugspunkt, einige der Überlegungen beider Autoren zu prüfen. Die Frage nach der Universalität und der universellen Verfügung der Mittel zur Erkenntnis des Universellen zu stellen, führt unmittelbar zur Frage der Herrschaft und der Gliederung der Gesellschaft; der Gliederung der Gesellschaft, weil diese auf systematische Weise eine Arbeitsteilung erzeugt, in der nicht alle in gleicher Weise den Zugang zu den Mitteln der Erkenntnis des Universellen haben, sondern unter Bedingungen leben, die eine universelle Lebensweise verunmöglichen und das Verhältnis der Individuen zueinander hierarchisch gliedern. Für eine Sozioanalyse, wie sie Bourdieu verfolgt, ist das die allgemeinste und durchschnittlichste Erfahrung: dass wir in jedem Moment des gesellschaftlichen Lebens in Hierarchien eingebunden sind: oben-unten, Intellektuelle-ArbeiterInnen, Männer-Frauen, Einheimische-Zugewanderte, Exzellente-Durchschnitt, Chef-Untergebene, ElternKind. „Es gibt keine umfassendere und vollständigere Bejahung der bestehenden Ordnung als jenes infrapolitische Verhältnis der doxischen Selbstverständlichkeit, aus der heraus Existenzbedingungen als natürlich angesehen werden, die für jemanden, der in anderen Verhältnisse sozialisiert wurde und sie daher nicht über die aus dieser Welt selbst stammenden Wahrnehmungskategorien erfaßt, empörend wären. Auf diese Weise erklärt sich auch eine ganze Reihe von Mißverständnissen zwischen Intellektuellen und Arbeitern: Diese können Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse akzeptabel, ja „natürlich“ finden, die einem Außenstehenden unerträglich scheinen“ (Bourdieu 1996: 105). Auch darin ist eine gewisse Übereinstimmung zwischen Bourdieu und Adorno zu finden, dass beide die Doxa, die Unterwerfung unter die Alltagswelt, weniger als Hegemonie, also als ein widersprüchliches Verhältnis, sondern eher als Konformismus und die Position der Subalternen als die konformistischste begreifen: Die Doxa, die auf den Positionen der Beherrschten realisiert werde, stelle die „radikalste Form der Zustimmung zur Welt, wie sie ist“ dar, die „absoluteste Form des Kon-
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formismus überhaupt“ (Bourdieu 1996, 104). Dies lässt erstens jedoch außer Betracht, dass Intellektuelle in ihren jeweiligen Bereichen, also Kunst, Wissenschaft oder Philosophie, die Bereiche der Herrschaft sind, größtenteils selbst Konformisten sind und ihre rebellische Haltung Herrschaft noch bekräftigt und erneuert; zweitens, dass sie kritisch nur werden können, weil die Gesellschaft von einer Dynamik der Widersprüche durchzogen ist. Intellektuelle sind organisch mit diesen Widersprüchen und daraus hervorgehenden Konflikten verbunden, sie tragen sie konzeptionell aus, indem sie sie thematisieren und für sie eintreten oder indem sie sie beschönigen. Aber auch unter denjenigen, die den Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen stark unterworfen sind, gibt es ständig Prozesse des Widerstands und der Abspaltung. Deswegen wäre die These umzukehren. Die am stärksten konformistische Gruppe, die diesen Konformismus nach innen unter dem Druck der Widerstände ständig erneuern und ihn umarbeiten muss, ist die bürgerliche Klasse, die sich soziale Räume schafft, in denen sie sich ständig begegnet, um ihren Konsens zu bekräftigen, also Clubs, Restaurants, Festspiele, Foren, Interessenvereinigungen, Urlaubsorte, informelle Treffen und Verabredungen. Aus einer Marx folgenden und auch von Adorno vertretenen Sicht ergibt sich ein wesentliches Gliederungsprinzip von durch Herrschaft organisierten Gesellschaften daraus, dass Erkenntnis und Verfügung über Erkenntnismittel einer privilegierten sozialen Gruppe vorbehalten werden, die mit diesem Privileg auch dazu privilegiert ist, wiederum diejenigen Bedingungen herzustellen und zu reproduzieren, unter denen sie ihren privilegierten Zugang zu den Erkenntnismitten und damit zu Herrschaft erhalten kann. Es bilden sich solche Bereiche wie Kunst, Philosophie oder Wissenschaft. Die spezifischen Aktivitäten und Begriffe, die für diese jeweils autonomen Sphären charakteristisch sind, lassen sich in ihrem Eigensinn nicht auf andere Bereiche reduzieren. Sie gewähren durch die gesellschaftliche Freistellung von der Anstrengung der körperlichen Arbeit das Privileg der Muße, der Erkenntnis, der Erfahrung oder der Verfeinerung der Gewohnheiten. Es entwickelt sich eine spezifische Form von Intellektualität mit ihrem Geschmack und Sinn für Nuancen. Gleichzeitig sind alle diese autonomen Bereiche und das, was im Namen dieser Autonomie erzeugt wird, Akte der Barbarei, da sie eben auf diesem Privileg der Freiheit von der körperlichen Arbeit beruhen. „Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich der Kultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomie des Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kultur selbst in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht“ (Adorno 1949: 20). Kultur ist ihrerseits wiederum mit der Prätention verbunden, sich selbst als jenes Privileg zu behaupten und beansprucht, es zu Recht und von Natur aus zu besitzen. „In der Hypostasis des Geistes durch Kultur verklärt Reflexion die gesellschaftlich anbefohlene Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit“ (Adorno 1959: 96). Was
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Adorno über Bildung schreibt, gilt umfassend für die verschiedenen Sphären der Kultur: „Bildung läßt sich, dem Spruch aus dem Faust entgegen, überhaupt nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eines. Eben dadurch aber, daß sie dem Willen sich versagt, ist sie in den Schuldzusammenhang des Privilegs verstrickt: nur der braucht sie nicht zu erwerben und nicht zu besitzen, der sie ohnehin schon besitzt. So fällt sie in die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit. Als Erbschaft alter Unfreiheit mußte sie hinab; unmöglich aber ist sie unter bloßer subjektiver Freiheit, solange objektiv die Bedingungen der Unfreiheit fortdauern.“ (Adorno 1959: 107)
Die vom Klassenantagonismus hervorgebrachte Autonomie der Kultur gewährt dieser Sphäre die Möglichkeit zu Erkenntnis und Erfahrung ebenso wie er sie ihr nimmt. Emanzipation würde darin bestehen, auf dem Niveau höchster Autonomie der einzelnen kulturellen Objektivationen die Trennung dieser privilegierten Bereiche von anderen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu überwinden (vgl. Adorno 1949: 19ff). Bourdieu kritisiert das kulturelle Privileg ebenfalls, aber er scheint eher den Kunstglauben zu beanstanden, eher den Glauben an eine legitime Kultur als die objektive Spaltung der Gesellschaft. Aufgrund solcher Überlegungen zur Verteidigung der Autonomie der Theorie oder der Kunst ist Adorno oftmals der Vorwurf gemacht worden, elitär zu sein. Doch Adorno ist sich des Barbarischen des kulturellen Privilegs bewusst. Mehr noch: Er selbst betont immer wieder, dass die Kultur durch die Kulturindustrie selbst in Sparten aufgeteilt wurde. Das Privileg entspricht längst schon dem kulturellen Verhalten einer bestimmten Käufergruppe, die auf E-Musik, Originalgemälde oder auf bestimmte Wohnbezirke konzentriert ist. Darin trifft er sich mit Bourdieus soziologischen Befunden zu den kulturellen Praktiken verschiedener sozialer Klassen ebenso wie mit dessen Überlegungen zum Habitus, der ja im wesentlichen zur individuellen Natur gewordene Gesellschaft geworden ist und dazu beiträgt, dass die Geschmacksdispositionen der Individuen genau ihren Positionen im sozialen Feld entsprechen und sie, vermittels des Habitus, genau die Erwartungen und Verhaltensweisen ausbilden, die sie gleichsam auf natürliche Weise die Strukturen reproduzieren lässt, die diesen Habitus hervorbringen. Auch für Bourdieu ist in diesem Sinn Bildung nicht zu erwerben, und entsprechend muss auch er sich gegen den Vorwurf verteidigen, eine elitäre Redeposition einzunehmen. „Wer mir […] den Vorwurf macht, ich schreibe den Unterschied zwischen der sogenannten Volkskultur und der Kultur der Gebildeten fest und billigte […] die Überlegenheit der herrschenden Kultur […], der kennt Webers Unterscheidung zwischen Werturteil und Wertorientierung nicht und hält für ein wissenschaftliches Werturteil, was ein De-facto-Urteil über die Wertorientierung ist, die die von ihm untersuchten Akteure in der Objektivität vornehmen. […] Was immer ich persönlich von dieser Dichotomie halten mag, sie existiert nun einmal in der Realität, nämlich in Gestalt
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von Hierarchien, die sowohl in die Objektivität der sozialen Abläufe (wie zum Beispiel in die Abschlüsse des Bildungsmarkts) als auch in die Subjektivität der Klassifizierungssysteme oder Geschmacksunterschiede eingegangen sind, die […] selber hierarchisch sind.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 113)
Offenkundig verfolgt Bourdieu mit einer reflexiven Soziologie etwas ähnliches wie Adorno, wenn er wieder und immer wieder die Notwendigkeit betont, über die scholastische Weltsicht, die Verkennung der sozialen Welt, die sich bei den sozialen Akteuren findet, die in der Logik ihrer Felder befangen sind, aufzuklären. Allerdings gibt es gerade in dieser Hinsicht doch einen entscheidenden Unterschied in der Durchführung dieser Aufklärungsabsicht, also im Verständnis der Methode. Adorno versichert sich der Erfahrungen, die sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung von Kopf- und Handarbeit ergeben und die Begriffe, mit und in denen Intellektuelle denken, bis ins Innerste hinein prägen. Es geht ihm um die unreglementierte Erfahrung des Individuums, mit ihr beginnt er, sie sei der Inhalt, der von Methoden zu bald als Störenfried empfunden und beschnitten werde: „Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren. Sie muß, aus der lebendigen, nicht selber schon nach den gesellschaftlich installierten Kontrollmechanismen eingerichteten Erfahrung; aus dem Gedächtnis des ehemals Gedachten; aus der unbeirrten Konsequenz der eigenen Überlegung jenen Begriff immer schon ans Material herantragen und in der Fühlung mit diesem ihn wiederum abwandeln.“ (Adorno 1957: 197)
Adorno rückt also die Erfahrung des Intellektuellen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ins Zentrum, er soll durch Selbstreflexion des sowohl aufklärerischen als auch barbarischen Charakters der Begriffe inne werden, in denen er denkt. Auf diese Weise sollen die Intellektuellen aus dem Inneren der Kultur durch bestimmte Negation zur Überwindung dieser Kultur selbst und zur Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft beitragen. Demgegenüber betont Bourdieu immer wieder die Notwendigkeit, über die scholastische Weltsicht, die Verkennung der sozialen Welt, die sich bei den sozialen Akteuren findet, die in der Logik ihrer Felder befangen sind, aufzuklären durch die Nutzung aller verfügbaren Objektivierungsinstrumente, die die Sozialwissenschaften zur Verfügung stellen (vgl. Bourdieu 2001: 19). Es ist diese Methode der Objektivierung, die Bourdieus Überlegungen eine eigenartige Form von Distanz ihrem Gegenstand gegenüber verleiht, da sie das Selbstverständliche und Vertraute als exotisch erscheinen lassen will. Doch die Distanz ergibt sich auch aus dem Szientismus, also daraus, dass es der sozioanalytische Soziologe ist, der die Laien über ihre Doxa belehrt. Damit wird nahegelegt, es lasse sich von vornherein und durch die Wahl der Methode der Analyse von Feldern und Habitusformen eine Position außerhalb der sozialen Felder selbst einnehmen. Dies vermittelt schließlich auch eine
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heroische Ideologiekritik und prätentiöse Überlegenheitsgeste nicht nur gegenüber der Vielzahl von Akteuren und ihren Praktiken; Bourdieu rückt auch immer wieder von anderen emanzipatorischen Theorien ab. Denn ohne Weiteres beansprucht Bourdieu, dies alles – Praktiken und Theorien – auf eine Disposition und damit letztlich auf eine Position innerhalb eines Feldes reduzieren zu können. Zwar schließt er sich in seine Analysen durchaus selbst ein; aber immer wieder legt er auch nahe, er hätte zu einem Wissenschaftler und seiner Theorie schon etwas gesagt, wenn er die Position ihres Vertreters innerhalb des Wissenschaftsfeldes und der Universität bestimmt hat. Nicht, dass dies unwichtig wäre, findet sich das Moment rettender Kritik bei Bourdieu kaum, also der Versuch, in den inneren Widersprüchen von Theorien, Philosophien oder Kunstwerken etwas wie die gesellschaftlichen Widersprüche und Kämpfe selbst zu dechiffrieren. Was diese Selbsteinbeziehung seiner Theorie in die Sozioanalyse über seine eigene Theorie besagt, bleibt damit unklar. Sie lässt sich als Beitrag zur Aufklärung begreifen; aber ebenso als ein zynischer Beitrag zur Nutzenmaximierung der Akteure in den jeweiligen Feldern, die jeden inhaltlichen Anspruch abzuwehren wissen, indem sie die anderen jeweils auf ihre Disposition und Position hinweisen und damit einen soziologistischen Überlegenheitskult praktizieren, der die Genesis gegen die Geltung ausspielt. Pierre Bourdieus Überlegungen sind herrschaftskritisch. Auch in seinem Fall ergibt sich die Autonomie der Felder und damit die entstehende Bedingung der Möglichkeit reinen Denkens oder reiner Kunst aus der Muße, aus der Befreiung von praktischen Beschäftigungen und Besorgnissen (vgl. Bourdieu 2001: 23). Auch in seinem Fall verstellt sich die gebildete Doxa den Zugang zur praktischen Welt und zur Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen privilegierten Existenzform. „Die fundamentale Ambivalenz der scholastischen Universen und aller ihrer Hervorbringungen – universelle Errungenschaften, die ein exklusives Privileg zugänglich macht – beruht darauf, daß die scholastische Zäsur gegenüber der Welt der Produktion befreit wie zugleich trennt, den Zusammenhang auflöst und damit virtuell verstümmelt“ (Bourdieu 2001: 25). Im Zentrum seiner Forschung steht das Feld. Die Bestimmung des Feldes ist selbst schwierig. Das Feld ist erstens eine Vermittlung aller Determinierungen, denen Intellektuelle, Künstler, Politiker oder Unternehmer unterliegen, durch die irreduziblen Formen und Kräfte des jeweiligen Feldes. Ein Feld hat zweitens seine spezifische Logik, seine Herrschenden und Beherrschten, seine Kämpfe und seine Reproduktionsmechanismen. Drittens schließlich ergibt sich der Feldeffekt eines Feldes aus den objektiven Relationen zwischen Positionen auf diesem Feld. Ein Akteur existiert als solcher nur, weil es ein entsprechendes Feld gibt. Das Feld setzt ihn in ein Verhältnis zu anderen, es wird um den Zugang zu dem Feld und um die Position auf dem Feld gekämpft. Da dafür Volumen und Struktur des Kapitals von ausschlaggebender Bedeutung ist – darum geht der Kampf, da das Kapital Macht über das Feld, über die materialisierten und inkorporierten Produktions- und Reproduktionsbedingungen
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gewährt – kämpfen die Akteure um die legitime Form des Kapitals und um den ihnen zur Verfügung stehenden Umfang, also um Erhalt und Umsturz einer Kapitalverteilung. Da sie jedoch an den Sinn der Existenz dieses Feldes, an den Sinn der Einsätze glauben und damit, trotz allen Kampfes und aller Konkurrenz, darin ein stillschweigendes Einverständnis teilen, die Illusio, investieren sie in diese Konkurrenz und versuchen sich in ihr zu bewähren. Diese Überlegungen von Bourdieu bleiben an einem entscheidenden Punkt blass. Es erschließt sich nicht, warum es die Relationen und Vermittlungen gibt, die ein Feld konstituieren. Ebenso wenig wird klar, warum es die Bereitschaft gibt, sich an der Konkurrenz eines Feldes zu beteiligen, also die Illusio zu teilen und einen gewissen Anteil der eigenen Lebenszeit dafür einzusetzen, auf diesem Feld mitzuspielen. Es erscheint so, als sei es ein Glaube, eine Frage der Legitimität, aber es wird nicht weiter danach gefragt, warum es überhaupt diesen Glauben an dieses Feld und warum es diese Felder überhaupt gibt. Kann man sich vorstellen, dass es bestimmte Felder vielleicht nicht mehr geben könnte oder dass Akteure ein Feld in Frage stellen, das doch die Grundlage ihres Handelns ist? Funktionieren Gesellschaften immer nach der Logik von objektiver Chancenstruktur und subjektiver Disposition ihrer Reproduktion? Bourdieu legt nahe, dass dies der Fall sei, wenn er sagt, dass das eigentliche Ziel der Forschung ja die Aufdeckung „transhistorischer Invarianten oder Relationenbündel zwischen relativ stabilen und dauerhaften Strukturen“ sei (Bourdieu/Wacquant 1996: 108). In seinen Schriften hat Bourdieu ein komplexes Modell der sozialen Klassen entwickelt. Diese Klassen bilden sich auf der Grundlage der Verfügung über verschiedene Formen des Kapitals: ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital. Die sich aus der Kapitalakkumulation in den jeweiligen Feldern ergebenden Positionen konstituieren einen sozialen Raum von differentiellen Abständen. Diesen Raum dynamisieren die sozialen Klassen wiederum durch Kämpfe bei der Verteilung der jeweiligen Kapitalien. Die unteren Klassen, vor allem die prätentiöse Mittelklasse, streben danach, die bürgerliche Klasse einzuholen. Aus den positionalen Unterschieden gehen Unterscheidungen hervor, die die Akteure vornehmen, um auf dem Feld und in der spezifischen Konkurrenz ihre Position zu erhalten oder zu verbessern. Indem aus Positionen Positionierungen werden, verschieben und reproduzieren die sozialen Klassen den sozialen Raum. Obwohl Bourdieu also mit diesen Theoriekomponenten von Position und Positionierung, von Unterschied und Unterscheidung über ein dynamisches Element in seiner Theorie verfügt, gibt es nur gelegentliche Hinweise darauf, was von ihm als gesellschaftliche Ursache und Folge dieser Dynamik begriffen wird, wie diese Kämpfe tatsächlich ausgetragen werden, wie Niederlagen aussehen, wie sich die sozialen Klassen und die Verhaltensweisen oder die sozialen Kompromisse zwischen ihnen ändern. In den „Meditationen“ deutet Bourdieu in allgemeineren Begriffen eine Theorie der sozialen Differenzierung an. „Ihre bezeichnendsten Züge verdankt die scholastische Disposition jedoch dem Ausdifferenzierungsprozeß, durch den die unter-
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schiedlichen Felder der symbolischen Produktion sich autonom gemacht und als solche konstitutiert haben, womit sie sich aus dem seinerseits im Konstitutionsprozeß begriffenen ökonomischen Universum lösten“ (Bourdieu 2001: 28; vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 127). Dieser Ausdifferenzierungsprozess wird von Bourdieu allerdings selbst wiederum nicht und schon gar nicht kapitalismus- oder herrschaftstheoretisch erklärt. Ausdrücklich sogar wird dies abgelehnt, weil die kausalen Zusammenhänge zu kompliziert seien. Für das Verhältnis der Felder zueinander gebe es keine transhistorischen Gesetze. Ein Denken in Instanzen oder Gliederungen, wie dies manche Marxisten versucht hätten – und Bourdieu meint hier offensichtlich Althusser, Balibar oder Poulantzas – lehnt er ab, weil in diesem Fall die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die bestimmende Instanz sein würden. Allerdings kommt auch Bourdieu nicht umhin, ein bestimmtes Verhältnis zwischen den autonomen Feldern anzunehmen. Das ist das der Homologie. Demnach entsprechen sich, wie oben schon erwähnt, die Felder hinsichtlich bestimmter formaler Eigenschaften: objektive Chancenstruktur und Habitus, Kapitalstruktur und -volumen, Konkurrenz und Illusio, Herrschende und Beherrschte. Daraus resultiert de facto eine völlig andere Herrschaftssoziologie als bei Max Weber oder in der an Marx anschließenden Tradition. Wenn es einer herrschenden Klasse eines Feldes gelingt, die Form ihres Kapitals auch in die Form und ausreichende Menge eines anderen Kapitals zu konvertieren (also Bildungstitel in Geld oder Geld in Kunstwerke), ist es wahrscheinlich, dass sie auch auf diesem Feld eine mächtige Position erlangen wird. Es handelt sich also um Praktiken des Austauschs von Kapital zwischen diesen Feldern; und obwohl gerade eine Soziologie dieses Austauschs das Ziel der Soziologie Bourdieus ist, spielt er eine geringe Rolle, Bourdieu beschränkt sich doch vor allem auf die Analyse feldinterner Spiele und Strategien. Das besondere Gewicht des Eigentums an den Produktionsverhältnissen und seiner Veränderung spielt für Bourdieu – von einigen bedeutenden frühen Aufsätzen abgesehen – keine Rolle zur Erklärung des Gesamtzusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaftsformation und ihrer Gliederung, für die Formierung der bürgerlichen Klasse, für die Ausbildung ihrer intellektuellen Kompetenz und ihre ständige Veränderung. Ein inneres, ein organisches Verhältnis zwischen diesen Prozessen der Selbstrevolutionierung der bürgerlichen Verhältnisse und den autonomen Handlungssphären kann Bourdieu nicht erkennen, das darüber Aufschluss geben würde, in welcher Weise Wissenschaftler, Kulturproduzenten und ihre Apparate selbst wiederum Teil des kapitalistisch bestimmten gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sind. Er befürchtet, in die Falle des Ökonomismus zu gehen; und gerade indem er diesen zu vermeiden versucht, verfällt er ihm. Denn die Ähnlichkeiten im Handeln, die sich aufgrund der relativen Positionen, die Akteure in dem einen oder anderen Feld einnehmen, beobachten lassen, ergeben sich aus dem formalen Merkmal, in der Konkurrenz durch Kapitalerhaltung und -vermehrung oben bleiben zu wollen.
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Die verschiedenen Universen symbolischer Produktion, also in sich geschlossene, abgetrennte, ihren eigenen Logiken und Gesetzmäßigkeiten folgende Mikrokosmen, konstituieren sich um den Preis einer Zäsur von der Ökonomie. Ganz ähnlich wie Adorno stellt auch Bourdieu fest, dass auf diese Weise ein distanzierter, verfügender Blick auf die Dinge entsteht. Demgegenüber werden die produktive Arbeit, der Körper, die Nahsinne, der Notwendigkeitsgeschmack vergessen und verdrängt. In jedem dieser autonomen symbolischen Felder entstehen nun jeweils spezifische Dispositionen, die auf einer Inkorporierung und Habitualisierung der sozialen Verhältnisse in diesen Feldern beruhen und wiederum zur Ausbildung jener Dispositionsstrukturen und Erwartungen beitragen, die, weil sie auf das Eintreffen eines bestimmten Systems sozialer Regelmäßigkeiten eingestellt sind, ihrerseits daran mitwirken, die sozialen Verhältnisse zu erzeugen und zu erhalten, unter denen sie selbst entstanden sind. Jedes dieser Felder ist von einem Nomos bestimmt, einem spezifischen „Prinzip der Sichtung und Ordnung“, einer Art Horizont dessen, was denkbar und erlebbar ist. Dieser Nomos ist die Matrix aller relevanten Fragen, aller relevanten Einteilungen und Klassifikationen und führt zu einer feldspezifischen Illusio, also einem Habitus, der mit einem vorreflexiven Glauben an den Wert der Themen, Akteure, Gegensätze und Wertigkeiten verbunden ist und dazu beiträgt, dass Individuen sich an den Spielen, den Kämpfen eines Feldes beteiligen, ihm hingeben, Einsätze riskieren und investieren. „Die Illusio gehört nicht zu den expliziten Prinzipien, den Thesen, die man aufstellt und die verteidigt werden, sondern zum Handeln, zur Routine, zu den Dingen, die man halt tut und die man tut, weil es sich gehört und weil man sie immer getan hat. […] Sie verbietet faktisch die Infragestellung der Grundsätze des Glaubens, die das Feld selbst in seiner Existenz bedrohen würde“ (Bourdieu 2001: 129).
In diesen Überlegungen von Bourdieu gibt es eine Spannung, die von ihm nicht immer klar ausgedrückt und theoretisch ausgetragen wird. Bourdieu verteidigt die Autonomie, den Eigensinn, die Eigengesetzlichkeit, die Prinzipien der Felder. In diesem Sinn ist der Nomos ein wesentliches und unvermeidliches Merkmal des Feldes, ebenso die Herausbildung eines feldspezifischen Habitus und einer dazu gehörenden Illusio. Feld, Habitus und Illusio, obwohl Begriffe, die auf eine Klassenrealität und soziale Ungleichheit hinweisen, sind positive Begriffe, die für jede soziale Ordnung zu gelten scheinen. Im Sinne der kritischen Theorie könnte davon gesprochen werden, dass sie insofern affirmative, formale, positivistische Begriffe sind. Denn sie können die soziale Realität, auf die sie hinweisen und die sie begreifbar machen wollen, nicht in Frage stellen. Sie können zwar soziale Ungleichheit thematisieren, also die ungleichen Zugangsbedingungen zu den jeweiligen Feldern. Aber selbst diese Thematisierungsweise führt in kritischer Hinsicht nicht sehr weit. Denn es gehört zur Logik ausdifferenzierter Felder, dass alle Individuen alle Felder betreten und an der feldspezifischen
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Illusio teilhaben können. Auf diesen Feldern wird um die feldspezifischen Kapitalsorten gekämpft. Die einen besitzen von dem allgemeine Anerkennung genießenden Kapital mehr als andere und werden deswegen von Bourdieu als Herrschende bezeichnet. In jedem Feld gibt es solche nach einem jeweiligen Herrschaftsprinzip Herrschende. Zwischen den Herrschenden der verschiedenen Felder gibt es Homologien, ebenso aber auch Konkurrenz um die Durchsetzung der den Austausch legitimerweise bestimmenden Kapitalsorte, z.B. Geld, Bildungstitel, Bekanntschaften. Doch handelt es sich nur um ein Verteilungsproblem, das sich daraus ergibt, dass, durch den bestehenden Habitus vermittelt, frühere Verteilungen fortgeschrieben werden – und zwar derart, dass die Verteilung wie eine naturgegebene, in den Körper, die Haltung, den Habitus eingeschriebene Verteilung erscheint. Ein kritisches Ziel könnte demnach sein, Verteilungen zu erreichen, die egalitärer sind. Als ein weiteres Ziel führt Bourdieu die Fortschritte in der Differenzierung der Macht an, die wie ein Sperrriegel verhindern, dass die Macht eines Feldes in die Funktionsweise eines anderen Feldes eindringt, also dieses Feld kolonisiert (vgl. Bourdieu 2001: 131). Wenn im Sinne Bourdieus Gleichheit hergestellt würde, dann würde dies nicht bedeuten, dass die Verteilungskämpfe aufhören würden. Ihre Kurven würden nur flacher ausfallen, weil sich so etwas wie ein Gleichheitshabitus herstellen würde. Die Konzeption von Autonomie, die Bourdieu vorschlägt, scheint dahin zu gehen, auf eine immer weitere Differenzierung und Autonomisierung zu setzen. Damit aber würde als eine Folge gesetzt, dass sich der Nomos und die mit ihm verbundenen Dispositionen auch weiterhin in einem spezifischen Habitus inkorporieren. Die Distanz von den Notwendigkeiten der körperlichen Arbeit, vom Notwendigkeitsgeschmack, von den unteren Klassen, von der Doxa des allgemeinen Menschenverstands würde damit intensiviert. Insgesamt geht es bei Bourdieu nicht, um es noch einmal zu sagen, um eine antagonistische Relation zwischen denjenigen, die die gesellschaftliche Arbeit leisten, und den anderen, die sie privat aneignen, wie sie von Adorno im Anschluss an Marx gedacht wird, und die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit organisiert, um gerade dieses gegensätzliche Verhältnis zu reproduzieren, das ständig bestritten wird und in die Krise gerät. Aus Adornos Sicht bildet sich eine herrschende Klasse dadurch, dass sie über spezifische Mechanismen des Äquivalententausches den gesellschaftlichen Reichtum denjenigen wegnimmt, die ihn produzieren. Sie organisieren damit autonome Bereiche der Kunst oder des Rechts, die zur Erhaltung der Herrschaft beitragen. Das Prinzip dieser einen herrschenden Klasse durchdringt alle Bereiche. Mit der Autonomie der Bereiche können Ungleichzeitigkeiten gegenüber den ökonomischen Herrschaftsprozessen eintreten, die Spielräume gewähren, doch die Mächtigen sind bemüht, auch diese Autonomie selbst jeweils zu durchdringen und zu kontrollieren – und insbesondere dann, wenn sich auf diese Weise Kapital verwerten und Herrschaft erhalten lässt. Mit der Kulturindustrie hat die Dynamik der Kapitalverwertung schließlich auch die Sphäre der Kultur selbst durchdrungen und ihrer früheren, vom Bürgertum selbst ge-
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schaffenen Autonomie beraubt. Im Unterschied zu Bourdieu vertritt Adorno also die zeitdiagnostische Ansicht, dass erstens die Mächtigen einer die Gesellschaft durchdringenden Rationalität des Erhalts ihrer Herrschaft folgen; und dass zweitens die Autonomie mit dem Spätkapitalismus historisch mehr oder weniger beseitigt wurde. Die Gesellschaft sei einfach geworden und zwangsweise integriert. Ohne Adorno in allen Hinsichten zuzustimmen, erscheint mir der Anspruch angemessen, den inneren Zusammenhang zwischen Produktionsverhältnissen und autonomen Handlungssphären zu begreifen und zeitdiagnostisch die Veränderungen als konkrete Bewegungsform der bürgerlichen Gesellschaftsformation zu bestimmen. Die Ausdifferenzierung und der Habitus tragen begrifflich nicht zum Verständnis von Herrschaft bei. Denn der Habitus bezeichnet zwar die Inkorporierung von Sozialstrukturen und ihre Verwandlung in Dispositionen und insofern kann sich auf ihn gestützt Herrschaft vollziehen. Aber der Habitus ist nicht Herrschaft und sein Begriff kann nicht erklären, warum es Herrschaft überhaupt gibt. Er trägt sich gleichsam selbst. Auf Pascal zurückgreifend lehnt es Bourdieu ausdrücklich ab, die Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung auf Gewalt und Konsens, auf Propaganda oder Apparate im Dienste von Herrschenden zurückzuführen. Die Ordnung werde von der Gewohnheit gemacht, zitiert er Pascal zustimmend (vgl. Bourdieu 2001: 215). „Aber wer macht die Gewohnheit?“, möchte man zurückfragen. Es bleibt offen, ob der Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur etwa vergleichbar wäre mit dem Begriff des Charakters bei Horkheimer und Adorno, also geronnene psychische Muster, die frühere Herrschaftserfahrungen in Dispositionen für zukünftiges Sozialverhalten verwandeln. Aus der Perspektive der Kritischen Theorie ist diese Form von sozialisierter Natur etwas, das durch Emanzipation überwunden werden kann. Es gibt bei Bourdieu viele Stellen, die nahelegen, dass der Habitus eine Form von Herrschaft ist, aber den obigen angestellten Überlegungen zufolge ist der Habitus eine Praxis der Naturalisierung, die sich von Menschen nicht vermeiden lässt. In den „Meditationen“ begreift Bourdieu den Habitus, der die Inkorporierung des feldspezifischen Nomos darstellt, selbst als sich vollziehende Herrschaft. „Die symbolische Herrschaft (des Geschlechts, der Ethnie, der Bildung, der Sprache usw.) entfaltet ihre Wirksamkeit nicht in der reinen Logik erkennenden Bewußtseins, sondern in dunklen Dispositionen des Habitus“ (Bourdieu 2001: 218). Der logische Ausgangspunkt für den Habitus ist der Nomos, also die symbolischen Klassifikationen, die das Soziale binär in Gruppen und Praktiken einteilen: Gesellschaft und Gemeinschaft, öffentlich-privat, Mann-Frau, Theorie-Praxis, rein-angewandt, hoch-niedrig, stilvollgemein, geschmackvoll-vulgär, ernst-unterhaltsam, originell-banal, vornehmgemein, anspruchsvoll-trivial, Wissenschaft-Meinung. Der Nomos wiederum, das arbiträre Prinzip der Sichtung und Ordnung, wird auf einem bestimmten Territorium durch den Staat universell eingeprägt (vgl. Bourdieu 2001: 220f). Der Staat bewirkt demnach einen „logischen Konformismus“, einen „präreflexiven Konsens“ über den Sinn der Welt.
