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German Pages 562 [564] Year 2006
Christian von Zimmermann Biographische Anthropologie
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
41 ( 275 )
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Biographische Anthropologie Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830−1940)
von
Christian von Zimmermann
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018863-9 ISBN-10: 3-11-018863-5 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung ................................................................................................... 1 1.
Grundlagen der Biographik ................................................................. 1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik ................. 1.2. Biographische Fiktion .................................................................. 1.3. Biographische Anthropologie und Moderne ............................
10 10 40 47
2.
Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert ............................ 54 2.1. Ein Umweg als Einstieg – Adalbert Stifters Romanprojekt Maximilian Robespierre ................................................................. 54 2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel« ...................................... 59 2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’ ..................................................... 72 2.3.1. Privatcharakter und Geistesaristokratie (Varnhagen von Ense) ............................................................................ 72 2.3.2. Gefährdete Gemütsruhe (Feuchtersleben) ................... 83 2.3.3. Jungdeutsche Charakteristiken (Laube und Gutzkow) ............................................................................ 98 2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke ................... 109 2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags ........................................................ 132 2.5.1. Ausnahmemenschen – historische und konstitutionelle Besonderheit der Heroen (Carlyle, Burckhardt, Nietzsche) .................................................. 134 2.5.2. Liberalethische Biographik – zur Rezeption von Smiles’ Self-Help .............................................................. 151 2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik ... 178
3.
Anthropologische Biographik – Biologie, Pathologie und Psychologie der Helden, Forscher und Genies ............................... 3.1. Entdeckung des Menschen und Vermenschlichung der Biographie .................................................................................... 3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald) ..................................................................... 3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte ......................... 3.3.1. Die Grundlegung der psychopathologischen Pathographik ....................................................................
186 186 192 208 209
VI
Inhalt
3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.3.5. 3.3.6. 3.3.7.
Max Nordau – Degeneration und Kultur ................... Die Pathographik von P. J. Möbius .............................. Kritik der Pathographik .................................................. Fortführung der Genie-Debatte (Kretschmer) ........... Psychoanalytische Psychographik ................................. Begegnung zwischen Psychoanalyse und moderner Biographik (Freud und Zweig) ..................................... 3.3.8. Ausblick auf die Entwicklung psychobiographischer Ansätze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Edel, Eissler, Ellmann) .................. 4.
Vermenschlichung und Heroisierung – zwei widerläufige biographische Strategien der Moderne ............................................ 4.1. Die ‘moderne Biographik’ ......................................................... 4.1.1. Grundzüge der modernen Biographik ......................... 4.1.2. »die Wahrheit im Herzen des Mannes« – Wassermanns historische Gestalten ............................ 4.1.3. Zweigs moderne Biographik zwischen Psychologisierung und Heroisierung .......................... 4.1.4. Charaktertypologie gegen Geschichtlichkeit – Zweigs »Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam« ........................................................................ 4.1.5. Vergleichende Betrachtung zweier MagellanBiographien des Jahres 1938 (Baumgardt und Zweig) ............................................................................... 4.1.6. Würde des Menschen – Flake über Ulrich von Huttens Denken und Sinnlichkeit .............................. 4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig) ........................................................................ 4.2.1. Menschliche Helden: zur ‘psycho-biologischen’ Konstitution des ‘homo activus’ bei Ludwig .............. 4.2.2. Vermenschlichung und Kritik – Ludwig über Wilhelm II. ....................................................................... 4.2.3. Der Fall Emil Ludwig: eine Relektüre des Streits um die historische Belletristik ....................................... 4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft .................................................. 4.3.1. Antiindividualismus, Soziologie und Sozialbiographik .............................................................. 4.3.2. »mit den Waffen des Biographikers« – Exkurs über Führer und Helden der Arbeiterbewegung ................. 4.4. Ausblick in die Exilbiographik ..................................................
218 227 233 243 248 255 261 274 274 276 286 310 323 330 349 357 360 381 391 411 411 421 430
Inhalt
VII
4.4.1. Neuerliche Geschichtsrevision (Ludwig) .................... 432 4.4.2. Frühe Hitler-Biographik (Olden und Heiden) .......... 436 4.4.3. Emigrantenschicksale und Heimatlosigkeit in Geschichte und Gegenwart ............................................ 449 5.
Heros und Anthropos im nationalen Diskurs ................................. 5.1. Nation als conditio humana ...................................................... 5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) ................................................. 5.2.1. Luther, »der große Genius der Deutschen« (Ritter) ... 5.2.2. ‘Verbäuerlichung’ der Helden (von Molo über Schiller und Luther) ....................................................... 5.2.3. Völkischer Zwingli (Schäfer) ......................................... 5.2.4. »Ein Deutscher ohne Deutschland« (von Molo über Friedrich List) ......................................................... 5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros ....
452 452 455 455 467 484 492 494
Schlußbemerkung und Ausblick ................................................................ 511 Bibliographie ................................................................................................. 1. Biographische Texte ................................................................... 2. Sonstige Literatur bis 1940 ......................................................... 3. Neuere Forschungsliteratur .......................................................
515 515 521 533
Register ........................................................................................................... 548
für Nina, Carla und Rasmus
Vorbemerkung Was eigentlich ist eine Biographie? Angesichts der Publikationsfluten in den neueren Philologien muß es erstaunen, daß zur Beantwortung der Frage nach den Konturen der biographischen Gattungen, nach ihrer Geschichte, ihren diskursiven, kommunikativen und soziokulturellen Kontexten erst wenig geleistet worden ist. Vor wenigen Jahren noch mußte im deutschsprachigen Raum die Biographik weitgehend als eine terra incognita der Literatur- und Kulturwissenschaften gelten. Während die anhaltende Popularität der biographischen Gattungen von der knappen Lebensskizze über Taschenbuchreihen und Bestsellerbiographien bis hin zu dokumentarischen Fernsehfilmen und Kino-‘Biopics’ oder biographischen Internetportalen bei Produzenten und Rezipienten kaum zu übersehen ist, blieb die Erforschung der biographischen Darstellungsformen ein eher exotisches Betätigungsfeld. Die bis heute grundlegende Arbeit von Helmut Scheuer, Biographie: Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1979), 1 und eine Vielzahl kleinerer Studien zum Thema haben daran lange nichts geändert. Inzwischen zeichnet sich indes ein Wandel ab: Als Thema von Tagungen und Aufsatzbänden hat sich die Biographik, die in den angloamerikanischen Ländern eine lange Forschungstradition und eine lebendige Forschungslandschaft aufzuweisen hat, nun auch im deutschsprachigen Raum als Forschungsgegenstand fest etabliert. Dabei sind zahlreiche Problemfelder der Biographik in den Blick genommen worden, so etwa die Biographik im Kontext der Technik- und Wissenschaftsgeschichte, 2 die »Biographie als Kulturtechnik« in interkultureller Perspektive,3 die ———————— 1
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Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1979. – Helmut Scheuer hat seither in zahlreichen Aufsätzen und Artikeln insbesondere auch aktuelle Tendenzen der Biographik untersucht. Wilhelm Füßl u. Stefan Ittner (Hgg.), Biographie und Technikgeschichte. o. O.: Leske + Budrich o. J. (BIOS. Sonderheft 1998); vgl. hierzu meine Rezension in: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 2 (2001), S. 155–158. – Christian v. Zimmermann (Hg.), (Auto)Biographik in der Wissenschafts- und Technikgeschichte. Heidelberg: Palatina ersch. 2004 (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4, 2003). Andreas Schüle (Hg.), Biographie als religiöser und kultureller Text / Biography as a religious and cultural text. Münster, Hamburg u. London: Lit-Verlag 2002 (Literatur – Medien – Religion 4), vgl. die Einleitung.
2
Vorbemerkung
Biographie als historiographische Darstellungsform,4 die Dichterbiographik,5 die Frauenbiographik6 oder generell die poetologisch-praktischen Grundlagen der Biographik.7 Monographische Arbeiten, systematische oder historische Überblicksdarstellungen sucht man seit Scheuers Habilitationsschrift dagegen nahezu vergebens. In jüngerer Zeit haben sich immerhin Michael Maurer um die Biographik des 18. Jahrhunderts aus sozialgeschichtlicher Perspektive,8 Olaf Hähner um eine Darstellung der Biographie als Textsorte in den Geschichtswissenschaften9 und Hans-Martin Kruckis um die Goethe-Biographik im Kontext einer »Etablierung der Neugermanistik«10 bemüht. Diese zögerliche und verspätete Aufarbeitung eines so ergiebigen Forschungsfeldes muß um so mehr überraschen, wenn man sie mit der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung 11 oder den angloamerikanischen Forschungsdebatten vergleicht, die hierzulande kaum wahrgenommen werden. Erst kürzlich präsentierte Margaretta Jolly ———————— 4
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Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Referate der Tagung »Vom Lebenslauf zur Biographie« am 26. Oktober 1997 in Horn. Waidhofen/Thaya: Waldviertler Heimatbund 2000 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40); vgl. hierzu meine Rezension in: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 2 (2001), S. 158–160. – Hans Erich Bödeker (Hg.), Biographie schreiben. Göttingen: Wallstein 2003 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 18). Christian v. Zimmermann (Hg.), Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen: Narr 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 48). Irmela von der Lühe u. Anita Runge (Hgg.), Biographisches Erzählen. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2001 (Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6); Christian v. Zimmermann u. Nina v. Zimmermann (Hgg.), Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts. Tübingen: Narr 2005 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 63). Christian Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2002. – Vgl. hierzu meine Rezension in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2003), S. 736–740. Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 127). Olaf Hähner, Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. etc.: P. Lang 1999 (Europäische Hochschulschriften III/829). – Hierzu zuvor bereits: Eckhart Jander, Untersuchungen zu Theorie und Praxis der deutschen historischen Biographie im neunzehnten Jahrhundert. (Ist die Biographie eine mögliche Form legitimer Geschichtsschreibung?). Diss. masch. Freiburg im Br. 1965. Hans-Martin Kruckis, »Ein potenziertes Abbild der Menschheit«. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Heidelberg: Winter 1995 (Probleme der Dichtung 24). – Vgl. a.: Ders., Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert. In: Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp (Hgg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1994, S. 550–575. Verwiesen sei hier lediglich auf die Forschungsdiskussionen in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History.
Vorbemerkung
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eine Encyclopedia of Life Writing, in welcher auf über 1000 großformatigen Seiten die Ergebnisse der Biographieforschung aufbereitet werden.12 Symptomatisch für die Lage der Erforschung der Biographien deutscher Sprache sind allerdings die Artikel des Lexikons, die sich mit »Germany, Austria, and Switzerland« beschäftigen, denn in ihnen zeigt sich die Präferenz der Philologien in diesen Ländern für im weiteren Sinn autobiographische Textsorten (hier vor allem Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefe und Reiseerinnerungen), während Winfried Thielmann etwa im Artikel »Germany, Austria, and Switzerland: 20th-Century Life Writing« weder Stefan Zweig noch Emil Ludwig, weder Dieter Kühn noch Wolfgang Hildesheimer, weder Golo Mann noch irgendeinen Biographen, irgendeine Biographin erwähnt und auch die grundlegende und aufgrund ihrer isolierten Stellung auch kaum zu verfehlende Studie von Scheuer übergeht.13 Entgegen dieser tradierten Präferenz für das Autobiographische erscheint es notwendig, die Biographik aus dem forschungsund geistesgeschichtlichen Schatten der Autobiographik zu ziehen – ähnlich vielleicht der Geschichte der Reiseliteraturforschung, welche durch die Betonung der kulturgeschichtlichen Vermittlungsleistung, der imagologischen Bedeutung und der wissenschaftshistorischen Aufgaben der Reisewerke diese gegenüber ihrem Status als bloßer autobiographischer Subgattung als eigenständiges Textkorpus etabliert hat. Ebenso wie die Verlagerung des Forschungsinteresses vom Authentizitätsdogma der Reisetexte zur Einsicht in ihren Konstruktionscharakter eine umfassende neue Perspektive auf die Gattung und die überfällige Berücksichtigung bislang vernachlässigter Texte ermöglichte, erscheint durch die Einsicht in den Inszenierungs- und Konstruktionscharakter des (Auto)Biographischen die Präferenz für die nun durch ihren bisherigen Authentizitätsvorteil nicht mehr gesicherte Autobiographik als ‘alter Zopf’ der Geistesgeschichte. Im Gegensatz zu manchen der eingangs genannten Tagungsbände und weiteren Studien und vor allem zur überwiegenden Tendenz der angloamerikanischen Forschung soll in der hier vorliegenden Studie allerdings weder die Biographie als wissenschaftliche Darstellungsform in ihren Möglichkeiten und Grenzen erforscht, noch sollen kritische Ratschläge zur Praxis des Biographieschreibens gegeben werden. Weder wird die literaturwissenschaftlich fragliche Konzentration auf Autor(innen)per———————— 12
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Margaretta Jolly (Hg.), Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. 2 Bde. London u. Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers 2001. – Hinzuweisen wäre auch auf die Forschungsdiskussionen in Zeitschriften wie etwa: Biography. An international quarterly; Biography and Source Studies. Winfried Thielmann, Germany, Austria, and Switzerland. 20th-Century Life Writing. In: Encyclopedia of Life Writing, Bd. 1, S. 372f. – Vgl. dagegen etwa: Michael Erben, Britain: 20th-Century Auto/biography. In: Ebd., Bd. 1, S. 146–148.
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Vorbemerkung
sönlichkeiten durch die biographische Darstellung (‘Biographismus’) thematisiert, noch wird ein eigentlicher historischer Abriß der Geschichte der Biographik unternommen. Es geht vielmehr um die exemplarische Untersuchung biographischer Darstellungsstrategien und deren Rekontextualisierung in anthropologischen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in den Aussage- und Handlungssystemen ihrer Zeit. Biographien oder allgemeiner biographische Schreibweisen werden – dies soll vorweg festgehalten werden – dementsprechend als strategische Äußerungen in soziokulturellen Kontexten verstanden, die fremde Leben nicht einfach abbilden, sondern in diesen Kontexten funktional einsetzen, vor allem aber als exemplarische Fallgeschichten im Kontext diskursiver Anliegen. Die besondere und originäre Perspektive der vorliegenden Arbeit liegt in der Betonung der anthropologischen Dimension biographischen Schreibens, indem diskurs- und gattungsgeschichtliche Entwicklungsstränge des 19. und 20 Jahrhunderts in Beziehung gesetzt werden zu den im Sinn dieser Studie als anthropologisch bezeichneten Wissensformationen und Disziplinen, die an der Herausbildung pluraler Menschenbilder in der Moderne beteiligt sind. Die vorliegende Studie geht aber über die bloße Feststellung der Relevanz anthropologischer Themen für die Biographik hinaus, da die anthropologische Dimension der Texte für die Konstitution der biographischen Gattungen als grundlegend angesehen wird. Anthropologische Konzepte 14 im weitesten Sinn (‘Menschenbilder’) sind Gegenstand unterschiedlichster Diskurse der Neuzeit, die teils disziplinären Charakter annehmen (Biologie, Psychiatrie, Psychologie, Psychopathologie, Vererbungslehre), teils mehr oder weniger unstrukturiert gestaltet sind (‘literarische Anthropologie’). Ihre gemeinsame Grundhaltung besteht darin, im Rahmen der diskursiven Aussagemöglichkeiten und Argumentationsmuster (genetisch, hirnanatomisch, neuropsychologisch, rassisch, biblisch etc.) Aussagen über die Natur des Menschen zu treffen und diese in Modellbildungen zu demonstrieren und zu erproben. In diesem Sinn kann auch von einer ‘literarischen Anthropologie’ gesprochen werden, wenn Erzähltexte etwa wesentlich durch Annahmen und Aussagen über die Natur des Menschen bestimmt werden. Die literarische Fiktion eines Romans kann dementsprechend als diskurstypisches Verfahren einer Modellbildung bezeichnet werden. Begriffsgeschichtlich zumindest verwirrend ist der Umstand, daß als literarische oder historische Anthropologie auch die Beschäftigung mit den Menschenbildern in Literatur und Geschichte oder weitergehend ———————— 14
Vgl. im Überblick: Michael Maurer, Historische Anthropologie. In: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart: Reclam 2003 (RUB 17033), S. 294–387.
Vorbemerkung
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sogar generell der menschliche Anteil an Literatur und Geschichte bezeichnet wird. In der gegenwärtigen Debatte bezeichnet historische Anthropologie1 insbesondere Fragen nach dem Verhältnis der Geschichte zu unterschiedlichen Faktoren einer allgemeinen Menschenkonstitution (Körperlichkeit, Geschlecht, Korporalität – Sozialität – Kulturalität), wobei in der Regel die Geschichtlichkeit der jeweils historisch konstruierten Menschennatur zum eigentlichen Untersuchungsfeld wird (Geschichte des Todes, der Kindheit, der Sexualität, der Geschlechterdichotomie usf.).15 Gleichzeitig jedoch existiert der Begriff historische Anthropologie2 als Bezeichnung für eine integrative Behandlung mentalitäts-, sozial-, alltags- und mikrogeschichtlicher Fragestellungen, deren gemeinsames Anliegen es ist, den Menschen ins Zentrum geschichtlicher Darstellungen zu rücken (Richard van Dülmen).16 Bezogen auf die Literaturwissenschaft müßten bei einer differenzierenden Begriffsverwendung unterschiedliche Bereiche abgegrenzt werden.17 Als ‘literarische Anthropologie’ wäre die Behandlung anthropologischer Themen in literarischen Fiktionen zu bezeichnen,18 während in Übereinstimmung mit dem Themenspektrum der historischen Anthropologie1 von einer literaturwissenschaftlichen Anthropologie gesprochen werden müßte, wenn entweder die historische Entwicklung einer literarischen Anthropologie oder aber das Verhältnis zwischen Literatur und Geschlecht, Körper, Rasse etc. und generell das Anthropologische der Literatur (Pfotenhauer, Iser)19 untersucht wird. Im ersten Fall wäre die Literatur das Medium oder die rhetorische Strategie zur Darstellung anthropologischer Konzepte, im letzteren Fall wäre sie Untersuchungsge———————— 15
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Vgl. a.: Gert Dressel, Historische Anthropologie. Köln etc.: Böhlau 1996; Karl Kaser, Menschliche Grunderfahrungen – der Blick der Historischen Anthropologie. In: Elisabeth List u. Erwin Fiala (Hgg.), Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen u. Basel: Francke 2004, S. 457–475. Richard van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben. Köln etc.: Böhlau 2000; Otto Ulbricht, Neue Kulturgeschichte, Historische Anthropologie. In: Richard van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Geschichte. [Aktualisierte Neuausgabe.] Frankfurt/M.: Fischer 2003 (FischerTB 15760), S. 56–83. Vgl. allgemein auch: Harald Neumeyer, Historische und literarische Anthropologie. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hgg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2003, S. 108–131; Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: WBG 2003, S. 59–65; Wolfgang Riedel, Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung. In: Wolfgang Braungart et al. (Hgg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 337–366. Vgl. etwa: Wolfgang Riedel, ‘Homo Natura’. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin: de Gruyter 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 7). Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart: Metzler 1987 (Germanistische Abhandlungen 62); deutlicher noch: Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.