262 | A LEX D EMIROVIû „Der Staat, wenn man denn diese Bezeichnung unbedingt beibehalten möchte, wäre demnach ein Ensemble von Machtfeldern, in denen sich Kämpfe abspielen, deren Objekt […] das Monopol auf die legitime symbolische Gewalt ist: das heißt die Macht, ein gemeinsames Ensemble von zwingenden Normen zu schaffen und innerhalb des Zuständigkeitsbereichs einer Nation, das heißt innerhalb der Grenzen eines Landes, als allgemeine und allgemeingültige durchzusetzen.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 143)
Zwei Aspekte will ich hervorheben: zum einen, dass der Staat ausschließlich durch eine symbolische Funktion bestimmt ist; zum zweiten den Zentralismus, der offenkundig die anderen autonomen Bereiche kurzschließt. Mit einer weiteren Formulierung geht Bourdieu darüber noch hinaus. Denn er schreibt, dass die eigentliche Macht des Staates darin bestehe, Macht über die Wechselkurse der Kapitalsorten untereinander und damit die Machtverhältnisse zwischen ihren Besitzern auszuüben. Der Staat wird damit zum Herrscher der Herrschenden und bestimmt damit letztlich die autonomen Felder und ihr Verhältnis zueinander. Die Soziologie geht damit in politische Soziologie und Theorie über. Diese Art der politisch herbeigeführten symbolischen Strukturen, die strukturierend auf die soziale Welt und die Praktiken wirken, ergeben sich aus der besonderen Sicht derjenigen, die staatlich herrschen und ihre Sicht der Dinge als universelle Sicht darstellen und durchsetzen (vgl. Bourdieu 2001: 223). Wenn dem so ist, dann stellt sich für Bourdieu das Problem, daß er die Autonomie der einzelnen Felder und den Habitus politisch denken muss. Die Nomoi, die Konstitution ihrer Autonomie, die Habitusformen - alles das ist Ergebnis von Herrschaft derjenigen, die politische Macht ausüben und den Staat beherrschen. Aber dann erhält, auch wenn Bourdieu das bestritten hat, die Verfügung über den Staat doch eine Schlüsselbedeutung für seine eigene soziologische Theorie. Allerdings hat er damit nicht erklärt, warum es überhaupt staatliche Herrschaft gibt, woher sie kommt, in welchem Verhältnis sie zur Autonomie der einzelnen Felder steht. Ebenso bleibt offen, ob er sich von einer weiteren Differenzierung und Autonomie der Felder auch eine Emanzipation von dieser politischen Herrschaft verspricht oder ob nicht vielmehr die zunehmende Differenzierung selbst eine Strategie von Herrschaft darstellt. Diese knappen Überlegungen nehmen nicht in Anspruch, theorievergleichend den beiden Autoren Bourdieu und Adorno und dem Reichtum ihrer Analysen gerecht zu werden. Trotz des Formalismus seiner Soziologie hat Bourdieu sehr viel zum Verständnis der spezifischen Klassenlogik in Bereichen wie Bildung oder Kultur beigetraten. Aber es gibt eine offensichtliche Schwäche, die seine Theorie aufweist, wenn sie prismatisch durch die Theoriebildung Adornos hindurch gesehen wird: es fehlt die Gesellschaftstheorie und die emanzipatorische Perspektive, auf die hin argumentiert wird. Adornos eigene Position überzeugt in vielen Punkten nicht, zu sehr ist sie immer noch geprägt von einem bestimmten Totalitätsmodell, das Kultur vorwiegend als Ausdruck versteht, Ausdruck der Warenförmigkeit sozialer
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Verhältnisse. Aber beide Autoren waren sich vielleicht doch darin einig, dass die bürgerliche Gesellschaft noch wesentlich von naturhaften Kategorien bestimmt und aus dem Zeitalter der Feudalität oder gar der Naturgeschichte der Gesellschaft nicht wirklich herausgetreten ist – und sie plädieren beide für eine Fortsetzung der über sich selbst aufgeklärten Aufklärung.
L ITERATUR Adorno, Th. (1949): Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 10/1. Frankfurt/Main. Adorno, Th. (1957): Soziologie und empirische Forschung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 8. Frankfurt/Main. Adorno, Th. (1959): Theorie der Halbbildung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 8. Frankfurt/Main. Bourdieu, P. (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/Main. Bourdieu, P./Wacquant, L. (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/Main.
III. Verknüpfungen
Die Analyse von Macht und Herrschaft Was soll sein? G REGOR B ONGAERTS
I Seit den 1990er Jahren scheint, wenn ich recht sehe, der Bedarf an theoretischer Begleitung von Gesellschaftskritik gestiegen zu sein. Es sind vor allem zeitdiagnostische Arbeiten, die einen sensus für kritisierbare gesellschaftliche Entwicklungen erzeugen und wachhalten wollen. Die Durchsetzung einer neuen Qualität globalisierter Politik und Wirtschaft gerät mitsamt ihren sozial ungerechten Folgen in den Blick. Im Zentrum der Kritik steht die Globalisierung wirtschaftlichen Wettbewerbs, die gegenüber den politisch und rechtlich erzeugten und garantierten territorialen Ordnungen der Nationalstaaten die Oberhand gewinnt. Kritisiert wird die Schwächung des Staates, der alle öffentlichen Felder der Logik der Privatinteressen der Wirtschaft unterordnet (vgl. Hardt/Negri 2003). Die Ökonomisierung der Schulund Hochschulbildung, der Um- und Abbau von Sozialleistungen zu Gunsten globaler Konkurrenzfähigkeit (vgl. Münch 2009) und die Auflösung ganzer Industriezweige mit dem Effekt der Erzeugung von unbrauchbaren Arbeitern (vgl. Castel 2000) können als Beispiele dienen. Gleichermaßen werden Ausnahmezustände rechtsfreier Räume als Normalzustand globaler Konflikte den weltweiten gesellschaftlichen Entwicklungen zugerechnet (vgl. Agamben 2002). Individuelle Akteure sind von den neuen Strukturentwicklungen überfordert. Die Herauslösung aus Kollektivbindungen führt zu einer Art Individualisierungszwang, die Schwächung einer kohärenten Sinngebung für Welt und Leben führt zu Orientierungsverlusten, prekäre Arbeitsverhältnisse erfordern flexible Lebensführungen usw. Semantiken der Unübersichtlichkeit (vgl. Habermas 1985), der Flüchtigkeit (vgl. Baumann 2007), der Beschleunigung (vgl. Rosa 2005) reflektieren diese Erfahrungsbereiche individueller Akteure. Es gibt also offenbar viel zu kritisieren. Wenn man sich dabei nicht dem Vorwurf der interessengeleiteten Beliebigkeit der Auswahl und der Bewertung des Gegenstandes der Kritik – also einem Ideologieverdacht – aussetzen will, ist zumindest eine theoretische
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Reflexion und im besseren Fall eine theoretische Begründung erforderlich. Eine Theorie steht in Frage, die in der Lage ist, ihren normativen Maßstab auszuweisen. Eine kritische Theorie muss also angeben können, warum man schlecht finden gut finden soll. Es steht außer Frage, dass Gesellschaftskritik auch geübt werden kann, ohne über eine solche Theorie zu verfügen. Wissenschaftliche Konzepte und Methoden können ohne explizite normative Begründung in den Dienst der Kritik gestellt werden. Allerdings wird eine Theorie nicht dadurch zu einer kritischen Theorie, dass sie als Mittel zum Zweck der Kritik verwendet wird. In einem solchen Fall hat man es mit kritischen Wissenschaftlern, oder kritischen Theoretikern zu tun, nicht aber mit kritischen Theorien. Kritische Theorien enthalten Begründungen dafür, dass einer Kritik letztlich beizupflichten ist oder zumindest muss erkennbar sein, unter welchen Bedingungen sie abzulehnen ist. In der Regel wird dies durch die (unterstellte) Konsensfähigkeit der Kritik und ihrer Kriterien geleistet. Und genau an dieser Stelle liegt meines Erachtens das entscheidende Theorieproblem: Eine kritische Theorie muss der eigenen normativen Position und kritischen Diagnose der Gesellschaft mehr Konsensfähigkeit zurechnen als den konkurrierenden Sichtweisen, seien dies wissenschaftliche oder andere. Die Frage ist nur, wie man zu einer mindestens mehrheitsfähigen und maximal universellen normativen Position gelangen soll. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Lässt sich das Sollen aus dem Sein – und aus welchem Sein überhaupt? – ableiten oder bleibt dies ein Fehlschluss, wie Hume konstatiert hat? Und wenn es ein Fehlschluss bleibt, was dann? Die genannten Probleme und Fragen treffen allesamt auch für Bourdieus Theorie der Praxis zu. Sie lassen sich an ihr besonders gut beobachten, weil Bourdieu zwar von Anfang seiner Forschungen an gesellschaftskritische Soziologie betrieben hat, aber seine Theorie nicht als kritische Theorie im hier verstandenen Sinne ausgeführt ist. Dass die angeführten Probleme sich nicht ohne weiteres umgehen lassen, wenn der Anspruch auf kohärente Theoriebildung besteht, zeigt sich an den wechselnden Positionen, die Bourdieu bezüglich des normativ-politischen Anspruchs des soziologischen Forschens einnimmt. Von der Weber’schen Wertneutralität, über die unvermeidlich politische Dimension soziologischer Theorie bis hin zu Begründungsversuchen normativer Maßstäbe finden sich bei ihm nahezu alle Möglichkeiten mit dem Begründungsproblem kritischer Theorien umzugehen. Im Folgenden geht es mir um ein Mehrfaches: Zum Ersten werde ich versuchen, die angerissenen allgemein theoretischen und gesellschaftstheoretischen Probleme herauszustellen, die mit dem Anspruch auf normativen Konsens verbunden sind. Zum Zweiten geht es mir um typische Umgangsweisen mit diesen Problemen, die unterschiedlichen Theorien zugerechnet werden können. Dabei werde ich die verschiedenen Problembewältigungsstrategien nicht von einzelnen Theorien ableiten, sondern umgekehrt in einer metatheoretischen Einstellung die Positionen erläutern. Zum Dritten wird Bourdieus Theorie der Praxis daraufhin befragt, welche Strategien in ihr an-
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gelegt und inwiefern sie konsistent oder widersprüchlich entwickelt sind. Schlussendlich geht es darum, ob die Theorie der Praxis als kritische Theorie zu verstehen ist oder das Instrumentarium eines kritischen Theoretikers bleiben muss.
II Karl Mannheim hat als Vertreter der sogenannten zweiten Frankfurter Schule, zu deren bürgerlichen Soziologie Adorno und Horkheimer Distanz gehalten haben (vgl. Barboza 2007: 79ff.), das theoretische Problem für seine Wissenssoziologie klar herausgearbeitet, mit dem auch jede kritische Theorie umzugehen hat: das Problem für die eigene theoretische Position mehr Wahrheit und/oder Richtigkeit zu beanspruchen, als für die als Ideologien kritisierten theoretischen Positionen. Vor dem theoriehistorischen Hintergrund der Historismen und Relativismen, die sich im 19. Jahrhundert auch als Folge des Marxismus etablieren konnten, tritt die Wissenssoziologie als Korrektur- bzw. Optimierungsdisziplin an, um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften vor allem gegenüber jeglicher Ideologiekritik zu verteidigen (vgl. Mannheim 1931). Die Lösungsvorschläge für das Problem, wissenschaftliche Wahrheit für Aussagen behaupten zu können, obwohl die Standortgebundenheit und damit Relativität nicht nur ihrer Entstehungs-, sondern auch ihrer Geltungsbedingungen nicht zu leugnen ist, müssen sich darum bemühen, klare Wahrheitskriterien zu explizieren. Und wenn es um Fragen politischer Ideen geht, stehen Kriterien der normativen Richtigkeit gleichermaßen in Frage. Dies hat Kurt Wolff in einer Lesart von Mannheims Wissenssoziologie deutlich herausgestellt, wenn er die kognitive Wahrheitsproblematik mit der normativen Wertungsproblematik verknüpft. Wie schon Horkheimer unterscheidet er eine zweckrational-instrumentelle Rationalität als subjektive Vernunft von einer objektiven Vernunft, die ein historisch in der Geschichte angelegtes, umfassend vernünftiges telos realisiert (vgl. Horkheimer 1991: 174ff., Wolff 1968: 139) – was immer das genau heißt. Mannheims Lösungsvorschläge für das benannte Problem der Selbstimplikation bei der Zurechnung von Theorien und Ideologien auf soziale Standorte – seien dies nun Klassen, Schichten, Milieus, Sekten oder was auch immer – kann nachhaltig nicht überzeugen. Zumindest die Variante nicht, in der nach einer sozialen Gruppe gesucht wird, die unabhängig von einem sozialen Standort ist und deshalb mehr sieht als alle anderen. Nicht zuletzt die Wissenssoziologen selbst sind Mitglieder dieser sogenannten freischwebenden Intelligenz (vgl. Mannheim 1985: 135), sofern sie darin geübt und ausgebildet sind, sozialen Standorten und deren theoretischen Aussagesystemen gegenüber Distanz einzunehmen. Distanzieren durch den relationierenden Vergleich von Standorten und Theorien ist die maßgebliche Bedingung für Wissenssoziologie in diesem Verständnis. Dass aber Wis-
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senssoziologen oder insgesamt eine freischwebende Intellektuellenschicht derart von Standort- und damit verwobenen Interessengebundenheiten enthoben sein soll, dass ihre Mitglieder in der Lage sind, die unterschiedlichen Theorien zu vermitteln, indem sie sie relationieren und für einen eingeschränkten Geltungsbereich partikularisieren, um sie dann ineinander zu übersetzen und die bewahrenswerten Aspekte jeweils von den nicht bewahrenswerten zu unterscheiden wissen, impliziert eine god perspective, die im Diesseits nicht recht vorstellbar ist und überzeugen kann. Die schwächere Version dieses wissenssoziologischen Programms erscheint demgegenüber plausibel, weil sie allein auf einen beständigen Dialog konkurrierender Positionen hinweist, der zumindest die Anstrengung unternimmt, einander zu verstehen und sich miteinander zu verständigen. Dies ist auch die sinngemäße Grundlage von Wolffs normativer Lesart von Mannheims Wissenssoziologie. Alle Hoffnung auf die Entfaltung objektiver Vernunft wird in die Möglichkeit transkultureller Verständigung gesetzt, die wiederum auf der Idee eines transkulturellen menschlichen Wesens fußt (vgl. Wolff 1968: 142), einem ‚gesetzten‘ anthropologischen Universal also. Damit ist aber das von Mannheim herausgestellte Problem genauso wenig gelöst wie mit dem Konzept der freischwebenden Intelligenz, sondern lediglich verschoben. Schließlich kann immer weiter gefragt werden, von welchem sozialen Standort aus die Idee der freischwebenden Intelligenz oder das Konzept der Verständigung durch Vermittlung und Übersetzung formuliert worden sind und wessen Interessen sie artikulieren.1 Das Verdienst dieser Reflexion bleibt allerdings, einen letztlich gesellschaftstheoretisch zu bearbeitenden Befund in den Vordergrund gerückt zu haben: kognitive und normative Wissensbestände variieren je nach ihren sozio-historischen Entstehungsbedingen und damit variieren offenbar auch Geltungsbedingungen. Dies ist für einen Wahrheitsbegriff gleichermaßen eine Herausforderung wie für die Begründung konsensfähiger Wert- und Normbezüge. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dieser Befund zudem, dass auch die eigene theoretische Stellungnahme – die hier vorliegende also – auf eine sozio-historische Stellung der entsprechenden Theoretiker zurückverweist: Er zwingt damit zur Reflexion auf die eigene wissenschaftliche Tätigkeit und auf die Paradoxie, eine Aussage mit Wahrheitsanspruch zu machen, deren Inhalt diesen Wahrheitsanspruch zugleich in Frage stellt. Für Wertungsansprüche zwingt er zudem dazu, reflexiv Rechenschaft abzulegen über die normativen Maßstäbe, derer man sich bedient.2
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Und dieser Einwand lässt sich auch aufrechterhalten, wenn man Mannheims Unterscheidung eines partikularen von einem totalen Ideologiebegriff berücksichtigt. Welcher Beobachter soll schließlich diese Unterscheidung von wo aus treffen können, ohne in die Paradoxie zu geraten, dass alles, was er jetzt sagt, notwendig falsch ist, wenn es wahr ist. Rahel Jaeggi (2009) hat kürzlich vergleichbare Probleme für die Ideologiekritik konsequent durchdacht und verfängt sich letztlich in der Begründungsproblema-
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Der wissenssoziologische Befund der Relationalität jedes gesellschaftlich etablierten Wissens wird gesellschaftstheoretisch verkompliziert, sobald die zu vage Zurechnung auf alle möglichen sozialen Strukturen wie Klassen, Schichten, Sekten, Milieus usw. mit Hilfe differenzierungstheoretischer Annahmen erweitert und präzisiert wird. Es kommt für moderne Gesellschaften nun hinzu, dass nicht nur herrschaftssoziologisch und ungleichheitssoziologisch nach Interessen der Mitglieder einer strata in Relation zu denen einer anderen strata gefragt wird, sondern es geraten auch mehr oder minder autonom konstruierte, gegeneinander ausdifferenzierte Teilbereiche der sozialen Welt insgesamt in den Blick. Und innerhalb dieser Teilbereiche entwickeln sich jeweils eigenständige Prozess- und Strukturlogiken als Praxislogiken. Mit der Ausdifferenzierung der modernen sozialen Welt vervielfältigen sich die Perspektiven auf Gesellschaft und Welt und die Frage danach, wer was wie beurteilt, kann Bereichs- oder – um Bourdieu ins Spiel zu bringen – feldspezifisch zugerechnet werden. Für das hier verhandelte theoretische Problem ist dies insofern von Interesse, als zunächst für die Wahrheitsproblematik auf das Feld der Wissenschaft verwiesen werden kann, in dem die Kriterien definiert werden, die über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage entscheiden und über die im Feld trotz aller Konkurrenz und Meinungsverschiedenheiten im Einzelfall zugleich Konsens besteht. Die zu einem historischen Zeitpunkt im Feld etablierten Theorien und Methoden sind es, die wissenschaftliche Wahrheit und Unwahrheit definieren. Die theoretischen Annahmen und methodologischen Programme können dabei im Feld beständig variieren, ohne aber in Frage zu stellen, dass Theorien formal den Gesetzen der Logik zu entsprechen haben und inhaltlich auf die empirisch beobachtbare Wirklichkeit bezogen, also operationalisierbar sein müssen. Schließlich müssen die Methoden Ansprüchen auf Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit genügen. Konsens über historisch durchaus variable Wahrheitskriterien wird also im Feld selbst hergestellt und beansprucht aufgrund der Erfolge der Erkenntnisproduktion auch über die Feldgrenzen hinaus Geltung. Allerdings bedeutet die Anerkennung außerhalb des Feldes der Wissenschaft nicht, dass in anderen autonomen Feldern wissenschaftliche Erkenntnisse praktisch wirksam sind. Ganz im Gegenteil finden sich in jedem der relativ autonomen sozialen Felder andere Kriterien und Routinen, nach denen je feldspezifisch bestimmt wird, ob eine Aussage für die Praxis des Feldes als relevant zu bewerten ist – und dies erneut vor
tik, auch wenn sie eine transformative Ideologiekritik vertritt. Die Probleme der Begründung der Kriterien der Auswahl von kritisierbaren gesellschaftlichen Zuständen und der normativ positiven Bewertung von Transformationsprozessen bleiben bestehen. Normativ nicht-funktionale Krisen als normativen Maßstab der Notwendigkeit von Kritik zu verstehen, erscheint genauso als Setzung wie die Annahme einer Transformation als Fortschritt. Vorausgesetzt wird dabei implizit, dass ein Beobachter das Wahre vom Falschen zu unterscheiden in der Lage ist. Von wo aus und wer, muss mit Mannheim nachgefragt werden.
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dem Hintergrund eines je feldspezifischen Konsens über die grundlegende Logik der Praxis des Feldes selbst. Wissenschaftliche Wahrheit kann zum Beispiel auch von Seiten der Politik als wissenschaftlich wahr akzeptiert werden, aber sie begründet keinen Konsens über politisch angemessenes Handeln. Politische Willensbildung folgt einer anderen Logik und anderen Interessen als denen der Erkenntnisproduktion. Gleichermaßen wird nach einer eigenständigen Logik der Praxis im Feld des Rechts bestimmt, was Recht ist und was nicht, und im Feld der Kunst wird definiert, was Kunst ist und was nicht. Auch wenn zwischen den einzelnen Feldern Abhängigkeiten und mehr oder minder starke Einflusspotenziale bestehen, so bleibt doch die Definitionsmacht über die Kriterien der Produktion von Wissenschaft, Recht, Politik, Kunst usw. dem jeweiligen Feld als autonomem Teilbereich der sozialen Welt vorbehalten.3 Diese differenzierungstheoretische Erkenntnis rückt mithin über das theoretisch-logische Problem kritischer Theorien hinaus das gesellschaftlich-praktische Problem einer Konsensperspektive in den Blick, die gesamtgesellschaftlich trägt und praktisch wirksam sein kann. Schließlich können alle Gesellschaftskritiken im Prisma der Logiken und Interessen der Felder gebrochen werden. So kann die ungleiche Verteilung von Nahrung, Reichtum und Bildung national wie international politisch ein zu behebendes Problem bedeuten, aber aus der Perspektive wirtschaftlicher Interessen einzelner Marktakteure durchaus als ein zu begrüßender Zustand gewertet werden. Des Weiteren kann die Skulptur einer mit Uniform bekleideten pinkelnden Polizistin im Feld der Kunst mit einem Nachwuchspreis ausgezeichnet, aber im Feld der Politik als Verletzung der Menschenwürde gelesen werden.4 Differenzierungstheoretisch erweitert lautet das theoretische Problem der Gesellschaftskritik demnach: Wie soll von welchem feldimmanenten Sein auf ein feldtranszendentes Sollen gekommen werden, das zudem konsensfähig und praktisch wirksam werden kann? Für normative und Wer-
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Gerade wenn die Autonomie einzelner Felder eingeschränkt wird, zeigt sich diese Logik sehr deutlich. Wenn von der Ökonomisierung der Gesellschaft gesprochen wird und damit gemeint ist, dass ökonomische Kriterien in eigentlich autonome Felder implantiert werden, dann wird damit letztlich nicht auf die ‚formale‘ Logik der Produktionsweise in den Feldern abgehoben, sondern vor allem auf die Auswahl der Inhalte. Die Logik wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion nach Theorien und Methoden bleibt bestehen, auch wenn die Wahl der Forschungsthemen sich nach ökonomischen Kriterien der außerwissenschaftlichen Verwertbarkeit richtet. Gleichermaßen müssen die formalen Verfahren der Rechtsprechung eingehalten werden, wenn Interessen des ökonomischen Feldes übervorteilt werden sollten, und die politische Gesetzgebung ist an das Prozedere demokratischer Willensbildung gebunden usw. Die Skulptur „Petra“ hat Marcel Walldorf geschaffen und echauffiert hat sich darüber Anfang 2011 Markus Ulbig als Innenminister Sachsens (vgl. taz 12.01.2011).
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tungsfragen hat sich schließlich kein gesellschaftlicher Teilbereich herausgebildet, der mit Blick auf den Zusammenhang aller anderen Felder und der Alltagswelt der sozialen Akteure legitim über normativ wünschenswerte und nicht wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklungen entscheidet und zudem über die institutionellen und organisatorischen Mittel verfügt, diese Wertungen durchzusetzen. Dies gilt letztlich auch trotz Parsons’ analytischem Modell des Systems moderner Gesellschaften, in dem immerhin ein Teilsystem funktional auf die Erhaltung von werthaften Strukturen bezogen ist (vgl. Parsons 1972: 20).5 Das Modell blendet allerdings als analytische Abstraktion von den konkreten Institutionen, Organisationen und weiteren sozialen Akteuren tendenziell die konfligierenden Interessen und konkurrierenden Praxislogiken in faktisch autonomisierten und sachlich gegeneinander differenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen aus. Selbstverständlich orientieren auch in modernen Gesellschaften Werte das konkrete Handeln, allerdings ist soziologisch die Brechung solcher Wertbezüge durch die Praxislogik relativ autonomer Felder oder allgemeiner: gesellschaftlicher Teilbereiche interessant, weil neben dem Alltag nur in diesen autonomisierten Bereichen mit eigenen Interessen und Logiken Werte aktualisiert werden können. Und dies kann dann erneut nur feldimmanent und nicht, wie Parsons suggeriert, feldtranszendent erfolgen – in systemtheoretischer Sprache müsste man von funktionssystemimmanent und -transzendent schreiben, ohne dass das Problem damit grundlegend ein anderes wäre.6 Die dominante differenzierungstheoretische Tradition der vergangenen vier Jahrzehnte, also die Theorie funktionaler Differenzierung in der Tradition Luhmanns, hat sich unter anderem aus diesem Grund von einem analytischen Systembegriff gelöst und nach Handlungs- bzw. Kommunikationszusammenhängen geforscht, die sich faktisch in der sozialen Wirklichkeit von anderen Zusammenhängen abgrenzen (vgl. Luhmann 1984: 16). Dies ist in dieser Hinsicht mit Bourdieus Theorie autonomer Felder ganz vergleichbar. Im Hinblick auf die Möglichkeit kritischer Theorie, die auf konsensfähige normative Maßstäbe setzen muss, fällt dann die Einschätzung vor dem Hintergrund der sachlich differenzierten modernen Gesellschaft skeptisch aus. Ein solcher Konsens wird empirisch und in seinen praktischen Konse-
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Die kybernetische Steuerungshierarchie, die Parsons für das allgemeine Handlungssystem einführt, liest das AGIL-Schema in diesem Sinne von hinten als LIGA-Schema. Das System der Strukturerhaltung (Latent pattern maintenance) legitimiert durch Werte die institutionalisierten Normen des sozialen Systems (Integration), welche wiederum in Persönlichkeitssystemen durch Sozialisation Präferenzen für bestimmte Ziele (Goal-attainment) hervorbringen, die wiederum die Anpassung (Adaptation) des Verhaltenssystems an die Umwelt orientieren. Im Falle von Parsons’ Theorie müssten an dieser Stelle die Konzepte der Interpenetration zwischen den Subsystemen und der symbolisch generalisierten Austauschmedien zur Bearbeitung des Problems herangezogen werden (vgl. Parsons 1980).
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quenzen für unplausibel gehalten, weil es kein übergeordnetes System gesamtgesellschaftlicher Beobachtung und Steuerung gibt. Aus diesem Grund wird auf einen normativ kritischen Anspruch der Theorie verzichtet: Als Möglichkeit bleibt dann natürlich noch eine abgeklärte Aufklärung, die Kritik im kantianischen Sinne als Eingrenzung und damit Grenzbestimmung der Möglichkeitsbedingungen von wertender Kritik begreift. Normativ geladene Gesellschaftskritik wird trotz allem beständig geübt, von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, den Massenmedien, den Kirchen und nicht zuletzt der Wissenschaft, auch und vielleicht zeitweise insbesondere von Seiten der Soziologie. Diese Kritiken sind aber zum einen wiederum an die Logiken der Felder ihrer Produktion gebunden und zum anderen sind für verbindliche Durchsetzungen von Sichtweisen auf soziale Wirklichkeit andere Felder, diejenigen der Politik und des Rechts, etabliert und mit den nötigen Mitteln und Instrumenten ausgestattet. Das Theorieproblem bleibt mithin auch als ein gesellschaftsstrukturelles Problem bestehen. Typische Umgangsweisen mit dem Problem der Kriterien Dies alles bedeutet nun nicht, auf Gesellschaftskritik und den Anspruch auf eine kritische Theorie verzichten zu müssen. Aber mit den genannten Problemen muss in irgendeiner Form umgegangen werden. Und dies kann vor dem Hintergrund des Problemaufrisses mehr oder weniger überzeugend gelingen. Wenn ich recht sehe, finden sich mindestens fünf Typen für den Umgang mit dem Problem der kritischen Theorie. Mit diesen Typen ist kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, allerdings wird beansprucht, dass kritische Theorien oder Arbeiten kritischer Theoretiker auf eine oder mehrere dieser Problemlösungs- oder Problemvermeidungsstrategien zurückgreifen.7 Grob lassen sich die Strategien danach unterscheiden, ob Kritik überhaupt als Theorieproblem thematisiert wird (a), ob das Theorieproblem anerkannt und mit theoretischen Mitteln auch eine Lösung formuliert wird (b), oder ob das Theorieproblem als Theorieproblem gesehen, aber als unlösbar akzeptiert wird (c).
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Luc Boltanski hat kürzlich in seinen Adorno-Vorlesungen einen vergleichbaren Versuch unternommen, um das Problem für seine Theorie der Rechtfertigungsregime zu durchdenken. Dabei rekonstruiert er das Problem weniger gesellschaftstheoretisch, als es hier erfolgt ist, wenn er die Spannung zwischen der deskriptiven Wissenschaft Soziologie und dem normativen Anspruch der Kritik herausarbeitet (vgl. Boltanski 2010: 28ff.).
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Ad (a): Naive Position: In diesem Fall wird das Theorieproblem nicht reflektiert. Man lässt es dahingestellt und übt dennoch Kritik vor dem Hintergrund gesellschaftlich etablierter Wertbezüge oder auch traditioneller Bezugspunkte von Gesellschaftskritiken. In der Regel stehen, wie in nahezu allen Gesellschaftskritiken, Herrschaftsphänomene im Zentrum, die auf die kapitalistische Verfasstheit moderner Gesellschaften zurückzuführen sind. Man kann an einen großen Teil marxistisch inspirierter Gesellschaftskritik denken (vgl. z.B. Hardt/Negri 2003), in der es als selbstverständlich erachtet oder auch als Selbstverständlichkeit gesetzt wird, dass kapitalistische Ökonomien die individuellen Akteure in Verhältnisse setzten, in denen sie aufgrund von Ausbeutung und Entfremdung leiden. Wie auch immer historisch variabel solche Verhältnisse und die Bedingungen von Leid und Entfremdung gedacht werden, so bleibt doch die zugrundeliegende und nicht weiter zu begründende Annahme leitend, dass Leiden und Entfremdung zu vermeiden sind. Theoretisch ist dies weiter nicht zu begründen, weil am Ende immer auf eine praktisch wirksame Wertsetzung verwiesen werden muss. Schließlich könnte man Leiden als einen letzten Bezugspunkt der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse mit theoretischem Interesse in Relation zur Kategorie ‚Leben‘ denken. Dann wäre zu überlegen, ob Leiden genau wie Entfremdung nicht eine der Möglichkeiten der Realisierung des natürlichen und sozialen Lebens sind und man müsste fragen, ob eine dieser Möglichkeiten von Leben höher zu werten ist als das Leben insgesamt und nach Maßgabe welcher theoretischer Kriterien dies erfolgen könnte usw.8 Dies ist weniger zynisch gemeint als es klingt und dient lediglich dazu, die Setzung von Begründungen der Kritik und ihre Übernahme aus praktischen Handlungszusammenhängen herauszustellen. Sofern dies nicht reflektiert oder mit Argumenten als für die Kritik notwendig begründet wird, bleiben solche Positionen naiv. Ad (b): 1. Naturalistisch-substanzielle Positionen: Als normatives Kriterium fungieren bei diesem Typus Annahmen über die wesenhafte Gleichheit von Menschen. Eine zugrunde gelegte Anthropologie bestimmt die Gattungsmerkmale und das spezifisch menschliche Weltverhältnis. Aus diesen Bestimmungen und der Annahme der Gleichheit können dann Vorstellungen eines guten oder gelingenden menschlichen Lebens hergeleitet werden. Es können auch Wege oder Verfahren zur Realisierung eines solchen Lebens 8
Und für Entfremdung ließe sich dies vergleichbar gedankenexperimentell durchspielen, wie man zum Beispiel noch kürzlich bei Hartmut Rosas (vgl. 2009) Versuch beobachten kann, der eine an Walzer geschulte partikulare normative Kritik mit einem universellen Maßstab anreichern will. Das „responsive Weltverhältnis“, dessen Verlust die Notwendigkeit der Kritik universell begründet, ist letztlich in einer werthaft aufgeladenen Annahme guten Lebens fundiert.
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formuliert werden. Die Bedingungen der Möglichkeit gelingenden und guten Lebens sind mithin von Natur aus gattungsspezifisch festgelegt und müssen ‚lediglich‘ expliziert werden. Das schließt historische Variabilität sozialer Welten und kulturelle Varianz des menschlichen Zusammenlebens nicht aus. Zu rechnen ist also mit kulturell verschiedenen Möglichkeiten, die die natürlichen Ansprüche an menschliches Leben zu entfalten in der Lage sind. Problematisch ist bei solchen Konzeptionen allerdings, ob sie dem Anspruch auf Ahistorizität und mithin Universalität der Anthropologie genügen können. Fraglich ist also, ob die zugrunde gelegte Anthropologie tatsächlich so etwas wie das Wesen menschlicher Existenz formuliert oder ob sie nicht vielmehr auf eine sozio-historisch partikular entstandene und etablierte Vorstellung von menschlichem Leben zurückzuführen ist und diese unzulässig generalisiert – und das bedeutet in diesem Fall auch, dass sie sie naturalisiert. Man könnte in diese Richtung zum Beispiel Plessner Grenzen der Gemeinschaft als Anthropologie der Neuen Sachlichkeit lesen (vgl. Lethen 1994), aber auch Honneths Anerkennungstheorie als Generalisierung bürgerlicher Ideale (vgl. Renn 2010). Jede Version einer Naturrechtslehre kann gleichermaßen diesem Typus zugeordnet werden – also auch die Menschenrechte. An der Differenz von normativem Ideal der Gleichheit der Natur des Menschen oder einer normativen Überhöhung der Vernunft und der Faktizität der sozialen Wirklichkeit lässt sich beobachten, dass das skizzierte Theorieproblem durch Setzungen von Natur- und Substanzvorstellungen nicht gelöst, aber doch invisibilisiert wird. Schließlich lassen sich empirisch vermutlich zumindest genauso viele Differenzen und Varianzen im Bereich menschlichen Lebens aufweisen wie Ähnlichkeiten. Darüber hinaus ist das differenzierungstheoretisch herausgestellte praktische Problem, feldübergreifend Konsens über die praktische Realisierung der normativen Ideale herzustellen, durch die Brüche und Widersprüche in der Durchsetzung von Natur- oder Menschenrechten plausibel zu machen.9 2. Ebenenunterscheidung: Eine weitere Möglichkeit ist es, davon auszugehen, dass die Relativität einer Aussage/Bewertung zu ihrem Entdeckungszusammenhang nichts über ihre Geltung aussagt. Ähnlich wie in der Logik Paradoxien durch die Unterscheidung einer Metaebene von einer Objektebene ‚aufgelöst‘ werden (vgl. Seiffert 1991: 90), so kann auch die Genesis von der Geltung von Aussagen unterschieden werden. Im Hinblick auf normative Prinzipien bedeutet dies, dass die normative Richtigkeit eines Bewertungsmaßstabs unabhängig von den sozio-historischen Bedingungen sei-
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Man kann hier an die Konflikte westlicher Staatengemeinschaften mit der Volksrepublik China denken. Allerdings auch an die Verletzung der Menschenrechte durch Staaten, die sich ihnen verpflichtet haben. Die völkerrechtlich illegitime Tötung Osama Bin Ladens ist dieser Tage ein beredtes Beispiel. Differenzierungstheoretisch ließe sich hier ein Konflikt zwischen den Felder der Politik und des Rechts konstruieren.
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ner Formulierung und Begründung Geltung beanspruchen kann. Die Krux an der Unterscheidung von Genesis und Geltung liegt jedoch darin, dass das, was als geltend behauptet wird, nicht unbedingt stimmen muss, sondern auch falsch sein kann. Es gilt zwar, dass 2x2=4 wahr ist, aber gleichermaßen gilt, dass 2x2=5 falsch ist. An mathematischen Beispielen ist dies gut zu verstehen und zu entscheiden, aber im Falle normativer Maßstäbe ist man darauf angewiesen, Begründungen und Plausibilisierungen zu akzeptieren. Die Prämissen, für die Geltung beansprucht wird, müssen dann konsequent erneut naturalisiert oder substanzialisiert werden wie in dem zuvor besprochenen Typus. Sollen sie zudem zumindest auf der Geltungsebene Konsens finden können, sind sie mit Blick auf die ausdifferenzierten Praxisfelder und ihrer je spezifischen Logik so abstrakt zu formulieren, dass die Anwendung in einer konkreten sozialen Situation stark auslegungsbedürftig und damit erneut von den partikularen Bestimmtheiten der historischen Situation abhängig bleibt. Dementsprechend spielt also die sozio-historische Situation der Genesis von normativen Begründungen im Hinblick auf den Begründungszusammenhang und dessen zugrunde liegenden Plausibilitäten durchaus in den Geltungsbereich hinein. Ahistorische Geltung kann dann weiterhin zu Recht angenommen werden, aber mit dem Problem, nach welchen Kriterien die Richtigkeit von wem zu welcher Zeit jeweils zu entscheiden ist. 3. Privilegierung einer sozialen Position oder Positionierung: Eine dritte Möglichkeit, mit den benannten Problemen umzugehen, besteht darin, ein historisch gewordenes Erzeugnis gegenüber allen anderen mit mehr oder weniger guten Gründen zu privilegieren. Dies ist im Grunde die Legitimierungsstrategie der klassischen Ideologiekritik. Die marxistische Privilegierung der Arbeiterklasse, aus deren Perspektive die Gesellschaft unverzerrt beobachtet werden kann, weil die Klasse kein Interesse an der Bestandserhaltung der Kräfteverhältnisse haben kann, wäre ein klassisches Beispiel. Gleichermaßen aber auch Adornos (vgl. 1973b: 49f.) Annahme, dass die Avantgarde Kunst beständig kritische Impulse hervorbringt oder auch das Konzept einer freischwebenden Intelligenz, wie es Mannheim formuliert hat. Diesem Typus sind aber auch die Formen sogenannter immanenter Kritik zuzuordnen, die die in einer Kultur, Epoche, Gesellschaft oder einem gesellschaftlichen Teilbereich formulierten normativen Ideale rekonstruiert, um die faktische soziale Praxis daran zu messen und den Abstand zwischen Anspruch und Praxis zu kritisieren. Privilegiert werden in diesem Fall spezifische kulturelle Wert- und Normvorstellungen gegenüber den davon abweichenden Wert- und Normorientierungen, die in differenzierten Praxisfeldern vorherrschen können. Mit einer dialektischen Logik findet sich ein Konzept immanenter Kritik schon bei Horkheimer und auch bei Adorno (vgl. 1977: 27), wenn beide die Differenz von Theorie und Praxis aufheben und die einseitige Realisierung der Vernunftpotenziale der Aufklärung in der Moderne kritisieren (vgl. Horkheimer/Adorno 1981). Gegenwärtig ist Michael Wal-
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zers kommunitaristisch-moralphilosophischer Ansatz prototypisch zu nennen, der die Legitimität der Kritik dadurch begründet, dass faktische Handlungen und Strukturen kollektiv anerkannten Wertorientierungen widersprechen (vgl. Walzer 1990). Eine neuere Variante immanenter Kritik wird als Soziologie der Kritik von Boltanski und auch Thévenot vorgeschlagen, die die Kompetenzen alltäglicher Akteure, Kritik zu betreiben, rekonstruieren und sie mit verschiedenen Regimen der Rechtfertigung, den cités bzw. Gemeinwesen verbinden, die kulturell hervorgebracht worden sind und die Kritik mit Vorstellungen von normativer Richtigkeit versorgen (vgl. Boltanski 2010, Boltanski/Thévenot 2007). Problematisch erscheint bei diesem Vorgehen vor allem die notwendige sozio-historische Partikularität der privilegierten Positionen und werthaften Positionierungen, aber auch, dass der normative Maßstab gar nicht aus der Theorie abzuleiten ist. Ein Ansatz rein immanenter Kritik verfügt mithin über kein Kriterium, mit dem wiederum darüber entschieden werden kann, ob die kollektiv anerkannten Wertorientierungen selbst vernünftig sind oder nicht. Eine Gemeinschaft kann sich schließlich, aus welchen historischen Gründen auch immer, auf Wertorientierungen geeinigt haben, die für einen kritischen Theoretiker nicht mit einem Verständnis über gelingendes Leben zusammenzubringen sind. Es gibt dann tatsächlich kein richtiges Leben im falschen – wenn an dieser Stelle dieser Satz etwas frei interpretiert werden darf. Gerade diejenigen immanent kritischen Ansätze, die die normativen Maßstäbe aus der Kompetenz der Akteure oder aus einer sozio-historischen Situation mitsamt ihren Institutionen herauslesen, stehen vor dem Problem, dass sie entweder annehmen müssen, dass die Akteure sich im Prinzip auf etwas Gutes verständigen oder sie müssen annehmen, dass sie von einem besonderen Standort innerhalb der Gesellschaft besser sehen können als die sozialen Akteure selbst. Entweder werden also normative anthropologische Annahmen unexpliziert vorausgesetzt oder es wird auf die Möglichkeit klassischer Aufklärung durch den soziologischen Beobachter gesetzt. Im letzten Fall wird das Feld der Wissenschaft als privilegierter Ort der Beobachtung der wünschenswerten Verhältnisse ausgezeichnet. Zumindest ist der kritische Theoretiker mit Mitteln und Kompetenzen ausgestattet, die es ihm erlauben, den Akteuren des Alltags oder der verschiedenen Felder, ihre Situation derart zu veranschaulichen, dass Kritik gerechtfertigt erscheint. 4. Formale statt inhaltliche Kriterien: Dem Problem, sozio-historisch partikulare Positionen zum Maßstab der Kritik zu nehmen, ohne diese Positionen selbst normativ beurteilen zu können, kann man entgehen, wenn der Maßstab formalisiert, also geradezu völlig inhaltsleer formuliert wird. In diesem Fall hat man es mit einer kritischen Theorie zu tun, die Verfahrenswege expliziert und als notwendig begründet, mit denen historisch und inhaltlich spezifisch Konsens über die normative Richtigkeit von Handlungen und Strukturen hergestellt werden kann. Prototypisch kann hier an Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns gedacht werden (vgl. Haber-
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mas 1981: 369ff.). Sie gibt keine inhaltliche Bestimmung dessen vor, was ein gutes und richtiges Leben ist, aber sie weist ein Rationalitätspotenzial für lebensweltliches, sprachliches Handeln nach, das unter besonderen Bedingungen entfaltet werden kann, die nicht mit den faktischen, systemisch kolonisierten der modernen Gesellschaft übereinstimmen. Stärker auf die konkreten gesellschaftlichen Gegebenheiten ist Honneths Anerkennungstheorie bezogen. Wie Joachim Renn (vgl. 2010: 11) herausgearbeitet hat, erkauft sie sich diese Nähe mit dem Verlust des Universalitätsanspruchs, dem sie als Moralphilosophie genügen soll. Gesteigert wird dieser Sachverhalt noch dadurch, dass der komplexen und vielfältigen Differenzierung von Praxisfeldern moderner Gesellschaften bei Honneth nicht Rechnung getragen wird. Ad (c): Verzicht auf den Anspruch einer kritischen Theorie, aber nicht des kritischen Theoretikers: Zu guter Letzt besteht die Möglichkeit, die herausgearbeiteten theoretischen Probleme einer kritischen Theorie als unlösbare Probleme zu akzeptieren und darauf zu verzichten, eine Theorie zu formulieren, die ihre normativen Maßstäbe der Kritik ausweisen kann. Prototypisch für diese Position können Max Webers Konzepte der Wertbeziehung und Werturteilsfreiheit gelesen werden (vgl. Weber 1988: 511ff.). Bekanntermaßen hat Weber nicht auf Gesellschaftskritik verzichtet, aber dennoch den Anspruch abgelehnt, dass aus den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung normative Urteile abgeleitet werden können. In diesem Sinne und nur in diesem Sinne, dass ein Sollen nicht aus der Deskription des Seins abgeleitet werden kann, ist Wissenschaft für Weber dann notwendig wertfrei und der Werturteilsfreiheit verpflichtet. Das heißt aber nicht, dass die Auswahl der Forschungsgegenstände in wertneutraler Haltung erfolgt. Die Wertbeziehung des soziologischen Forschers besteht letztlich darin, dass er in eine kulturhistorisch und sozialstrukturell bestimmte Situation gestellt und als sozialisierter Handelnder in seiner alltäglichen und professionellen Praxis werthaft und normativ orientiert ist. Nicht jede Gegebenheit der sozialen Wirklichkeit erscheint dem Forscher mithin für die Forschung gleich relevant. Bestimmte Aspekte und Geschehnisse erscheinen kulturbedeutsamer als andere. Die Einschätzung der Kulturbedeutsamkeit ist es dann, die die Auswahl des Gegenstandes der Forschung bestimmt. Als kritischer Theoretiker kann Weber zum Beispiel die versachlichende Rationalisierung unterschiedlicher Wertsphären bedauern, die Fachmenschen ohne Geist erzeugt (vgl. Weber 1920: 204), und er kann Kapitalismus und Bürokratie als „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ kritisieren (vgl. Weber 1920: 203), aber er kann diese Urteile nicht durch seine Analysen von Kapitalismus, Bürokratie und Wertsphären normativ unterfüttern. Eine weitere Möglichkeit, mit dem Verzicht auf eine normativ begründete kritische Theorie umzugehen, besteht für einen kritischen Theoretiker darin, die Theorie selbst als politische Praxis zu begreifen. Zu denken ist
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hier an Foucault und die Folgen, also Ansätze, die Kritik als partikular widerständige und subversive Praxis begreifen und betreiben (vgl. Butler 2009). Die Differenz von Theorie und Praxis wird somit aufgehoben und dies in ganz vergleichbarer Weise zur frühen Frankfurter Schule. Im Unterschied zu dieser wird allerdings keine soziale Position oder Positionierung privilegiert oder eine Annahme über die objektive Vernunft der Geschichte gemacht. Widerständig subversive Praxis erzeugt Spielräume des Handelns und einen Sinn für alternative Möglichkeiten. Als Praxis verstanden ist die Wirksamkeit theoretischer Interventionen vorausgesetzt. Allerdings ist es durchaus fraglich, ob theoretische Interventionen nicht überschätzt werden, wenn ihre praktische Wirksamkeit allein durch die Publikation sichergestellt werden soll.10 Sie können es jedoch durchaus sein, wenn es gelingt, eine von den als legitim anerkannten Sichten auf soziale Wirklichkeit abweichende Konstruktion zu formulieren und durchzusetzen. Dies können gleichermaßen provokante und damit Aufmerksamkeit erzeugende Sichtweisen sein wie traditionell im Dienste der Aufklärung stehende Forschungen, die zum Beispiel politische Programmatiken hinterfragen und auf ihren ‚Wahrheitsgehalt‘ prüfen.11 Wie geht Bourdieu mit dem Problem der normativen Grundlagen kritischer Theorie um? Bourdieus Umgang mit dem kritischen Anspruch seiner Theorie und ihrer politischen Dimension variiert im Laufe der Entwicklung seines Werkes. Die Spannbreite reicht vom Anschluss an Webers Diktum der Werturteilsfreiheit jeder Sozialwissenschaft (Soziologie als Beruf) – mit starken Vorbehalten gegenüber Theorien, die diesem Diktum nicht folgen – bis hin zu den intellektuell politischen Schriften, die in den Gegenfeuerbänden versammelt sind und Theorie als politische Praxis betreiben. Dort schreibt Bourdieu (vgl. 1998b: 7) beispielsweise davon, dass er sich lange der Wertfreiheit untergeordnet hat, aber nun davon überzeugt ist, dass er sich als Intellektueller politischen Fragen stellen muss. Die Verbindung von Wertfreiheit und der Figur des Intellektuellen kann an dieser und vergleichbaren Stellen so gelesen werden, dass Bourdieu keinen Widerspruch darin sieht und die Behandlung politischer Fragen offenbar eine Konsequenz aus der 10 So versteht zum Beispiel Slavoj Žižek seine Publikationen unmittelbar als politische Interventionen, wie er unlängst in einem Interview in der taz bemerkt hat (vgl. taz 25.06.2010). 11 Wenn etwa Familienministerin Köhler/Schröder behauptet, dass muslimische Jungen deutlich gewaltbereiter sind als nicht-muslimische, dann kann dies mit wissenschaftlichen Methoden geprüft und gegebenenfalls begründet kritisiert und korrigiert werden. Der politische Kampf wird sich dann sicherlich als Debatte um die richtige Statistik drehen, weil weiterhin die Logik der politischen Praxis und nicht wissenschaftliche Wahrheit das Feld der Politik definiert.
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wissenschaftlichen Tätigkeit zu sein scheint. Das Letztere ist besonders zu betonen, weil damit die Abkehr von der Weber’schen Position deutlich wird. Der Soziologe ist als Intellektueller nicht mehr derjenige, der seine Meriten im Feld der Wissenschaft erworben hat und seine Kompetenzen im politischen Feld einsetzt, um Gutes zu bewirken. Eine solche Position ist ja durchaus unproblematisch mit Webers Konzept der Wertbeziehung zu vereinbaren. Bourdieu geht es in den Gegenfeuerbänden darüber hinaus aber darum, dass Soziologie gar nichts anderes sein kann, als ein politisches Projekt. Wenn man, wie Bourdieu, die politische Praxis als Kampf um die Durchsetzung von Weltsichten begreift, dann wird jede Praxis, die sich um die Konstruktion sozialer Wirklichkeit bemüht, zu einer politischen Praxis. Bourdieu belässt es in seinem Werk jedoch nicht bei diesem Übergang von der Möglichkeit des Soziologen, als Intellektueller zu wirken, zur Notwendigkeit des Soziologen, ein Intellektueller zu sein. In „Vom Gebrauch der Wissenschaft“ (vgl. 1998a: 59) formuliert er gleichsam ergänzend und im – man könnte sagen – fundierenden Kontrast zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, dass die im wissenschaftlichen Feld historisch errungene Vernunft gegen gesellschaftliche Widerstände verteidigt werden muss, die im oder außerhalb des Feldes erzeugt sind. Zu denken ist hier natürlich an die Unterordnung wissenschaftlicher Vernunft unter politische oder wirtschaftliche Interessen, aber auch – so ungefähr lässt sich das Ende von „Science de la science et réfléxivité“ lesen (vgl. Bourdieu 2001c: 221ff.) – unter feldinterne Konkurrenzrelationen, die durch die wiederum feldinternen sozial ungleichen Verteilungen feldspezifischer Kapitalformen hervorgebracht werden. Die wissenschaftliche Vernunft erscheint in diesem Zusammenhang mithin als ein unbedingt gegen heteronome Ansprüche zu verteidigender normativer Maßstab, der politische Praxis orientieren kann. Für das Feld der Wissenschaft fordert Bourdieu dementsprechend eine Realpolitik der Vernunft (vgl. 1998a: 60). Eine solche Politik würde darin bestehen, vernunfthemmende Strukturen zu analysieren und in einer politischen Praxis daran zu arbeiten, diese Strukturen umzugestalten, um so etwas wie die Habermassche ideale Sprechsituation faktisch werden lassen zu können. Sortiert man diese Standpunkte mit der vorgeschlagenen Typologie, dann fällt auf, dass Bourdieu offenbar mehrere der genannten Umgangsweisen miteinander verknüpft. Wobei diese Verknüpfung weit davon entfernt ist, theoretisch konsistent entwickelt worden zu sein. Zunächst findet sich in den beiden genannten Ausprägungen der Typus des kritischen Theoretikers, der auf eine normative Begründung der Theorie verzichtet. Zum Ersten in der Tradition von Webers Konzept der Wertbeziehung und Werturteilsfreiheit und zum Zweiten im Verständnis der Theorie als politischer Praxis. Daneben sind die Versuche zu stellen, den normativen Maßstab der eigenen Theorie auszuweisen. Die genannten Stellungnahmen beinhalten sowohl eine Position der Privilegierung sozialer Standorte, spezifiziert als Felder, als auch Annahmen über die Privilegierung his-
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torisch entstandener sozialer Positionierungen. Die Positionierung wird als eine durch die Autonomisierung sozialer Felder irgendwie zum Abschluss gekommene und deshalb zu verteidigende historische Errungenschaft verstanden: die wissenschaftliche Vernunft. Es finden sich vergleichbare Äußerungen zu den Errungenschaften kulturell-künstlerischer Felder. Neben der Privilegierung eines besonderen Standortes werden also zugleich historisch spezifische inhaltliche Positionen anderen gegenüber privilegiert, vergleichbar der bürgerlichen Kultur und Avantgarde Kunst bei Adorno. Eine historisch gewachsene Universalie scheint Bourdieu mithin zu behaupten.12 Aber warum hat man es im Falle wissenschaftlicher Vernunft oder moderner Kunst mit Positionierungen zu tun, die privilegiert und unbedingt zu verteidigen sind? Der normativ implikationsreiche Grund dafür wird durch die Idee der historischen Errungenschaft eingeführt. Historische Errungenschaften sind kulturelle Erzeugnisse, die viele Jahre Zeit und besondere gesellschaftliche Entwicklungen benötigt haben, um überhaupt entstehen zu können. Aber welche theoretischen Kriterien könnten eine solche Auszeichnung ganz bestimmter historischer Erzeugnisse begründen? Es ist etwa die Rede davon, dass Picasso erst nach fünfhundert Jahren Kunstgeschichte möglich wurde und deshalb als kulturelle Errungenschaft einzustufen ist (vgl. 2001b: 88). Ist das aber ein haltbares Kriterium? Ab wie vielen Jahren ist ein kulturelles Erzeugnis eine Errungenschaft? Nach welchen Kriterien lässt es sich von anderen Erzeugnissen unterscheiden, die keine vergleichbare Errungenschaft sind? Und vor allem habe ich das vermeintliche Argument bei Bourdieu nur für Kultur/Kunst/Wissenschaft finden können, nicht aber etwa für die moderne, kapitalistische Wirtschaft, die für das Bedingungsgefüge, in dem sich die kulturellen Felder autonomisieren können, sicherlich nicht von unwesentlicher Bedeutung ist.
III Betrachtet man nun abschließend Bourdieus theoretisch-begriffliches Instrumentarium im Hinblick auf seine normativen Annahmen, die den kritischen Anspruch seiner Theorie fundieren sollen, dann scheinen beide im Widerspruch zueinander zu stehen. Dies betrifft zunächst die – zugegeben von mir für jede kritische Theorie unterstellte – Konsensorientierung. Schließlich steht im Kern von Bourdieus Theorie der Praxis der Begriff ‚Kampf‘. Immer geht es im Rahmen seiner Theorie um soziale Kämpfe zwischen Akteuren, die im sozialen Raum oder in den einzelnen Feldern sozial ungleich in Relation zueinander stehen. Gekämpft wird um Kapitalverfüg-
12 Etwas vorsichtig lässt sich sogar ein geschichtsphilosophischer Bias vermuten, wenn Bourdieu darauf insistiert, die kulturellen Errungenschaften zu verteidigen oder auch darauf, dass der Prozess der Autonomisierung von Feldern noch nicht zu einem Ende gelangt ist (vgl. Bourdieu 2001a: 30).
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barkeiten und die damit verbundene Sicherung einer hohen oder Verbesserung einer relational niedrigeren Position in Raum und Feld. Kampf versus Konsens also. Für wissenschaftliche Wahrheit erscheint Konsens aus der Sicht Bourdieus erst dann möglich, wenn alle externen Ansprüche und internen Konkurrenzfaktoren möglichst ausgeschlossen werden können. Diese Vorstellung bleibt jedoch kontrafaktisch und kann vor dem Hintergrund der Theorie der Praxis maximal als regulative Idee fungieren. In diesem Sinne lässt sich auch verstehen, dass Bourdieu mit Hilfe der Feldtheorie die Reflexion auf die je eigenen Bedingungen der Produktion wissenschaftlicher Wahrheit anleiten will, um möglichst forschungsfremde Einflüsse auf die eigene Forschung zu vermeiden (vgl. Bourdieu 1998a: 57ff.). Maximal eine regulative Idee bleibt es jedoch, weil die Theorie der Praxis sonst nicht als allgemeine Sozialtheorie verstanden werden könnte, wenn unter bestimmten Bedingungen die Logik der Praxis völlig anders als eine Ökonomie der Praxis bestimmt wäre – unabhängig davon, ob es sich um eine symbolische oder ökonomische Ökonomie handelt. Zweitens steht der Begriff ‚Habitus‘ im Weg. Einmal, weil er dem Bewusstsein weitgehend unverfügbare Dispositionen bezeichnet, die man zwar mit wissenschaftlichen Mitteln bewusst machen, aber durch diese Bewusstmachung nicht verändern kann. Differenzierungstheoretisch ist zudem von einer Multiplikation unterschiedlicher Habitnjs auszugehen, so dass damit auch die Chancen auf Einigung, z.B. im Rekurs auf wissenschaftliche Vernunft, gering einzuschätzen sind. Drittens steht der herrschaftssoziologische Grundzug der Theorie im Weg, denn Bourdieu hat für moderne Gesellschaften feststellen können, dass sie sich offenbar konstitutiv sozial ungleich strukturieren, als Klassengesellschaften und als sozial ungleich relationierte Felder (intern und extern). Diese Ungleichheitsstrukturen sind zugleich der Motor der Kämpfe. Wenn diese empirische Beobachtung theoretisch für moderne Gesellschaften zu verallgemeinern ist, erscheint es mithin ausgesprochen schwierig, klassenübergreifend Konsens theoretisch wie praktisch herzustellen. Viertens ist die Theorie der Praxis als historische Soziologie zu begreifen, die keine naturalistischen oder naturalisierenden Annahmen zugrunde legt und soziale Wirklichkeit aus ihrer historischen Entwicklung heraus verstehen und erklären möchte. Sie ist damit auch notwendig eine Theorie der Kontingenz aller historischen Errungenschaften und muss die Veränderbarkeit normativer, aber auch kognitiver Kriterien berücksichtigen. Bourdieu hat sich deshalb auch in einem Gespräch mit Axel Honneth überaus skeptisch gegenüber einer normativen Grundlegung einer Sozialtheorie geäußert: „Ich neige eher dazu, die Frage der Vernunft bzw. der Normen auf radikal historizistische Weise zu stellen. Meine Ausgangsfrage wäre eher: Wer hat Interesse am Universellen? oder auch: Welche gesellschaftlichen Bedingungen müssen erfüllt sein, damit bestimmte Akteure sich fürs Universelle interessieren? [...] Der Historizismus ist, so meine Meinung, bis zum Äußersten zu treiben, vermittels radikalen Zweifelns,
284 | G REGOR B ONGAERTS um dann zu sehen, was wirklich noch zu retten ist... Sicher, man kann die universelle Vernunft auch gleich zu Anfang postulieren. Davon halte ich nichts. Vielmehr meine ich, daß auch die Vernunft aufs Spiel gesetzt, ein für alle mal akzeptiert werden muß, daß auch sie ein historisches Produkt ist, in ihrem Bestand und in ihrer Fortdauer von einem bestimmten Typ gesellschaftlicher Bedingungen abhängt. Man muss alles riskieren, selbst noch die Vernunft, will man sie mit einigen Aussichten auf Erfolg wirklich retten.“ (Bourdieu 1992b: 43f.)