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Vorbemerkung
genstand eines anthropologisch akzentuierten Zugriffs auf Literatur, der Literatur als Teil einer conditio humana betrachtet. Fragestellungen im Sinn einer historischen Anthropologie2 haben eine lange Tradition in den Bereichen der Buch- und Bildungsgeschichte, der Sozialgeschichte der Literatur, der Lesegeschichte usf., ohne daß hier bereits genügende Neuansätze formuliert worden wären. Diese Ansätze könnten unter dem übergeordneten Begriff einer historischen Pragmatik der Literatur reformuliert werden, welche die vielfältigen Funktionen der Literatur für einzelne Menschen und unterschiedliche Gruppen zu thematisieren hätte und dem Diskurs über die Autonomie der Literatur den Hinweis auf ihren Anteil an der ‘Gesamtkultur’ gegenüberstellt. Ansätze dafür finden sich etwa in jüngeren Debatten über das Verhältnis von Generationsidentitäten und Literatur oder über Migrantenliteratur. Literaturpsychologische Fragestellungen bieten hier ebenso zahlreiche Anknüpfungspunkte wie Arbeiten zur Gedächtnis- und Erinnerungskultur oder kulturthematische Untersuchungen. Diese möglichen Anschlüsse an bestehende Diskurse zeigen bereits, daß eine solche historische Pragmatik eng zu verknüpfen wäre mit einer historischen Betrachtung des ‘Anthropologischen der Literatur’, die von der Frage ausgehend: »Warum dichten Menschen als einzige uns bekannte Lebewesen?« (Zymner/Engel), sich auch Aspekten einer Biopoetik widmet.20 Als biographische Anthropologie wird in der vorliegenden Studie freilich nicht die Frage einer Anthropologie der Biographie sondern im Sinn einer speziellen literarischen Anthropologie die Behandlung anthropologischer Problemstellungen in biographischen Texten bezeichnet. Je nach Perspektive kann der Fokus stärker auf der Eigendynamik einer Gattungsgeschichte liegen oder aber auf der Geschichte anthropologischer Modellbildungen. Beide Aspekte erscheinen indes ineinander so eng verwoben und in ihrer Beziehung historisch so wandelbar, daß eine Trennung kaum sinnvoll vorgenommen werden kann. Der Durchgang durch einen über einhundertjährigen Ausschnitt aus der Gattungsgeschichte der Biographik zwischen etwa 1830 und etwa 1940 kann angesichts einer gänzlich unüberschaubaren Fülle biographischer Texte trotz dieser Beschränkung auf eine leitende Fragestellung nur exemplarisch und unter Ausgrenzung bedeutender Forschungsfelder bewältigt werden. Bestimmte Aspekte, deren spezifische Problemfelder den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt hätten, sind andernorts behan———————— 20
Rüdiger Zymner u. Manfred Engel (Hgg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn: mentis 2004 (Poetogenesis); das Zitat ist der erste Satz aus dem Vorwort: Dies., Nichtkunst und Dichtkunst. Einige vorauseilende Bemerkungen. In: Ebd., S. 7–10; zur Biopoetik vgl.: Rüdiger Zymner, Poetogene Strukturen, ästhetisch-soziale Handlungsfelder und anthropologische Universalien. In: Ebd., S. 13–29.
Vorbemerkung
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delt worden: die Dichterbiographik, die Frauenbiographik, die wissenschaftshistorische Biographik. Diesen Forschungsgegenständen wurden zwei Tagungen und Tagungspublikationen sowie ein Sammelband gewidmet, auf die hier, die notwendige Beschränkung legitimierend, hingewiesen sei.21 Andere Aspekte wie die Gelehrtenbiographie, die Memoirencollage, die preußische Essayistik, der historisch-heroische Roman werden allenfalls in Verweisen angesprochen. Gleichwohl geht es nicht darum, aus der Not der Fülle die Tugend der Beschränkung willkürlich zu üben. Vielmehr geht es zum einen darum, den – so die These der Arbeit – Kernbereich der Biographik als individuell gefaßte (historische) Anthropologie in seinen Konturen zu bestimmen, zum anderen darum, bisher von der Forschung vernachlässigte Perspektiven (Anthropologie) und Bereiche der Gattungsgeschichte aus ihrer forschungsgeschichtlich marginalisierten Stellung zu ziehen. Viele der hier vorgestellten Bereiche werden erstmals in einer systematischen Analyse behandelt, wie etwa die Biographik zwischen 1800 und 1850, die deutsche Smiles-Rezeption, die biographischen Gattungen im Kontext disziplinärer Entwicklungen (Pathographik) oder die Biographik in völkischer und militärischer Perspektive; andere sind bereits von der Forschung aufgegriffen worden wie zum Beispiel die Personalhistoriographie des 19. Jahrhunderts (Droysen, Ranke) oder die im engeren Sinn ‘moderne Biographik’ (bes. Emil Ludwig). In diesen Bereichen wird jeweils die vorliegende Forschungsliteratur kritisch gewürdigt, so daß auf einen eigentlichen einleitenden Forschungsbericht verzichtet werden kann. An die Stelle eines eigentlichen Forschungsberichts zu generellen Fragen der Biographik tritt angesichts einer hier nicht interessierenden vielfältigen Literatur zu poetologischen, wissenschaftstheoretischen und soziologischen Fragen der (praktischen) Biographik und einer weitgehenden Vernachlässigung der gattungs- und diskursgeschichtlichen Verankerung der Lebensbeschreibungen ein erstes Kapitel über die Grundlagen der Biographik (Kap. 1), in welchem über den Rahmen der vorliegenden Studie hinaus ein Problemaufriß der Biographik versucht wird. Damit soll zugleich der weitere theoretische Rahmen der vorliegenden Studie abgesteckt werden. In den daran anschließenden vier Hauptkapiteln der Arbeit wird jeweils die Frage nach der biographischen Anthropologie in spezifischen historischen oder diskursiven Konstellationen gestellt. In einem Überblickskapitel über die Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert (Kap. 2) sollen zunächst kursorisch Konturen der anthropologischen Debatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgestellt werden, um sodann – aus der Perspektive einer Entscheidung gegen die Biographik (Adalbert ———————— 21
Vgl. v. Zimmermann, Fakten und Fiktionen; v. Zimmermann u. v. Zimmermann, Frauenbiographik; v. Zimmermann, (Auto)Biographik.
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Vorbemerkung
Stifter) – die grundlegenden Tendenzen einer Ausdifferenzierung derjenigen Diskurse und Gattungen zu beschreiben, welche sich mit den anthropologischen und historischen Fragen der Konstitution des (Einzel)Menschen und seinem Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft beschäftigen. Im Sinn der vorliegenden Studie handelt es sich dabei nicht um das erste Auftreten anthropologischer Fragestellungen in der Biographik, aber um den Konstitutionszeitraum eines Gattungsverständnisses, welches die biographische Anthropologie (und Ethik) in Konkurrenz zu historiographischen und geschichtsphilosophischen Tendenzen der Abwendung vom Einzelmenschen zugunsten überindividueller Konstellationen und Gesetzmäßigkeiten nun als Kernbereich lebensgeschichtlicher Darstellungen definiert. Während in diesem Kapitel die Wahrnehmung anthropologischer Erkenntnisaufgaben durch die Biographik die Perspektive bestimmt, werden im anschließenden Kapitel Anthropologische Biographik (Kap. 3) in umgekehrter Perspektive die biographischen Ansätze, Modelle und Argumentationsformen im Rahmen der Geschichte anthropologischer Wissenschaften untersucht. Die Erprobung anthropologischdisziplinärer Theoriebildungen zur Konstitution des Menschen erfolgt dabei zu einem bedeutenden Teil der Diskussion gerade über lebensgeschichtliche Analysen und Darstellungen historischer Ausnahmemenschen. Das Genie als Entartungsphänomen gibt Aufschluß über die Konstitution des Normalmenschen wie über die Grenzbereiche des Menschlichen. Die Diskussion um die biographische Anthropologie und anthropologische Biographik kann mithin nicht geführt werden, ohne das Spannungsverhältnis von Ausnahmeindividuum und Normalmensch sowohl in den psychopathologischen Genie/Wahnsinn-Debatten als besonders auch in der konkreten biographischen Darstellung in einzelnen Texten zu untersuchen. Entsprechend folgen die Betrachtungen zu spezifischen gattungsgeschichtlichen Phänomenen jeweils auch dem Spannungsverhältnis zwischen der Vermenschlichung der Ausnahmeindividuen (Normalmensch, anthropologisch) und der Idealisierung der Ausnahmemenschen (pathologischer Fall und/oder Heros), zwischen den leitenden Paradigmen Heros und Anthropos. Das ausführlichste Kapitel Vermenschlichung und Heroisierung – zwei widerläufige biographische Strategien der Moderne (Kap. 4) ist der Zeit moderner Erfolgsbiographien von Autoren wie Jakob Wassermann, Stefan Zweig oder Emil Ludwig gewidmet. Stärker als dies bislang in der Forschung der Fall gewesen ist, werden dabei die spezifischen anthropologischen, politisch-historischen und hermeneutischen Grundlagen der Biographik dieser Autoren analysiert, um die Funktion der Darstellungsstrategien der Vermenschlichung und der Heroisierung in ihrem widerstreitenden Zusammenspiel jeweils zu erläutern. Die Auswahl der Autoren erfolgte nach der Popularität, dem Umfang der biographischen Produktion, der spezifischen gattungsgeschichtlichen
Vorbemerkung
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Stellung ihres Werkes und ihrer Bedeutung für biographische Debatten ihrer Zeit. Demgegenüber treten zwangsläufig Autoren und Werke in den Hintergrund, die zwar als vielschichtig interessierende Sonderfälle aufzufassen wären, denen aber im Kontext der hier verfolgten Fragestellung einerseits nicht eine zentrale gattungsgeschichtliche Relevanz zugesprochen werden kann und denen andererseits aufgrund ihrer Bedeutung in anderen literaturgeschichtlichen Kontexten an dieser Stelle auch nicht die genügende Aufmerksamkeit hätte zukommen können. Dies gilt etwa für Alfred Döblins monumentalen Roman Wallenstein oder Heinrich Manns Henri Quatre. Beide Werke spielten schon zeitgenössisch nur eine untergeordnete Rolle in der Diskussion um die Biographik. Eine Grundthese der Arbeit, daß sich historisch-diachrone Wandlungen und synchrone Differenzierungen der Menschenbilder jeweils auf die biographische Praxis auswirken, zeigt sich auch im Kapitel Heros und Anthropos im nationalen Diskurs (Kap. 5), in welchem an exemplarischen Fallstudien ein Spektrum unterschiedlicher Formen der lebensgeschichtlichen Darstellung des Verhältnisses von Einzelmensch und Nation insbesondere vor dem Hintergrund einer völkischen Ideologiebildung und einer weltkriegsbedingten Entideologisierung im Nationalsozialismus entworfen wird. Besonderes Gewicht wurde dabei nicht zuletzt der Frage gewidmet, ob die dort behandelten Werke vor allem von Walter von Molo und Wilhelm Schäfer nicht letztlich eine alternative Erscheinungsform moderner Biographik bilden.
1. Grundlagen der Biographik »BIOGRAPHER: We are both in the same business. NOVELIST: How do you make that out? BIOGRAPHER: We are both writing about people. NOVELIST: But your people have actually existed, while mine are made up inside my head. BIOGRAPHER: That difference is not as real as it seems on the surface. The people you believe you have invented get their start from people you have known in real life, or have read about. And the statesmen or adventurers whose lives I choose to retell are in great part of my own creations.« (Robert Littell, Truth is Stranger, 1925)
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik Eine eher traditionelle Arbeitsdefinition: Die Biographie ist die Darstellung eines fremden in irgendeiner Weise für den Biographen bedeutsamen Lebenslaufes im Medium des narrativen Textes auf der Basis einer individuellen Sichtung und kritischen Bewertung überlieferter Zeugnisse. Die Biographie ist das Resultat einer Gattungswahl, die der Realisierung eingeschriebener oratorischer Zielsetzungen wie etwa der Unterhaltung oder Information, der moralischen Unterrichtung oder ideologischen Agitation des Zielpublikums durch die Mittel der Identifikation mit und Distanzierung von der oder dem Biographierten dienen kann. Sie ist gebunden an den historischen, sozialen, regionalen und ästhetisch-poetischen Kontext ihrer Entstehung, an das literaturund gattungsgeschichtliche Angebot an Darstellungs- und Beschreibungsverfahren. Nicht zuletzt ist sie – als populäre Gattung in besonderer Weise – in bezug zu sehen zu Rezeptionserwartungen wechselnder Leserschaften. 1.) Biographie und Lebenslauf. – Während der Lebenslauf Bestandteil einer vorliterarischen Wirklichkeit ist, stellt die Biographie respektive das Reden über den Lebenslauf wahrgenommene und erzählte ‘Wirklichkeit’ oder – wie noch dargelegt wird – eine funktionalisierte Fiktion angenommener Wirklichkeit dar. Dabei ist vorausgesetzt, daß ein Lebenslauf überhaupt nur auf dem Weg einer interpretierenden Erzählung als kohärente, strukturierte Einheit darstellbar ist, jedes Reden über Lebensläufe sprachlichdiskursiv ist und also – wie Edgardo Oviedo (1993) feststellt – Erzählung und Lebenswirklichkeit grundsätzlich verschiedenen Gesetzen gehor-
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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chen: »No se puede relatar una vida sin re-ligar los acontecimientos que la construyen. Pero la vida es, en su relato, siempre caótica, confusa. Incierta.«1 Für die Texte und ihre Analyse ist als Voraussetzung lediglich wichtig, daß die Biographie eigenen Formen der Kohärenzbildung folgt und gegenüber dem Lebenslaufmaterial als sinnbildende Instanz fungiert,2 ob dagegen Lebensläufe in einer Lebenswirklichkeit kohärent sind oder nicht, erweist sich im Reden vom Reden über Lebensläufe als nicht relevant. Die Persönlichkeitspsychologie und (Identitäts)Soziologie haben allerdings den in diesem Kontext interessanten Nachweis erbracht, daß Menschen ihre Identität aus der Erzählung eigener Lebensgeschichten (Autobiographien) schöpfen, und konnten dabei zeigen, daß in diesen Lebensgeschichten – im Reden über den eigenen Lebenslauf – in jeder Lebensphase andere Gewichtungen und Interpretationen zu jeweils aktualisierten Identitätsgeschichten geordnet werden.3 Bereits im Umgang mit dem eigenen Leben wird die Kohärenzbildung auf einer narrativen Metaebene geleistet. Die Autobiographie stellt eine gegenüber den Lebensfakten willkürliche, gegenüber der Erzählgegenwart jedoch nicht beliebige, sondern funktionalisierte Lebenserzählung dar. Dabei wirken sowohl Gegenwartsinteressen als auch Erzähltraditionen und die Eigendynamik der Narration4 bei der Kohärenzbildung mit. Mit kritischem Impuls könnte man Pierre Bourdieu zitierend festhalten: »Eine Lebensgeschichte zu produzieren, das Leben als eine Geschichte zu behandeln, also eine kohärente Erzählung einer bedeutungsvollen und gerichteten Abfolge von Ereignissen, bedeutet vielleicht, sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen, einer trivialen Vorstellung von Existenz, […].«5 Die ———————— 1
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Edgardo Oviedo, Atisbar entre pliegues. In: Letra 29 (Juli 1993), 29-32, hier S. 30; sinngemäß: Es ist nicht möglich, einen Lebenslauf erzählerisch wiederzugeben, ohne die Ereignisse, die ihn bilden, in eine (neue) Ordnung zu bringen. Das Leben selbst ist ‘in seiner eigenen Erzählung’ dagegen stets chaotisch, ungeordnet. Ungewiß. Koller faßt die Lebenserzählung entsprechend als einen »Vorgang der Sinnproduktion«, der »dem tatsächlichen Lebensgeschehen« Sinn durch die bestimmte ‘Weise’ des Erzählens hinzufüge. Hans-Christoph Koller, Biographie als rhetorisches Konstrukt. In: BIOS 6 (1993), S. 33–45, S.37. Vgl. u.a.: Dan P. McAdams, The Stories we Live by. Personal Myths and the Making of the Self. New York u. London: Guilford Press o. J. [21997]; ders., The Person. An Integrated Introduction to Personality Psychology. 3., aktual. Aufl. Fort Worth etc.: Harcourt College Publ. 2001, bes. S. 642–656; vgl. zusammenfassend: Jens Brockmeier, Identity. In: Encyclopedia of Life Writing, Bd. 1, S. 455f. Dieser Sachverhalt wird im Rahmen des sogenannten ‘narrativen Interviews’ diskutiert als Reflexion darüber, wie aus lebensgeschichtlichen Erzählungen in Interviews sozialwissenschaftlich relevantes Material gewonnen werden kann. Vgl. die Zusammenfassung und die Literaturhinweise bei: Koller, Biographie als rhetorisches Konstrukt, S. 34f. Vgl.: Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion. In: BIOS 3 (1990) [zuerst frz. 1986], S. 75–81, S. 76. – Es ist allerdings fraglich, welchen Wert diese Erkenntnis hat, wenn nicht
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1. Grundlagen der Biographik
beständige Reformulierung solcher nach Lebensalter und situativen Kontexten variierenden Kohärenzbildungen dürfte nicht allein durch individuelle Identitätsbedürfnisse, sondern maßgeblich auch durch die jeweilige Einordnung des einzelnen in wechselnde, teils konkurrierende korporative Zusammenhänge begründet sein: »the so-called ‘I’ is merely a unique combination of partially conflicting ‘corporate we’s’« (Kenneth Burke). 6 Die Lebensgeschichten variieren so durch ihren identifikatorischen respektive distanzierenden Gestus gegenüber korporativen Einheiten und durch die Selektion bestimmter korporativer Bezüge, die aktiviert werden und die die Verdrängung anderer möglicher Bezüge implizieren. Dies gilt gewiß auch für den Biographen, der den fremden Lebenslauf in der Orientierung an ausgewählten korporativen Bezügen rekonstruiert (familiären Konstellationen, Gruppenzugehörigkeiten, sozialen und beruflichen Rollenmustern, Stellung in geschichtlichen Situationen und Verläufen oder auch weiteren soziologisch, psychologisch, biologisch begründeten Typologien etc.). Gerade die Orientierung an regionaler, nationaler, ethnischer Teilhabe des Biographierten oder an seiner Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, einer politischen Überzeugungsgemeinschaft oder an seiner sozialen Herkunft, Schichtzugehörigkeit etc. wird je unterschiedliche biographische Konstruktionen ergeben. Dabei sind sowohl eindeutige – auf einen Bezug hin ausgerichtete – als auch konfliktive (Luther als Christ, als Deutscher, als politisch Handelnder) Bezüge denkbar. Die Biographie wie die Autobiographie sind vom Lebenslauf so bereits durch den eigensinnigen narrativen Zwang zur Kohärenzbildung geschieden. Sie stellen in der Regel lineare Konstruktionen eines Lebenslaufes auf der Basis überlieferter Zeugnisse respektive eigener Erinnerungspartikel dar. Hier kommt insbesondere für den Biographen eine zweite Schwierigkeit hinzu, denn die überlieferten Lebenszeugnisse können nie etwas anderes sein als Bruchstücke. Die biographische Überlieferung hat fragmentarischen Charakter, und das biographische Verstehen hat »am Erhaltenen eine Stoffgrenze« (Wilhelm Dilthey).7 Abgesehen von wenigen aktuellen Erprobungen neuer Darstellungsformen bildet jede Biographie einen an materiale Gegebenheiten gebundenen Versuch, einen eben nur fragmentarisch überlieferten individuellen Lebenslauf als vollständig zu beschreiben. Damit sind gewiß handfeste Probleme für die Bewertung der ———————— 6 7
gleichzeitig danach gefragt wird, wie diese Kohärenzbildung im Zusammenhang der Lebensbewältigung von Nutzen sein kann und sinnvoll erscheint. Kenneth Burke, Attitudes Toward History. Third Edition With a New Afterword. Berkeley, Los Angeles u. London: Univ. of California Press 1984 (11937, 21959), S. 264. Wilhelm Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Stuttgart u. Göttingen: Teubner, Vandenhoeck & Ruprecht 1927 (Gesammelte Schriften 7), S. 189–292, darin Kap. IV: »Die Biographie«, hier S. 249.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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Aussagequalität und -möglichkeiten von Biographien verbunden: »Biography by definition becomes an epistemological nightmare.«8 Der Literaturwissenschaftlerin und Biographin Joan Mellen fällt es in ihren Confessions of an Ex-Biographer (1997) jedenfalls nicht schwer, die Absurdität der biographischen Suche nach Vollständigkeit und Wahrheit dort aufzuzeigen, wo Biographen entweder durch das eigene partielle Desinteresse an einigen Aspekten und Facetten des von ihnen Biographierten diese schlichtweg übergehen oder aber gerade die für eine zentrale These entscheidenden Belege nicht ausfindig machen. Anekdoten und Vermutungen bilden so nicht selten das Material der Biographien: »Epistemology meets the absurd when you take into account that so much of biography is based upon the unverifiable, often spurious, personal anecdotes of those who knew the subject.«9 Entgegen solchen Absagen an die Biographik haben die Theoretiker der Lebensbeschreibung sich beständig mit der Frage auseinandergesetzt, wie aus den überlieferten Bruchstücken ein Verstehen der angenommenen Einheit des Lebenslaufes dennoch möglich werden kann. Gerade das Verstehensproblem ist jedoch für die Geschichte der Biographie von zentraler Bedeutung, denn die biographische Perspektive bildete besonders im 19. Jahrhundert eine gewichtige Grundlage in der Hermeneutik. Ziel der Hermeneutik ist es in der Fassung Diltheys bekanntlich, aus »fixierten Lebensäußerungen« ein »Verstehen« der hinter den Lebenszeugnissen durch den Bruch der historischen Distanz verborgenen Lebenszusammenhänge als »Nachfühlen fremder Seelenzustände« herzustellen.10 Entsprechend wäre es die Aufgabe des Biographen, den Biographierten aus den fixierten Lebensäußerungen (etwa seiner Autobiographie) zu verstehen. Damit ist gewiß der Anspruch der meisten Biographien beschrieben; mit Dilthey kann dieser Anspruch sogar noch zugespitzt werden, denn ein Ziel der hermeneutischen Verfahren in der Biographik wäre es mithin, ein Verständnis der erkundeten Persönlichkeit zu erlangen, das über die Möglichkeiten der Selbstreflexion dieser Person hinausgeht: »Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor [einer fixierten Lebensäußerung] besser zu verstehen, als er sich ———————— 8
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Joan Mellen, Confessions of an Ex-Biographer. In: Biography and Source Studies 3 (1997), S. 151–163, hier S. 151. – Mellen benutzt die Absage eher für einen Hinweis auf die Probleme der Biographik als zur Skizzierung eines wohl nicht vollzogenen biographischen Bruchs. Ebd., S. 153. Grundlegend: Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik (1900). In: Ders., Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stuttgart u. Göttingen: Teubner, Vandenheck & Ruprecht 51968 (Gesammelte Schriften 5), S. 317–338, hier S. 319, 317. – Vgl. Dilthey, Plan.