Die Einforderung eines radikalen Historizismus bedeutet streng genommen nicht nur eine Absage an eine vorschnelle Postulierung der universellen Vernunft, sondern auch Skepsis gegenüber der Möglichkeit, eine solche überhaupt zukünftig begründen zu können. Schließlich lassen sich nur schwer Kriterien vorstellen, mit denen entschieden werden könnte, wann der gesellschaftsgeschichtliche Prozess hegelianisch so weit zu einem Ende gelangt ist, dass nun das Feld der Wissenschaft ahistorisch Universelles produzieren könnte.13 Dementsprechend sieht sich Bourdieu fünftens durch die wissenssoziologische Einsicht in die Historizität und soziale Relationalität dazu verpflichtet, Soziologie als reflexive Wissenschaft zu begreifen. Ganz im Sinne Karl Mannheims ist die Theorie der Praxis sich der eigenen Prägung durch ihre sozio-historischen Entstehungsbedingungen bewusst und versucht, diese in die theoretische und empirische Arbeit zu integrieren. Ein Problembezug der Feldtheorie ist es ja, die Reflexion auf die Bedingungen der eigenen Forschung zu ermöglich und den Forschungsprozess dadurch zu optimieren. Feldanalyse als Forschungsoptimierungsforschung also. Nimmt man das bis hierher Gesagte zusammen, dann lässt sich schlussfolgern, dass mit den Mitteln von Bourdieus Theorie keine kritische Theorie im hier zugrunde gelegten Verständnis entwickelt werden kann. Allerdings bietet sie ein ausgereiftes Instrumentarium für kritische Theoretiker, die sich über die historisch-kontingenten normativen Implikationen ihrer kritischen Interessen forschend bewusst werden und aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen für eine Realpolitik der Vernunft ziehen können. Mit dem Konzept des kollektiven Intellektuellen (vgl. Bourdieu 2001b: 36ff.), der die wissenschaftlichen Kompetenzen in den Dienst von politischen Kämpfen, Kämpfen in einem anderen Feld also, stellt, hat Bourdieu dies getan. Vielleicht hätte er es dabei als Theoretiker auch belassen sollen.
13 Optiert man an dieser Theoriestelle anders, läuft man Gefahr, geschichtsphilosophisch zu argumentieren, wie ich dies weiter oben für die normative Aufladung wissenschaftlicher Vernunft schon angedeutet habe.
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Bourdieu, Habermas und die kritische Pädagogik S VEN K LUGE
Der vorliegende Beitrag fokussiert unter der Zugrundelegung eines spezifischen Blickwinkels auf das weite Themenfeld ‚Bourdieu, Habermas und die kritische Pädagogik‘: Im Zentrum steht vorab die zu entfaltende und untermauernde These, dass Bourdieus Kultursoziologie eine in weiten Teilen überzeugende und konstruktive Kritik an jener Hauptströmung der kritischen Erziehungswissenschaft ermöglicht, welche sich in der Bundesrepublik zu Beginn der siebziger Jahre etabliert hatte. Kennzeichnend für diese z.T. schon im Verlauf derselben Dekade wieder an Bedeutung verlierenden Ansätze ist durchweg die starke Aufnahme der Theorien von Jürgen Habermas, denen in vielerlei Hinsicht eine Kompatibilität mit pädagogischen Fragestellungen attestiert wird. Das Gros der in Bourdieus Schriften auszumachenden Einwände gegen die Habermas’sche Kommunikations- und Diskurstheorie trifft deshalb, dies ist im Folgenden zu zeigen, unweigerlich zugleich auf die eng an seine Variante einer Kritischen Theorie anschließende Erziehungswissenschaft zu. Seine Anfechtungen legen dabei wesentliche Ursachen für den zu konstatierenden Niedergang dieser pädagogischen Modelle (der sich nicht zuletzt in dem Verlust von Euphorien und Hoffnungen manifestiert) sowie für die beachtlichen Erfolge der von neokonservativer und/oder phänomenologischer Seite vorgebrachten Einsprüche offen, welche aus einer Bourdieu’schen Sicht mit ihrer Betonung der Leiblichkeit, des Kulturrelativismus und des Konventionellen keineswegs nur ins Leere gezielt haben. Vielmehr wurde hier scheinbar an vorhandenen Schwächen der Emanzipationsidee angesetzt, die es wahr- und ernstzunehmen gilt. Genau an diesem Punkt kann unter Rekurs auf die soziologischen Analysen Bourdieus eine völlig anders gelagerte, proaufklärerische Kritik generiert werden, der sich Anregungen für eine Weiterentwicklung der kritischen Pädagogik entnehmen lassen. Damit ist das vorrangige Anliegen dieses Aufsatzes umrissen; natürlich wird in diesem Kontext auch das von ihm dargebotene Modell einer ‚rationalen Pädagogik‘ in die Diskussionen miteinbe-
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zogen. Allerdings drängt insbesondere dieses Konzept zur Formulierung von notwendigen Rückfragen: Inwiefern sind mit der Bourdieu’schen Position neue Problematiken verknüpft; leistet diese mit Bezug auf bildungstheoretische Reflexionen eventuell sogar Verkürzungen Vorschub? Für eine angemessene Bearbeitung dieser Vorhaben und Fragen ist es unabdingbar, zunächst – in der gebotenen Knappheit – einige Grundlinien der an Habermas anknüpfenden Erziehungswissenschaft zu skizzieren (1). Im Anschluss an diese Ausführungen konzentriere ich mich in einem zweiten Schritt auf die Erschließung der weitreichenden, aber nicht totalen Habermas-Kritik von Bourdieu, welche in ihrer Quintessenz auf die beleuchteten pädagogischen Ansätze übertragbar ist (2). Ausgehend von diesen Vorarbeiten ist es schließlich möglich, eine Kontroverse einzuleiten, in deren Rahmen die produktiven Anregungen Bourdieus ebenso thematisiert werden wie die zuvor angedeutete Intention einer Antikritik (3).
1. G RUNDLINIEN DER VON H ABERMAS INSPIRIERTEN E RZIEHUNGSWISSENSCHAFT Bei allen kleineren oder mitunter größeren Differenzen im Detail vereint die sich seit den späten sechziger Jahren herauskristallisierenden Konzepte einer kritischen Erziehungswissenschaft, welche in erster Linie mit den Namen von Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klafki, Herwig Blankertz sowie (mit einigen Abstrichen; vgl. Hoffmann 1980: 74ff.) Klaus Schaller und KarlHerrmann Schäfer verbunden sind, die ausgeprägte Orientierung an den zeitgenössischen Publikationen von Habermas.1 Eigens aus der Retrospektive sticht dagegen hervor, dass innerhalb jenes Spektrums systematische Auseinandersetzungen mit der älteren Kritischen Theorie summa summarum vollständig ausgeblieben sind (vgl. Dammer 1999). Es wird – hinsichtlich der Fundierung des kritischen Anspruchs – fast ausschließlich auf dessen wissenschafts- und erkenntnistheoretische Schriften rekurriert, die sich bereits in jener Ära signifikant von den Entwürfen Adornos, Horkheimers oder auch Marcuses abheben: „[...] die positive Neuorientierung der Bildungstheorie (wurde) unter Rückgriff auf [...] Habermas begründet, dessen Interessen-Lehre, vor allem aber dessen Theorie des kommunikativen Handelns die Grundlage für die Formulierung ‚emanzipatorischer Lernziele‘,
1
Zu unterscheiden von den üblicherweise unter dem gängigen Label ‚kritische Erziehungswissenschaft‘ zusammengefassten Ansätzen sind indessen die weitaus weniger Popularität erringenden Modelle einer materialistischen Erziehungswissenschaft (vgl. Gamm, H.-J./Huisken, F.) sowie andere von ihrer Konstituierung her ebenfalls dem Umfeld der frühen kritischen Pädagogik zuzurechnende Konzeptionen unzeitgemäßer Couleur, die größere Nähen zur Kritischen Theorie der sog. ‚ersten Generation‘ aufweisen (primär ist hier an die Arbeiten Heydorns und Koneffkes zu denken).
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namentlich der ‚kommunikativen Kompetenz‘ bildete“ (ebd., 190). Die gewichtigsten Gründe dafür, warum der Habermas’sche Neuentwurf einer kritischen Gesellschaftstheorie just in diesen Kreisen eine derart hohe Wirkungsmächtigkeit entfalten konnte, wurden indes andernorts überzeugend erörtert (vgl. exemplarisch Peukert 1983; Keckeisen 1989; Krüger 1999). Im Folgenden sollen und können keineswegs sämtliche Facetten dieser insgesamt gut untersuchten Rezeptionsgeschichte rekonstruiert werden; vielmehr konzentrieren sich die Darlegungen auf eine pointierte Herausstellung und Vertiefung der für unsere Thematik relevantesten Aspekte. Zuallererst ist hierbei auf die bezüglich der Habermas-Rezeption überaus bedeutsame geisteswissenschaftliche Herkunft zu verweisen, welche alle frühen Vertreter der kritischen Erziehungswissenschaft miteinander teilen. Die jeweiligen Prägungen durch geisteswissenschaftlich-hermeneutische Zugänge2 und Standpunkte behalten in diesem Feld weiterhin einen unübersehbaren Einfluss; die – in manchen Fällen resolut wirkenden, z.T. aber auch sehr gemäßigt formulierten – Einwände gegen die philosophischen und politischen Implikationen der Pädagogik Herman Nohls, Erich Wenigers, Wilhelm Flitners etc. dürfen mitnichten über vorhandene Kontinuitäten hinwegtäuschen (vgl. Keckeisen 1989: 490). Zwar problematisieren und revidieren die zu vernehmenden Kritiken an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zweifellos den Kulturkonservatismus und den lebensphilosophisch inspirierten, letztlich affirmativen Idealismus ihrer Protagonisten in erheblichem Maße, sie haben jedoch stets ihre Grenzen und zeichnen sich nicht durch einen radikalen Zuschnitt aus. In diesem Zusammenhang lässt sich derweil die These vertreten, dass Habermas’ in etwa simultan erfolgende Abarbeitung an den von ihm benannten ‚Defiziten‘ der klassischen Kritischen Theorie (vgl. die bündige Sammlung in Habermas 1985: 173ff.) den Revisionsbestrebungen dieser Erziehungswissenschaftler in vielerlei Hinsicht soweit entgegen kommt, dass eher eine Nicht-Rezeption verwunderlich gewesen wäre. Deutliche Affinitäten zu seiner in Abgrenzung von Adorno, Horkheimer et al. schrittweise entwickelten Variante einer Kritischen Theorie ergeben sich vornehmlich im Hinblick auf die nachstehend aufgelisteten Korrekturen bzw. Innovationen: •
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2
Die nachhaltige Distanzierung von einer materialistischen Grundlegung der Gesellschaftstheorie im Anschluss an Marx (und der damit d’accord gehenden reduktionistischen Fassung des Arbeitsparadigmas), die frühzeitig einsetzenden bzw. sich andeutenden (Sphären-)Trennungen (zwischen Arbeit und Interaktion, materieller und symbolischer
Hauptinspirationsquelle dieser Strömung ist die Philosophie Wilhelm Diltheys; mit Bezug auf die einzelnen Repräsentanten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist fernerhin und vorwiegend eine Berufung auf weitere Modelle lebensphilosophischer Provenienz, romantisches Gedankengut, die Philosophie Platos und/oder rechtshegelianische Denktraditionen zu konstatieren.
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•
Reproduktion, ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘) – jene Zweistufigkeit harmoniert mit den für die geisteswissenschaftliche Pädagogik konstitutiven Dichotomien (‚Zivilisation‘/‚Kultur‘; ‚Gesellschaft‘/‚Gemeinschaft‘) besser als eine an Marx geschulte Totalitätsperspektive –, den Bruch mit dem speziell aus pädagogischer Sicht dilemmatischen Negativismus Horkheimers und Adornos zugunsten der Generierung einer optimistischeren, zum Praktisch-Konstruktiven hin offenen Entwicklungslehre sowie – last not least – , die von Karl-Otto Apel entscheidend mitangeregten moral- und bildungstheoretischen Reflexionen, welche auf die Topoi Sprache, Kommunikation und Diskurs ausgerichtet sind; beide rekurrieren bekanntlich in diesem Kontext u.a. auf (neu-)humanistische Quellen und die Philosophie des Deutschen Idealismus – hier bieten sich insbesondere von einer geisteswissenschaftlichen Warte aus Anknüpfungsoptionen.
Vor diesem noch genauer zu beleuchtenden Hintergrund sind es vornehmlich, dies zeigt eine nähere Insichtnahme der Schriften der für uns relevanten Texte unmittelbar, die von Habermas in Abweichung zu den als defizitär eingestuften Geschichtsphilosophien und Modernisierungskonzeptionen der frühen Protagonisten der ‚Frankfurter Schule‘ entfalteten Idee einer humanen bzw. kommunikativen Rationalität und seine Theorie der Erkenntnisinteressen, welche eine tiefe Faszination auf die sich konstituierende kritische Erziehungswissenschaft sowie das von ihren Vertretern postulierte Emanzipationsverständnis ausüben. Mollenhauer, Klafki et al. vollziehen in enger Anlehnung an Habermas’ Differenzierung zwischen einem technischen, praktischen und emanzipatorischen Erkenntnisinteresse eine doppelte Distanzierung von der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der während der 60er Jahre prosperierenden empirischen Erziehungswissenschaft. Abgelehnt wird im Allgemeinen sowohl eine rein ideengeschichtlich abgestützte und in konventionalistischen Horizonten verfangene Auffassung von Hermeneutik als auch ein lediglich vermeintlich wertfrei operierender Empirismus, der die Dimension des Sinnverstehens von vornherein ausklammert und eine zweckrational-funktionalistische Determinierung erzieherischer Prozesse forciert. Das Abheben auf eine „positivistisch halbierte Rationalität“ (Mollenhauer unter Berufung auf Habermas 1971: 9) wird in diesen Kreisen nirgends als tragfähige Alternative zu einer primär an Dilthey orientierten Auffassung von ‚Geisteswissenschaft‘ angesehen; stattdessen ist man sich dahingehend einig, dass das zentrale Anliegen der Erziehungs- und Bildungstheorie wie -praxis in der Aufklärung über (undurchschaute) Macht- und Herrschaftsverhältnisse liegt bzw. liegen soll, die ein selbstbestimmtes Handeln erst ermöglichen würde: „Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, daß Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjektes haben; dem korres-
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pondiert, daß das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist“ (ebd., 10).
Mit dieser einen Kurswechsel zum Ausdruck bringenden Betonung des Emanzipatorischen rückt unisono die Idee einer (sozial-)kritisch engagierten, Veränderungsperspektiven erschließenden Erziehungswissenschaft in den Mittelpunkt – die Aufrechterhaltung und Reproduktion von kulturellen Lebenszusammenhängen gilt somit nicht (mehr) als Ziel von pädagogischen Prozessen. Im Gegenteil: Die Legitimität der bestehenden Sozialordnung sowie der hegemonialen Deutungsmuster wird nunmehr unter Einbeziehung von soziologischen Analysen und ideologiekritischen Methoden zunehmend in Frage gestellt; im Rahmen dieser Vorgänge entstehen zumal umgreifendere Betrachtungen über den Konnex zwischen der Freisetzung von Autonomie auf Seiten der Subjekte und der vernünftigen Einrichtung des gesellschaftlichen Ganzen.3 In Analogie zu den entsprechenden Ausführungen von Habermas plädieren die Vertreter der kritischen Erziehungswissenschaft schließlich dafür, „hermeneutische und empirische Verfahren zu verknüpfen und in gesellschaftskritische Reflexionen einzubinden“ (Krüger 1999: 166). In der Konsequenz werden mehrere Syntheseversuche kreiert, die zwar nicht deckungsgleich sind, aber doch beträchtliche Schnittmengen aufweisen. Mollenhauer und Klafki offerieren in diesem Kontext auch insofern die systematischten Entwürfe, als sie in bzw. seit den 70er Jahren entschieden darum bemüht sind, die Emanzipationsforderung diskurstheoretisch, d.h. mit Bezug auf die universalpragmatischen Prinzipien der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns herzuleiten (vgl. Mollenhauer 1972: 67; Klafki 1989: 155; 2000: 175ff.).4 Unmissverständlich ist an dieser Stelle die Negierung konventionalistisch-ontologischer Begründungsformen, die (entgegen
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In den Blick gerät der „dialektische Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Gerechtigkeit, individueller Vernunft und vernunftgemäßen gesellschaftlichen Verhältnissen“ (Klafki 1976: 44; vgl. Schaller 1974: 47). Im Kern nehmen Habermas und Apel im Rahmen ihrer Diskurstheorie eine intersubjektiv-kommunikationstheoretische Transformation des kategorischen Imperativs Kants vor: „In der Diskursethik tritt an die Stelle des Kategorischen Imperativs das Verfahren der moralischen Argumentation. Sie stellt den Grundsatz ‚D‘ auf: – daß nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten. Zugleich wird der Kategorische Imperativ zu einem Universalisierungsgrundsatz ‚U‘ herabgestuft, der in praktischen Diskursen die Rolle einer Argumentationsregel übernimmt: – bei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“ (Habermas 1991: 12)
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den mehr als wohlwollenden Auffassungen Klafkis) für alle führenden Theoretiker der geisteswissenschaftlichen Pädagogik typisch waren,5 und solipsistischer bzw. intrasubjektiv-monologischer Verfahren. Unter Vorgriff auf die in einer idealen Sprechsituation vorauszusetzenden Strukturen werden ferner jene ‚Verzerrungen‘ der Kommunikation zur Disposition gestellt, die der eigenen Einschätzung nach auf soziale Hierarchien und Disparitäten zurückverweisen. Habermas’ fundamentale „Intuition, daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von gegenseitiger Verständigung eingebaut ist“ (Habermas 1985: 173) stößt ebenso auf generelle Zustimmung wie die mit ihr korrespondierende Utopie des Aufrecht-Gehens „in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat“ (ebd., 202). Dabei wird das Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft, welches nicht ohne dasjenige einer „politisch freien Gemeinschaft von Menschen“ (Apel 1980: 58) bzw. einer ‚idealen Lebensform‘ (vgl. Habermas 1971b: 141) zu denken ist, offenbar deshalb gerade aus pädagogischer Sicht als attraktiv wahrgenommen, weil es in der Nachfolge der (durch hegelianische Elemente ergänzten) Moraltheorie Kants einen klaren normativen Maßstab für rational zu begründende Kritiken beinhaltet – dieser tritt vor allem in den Differenzierungen zwischen einer realen und idealen Kommunikationsgemeinschaft (Apel 1976: 429) sowie zwischen dem wahren und falschen Konsens zu Tage (Habermas 1971b: 122/137) – und Aussichten auf ihre pädagogisch-praktische Nutzbarmachung eröffnet. Außerdem liegen bereits in den Schriften von Habermas und Apel Relationen zwischen der Kommunikations-/Diskurstheorie und bildungstheoretischen Überlegungen vor6, welche ebenso auf fruchtbaren Boden fallen. Die Überzeugung, wonach Menschen verletzbare und moralisch schonungsbedürftige Lebewesen sind, „die allein auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden“ (Habermas 1991: 14), findet sich mitsamt der ihr inhärenten Entfremdungs- und Verdinglichungskritik in den erziehungswissenschaftli-
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Hier kommen die Argumente mit der Gadamer-Kritik von Habermas überein, die die repressiven Implikationen und Effekte einer konservativistischen Hermeneutik luzide dechiffriert (vgl. Habermas 1971a: 45-57). Vgl.: „Wir hatten als 2. Bedingung einer Evolutionstheorie der Moral die Forderung aufgestellt, daß sich die hierarchischen Stufen der Moral (präkonventionell/konventionell/postkonventionell, S.K.) als mögliche Stufen von kulturgeschichtlichen Lernprozessen auffassen lassen müssen, die eine gewisse Entsprechung in der individuellen Entwicklung des moralischen Bewußtseins in der Gegenwart haben sollten.“ (Apel 1980: 54) – „Sprach- und handlungsfähige Subjekte werden [...] als Individuen allein dadurch konstituiert, daß sie als Mitglieder einer jeweils besonderen Sprachgemeinschaft in eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt hineinwachsen. In kommunikativen Bildungsprozessen formen und erhalten sich die Identität des Einzelnen und die des Kollektivs gleichursprünglich.“ (Habermas 1991:15)
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chen Konzepten dieses Spektrums wieder.7 Eigens in diesem Zusammenhang gelangt eine bemerkenswerte Empfänglichkeit für die sich aus (neu-) humanistischen und aufklärungsphilosophischen Quellen speisende Auslegung von Termini wie ‚Sprache‘ und ‚Anerkennung‘ zum Vorschein; beide Seiten verfügen hier erkennbar über ein ähnliches Vorverständnis (vgl. etwa Klafki 1985: 14ff.), sodass der mit dem Diskurs- und Kommunikationsprinzip verbundene emphatische Humanisierungsanspruch ohne Weiteres erkannt und geteilt wird. Zu dieser elementaren Übereinstimmung gehört auch das Vertrauen darauf, dass eine mit diesem Interaktions- und Kommunikationsparadigma operierende Pädagogik beträchtliche Beiträge zur Freisetzung reflexiv-kritischer Vernunftskräfte beisteuern könne; besonders über die „Erweiterung kommunikativer Spielräume im Bildungsprozeß“ und den „Kampf gegen diskurs-einschränkende Bedingungen“ (Mollenhauer 1972: 62/68) lassen sich, dies ist die zu vernehmende Hoffnung (vgl. auch Schaller 1974: 70), soziale und humane Fortschritte initiieren. In gleichem Maße charakteristisch wie diese Adaptionen ist indes der Konsens darüber, dass Arbeitsprozessen kaum emanzipative bzw. bildende Gehalte abzugewinnen sind. Bezeichnenderweise wird die von Habermas vollzogene Trennung zwischen Arbeit und Interaktion sowie seine Identifikation von Arbeit und funktionalistischer Vernunft in der Regel nicht diskutiert, sondern allem Anschein nach vorwiegend akzeptiert: Die gesamte Arbeitssphäre spielt zumindest im Rahmen der bildungstheoretischen Reflexionen – wenn überhaupt – eine geringe Rolle (eine wichtige Ausnahme stellt Blankertz Versuch der Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung dar (vgl. Dammer 2008 : 488ff.), die Kritik an den von Marx als entfremdet titulierten Arbeitsverhältnissen und der kapitalistischen Produktionsweise als solcher bleibt genauso marginal oder ausgeklammert wie eine sublimere Erforschung der unauflösbaren inneren Verwobenheit zwischen Arbeit und Kommunikation. Im Ganzen haften den in jenem Umkreis anzutreffenden Bestimmungen von ‚Emanzipation‘ somit enorme Distanzen zu materialistischen Theorien (von Marx, aber auch der älteren Kritischen Theorie) an, welche mit dem geisteswissenschaftlichen Erbe freilich nicht vermittelbar gewesen wären. Allen soziologischen Diagnostiken und gesellschaftskritischen Untersuchungen, die die Widersprüche zu den ‚kulturpädagogischen‘ Modellen der geisteswissenschaftlichen Tradition markieren, zum Trotz erhält sich unter dem Strich eine moralisch-idealistische Schlagseite (vgl. Keckeisen 1983: 493ff.), die de facto von vornherein eine Einhegung der Reichweite und Radikalität der Kritik zur Folge hat. Dieser Ein-
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Grundlegend ist hier – neben der Kritik an Formen eines konventionellrepressiven Ordnungsdenkens, das Autonominierungsprozesse autoritär unterbindet – die Unterscheidung zwischen dem verständigungsorientierten, auf reziproker Anerkennung basierenden Handeln und instrumentell-strategischen Umgangsweisen, die ähnlich wie bei Habermas als ‚entsprachlicht‘ und ‚verdinglicht‘ angesehen werden.
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druck eines idealistischen Überhangs verschärft sich noch dadurch, dass die komplementär zur Separierung zwischen Arbeit und Interaktion verlaufende Unterscheidung von System und Lebenswelt offenbar gleichfalls übernommen bzw. beibehalten wird.8 Denn obwohl die Vertreter der kritischen Erziehungswissenschaft darum ersucht sind, „pädagogisches Handeln als historisch vermittelte gesellschaftliche Praxis zu fassen“ (Krüger 1999: 165) und die Verflochtenheit der Pädagogik in sozioökonomische Zusammenhänge transparent zu machen, halten sie doch, just wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie (und wo) sich Möglichkeiten für eine emanzipativ-autonome Identitätsbildung arrangieren lassen, mehr als in Ansätzen an der geisteswissenschaftlichen Vorstellung einer ‚relativen Autonomie‘ des pädagogischen Feldes fest. Mit Habermas gesprochen weiten sich gerade an dieser Schnittstelle lebensweltliche Sichtweisen aus, die zwar zum einen die Ausbildung hoffnungsvoller (Praxis-)Perspektiven beflügeln, andererseits jedoch die Gefahr einer Zuspitzung der zuvor geäußerten Schwierigkeiten in sich bergen. Zum Ende dieses Abschnitts bleibt zu vermerken, dass die vom Mainstream der kritischen Erziehungswissenschaft unter intensivem Rekurs auf einschlägige Theoreme von Habermas und Apel gestaltete kritischkonstruktive Ausrichtung im Kern auf einem fast schon als traditionell zu klassifizierenden Aufklärungs- und Fortschrittsverständnis beruht, das aus der vor Marx’schen Ära stammt. Im Hinblick auf die angestrebten Lösungen des Theorie-Praxis-Problems fällt nicht allein die Abwesenheit eines konkret-materiellen Handlungsbegriffs (die ‚Interaktionen‘ werden zuallererst mit sprachlichen Akten gleichgesetzt), sondern überdies die mangelnde Hinterfragung der in das Emanzipations- und Diskursmodell eingelassenen Rationalisierungslogik auf. Es sind mithin nicht nur diese Desiderate, welche von einer (impliziten) Abwehrhaltung gegenüber den Studien zur ‚Dialektik der Aufklärung‘ sowie der von der älteren Kritischen Theorie betriebenen Tiefenanalyse ‚bürgerlicher‘ Denktraditionen und Moralkonzepte zeugen. Umgekehrt erscheint es angesichts solcher Stellungnahmen als vorstellbar, dass die (keineswegs abwegige) Sorge vor einer Entzauberung der eigenen Emanzipationsvisionen eine belangvolle Ursache für diese hervorstechende Nichtbeachtung abgibt. Als glücklich hat sich diese Reserviertheit im Nachhinein sicherlich kaum erwiesen – nicht zuletzt die relativ schnell nach ihrer Veröffentlichung anhebenden (Selbst-)Einwände wider jene erziehungswissenschaftlichen Ansätze, die im Nachhinein oftmals zu einer Stärkung konservativistischer Positionen geführt haben, rufen die Unverzichtbarkeit einer solchen Entzauberungsarbeit für die Fundierung einer ‚il-
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Es ist anzumerken, dass Habermas diese Sphärentrennung sowie die mit ihr verbundene Modernisierungstheorie am Anfang der 70er Jahre noch nicht explizit eingeführt hatte; allerdings deutet sich diese Differenzierung in jener Phase seines Schaffens bereits in relativ klaren Konturen an.
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lusionsarmen‘, an dem Projekt einer ‚Realpolitik der Vernunft‘ partizipierenden kritischen Pädagogik in Erinnerung.
2. D IE TRÜGERISCHE „E UPHORIE SCHÖNER HUMANISTISCHER H OFFNUNGEN “ – Z UR H ABERMAS -K RITIK B OURDIEUS Aus der Sicht einer pädagogischen Theorie, die einen hohen Einfluss der sozialphilosophischen Theorien von Habermas und Apel erkennen lässt, ist Pierre Bourdieu – und dies vereint ihn zunächst mit der frühen Kritischen Theorie – wohl am ehesten die Rolle eines unbequemen „Störenfrieds“ (Liebau 2006: 41) zu attestieren, dessen soziologischen Analysen ab einem bestimmten Punkt lieber aus dem Weg gegangen werden sollte. Dieser auf den ersten Blick eventuell gewagt wirkenden Behauptung kann einerseits mithilfe von Bourdieus scharfen Kritiken an der Habermas’schen Diskursund Gesellschaftstheorie, welche auch mit Bezug auf die skizzierten Modelle einer kritischen Erziehungswissenschaft von Belang sind, Plausibilität verliehen werden. Mindestens ebenso schwer dürfte allerdings die Tatsache wiegen, dass seine Einsprüche in Differenz zu den geläufigen postmodernen oder neokonservativen ‚Verrissen‘ unter dem Vorzeichen eines aufklärerisch-emanzipatorischen Anspruchs stehen. Diese Nähe ist auf den nächsten Seiten detaillierter zu fokussieren; sie trägt ohne Zweifel eine besondere Brisanz in die Kontroverse zwischen Bourdieu und Habermas hinein. Aber kann hier überhaupt von einer Kontroverse die Rede sein? Ein von Reziprozität getragenes Streitgespräch hat sich zwar nicht ausgebildet9, in den Schriften Bourdieus (hervorzuheben sind „Was heißt Sprechen?“ 1990; „Meditationen“ 2001, sowie „Reflexive Anthropologie“ 1996, ein z.T. aus Gesprächen bestehendes Gemeinschaftswerk mit Loʀc Wacquant) stößt der Leser jedoch auf eine Reihe von Passagen, in denen dieser sich mit der Habermas’schen Philosophie auseinandersetzt. Die Herausschälung der prägnantesten Divergenzen soll nun dazu fungieren, den Einstieg in weiterführende Reflexionen zu erleichtern. Im Allgemeinen liegt bei Bourdieu eine außerordentlich starke Skepsis gegenüber dem „Vertrauen in die Macht des Wortes“ (Bourdieu 2001a: 8; vgl. auch Bourdieu 1990: 101; Bourdieu/Wacquant 1996: 224) – unter stetem Verweis auf „sozial [...] übermächtige Kräfte“ (Bourdieu 2001a: 14) und die „stummen Befehle [...] der ökonomischen und sozialen Strukturen“ (ebd., 181), deren Auswirkungen seiner Auffassung nach von Habermas nicht bzw. kaum in Betracht gezogen werden. Dessen Trennung zwischen der ökonomischen Welt und den Bereichen der symbolischen Produktion
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Liegt in dem zuvor benannten Umstand möglicherweise ein triftiger Grund für die bei Habermas allenfalls punktuell vorhandene Berücksichtigung der Bourdieu’schen Kultursoziologie?
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sowie die auch in der Diskursethik präsente neokantianische Zäsur zwischen einem als übergeordnet eingestuften Intellekt und dem Körper lehnt Bourdieu eindeutig ab: „Meiner Meinung nach kann man die Sprache ohne eine Einbindung der sprachlichen Praktiken in das komplette Universum aller gleichzeitig möglichen Praktiken [...] gar nicht richtig verstehen. [...] Eine [...] soziologische Analyse der Sprache muß die Einheit der menschlichen Praktiken, unter denen die sprachliche Praxis nur einen Sonderfall darstellt, theoretisch begründen und empirisch rekonstruieren [...]“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 184).
Im Widerspruch zur Unterscheidung zwischen Arbeit (instrumentellem Handeln) und Interaktion (kommunikativem Handeln) beharrt Bourdieu auf einem materialistisch-praxisphilosophischen Zugang (vgl. Müller 1992: 253),10 aus dem der Bruch mit den Parametern der sog. ‚scholastischen Vernunft‘ und damit zugleich der These eines ‚Apriori der Kommunikationsgemeinschaft‘ resultiert.11 Die Kluft zwischen einer von materiellen Zwängen entlasteten intellektualistischen Logik und den ‚niederen‘ Logiken der Praxis sieht er gerade bei Habermas weit fortgeschritten: Lediglich aufgrund der Ausblendung der sozialen Bedingungen des Sprachgebrauchs habe dieser – laut dem Urteil Bourdieus – die Imagination einer idealen Sprechsituation erzeugen können. Im Anschluss an diese prinzipielle Kritik wendet er sich der Idee des sog. „Sprachkommunismus“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 180) zu, die für ihn in mehrerlei Hinsicht illusionär ist. Weder dem Postulat einer macht- und herrschaftsfreien Verständigung bzw. Anerkennung – der Diskurs sei alles andere als ein marktfreier Bereich –, noch dem von Habermas präferierten und anvisierten Universalismus, der als abstrakt-formalistisch, utopistisch (d.h. entpolitisiert) und distinktiv charakterisiert wird (vgl. Bourdieu 2001a: 84ff.), begegnet der französische Kultursoziologe mit positiver Resonanz.12 Überdies moniert Bourdieu mit Bezug auf die Fragen nach den individuellen Zugangsmöglichkeiten zu einem „aufgeklärten Urteil“ (ebd.: 90) und den
10 Diese Grundorientierung ist nicht mit den Formen eines funktionalistischen bzw. mechanischen Materialismus zu verwechseln. 11 „Es gibt, was immer Habermas sagen mag, keine transhistorischen Universalien der Kommunikation [...]. [...] Ich bin nicht der Meinung, daß die Vernunft in der Struktur des menschlichen Geistes oder in der Sprache angelegt ist.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 224f.) 12 In der Kritik steht ebenfalls das in erster Linie von Kant angeregte Öffentlichkeitsprinzip: „Die Vorstellung vom politischen Leben etwa, die Habermas ausgehend von einer Beschreibung der Öffentlichkeit vorträgt [...], verdunkelt und verdrängt die Frage nach den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, damit die öffentliche Reflexion in Gang käme [...].“ (Bourdieu 2001a: 84).
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impliziten Voraussetzungen für eine kompetente, d.h. legitime Ausübung der diskursfähigen Sprache die unzureichende Analyse von sozialräumlichfeldspezifischen Machtstrukturen und symbolischen Machtrelationen, von denen ihm zufolge sprachliche Verhältnisse immer durchzogen sind (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 17; 1992a: 81). Er verbleibt unterdessen nicht an dieser Schwelle, sondern geht ohne Scheu vor der direkten Provokation noch einen Schritt weiter: Gänzlich entgegen der „Euphorie schöner humanistischer Hoffnungen“ (Bourdieu 2001a: 163) diene ein abstrakter Universalismus wie eben derjenige der Diskursethik, so sein an die Hegenomietheorie Antonio Gramscis erinnernder Befund, in praxi „meist der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung, der geltenden Verteilung von Macht und Privilegien [...]“ (ebd. 91).13 Diese wohlgemerkt an die Adresse eines Protagonisten der Kritischen Theorie gerichteten Einschätzungen fallen verblüffend negativ, die zuletzt angeführte sogar verheerend aus. Jene exemplarisch angedeutete Vehemenz der Urteile rührt derweil u.a. daher, dass Bourdieu den Ansatz von Habermas recht unmittelbar in die Tradition der bildungsbürgerlichen ‚Kulturphilosophie‘ einreiht (vgl. Bourdieu 2001a: 324). Einige der mit hierarchischen Klassifizierungen ausgestatteten Sphärentrennungen, die für diesen Strang eigentümlich sind (Körper/Geist; Sinnlichkeit/Vernunft; Materialismus und Ökonomie/Moral und ‚Kultur‘ etc.) und welche von unterschiedlichen Spielarten eines zweckfrei-vergeistigten Bildungs- und Kulturverständnisses forciert werden, macht er – mit einer gewissen Stichhaltigkeit – auch bei Habermas aus. Heftigen Widerspruch provoziert zudem dessen klassischaufklärerische Akzentuierung der befreienden Kraft des Intellekts, der Reflexivität sowie des (regulativen) moralischen Prinzips, die nach Bourdieu einer Nicht-Beachtung von inkorporierten und unbewussten Machtmechanismen sowie damit einer Verkennung des von den Vertretern einer solchen Aufklärungs- und Moralauffassung praktizierten ‚Klassismus‘ Vorschub leistet: In Abkehr von sämtlichen Variationen der sog. „‚Bildung-machtfrei‘-Ideologie“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 110) rückt er – zum einen – vor dem Hintergrund seines auf die „dunklen Intuitionen, Anschauungen des praktischen Sinns“ (Bourdieu 1992b: 110) zugeschnittenen Habituskonzepts die konservierenden Effekte der größtenteils im Verborgenen agierenden Abläufe einer „stillen Pädagogik“ (Bourdieu 1987: 128) ins Zentrum.14 Der
13 Oder, noch deutlicher: „Die Habermas’schen Beschreibungen der ‚idealen Sprechsituation‘ und der wie ein Wunder aus ihr hervorgehenden ‚Kommunikationsethik‘ erinnern unweigerlich an die Seiten, die Marx im Manifest der Kommunistischen Partei den deutschen Philosophen und ihrer vollendeten Kunst widmet, ‚die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie‘ in eine Äußerung der ‚Gesetze des reinen Willens, wie er sein muß, des wahrhaft menschlichen Willens‘ zu verwandeln [...].“ (Bourdieu 2001a: 324). 14 „Die Inkorporation der äußeren Existenzbedingungen zu einem habituellen System von Dispositionen vollzieht sich mittels einer ‚stillen Pädagogik‘, die, jen-
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Habitusbegriff substituiert hier den des Subjekts: Dem unter Bezug auf die Erfordernisse eines spezifischen sozialen Feldes frühzeitig aufgebauten System von einverleibten Dispositionen und Grenzen kommt gemäß der Ansicht Bourdieus eine enorme Prägekraft und dauerhafte Stabilität (‚Trägheit‘) zu;15 unter dem Strich wird in diesem Kontext die Tendenz zur Reproduktion von Handlungs-, Denkschemata und Sozialstrukturen mit großer Eindringlichkeit hervorgehoben. In Kombination mit dieser Kritik an rationalistischen Theorien, die von mehr oder weniger „‚trägheitslosen‘ Subjekten“ (Bourdieu 1987: 105) ausgehen, konfrontiert Bourdieu das humanistische Ideal der Kommunikationsgemeinschaft mit seiner mehrdimensionalen Kapitaltheorie, welche die Annahme einer innerweltlichen Transzendenz zusätzlich unter Druck setzt. Die Vorstellungen einer uneigennützigen Kommunikation und einer nichtinstrumentellen, daher bildenden Form von Anerkennung16 sieht Bourdieu als – aus einer gehobenen sozialräumlichen Perspektive nützliche – Fiktionen an: „(Die Dichotomie von Ökonomischem und Nicht-Ökonomischem) hindert uns nämlich, die Wissenschaft von den ‚ökonomischen‘ Praktiken als Sonderfall einer Wissenschaft aufzufassen, mit der alle Praktiken einschließlich derer, die als uneigennützig oder zweckfrei [...] ausgegeben werden, als ökonomische behandelt werden können, also als auf materielle oder symbolische Profitmaximierung ausgerichtet“ (Bourdieu 1987: 222).
Seinen Analysen zufolge existiert realiter kein Bereich, keine Sphäre, der/die nicht durchmachtet wäre; Konkurrenz- und Profitmotive durchziehen demnach das gesamte soziale Leben. Obwohl seine Soziologie „nicht mit dem Anspruch auf(tritt), jede menschliche Regung zu erklären“ (Rehbein 2006: 96), ist doch anzumerken, dass das generalisierte Kapitalmodell (vgl. Müller 1992: 267) für die Wahrnehmung von Handlungen und Urteils-
seits einer ausdrücklichen erzieherischen Absicht, über unscheinbare pädagogische Imperative und Ermahnungen bezüglich Manieren, Haltung und Betragen den Habitus formt. [...] Kulturell Willkürliches [...] wird im Zuge der habituellen Inkorporation zu etwas Selbstverständlichem, ja, zu etwas vollkommen ‚Natürlichem‘, dessen geschichtlicher Ursprung in Vergessenheit gerät.“ (Schwingel 1995: 65f.). 15 „In Wirklichkeit [...] vermittelt jede Familie ihren Kindern auf eher indirekten als direkten Wegen ein bestimmtes kulturelles Kapital und ein bestimmtes Ethos, ein System impliziter und tief verinnerlichter Werte, das u.a. auch die Einstellungen zum kulturellen Kapital und zur schulischen Institution entscheidend beeinflusst.“ (Bourdieu 2001b [1966] : 26). 16 Vgl.: „Adorno beschreibt Versöhnung in Begriffen einer unversehrten Intersubjektivität, die sich allein herstellt und erhält in der Reziprokität der auf freier Anerkennung beruhenden Verständigung.“ (Habermas 1981: 523).
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formen, die nicht in utilitaristische Schemata hineinpassen, eigentlich keinen Platz lässt (vgl. Rehbein 2006: 121; Honneth 1990: 180ff.). Gerade die direkt oder ex negativo mit normativen Gehalten versehenen Interpretationen des Kulturbegriffs, wie sie z.B. auch im Spektrum der Kritischen Theorie vorliegen, befördern auf seiner Seite per se eine misstrauische Haltung (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 229). Diese entspringt indes der These, wonach die von der Gruppe der kulturell Herrschenden betriebene Verkündigung der Zweckfreiheit im Hinblick auf die Topoi ‚Bildung und Kultur‘ nüchtern betrachtet von den Vorgaben des ‚intentionslosen‘ Interesses an der Akkumulation kulturellen/symbolischen Kapitals und der Absicherung der eigenen sozialräumlichen Situierung im sozialen Raum dirigiert wird. Dabei befördere just die im Normalfall bei den Akteuren des wissenschaftlichen Milieus zum Ausdruck gelangende Verkennung bzw. Verdrängung dieses basalen ökonomischen Interesses die Ausbildung des Glaubens an den schönen Schein der eigenen Botschaft (vgl. Bourdieu 1998a: 26f.) und (dadurch) eine übergreifende Anerkennung dieses von den Außenstehenden als authentisch empfundenen privilegiert-distinktiven Standpunktes der binnen des akademischen Feldes praktizierten theoretischen Erkenntnis. Auch die Habermas’sche Sprach- und Diskurstheorie kündet nach Bourdieu von einem solchen aus elementaren Entlastungen und Privilegien erwachsenen Ethos der Distanz zu den „Zwängen und Nöten der natürlichen wie sozialen Umwelt“ (Bourdieu 1982: 24).17 Vermisst wird eine Reflexion auf den Zusammenhang zwischen Sprachhabitus und Klassenhabitus (vgl. Bourdieu 1990: 91), die dazu beitragen könnte, die nicht auf rein sprachliche Aspekte beschränkbaren repressiven Momente einer (annähernd) ‚herrschaftsfreien‘ Argumentationssituation im Sinne von Habermas aufzudecken.18 Zu diesen Momenten gehört vor allem die von Bourdieu immer wieder thematisierte Komplizenschaft der Subalternen, welche sich aus vermeintlich freiem Willen der allein aus den „stummen Logiken des Agierens“ (Köhler 2001: 60) heraus zu begreifenden Autorität ‚legitimer Wortführer‘ unterwerfen, die über einen instinktiven Sinn für den scholastischen Regelkanon des diskursiven Spiels verfügen (vgl. Bourdieu 1990: 103). Fremd und exkludierend wirke die mit Bezug auf diskursive Situationen und das bei Habermas vorliegende Öffentlichkeitsverständnis kennzeichnende Atmosphäre einer „zeitlosen Zeit“ (Bourdieu 1987: 148) und des formalistischen Räsonements vorrangig auf Mitglieder der unteren (Volks-)Klassen, deren Habitus auf völlig anderen Fundamenten als denen der bürgerlichen
17 Dieses Urteil gilt derweil in zugespitzter Form für die Philosophie Diltheys und die an seinem Konzept der Geisteswissenschaften orientierte Pädagogik. 18 „Eine performative Aussage ist immer dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht von einer Person kommt, die auch die ‚Macht‘ hat, sie auszusprechen oder wenn, ganz allgemein, die jeweiligen Personen oder Umstände nicht ‚die richtigen‘ sind, ‚um den betreffenden Vorgang einzuleiten‘, kurz, wenn der Sprecher für die Worte, die er spricht, keine Autorität hat.“ (Vgl. Bourdieu 1990: 105)
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Welterfahrung fußen.19 Diese auf der Ebene des (Klassen-)Unbewussten und des feldspezifischen sozialen Sinns verankerten Differenzen repräsentieren nach Bourdieu steile Hürden im Hinblick auf die Realisierung einer ‚unverzerrten‘ Kommunikation – von einer „breiten, kollektiven Sprechtherapie“ (Bourdieu 2001a: 231) verspricht er sich jedenfalls keinerlei Fortschritte. Ganz ähnliche Vorbehalte bringt Bourdieu indessen, dies wurde unlängst angerissen, bezüglich der Habermas’schen Version eines „bürgerlichen Universalismus“ (Eickelpasch 1996: 43) vor. Abgesehen von den bereits aufgefächerten Einwänden, die hinsichtlich dieses Konflikts ihre Relevanz behalten, beklagt er unter Rückbezug auf seine empirischen Studien zum sozialen Raum und zum Bildungssystem die fehlende Differenzierung, das Unspezifische (vgl. Bourdieu 1998a: 59) dieses Universalismus sowie dessen Unvereinbarkeit mit dem Anliegen einer Realpolitik der Vernunft, welches danach verlangt, „an die Strukturen selbst Hand anzulegen, in denen sich (die) Kommunikation erfüllt“ (ebd.). Die hochgradig an Kant gemahnenden Fortschrittsideen von Habermas haben, so Bourdieu, „nichts mehr mit den Entdeckungen einer Soziologie der symbolischen Machtbeziehungen zu tun“ (vgl. Bourdieu 2001a: 85); vielmehr trage das von ihm propagierte Aufklärungsprojekt geradezu zur ‚Verdunkelung‘ bei (vgl. ebd.: 84).20 Im selben Augenblick wird jedoch der postmodernen Opposition zur Aufklärung eine Absage erteilt; die Spielarten eines neuaufgelegten Nietzscheanismus geraten ebenfalls ins Visier der materialistisch basierten Kritik Bourdieus, der insofern mit Habermas gegen Habermas denkt, als er für eine „permanente Aufklärung der Aufklärung“ (ebd.: 91) plädiert und den Vernunftbegriff offensiv verteidigt. – Natürlich ist einerseits festzuhalten, dass die Differenzen zu Habermas hier wiederum über die aufgeworfene Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für die Verwirklichung eines „wahrhaften Humanismus“ (ebd.: 91) hinausgehen (s.u.); andererseits überschreiten Bourdieus Anfechtungen insbesondere in diesem Kontext nicht selten die Grenze zum Unverhältnismäßigen. Denn der seinem Kontrahenten aufgebürdete Pauschalvorwurf eines reinen und ziemlich nai-
19 Bourdieus Einwände weisen interessante Verwandtschaften zur Habermas-Kritik von Oskar Negt und Alexander Kluge auf, die in Reaktion auf die bürgerliche Verengung des Öffentlichkeitsgedankens den Terminus der proletarischen Öffentlichkeit bzw. Produktionsöffentlichkeit ins Feld führen (vgl. Negt/Kluge 2001:333ff.; Negt 2010:283): Bourdieu zufolge besteht die wichtigste Daseinsbedingung einer scholastischen Disposition in der „dauerhaften Distanzierung von der Arbeit und der Welt der Arbeit“ sowie in dem „Schutz vor all den negativen Erfahrungen, die mit dem Mangel oder einer ungesicherten Zukunft verbunden sind“ (Bourdieu 2001a: 24; vgl. ferner Bourdieu 1988: 283). 20 Abermals ergeben sich Affinitäten zu materialistischen Ansätzen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie; Bourdieus Replik lässt Assoziationen zu Horkheimers Befund einer „Dunkelheit der Kantischen Vernunftkritik“ (Horkheimer 1968 [1937]: 157) aufkommen.
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ven Moralismus wird dem gesamten Ansatz von Habermas nicht gerecht; die Einreihung seiner Sozialphilosophie in die ‚kulturphilosophische‘ Linie geschieht zu nahtlos und auf eine simplifizierende Weise.21 Mit anderen Worten: Bourdieu lässt es an diesem Punkt ebenso an Differenzierungen vermissen. Dieser unübersehbaren Schwäche zum Trotz, welche dem Verdacht einer selektiven Lektüre Nahrung gibt, treffen Bourdieus Interventionen letztlich in überzeugender Manier einige Schwachstellen der revidierten Kritischen Theorie und der sich auf diese berufenden Erziehungswissenschaft: •
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Zuvorderst ist im Allgemeinen die gegenüber der „Betonung der Reflexivität, der befreienden Kraft der Sprache, der kritischen Potenz der Rationalität“ vernachlässigte Untersuchung der Reproduktion, d.h. „der Verkennung und der Latenz, damit der Hyperintegration durch die unkritische Kraft der Gewohnheiten“ (vgl. Köhler 2001: 56) herauszustreichen; in diesem Kontext können mithilfe des Habituskonzepts die Grenzen bzw. Mängel von Emanzipations- und Bildungstheorien benannt werden, die einen idealistischen Überhang signalisieren und auf ausgewählte Bereiche des Sozialraums geeicht sind; ferner gerät auf diesem Wege zu Recht die Bedeutung des Körperlichen, Verleiblichten, Unbewussten (und d.h. auch des Einflusses von sich in den ersten Lebensphasen ereignenden Eingewöhnungs- und Prägungsprozessen) sowie der erlernten Mechanismen und Dispositionen des praktischen Sinns in den Horizont; als fruchtbar erweist sich fernerhin die von einer praxeologisch operierenden Hermeneutik geleistete (Wieder-)Herstellung von Zusammenhängen und somit die Aufhebung der von Habermas eingezogenen Sphärentrennungen/Dichotomien; vor diesem Hintergrund entwickelt Bourdieu eigens mit Bezug auf die von Habermas (und Apel) propagierte Kommunikationstheorie eine subtile und ernstzunehmende Machtanalyse, die für Pädagogen von gesteigertem Interesse sein muss; und schließlich enttäuscht seine Kapitaltheorie die Hoffnung, dass sich diesseits der vorhandenen Produktionsverhältnisse ein zweites (Kommunikations-)Prinzip etablieren und an Einfluss gewinnen könnte: Er schafft in seinen Studien eine für „moderne ‚Kulturgesellschaften‘ treffende Terminologie [...], die es ermöglicht, das Subjekt als zur Akkumulation oder zum Konkurs verdammte Reproduktionseinheit des kapitalistischen Gesamtzusammenhanges zu verstehen“ (vgl. Köhler 2001: 149).
21 Außerdem fällt auf, dass die von Habermas und Apel unterstrichene Differenz zwischen der faktisch-realen und der (immer nur in Annäherung zu realisierenden) idealen Kommunikationsgemeinschaft bei Bourdieu mancherorts tendenziell unter den Tisch fällt.
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Es liegt nun auf der Hand, dass sich ausgehend von dieser Auflistung der massiven Barrieren, mit denen ein emanzipatives pädagogisches Engagement nach Bourdieu konfrontiert ist, vielerorts innere Bezüge zu den Positionen der Kritischen Theorie aus der vor-Habermas’schen Phase bzw. zu denjenigen, die dem ‚linugistic turn‘ ihre Unterstützung versagt haben, herstellen ließen. Wenngleich in dem uns gegeben Rahmen jene Tuchfühlungen, die von den materialistischen Zugängen bis hin zu der Konzentration auf tiefenpsychologische Analysen reichen (vgl. Saalmann 2003: 49)22, im Einzelnen nicht aufgeschlüsselt werden können, lässt sich (verwiesen sei hier auf die Ausführungen des vorherigen Abschnitts; 3ff.) konstatieren, dass in Bourdieus Kritiken etliche der von Habermas negierten und für überwunden erklärten Aspekte aus der eigenen Tradition wiederkehren. Mit dieser von Bourdieu nicht beabsichtigten Revitalisierung, die im Übrigen einen Beleg für nach wie vor gegebene Aktualitäten darstellt, ist zugleich eine weit reichende Enthüllung des pädagogischen Optimismus von Mollenhauer, Klafki et al. verbunden. Seine Diagnosen münden allerdings nicht in negativistische und/oder resignative Bahnen ein. Nachdrücklich ergreift er für Aufklärung und Bewusstmachung Partei (vgl. Liebau 1987: 55); eine z.T. auch gegen die angetippten Affinitäten zur klassischen Kritischen Theorie hervorzuhebende Schnittmenge mit Habermas besteht – dieser Eindruck zementiert sich im Verlauf der Lektüre – in der entschieden proaufklärerischen Orientierung und in dem geradlinigen Insistieren auf einem nicht-relativistischen Vernunftbegriff (vgl. Bourdieu 1998a: 59): Sozioanalysen sollen dazu beitragen, die Reproduktionszirkel „bis zu einem gewissen Grade (zu) durchbrechen“ und „die Effekte der Determinismen zu neutralisieren“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 97); die Entlarvung von intellektualistischen Emanzipationsillusionen steht expressis verbis unter dem Ziel einer „systematischen Aufklärungsarbeit“ (ebd.: 171). Beide Autoren erstreben also einen Abbau von Herrschaft und Ohnmacht zugunsten der Ermächtigung der Akteure (vgl. Rehbein 2006: 47; Wigger 2006: 107) – wobei Bourdieu freilich eine deutlich bescheidenere und vorsichtigere Einstellung befürwortet;23 – zumal verneint er die Habermas’schen Kernanliegen einer emanzipatorisch agie-
22 Ein prägnanter Berührungspunkt besteht in der Abarbeitung an dem Phänomen der Komplizenschaft der Beherrschten und der Suche nach den (unbewussten) Faktoren, die diese an ihrer eigenen Befreiung hindern. 23 Im Vergleich zu Habermas konzentriert sich Bourdieu auf der Basis seiner fein ausdifferenzierten Analyse der sozialräumlichen Dynamiken intensiver auf die Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit von Veränderungsprozessen und den Grenzen der Freiheit. Veränderungen sind seiner Überzeugung nach sehr voraussetzungsvoll (sie erfordern eine Modifikation der „Weltsicht und (der) praktischen Operationen, mit denen die Gruppen produziert und reproduziert werden“ (Bourdieu 1992c: 152) und können sich in der Regel nur in kleinen Schritten ereignen.
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renden Wissenschaft sowie einer Entzerrung der Kommunikation mitnichten in jederlei Hinsicht (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 224ff.). Im Widerspruch zu Bourdieu muss derweil an dieser Stelle bekräftigt werden, dass Habermas (und die Vertreter der kritischen Erziehungswissenschaft) sozialkritische Reflexionen über ermöglichende Bedingungen zumindest ein gutes Stück weit in ihre konzeptionellen Überlegungen miteinfließen lassen. Eine weitere (partielle) Gemeinsamkeit, die nicht übersehen werden darf, besteht in der Kritik an kulturkonservativen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Im Hinblick auf die Skandalisierung der diversen Praktiken einer Naturalisierung sozialer Ungleichheiten und Machtstrukturen (z.B. unter Berufung auf Begabungslehren oder das ‚Charisma‘ etc.) sowie die Entweihung des nichts weniger als unpolitischen ‚Jargons der Eigentlichkeit‘ liegen Parallelitäten vor – die Soziologie Bourdieus könnte indes wiederum dazu dienen, einige Gründe für die Schlagkraft der neokonservativen Differenzpolitik herauszustreichen, deren Protagonisten im Kontrast zum konstruierten Schreckensszenario des ‚nivellierenden Egalitarismus‘ in einer (im Vergleich zum ‚Altkonservatismus‘ abgemilderten, sich aber auch subtiler gebärdenden) klassenrassistischen Diktion die Einlösung der ‚Chancengerechtigkeit‘ einforderten und weiterhin einfordern.24 Die einschneidenden Differenzen beginnen hier freilich ab dem Moment, wo Bourdieu mit der Entzauberung genau derjenigen Aufklärungs- und Bildungsmodelle beginnt, die wider den Konservatismus des geisteswissenschaftlichen ‚Bildungsadels‘ aufgeboten werden (s.o.).25 Diese radikale „Entlarvungshermeneutik“
24 So könnte die These verfasst werden, dass die neokonservativen Aktivitäten getreu dem affirmativ aufgeladenen Motto ‚Zukunft braucht Herkunft‘ (Odo Marquard) mit vorrationalen Einflussgrößen (wie Tradition, Üblichkeiten, Konvention) und an die Ebene des ‚Instinktiven‘ appellierenden Argumenten punkten, deren Relevanz vom dominanten Strang der ‚Emanzipationspädagogik‘ unterschätzt worden ist: „Ich erlaube mir Zweifel daran, daß wir im strengen Sinn im postkonventionellen Zeitalter leben und daß wir ganz und gar – mit Kopf und Kragen, mit Haut und Haaren – darauf angewiesen sind, unsere Lebensorientierungen durch das Gespräch der philosophischen Ethik zu erzeugen: durch den philosophisch-ethischen Diskurs. [...] Die geschichtlich vorgegebenen Üblichkeiten sind keine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten, sondern negationsresistente Schicksale; gerade als Sitten kommen sie jeder ‚Wahl, die wir sind‘ zuvor als die ‚Nichtwahl, die wir sind‘“ (Marquard 2004: 38f./55, Hervorhebungen S.K.). 25 Bourdieu vertritt überdies schon in seinen frühen Arbeiten zum französischen Bildungssystem, welche jedoch nicht ohne Weiteres auf die ‚Deutschen Zustände‘ zu transferieren sind, die These, dass die Ausprägungen einer formalen Rationalität der tatsächlichen Ungleichheit „ein besseres Alibi liefern“ (Bourdieu/Passeron 1971: 89). Die „bewusste und ausdrückliche Zurkenntnisnahme der sozialen Herkunft“ würde – zu denken ist etwa an die bei geisteswissenschaftlichen Pädagogen vorliegende Betonung des Ineinandergreifens einer geis-
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(Köhler 2001: 11) führt zwangsläufig dazu, dass sein in den folgenden Passagen zu diskutierender Entwurf einer „rationalen Pädagogik“ (vgl. Bourdieu/Passeron 1971: 88) signifikant von den behandelten Ansätzen einer kritischen Erziehungswissenschaft abweicht.