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1. Grundlagen der Biographik
selbst verstanden hat.«11 Es liegt nahe, diesen möglichen Vorteil des Biographen gegenüber den Selbsttäuschungen des Autobiographen in seiner fortgeschritteneren oder reflektierteren Kenntnis der historischen und sozialen wie der psychologischen und biologischen Determinanten eines Lebenslaufes zu sehen. Dies setzt spezifische Fähigkeiten des Biographen, genaue Kenntnis des konkreten Gegenstandes aber auch eine abstrakte Vorstellung über die generellen Existenzbedingungen eines jeden Individuums voraus.12 Die Biographik ist dadurch gebunden an die Geschichte der Konzeption von Individualität sowie die Geschichte der Menschenbilder, und eben dadurch wird der Vorsprung des Biographen historisch und diskursiv wieder relativiert. Im Sinn eines Breitenphänomens erweist sich das Bedürfnis, individuelle Lebensläufe zu erzählen, in der Literaturgeschichte als ein relativ junges und zudem spezifisch abendländisches13 Ereignis. Die Forschungen auf literatur- und sozialwissenschaftlichem Gebiet deuten darauf hin, daß das Konzept von Individualität, welches der neuzeitlichen Biographie zugrunde liegt, sich im Lauf des 18. Jahrhunderts entwickelt hat, wenngleich diese Biographik an vielfältige ältere biographische Gattungen und Tendenzen in der Literaturgeschichte des Abendlandes anknüpfen konnte. Vorformen des Biographischen binden die individuelle Erscheinung jedoch in der Regel zurück an allgemeine kulturelle, soziale oder theologische Konzepte.14 Der moderne Gedanke des unverwechselbaren, eigentümlichen Individuums wird in Deutschland nach einem längeren Entwicklungsprozeß15 in spätaufklärerischer, vorromantischer Zeit zu einem ———————— 11 12
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Ebd., S. 331. Es ist ein altes Thema der Hermeneutik, welches auch in den theoretischen Äußerungen der Biographen über ihre Arbeit häufig wiederkehrt, daß das Verstehen auf Selbsterkenntnis und allgemeine Menschenkenntnis gegründet ist. Strategien des Verstehens in der eigenen Lebenswelt bilden die Grundlage für das Verstehen historischer Persönlichkeiten. Hiervon nimmt nicht nur Dilthey seinen Ausgangspunkt (Plan, S. 205ff.), auch Biographen wie Stefan Zweig, Emil Ludwig u. a. m. haben diese Voraussetzungen betont. Solche Differenzen legen die Autoren der Beiträge nahe in: Schüle, Biographie. Vgl. u. a.: Hans Ulrich Gumbrecht, Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten. In: Joachim Matthes, Arno Pfeifenberger u. Manfred Stosberg (Hgg.), Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg: Verlag der Nürnberger Forschungsvereinigung e. V. 2 1983, S. 231–250; Hans-Georg Soeffner, Entwicklung von Identität und Typisierung von Lebensläufen. Überlegungen zu Hans-Ulrich Gumbrecht: Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten. In: Ebd., S. 251–268. Vgl. Richard van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt/M.: Fischer 1997 (Europäische Geschichte; FischerTB 60122). – Vgl. a. Ruppert, der für das »Bewußtsein des eigenen Selbst« einen deutlichen Entwicklungsschub am Ende des 18. Jhs. feststellt. Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (stw 1352), S. 258–261, hier S. 261.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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Thema von breiter Relevanz, welches in der philosophischen Diskussion, in literarischen Texten und nicht zuletzt in privaten Lebensentwürfen virulent wird.16 Die Biographieforscher Peter Alheit und Bettina Dausien haben dies einen »Prozeß der Biographisierung« der Gesellschaft genannt.17 Die Tendenz zur Kohärenzbildung im eigenen Leben durch die jeweilige Neuerzählung der eigenen Biographie in unterschiedlichen Lebensphasen und in wechselnden korporativen Bezügen, aber auch das anwachsende Interesse an der Erzählung des eigenen Lebens oder fremder Leben überhaupt läßt sich mithin als ein Phänomen der jüngeren Neuzeit (Moderne) beschreiben. Die breite Masse der biographischen Literatur des 18. Jahrhunderts läßt sich noch dem Typus der bürgerlichen Rollenbiographie zuschreiben, da die geschilderten bürgerlichen Lebensläufe vor allem an der Wahrnehmung des sozialen Rollenangebotes und der Erfüllung des gewählten tradierten Rollenmusters orientiert sind.18 Wahrscheinlich als Folge eines rasanten Strukturwandels der Gesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhunderts und beeinflußt auch durch die Aufwertung des Einzelmenschen im Pietismus werden diese Rollen zunehmend als Einengung verstanden, und der Gedanke der freien Selbstentfaltung und Lebensbestimmung des Individuums führt zur Suche nach neuen Lebensentwürfen.19 Der Sturmund-Drang Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz etwa bezeichnet in einer Rede die bürgerliche »Biographie« kritisch als die Geschichte eines Rades im Getriebe der Gesellschaft, welches sich in »die große Maschine« einzupassen habe und irgendwann einem neuen Rad weichen müs———————— 16
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Dabei erweist sich die Individualitätsgeschichte durchaus nicht als linearer ‘Fortschrittsprozeß’, der ohne Rück- und Seitenwege verlaufen wäre. Vgl. etwa zum Beginn des hier untersuchten Zeitraums: Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bde. 1-3. Stuttgart: Metzler 1971/72/80, Bd. 1, S. 68–72. Peter Alheit u. Bettina Dausien, Biographie. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hg. von Hans Jörg Sandkühler u.a. Bd. 1. Hamburg: Meiner 1990, Sp. 405a–417b, hier 407a. Bezeichnenderweise entwickelte sich parallel zur Biographik eine pädagogische Debatte, welche die Erziehung durch leibliche Eltern gerade wegen dieser Orientierung an statischen Rollenmustern zugunsten einer sozialen Elternschaft der Vorbilder und der Erziehungsinstitutionen abwertete. Diese Gedanken finden sich etwa bei Herder (in Ansätzen auch bei Kant), und sie werden zu einem wichtigen Thema in der Literatur des 19. Jahrhunderts (etwa bei Adalbert Stifter). Vgl.: Wolfgang Lukas, ‘Gezähmte Wildheit’. Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ‘Bürgers’ um die Jahrhundertmitte (ca. 1840–1860). In: Achim Barsch u. Peter M. Hejl (Hgg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000 (stw 1469), S. 335–375. Die diskontinuierliche ‘Geschichte der Individualisierung’ verfolgen die Beiträge in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Darmstadt: WBG 2001.
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1. Grundlagen der Biographik
se:20 der zentrale Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, der die Individualitätsdiskussion der Moderne wesentlich bestimmt. Die Problematisierung der ‘Unfreiheit’ des Individuums darf dabei nicht als Hinweis auf eine Befreiungs- und Durchsetzungsgeschichte der Individuen mißverstanden werden. In erster Linie geht es um eine Reformulierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und um die Ausbildung neuer Handlungsmuster und sozialer Rollen. Die je subjektiv empfundene ‘Unfreiheit’ stellt zunächst nur das Unbehagen des einzelnen angesichts eines Mißverhältnisses zwischen Rollenangebot und Rollenbedarf dar. Der »Prozeß der Biographisierung« ist zumindest im Rahmen der hier thematisierten schriftlich fixierten Biographik zurückgebunden an die Frage nach der überindividuellen Bedeutung der darzustellenden Person. Wessen Lebenslauf zum Gegenstand einer Biographie gemacht werden kann oder soll, beruht gewiß auch auf individuellen Entscheidungen der Biographen, besonders aber auf tradierten Urteilen über den Wert der einzelnen historischen Persönlichkeiten bzw. über die Bedeutung der von ihnen eingenommenen sozialen Position und Rolle sowie über die Handlungsfähigkeit der Individuen21 in sozialen, historischen Kontexten. Man war sich zumeist einig, daß nur der in irgendeiner Weise unter seinen Mitmenschen herausragende bzw. abgesonderte Mensch für eine solche Darstellung in Frage komme. Generell – so urteilt der Verfasser des Artikels »Biographie« in der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (1819) – sei es nicht sinnvoll, die Biographie eines beliebigen Menschen zu schreiben. Nur die Biographie einer Persönlichkeit, die durch ihren sozialen »Rang«, durch besondere »Verdienste« oder durch »denkwürdige Glücksveränderungen« merkwürdig sei, dürfe und könne das Interesse von Biographen und Lesern beanspruchen.22 Allerdings wird etwa von Thomas Carlyle (1832) einschränkend vermerkt, daß der Abstand zwischen dem Biographierten und dem Leser auch nicht zu groß sein dürfe, wenn er noch dessen Interesse finden solle. Der Biographierte müsse zwar einerseits »original, unlike every other« sein, andererseits aber auch »like every other«, denn in der außergewöhnlichen Erscheinung des bedeutenden Menschen solle auch das Existenzproblem ———————— 20
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Jakob Michael Reinhold Lenz, Über Götz von Berlichingen. In: Ders., Werke. Dramen – Prosa – Gedichte. Hg. von Karen Lauer. Mit einem Nachwort von Gerhard Sauder. München: dtv 1992 (dtv klassik 2296), S. 563–565, hier S. 563. Also nicht nur die Handlungsmacht der konkreten Person, sondern auch die Frage nach der Handlungsmächtigkeit der Individuen überhaupt ist entscheidend, da ein starker Determinismus letztlich dafür sprechen könnte, die Biographie überhaupt als Darstellungsform abzulehnen. Anonymus, Biographie. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Erster Band. Leipzig: F. A. Brockhaus 1819, S. 49f.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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und der Lebenskampf eines jeden Menschen erkennbar bleiben.23 Die Frage der Biographiewürdigkeit der Individuen weist letztlich darauf hin, daß sich der Biograph nie einen beliebigen Gegenstand wählt, sondern jeweils in spezifischen diskursiven Kontexten entscheidet, wer einer Biographie wert erscheint. Dabei bewegen sich die Entscheidungen der Biographen sehr häufig in einem tradierten Kanon biographiewürdiger Gestalten, wobei der Kanon verbunden ist mit festen Deutungsvorgaben. Aber auch dort, wo der Kanon verlassen wird, werden neue Gegenstände nach vorliegenden Interpretationsschemata biographisch erschlossen. Die Biographiewürdigkeit ist also nicht als eine Eigenschaft des Biographierten, sondern als Resultat der Biographisierung und der Traditionen der Biographisierung anzusehen. Es erscheint insgesamt also kaum gerechtfertigt, die Geschichte der Biographik auf eine Geschichte des Bemühens zu reduzieren, fremde Leben zu verstehen. Denn das Verstehen des fremden Lebenslaufes wird – nicht zuletzt durch die geforderte ‘Qualität’ der Besonderheit – immer schon überlagert von der Funktionalisierung der Darstellung im soziokulturellen Kontext. Insbesondere die Fragen, wem eine Biographie zu widmen und wie der Biographierte in der Darstellung zu bewerten sei, folgen nicht primär hermeneutischen Interessen, sondern übergeordneten soziokulturellen Rahmenbedingungen und diskursiven Vorgaben, und das hermeneutische Bemühen wird nicht zuletzt geleitet und begrenzt durch die rhetorische Situation der Biographie, welche die Anpassung der biographierten Gestalt an Kommunikations- und Handlungskontexte, an aktuelle Anlässe, Aufgaben und Ziele der Vergegenwärtigung erforderlich macht. Selbstverständlich wirken diskursive Vorgaben und subjektive Interessen des Biographen zusammen. Auch der Biograph ist ein Faktor, der die Distanz zwischen Lebenslauf und Biographie prägt. In Anknüpfung an Überlegungen aus Kenneth Burkes Studie Attitudes Toward History ließe sich formulieren: Jeder Biograph nimmt gegenüber einem Biographierten eine spezifische Haltung ein, die sich durch Benennungen und Zuschreibungen in den Text einfügt. Gewiß macht es einen Unterschied, ob ein Biographierter als ‘Held’ oder als ‘Schurke’, als bloß geschickt, aber betrügerisch oder als intelligent und sittlich dargestellt wird. Und gewiß sind diese Urteile (und die ihnen zugrundeliegenden Urteilsmaßstäbe) dem Biographen (und den durch ihn repräsentierten diskursiven Kontexten) und nicht Wesenszügen des Biographierten selbst zuzuschreiben. In unterschiedlichen Biographien über dieselbe historische Persönlichkeit wer———————— 23
Thomas Carlyle, Biography. (1832.) In: Ders., Critical and Miscellaneous Essays. In five Volumes. Bd. 3. London: Chapman and Hall o.J. (Centenary Edition 28), S. 44–61, hier S. 44.