3. B OURDIEU UND DIE KRITISCHE P ÄDAGOGIK : A NREGUNGEN UND G RENZEN Nach dem bisher Gesagten kann es kaum überraschen, dass Bourdieu in der anspruchsvollen Forderung nach dem Erwerb „einer genauen Kenntnis der sozial bedingten kulturellen Ungleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971: 89) die erste Voraussetzung für die Konstituierung einer rationalen Pädagogik sieht: Eine Bewusstmachung der tatsächlich bestehenden Hindernisse, die das Engagement für eine Verringerung dieser Disparität desavouieren (können), ist schlichtweg unverzichtbar, wenn die überwiegend unbewusst verlaufende Reproduktion der Ungleichverteilung von kulturellem Kapital (und damit die Konservierung sozialräumlicher Strukturen) ernsthaft und auf Dauer gebrochen bzw. eingedämmt werden soll. Im Mittelpunkt dieses Ringens um soziologische Aufklärung haben dabei nach Bourdieu (a) die in schulische (bzw. universitäre) Institutionen eingeschriebenen Formen sozialen Zwangs und symbolischer Gewalt, deren Nichtberücksichtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verkennung der „Wahrheit eines solchen Systems“ (Bourdieu 2001b: 43) zum Resultat hat26, (b) das Verstehen der habituellen Unterschiede innerhalb der Schüler-/Studentenschaft, welche eng mit den jeweiligen sozialräumlichen Platzierungen korrespondieren27 und die die Art der Erwartungshaltung gegenüber der (Hoch-)Schule entscheidend bestimmen, sowie (c) die tiefgreifende Objektivierung der eigenen Position, Dispositionen und Perspektiven28 zu stehen. Ein wesentliches Ziel dieser
tigen Begabung und der Herkunft aus einer ‚Kulturfamilie‘ – dagegen auf Seiten der Subalternen als „skandalös“ (ebd., 90) empfunden und sei daher aus der Perspektive der kulturell Herrschenden (mittlerweile) dysfunktional. 26 „Von unten bis nach ganz oben funktioniert das Schulsystem, als bestände seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: In dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind.“ (Vgl. Bourdieu 2001c: 21) 27 Zu vermeiden ist hierbei insbesondere die unreflektierte Projektion des ‚Eigenen‘ auf die Anderen: „Vielmehr geht es darum, ein generelles und genetisches Verständnis der Existenz des anderen anzustreben, das auf der praktischen und theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist [...]“ (Bourdieu 1997: 786). 28 Von Bourdieu wird z.B. konstatiert, dass Lehrer häufig einfach von der präintentionalen Voraussetzung ausgehen, „dass zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden eine Gemeinsamkeit der Sprache und der Kultur und ein vorgängiges
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(Selbst-)Enthüllungen und Sensibilisierungen liegt in der Sichtbarmachung aller Bevorteilungen, die den Kindern des an Kulturkapital reiche(re)n und ebenfalls im Besitz von ausreichenden Mengen an ökonomischem Kapital befindlichen (Bildungs-)Bürgertums widerfahren.29 Die ausdrückliche Nicht-Bestätigung jener aus der „Transmission kulturellen Kapitals in der Familie“ (Bourdieu 2001d: 113) resultierenden Vorsprünge zeichnet sodann das weitere Vorgehen einer rationalen Pädagogik aus. Wirkliche Demokratisierungen können Bourdieu zufolge nur dann vorangetrieben werden, wenn „die Vermittlung der intellektuellen Techniken und Denkgewohnheiten, auf denen das Bildungssystem aufbaut“ nicht „in erster Linie dem Familienmilieu vorbehalten (bleibt)“ (Bourdieu/Passeron 1971: 88), sondern in der Schule, einem Ort, zu dem auch die Unterprivilegierten Zugang haben, gelehrt wird. Von den Pädagogen wird demnach verlangt, Ungleichheiten inhaltlich zu beheben und „immer so vorzugehen, als müsse man allen alles unterrichten“ (vgl. Bourdieu 2001c: 24) – dies impliziert vor allem die Abstandnahme von der für viele Kinder entmutigenden Prämierung herkunftsbedingter Kompetenzen. Solchen um eine Universalisierung der Mittel und eine Außerkraftsetzung der Relation zwischen den familiären Strategien und den Logiken des etablierten Bildungssystems bemühten Vorgehensweisen wird mithin der positive Effekt zuerkannt, den Aufbau einer charismatischen Ideologie zu erschweren; die von einer rationalen Pädagogik zu präferierende Methodik (vgl. Bourdieu et al. 2001: 155ff.) läuft der Neigung einer Umdeutung sozialer Vererbungen in individuelle Verdienste zuwider.30 Als bedeutsam wird in diesem Kontext darüber hinaus die „Anerkennung der Pluralität der Formen von ‚Intelligenz‘“ und die Etablierung eines „Rationalismus, der dazu fähig wäre, die spezifischen Gründe der praktischen Vernunft zu vertreten“ (Bourdieu 2001a: 104), eingeschätzt. Entgegen der bis dato vom Bildungssystem sanktionierten Anerkennung der Leistungen einer formal-reflektorischen Vernunft, welche jene bevorzugt, die qua
Einverständnis in Bezug auf die Werte existiert, was aber nur dann der Fall ist, wenn das Schulsystem es mit seinen eigenen Erben zu tun hat“ (vgl. Bourdieu 2001b: 42). 29 Natürlich leisten die Ansätze einer kritischen Erziehungswissenschaft in diese Richtungen weisende Analysen (in wiederum unterschiedlichen Ausmaßen) ebenso – beim frühen Mollenhauer liegen sogar (allerdings wenig systematische und später nicht weiterverfolgte) Bezüge auf Bourdieu vor (vgl. Mollenhauer 1972: 150ff.); jedoch erreichen diese aufgrund der pointierten Beschränkungen die von Bourdieus Sozioanalysen erschlossenen Tiefendimensionen nicht. 30 Das in die rationale Pädagogik eingelassene Bestreben einer Bekämpfung des „Gefühls der Minderwertigkeit auf dem Gebiet der Kultur“ (Bourdieu 2001c: 24) weist interessante und ausbaufähige Parallelen zu reformpädagogischen Ansätzen auf, die von der Tiefenpsychologie Alfred Adlers inspiriert sind (vgl. Kluge 2010).
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sozialer Herkunft mit entsprechenden Zugängen zu dieser als legitim erachteten Kultur aufwarten können, spricht sich Bourdieu für eine positive Ausrichtung an den polymorphen Weltzugängen und kulturellen Fähigkeiten aus; dieser Perspektivenwechsel regt zu noch bei Weitem nicht ausgeschöpften Denkanstößen für die Skizzierung von alternativen schulischen Organisationsformen an (vgl. Liebau 1987: 147). Nimmt man diese Aspekte zusammen, dann wird klar, dass die allgemeine Reduzierung symbolischer Macht- und Ausgrenzungsverhältnisse sowie die Vermeidung der Generierung von auf Verdrängung und Distinktion beruhenden scholastischen Dispositionen zu den obersten Zielvorgaben einer rationalen Pädagogik gehören. Außerdem würde ihre konsequente Umsetzung eine Erweiterung des Bewusstseins von der eigenen sozialen Bestimmtheit und den verborgenen Machtmechanismen ermöglichen, wodurch dem Abgleiten in das Muster der individuellen Verantwortungszuschreibung bzw. die Akzeptanz einer scheinbar unausweichlichen Schicksalhaftigkeit Riegel vorgeschoben werden. Bourdieu selbst warnt allerdings vor einem allzu großen gestalterischen Optimismus und hält sich mit Appellen an die Pädagogik zurück: „Könnte es anders sein? Das Erziehungssystem muß [...] Individuen hervorbringen, die ein für allemal und für das ganze Leben ausgewählt und in eine Rangordnung eingestuft sind“ (Bourdieu/Passeron 1971: 83). Er ruft das Faktum ins Gedächtnis, dass pädagogische Reformen ohne eine Veränderung der ökonomischen Verfassung der Gesellschaft und die De-Legitimierung der herrschenden kulturellen Hegemonie schwerlich anzustoßen sind; auffällig ist aber auch, dass sein Entwurf einer rationalen Pädagogik nirgends mit der originär bildungstheoretischen Ambition einer „fortschreitenden Humanisierung (der) gemeinsamen Lebensbedingungen“ (Klafki 1985: 14) auftritt und dieser daher in jener Beziehung eine ‚bescheidenere‘ Gestalt annimmt als die Konzepte der kritischen Erziehungswissenschaft. Im Hinblick auf den von Bourdieu gemiedenen Bildungsbegriff offenbart sich nichts Geringeres als „eine grundlegende Differenz zwischen Habitustheorie und Bildungstheorie, insofern in der Tradition der Bildungstheorie [...] die Möglichkeit einer Emanzipation von gegebenen und früheren Zuständen, die Möglichkeit einer radikalen Transformation der Subjektivität, ihres Denkens und Handelns immer vorausgesetzt wurde“ (Wigger 2006: 109). Dagegen scheint die von dem Modell einer rationalen Pädagogik forcierte Kritik immanent zu bleiben; selbst die durch intensive und kontinuierliche Anstrengungen einer „Gegendressur“ in Aussicht gestellte „Transformation der Habitus“ (Bourdieu 2001a: 220) überschreitet bestimmte Grenzen nicht, welche letzten Endes von der Bourdieu’schen Kapitaltheorie vorgegeben werden. Unmittelbar ist die Verbindlichkeit dieser Grenzen z.B. dort zu erfahren, wo Bourdieu die Realisierung der Chancengleichheit mit der Leitidee einer „wirklichen Demokratisierung der Auslese von Lehrenden und Lernenden“ (Bourdieu/Passeron 1971: 91) verkoppelt sowie in seiner Schilderung jener
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Universen, in denen sich auf der Basis erfüllter sozialer Vorbedingungen die Vernunft durchsetzen könnte: In diesen müsste man, so Bourdieu, „um zu siegen, welches die Gründe, siegen zu wollen auch sein mögen, Recht haben, Gründe haben. [...] um zu gewinnen, ist man gezwungen, den Gesetzmäßigkeiten des Feldes zu gehorchen, das Formen von Kohärenz, von Logik verlangt, eine Diskussionsform, man kann nicht irgendwas sagen“ (Bourdieu 2001e: 173). An diesen und anderen Punkten treten die vielerorts kritisierten Folgen der in Permanenz anwesenden Annahme einer sämtliche Handlungen durchdringenden, der bewussten Intention immer schon vorausliegenden Zweckrationalität hervor (vgl. exemplarisch Honneth 1990: 200; Rehbein 2006: 86). Das sich bei der Lektüre solcher Sätze einstellende Unbehagen kann denn auch durchaus mittels einer Heranziehung der von Bourdieu (in vielerlei Hinsicht mit gutem Grund) attackierten existenzphilosophischen Studien zum Phänomen des ‚Man‘ untermauert werden: Seine Bestimmungen des Vernunftbegriffs kommen ohne entfremdungskritische Reflexionen aus; dieser bemerkenswerte Reduktionismus ist die Ursache dafür, dass qualitative Alternativen zur vorhandenen Ordnung der Dinge – etwa in Analogie zu den Verfahren der Kritischen Theorie31 – nicht entwickelt werden können. Deshalb wäre es falsch, Bourdieus Kritik an der Habermas’schen Vorstellung einer ‚herrschaftsfreien Kommunikation‘ ausschließlich an deren übermäßigem Idealismus und/oder ihrer Fixierung auf bürgerlich-akademische Feldlogiken festzumachen. Darüber hinaus, und davon legt just seine Idee einer ‚rationalen Kommunikation‘ Zeugnis ab, kann er nämlich aufgrund dieser aufrechterhaltenen Limitierung den entfremdungskritischen Gehalt des Habermas’schen Anerkennungs- und Verständigungsprinzips nicht ernst nehmen bzw. bleibt für diesen unempfänglich. Hinter der Verwendung gleicher oder ähnlicher Begrifflichkeiten verbirgt sich also eine tiefgehende Differenz – in Bourdieus Schriften ist vor allem kein echter Ansatzpunkt für produktive Auseinandersetzungen mit den linkshegelianischen Wurzeln der Kritischen Theorie zu entdecken, welche noch bei Habermas (vgl. Habermas 1968: 17ff.) ein essentielles Fundament für die „Analyse des Bildungsprozesses des Menschen“ (Honneth 2007: 39) abgeben. Dieselbe Inkompatibilität wird zumal im Zusammenhang seiner Verarbeitung der praxisphilosophischen Schriften von Marx augenscheinlich, in denen er laut Hans-Peter Müller „den Schlüssel für die soziale Strukturierung der Praxis und die praxisbezogene Reproduktion der Sozialstruk-
31 Vgl.: „Die unterschiedlichen Praxismodelle, mit denen Horkheimer, Marcuse oder Habermas aufwarten, sind allesamt nur Statthalter dieses einen Gedankens, dem zufolge die Vergesellschaftung des Menschen nur unter Bedingungen kooperativer Freiheit gelingen kann; wie auch immer die anthropologischen Vorstellungen im einzelnen beschaffen sein mögen, sie stehen letztlich für die ethische Idee, eine Form der gemeinsamen Praxis auszuzeichnen, in der die Subjekte miteinander oder kooperativ zur Selbstverwirklichung gelangen können.“ (Honneth 2007: 36)
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tur findet“ (Müller 1992: 253): Eine grundsätzliche Diskussion der Entfremdungstheorie und dem mit dieser verwobenen Konzept einer menschlichen Emanzipation wird – hier spielt vermutlich das strukturalistische Erbe eine nicht zu unterschätzende Rolle – nicht entfaltet; auch deshalb bleibt der entscheidende Zugang zur Marx’schen Kritik am kapitalistischen Produktions- und Tauschprinzip versperrt.32 Vice versa ist Bourdieus Ablehnung des wirtschaftstheoretischen Ökonomismus scheinbar einzig in der Richtung einer Generalisierung des Kapitalkonzepts offen: Widerstandspotentiale und unbotmäßige Ausprägungen des ‚Eigensinns‘ (Oskar Negt) fallen entweder durch das Wahrnehmungsraster oder werden in zweckrationale Schemata gezwängt; die von Thomas Köhler artikulierte Frage, „ob der reproduktionstheoretische Ansatz einfach realistisch ist, wie Bourdieu suggeriert – oder ob er nicht den gesellschaftlichen Wandel von vornherein auf grundbegrifflicher Ebene verdinglicht hat, indem er ihn allein als Kampf um knappe Ressourcen definiert“ (Köhler 2001: 138), beleuchtet exakt den Punkt, an dem die auf Bourdieus Theorie gemünzten Einwände des Determinismus und der Hermetik ihre Berechtigung haben. Mit Bezug auf das reizvolle Vorhaben der Schaffung einer praxeologisch-materialistisch basierten Bildungskonzeption repräsentiert die Überwindung der destruktiven Engführungen, welche die reine ‚Entlarvungshermeneutik‘ Bourdieus aus sich hervortreibt, eine, wenn nicht die wichtigste Herausforderung. Einen konkreten Anlass für die Inangriffnahme dieses Schritts bietet indes die seit einiger Zeit vermehrt zu beobachtende affirmativ-positivistische Vereinnahmung bzw. Entschärfung von Teilen der Bourdieu’schen Kultursoziologie (dies gilt vornehmlich für die Kategorie des kulturellen Kapitals), welche möglicherweise von der Verschließung gegenüber den transzendierenden Momenten, die in den alltäglichen sozialen Kämpfen auch zum Vorschein gelangen, mitbegünstigt wird. Umgekehrt würde eine erweiternde Auslegung der von Bourdieu intendierten Bewusstwerdungs- bzw. Bewusstmachungsprozesse, die sich auf die „Phantasietätigkeit als Produktionsform authentischer Erfahrung“ (Negt/Kluge 2001:
32 „Die ökonomischen Verhältnisse werden (von Marx, S.K.) nicht glorifiziert, sondern sollen im Gegenteil eine solche Gestalt erhalten, daß ihre Rolle im Leben der Menschen zurücktritt. Die Menschen haben sich in der seitherigen Geschichte, wie Engels sagt, bestimmen lassen von der ‚Fremdherrschaft‘ ihrer eigenen gesellschaftlichen Kräfte, weshalb sie im strengen Sinne aus naturgeschichtlichen Bedingungen noch gar nicht herausgetreten sind.“ (Schmidt 1971: 136) Vgl. in diesem Kontext: „Das universale Tauschprinzip […] schneidet die Qualitäten, die spezifischen Eigenschaften der zu tauschenden Güter, damit auch die spezifischen Arbeitsformen der Produzierenden und die spezifischen Bedürfnisse derer, die sie empfangen, ab. […] Völlige Gleichheit ist gleichgültig. Sondern daß nach den Bedürfnissen der Menschen produziert wird.“ (Adorno (1974) in einem Gespräch mit Gehlen)
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37733) einlässt, Chancen offerieren, den Entwurf einer rationalen Pädagogik auszubauen und mit bildungstheoretischen Dimensionen zu versehen. Ansetzen könnten solche Versuche dabei u.a. an dem provokatorischen Charakter seiner Analysen (zu denken ist z.B. an den „antibürgerlichen Affekt“ (Honneth 1990: 184), welcher das Werk über die ‚feinen Unterschiede‘ durchzieht) und an den gelegentlich aufblitzenden ‚Überschüssen‘.34 Hier deuten sich (unterschwellige) Risse in der ansonsten dominanten utilitaristisch-zweckrationalen Orientierung an, die zu vertiefen sind und es ist zumindest vorstellbar, dass eine nicht hinter die fruchtbaren Desillusionierungen und konstruktiven Impulse der Bourdieu’schen Kritik zurückfallende Erweiterung insbesondere unter Rekurs auf praxisphilosophische Ansätze – primär sind an dieser Stelle Henri Lefèbvres Kritik des Alltagslebens sowie Gramscis Philosophie der Praxis zu erwähnen – gelingen kann, die sich anders als diejenigen aus dem Spektrum der revidierten Kritischen Theorie als (tendenziell) anschlussfähig erweisen dürften und welche außerdem im Kontext der jüngeren Forschungsbeiträge zur Grundlegung einer nicht-negativistischen kritischen Pädagogik auf nachhaltiges Interesse gestoßen sind (vgl. Sünker 1989; Bernhard 2005). Die Klärung der keineswegs allein aus einer bildungstheoretischen Perspektive dringlichen Frage, inwieweit sich durch diese Einbeziehung ein tragfähiger Pfad von der entlarvenden zur „entbergenden Hermeneutik“ (Köhler 2001: 133) aufbauen lässt, muss indessen späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
33 „Das, was vom Gesichtspunkt der Verwertung her als besonders schwer beherrschbar erscheint, das unverarbeitete, sich der bürgerlichen Einordnung entziehende Restpotential der unentfalteten Wünsche, Vorstellungen [...] wird als Phantasie, als der Zigeuner, der Arbeitslose unter den intellektuellen Tätigkeiten hingestellt. In Wahrheit ist diese Phantasie ein spezifisches Produktionsmittel, das für einen Arbeitsvorgang gebraucht wird, den das kapitalistische Verwertungsinteresse nicht ins Auge fasst: die Veränderung der Beziehungen der Menschen untereinander, zur Natur und die Wiederaneignung der in der Geschichte gebundenen toten Arbeit der Menschen.“ (Negt/Kluge 2001: 382; Hervorhebung in Original) 34 Diese sind etwa im Rahmen von Bourdieus ‚Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion‘ aufzuspüren, welchen die folgenden Sätze vorangestellt werden: „Dieses Europa hat keine andere Utopie als jene, die sich zwangsläufig aus den Unternehmensbilanzen und Buchführungen ergibt, kein positives Projekt, nur das der shareholders, denen es nur noch um maximale Renditen geht, denen Bildung und Kultur nur noch als Produktionsfaktor in den Sinn kommen [...]. […] Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen […]“ (Bourdieu 1998b: 9).
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IV. Politisierungen
Der Streit um den ästhetischen Blick Politik und Ästhetik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière J ENS K ASTNER „Der Sieg stand außer Zweifel, sie stolzierten in ihren alten Schuhen und ihren abgetragenen Überziehern einher, weil sie diese Lappalien geringachteten, weil sie übrigens nur zu wollen brauchten, um die Herren zu sein. Und das ging nicht ab ohne eine ungeheure Verachtung alles dessen, was nicht ihre Kunst war, Verachtung des Geldes, Verachtung der Welt, Verachtung der Politik vor allem. Wozu war dieser Dreck da nütze? Nur Schwachköpfe gaben sich damit ab! Und eine hochmütige Ungerechtigkeit hob sich empor, eine gewollte Unkenntnis der Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens, der irre Traum, auf Erden nur Künstler zu sein. Sie waren darin mitunter geradezu albern, aber diese Leidenschaft machte sie mutig und stark.“ Emile Zola, DAS WERK [1892], Berlin: Aufbau Verlag 2008, S. 81.
Der Philosoph Jacques Rancière hat verschiedentlich gegen die Sozialtheorie Bourdieus Stellung bezogen.1 Diese Kritik, bereits ausführlich in seinem Buch „Der Philosoph und seine Armen“ (2010a [1983]) formuliert, richtet sich gegen verschiedene Aspekte des Bourdieu’schen Schaffens und betrifft neben methodologischen Fragen nach den Grundlagen empirischer Sozial1
Ich danke Ruth Sonderegger und Ulf Wuggenig für ihre hilfreichen Anmerkungen zur ersten Fassung dieses Textes.
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forschung auch inhaltliche Aspekte wie den sozialkritischen Impetus einiger Arbeiten Bourdieus.2 Kulminationspunkt von Rancières Kritik ist aber, und das ist eine erste These dieses Textes, der „ästhetische Blick“. Während sich in den Auseinandersetzungen mit Ästhetik durchaus – von Rancière durchweg geleugnete – Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen des Soziologen und des Philosophen finden lassen, unterscheiden sie sich in der Frage nach der sozialen Bedeutung des ästhetischen Blicks radikal. Besondere Bedeutung erlangt der Streit um den ästhetischen Blick nicht zuletzt dadurch, dass er die Grundfrage des Verhältnisses von Ästhetik und Politik verhandelt. Diese Verhandlungen rechtfertigen es auch, diesen Aufsatz in einem Band zu veröffentlichen, dem es um die Traditionslinien zwischen und den Bruchkanten von der Kritischen Theorie und Pierre Bourdieu zu tun ist. Denn das Verhältnis von Ästhetik und Politik kann als eines der Schlüsselprobleme gelten, das die Werke so verschiedener Autoren der Kritischen Theorie wie Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verband. Bevor aber geklärt wird, worum es sich beim ästhetischen Blick überhaupt handelt und inwiefern ihm sozialtheoretische Relevanz zukommt, werden zunächst entlang der zentralen Vorwürfe Rancières die Grundzüge der Bourdieu’schen Kunsttheorie aufgezeigt. Inwiefern die Frage der Ästhetik immer eine die politische Philosophie und die Sozialtheorie überschreitende ist, wird im Anschluss daran in der genaueren Betrachtung der Rancière’schen Einwände deutlich. Im letzten Teil dieses Textes wird dann das von Bourdieu wie Rancière behandelte Problem der Politik der Ästhetik diskutiert: In der Frage nach der Emanzipation treffen sich beide, in der jeweiligen Antwort darauf trennen sie sich grundsätzlich.3
2
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Nicht zuletzt weil „Der Philosoph und seine Armen“ erst im November 2010, also 27 Jahre nach der Erstveröffentlichung, auf Deutsch erschienen ist, beschränkt sich die deutschsprachige Literatur zur Kritik Rancières an Bourdieu auf wenige Texte, so z.B. Sonderegger 2010. In Frankreich hat Charlotte Nordmann (2006) diese Debatte eröffnet. Rancière sei, schreibt Ruth Sonderegger (2010: 18), „nicht zuletzt deshalb ein so scharfer wie hellsichtiger Kritiker Bourdieus, weil er dessen emanzipatorisches Anliegen teilt.“ Rancière schließt mit seiner Kritik durchaus an geläufige Einwände gegen die Theorie Bourdieus an, ohne allerdings diese Debatten aufzugreifen. Sonderegger macht vor allem drei Ebenen der Kritik an Bourdieu aus: Erstens wird ihm vorgeworfen, der Habitus sei ein zu starres, im Zweifel deterministisches Konzept, dass kaum Ausnahmen und Abweichungen zulasse. Zweitens überschätze Bourdieu die Position der Sozialwissenschaften in der Generierung gültigen Wissens (über die soziale Welt und im Gegensatz zum Wissen der AkteurInnen selbst), und als Konsequenz aus diesen beiden Annahmen mache Bourdieu die Gegenstände seiner Forschungen drittens zu passiven Objekten, denen die Erkenntniskraft und Handlungsmacht abgesprochen würde, anstatt sie zu stärken.
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Es ist bloß eine einzige Seite, die in einer der im deutschsprachigen Raum meist rezipierten Schriften Jacques Rancières (2006) der Soziologie Bourdieus gewidmet ist. In „Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien“ kommt aber bereits die ganze Wucht zum Ausdruck, mit der der Philosoph die Herangehensweise des Soziologen verachtet. Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ ziele darauf, die vorgebliche Interesselosigkeit der Wahrnehmung von kulturellen Produkten als Schein zu entlarven und die Geschmacksurteile als auf einem sozialen Handel mit symbolischen Gütern basierend zu begreifen. Dieses Anliegen bezeichnet Rancière (2006: 79) als Entmystifizierung, die „zwar ein billiges Bündnis zwischen wissenschaftlichem und politischem Fortschrittsdenken“ sichere, dabei aber den Gegenstand verschwinden lasse. Mit Gegenstand ist hier nicht allein die künstlerische Arbeit gemeint, die einem allgemeinen Vorurteil entsprechend den kunstsoziologischen Ansätzen schlechthin entgleite.4 Gemeint ist auch die dem Kunstwerk laut Rancière immanente Politik. Statt also die „billige Bequemlichkeit der Entmystifizierer“ (ebd.) zu betreiben, gelte es, sich dieser so genannten Politik der Ästhetik zu widmen. „Denn die politischwissenschaftliche Kritik an der ästhetischen Illusion übersieht die Tatsache, dass es eine Politik der Ästhetik gibt – und zwar nicht als eine Einbildung unbedarfter Philosophen, sondern als eine zwei Jahrhunderte alte Wirklichkeit, die von den Institutionen der Kunst, das heißt von den materiellen Bedingungen ihrer Sichtbarkeit, verkörpert wird“ (ebd.). Diese relativ argumentfreie Behauptung der Existenz einer Politik der Ästhetik wird nicht empirisch untermauert, sondern mit der zentralen philosophischen These Rancières unterlegt. Es gelte, statt die differenzierende Perspektive auf die sozialen Bedingungen von Kunstproduktion und -rezeption zu legen, sich jener Form von Freiheit und Gleichheit zu widmen, „welche die Ästhetik mit der Identifizierung dessen, was Kunst überhaupt ist, verbunden hat“ (ebd.). Die Ästhetik im Sinne Rancières ist also erstens etwas weit über die Kunst Hinausgehendes, das zweitens in dem Moment, in dem es mit jener Identifizierung in Verbindung gebracht wird, etwas anderes offenbart, nämlich eine bestimmte Form von Freiheit und Gleichheit. Diese Freiheit und Gleichheit sind drittens zugleich Grundlage jener Ästhetik im weiteren Sinne und das Politische einer Ästhetik im engeren Sinne. Dieser Politik der Ästhetik fügt Rancière eine vierte, normative Setzung hinzu: Sie sei durch ein Paradox gekennzeichnet, das darin bestehe, „dass es einen gemeinsamen Sinn, einen ‚Gemeinsinn‘ gibt, der in dem Maße politisch ist, in dem er Sitz
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Bourdieu (1993c: 197) setzt sich explizit mit diesem Vorurteil auseinander. Es scheint bereits in Adornos Vorlesungen zur Ästhetik (1958/59) auf, wenn dieser die Befassung mit ästhetischer Theorie gegenüber dem individualistischen Vorurteil verteidigt, „daß Kunst ja etwas sei, was wesentlich abhänge von der Begabung sowohl dessen, der sie hervorbringt, wie auch dessen, der sich verstehend in irgendeiner Weise zu ihr verhält.“ (Adorno 2009: 26)
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einer radikalen Gleichgültigkeit ist“ (ebd.). Es geht Rancière letztlich wie Bourdieu darum, nicht allein das Politische der Kunst zu beschreiben, sondern darüber hinaus eine emanzipatorische theoretische Praxis im Umgang mit Ästhetik im Sinne von grundlegenden Denk- und Wahrnehmungsschemata auf der einen und mit künstlerischen Arbeiten auf der anderen Seite zu entwickeln.5 Rancière wählt dazu allerdings, wie gerade angedeutet, einen gänzlich anderen Weg als Bourdieu. Die Vehemenz der Abgrenzung rührt daher, so viel lässt sich bereits sagen, dass die künstlerische Produktion bei Bourdieu ebenso wie bei Rancière ein Anlassfall für Exemplifizierung und Anwendung von Grundannahmen der Sozialtheorie bzw. der politischen Philosophie ist. Um deren Gegensätze und mögliche Gemeinsamkeiten herauszustellen, wird nun Bourdieus Kunsttheorie entlang der soeben skizzierten Abgrenzungen Rancières kurz dargestellt.6
D ISTINKTION , D IFFERENZ UND DIE K UNSTTHEORIE B OURDIEUS Die Identifizierung dessen, was wir Kunst nennen, hat im 19. Jahrhundert besondere, im Wesentlichen bis heute gültige Formen angenommen. Bourdieu beschreibt sie als die Autonomisierung des künstlerischen Feldes. Dies ist ein vielgestaltiger Prozess, in dessen Verlauf die Kunst selbst, bereits seit der Renaissance deutlich vom Handwerk geschieden, nach ihr gänzlich eigenen, neu herausgebildeten Kriterien beurteilt wird. Diese Herausbildung neuer Maßstäbe für das, was als gute und damit eigentliche Kunst gilt, zeichnet Bourdieu für die bildende Kunst am Beispiel von Édouard Manet und den ImpressionistInnen nach. Der impressionistische Kreis bricht demnach mit den drei obersten Prinzipien der Malerei, nämlich der Lesbarkeit der Werke, der Vollendung des Werkes und der technischen Perfektion. Dass neue Methoden zu allgemein anerkannten ästhetischen Standards führen können, diese „Institutionalisierung der Anomie“ (Bourdieu 1993a), ist einerseits auf die feldinternen Entwicklungen des Umgangs mit den Mitteln zurückzuführen, die Neuerungen und Revolutionäres immer schon „innerhalb des bestehenden Systems des Möglichen in Form struktureller Lücken 5
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Auch in dieser Hinsicht greift die Rancière-Bourdieu-Debatte ein zentrales Motiv Kritischer Theorie auf, in dem der Kunst gerade wegen ihrer Außeralltäglichkeit Potenziale für das Alltäglich-Reale zugesprochen werden, paradigmatisch etwa bei Herbert Marcuse (2000: 138f.): „Die Sprache der Kunst ist anders als die des Alltags, ihr Bild anders als das seine. Und eben diese Differenz ermöglicht die Subversion der Erfahrung, die den Alltag im Lichte der Wahrheit erscheinen läßt, Erkenntnis vermittelt, das Gegebene transzendiert.“ Für eine systematische Darstellung der Kunsttheorie Bourdieus vgl. Kastner 2009a, Schumacher 2011, Wuggenig 2011, zur Debatte um sie vgl. etwa Wuggenig 1995, Zahner 2006, Graw 2008, Kastner 2010a.