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1. Grundlagen der Biographik
den sich stets einander widersprechende Urteile finden. Aus rhetorischer Perspektive handelt es sich bei solchen Zuschreibungen um Elemente einer Darstellungsstrategie, welche regelt, warum eine Zuschreibung so und nicht anders vorgenommen wird. Die bewußte oder unbewußte Abwägung von Benennungen und Zuschreibungen wird – nach Kenneth Burke – dadurch bestimmt, was durch sie erreicht werden kann und soll und was für ‘Widerstände’ damit provoziert würden.24 Es entwickelt sich also eine rhetorische Eigendynamik der Biographie, die sowohl von strategischen Zielen als auch von situativen Rahmenbedingungen beeinflußt wird. Keineswegs soll mit der Betonung der rhetorischen Seite der Einpassung des Biographierten in spezifische Diskurse der Autor als alleiniger Ursprung aller Wertungen und Deutungen im Text der Biographie postuliert werden,25 doch bleibt festzuhalten, daß diese eben nicht im Lebenslauf des Biographierten ihren Ort haben, sondern in der rhetorischer Instrumentalisierung des Lebenslaufes zur Biographie. Den Hintergrund dieser rhetorischen Instrumentalisierung könnte man mit Burke als ‘frames of acceptance’ beschreiben: »the more or less organized system of meanings by which a thinking man gauges the historical situation and adopts a role with relation to it«.26 Dabei ist gewiß gegenüber Burke zu betonen, daß diese ‘frames’ bereits von ‘Denksystemen’ etc. geprägt sind und in ihrer rhetorischen Umsetzung literarischen Traditionen, sozialen Konventionen (etwa: ‘über Tote nichts Schlechtes’ etc.) oder auch diskursiven Praktiken verpflichtet sind. Der Unterschied zwischen Biographie und Lebenslauf ist so zumindest auf zwei Ebenen anzusetzen: zum einen auf der Ebene der narrativen Kohärenzbildung (Konstruktion des Biographierten), zum anderen auf der Ebene der implementierten ‘Haltungen’ zu dieser Konstruktion des Biographierten. Über das bisher zur Beziehung des Lebenslaufes zur Biographie Zusammengetragene hinaus gehen die von Ernst Kris und Otto Kurz bereits 1934 unter dem Schlagwort »Gelebte Vita« getroffenen Beobachtungen. Die Autoren stellen fest, daß Künstlerbiographien nicht zuletzt durch die Erzählung ‘typischer Anekdoten’ entindividualisiert und einem allgemeinen Modell des Künstlers angepaßt würden. Dabei wirken die für das abstrakte Modell des Künstlers typischen biographischen Momente nicht ———————— 24 25
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Burke, Attitudes, S. 5. Freilich operiert K. Burke selbst mit einem starken Autorbegriff, denn Literatur ist für ihn immer auch Ausdruck der psycho-physischen Disposition des Autors und als solcher auch mit spezifischen Verfahren der Analyse lesbar. Dennoch bleiben seine Studien anregend, die Texte grundsätzlich als Instrumente der Lebensbewältigung und als symbolische Handlungen in sozialen Kontexten beschreiben. Burke, Attitudes, S. 5.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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nur auf die Lebensbeschreibung, sondern auch auf den lebensweltlichen Habitus der Künstler: »Die Biographik verzeichnet das typische Geschehen, und durch die Biographik wird das typische Schicksal eines Berufsstandes geprägt, ein Schicksal, dem der Tätige sich ein Stück weit unterwirft.«27 So werde einerseits der historische Lebenslauf durch die Stilisierung auf den Typus hin verdeckt, andererseits präge die wiederholte Erzählung des Typischen den Lebensentwurf der Nachkommenden. Dabei denken die Autoren vor allem an eine unbewußte psychologische Orientierung des Lebenslaufes an biographischen Typen; ergänzend wäre freilich festzuhalten, daß eine didaktisch orientierte Biographik sich diese Technik der Zuspitzung von Lebensläufen auf typische und überindividuelle Lebenssituationen zu eigen macht, gerade damit Leser bewußt oder unbewußt diese zum Orientierungspunkt ihrer eigenen Lebensentwürfe nehmen (vgl. etwa unten zur Selbsthilfe-Biographik, Kap. 2.5.2.). 2.) Biographik und Autobiographie. – Die vorliegende Studie grenzt die Biographie eines anderen von der Autobiographie seiner selbst ab, ohne feste Gattungsgrenzen etablieren zu wollen. Gleichwohl lassen sich systematische und graduelle Unterscheidungsmerkmale finden, wie sie sich bereits textimmanent aus der je eigenen Erzählform ergeben (Er/Sie/Es-Erzählform bzw. Ich-Erzählform): »Die Biographie einer historischen Person stellt einen Fall von heterodiegetischer Erzählung dar, während eine Autobiographie den Idealfall einer homo- bzw. autodiegetischen Erzählung verkörpert.«28 Eine solche narratologisch begründete Gattungsdefinition würde nicht »die Autobiographie als Sonderform der Biographie« (Maurer) einschließen.29 Grenzformen wie die fiktionale ———————— 27
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Ernst Kris u. Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich. Frankfurt/M.: Surkamp 1979 (nach der Ausgabe Wien 1934), S. 164. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 1999 (C. H. Beck Studium), S. 83. – In der mittels der »doppeldeutigen Ich-Form« durch die ‘pronominale Gleichsetzung’ erzeugten »Identität von historisch-empirischem Aussage- und Referenzsubjekt« sieht Neva S&libar – in Weiterentwicklung von Lejeunes Ausführungen – den zentralen Unterschied zwischen Biographie und Autobiographie. N. S&libar, Biographie, Autobiographie – Annäherungen, Abgrenzungen. In: Michaela Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin: Schmidt 1995, S. 390– 401, hier S. 394f.; Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt. Aus dem Frz. von Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (es 1896; zuerst frz. 1975). Die von Michael Maurer in seiner ergiebigen und anregenden Habilitationsschrift vertretene Position, die Autobiographie stelle eine »Sonderform der Biographie« dar, soll wohl vor allem der rhetorischen Aufwertung des vernachlässigten Gegenstandsbereichs Biographik gegenüber dem Forschungsliebling Autobiographie dienen. Eine gattungshistorische oder -theoretische Begründung wird von Maurer nicht vorgenommen. Das dort ebenfalls aufgestellte Differenzierungskriterium, die Autobiographie sei »die Biographie ohne Tod«, vernachlässigt erstens die Biographik Lebender und zweitens die hier diskutierten grundlegenderen Differenzierungsmerkmale. Maurer, Biographie des Bürgers, zit. S. 106.
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1. Grundlagen der Biographik
Autobiographie (also die Biographie eines anderen in der Ich-Form) oder die Autobiographie aus der Feder eines ‘Ghostwriters’ wären entsprechend als Sonderformen der Autobiographie, die autorisierte Biographie als Sonderfall der Biographie zu behandeln. Auch andere Gesichtspunkte können zu einer graduellen Differenzierung herangezogen werden: Während autobiographische Schriften insgesamt zur Memorialliteratur zählen, welche die Erzählung erlebter Geschichte und die Identität der eigenen Person zum Gegenstand haben, können Biographien nur in Sonderformen wie der Freundschaftsbiographik oder der nekrologischen Biographie diesem Bereich zugeordnet werden; überwiegend lassen sie sich teils zur mittelbaren Geschichtsschreibung, teils zur Anthropologie rechnen. Wenngleich es bei vielen Differenzierungen Überschneidungsbereiche gibt – etwa bei der Biographie eines Zeitgenossen – erscheint auch die Abgrenzung bedenkenswert, wie sie der bekannte Biograph und Literarhistoriker Richard Ellmann (1971) vorgenommen hat, der feststellt, die Biographie sei eher sozial ausgerichtet, während die Autobiographie in erster Linie ein Medium der Autoreflexion darstelle. Der Biograph nehme immer den Standpunkt eines Fremden ein, »necessarily different from that mixture of self-recrimination and self-justification which the great writer, like lesser men and women, has made the subject of his lifelong conversation with himself«.30 Daran ändert auch der u.a. von Robert Gittings (1978)31 formulierte autorzentrierte Einwand nichts, die Biographie stehe schon deswegen in enger Beziehung zur Autobiographie, da die Biographie eines anderen immer auch die Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung des Biographen impliziere, denn dieser Einwand wäre durch das zugrunde gelegte Autorkonzept letztlich auf die gesamte literarische Produktion (das Werk) eines Autors ausdehnbar und vernachlässigt die narratologischen, konzeptuellen und diskursiven Aspekte der Werke. Annahmen des Biographen über die eigene Person, die verallgemeinert werden, seine Lebenserfahrungen und auf ihnen beruhende Ansichten über die Möglichkeiten einer Identitätsbildung im Lebenslauf beeinflussen das biographische Werk in besonderer Weise. Gittings nennt diese Subjektivität projizierter Selbsterfahrungen »one of the dangers of biography«.32 Gerade hierin jedoch, so läßt sich vermuten, könnte ein grundlegender Unterschied zwischen Biographik und Autobiographik liegen. ———————— 30
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Richard Ellmann, Literary Biography. An Inaugural Lecture Delivered before the University of Oxford on 4 May 1971. Oxford: Clarendon Press 1971, S. 3. – Ähnlich grenzt bereits Günter Blöcker die Autobiographik von der Biographik ab: Günter Blöcker, Biographie – Kunst oder Wissenschaft? In: Adolf Frisé (Hg.), Definitionen. Essays zur Literatur. Frankfurt/M. 1963, S. 58–84, S. 66. Robert Gittings, The Nature of Biography. London: Heinemann 1978 Ebd., S. 87.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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Während autobiographisches Schreiben dem psychologischen Prozeß der Identitätsbildung durch gegenwartsorientierte Lebenserzählungen folgt, also das jedem Lebensalter entsprechende Bedürfnis nach einer Reformulierung der eigenen Lebensgeschichte unter dem Identitätsgefühl der Lebensgegenwart erfüllt,33 ist die Vergegenwärtigung des vergangenen Lebenslaufes in der Biographie deutlicher sozial an den Identitätsbedürfnissen von Gruppen, sozialen Gemeinschaften, Nationen und Staaten orientiert. Zudem beschäftigt sich die Biographie mit den anthropologischen und historischen Bedingungen der Identität und Individualität überhaupt. Der Biographierte kann so interpretiert werden als historische Allegorie eines Persönlichkeitsmodells. Eine scharfe Grenzziehung läßt sich auf dieser Basis allerdings nicht gewinnen, und es wäre einzuräumen, daß die Differenzierung zwischen Biographie und Autobiographie unter diesem Gesichtspunkt eher graduelle Unterschiede und bedeutende Überschneidungen ergäbe. Die Unterscheidung zwischen Biographien und Autobiographien könnte auf einer weiteren Ebene begründet werden. Rhetorisch ist es ein fundamentaler Unterschied, ob Argumente aus der eigenen Person gezogen werden oder ob sich der Orator der Fiktion fremder Lebensläufe zur Darlegung bedient. Dies zeigt sich allein schon bei der Stoffwahl: Der Biograph wählt den Biographierten nach bestimmten Kriterien aus, die wesentlich durch die soziale Funktion der Biographie bestimmt werden. Wenngleich auch der Autobiograph seine Lebensdarstellung für überindividuelle Zwecke als gewichtig einschätzen und entsprechend instrumentalisieren kann, zeigt sich in der Geschichte der Biographik doch eine von den jeweiligen Konzeptionen und diskursiven Einflüssen abhängige Präferenz für bestimmte Persönlichkeiten, die gegenüber der Autobiographik eine andere Qualität in bezug auf die Tradierung eines Persönlichkeiten-Kanons aufweist. Die durch Kommunikations- und Handlungskontexte, durch Traditionen und Diskurse geprägte Wahl der historischen Persönlichkeit (z. B. Erasmus statt Luther, männliche Personen statt weibliche, deutsche statt ‘ausländische’) ist bereits wesentlicher Bestandteil der biographischen Darstellungsstrategie. Schon 1929 hat Felix Schottlaender in den Preußischen Jahrbüchern die interessante Feststellung getroffen:34 Wäre eine Geschichte der Lebensschilderung von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart geschrieben, so würde sich aus ihr mancherlei über die menschliche Natur lernen lassen, denn in der Auswahl darzustellenden Schicksals verkörpert sich ja ein gut Teil menschlicher Sehnsucht, und es ist nicht gleichgültig für den Cha———————— 33 34
Vgl.: McAdams, The Person, S. 649–715. Felix Schottlaender, Über Lebensschilderung. In: Preußische Jahrbücher 217 (September 1929), S. 325–333, hier S. 325.
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1. Grundlagen der Biographik
rakter einer Zeit, welcher Art die Lebensläufe sind, die ihr besonderes Interesse erregen.
Für die Diskurspraxis der Biographie wird somit nicht erst die Fragestellung relevant, wie eine historische Persönlichkeit (oder die eigene Person) dargestellt wird, sondern bereits wer im Rahmen der jeweiligen rhetorischen Situation für bestimmte Darstellungsanliegen aktiviert werden kann. Die Biographie erscheint so – wie Anne-Kathrin Reulecke betont hat – nicht als Ort der Repräsentation vorgegebener Subjekte und Geschichte, sondern als derjenige Ort, »der Subjekte zu biographiewürdigen Objekten erst macht«.35 In diesem Sinn läßt sich Ellmanns Ansicht vom besonderen sozialen Charakter der Biographik bestätigen, da die Rhetorik der Biographik grundlegender auf die soziale Funktionalisierung hinweist – und zwar auf allen rhetorischen Stufen, beginnend bei der inventio des Stoffes und der Argumente. Diese kultur- und diskursgeschichtlich, rhetorisch und soziokulturell beachtlichen Differenzen zwischen Biographik und Autobiographik werden in der Literaturgeschichte eher durch Hierarchisierungen verdeckt, welche jeweils eine der beiden Gattungen zur Subgattung oder Sonderform der anderen machen. Aber gerade auch die forschungsgeschichtliche Präferenz für die Autobiographik im Vergleich zu einer angesichts der Popularität und Masse kaum nachvollziehbaren Vernachlässigung der Biographik weist auf die differenzierende Wahrnehmung der Gattungen hin, die sich – wie Neva S&libar betont – nicht zuletzt aus abendländisch tradierten Sehnsüchten nach Authentizität, unmittelbarer Lebenserfahrung und Selbsterkenntnis speisen dürfte.36 Freilich wirkt das Authentizitätsdogma besonders im 19. Jahrhundert nicht nur im Sinn einer Präferenz für Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefe etc., sondern wird auch für die biographische Darstellung relevant, wenn sich Biographen zugunsten einer ‘Biographie in Selbstzeugnissen’ hinter die Dokumente zurückziehen oder aber sich selbst als Zeitzeugen für authentische Darstellungen empfehlen. Unter dem Aspekt der scheinbar größeren Authentizität wie der autobiographischen Involviertheit des ———————— 35
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Anne-Kathrin Reulecke, »Die Nase der Lady Hester«. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz. In: Hedwig Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte. Tübingen: ed. discord 1993 (Forum Psychohistorie 1), S. 117–142, hier S. 125. – Reulecke, die allerdings verkürzend die Biographie als ‘männliche’, von und über Männer geschriebene Gattung betrachtet, fordert dementsprechend dazu auf, »der Frage nachzugehen, mit welchen Mechanismen aus einer historischen Figur […] der männliche Protagonist eines Textes geschaffen wird«, und sie erhofft sich dadurch Erkenntnisse über die »Regelhaftigkeit« der »Konstitution eines literarischen Helden«: »Das Ergebnis […] würde einer Geschichte diachron sich wandelnder Charakteristika biographischer Helden darstellen und damit eine Gattungsgeschichte der Biographie als Sozialgeschichte der Subjektbildung einleiten.« (Ebd., S. 126.) S&libar, Biographie, Autobiographie, S. 394.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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Autors einer Biographie wäre die Nähe zwischen den Gattungen wohl am größten im Fall der Freundschaftsbiographik und Freundesnachrufe, geringer im Fall der kompendiösen akademischen Biographien aus großem und nicht relativiertem historischen Abstand, am geringsten wohl in der verknappenden Essayistik über nationale Helden der älteren Geschichte. Für die pragmatische Entscheidung in der vorliegenden Studie können die graduellen Differenzen genügen, um die forschungsgeschichtlich vernachlässigte Biographik ohne den durchgehenden Seitenblick auf die Autobiographik ins Zentrum zu stellen, zumal die untersuchten diskursiven Kontexte weitgehend biographiespezifisch sind. Künftige Studien könnten die Frage der Differenzierung allerdings im Vergleich von Selbstund Fremdstilisierung, narrativer Darstellungsverfahren oder der mal getrennten, mal verbundenen Rezeptionswege weiter beleuchten. 3) Erzählung und Beschreibung. Biographie und Charakteristik. – Wenn in der Definition das Medium des narrativen Textes hervorzuheben ist, dann betrifft dies vor allem eine Differenzierung auf der Ebene der textuellen Makrostruktur: die Differenzierung zwischen Narration und Deskription. Beide Möglichkeiten können zur Darstellung eines anderen genutzt werden. Während die Biographie sich dabei auf die kohärente Darstellung eines Lebenslaufes nach der Grundannahme einer Entwicklung in der Lebenszeit konzentriert und also narrativ vorgeht, bildet ein – unter Umständen statisch gesehener – ‘Charakter’ den Gegenstand des beschreibenden Charakterporträts (engl. ‘character sketch’). Dabei handelt es sich um eine generalisierende Darstellung der Persönlichkeitsmerkmale, die nicht im historischen Verlauf entwickelt, sondern als ‘Summe’ der Existenz (oder als Momentaufnahme) vorgestellt werden. In der literarischen Praxis werden beide Formen häufig verbunden: Nicht selten wird einerseits als Bestandteil einer Biographie eine solche Charakterisierung des Biographierten – in der Regel als ein Aussetzen der Narration – vorgenommen, während andererseits das Charakterporträt zwar vorwiegend deskriptiv ist, aber durch narrative Sequenzen – das heißt durch die Erzählung exemplarischer und charaktertypischer Ereignisse und Anekdoten – ergänzt werden kann. Allerdings gilt die gattungstheoretische Unterscheidbarkeit von Biographie und Charakterporträt durch die Abgrenzung der Erzählung äußerer Ereignisse (Biographie) von der Beschreibung charakterlicher Merkmale (Charakterporträt) bereits in der Frühphase des hier untersuchten Zeitraums nur für einige Texte, auch wenn zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Verfasser des Artikels »Biographie« in der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände noch verlangt, daß der Biograph sich nicht auf eine Charakterbeschreibung beschränke –