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virtuell bereits“ (Bourdieu 2001a: 372) enthalten. Andererseits ist dies aber auch das Ergebnis von feldinternen Kämpfen um Positionierungen, die, ausgehend von unterschiedlichen Dispositionen und bezogen auf relationale Positionen innerhalb des Feldes, nicht nur von den KunstproduzentInnen selbst, sondern nur im Einvernehmen mit KritikerInnen, JournalistInnen, HändlerInnen und anderen AkteurInnen des Feldes erfolgreich durchgesetzt werden können. Jede Transformation einer marginalen Position zur dominanten beruht auf dem erzeugten „Glauben einer ganzen sozialen Gruppe“ (Bourdieu 2005: 118), der auf der Akkumulation symbolischen Kapitals gründet. Über dieses symbolische Kapital verfügten die KunstfeldrevolutionärInnen unter anderem Dank ihrer bürgerlichen Herkunft. Diese garantierte erst ihre Respektabilität und ermöglichte die multiplen Austauschbeziehungen mit anderen Fraktionen des Bürgertums, das ab Mitte des 19. Jahrhunderts seine ökonomische Macht gefestigt hatte. Kurz, die AkteurInnen des Feldes erkämpfen sich also einerseits selbst das „Recht auf Konsekration“ (Bourdieu 2001a: 106), d.h. die legitime Identifizierung dessen, was Kunst überhaupt ist, tun dies andererseits aber nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und mit Hilfe anderer. Die Autonomie betrifft somit auf der einen Seite die Produkte künstlerischer Arbeit, die nach neu etablierten Maßstäben beurteilt werden, und auf der anderen Seite entsteht zugleich auch für die ProduzentInnen, RezipientInnen und HändlerInnen der Kunst eine Unabhängigkeit, die sich von vormals wirksamen Produktions-, Rezeptions- und Distributionsweisen absetzt.7 Nach der Ablösung von Klerus und Adel als maßgebliche Auftraggeber für künstlerische Arbeiten, kommt nicht nur mit der Entstehung des Kunstmarktes den KunsthändlerInnen eine immer wichtiger werdende Bedeutung zu. Auch die vergleichsweise massenhafte Kunstbetrachtung seit der Öffnung der Museen in der Französischen Revolution und die steigende Anzahl der von alltäglichen Notwendigkeiten be-
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Im Anschluss an Bourdieu und um Missverständnisse in der Debatte einzuschränken, lässt sich die Autonomie des Kunstwerks von der Autonomie des künstlerischen Feldes unterscheiden. Beide hängen zwar zusammen, sind aber nicht identisch: Dass sich die Entwicklungen innerhalb eines Feldes nach spezifischen Eigenlogiken vollziehen, determiniert nicht unbedingt die gesellschaftlichen Produktions- und Rezeptionsweisen der Produkte dieses Feldes. Die sich innerhalb eines Feldes in Kämpfen durchsetzenden Kräfte sind „in hohem Maße abhängig vom Stand der externen Kämpfe und der Verstärkung, die die Parteien draußen jeweils finden können [...].“ (Bourdieu 1998: 66) Dies betrifft letztlich auch die einzelne künstlerische Arbeit. An seiner Haltung gegenüber der Autonomie des künstlerischen Werkes hat er keine Zweifel gelassen: Es sei Aufgabe der kunstwissenschaftlichen Forschung, das Feld der künstlerischen Produktion und ihrer Räume der Möglichkeiten zu untersuchen, und keineswegs nur stilistische und formale Entwicklungen. Dies sei „gegen die Autonomisierung der Werke gesagt, die theoretisch wie praktisch nicht gerechtfertigt ist.“ (Bourdieu 1993c: 206)
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freiten bzw. ihnen in bohemistischer Gleichgültigkeit gegenüberstehenden jungen Leute, die sich als KünstlerInnen betätigen können, verändern das Feld der künstlerischen Produktion nachhaltig. Die jeweilige Autonomie geht jedoch immer mit einer starken sozialen Abhängigkeit einher. So wie die feldinternen Kämpfe der jungen Aufstrebenden gegen die alten Arrivierten in ihrem Prinzip weitgehend unabhängig von außerhalb der Kunst stattfindenden Auseinandersetzungen sind, ihr Ausgang aber durchaus davon abhängt, inwieweit Verbindungen zum Feld der Macht oder dem sozialen Raum als ganzem gelingen (vgl. Bourdieu 2001a: 207f.), so stehen auch die Bewertungskriterien für Kunst (und kulturelle Werke allgemein) in einem Wechselverhältnis mit den jeweiligen Positionen im sozialen Raum. Als empirisch nachvollzogene Wahrscheinlichkeiten kann Bourdieu aufzeigen, dass KünstlerInnen mit proletarischer Herkunft zu bestimmten, nämlich „realistischen“ Ausdrucksformen tendieren, dass die neuen Unternehmer, wenn überhaupt, andere Kunstwerke rezipieren und präferieren als die Intellektuellen und dass Bäuerinnen und Bauern insgesamt nur sehr selten zu solchen RezipientInnen zählen, dass die Gebrauchsweisen kultureller Güter insgesamt also nach klassen- und milieuspezifischen Merkmalen stark variieren. Dies sind Variationen, die auch nach geschlechter- und ethnizitätsspezifischen Charakteristika zu untersuchen wären. Was sich in dem Moment offenbart, in dem bestimmte Praktiken und Produkte, Denk- und Wahrnehmungsweisen mit der Kunst identifiziert werden, ist also nach Bourdieu nicht eine Gleichheit, sondern sind viele kleine Differenzen: Die „Autoren, Schulen, Zeitschriften usw. existieren überhaupt nur in den Unterschieden und durch die Unterschiede, die sie trennen.“ (Bourdieu 1998: 63) Gleiches ließe sich für ihre Rezeptionsweisen sagen. Bourdieu hat sich wie Rancière auch mit dem Verhältnis beschäftigt, in dem kulturelle Produkte auf der einen und Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungsweisen einer Epoche auf der anderen Seite zueinander stehen. Er hat sogar mit dem Begriff des Habitus – häufig unbeachtet von seiner Rezeption innerhalb der Soziologie – einen seiner zentralen sozialtheoretischen Termini aus der Beschäftigung mit dieser Relation heraus entwickelt.8 Mit dem Habitus beschreibt Bourdieu die kollektive und historische Eingebundenheit individueller Praktiken, er bezeichnet die Ablagerungen des Gewesenen als Grundlage für das Neue und stellt theoretisch eine Vermittlung zwischen Struktur und Praxis sowie zwischen Objektivismus und Subjektivismus dar.
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Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky nutzte bereits den Begriff des Habitus für Formen eines „kollektiven Unbewussten“, das er in der Ähnlichkeit bestimmter Bauwerke einer Epoche zum Ausdruck kommen sah (vgl. Bourdieu 1970). Die zweite wesentliche, empirische Grundlage für die Entwicklung des HabitusBegriffes bei Bourdieu ist in den ethnologischen Studien in der Kabylei und der Frage nach dem Ausbleiben des Widerstands der Beherrschten zu sehen (vgl. Bourdieu 2009).
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Es sind sowohl auf Seiten der künstlerischen Produktion als auch auf Seiten der Kunstrezeption die verkörperlichten Dispositionen, die habituellen Schemata, die bestimmte Praktiken wahrscheinlicher machen als andere und die als abgrenz- und unterscheidbare auch Gruppen- und Milieuzugehörigkeiten anzeigen und verstärken. Gegen den Kult um den individuellen Schöpfer betont Bourdieu (1993c: 205) die „objektiv sich herstellende Korrespondenz zwischen dem Produzenten (Künstler, Kritiker, Journalisten, Philosophen usw.) und seinem Publikum“, die sich aus den ästhetischen Stellungnahmen im jeweiligen Produktionsfeld ergibt (und insofern auch nicht als determiniert, bewusst hergestellt und/oder direkt ableitbar zu denken ist). Gegen die Annahme von der Kunstbetrachtung als einer Angelegenheit persönlicher Geschmacksurteile verweist Bourdieu (1987: 25) auf deren Eingebundenheit in die „Dispositionssysteme (Habitus) der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen [...].“ Jedes Geschmacksurteil geht demnach nicht nur aus solchen Involviertheiten hervor, sondern speist sich umgekehrt auch in sie ein: „Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornimmt.“ (Ebd.)9 Es lässt sich also ein Zusammenhang ausmachen zwischen dem, was KünstlerInnen tun, dem gesellschaftlichen Umgang mit diesem Tun und dem, wie dieses Tun und dieser Umgang die allgemeine Wahrnehmung und das Denken (innerhalb eines sozialen Raumes zu einer bestimmten Zeit) insgesamt tangieren. Die politische Dimension dieses Zusammenhangs sieht Bourdieu aber im Gegensatz zu Rancière vor allem in der Aufrechterhaltung und Reproduktion der sozialen und kulturellen Differenzen: „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden [...].“ (Bourdieu 1987: 36) Wenn es gegenüber solchen Klassifizierungen eine „radikale Gleichgültigkeit“ gibt, die nach Rancière das Paradox der Politik der Ästhetik ausmacht, dann wäre sie nach Bourdieu nicht politisch im emanzipatorischen, sondern im konservativen Sinne. Emanzipation kann für Bourdieu erst da beginnen, wo die Klassifizierungsfunktionen der kulturellen Produktionen aufgeschlüsselt – und voraussetzend dafür benannt – sind, um die Herrschaft stabilisierenden Funktionen der Differenzen auszuhebeln.
9
Die an Bourdieu angelehnte Behauptung von Beat Wyss (2009: 87), im kulturellen Feld gebe der Habitus „die Distinktionsmerkmale an – und nicht die Klassenzugehörigkeit“, muss daher als Fehlinterpretation bezeichnet werden. Wyss’ gesamte Bourdieu-Auslegung beruht vornehmlich auf der Lektüre von „Zur Soziologie der symbolischen Formen“ (Bourdieu 1970), womit ihm die später weiter entwickelten, auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit ausgerichteten Aspekte der Kunsttheorie entgehen.
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V ERSCHLEIERUNG
UND DIE
K RITIK R ANCIÈRES
Rancière spricht in historischer Perspektive nicht von einem Feld der Kunst, sondern macht um 1800 einen Paradigmenwechsel in den Wahrnehmungsweisen schlechthin aus. Dieser Bruch in der „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2006: 75) betrifft auch, aber nicht nur die Kunst. Ihre Grenzen zur Nicht-Kunst verschwimmen, künstlerische Institutionen, Praktiken und Werdegänge sind prinzipiell nicht mehr nur einer bestimmten Schicht oder nur einem Milieu zugänglich, auch ArbeiterInnen schreiben Gedichte und besuchen das Theater: „,Ästhetik‘ ist das Wort, das den einzigartigen, schwierig zu denkenden Knoten benennt, der sich vor zwei Jahrhunderten zwischen der Erhabenheit der Kunst und dem Geräusch einer Wasserpumpe, zwischen einem verschleierten Streichertimbre und dem Versprechen einer neuen Menschheit gebildet hat.“ (Rancière 2007a: 24). Nicht nur Berufstätigkeit und soziale Rollen verlieren ihre zwingende Bindung aneinander, auch die Ein- und Aufteilung der Gegenstände und Personen schlechthin wird neu gemischt, es scheint eine grundlegende Gleichheit auf (vgl. Rancière 2007a: 23). Die Kunst als Terrain oder Potenzial der Gleichheit zu bestimmen, oder aber sie als paradigmatischen gesellschaftlichen Bereich auszumachen, in dem Differenzen (in der Art und Weise, die Dinge wahrzunehmen, wertzuschätzen und zu gebrauchen) zum Ausdruck kommen und perpetuiert werden, die sozial konstitutive Effekte haben, hat Auswirkungen auf das Verständnis des Zusammenhangs von künstlerischer Produktion und der Ästhetik als Denk- und Wahrnehmungsstrukturen. Ähnlich wie bei Bourdieu werden auch in der Beschäftigung Rancières mit der Kunst sämtliche Grundannahmen und Begrifflichkeiten des gesamten theoretischen Ansatzes in Anschlag gebracht. Während Bourdieus Fokus sich auf die Beständigkeiten und Stabilitäten des Sozialen und deren Reproduktionen im Feld der Kultur richtet, ist die Fragerichtung bei Rancière eine andere. Sie wendet sich den Sprechweisen und Praktiken zu, die die vorherrschenden, konsensualen „Aufteilungen des Sinnlichen“ durchbrechen und „diese Anordnung zu stören“ (Rancière 2008c: 32) in der Lage sind. Solche Störungen und Unterbrechungen dominanter Klassifikationen aufzuspüren, ist selbst schon eine Form der Intervention in einen Diskurs. Allerdings unterscheidet sich Rancières Herangehensweise hier grundsätzlich von soziologischen Untersuchungen und den in ihnen vorgenommenen Kategorisierungen. Klassifikationen keinesfalls beschreibend zu verdoppeln, ließe sich als eine der zentralen Ansprüche Rancières an seine eigene Arbeit interpretieren: „Die ‚politische Philosophie‘“, schreibt Rancière (2010b: 117), „muss der Ort einer nichtversöhnbaren Unstimmigkeit bleiben.“ Die Methode wird letztlich als eine begriffen, die dem Gegenstand entspricht: So wie die Politik laut Rancière genau da entsteht, wo herrschende Einteilungen und Ordnungen durchbrochen werden, so muss eben auch die Philosophie, will sie eine politische sein, sich solchen Einteilungen verweigern.
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In „Der Philosoph und seine Armen“ stellt Rancière die Position Bourdieus als das Extrem jener philosophisch-soziologischen Tradition dar, die von Platon über Marx und Sartre „den Armen“ zwar durchgängig zum Thema gemacht, ihn aber dabei immer an seinen Platz verwiesen habe. Unter dem Vorwand, sie zum sprechen zu bringen, habe die PhilosophieSoziologie die Armen benutzt, um sich selbst zu rechtfertigen. Die beschriebene Ordnung wird von Rancière immer zur normativen Ordnung der Beschreibenden erklärt, die daher an deren Aufrechterhaltung mitwirkten. „Die Ordnung wird überall dort bedroht, da ein Schuster etwas anderes als Schuhe macht.“ (Rancière 2010a: 88) Diese Ordnung der Tätigkeiten ist also zugleich auch eine Ordnung des Denkens und Wahrnehmens. Dies ist der Hintergrund, vor dem Rancière die Sozialtheorie Bourdieus zum Anlass nimmt, seine eigene Konzeption des Zusammenhangs von Ästhetik und Politik auszuführen. Die Wahrscheinlichkeiten (für den Konsum kultureller Güter), die die Soziologie ermittelt, seien zugleich ihr epistemologisches Problem: Mittels ihrer Fragebögen könne sie nur das „Spiel der doxa mit sich selbst“ (Rancière 2010a: 230) weitertreiben und die Befragten das bereits Gesagte wieder und wieder antworten lassen. Wenn die Wahrscheinlichkeiten aber dermaßen groß und geläufig seien, gerät die Soziologie als Wissenschaft, die das Geläufige aufzuspüren und verständlich machen will, in Begründungsnot. Abhilfe in dieser Not schaffe, so Rancière, die Behauptung, die Geläufigkeit des Geläufigen werde verschleiert. Was aber könne, fragt Rancière nicht ohne Polemik, verschleiert sein am Geläufigen und an Offensichtlichkeiten wie den von Bourdieu aufgezeigten Aussonderungsmechanismen von Institutionen wie der Schule oder dem Museum? „Was ist denn nun verschleiert in diesem Geheimnis, das jeder kennt? Die Antwort springt ins Auge: seine Verschleierung!“ (Rancière 2010a: 232) Im Lüften dieses Schleiers finde die Soziologie dann ihre Selbstlegitimation als Wissenschaft. Dermaßen formiert, betreibe sie aber eher Mythologie als Aufklärung. Denn diejenigen, die von den Wahrscheinlichkeiten abweichen, beispielsweise eben AkademikerInnen aus der Arbeiterklasse oder Bäuerinnen im Museum, könnten individuell nur als VerräterInnen ihrer Klasse gesehen werden, indem sie sich den Maßstäben der legitimen Kultur unterwerfen würden, und kollektiv als an der Verschleierung Beteiligte, indem sie ihren individuellen Erfolg als Möglichkeit trotz Aussonderung aufzeigten. Die Soziologie Bourdieus reagiere hierauf mit der Behauptung einer symbolischen Gewalt, die die AbweichlerInnen zur Verkennung ihrer eigenen Situation zwinge. Damit sei wieder jede/r an seinen/ihren Platz verwiesen und die Soziologie quasi als Meta-Wissenschaft der Aufdeckung von Verschleierung und Verkennung etabliert. „Denn die dermaßen eingestellte Gesellschaftsmaschine ist immer nur die entwickelte Form des Axioms, das der Soziologie erlaubt, als Wissenschaft zu existieren, indem sie sicherstellt, dass ihr Gegenstand sich nicht von allein erklärt.“ (Rancière 2010a: 242) Die Soziologie rechtfertige sich damit nicht nur auf gewissermaßen unrühmliche Weise selbst.
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Diese Selbstlegitimation betreibe sie darüber hinaus gewissermaßen auf dem Rücken des Gegenstands. Indem sie im Hinblick auf die von ihr beschriebenen Subjekte „von der Illusion der Freiheit ausgeht“ (Rancière 2010a: 243), rechtfertige sich die Soziologie Bourdieus zu allem Übel auch noch auf Kosten eben dieser Subjekte: „Das Verdammungsurteil wird also erbarmungsloser als jemals zuvor gefällt.“ (ebd.) Verdammt würden eben Leute wie der nicht das Museum besuchende Bauer oder die aufstiegschancenlose Arbeitertochter, indem sie als einem Symbolsystem ausgesetzt beschrieben werden, welches sie ihre eigene Lage verkennen und damit als gegeben anerkennen ließe. Rancière sieht also im Beschreiben ein Festschreiben: Die Beschreibung von Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen von Praktiken und Geschmackspräferenzen, die Bourdieu aufgrund der Eingebundenheit von Einzelnen in kollektive und historische Zusammenhänge erhebt, erscheint ihm erst als Einschreibung der Einzelnen in diese Kollektivität. Letztlich geht Rancière von einem enormen Effekt sozialwissenschaftlicher Arbeit aus, der die als gruppenähnlich erhobenen und beschriebenen Praktiken Einzelner erst zu einer kollektiven Wirklichkeit werden lässt, die es vorher nicht gab. Dieser Effekt ergebe sich nicht zufällig, sondern die Soziologie Bourdieus sei von einem Willen zur „sozialen Reorganisation“ gekennzeichnet, sie wolle „für das Wohl der Wissenschaft [...], dass die getrennten Klassen unterschiedene Sinne haben.“ (Rancière 2007a: 22) In diesem Kurzschluss, der der soziologischen Beschreibung eine intendierte und direkte performative Wirkung auf die Beschriebenen unterstellt, liegt das zentrale Charakteristikum der gesamten An- und Vorwürfe Rancières gegenüber Bourdieu.10
10 Aus der Sicht Rancières kritisiert Bourdieu paradigmatisch das „ästhetische Durcheinander“ (Rancière 2007a: 13), das auch „die soziale Ordnung und ihre Transformation“ (ebd.) betreffe. Paradigmatisch ist diese Kritik insofern, als Rancière ihr im Hinblick auf die ästhetische Theorie auch die Position JeanFrancois Lyotards zuordnet (vgl. Rancière 2007b: 105ff.), in Bezug auf die Soziologie sieht er in diesem Punkt Bourdieu mit Zygmunt Bauman und Luc Boltanski/Ève Chiapello vereint (vgl. Rancière 2008b: 35ff.). Ausgerechnet Boltanski im Hinblick auf die Frage der Kritik Konformität mit der „Lehre Bourdieus“ (Rancière 2008b: 46) zu unterstellen, entbehrt schon nicht einer gewissen Mutwilligkeit: Erstens dürften Rancière die Absetzbewegungen des ehemaligen Schülers Bourdieus und dessen Versuch nicht entgangen sein, der „kritischen Soziologie“ eine Soziologie der Kritik entgegenzusetzen. Und zweitens löscht Rancière in Bezug auf seine eigene Position jegliche Vor- oder auch nur, wenn man so will, Nebenläuferschaft aus. Das Verschleierungsmotiv und das Festhalten an der Unterscheidung von wissenschaftlichem und alltäglichem Wissen und die damit vermeintlich einhergehende Geringschätzung der AkteurInnen wird jedenfalls auch von Boltanski an Bourdieu kritisiert. Ulf Wuggenig (2010: 114) hat in seiner Rekonstruktion dieser Debatte u.a. Positionen Boltanskis herausgearbeitet, die sich von denen Rancières kaum unterscheiden: „Man könnte Bol-
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Vor dem Hintergrund dieser Interpretation der Bourdieu’schen Soziologie als einer „Wissenschaft der Kräfteverhältnisse, die diese für unveränderbar erklärt“ (Rancière 2010a: 244f.), wendet sich Rancière dann genauer der Frage der Geschmacksurteile und dem Umgang mit den kulturellen Produktionen zu. Die Methode der repräsentativen Stichprobe, die die Musik nicht vorspiele sondern deren Kenntnis abfrage, bringe nur die erwartbaren Ergebnisse hervor – dass ArbeiterInnen eingestehen, ernste Musik sei nichts für sie und Gebildete vorgeben, jede gute Musik zu mögen –, schließe aber per se die Abweichung aus. Eine Korrektur der Kant’schen Ästhetik, wie Bourdieu sie angestrebt hatte, sei auf diese Weise nicht zu erreichen. „Kant behauptet im ästhetischen Urteil die Ausübung einer Fähigkeit, die sich von der gelehrten oder auch mondänen Erkenntnis unterscheidet. Indem der Soziologe den Musikgeschmackstest in einen Musikkenntnistest verwandelt, hat er das Problem gelöst, ohne es überhaupt anzugehen.“ (Rancière 2010a: 253) Gleiches gelte für die Kunst: Die Methode verhindere, anderes herauszufinden, als soziologisch vorausgesetzt würde. Dem Bildungsfernen ein Kunstwerk vorzulegen, das er nicht nach kunstinternen Kriterien bewertet, um zu zeigen, wie kunstfern die Bildungsfernen sind, unterstelle, dass der Bildungsferne insgeheim doch verstünde, was ein ästhetisches Urteil ist und dieses dann standesgemäß aber nicht abgäbe. Eine solche Umfrage schreibe nur die diesbezüglichen Vorannahmen der Soziologie fest: „Die ‚Volksästhetik‘ ist einfach das Fehlen von Ästhetik. Oder umgekehrt: das ästhetische Urteil ist reine Distanznahme zum Volksethos.“ (Rancière 2010a: 256) Diese Distanznahme werde durch die soziologische Methode verstärkt, sie sei ihr „Wissenschafts-Effekt“ (Rancière 2010a: 258). Es dürfe, so die sozialanalytische Logik laut Rancière (2010a: 257), im ästhetischen Universum „nichts als Distanz geben.“ Bourdieu hatte die teilnehmende Objektivierung als eine anteilnehmende Distanz zum Gegenstand konzipiert, also als eine zugleich einfühlsame und zwecks Analyse distanzierte Beziehung zu den Beforschten. Rancière interpretiert die teilnehmende Objektivierung als doppelte Distanzierung: Sie perpetuiere erstens die zwischen den Beforschten ausgemachte Distanz innerhalb des sozialen Raumes und konstituiere zweitens erst das soziologisch-wissenschaftliche in Abgrenzung zum alltäglichen Wissen. Der Wissenschaftseffekt wird so gesehen zur Voraussetzung der Beobachtung, denn ohne ihn könnte es diese nicht geben, d.h. ohne Soziologie als Wissenschaft keine soziologischen Aussagen über die soziale Welt. Die Soziologie könne, so der wiederholte Vorwurf Rancières gegen Bourdieu, nur das wahrnehmen, was in die Raster passt, die sie selbst im Dienste ihrer eigenen Vergewisserung erzeugt habe: „Kein doppeldeutiges Wort darf die Sprache der Beherrschten ‚verderben‘. Kein trügerisches Bild darf die Weiche dafür stel-
tanskis Ansatz als Versuch interpretieren, die ‚gewöhnlichen‘ Menschen und ‚einfachen Leute‘ gegenüber szientifischen Annahmen, die sie als Opfer und zugleich KomplizInnen der Macht erscheinen lassen, in Schutz zu nehmen.“
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len, dass die Logik der Distinktion sich mit jener des amor fati vermischt. Nichts darf also die ‚Prätention‘ der Prätendenten mit der ‚Enteignung‘ der Enteigneten verbinden.“ (Rancière 2010a: 266) Könnte Bourdieu noch auf ebenso polemische Weise reagieren, würde er vielleicht antworten: Nichts lieber als das! Nichts lieber also, als dass die Logiken von Distinktion und Notwendigkeit sich vermischen, nur entsteht diese Vermischung im sozialen Raum nachgewiesenermaßen höchst selten und wenn, dann sicherlich nicht, ließe sich hinzufügen, indem der Philosoph ihre Existenz behauptet (oder einzelne Ausnahmen zu Möglichkeiten aller erklärt). Die Distanz, von der Rancière behauptet, Bourdieu würde auf sie bestehen und alles methodisch Mögliche dafür tun, sie aufrechtzuerhalten, ist in Wirklichkeit eine Differenz. Die unterschiedlichen Dispositionen und Positionen im sozialen Raum führen zu verschiedenen Positionierungen, wobei diese Positionierungen keineswegs – wie Rancière behauptet – determiniert und unveränderbar sind. Diese Differenz(en) im sozialen Raum zu beschreiben, gelingt der Soziologie auf andere Weise als dem Alltagsverstand, weshalb auch hier eine Differenz zwischen verschiedenen (und verschieden legitimierten) Wissensformen besteht.11 Die empirischen Untersuchungen von Differenzen in den Geschmacksvorlieben und Konsumgewohnheiten zielten darauf ab, deren keinesfalls so offensichtlichen und geläufigen Verknüpfungen mit Herrschafts-verhältnissen aufzuzeigen, um, und das ist der politische Impetus Bourdieus, den Abbau dieser Herrschaft überhaupt denkbar zu machen. Um diese Denkmöglichkeit zu eröffnen, müssen aber, so die Logik Bourdieus, die Differenzen als solche beschrieben und „Herrschaftseffekte“ (Bourdieu 1987: 601) als solche benannt werden. Ein solcher Herrschaftseffekt ist nach Bourdieu die Tendenz innerhalb der unteren sozialen Klassen, mit „Werken der legitimen Kultur“ (ebd.: 604) kaum außeralltägliche Erfahrungen machen, d.h. sie fast ausschließlich nach praktischen Kriterien beurteilen und verwenden zu können. Die legitime Kultur, die sich als Ordnungsprinzip auch ihrer Wahrnehmung auferlegt, trägt zu ihrer Entmachtung bei, indem sie ihnen vorenthält, die Dinge nach Maßstäben zu beurteilen, die diejenigen sind, die gesellschaftlich gültig und damit
11 Wenn auch performative Effekte von Beschreibungen niemals auszuschließen sind, ist doch deren konstitutive Wirkung für die jeweilige Disziplin keineswegs so eindeutig gegeben. Bourdieu hat immer wieder versucht, über reflexive Methoden solche performativen Effekte möglichst klein bzw. gering zu halten. In einem Gespräch mit Loïc Wacquant über die Ziele der „reflexiven Soziologie“ begründet er diese Haltung mit dem Wissen darum, dass die soziale Welt „ein Ort ständiger Kämpfe um den Sinn dieser Welt“ ist und die Verdikte des akademischen Feldes darin „heutzutage zu den gesellschaftlich mächtigsten“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 95) gehören. Diese Reflexivität aber legt Rancière ihm als Strategie aus, die nur dazu diene, den Wissenschaftseffekt zu bekräftigen: Indem der „Soziologenkönig“ die Inkonsistenz seines Gegenstands beichte, verfestige er nur „umso sicherer seine Macht.“ (Rancière 2010: 262)
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unabdingbar zu kennen sind, um Anerkennung zu erlangen. Der Umgang mit den „Werken legitimer Kultur“, den man lange Zeit für eine persönliche Angelegenheit hielt, drückt soziale Differenzen nicht nur aus, sondern, so Bourdieus Beharren, festigt sie auch.12 Klassen-, Geschlechter- und ethnische Zugehörigkeiten übergreifende Gemeinsamkeiten sind zwar prinzipiell und in jedem Moment innerhalb der Dynamik des sozialen Raums möglich, aber nach Bourdieu – relativ – unwahrscheinlich. Gegen Bourdieu und mit Kant besteht nun Rancière (2010a: 267) darauf, dass es erstens eine „Gemeinschaft des ästhetischen Gefühls“ gibt und dass diese zweitens „vom Prunk der Herrschaft und den Kompetenzen des Wissens zu trennen“ sei. Diese Trennung ist der Schlüssel auch für das Politische an der Ästhetik.
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RADIKALE G LEICHGÜLTIGKEIT UND DIE P OLITIK DER Ä STHETIK Emanzipation beginne, schreibt Rancière (2009: 23) in „Der emanzipierte Zuschauer“, wenn der Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage gestellt würde, „wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die so die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung angehören“ (ebd.). Es müsse verstanden werden, dass Sehen auch eine Handlung sei, die „diese Verteilung der Positionen“ (ebd.) bestätige oder verändere. Emanzi12 Kunstliebhaber hätten den Nutzen verstanden, merkt Rancière nicht ohne Häme an, den es mit sich bringe (und den, was damit gesagt sein soll, die Bourdieu’sche Theorie mit sich bringe), „fähig zu sein, überall und jederzeit, auf jedem Blatt Papier und jeder Wellenlänge zu erklären, dass die Liebe zur Kunst ein Privileg der Erben ist.“ (Rancière 2010: 245) Damit sei eine Rechtfertigung neuer Hierarchien entstanden, die den Universitätsprofessor berechtige, über die elitären Methoden des Vorstadtlehrers zu richten etc. Eine ähnliche Anmerkung gegenüber den Effekten der Kunsttheorie Bourdieus hatte der Kunstkritiker Christian Kravagna (1995: 139) gemacht, als er angesichts der institutionskritischen, auf Bourdieus Feldtheorie basierenden Arbeit der Künstlerin Andrea Fraser fragte: „Wie weit kommt man mit Bourdieu, wenn die analysierten Akteure sich dessen einschlägige Erkenntnisse längst angeeignet und bewußt zur Grundlage ihres Handelns gemacht haben?“ Ob die Versicherungsgesellschaft ihren Kunstverein, wie im Falle der von Fraser analysierten Wiener Generali Foundation, zur Prestigesteigerung nutzt wie die Hochschullehrer das Wissen um die Herrschaftseffekte zur Legitimierung ihrer eigenen Haltung, kann allerdings erstens nicht, zumindest nicht annähernd im vorgeworfenen Ausmaß, der beschreibenden Theorie angelastet werden und dichtet diese zweitens nicht gegen anderweitigen Gebrauch ab. Es ist also nicht weniger denkbar, dass auch die Versicherungsangestellten wie die VorstadtlehrerInnen mit Bourdieu auf ihren Fahnen gegen die im Kunstfeld produzierten Herrschaftseffekte aufbegehren.