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1. Grundlagen der Biographik
diese wird als Sondergattung gewertet –, sondern vor allem die »äußern Umstände und Veränderungen des Lebens zum Inhalt« mache.37 Dabei nahm die Charakterdarstellung in der Biographie häufig einen abgesonderten Raum ein, wurde aus der narrativen, chronologischen Darstellung ausgegliedert und als separate, teils nachgestellte Beschreibung – im besten Fall als eine ‘conclusio’ der Lebenslaufschilderung (vgl. Kap. 2.6.) – geliefert. Im Gegensatz dazu wird bereits im 19. Jahrhundert im Zuge eines zunehmenden Interesses an der charakterlichen Disposition der biographierten Persönlichkeiten, einer enger gezogenen Verbindung zwischen Person und Leistung und teils einer stärker dynamisch gefaßten Charakterentwicklung die Charakterisierung zum integralen Bestandteil der narrativ-biographischen Literatur – der Auffassung folgend: »[…] den Mann stellen uns seine Worte, seine Thaten und sein Verhalten in den Wechselfällen eines stürmisch bewegten Lebens so vollständig, so anschaulich, so bis ins Innerste durchschaubar vor Augen, daß ein rhetorisches Charakterbild am Schluß so überflüssig wäre, wie die Beschreibung des Gesichts eines Menschen unter seiner Photographie« (Karl Jentsch, 1901).38 Allerdings nutzen noch die modernen Biographen – etwa Stefan Zweig – gerne die Tradition der gedrängten, vom zeitlichen Verlauf abstrahierenden Charakterzeichnung. Unter rhetorischen Gesichtspunkten handelt es sich letztlich um zwei unterschiedliche Darstellungsstrategien und Argumentationsverfahren, die sowohl einzeln als auch in Verbindung gebraucht werden können. Nach welcher Strategie jeweils vorgegangen wird, ist nicht zuletzt vom Kontext der literarischen Modellangebote, der Leseerwartungen und der anthropologischen Prämissen geprägt, erweist sich als Haltung gegenüber diesen Kontexten und ist auf Darstellungsziele hin ausgerichtet. 4.) Biographik als Quellenarbeit. – Auch spezifische Arbeitstechniken, wie die Sichtung und kritische Bewertung überlieferter Zeugnisse, können als fakultatives Gattungsmerkmal in die Definition aufgenommen werden. Freilich ist dabei nicht die Frage zum Gattungskriterium zu erheben, ob ein jeweiliger Biograph diese Arbeit auf sich genommen hat oder nicht. Es zeigt sich jedoch, daß Reflexionen über die historischen Quellen in der Regel Bestandteil der biographischen Texte von den historiographischen Anfängen bis hin zur literarischen Metabiographik unserer Zeit sind. Die Quellenarbeit wird im Text, in Fußnoten und Quellenverzeichnissen oder im Paratext dokumentiert, und noch das Fehlen expliziter Forschungsnachweise (Anmerkungsapparat, Quellennachweis, Betonung neuer Erkenntnisse) wird lange Zeit in den Biographien explizit als ‘freie Darstel———————— 37 38
Biographie. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819, S. 50. Karl Jentsch, Friedrich List. Berlin: Ernst Hofmann 1901 (Geisteshelden 41), S. VIIf.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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lung’ legitimiert, der jedoch eigene oder fremde Quellenarbeit zugrunde liege, und von Rezensenten ebenso regelmäßig wegen mangelnder Nachprüfbarkeit beklagt. Dies geht so weit, daß schließlich umgekehrt die Bezeichnung eines Textes als biographisch hinreicht, um den Eindruck einer Quellenarbeit des Biographen zu vermitteln – unabhängig davon, ob es sich um die Bezeichnung ‘Biographie’, ‘Leben und Werk’ oder etwa ‘Romanbiographie’, ‘biographische Novelle’ handelt. Dabei zielt die Biographie nicht zuletzt auf den Nachweis der Faktizität bzw. die Erfüllung des biographischen Wahrheitspostulats und auf eine Lenkung der Leser zu einer faktualen Lektüre der biographischen Texte. Um die erwünschte historische Wahrheit seiner Darstellung erreichen zu können, wurde immer nachdrücklicher gefordert, daß der Biograph sein Werk auf die Basis einer umfassenden Quellenkenntnis stellen müsse. Er sollte also – wie es im Ästhetischen Lexikon (1839) heißt – »alle nöthigen Materialien besitzen, die ihm den innern Menschen aufschließen« – wie besonders »Briefe, Tagebücher, hinterlassene Schriften«.39 Dieses Bemühen um materialgesicherte historische ‘Wahrheit’ erreichte im 19. Jahrhundert eine neue Qualität. Zwar hatten bereits im vorangegangenen Jahrhundert Autoren wie Goethe oder William Mason (1724–1797) auf Privatkorrespondenzen zurückgegriffen, um tiefere Einblicke in das Leben der biographierten Persönlichkeiten – hier: J. J. Winckelmann und Thomas Gray – zu geben: »For the first time it was now admitted that letters to intimate friends, not written with a view to publication, might be used with advantage to illustrate the real character of the writer« (Edmund Gosse).40 Die Quellen- und Archivarbeit der Biographen, deren unverzichtbares Material private Korrespondenzen, Tagebücher, Reisejournale wurden, galt so im 19. Jahrhundert als zentrales biographisches Erkenntnisinstrument; sie war das Fundament eines verbreiteten literarischen »Detailrealismus«.41 Trotz der mitunter naiven Faktenreihung hat dieses oftmals gründliche Quellenstudium einen ebenso unerschöpflichen wie unersetzlichen Fundus geschaffen, von dem noch heute historische Arbeit profitieren kann. Nicht die zusammenfassende Charakteristik im großen Überblick, sondern die nach der Vorgabe des gesichteten Materials exakte Detaildarstellung wurde gefordert. Es entwickelte sich so eine Art der gelehrten Lebensgeschichtsschreibung, in der nicht selten auf Kosten der erzählerischen Qualitäten nicht nur historische ‘Wahrheit’, sondern auch Vollständigkeit angestrebt wurde. Der Versuch einer historischen Rekon———————— 39
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Anonymus, Biographie. In: Ästhetisches Lexikon. Hg. von Ignaz Ieitteles. Wien: J. G. Ritter v. Mösle’s Wittwe und Braumüller 1839, Bd. 1, S. 104. – Ähnlich a.: Anonymus, Biographie. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon 3 (141892), S. 15–18. Edmund Gosse, Biography. In: Encyclopedia Britannica […] 3 (111910), Sp. 952b–954b, hier Sp. 954a. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 42, Bd. 2, S. 294f.
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1. Grundlagen der Biographik
struktion wurde dabei zum Selbstzweck der Biographien, die nicht der Orientierung an den Interessen einer jeweiligen Gegenwart unterliegen und besonders der politischen Aktualisierung ausweichen sollten.42 Die ausufernde Quellenarbeit führte zu der häufig kritisierten Monumentalität der biographischen Werke, die dadurch den ‘künstlerischen’ Ansprüchen an die Stringenz und Geschlossenheit der Darstellung in den Augen derjenigen Biographen und Biographiekritiker nicht mehr zu erfüllen vermochten, die sich eher in der Plutarch-Tradition sahen.43 Besonders durch die zunehmende Öffnung der staatlichen Archive im Lauf des 19. Jahrhunderts habe sich – so der Historiker Friedrich Engel-Janosi – der Biograph immer stärker vor die Entscheidung gestellt gesehen, »ob er Forschung betreiben oder Darstellung geben wollte«.44 Das Ziel, so umfassend wie möglich über einen Lebenslauf zu berichten, wurde zudem konterkariert von der geringen Verbreitung und Rezeption dieser vielbändigen Faktenreihungen. Engel-Janosi bemerkt darum, es sei nicht selten ein Glücksfall für Biographen und ihre Werke gewesen, wenn Archive verschlossen oder Dokumente unbekannt geblieben seien.45 Aus etwas anderer Perspektive bleibt festzustellen, daß neben der reinen Faktensammlung mit zunehmender Tendenz andere Qualitäten der Biographie und andere Fähigkeiten des Biographen von Biographietheoretikern, Kritikern und Lesern eingefordert wurden: Diese bestanden in der Aufbereitung des Faktenmaterials, aus dem das ‘eigentliche’ und ‘wesentliche’ Substrat des Lebenslaufes gewonnen werden sollte. Gerade in diesem Zusammenhang erscheint es gegen die Begriffsgeschichte ‘Biograph/Biographie’ auch notwendig, deutlich die biographische Darstellung von der bloß an der Chronologie des Lebenslaufes orientierten und allenfalls biographisch kommentierten Collage aus Briefzeugnissen abzugrenzen. Werke wie Theodor Wilhelm Danzels Gottsched und seine Zeit ———————— 42
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Lessings Biograph Theodor W. Danzel etwa stellte sich mit dieser Sicht der politisch motivierten Literaturgeschichtsschreibung eines Gervinus entgegen. Vgl. a.: Jost Hermand, Geschichte der Germanistik. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994 (re 534), S. 50f. Diese Kritik formuliert etwa: Rudolf Gottschall, Vorwort des Herausgebers. In: Der neue Plutarch. Biographien hervorragender Charaktere der Geschichte, Literatur und Kunst. Hg. von Rudolf Gottschall. Erster Theil. Leipzig: Brockhaus 1874, S. V–VIII, hier S. Vf. – Die neue, umfangreiche biographische Serie »Der neue Plutarch« sollte dagegen nach dem Willen des Herausgebers besonders auch einen Beitrag zur Hebung der Nationalliteratur leisten: »Das Streben, die oft wildwuchernde Biographie durch künstlerische Pflege zu adeln, sie in classische Bahnen zu lenken, dürfte unserer ganzen Nationalliteratur zugute kommen […]« (ebd., S. VIII). Friedrich Engel-Janosi, Von der Biographie im 19. und 20. Jahrhundert. In: Grete Klingenstein, Heinrich Lutz u. Gerald Stourzh (Hgg.), Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis biographischer Arbeit. München: Oldenbourg 1979 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 6), S. 208–241, hier S. 208. Ebd., S. 205.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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(Leipzig 1848, 21855),46 David Friedrich Strauß’ Christian Daniel Schubart’s Leben in seinen Briefen (Berlin 1849, 21878)47 oder Oskar Planers und Camillo Reißmanns Johann Gottfried Seume (Leipzig 1898),48 um nur drei repräsentative Texte zu nennen, stellen definitiv keine Biographien dar, sondern philologische Sichtungen der Briefwechsel als ‘Geschichtsquellen’, welche in der Ordnung des Lebenslaufs mit mehr oder weniger ausgreifenden Kommentaren zur bruchstückhaften Darstellung verwoben werden. Dabei tritt – wie Oskar Planer und Camillo Reißmann einleitend betonen – die Brief-Collage an die Stelle der unvollständigen autobiographischen Aufzeichnungen aus Seumes eigener Hand. Entsprechend wären diese Texte als kommentierte Briefanthologie oder im Hinblick auf die bekundete Herausgeberintention als editorisch erstellte Autobiographien zu bezeichnen. Die Forderung, daß sich die Biographik – besonders als biographische Forschung im Rahmen historiographischer Disziplinen – vor allem um das Erschließen neuer, bislang unbeachteter oder neu entdeckter Quellen zu kümmern hätte, bleibt trotz der Tendenz zur ‘Darstellung’ für weite Bereiche der biographischen Literatur bis in die Gegenwart bestehen und wird durch die akademische wie literarische Kritik bestätigt. Die Frage etwa, was eigentlich den Fortschritt in der Geschichte der Biographien historischer Persönlichkeiten ausmache, ist 1988 von William MacKinley Runyan mit dem Hinweis auf unterschiedliche Faktoren beantwortet worden, »such as the collection of additional evidence, the formulation of fresh interpretations, critical examination of prior explanation, and the application of new theoretical advances«.49 Diese Elemente gehören gewiß zur Topik der Legitimation biographischer Arbeiten, und die aus dieser Topik gezogenen Argumente finden sich in Einleitungen, Nachworten, unterschiedlichen Paratexten – häufig aber auch in der Darstellung selbst. Dabei stellen neu gewonnene Faktenkenntnisse das wichtigste Fortschrittsargument (und somit die Legitimation) gegenüber den vorangegangenen Biographen dar. Selbst Romanbiographien treten nicht selten ———————— 46 47
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Theodor Wilhelm Danzel, Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Zweite wohlfeile Ausgabe. Leipzig: Dyk 1855 (zuerst 1848). David Friedrich Strauß, Christian Friedrich Daniel Schubart’s Leben in seinen Briefen. Mit einem Vorworte von Eduard Zeller. Zwei Theile in einem Band. Bonn: E. Strauß 2 1878 (zuerst 1849). – Im Vorwort von Zeller zeigt sich, daß der Begriff ‘Biograph’ hier eine philologisch-archivalische Bedeutung hat, derzufolge jeder als Biograph erscheint, der Zeugnisse eines Lebens sammelt. So bezeichnet Zeller Strauß als Schubarts Biographen (S. VI, VII), während Strauß selbst von einer »Sammlung« der Briefe mit »Zuthaten des Herausgebers« spricht (S. XIII), wodurch Arbeit und Text treffender bezeichnet werden. Oskar Planer u. Camillo Reißmann, Johann Gottfried Seume. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Leipzig: Göschen 1898. William MacKinley Runyan, Progress in Psychobiography. In: Journal of Personality 56 (1988), S. 295–324, hier S. 320.
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1. Grundlagen der Biographik
mit dem Anspruch an, auf neuer Quellengrundlage und -bewertung sowie eingehendem Quellenstudium zu fußen.50 Allerdings finden sich im frühen 19. Jahrhundert und verstärkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend biographische Schreibformen wie der biographische Essay oder die popularisierende Biographik, die sich auf Einzelaspekte (z. B. Gegenwartsbezug) oder die Zusammenfassung der biographischen Forschung von Vorgängern beschränkt. Auch hier gibt es freilich die Tendenz, die Seriosität der eigenen Arbeit durch den Hinweis auf Quellen, Quellenbewertung und Korrekturen zu bekräftigen. Selbst die modernen Biographen wie Stefan Zweig, die ausdrücklich das historische Faktum durch das psychologische Gespür des Biographen ersetzen, welches sich über die scheinbare Faktizität auch hinwegsetzen kann, dokumentieren teils sorgfältig ihre Quellenrecherchen, beziehen Forschungsdiskussionen in die Darstellung ein oder legitimieren den Verzicht auf die akademische Darstellungsform mit dem Hinweis auf die vor der schriftlichen Ausarbeitung durchgeführte Recherchearbeit. Die Arbeit an den Quellen ist sowohl diskursiven Praktiken geschuldet als auch rhetorischen Strategien. Auf der einen Seite legitimieren sich Biographien als Bestandteil unterschiedlicher Diskurse (Historik, Psychoanalyse, Charakterologie etc.) durch den Nachweis, den diskurstypischen Aussagepraktiken zu folgen und dazu gehört in der Regel die diskursgerechte Auswahl und kritische Lektüre von Quellenmaterial. Auf der anderen Seite stützen Biographen ihre rhetorische Funktionalisierung der Biographierten durch den Nachweis der Glaubwürdigkeit ihrer biographischen Darstellung. Der Hinweis auf die Quellenarbeit hat dann eine argumentative Funktion für den Nachweis der eigenen Autorität des Biographen. 5.) Historischer Kontext der Biographik. – Die Abhängigkeit der Biographie von unterschiedlichen historischen Entwicklungen ihrer Bezugssysteme (Historik, Psychologie, Anthropologie, Literatursystem etc.), die als durchgängiges Thema der vorliegenden Studie hier nur gestreift werden muß, ist nicht zuletzt wichtiger Bestandteil der Definition von Biographik, da dadurch ein besonderer Abstand von Biographie und Lebenslauf bezeichnet wird. Die jeweiligen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen prägen das Bild eines anderen ebenso wie die Orientierung an mythologischen, psychologischen oder literarischen Mustern – etwa dem Bil———————— 50