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pation ist nach Rancière der momenthafte Ausbruch aus den sozial vorgegebenen Zu- und Einteilungen, der zugleich zu einem „Abbau der alten Aufteilung des Sichtbaren, des Denkbaren und des Machbaren“ (Rancière 2009: 59) wird. Ein solches Aufbrechen muss demnach auch beschreibend nachvollzogen werden. Es ist die Bourdieu’sche Beschreibung der unteren Klassen als untere Klassen und als nichts anderes, deren Mitglieder immer nur zur Wertschätzung der Notwendigkeiten verdammt scheinen und aller singulären Abenteuer entbehren, die diese Verdammung durchbrechen könnten, die Rancière so verabscheut. Die Soziologie ertrage keine von den Subjekten vollzogenen Brüche mit und Weigerungen gegenüber den vorgesehenen Klassifikationen, weil sie ihren eigenen, konstitutiven Ordnungskategorien zuwider liefen. Rancière beschreibt die Soziologie diesem Vorwurf entsprechend als Komplizin der Herrschaft. Er tut dies in einer Art und Weise, die nicht anders als zugespitzt zu beschreiben ist, wenn er behauptet, die „soziologische Weltanschauung“ (Rancière 2008b: 47) – womit in der Regel insbesondere und paradigmatisch diejenige Bourdieus gemeint ist – verweigere sich nicht nur jener durch die Arbeiter-als-Dichter und ihre ästhetischen Blicke ausgelöste „Unordnung der Klassen“ (ebd.). Sie sei darüber hinaus beispielsweise gerade um 1968, als sich diese Unordnung zu verstärken schien, darauf bedacht gewesen, „endlich die Störung zu beseitigen, die diese der guten Aufteilung der Klassen in ihre Seinsweisen und ihren Aktionsformen angetan hatten.“ (Ebd.) Damit imaginiert Rancière die Soziologie nicht nur als Polizei in dem weiten, an Michel Foucault angelehnten Gebrauch des Begriffes innerhalb seiner politischen Philosophie,13 sondern direkt als Exekutionsgehilfin der herrschenden Ordnung.14
13 Rancière greift die Unterscheidung Foucaults zwischen Politik und Polizei auf und formuliert sie v.a. in „Das Unvernehmen“ (2002) aus. Die „Polizei“ ist demnach weniger eine Disziplinierungsmacht als eine der Regulierung, die die Körper und Beschäftigungen bestimmten Räumen zuweist und diese gestaltet. Gegen eine solche „Ordnung der Körper“ (Rancière 2002: 41) richtet sich die „Politik“, die diese geordnete Gestaltung des Sinnlichen zerbricht und den (bis dahin als solchen klassifizierten) Lärm vernehmbar macht und den Anteilslosen zu ihrem Anteil verhilft. Zur kritischen Diskussion der Dichotomie von Polizei und Politik bei Rancière vgl. auch Balke 2009, Kastner 2010 und Marchart 2010. 14 Während dieses Argument in seiner Allgemeinheit sicherlich kaum zu halten ist und sich damit selbst die Überprüfung im Einzelfall erschwert, ist auch mit Bourdieu ein denkbar schlechter, konkreter Adressat gewählt. Denn erstens hat Bourdieu wie kaum ein anderer Soziologe die potenziellen performativen Effekte empirisch-sozialwissenschaftlicher Arbeit auf die immer wieder zum Gegenstand gemachten Marginalisierten – seien es die KabylInnen in Algerien, die Bauern und Bäuerinnen im Béarn oder die algerischen MigrantInnen in den Banlieus – reflektiert und aus diesen Reflektionen Konsequenzen gezogen. Und zweitens zieht sich auch auf biographisch-politischer Ebene eine solche Parteinahme für die „kleinen Leute“, ausgehend von seiner eigenen Herkunft (vgl. etwa Bourdieu
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Rancière hat sich demgegenüber einer anderen Geschichte verschrieben. Er hält die nicht identifizierenden Momente gegen die klassifizierenden der Soziologie und erzählt beispielsweise mehrfach die Geschichte des Arbeiters, dokumentiert in einer Arbeiterzeitung während der Revolution von 1848, der als Tischler den Boden im Hause seines Chefs verlegt und dabei mit dem Blick abschweift, mit der Arbeit innehält und den sich eröffnenden Horizont genießt. „Dieser Blick, der sich von den Händen trennt und den Raum ihrer unterworfenen Tätigkeit teilt, um darin einen Raum einer Untätigkeit abzugrenzen, definiert gut einen Dissens, den Zusammenprall von zwei Sensorialordnungen. Dieser Zusammenprall bezeichnet eine Erschütterung der ‚polizeilichen‘ Ökonomie der Kompetenzen.“ (Rancière 2010a: 75) Hier kommt also die Ästhetik im weiteren Sinne zum Tragen: Arbeiteremanzipation habe immer auch bedeutet, den gesellschaftlichen Zwängen andere und neue individuelle Lebenserfahrungen abzutrotzen und zu entreißen. In diesem Sinne, in dem es um Brüche mit Seh-, Sprech- und Wahrnehmungsweisen geht, sei die soziale Emanzipation immer auch „zugleich eine ästhetische Emanzipation“ (Rancière 2008b: 47) gewesen. Bereits Kant habe angemerkt und dies gelte auch entgegen allem, was die kritische Soziologie später behauptet habe, „dass es die Möglichkeit dieses ‚interesselosen‘ Blickes ist, die den Arbeiter emanzipiert.“ (Rancière 2008a: 66) Im „Erwerb dieses Ästhetenblicks“ (Rancière 2010a: 269), der einer „Verdrehung des Habitus“ (ebd.) gleichkomme, manifestiere sich weit mehr als in der auf dichotome Beschreibungen setzenden Propaganda die Forderung des „Menschenrechts auf Glück“ (ebd.). Mehrfach hatte Rancière die Geschichte der Arbeiterbewegung dermaßen gegen den Strich gelesen und das Politische darin gerade nicht in der Organisierung als ArbeiterInnen gesehen, sondern in den Abweichungen davon: Im nächtlichen Lesen und Diskutieren, im abschweifenden Blick. „Die ersten kämpferischen Arbeiter haben damit angefangen“ schreibt Rancière begeistert, „sich für Dichter oder Ritter, Priester oder Dandys zu halten.“ (Rancière 2010a: 269) Dieses Durchbrechen der zugewiesenen Klassifikation und Identifikation ist demnach der Kern der Emanzipation. Dass Sehen auch eine Handlung sei, die die Verteilung von Positionen bestätigt oder verändert, war Bourdieu durchaus bewusst. Er hat sich in „Was heißt sprechen?“ (1990) ausführlich mit dem Verhältnis von Sprechen und Handeln beschäftigt. Darin stellt er u.a. die Frage, die er auch am Beispiel der Durchsetzung des impressionistischen Kreises innerhalb des
2002: 96ff.) bis hin zum Engagement gegen die „neoliberale Offensive“ in den 1990er Jahren durch das gesamte Schaffen, sodass sie nicht durch methodische Einwände aus der Welt zu diskutieren ist. Dass Bourdieus Analyse der Ereignisse von 1968 (vgl. Bourdieu 1992) durchaus entpolitisierende Aspekte enthält, indem sie sich auf die Situation an der Hochschule und zudem auf Frankreich beschränkt, sei unbenommen, hat aber wenig mit der vorgeworfenen polizeilichen Ordnungsmacht der Soziologie zu tun.
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Kunstfeldes angewandt hat und die Rancière umgeht: Unter welchen Bedingungen kann die Infragestellung des Offensichtlichen dieses Offensichtliche auch für diejenigen nicht mehr offensichtlich und selbstverständlich erscheinen lassen, die die Frage zunächst nicht gestellt haben? Oder, gebräuchlicher formuliert: Wann und inwiefern gelingen Sprechakte? Wann und warum sind Infragestellungen effektiv, wie erlangen sie also allgemeine Geltung? Rancière umgeht die Frage der Legitimierung und Anerkennung von Infragestellungen, indem er die „kollektive Macht“ der BetrachterInnen damit begründet, dass sie unterschiedliche, nicht einzuebnende oder zu homogenisierende Teile eines „Kollektivkörpers“ seien. „Es ist die Macht, die jeder oder jede hat, das, was er/sie wahrnimmt, auf seine/ihre Weise mit dem besonderen intellektuellen Abenteuer zu verbinden, die sie jedem anderen ähnlich macht, insofern dieses Abenteuer keinem anderen gleicht.“ (Rancière 2009: 27) Dass diese Abenteuer immer in einem Raum der Möglichkeiten stattfinden können, wie mit Bourdieu zu argumentieren wäre, dass also je nach Disposition der BetrachterInnen zwar sehr unterschiedliche, aber auch unterschiedlich begrenzte, da auf Vorprägungen basierende Abenteuer erlebt werden können, schließt Rancière aus. Das Abenteuer selbst wird zum setzenden Ereignis. Diese beschreibend nachvollzogene, emanzipatorische „Geste des Voraussetzungsbruchs“ (Robnik 2010: 26) bei Rancière bricht aber genau genommen gar nicht mit Voraussetzungen, weil sie deren Beschreibungen schon für Zuschreibungen hält und damit differente (soziale, ökonomische, politische) Ausgangspositionen überhaupt ausblendet.15 Darüber hinaus beantwortet Rancière auch die politische Frage nur halbherzig, warum und inwiefern die „Möglichkeit einer kollektiven Stimme der Arbeiter [...] also über diesen ästhetischen Bruch, über die Aufspaltung der Seinsweisen der Arbeiter“ (Rancière 2010a: 76) verlaufe (und nur über diese). Er schreibt weiter: „Denn das Problem der Beherrschten war niemals, sich der Mechanismen der Beherrschung bewusst zu werden, sondern sich einen Körper zu schaffen, der zu etwas anderem als zum Beherrschtwerden berufen wäre“ (ebd.). Abgesehen davon, dass dem „Denn“ kein Grund, sondern nur eine Setzung folgt, scheint diese auch noch fraglich. Angenommen, es sei tatsächlich nicht notwendig, dass den Körpern, die nicht beherrscht werden wollen, kein Bewusstseinsprozess vorausgehen müsse, so bleibt dennoch nach wie vor offen, wie ausgerechnet durch „Aufspaltung von Seinsweisen“ ein solcher Körper entstehen könnte und warum er gar als „kollektive Stimme“ aus den individuellen Loslösungen entstehen sollte.
15 Robnik (2010: 30f.) weist zu Recht auch auf das fragliche normative Ideal hin, auf dem die Parkettleger-als-Dichter-Szene gründet: Rancières „Archäologie proletarischer Identitätsverdrehung“ tue einerseits so, als würde die Trennung von Hand- und Kopfarbeit nicht strukturell existieren und andererseits, „als ob der Arbeiter ein Bildungsbürger wäre.“
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Bourdieu ist hinsichtlich des Entstehens einer kollektiven Stimme der Arbeiter einerseits skeptischer und sieht andererseits den inhaltlichen Beitrag seiner eigenen Arbeit zu diesem Entstehen im Gegensatz zu Rancière darin, die Regeln der herrschenden Ordnungsweisen aufzuzeigen statt der Ausnahmen der Abenteuer ihres Durchbrechens. Bourdieu betrachtet, im Grunde dem Rancière’schen Denken sehr ähnlich, die Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungsweisen als grundlegend für die politische und soziale Ordnung. Zudem behandelt auch Bourdieu – in Abgrenzung zur Ideologiekritik – die körperliche Dimension von Herrschaft und Emanzipation. Das Erlernen und den Erwerb von Dispositionen zu studieren, führe, so Bourdieu (2001b: 214), „zum eigentlichen geschichtlichen Ursprung politischer Ordnung.“ Auch hier gibt es also deutlich eine ästhetische Dimension des Politischen, sofern das Ästhetische eben als die Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungsweisen definiert wird. In den wissenschaftlichen wie auch in den politischen Konsequenzen dieser gemeinsamen Grundannahme unterscheiden sich beide allerdings radikal. Denn das besagte Studium der Dispositionen ergebe eben auch, betont Bourdieu, dass diese, gestützt auf die symbolische Macht „in den Körpern“ (ebd.: 219), relativ stabil und Abweichungen von den sozialen Identifikationen aufgrund eines praktischen Glaubens an die Gegebenheiten relativ unwahrscheinlich seien. Bourdieu schließt Widerstand gegen Herrschaft keinesfalls aus, hält ihn sogar – um auch das noch einmal gegenüber dem Vorwurf der Unveränderlichkeitsannahme in Erinnerung zu rufen – für das Movens der Geschichte (vgl. Bourdieu/Waquant 1996: 133). Allerdings bedürfe es zu Abweichungen, bewussten oder unbewussten Weigerungen und praktizierten Gegenmodellen einer wahren „Arbeit der Gegendressur“ (Bourdieu 2001b: 220), um schließlich dauerhafte Transformationen der Habitus zu erreichen. Der „ästhetische Blick“ ist gerade nicht Teil eines solchen Trainings gegen den alltäglichen Einklang mit den eingeübten Dispositionen. Gegenüber Kants Schilderung des interesselosen Spiels der Empfindungen verweist Bourdieu (2001a: 491) auf deren „gesellschaftliche Möglichkeitsbedingungen“, d.h. auf die Tatsache, dass dies ein „Privileg derer ist, denen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Position zugänglich ist, in der sich solch reine, ‚interesselose‘ Disposition dauerhaft einstellen kann.“ Im Gegensatz zu den Analysen Rancières beschreibt Bourdieu den ästhetischen, also von praktischen Nutzanwendungen befreiten Blick als soziales Privileg, das als solches rückwirkend auch soziale Privilegien perpetuiert und festigt. Am Kunstwerk erprobt, richtet sich der ästhetische Blick nicht mehr nur auf sein ursprüngliches Objekt, sondern auch – ausgehend von der genuin künstlerischen Legitimierung infolge der Herausbildung des relativ autonomen Produktionsfeldes – auf die Welt schlechthin. Als bürgerlicher Blick richtet er sich zudem gegen andere und gegen andere Blicke, wie den proletarisch-naiven ebenso wie gegen den kleinbürgerlich-prätentiösen. Als Teil der ästhetischen Disposition, die sich auf die Welt und zugleich gegen andere richtet, produziert der ästhetische Blick auch die Distinktion, „also Unter-
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schiede setzende Verhalten“ (Bourdieu 1987: 62). Während der ästhetische Blick für Rancière also einen Dissens definiert, ist er in der Analyse Bourdieus Ausdruck und Instrument einer Disposition der Herrschenden. Laut Rancière (2008b: 74) leiste der ästhetische Blick gerade nicht die Reproduktion von Habitus, sondern „die Abtrennung von einem bestimmten Erfahrungskörper.“ Hier steht gewissermaßen Aussage gegen Aussage, nur dass Bourdieus Behauptungen auf empirischen Befunden beruhen – deren Erhebungsmethoden Rancière gleichwohl scharf kritisiert hat –, Rancière hingegen eher auf empirischen Ausnahmen wie dem Schusteraufstand und dem Arbeiter mit dem umherschweifenden Blick philosophisch-politische Setzungen vornimmt. An der Frage der Genese des ästhetischen Blicks lässt sich die partielle Fragwürdigkeit solcher Setzungen noch einmal veranschaulichen. Schließlich wird dann auf die Frage der Emanzipation zurückzukommen sein, um die es beiden in der Auseinandersetzung mit Ästhetik und Politik geht.
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UND DIE G ENESE DES ÄSTHETISCHEN B LICKS Zur Genese des ästhetischen Blicks verweisen sowohl Bourdieu als auch Rancière auf die Institution des Museums. Das Museum ist als Raum für die Aufbewahrung und Zurschaustellung von ästhetischen, also zunächst durch ihre Zweckfreiheit und nach rein ästhetischen Kriterien zu beurteilenden Gegenständen, der ideale Ausbildungsort für den ästhetischen Blick. Wo sonst sollte er sich besser formieren und trainieren als an Objekten, die seiner „Essenz“ entsprechen, nämlich der Ungebundenheit an praktische Zwecke und Nutzen. Das Museum ist zudem, zumindest dem Anspruch nach, seit der französischen Revolution der für alle zugängliche und für ästhetische Erfahrungen prädestinierte Ort. Während Bourdieu allerdings im Museum eine bürgerliche Institution par excellence ausmacht, die ihre Besucher/-innen schon durch ihre pure Existenz nach Klassenzugehörigkeit aussortiert und bis heute in ihrer großen Mehrheit von AkademikerInnen und zukünftigen AkademikerInnen besucht wird (vgl. Bourdieu/Darbel 2006, Wuggenig 2001), beschreibt Rancière (2008b: 76) das Museum als „neutralen Raum“. Das Museum wirkt nicht nur „neutralisierend“, indem es verschiedene Gegenstände mit zuvor unterschiedlichen Zwecken vereinheitlicht und dem gleichwertigen Blick aussetzt – dieser Schilderung Rancières hätte Bourdieu nicht widersprochen. Rancière zielt mit der Neutralitätsbehauptung aber noch auf etwas anderes: Hier, in diesem „neutralen Raum des Museums“, in dem die ArbeiterInnen „denen gleich sind, die einst von der Macht der Könige, vom Ruhm der antiken Städte oder den Geheimnissen des Glaubens erzählten“ (ebd.), ergebe sich die Möglichkeit „einen revolutionären Arbeiterkörper“ (ebd.) zu formen. Letztlich sieht Rancière auch hier wieder den Beleg für jene Gleichheit, die er zum Dreh- und Angelpunkt
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der Politik erklärt (vgl. etwa Marchart 2010: 178ff, Kastner 2010b). Empirische Studien auch jenseits der Sozialtheorie Bourdieus – und nicht zuletzt auch künstlerische Interventionen16 – weisen das Museum allerdings als Institution aus, die nicht nur soziale Separationen bekräftigt, sondern auch Konsekrationen von Kunstwerken und KünstlerInnen vornimmt, hegemoniale Geschichtsbilder perpetuiert (vgl. etwa Kazeem/Martinz-Turek/Sternfeld 2009) und grundsätzlich Blicke lenkt und Sichtweisen prägt (vgl. etwa Muttenthaler/Wonisch 2006). Dass ein Gegenstand oder eine Person sich seiner bzw. ihrer Weihe entzieht, dass die hegemoniale historische Narration gestört und verwirrt werden kann, dass vorgesehene Blickrichtungen durchkreuzt werden können, all das ist damit nicht ausgeschlossen. Es ist nur einerseits nicht die Regel und belegt andererseits noch und gerade als solcher Ausnahmefall, dass das Museum alles andere als „neutral“ ist.17 Auch dem ästhetischen Blick weist Rancière schließlich eine solche Neutralität zu. Während für Bourdieu unter anderem im Museum ein Blick ausgebildet wird, der die Einteilungen der Welt aus der Perspektive der Privilegierten bekräftigt und perpetuiert, und dabei eine Interesselosigkeit – unter Leugnung jener Ausbildung und des Privilegs zugleich – suggeriert, ist der ästhetische Blick nach Rancière zugleich ereignishafte Loslösung und Aufhebung solcher Privilegien: Die Kunsterzeugnisse böten sich einem Blick an, „der von jeder bestimmten senso-motorischen Verlängerung abgeschnitten ist.“ (Rancière 2008b: 74) In diesem Abschneiden, in der Abtrennung vom kollektiven Erfahrungskörper in der individuellen Kunsterfahrung sieht Rancière den politischen und damit auch emanzipatorischen Gehalt des ästheti-
16 Bereits in den 1960er Jahren formierten sich vor allem im Rahmen konzeptueller Kunst verstärkt institutionskritische Arbeiten, die an den Kunstfeldinstitutionen Galerie und Museum ansetzten und deren Neutralität praktisch in Frage stellten. Inzwischen wird bereits die Renaissance institutionskritischer Kunst in den 1990er Jahren einer erweiternden Revision unterzogen (vgl. etwa Nowotny/Raunig 2008). Die Erfahrungen der 1960er und frühen 1970er Jahre reflektierend, schreibt Brian O’Doherty (1996 [1976]) in seinem zum Klassiker gewordenen Essay „In der weißen Zelle“ hinsichtlich der ausschließenden Effekte des Museums- und Galeriebesuches unter anderem, dass unter den KunstkonsumentInnen ein als selbstverständlich wahrgenommenes Zusammengehörigkeitsgefühl entstünde, das den Ausschluss der anderen nicht mehr bemerke. O’Doherty (1996: 119) spricht daher von der Kunst als „Opium der oberen Mittelschicht.“ 17 „Neutral“ ist das Museum bestenfalls in dem Sinne, in dem es auf bestimmte Gegenstände neutralisierend wirkt und sie zu gleichwertigen macht (vgl. Rancière 2006: 78). Voraussetzung für diese Gleichwertigkeit ist aber die Weihe der einen als (sakrale) Kunstgegenstände und die damit einhergehende Abwertung der anderen Gegenstände als (profane) Alltagsutensilien. Diese neutralisierende Wirkung des Museums war im Übrigen auch einer der Gründe für die Angriffe der künstlerischen Avantgarden auf die Institution, die Rancière hier aber nicht rezipiert.
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schen Blicks. Auch für Bourdieu ist der ästhetische Blick ein politischer, insofern er auf die Ordnung des Sozialen einwirkt. Der ästhetische Blick ist nach Bourdieu politisch, nur eben nicht im emanzipatorischen Sinne. Im ästhetischen Blick kulminieren also die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Fragen emanzipatorischer, auch wissenschaftlicher Praxis:18 Sieht Rancière im ästhetischen Blick die Möglichkeiten für das Ausbrechen aus der vorgegebenen Ordnung (des Sozialen wie der Wahrnehmung) schlechthin, ist er für Bourdieu im Gegenteil zugleich Ausdruck und Mittel zu deren Reproduktion.
E MANZIPATION
UND DER
W IDERSTAND
DER
K UNST
Eine Diskussion zwischen den beiden Wertungen des ästhetischen Blicks wird an dieser Stelle unmöglich. Denn zwar beschreiben sowohl Rancière als auch Bourdieu Politik als Reihe von Effekten auf die Grundlegungen von Denk- und Wahrnehmungsweisen. Mit Bourdieu lassen sich dabei emanzipatorische von regressiven oder konservativen Politiken unterscheiden, bei Rancière hingegen fallen aber Politik und Emanzipation in eins. Alles, was konsensuell auf die Stabilisierung, Aufrechterhaltung und Perpetuierung der sozialen und politischen Verhältnisse inklusive ihrer sensorialen Ordnungen einwirkt und diese befördert, nennt Rancière „Polizei“. Die „Politik“ hingegen ist immer schon gegen diese Ordnung gerichtet, per definitionem inszeniert die politische Tätigkeit einerseits ihre Voraussetzung, die Gleichheit, und zersetzt dadurch andererseits „die Aufteilung des Sinnlichen polizeilicher Ordnung“ (Rancière 2002: 41). So ist die Politik bei Rancière im Gegensatz zur Polizei immer schon Dissens. Auch der Zusammenhang von Kunst und Politik definiert sich laut Rancière über einen solchen Dissens: „Kunst und Politik hängen miteinander als Formen des Dissenses zusammen, als Operationen der Neugestaltung der gemeinsamen Erfahrung des Sinnlichen“ (Rancière 2008b: 78). Mit Politik habe die ästhetische Erfahrung laut Rancière (2008b: 74), wie oben schon erwähnt, nur deshalb zu tun, weil sie einen Dissens definiere. Und die Politik des Dissenses ist definitionsgemäß emanzipatorisch.19 Ließe man also die Möglichkeit zu, dass die ästhetischen Erfahrungen die Sensorialordnung und die Aufteilung des Sinnlichen nicht durcheinander wirbeln, sondern sich im Einklang mit ihnen
18 Zu Recht beschreibt Sonderegger (2010: 19) den Streit zwischen Rancière und Bourdieu auch als einen um „das richtige Verständnis von kritischer Wissenschaft.“ 19 Auch Oliver Marchart (2010: 183) hat in seiner Auseinandersetzung mit Rancière schon auf eine gewisse Zirkularität in dessen Politikverständnis hingewiesen und dessen Position wie folgt beschrieben: „Politik ist Politik der Gleichheit, ergo emanzipatorisch – oder sie ist keine Politik.“ Sonderegger (2010: 31) spricht von der „Gleichheit als Präsupposition“ bei Rancière.
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befinden, wäre sie nicht einfach nur nicht emanzipatorisch, sondern man müsste ihr mit Rancière sofort ihr Politisch-Sein aberkennen. Sollte Kunst sich also nicht als Neugestaltung der gemeinsamen Erfahrung des Sinnlichen erweisen, kann sie demnach nicht politisch sein, oder sie ist keine Kunst. Unmöglich wird es mit einer solch enggeführten Verknüpfung von ästhetischer Erfahrung, Politik und Emanzipation allerdings, die Frage zu beantworten, warum die ArbeiterInnen nicht alle und ständig ihre Blicke schweifen lassen und dichten, anstatt der erzwungenen Einheit von Händen, Kopf und Körper im Lohnarbeitsverhältnis zu entsprechen, und warum die Abtrennung vom identitären Erfahrungskörper nicht häufiger geschieht und sich auch nicht auf Dauer stellen lässt. Genau der Beantwortung dieser Fragen nach den Behäbigkeiten, Trägheiten und Stabilitäten des Sozialen hat sich die Soziologie Bourdieus gewidmet.20 Analytisch hat Rancière dem nichts entgegenzusetzen als die aus einem emphatischen Politikverständnis entstehenden Setzungen. Diese münden schließlich in einem voluntaristischen Politikaufruf, der „Freiheit“ als etwas begreift, das aus der Bedrängnis der Freiheit selbst und aus „dem Vertrauen in die intelligente Fähigkeit jedes menschlichen Wesens“ (Rancière 2007b: 24) entstehe. In der antipädagogischen Schrift „Der unwissende Lehrmeister“ bringt es Rancière schließlich auf den Punkt: „Die Methode der Gleichheit war zuallererst eine Methode des Willens. Man konnte, wenn man es wollte, allein und ohne erklärenden Lehrmeister durch die Spannung seines Begehrens oder durch den Zwang der Situation lernen.“ (Rancière 2007b: 22) Was die Kunst selbst betrifft und ihren Beitrag zur Emanzipation, teilen Bourdieu wie Rancière die Annahme, dass es Effekte der Ästhetik als künstlerische Produktionen auf die Ästhetik im Sinne von Denk- und Wahrnehmungsstrukturen geben kann und gibt. Emanzipation mit Bourdieu zu denken, heißt immer, die Produktionsbedingungen der ProduzentInnen zu hinterfragen. Bezogen auf künstlerische Arbeiten heißt das u.a., mit dem Widerspruch umzugehen, mit einer im Laufe der Geschichte des Feldes immer spezifischer gewordenen (Form-)Sprache zu hantieren und gleichzeitig allgemein verständlich sein zu wollen (vgl. etwa Bourdieu/ Haacke 1995: 109). Die Spezifik der Kunst soll also keinesfalls zu Gunsten von Propaganda eingeebnet werden. Darin stimmt Rancière noch mit Bourdieu überein, setzt aber dann nicht auf die Untersuchung von Produktions- und Perzeptionsverhältnissen, sondern auf die Beobachtung des interesselosen, also ästhetischen Blick. Gerade diese vorgebliche Interesselosigkeit aber steht im Zentrum der soziologischen Kunstkritik. Von dieser grenzt sich Rancière (2008a: 66) ab und plädiert für die Aufrechterhaltung der Spannung zwi-
20 Es wäre darüber zu diskutieren, ob erst die Konzeption einer „authentic universality“ in Bourdieus Spätwerk, wie David Gartman (2007: 407) meint, „a space for political intervention in his theory“ ermöglicht hat. Gartman verteidigt Bourdieu gegen den – keinesfalls nur von Rancière geäußerten – Vorwurf, er beschreibe nur Unveränderlichkeiten.
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schen interessiertem Gemeinsamen und interesselosem Singulärem. Dass die Kunst diese Spannung pflegt und nicht in Politik übergeht, allein darin bestünde ihr Widerstand.21 Gegen den Entmystifizierungsanspruch der kritischen Soziologie formuliert Rancière im Nachwort von „Der Philosoph und seine Armen“ schließlich das Credo: „Die Kenntnis der Gründe der Herrschaft hat keine Macht, die Herrschaft zu stürzen. Man muss immer schon begonnen haben, sie umzustürzen.“ (Ebd. 2010a: 301)
Die Betonung von Körper und Praxis, mit der Bourdieu die Stabilität von Herrschaft beschreibt und zugleich auf die Möglichkeiten ihrer Aufhebung hinweist, können aufzeigen, dass die Kenntnis der Gründe und der praktisch und alltäglich vollzogene Umsturz, wie unwahrscheinlich auch immer, sich keinesfalls gegenseitig im Weg stehen müssen.
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21 Die Politik der Kunst, präzisiert Maria Muhle (2010: 72) den Ansatz Rancières, bestehe im Anspruch der künstlerischen Formen, das Wirkliche nicht nur aufzuzeigen oder darin, dass sie „seine Konstellation weiter- bzw. festschreibt, sondern vielmehr in der Kontingenz der Verfasstheit dieser Wirklichkeit und damit ihre Veränderbarkeit inszeniert.“
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