Dadurch soll nicht zuletzt der Nachweis erbracht werden, daß der Lebenslauf so authentisch wie möglich erzählt wird. Vgl.: Christian v. Zimmermann, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Beiträge des Bad Homburger Kolloquiums, 21.–23. Juni 1999. Tübingen: Narr 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 48), S. 1–13, hier S. 5f.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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dungsroman. Die biographische Darstellung wird so nicht allein durch das hermeneutische Problem der historischen Differenz zwischen dargestellter Zeit und Zeitpunkt der Darstellung vor gravierende Probleme gestellt, sondern auch durch die Selektion und Anordnung des historischen Stoffes im Rahmen sich wandelnder Erzählstrukturmuster. So hat in der aktuellen Diskussion um die Biographik die Kritik der linearen Erzählung einen breiten Raum eingenommen. In dem Moment, da die Einheit des Individuums im Sinn eines kontinuierlichen Lebenslaufes samt der Möglichkeit einer Rekonstruktion fragwürdig und von dem Modell stets gegenwartsbezogener Neuinterpretationen und Konstruktionen des eigenen oder fremden Lebenslaufes abgelöst wurde, mußte auch die Forderung nach innovativen Darstellungsformen gestellt werden. Doch sind dies – wie ein Blick in jede biographische Buchhandelsabteilung zeigt – keineswegs Neuerungen, welche die Breite der biographischen Literatur erfassen und wegen der gleichzeitigen Persistenz spezifischer Leseinteressen und -bedürfnisse auch kaum gänzlich erfassen werden. Dem historischen Wandel unterliegen aber nicht nur Lebenslaufkonzepte und biographische Darstellungsformen, sondern auch die diskursiven Aussagebedingungen. Ira Bruce Nadel51 etwa hat auf den Wandel in der Auffassung von der Art und Verwendung biographischer Fakten hingewiesen; ebenso unterliegen das Verhältnis von Mythologie und ‘Realität’, von Privatheit und Öffentlichkeit des Mitteilbaren oder die Autorität des Biographen den historischen Wandlungsprozessen. 6.) Biographie und Biograph. – Für die Biographie ist die oratorische Funktion des Biographen nicht selten von essentieller Bedeutung, denn die biographische Darstellung gewinnt ihre Überzeugungskraft aus der Inszenierung eines reflektierten Verstehensaktes des Biographen gegenüber dem Biographierten und aus seiner ausgewiesenen Eignung und ‘Autorität’: sei es in der Form des Nachweises seiner Seriosität und seines gründlichen Quellenstudiums, sei es durch seine Menschenkenntnis, seine psychologische oder charakterologische Bildung, sei es – in der Freundesbiographik – durch die persönliche Bekanntschaft mit dem Biographierten, durch angenommene Lebenslaufparallelen (Zeitgenossenschaft oder typische Handlungs- und Situationsmuster), Charakterähnlichkeiten oder durch die dokumentierte Erfahrung mit der biographischen Arbeit.52 Je———————— 51 52
Ira Bruce Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form. London u. Basingstoke: Macmillian 2 1985. Bei den Überlegungen zur Gattung bleibt hier die Problematisierung der ‘Psychologie des Biographen’, seiner subjektiven Wahl des Biographierten nach Bedürfnissen der Identifikation oder der Fixierung auf den Biographierten als ‘Vaterersatz’ mit den Folgen der subjektiv motivierten Idealisierung, Korrektur oder Entthronisierung ausgespart. Gleichwohl können auch solche Aspekte für den Text selbst Relevanz erhalten, wenn dieser Prozeß in
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1. Grundlagen der Biographik
weils wird für den Biographen eine Autorfunktion in Anspruch genommen, die wesentlich im besseren Wissen um den Gegenstand und die Methoden des Verstehens besteht. Rhetorisch gesehen handelt es sich um eine Absicherung der biographischen Argumentation durch den Selbstbezug des Biographen, der sein eigenes Gewicht als hermeneutische Instanz, als sittliche Wertungsinstanz oder allgemein als Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart argumentativ einsetzt. Die Autorfunktion unterliegt in ihren Merkmalen einem beständigen Wandel, wenn sie als zuverlässiges Instrument scheinbar ‘objektiver’ Darstellung fungieren oder als unzuverlässige, subjektive Instanz sogar das eigene Ungenügen vorführen kann. Dabei läßt sich feststellen, daß die argumentative Bezugnahme auf den Biographen in den Biographien oder ihren Paratexten vor allem dadurch gelingt, daß der Biograph sich als Instanz der Lebenslaufkonstruktion legitimiert, indem er die Befolgung gültiger Regeln nach heuristischen, narrativen oder diskursiven Mustern zum Ausdruck bringt. Mit anderen Worten: Selbst dort wo der Biograph auf sich selbst zum Nachweis der Authentizität und Faktizität seiner Darstellung verweist, gibt er im Gegenteil gerade Einblick in die Konstruiertheit seiner Biographie. Neben dieser Funktion des Biographen als rhetorischem Autoritätsargument für die Legitimation und Absicherung der biographischen Aussagen ist der Biograph die rhetorisch-strategische Instanz der Biographisierung.53 Als Instanz der Biographisierung muß er die Funktion erfüllen, seinen Gegenstand, den fremden Lebenslauf, in der Weise biographisch zu gestalten, daß er den diskursiven Bedingungen, welche den Erwartungs- und Erfahrungshorizont der Rezipienten regeln, angepaßt ist.54 Der Erfolg seiner Arbeit beruht in jedem Fall darauf, den vergangenen und daher unzugänglichen Lebenslauf für eine Gegenwart und ihre Interessen zu aktualisieren:55 gleich ob es sich um die Orientierung an kulturellen ————————
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der Biographie reflektiert wird. Von besonderer Bedeutung wird die Problematisierung des Biographen in metabiographischen Texten seit den 70er Jahren des 20. Jh.s, die aber außerhalb des untersuchten Zeitraums bleiben. Eine Reformulierung des Autorbegriffs im Zeichen der Rhetorik hat Joachim Knape versucht: Joachim Knape, Was ist Rhetorik? Stuttgart: Reclam 2000, S. 109ff. Ich beziehe mich hier auf eine wichtige – Kenneth Burke zugeschriebene – Erkenntnis der rhetorischen Theoriebildung im 20. Jh., daß die erste Funktion der Rede nicht darin besteht zu überzeugen, sondern eine Identität herzustellen, in deren Rahmen Persuasion erst wirksam werden kann. Vgl.: Pat Youngdahl u. Tilly Warnock, Identification. In: Encyclopedia of Rhetoric and Composition. Communication from Ancient Time to the Information Age. Hg. von Theresa Enos. New York u. London: Garland Publ. 1996, S. 337–339; Kenneth Burke, A Rhetoric of Motives. Berkeley u. Los Angeles 31969 (11950, 21962), s. Reg. Diese Erkenntnis darf sich auf die antiken Rhetoriker berufen. Øivind Andersen faßt zusammen: »Der Redner muß sich so ausdrücken, daß seine Rede mit dem Denken und Empfinden der Menschen übereinstimmt (Cic. de orat. I 54). ‘Alle Menschen hören gern zu, wenn die Worte ihren eigenen Gedanken entsprechen und die Leute ihnen ähnlich
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und politischen Bedürfnissen oder an akademisch-diskursiven Vorgaben handelt. In dieser doppelten Handlung – dem Akt des Verstehens und dem Akt des Vermittelns – wird der Gegenstand der Biographie zugleich geschaffen und negiert. Anders formuliert: In einer Biographie begegnet sich die Sehnsucht nach dem Selbstsein und der Handlungsmächtigkeit des Individuums mit der Beherrschung der Individualität durch die Diskurse. Die Arbeit des Biographen an der fremden Individualität seines biographischen Objekts besteht zwangsläufig auch in der schrittweisen Vernichtung dieser Individualität, da diese nur im Rahmen dessen konstruiert werden kann, was die Diskurse der Historik, der Psychologie, der Biologie oder Soziologie an Konstruktionspraktiken bereitstellen.56 In der Diskursivierung oder – aus anderer Perspektive – in der Aktualisierung vollzieht sich die Unterwerfung des Individuellen unter die Totalität der Diskurse und Tagesinteressen, um es als exemplarischen Fall (und sei es als Exempel der Unmöglichkeit, einen individuellen Lebenslauf zu schildern) vorzuführen. Diese Perspektive hat die doppelte Konsequenz, einerseits den realen Autor als das den Text beherrschende Subjekt der Biographie abzuwerten, ihn aber andererseits hinsichtlich seiner rhetorischen Präsenz gerade auch hinsichtlich seiner eigenen Positionierung in Diskursen und Tagesinteressen als unverzichtbare Bedingung sine qua non der Biographien zu betonen. Es liegt nahe, in den avanciertesten neueren biographischen Versuchen, welche von der Fragwürdigkeit der biographischen Rekonstruktion getragen sind und traditionelle Formen auflösen, gerade die Stärkung, ja, den Sieg des rhetorisch-strategisch sich inszenierenden Biographen gegenüber dem in Auflösung begriffenen Biographierten zu erkennen: eine seltsame Inszenierung der Sehnsucht nach Textmächtigkeit biographierender Individuen. 7.) Biographik und Leserschaft. – Bereits früh wurde diskutiert, aus welchem Grund Leser ein Interesse an Biographien haben. Thomas Carlyle sah – im Anschluß an den bekannten Ausspruch von Alexander Pope – darin ein Kennzeichen der Humanität, da einerseits der Mensch sich von anderen Existenzformen durch sein historisches Bewußtsein auszeichne ———————— 56
sind’ (Arist. rhet. II, 13. 16).« Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Darmstadt: WBG 2001 (norweg. 1995), S. 33. Der Differentialpsychologe William Stern hat bereits 1912 in einer Generalkritik der Biographik auf die konstruktiven Verfahrensweisen hingewiesen, durch welche der Biograph die ‘Wesentlichkeit’ des Materials im Rahmen seines Erkenntnisinteresses prüft und aus dem Wesentlichen die biographische Synthese schafft – um den Preis der ‘Mannigfaltigkeit’ des Individuums. Vgl. William Stern, Die differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen. Leipzig: J. A. Barth 1912 (Nachdruck Bern etc. 1994), S. 321–326.
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1. Grundlagen der Biographik
und andererseits kein Gegenstand der menschlichen Betrachtung würdiger sei als eben der Mensch.57 Neben dieser in der Literatur des Untersuchungszeitraums häufig wiederholten anthropologischen Erklärung kann auf das Bildungsinteresse oder die Suche nach moralischer Vorbildlichkeit, sicher auch das Identitätsinteresse kultureller Gemeinschaften hingewiesen werden. Selbst die schlichte Lust des ‘Voyeurs’, das »Menschenrecht auf Klatsch« (Harpprecht) ist als Leseantrieb genannt worden.58 Der Blick auf die Rezipienten von Biographien wird in der vorliegenden Arbeit nur am Rande vorgenommen. Dagegen sind Fragen des Adressatenkreises für eine nähere Differenzierung der biographischen Literatur durchaus gewinnbringend, denn ob ein Biograph für ein historisch gelehrtes Fachpublikum oder für den geschichtlich interessierten Laien schreibt, ob er sich um die populäre Aufarbeitung eines Lebens von allgemeinerem Interesse bemüht oder in erster Linie durch die erzählerische Brillanz seiner Darstellung gelten möchte, ist in jeder Produktionsstufe des biographischen Schreibens von Bedeutung. Der vorausschauende Blick des Biographen oder Verlagslektors auf die sich wandelnden Interessen der Rezipienten können bereits mit ausschlaggebend für die Wahl der darzustellenden Persönlichkeit sein. Nach den Anforderungen an die Stoffvermittlung muß sich schließlich auch die Anlage und die sprachliche Gestaltung des Werkes richten. Die angesichts einer beständigen Popularität der Gattung unschwer erkennbare ‘Faszination des Biographischen’ sichert gerade der popular aufbereiteten Lebensbeschreibung das Interesse der Leser, welches über das Vehikel der Biographie zur Vermittlung anderer Inhalte von ethischen Grundsätzen bis zur reinen didaktischen Aufbereitung historischen Faktenwissens dienstbar gemacht werden kann. Einen besonderen Aspekt, der in diesem Kontext erwähnt werden sollte, stellt die Frage nach dem Nutzen der Biographien für ihre Leser dar. Sie ist sehr unterschiedlich beantwortet worden. Der Verfasser des Artikels »Biographie« in der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie (1819) erhoffte im günstigsten Fall einen moralischen Nutzen des historischen Exempels für die Gegenwart, denn »[w]as ist geschickter, uns zu belehren, und gegen die Lockungen des Lasters zu bewahren, und in der Noth und ———————— 57 58
Carlyle, Biography, S. 44. Klaus Harpprecht, Champagner literweise. Langeweile ist schlimmer als der Tod: Es lebe die Biographie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1998), Nr. 11 vom 14. Januar, S. 33. – Am Beispiel der biographischen Verhandlungen über das zweifelhafte Geschlecht Christinas von Schweden hat Joachim Grage das voyeuristische Interesse des Betrachters als die Haltung festgemacht, auf welche so unterschiedlich motivierte biographisch inszenierte »Entblößungen« rekurrieren wie das Lüften des Schleiers über der Wahrheit oder aber die »aggressive« »Zurschaustellung«. Joachim Grage, Entblößungen: Das zweifelhafte Geschlecht Christinas von Schweden in der Biographik. In: v. Zimmermann u. v. Zimmermann (Hgg.), Frauenbiographik, S. 35–64.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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[in] Gefahren zu erheben und zu ermutigen, als die Beispiele, welche die Geschichte aufstellt«?59 Gleichwohl betonen die Artikelverfasser in den verschiedenen Lexika, daß die Biographie ihren Wert darin habe, daß der Leser aus ihr historische Informationen beziehen könne. Im Wiener Ästhetischen Lexikon (1839) betont der Autor die Dienstfunktion der Darstellungen fremden Lebens und fremder Lebenszusammenhänge »als Hilfsmittel der Geschichte, als psychologische Beiträge zur Kenntnis des menschlichen Herzens und des Ganges der Geistesentwicklung, wie als nützliche Beispiele für die Folgezeit«.60 Gerade diese Hinweise zeigen die zentrale Funktion der Biographik, die sich letztlich einer doppelten – an Kenneth Burke orientierten – Fragestellung subsumieren läßt. Literarische Gattungen und Modelle werden von Burke bei einem weiten Literaturbegriff als Ausdruck des mentalen Rüstzeugs (»meanings, attitudes, character«) zur Lebensbewältigung des einzelnen und ganzer Gemeinschaften verstanden, »by which one handles the significant factors of his time«.61 Seine grundlegende Frage nach der rhetorischen Ebene der Texte beinhaltet die Aspekte: Was leisten der Text und seine rhetorische Strategie für den Autor? Was leisten Gattungen, Modelle etc. für das rhetorische ‘setting’ aus Sprecher, Hörer, Sprechsituation? Burke gibt ein Beispiel, welches direkt ein zentrales Thema der vorliegenden Arbeit betrifft: die Heroisierung und Idealisierung. Die ‘magnification’ des Individuums, seine Heroisierung wird unter dem Nutzaspekt betrachtet: »Such magnification serves two purposes: It lends dignity to the necessities of existence, ‘advertising’ courage and individual sacrifice for groups advantage – and it enables the humble man to share the worth of the hero by the process of ‘identification’.«62 Der Akt der Identifikation wird dabei von Burke nicht im traditionellen Sinne verstanden, sondern setzt gerade die Differenz zwischen dem Helden und dem Rezipienten voraus. Im Vergleich zum Helden werde über die partielle Identifikation63 die Einsicht in die eigenen Grenzen gefördert. Dadurch werde die Grundlage zu einer ‘realistischeren’ Einschätzung der eigenen Fähigkeiten als auch für die ‘self-justification’ des eigenen nicht heroischen Lebens ge———————— 59 60 61 62 63
Anonymus, Biographie. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819. Anonymus, Biographie. In: Ästhetisches Lexikon, S. 104. Burke, Attitudes, S. 34. Ebd., S. 35f. Burkes Argumentation basiert auf einem Begriff des Helden, der dem antiken Heros und seiner halb göttlichen, halb menschlichen Stellung entlehnt ist. Die partielle Identifikation verläuft über die menschliche Seite des Heros. Der distante Held habe – so Burke – auf seiner menschlichen Seite stets einen Makel (»presence of a flow«, Burke, Attitudes, S. 36) wie Siegfrieds verwundbares Mal, der ihn von den Göttern scheide. Die Einsicht in diesen Makel der Helden ermögliche auch die Annahme der eigenen Grenzen (ebd., S. 37).
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1. Grundlagen der Biographik
schaffen.64 Dies setze aber voraus, daß die Erinnerung an die Distanz des halb göttlichen Heros zum eigenen Leben bestehe; der säkularisierte Held dagegen lade zu einer ‘vollständigen’ Identifikation ein: »it approaches the risks of coxcombry«.65 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Burkes Kritik an der »‘debunking’ school of biography«,66 da sich die Demontage des Helden in seiner Auffassung vom Nutzen der ‘magnification’ letztlich gegen den Leser wenden muß: Wenn schon die bedeutende historische Persönlichkeit unter der Feder des Biographen sich als von niederen Trieben etc. geleitet erweist, was bedeutet das dann für diejenigen Menschen, die nicht einmal den Anspruch auf Heldentum erheben können? Unabhängig davon, ob man den rezeptionspsychologischen Spekulationen Burkes folgen möchte oder nicht, stellt sich bei der Biographik stets auch die Frage nach ihrem Nutzen für die Selbstvergewisserung einzelner oder ganzer Gemeinschaften im Hinblick auf die Bildung oder Bestätigung einer Identität und auf ihre Abgrenzung. Helmut Scheuer ordnet die Biographie darum der »Zweckliteratur« zu:67 […] sie will etwas erreichen und steht im Dienste bestimmter Normsysteme. Deshalb ist es für die Gattungsgeschichte so wichtig zu wissen, auf welche Bedürfnisse die Biographie reagiert, welche Probleme sie aufgreift oder verdeckt. Es ist wichtig zu wissen, in welcher literarischen Tradition sie steht; aber ebenso wichtig ist, welche sozialen, ideologischen oder didaktischen Wirkungen angestrebt bzw. erreicht werden.
Ähnlich hat Maria Osietzki jüngst pointiert die biographischen Identifikationsangebote als einen Beitrag zur Biopolitik bezeichnet und die bereits bei Burke gestellte Aufforderung daran geknüpft, im Einzelfall zu untersuchen, »ob der jeweils gewählte Focus auf das Subjekt tatsächlich gesellschaftlich opportun ist«.68 Wenngleich für diesen weitergehenden Schritt wohl zunächst eine genauere Kenntnis der Identifikationsangebote in ihren historischen, sozialen und wissensgeschichtlichen Kontexten not———————— 64
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66 67
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So noch: Christian Meier, Die Faszination des Biographischen. In: Frank Nies (Hg.), Interesse an der Geschichte. Frankfurt/M. u. New York: Campus 1989 (Reihe Campus 1024), S. 100–111, bes. S. 105f. Burke, Attitudes, S. 36 (Fn.). – Burkes Auffassung ähnelt der Ständevorstellung in klassizistischen Tragödientheorien (etwa bei Gottsched), dergemäß gerade die Distanz zum Bühnengeschehen eine realistische Einschätzung der eigenen Lebensschicksale der Zuschauer ermögliche: Wenn der bedeutende Held auf der Bühne mit seinem übermenschlichen Schicksal konfrontiert wird, wie unbedeutend sind dann meine kleinen Lebenssorgen … Ebd., S. 36. Helmut Scheuer, Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hgg.), Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S. 9–29, zit. S. 11. Maria Osietzki, Konstruktionen und Grenzen des biographischen Wissens. Julius Robert Mayer als Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. In: v. Zimmermann (Hg.), (Auto)Biographik, S. 47–62, zit. S. 49.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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wendig sein wird, ist grundsätzlich festzuhalten, daß eine Analyse der Biographien deswegen nicht stehen bleiben darf bei der Kritik ihrer narrativen Kohärenzbildung, sondern diese in Verhältnis setzen muß zu den Darstellungsstrategien, ihren Kontexten und ihren expliziten oder impliziten Funkionalisierungen. Die Biographien lassen sich nicht allein auf der Ebene ihrer Konstruktion, ihrer narrativen Verfahren, ihrer Seriosität und ‘Richtigkeit’ oder anhand ihrer Gegenüberstellung mit Quellenzeugnissen oder anderen Biographien kritisieren. Die Bedeutung der Biographien, ihre – in Burkes Terminologie – ‘realistische Funktion’, besteht vielmehr auch darin, daß sie auf eine historische Situation (Entstehungskontext und Rezeptionskontext) ‘passen’ und eine Haltung zur Gegenwart ermöglichen.69 Der korrigierende Gestus des ‘debunking’ vernachlässigt die zentrale Frage nach dem Nutzen. Die Frage wäre also: Was gewinnt man daraus, daß Helden keine Helden sind? Oder – wiederum ein Beispiel von Burke: Was gewinnt man daraus, daß man einen Begriff wie ‘Solidarität’ als euphemistisch entlarvt und auf die Möglichkeit hinweist, daß Solidarität ein Deckmantel für Eigeninteressen sein könnte? Erst die symbolischen Ordnungen, in welche Begriffe wie ‘Held’ oder ‘Solidarität’ integriert werden, eröffnen nach Burke dem Menschen die Möglichkeit »to gauge the full range of human possibilities«.70 Da der Mensch seine Haltung zur Welt und seine Lebensbewältigung nach den symbolischen Ordnungen einnehme, die er von der Welt entwirft (und die in irgendeiner Weise adäquat sind im Umgang mit einer hinter den Texten vorhandenen Lebenswirklichkeit), werden die Prozesse der Ordnungsstiftung zu den Fundamenten der Gesellschaft. Wenn für Burke also die soziale Gemeinschaft sich in den symbolischen Ordnungen erst konstituiert, bilden literarische Identifikationsmodelle die Basis für eine »social integration«,71 und ihre Kritik im Sinn eines ‘debunking’ würde nach Burke letztlich die Grundlagen der Gemeinschaft und somit diese selbst treffen.72 Im Hinblick auf ———————— 69
70 71 72
Burkes Begriff des Realismus beruht nicht auf einer Referenztheorie oder auf spezifischen Formen der Konstruktion literarischer Welten, sondern im rhetorischen Sinn auf der Funktionalität der Texte. Als Realismus wird der Wirklichkeitsbezug der Texte im Sinn ihrer Situationsadäquatheit gefaßt: Realistische Texte sind passend, adäquat auf Situationen bezogen, indem sie Handlungen bzw. eine Bewältigung der Situation ermöglichen (z. B. Trost, Rechtfertigung). Vgl.: Kenneth Burke, Literature as Equipment for Living. In: Ders., The Philosophy of Literary Form. Studies in Symbolic Action. Third Edition. Berkeley, Los Angeles u. London 1973 (11941, 21967), S. 293–304. Burke, Attitudes, S. 74. Ebd., S. 171 (Fn.). An die Stelle einer bloßen Kritik möchte Burke eine Haltung setzen, die er als ‘comic ambivalence’ beschreibt: Ähnlich einer Komödie, in welcher die Figuren in ihren je eigenen Vorstellungen befangen sind, der Zuschauer jedoch die Kenntnis der nicht kompatiblen Perspektiven durchschaut, bezeichnet Burke damit eine Haltung, die zugleich den
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1. Grundlagen der Biographik
die Biographik und die Strategie der ‘magnification’ bedeutet dies für den Neurhetoriker Burke: Man muß die Funktionsweise der Heroisierung und Idealisierung kennen, um sich gegen ihren Mißbrauch zu schützen, aber: »Where they work well, we can salute them, even coach them.«73 Es kann auch hier offen bleiben, ob Burkes Modell und seinen ethischen Implikationen in allen Punkten gefolgt werden kann; sein Hinweis auf die konstitutive Bedeutung der Texte für die Identitätsbildung sozialer Gemeinschaften ist gerade im Blick auf die Biographik kaum von der Hand zu weisen:74 Der Kanon der biographierten Persönlichkeiten, das Lebenslaufmodell, das der Biographie eingeschrieben wird, die Haltungen, Meinungen, moralischen und sittlichen Maßstäbe, die als topisches Raster die Aspekte der Person in der Biographie bestimmen, können nur dann adäquat beschrieben werden, wenn ihre Funktion für die Identitätsstiftung oder -verfestigung einer Gruppe berücksichtigt wird. Ihre soziale Funktion erfüllt die Biographie dabei auf dem Weg der ethischen Unterweisung der Leser. Biographien stellen in diesem Sinn in der kollektiven Verständigung über die Werte der sozialen Gemeinschaft ethische Interpretamente einer auf das Individuum bezogenen Geschichte bereit. Dies gilt in besonderer Weise für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie, aber auch generell für die Gattung der Biographie. Selbst den Gegenentwürfen eines Lytton Strachey oder Emil Ludwig zu einer als moralisierend kritisierten Biographik des 19. Jahrhunderts liegen letztlich ethische Konzeptionen zugrunde. Die – historischen Wandlungen unterworfenen – ethischen Kategorien scheinen, offen formuliert oder stillschweigend zugrunde gelegt, einen zentralen Bestandteil jener Möglichkeiten zu bilden, fremde Charaktere und Lebensläufe zu erfassen, und ihre Einschreibung in Biographien könnte wiederum – wie Robert Partin (1956) nahelegt – einem generellen sozialen Bedürfnis entsprechen:75 Biography will undoubtly, from time to time, change its form, shift its emphasis, undertake the teaching of new creeds and new »isms,« and in other ways change ————————
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Nutzen und die Konstruktivität von Konzepten beleuchtet: Solidarität als humane Utopie und als euphemistischer Ausdruck für Eigeninteressen. Das ‘debunking’ bestehe dagegen in der polemischen, die integrative Kraft der Konzepte aufhebenden Kritik (Attitude, S. 93f.). – Vgl. a.: Kenneth Burke, Vom Nutzen und Nachteil des Entlarvens [1938]. In: Ders., Die Rhetorik in Hitlers »Mein Kampf« und andere Essays zur Strategie der Überredung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967 (es 231), S. 93–115. Burke, Attitudes, S.171, Fn. Vgl. zur Bedeutung der Biographik für das kulturelle Gedächtnis nationaler Gemeinschaften und ihre Wirkung auf die personalen Erinnerungsbestände: Marita Stuken, Personal Stories and National Meanings. Memory Reenactment and the Image. In: Mary Rhiel u. David Suchoff (Hgg.), The Seductions of Biography. New York: Routledge 1996 (Culture Work), S. 31–41. Robert Partin, Biography as an Instrument of Moral Instruction. In: American Quarterly 8 (1956), S. 303–315, hier S. 315.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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itself to meet new conditions, but it seems reasonable to predict – if history and present trends are reliable guides – that as long as men seek inspiration and moral guidance they will seek it in the lives of the heroes of their creed, race, and nation.
Gattungsgeschichtlich jedenfalls erweist sich die moraldidaktische Konzeption der Biographie als deren beständigste Ausrichtung und Funktionalisierung, der allenfalls in Übergangszonen zu anderen Schreibformen oder im Aufheben der biographischen Struktur ausgewichen werden kann.76 Der Ort der Biographik wäre folglich nicht zwischen den Polen von Kunst und Wissenschaft auszuloten, sondern im Spannungsgefüge lehrhafter Dichtung zwischen Darstellung, Information und (ethischer) Unterweisung. Die Geschichte der Biographik wäre dementsprechend – und dazu will die vorliegende Studie einen Beitrag leisten – nicht als Geschichte des Dilemmas Kunst/Wissenschaft, sondern als Geschichte der Einvernahme biographierter Gestalten für vielfältige historische, politische, soziale, ethische Zwecke zu schreiben. Und diese Gattungsgeschichte der Biographik sollte bedenken, wer die Biographie als historiographische Darstellungsform zur Repräsentation kritisch erarbeiteter Fakten beschreiben, einsetzen oder – im Unwissen um den Ursprung der Gattung – ‘rehabilitieren’ will. In diesem Sinn unterscheidet sich die literaturund kulturwissenschaftliche Perspektive grundlegend von der Diskussion über die Eignung, Voraussetzungen und Möglichkeiten der Biographie als historiographischer Darstellungsform,77 aber sie beteiligt sich zugleich an der Debatte der Historiker, indem sie die kulturelle, soziale und ethische Dimension auch der historischen Arbeit reflektiert. ———————— 76
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Einer eingehenderen Untersuchung bedürfte für die aktuelle Biographik der Hinweis von Neva S&libar, daß die »ethisch didaktische Funktion in der modernen B. ersetzt wurde durch die fragwürdige Exemplarität sensationalistisch aufbereiteter Lebensstories«. Neva S&libar, Biographie. In: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe der Germanistik. Hg. von Horst Brunner u. Rainer Moritz. Berlin: Schmidt 1997, S. 52f., hier S. 53. Im Unterschied zur rhetorischen Betrachtung der Biographie bei Burke und seinem Hinweis auf den konstruktiven Beitrag der Biographien für die soziale Identität und das kulturelle Wissen bemüht sich die Biographieforschung der Historiker in jüngerer Zeit um eine Rehabilitierung der Biographie jenseits mythenbildender Formen. Neuansätze, die der »Gefahr der Heroisierung und Mythisierung der untersuchten historischen Subjekte« (S. 12) begegnen, stellt Bödeker zusammenfassend vor: Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand. In: Bödeker, Biographie schreiben, S. 9–63. Für Bödeker ist die neue Biographie vor allem ein Instrument zur »Erkenntnis der Handlungsspielräume der untersuchten historischen Subjekte, und zwar sowohl der gegebenen wie der subjektiv erfahrenen, der genutzten wie der ausgeschlossenen, der Möglichkeitshorizonte, die sich ihr Handeln eröffnete und gleichzeitig verschloß.« (S. 58.) Während so die »Rekonstruktion der für die Zeitgenossen noch offenen Geschichte« in der historischen Arbeit im Vordergrund stehen soll, werden in der vorliegenden Studie Texte untersucht, in denen die Aktualisierung der historischen Figuren für die Orientierung einer offenen Gegenwart des Biographen geleistet wird (oder die anthropologischen Grundfragen für eine solche Orientierung aufgeworfen werden).
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1. Grundlagen der Biographik
An dieser Stelle ist noch ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Biographik und Leserschaft zu berücksichtigen. Denn gleichgültig mit welchen Mitteln in anderen Textsorten diese Form der rhetorischen Identitätsstiftung ihre Wirkung entfaltet: In der Biographik wird sie grundlegend durch Strategien geleistet, die das Dargestellte als wahrscheinlich und realistisch erscheinen lassen und etwaige Leser zu einer faktualen Lektüre anleiten. Im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen zur Fiktionalität des Biographischen wäre hier – zumindest für die traditionelle Biographik – von Textelementen zu sprechen, die einen ‘Faktualitätseffekt’ des biographischen Schreibens herstellen. Verwiesen sei auf die Mittel zur Erzeugung von Realitäts- bzw. Realismuseffekten, wie sie allgemein von Roland Barthes und speziell für die Biographik etwa von Rosemarie Zeller beschrieben worden sind.78 Der Realitätseffekt wird durch solche – im engeren Sinne für die Erzählökonomie disfunktionalen – Elemente des Textes erzeugt, die den Wahrheitskriterien einer geschichtlichen Gesellschaft entsprechen und dadurch den Anschein von Wirklichkeit, Repräsentation und Authentizität erwecken. Die Selbstreferentialität des literarischen Textes – die Summe derjenigen Merkmale, welche den Text als literarisch kennzeichnen – wird zugunsten der Fremdreferenz heruntergespielt. Diese Fremdreferenz besteht in unterschiedlichsten Anleihen aus dem alltagsweltlichen Weltwissen, die in den Text eingeführt werden. In Anlehnung an den Begriff des Realismuseffektes könnte man von einem ‘Faktualitätseffekt’ in biographischen Texten sprechen, der das Resultat einer Faktualisierungsstrategie wäre. Weitergehend als im Fall des Realismuseffektes könnten als Elemente einer solchen Faktualisierungsstrategie solche Verfahren gefaßt werden, welche auf anerkannten Formen der faktualen Wissensrepräsentation und -herleitung beruhen: also Techniken der Quellenarbeit, Zitierverfahren, der Offenlegung von Fragestellungen, welche zu den biographischen Ergebnissen führen etc. Fragt man sich, worin letztlich die Wirkung des Faktualitätseffektes besteht, so erscheint es sinnvoll, diese in der Aufforderung an den Leser zu suchen, einen Text als faktualen Text zu lesen. So könnte man ein spezifisches Lektüreverhalten bei der Lektüre faktualer Texte skizzieren, welches gekennzeichnet wäre durch die von Biographen wie Biographietheoretikern häufig mit Bedauern festgestellte Präferenz für Inhalt statt Form, für Information statt Fiktion, aber auch durch eine Leseraktivität, die darin besteht, den Inhalt einer Biographie mit dem eigenen biographischen ———————— 78
Vgl.: Roland Barthes, L’Effet de Réel. In: Ders., Œuvres complètes. Tome 2: 1966–1973. Paris: Seuil 1994, S. 479–484; Erhard Reckwitz, Realismus-Effekt. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1998, S. 453f.; Rosemarie Zeller, Biographie und Roman. Zur literarischen Biographie der siebziger Jahre. In: LiLi 10 (1980), H. 40: Sachliteratur, S. 107–126.
1.1. Anmerkungen zu einer Definition der Biographik
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Vorwissen oder mit anderen Biographien zu vergleichen. Noch die Autoren fiktiver Biographien wie etwa Max Aub, der nach dem Modell der Künstlerbiographie (erfolgreich) einen verschollenen Kubisten aus dem Umfeld Picassos erfunden hat,79 oder Wolfgang Hildesheimer, der in seiner Lebensgeschichte des fiktiven Andrew Marbot gleich eingangs einen Besuch bei Goethe fingiert, werden die Strategien rhetorisch eingesetzt, welche eine faktualisierende Lektüre bewirken.80 Elemente der Faktualisierung eines biographischen Textes gegenüber seiner grundlegenden Literarizität und Fiktionalität (s. u.) finden sich in der präzisen Benennung von Namen, Daten und Orten, in der Skizzierung des historischen Umfeldes unter Bezugnahme auf das Vorwissen der vorgestellten Leser, in der Anwendung anerkannter Erklärungs- und Wertungsmuster, in der Übereinstimmung mit allgemeinen anthropologischen Kenntnissen, im Hinweis auf lebensweltlich nachvollziehbare Lebenserfahrungen und -krisen. Die Authentizitätswirkung der Faktualisierungsstrategie beruht schließlich auch auf der Verwendung von Zitaten aus Selbstzeugnissen der Biographierten und aus Zeitgenossenaussagen. Dabei wirkt – wie Rosemarie Zeller betont hat – die Verwendung von Zitaten nicht allein durch die scheinbare Authentizität zitierter Passagen. Vielmehr können diese »auf ihre Umgebung abfärben und so einen Realismuseffekt erzeugen, d. h. der Leser hält dann auch die anderen Passagen für ebenso wahr«.81 Eine vergleichbare Wirkung dürften auch intermediale Elemente in Biographien haben wie etwa faksimilierte Briefe und insbesondere dokumentarische Photographien. Typische Signale für eine faktuale Lektüre bestehen in gattungstypischen Faktualitätsnachweisen wie etwa Hinweisen auf Prinzipien der Quellentreue und -kritik, dem (unter Umständen expliziten) Verzicht auf Darstellung des Unbelegten (etwa Gesprächsfiktionen), die Einhaltung der Chronologie der Ereignisse, die Präsentation der Datenfülle bzw. die Begründung der Selektion. Die genauere, an diesem Ort nicht durchgeführte Untersuchung dieser Faktualisierungsstrategien könnte wohl zu einer ‘Poetik und Rhetorik wissenschaftlichen Schreibens’ ausgeweitet werden – ausgehend von der Frage, wie eigentlich eine historiographische oder biographische Darstellung den grundlegenden Bruch zwischen Welt und Weltbeschreibung, zwischen historischer Realität und Fiktion der Geschichte derart zu überwinden vermag, daß Leser das Dargebotene als faktual auffassen. ———————— 79
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Max Aub, Jusep Torres Campalans. Mexiko: Tezontle 1958. Vgl. Susanne Klengel, »Paris… gibt’s das noch?« Max Aubs (Ent)Rahmungen der historischen Avantgarde. In: Arcadia 40 (2005), S. 79–96. Wolfgang Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981. Zeller, Biographie und Roman, S. 108.
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1. Grundlagen der Biographik
1.2. Biographische Fiktion »Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung.« (Friedrich Nietzsche, Morgenröte)
»Was die Biographie eo ipso zur nichtfiktionalen Literatur schlägt, ist die Stoffvorgabe«, führt Helmut Koopmann in einem Sammelband über »Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa« aus.82 So bestechend diese schlichte Behauptung zunächst scheint, so ist sie doch bereits an eine fragwürdige Prämisse gebunden, die eher an eine Ethik der Biographie 83 gemahnt, als für eine Gattungsbeschreibung tauglich zu sein. Die Prämisse besteht für Koopmann darin, daß der Biograph »stets auf die Präsentation des Vergangenen, auf die Restitution eines bereits gelebten Lebens, auf dessen literarische Wiederauferstehung« ziele.84 Dagegen läßt sich erstens einwenden, daß Biographen von Plutarch bis Stefan Zweig durchaus vielfach nicht die ‘Wiederauferstehung’ des Historischen, sondern seine bewußte Konstruktion im Dienst von Gegenwartsanliegen mit der Biographie verbanden und daß diese Konstruktionen auch nicht an der ‘Stoffgrenze’ halt machten. Zweitens aber wäre zu betonen, daß es sich zwar in der Regel um einen nicht frei erfundenen (fiktiven) Gegenstand handeln mag, aber daß es sich doch auch im Fall des Versuchs der Rekonstruktion nur um die Illusion, Imagination einer Wiederauferstehung handeln kann. Daß Geschichte nichts anderes ist als die Erzählung einer Annahme, wie es gewesen sein könnte, gehört heute zu den Grundüberlegungen historischen Arbeitens überhaupt. Die Geschichte kann nicht zur Faktizität einer historischen Lebenswirklichkeit zurückkehren, auch wenn sie deren Existenz stets vorauszusetzen und stets aufs Neue zu behaupten hat. Schon vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Fiktionalität historiographischer oder biographischer Schriften, historischer oder biographischer Romane virulent, und zu einem besonderen Problem wird sie dort, wo trotz einer allgemein unsicheren Faktizität dieser unterschiedli———————— 82
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Helmut Koopmann, Die Biographie. In: Klaus Weissenberger (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen: Niemeyer 1985 (Konzepte 34), S. 45–65, hier S. 48. Die Frage nach der Ethik der Biographie muß nicht grundsätzlich abgelehnt werden, aber sie sollte eine Gattungsbestimmung nicht unterlaufen. Die »Verantwortung« der Biographen für die historische Persönlichkeit im Sinn einer Ethik der Biographie profiliert: Susanne Hochreiter, »Joining in the Conversation«: Bemerkungen zu Aufgaben und Haltungen der Biographik anläßlich Ines Geipels Versuch über Inge Müller. In: v. Zimmermann u. v. Zimmermann, Frauenbiographik, S. 287–310, bes. S. 290f., 298ff. Koopmann, Die Biographie, S. 48f.
1.2. Biographische Fiktion
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chen narrativen Vergangenheitsentwürfe die Fiktionalität zum Differenzierungskriterium dieser Schreibformen werden soll. Zunächst kann festgestellt werden, daß biographische Texte einen bestimmten Bezug zu Fakten aufweisen, an denen sie gemessen werden. Das heißt zunächst nur, daß in den Texten durch rhetorische Verfahren oder Konventionen der Lektüre 85 der Eindruck der Faktizität bestimmter Elemente oder der gesamten Darstellung hergestellt wird. Die Faktizität einer historischen Wirklichkeit erweist sich als eine Fiktion, da sie sich nicht auf ein Existentes berufen kann – dessen nichtfiktionale Wahrnehmung auch fraglich ist –, sondern nur als vorgestellte Faktizität überhaupt denkbar ist. Eine solche Imagination eines Faktischen wäre aber jedenfalls als Fiktion zu bezeichnen. Dabei wäre noch nicht einmal die Frage gestellt, was eigentlich die historischen Fakten sind und ob es überhaupt die Ereignisse oder sogenannten Fakten sind, welche ‘Geschichte machen’. Kaum jemand hat hierauf so kompromißlos geantwortet wie Friedrich Nietzsche in seiner aphoristischen Sammlung Morgenröte:86 Facta! Ja Facta ficta! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehn ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu tun: denn nur diese haben gewirkt. Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlaß zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, – ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung.
Wenn die historischen Fakten nicht Ereignisse, sondern Vorstellungen von Ereignissen sind, welche in der Erzählung des Historikers zu Metavorstellungen werden, dann steht einerseits die Faktualität jeder Geschichtsdarstellung in Frage, andererseits eröffnen sich gegenüber einer positivistischen Historiographie andere Möglichkeiten der Darstellung von Geschichte. Zusätzlich wäre die Faktualität historiographischer Arbeiten noch dadurch belastet, daß dasjenige, das dem Historiker als Faktum begegnet, der zufällig oder systematisch gefilterten Überlieferung unterliegt, und daß sich – etwa im Fall der Künstlerbiographik – typologische Vorstellungen vom Künstler mitunter in personalisierten ‘Künstleranekdoten’ zu scheinbar biographisch-faktischen Lebensverläufen als unentwirrbares Netz faktischer und fiktiver Elemente verdichten können, ———————— 85
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Faktualität entspräche der Erwartungshaltung gegenüber einem biographischen Text; diese Erwartung wird nicht zuletzt durch die Art der Präsentation erfüllt, teils aber auch durch den Abgleich (Bestätigung oder Korrektur) des Dargebotenen mit dem Vorwissen der Leser, ihrem Horizont an tradierten Daten, Mythen und Vorurteilen. Friedrich Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Hg. von Alfred Baeumler. Stuttgart: Kröner 61976 (Kröner Taschenausgabe 73), Nr. 307, S. 219.
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1. Grundlagen der Biographik
wie dies Ernst Kris und Otto Kurz gezeigt haben.87 Schließlich wirkt der Historiker selbst als fiktionalisierende Instanz, denn erst die Vorstellungen des Historikers erzeugen einen kohärenten Geschichtsverlauf aus den ‘Fakten’ oder den Vorstellungen von Fakten. Dies entspricht der von Hans Robert Jauss festgestellten generellen Fiktionalisierung der Geschichtserzählung:88 Fiktionalisierung ist in geschichtlicher Erfahrung immer schon am Werk, weil das ereignishafte Was eines historischen Geschehens immer schon durch das perspektivische Wann seiner Wahrnehmung oder Rekonstruktion, aber auch durch das Wie seiner Darstellung und Deutung bedingt ist, in seiner Bedeutung also ständig weiterbestimmt wird.
Die Vorstellung einer solchen Kohärenz wiederum fingiert nicht nur den Verlauf der Ereignisse, sondern sie schlägt auch Brücken der Imagination über die Lücken der Faktenkenntnis. In letzter Konsequenz heißt dies: Hermeneutische Verstehensakte sind Akte der Fiktionsbildung, in denen Momente der Detailerkenntnis (Illusionen der Erkenntnis?) zu Visionen der Totalität imaginativ verbunden werden. Diese grundlegende Erkenntnis kann und soll freilich die geschichtliche Rekonstruktion nicht generell diskreditieren. Gerade in den jüngeren epistemologischen Debatten – und etwa in der Auseinandersetzung mit Hayden Whites Arbeiten zur Narrativität und Rhetorizität der Geschichte – sind vielfältige Verfahren benannt und erprobt worden, um die Fiktionalität der Rekonstruktion kontrolliert handhaben zu können. Quellenkritik, Plausibilität, die Rekonstruktion eines Norm- und Handlungskontextes, aber auch ein Bewußtsein für das Fragmentarische haben in der disziplinären Behandlung historischer Ereignisse und Personen längst die Stelle naiver Fiktionsbildungen übernommen.89 Gleichwohl wird auch für die kontrollierte Entwicklung von Geschichte (als plausibles Modell der erarbeiteten Zusammenhänge und als ‘hypothetische Anordnung der Fakten’)90 der grundlegende Fiktionscharakter kaum von der Hand zu weisen sein. ———————— 87
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Kris u. Kurz: Die Legende vom Künstler. – Kris und Kurz wollten in ihrer Studie »die Vorstellung vom Künstler« schlechthin aus den Aussagen über den »Helden« der »typischen Anekdote« herausarbeiten. Hans Robert Jauss, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte. In: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen (Hgg.), Formen der Geschichtsschreibung. München: dtv 1982 (Beiträge zur Historik 4), S. 415–451, hier S. 416. Vgl. für die Biographik: Bödeker, Biographie. – Einen differenzierten Überblick über den aktuellen Stand historiographischer Quellenkunde gibt: Michael Maurer (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 4: Quellen. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB 17030). Hayden White, The Fictions of Factual Representation. In: Ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore u. London: Johns Hopkins University Press 21985, S. 121–134, hier S. 127.
1.2. Biographische Fiktion
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Auch Biographien stellen solche Geschichtserzählungen dar und haben fiktionalen Charakter. Gleichwohl wird in vielen Biographien explizit der Anspruch der Wirklichkeitswiedergabe formuliert, und gerade in der breiten Masse biographischer Schriften werden die Erkenntnis- und Darstellungsprobleme selten erkannt oder reflektiert. Es handelt sich bei Biographien seltener um Darstellungen, die ihre Fiktionalisierung der Fakten bloßlegen, als um Texte, welche die Illusion einer historischen Wirklichkeit schaffen und den Anspruch auf die wie auch immer konzipierte Darstellung einer historischen Realität erheben. Zumeist wird dieser Anspruch jedoch eingeschränkt durch den Hinweis, man habe sich um die bestmögliche Auswertung der Quellen bemüht und sich gewisser Freiheiten zur Verlebendigung der Erzählung bedient. Gleichzeitig ist festzuhalten, daß die Biographie nicht allein als Niederschrift von durch Quellenstudium gewonnenen Fakten verstanden werden kann, sondern als Anordnung biographischer Daten – und dies sind bereits interpretierte Fakten – nach einem literarischen, psychologischen, biologischen, häufig idealisierenden und heroisierenden Lebenslaufmodell. Dieses Modell stellt als Erzählmuster die Basis für die Selektion und Interpretation der biographischen Daten dar und gibt deren Kombination zu einer Lebenslauffiktion vor, die als ‘Biographie’ bezeichnet wird. Historische ‘Fakten’ werden zu biographischen Fiktionen zusammengefügt, und an die Stelle der Realitätswiedergabe tritt die Imagination einer möglichen, ‘wahrscheinlichen’91 historischen Wirklichkeit, welche den Unterschied zwischen einer historiographischen Biographie und einer Romanbiographie verwischt. Die Frage, ob die Fiktion letztlich der Faktenvermittlung dient (Historiographie) oder dem Anschein nach von der Faktizitätsfrage unabhängig ist (Roman), wie sie Jauss zur Differenzierung vorschlägt, scheint mir die Frage der epistemologischen Fiktionalität zu vernachlässigen, denn sie betrifft letztlich eher eine ästhetische Qualität des Textes (textuelle Fiktionalität), die je nach theoretischem Ansatz rezeptionsgeschichtlich oder innerliterarisch bestimmt werden könnte. Entweder wäre hier das jeweilige historische Bedürfnis der Leser zu untersuchen, die Faktizitätsfrage zu stellen, woraus sich bei einer kritischen Untersuchung der Bewertungskategorien eine Geschichte der biographischen Ästhetik ergeben würde. Es ist dabei anzunehmen, daß ‘Fiktionalität’ in rezeptionshistorischer Hinsicht zu einer Kategorie der Textauffassung erfahrener Leser würde. Oder es wären diejenigen Textoperationen zu beschreiben, welche den Text als fiktionalen kenntlich machten. Diese wären entsprechend vor allem auf der Ebene rhetorischer Figuren nach dem Muster der ‘fictio personae’ auszugeben. Das bedeutet aber auch, daß die vollständige Fiktionalität eines Textes einen Sonderfall darstellte ge———————— 91
Jauss, Der Gebrauch der Fiktion, S. 417f.
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1. Grundlagen der Biographik
genüber in rhetorische Strategien integrierten fiktionalen Elementen. Dabei ergeben sich zwei Aspekte oder Ebenen textueller Fiktionalität, die wohl in gegenseitiger Ergänzung zu betrachten wären: 1.) ‘ästhetisch-historische Fiktionalität’: Sie berücksichtigt diejenige Tradition der Ästhetik, die von der Wirkungsästhetik Baumgartens bis zur Rezeptionsästhetik reicht, und schließt die Frage nach der Ästhetizität und Literarizität der Texte im Sinne literaturkritischer Wertungsbegriffe ein. (Fiktion als Merkmal der ‘schönen’ Literatur im Wandel der ästhetischen Debatten und der Lesehaltungen). 2.) ‘rhetorisch(-strategisch)e Fiktionalität’: Sie bezieht sich auf die poetologisch-ästhetische Tradition im Sinne einer Textproduktions- und Textbeschreibungslehre, wie sie sich aus der Rhetorik entwickelt bzw. deren Bestandteil darstellt (Fiktionsbildung als strategische Textoperation im Kontext didaktischer, persuasiver etc. Anliegen). Entgegen Wolfgang Iser, der die ästhetisch-historische Fiktionalität unbeachtet läßt und sich auf die rhetorische Fiktionalität bezieht, sehe ich in der textuellen Fiktionalität nicht lediglich einen »weiteren Akt des Fingierens«, welcher der fiktionalen »Entblößung« oder »Selbstanzeige« gilt.92 Hier wäre wohl deutlicher zwischen epistemologischer und textueller Fiktionalität zu trennen, denn bei letzterer liegt eine grundsätzlich andere Kategorie von Fiktionalität vor, die nicht durch die Frage nach der Konstruiertheit (resp. Wahrnehmung) des Stoffs, sondern durch die Frage nach der Strategie seiner Darbietung zu beantworten ist. Epistemologisch ist dagegen die Fiktionalisierung unvermeidbar; im Sinn einer Imaginationsfähigkeit ist sie wohl am ehesten als eine Kulturtechnik, als ein Instrument der Speicherung, Vermittlung, Aneignung kultureller Wissensbestände zu verstehen, welches seine Wirksamkeit aus der Illusion erhält, Instrument der Welterkenntnis zu sein (und ‘natürlich’ irgendwie zu funktionieren). Die epistemologische Sicht auf das Verhältnis von Fakten und Fiktionen, welche durch den Hinweis auf die Konstruiertheit des Faktischen der Faktizität einen fiktionalen Status zuweist, wird von der Frage der textuellen Fiktionalität zunächst nicht betroffen. Gleichwohl steht – mit Iser – außer Frage, daß die rhetorisch-textuelle Fiktionalität die Funktion einer Selbstanzeige haben kann. Häufiger jedoch wird die Funktion nicht in der Aufhebung der Illusion konkreter Aussagen, sondern in der rhetorischen Strategie bestehen, von den bloß zufälligen konkreten Umständen auf allgemeine Aussagen hinzulenken: etwa von den ‘fragwürdigen’ Fakten der Überlieferung auf die Einsicht in Charakter und Psyche des Biographierten oder von den individuellen Zügen auf die didaktisch vorbildlichen. (In rhetorischer Hinsicht muß Fiktionalität im———————— 92
Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 34ff.
1.2. Biographische Fiktion
45
mer unvollkommen sein, da sich die Fiktion als Fiktion zu erkennen geben muß. Als Kulturtechnik muß die Fiktion immer vollkommen sein, denn nur die vollkommene Fiktion kann die Illusion des Faktischen in der Literatur wecken.) Biographische Fiktionen können auch danach unterschieden werden, ob der Fiktionscharakter des biographischen Entwurfs in der rhetorischen Strategie verdeckt wird oder offen zutage tritt. Im ersten Fall handelte es sich im Sinne von rhetorischen Strategien um eine illusionsstiftende Fiktion (Faktualisierung), im zweiten Fall um eine autoreflexive Fiktion (Dekonstruktion). Schließlich kann der Prozeß der biographischen Fiktionalisierung über Selektion und Kombination selbst zum Gegenstand der Gestaltung werden. Eine solche Fiktionalisierung der Arbeit des Biographen wäre als biographische Metafiktion93 zu bezeichnen. Das Problem der grundlegenden epistemologischen Fiktionalität biographischer Darstellungen läßt sich auch auf einer rhetorischen Ebene fassen. Die Arbeit des Biographen stellt sich im doppelten Sinn als eine ‘Invention’94 dar. Zunächst ist sie im rhetorischen Sinn eine heuristische Tätigkeit der Stoffsuche (Topik)95 und der Auswahl des für die Darstellung geeigneten Materials. Zugleich ist sie eine Erfindung der historischen Person. Die ‘Erfindung’ des biographischen Materials führt so zur Erfindung der biographischen Realität durch Selektion und Kombination.96 Als eine solche »Erfindung von Realität« hat Bernhard Waldenfels die Fiktion bezeichnet.97 Diese epistemologische Fiktion setzt dort ein, wo es nicht lediglich um die Registrierung oder Auflistung von Datenmaterial geht, sondern um die »Etablierung variabler Ordnungen«. (Unter Umständen finden sich bereits in der Systematik von Listen Ansätze variabler Ordnungen und also Fiktionen.) Als Fiktionalisierungsstrategie wird so die Einbettung des Gegenstandes bzw. seine Konstruktion in einer variablen Ordnung verstanden; folgt diese Konstruktion anerkannten Praktiken und erfolgt sie in einer anerkannten, erfolgreichen und gewiß nutzbringenden ———————— 93
94
95 96
97
Vgl. Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres. In: v. Zimmermann, Fakten und Fiktionen, S. 15–36. Den rhetorischen Begriff der Invention hat Horst Bienek für die Arbeit des Biographen – »was er gelesen hatte; und was er erfunden hatte« (S. 109) – gebraucht. Horst Bienek, Bakunin, eine Invention. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (zuerst 1970). Vgl. Helmut Scheuer, Biographie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 30–43, hier Sp. 31 (zur »Auffindung des Stoffs der Lebensgeschichte). Wolfgang Iser hat in diesem Sinne Selektion und Kombination als ‘Akte des Fingierens’ bezeichnet. Wolfgang Iser, Fiktion / Imagination. In: Ulfert Ricklefs (Hg.), Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. Frankfurt/M.: Fischer 1996, Bd. 1, S. 662–679, hier S. 665. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21994, »Fiktion als Erfindung von Realität«, S. 231–234.
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1. Grundlagen der Biographik
Ordnung, so wird sie zum Bestandteil derjenigen »Routine« (Feyerabend)98 der Strukturierung, der Wahrnehmung und Beschreibung, welche den Anspruch erhebt, historische ‘Wirklichkeit’ zu sein. Die biographische Fiktion stellt in diesem Sinn eine Erzählung eines nach den zugrunde gelegten Ordnungsmodellen möglichen Lebenslaufes dar: »eine als-ob-Konfiguration« (Soeffner).99 Die Funktion einer solchen Fiktion als Erfindung von Realität kann darin bestehen, neue Sichtweisen auf die Realität zu ermöglichen und einen neuen biographischen Sinnzusammenhang aufzuzeigen. Tatsächlich spiegelt sich dieser Fiktionsbegriff als Anspruch der Autoren, durch ihre Werke ein neues, wahreres, sensationelleres oder wie auch immer revidiertes Bild des Biographierten zu geben oder ein Bild, welches bisher vernachlässigte Bereiche der Persönlichkeit betont (etwa seine psychische, charakterliche, biologische, sexuelle Konstitution gegenüber curricularen Informationen). Ein relativer Unterschied zwischen einer ihrem Anspruch nach historiographischen Biographie und eines vielleicht als Roman bezeichneten biographischen Textes bleibt dadurch zwar bestehen, doch wird er zu einem rein graduellen Unterschied, der ein breites Spektrum literarischer Erarbeitungs- und Darstellungsverfahren oder ‘Fiktionalisierungsstrategien’ eröffnet, die in vielen Fällen zugleich Faktualisierungsstrategien der biographischen Entwürfe sind. Als Fiktionalisierungsstrategie in der biographischen Literatur wird demgemäß sowohl eine rhetorische Strategie des Textes als auch bereits eine jeweils veränderliche Form der Invention und Disposition (bzw. Selektion und Kombination) des Stoffes bezeichnet. Die Fiktionalisierungsstrategie bildet die Grundlage für die spezifische »rhetorische Illusion« (Bourdieu) der jeweiligen Biographie. Dabei erscheint es sinnvoll, die Fiktionalisierungsstrategien nach den Voraussetzungen und Zielen der biographischen Darstellung zu benennen. So wäre eine Biographie, die ein typologisches Muster des Heroen in der biographischen Darstellung verwirklicht, als ‘Heroisierung’ zu bezeichnen. Auf anderer Ebene könnte die psychoanalytische Betrachtung einer Persönlichkeit als ‘Psychologisierung’ verstanden werden. Dabei wäre sowohl die Kombination verschiedener Strategien denkbar, als auch deren historischer Wandel etwa nach der Auffassung vom Typus des Helden oder nach den Voraussetzungen einer psychologischen Betrachtungsweise. Heroisierende oder psychologisierende Biographien unterscheiden sich nicht erst im abgeschlossenen Text; sie divergieren vielmehr im rhetorischen Prozeß. Im Rahmen der ———————— 98 99
Paul Feyerabend, Das Wissen und die Rolle von Theorien. In: Ders., Irrwege der Vernunft. Übers. von Jürgen Blasius. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21990, S. 162–192, hier S. 166. Soeffner sieht in ‘literarischen Lebensläufen’ aus sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive darum »Quellen für Selbstdeutungsmöglichkeiten und Typisierungsschemata historischer Alltagswelten«. Soeffner, Entwicklung von Identität, S. 261.
1.3. Biographische Anthropologie und Moderne
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biographischen inventio werden bereits andere Fragen an den historischen Gegenstand gestellt, andere Hilfsdisziplinen zur Formulierung der Topiken bemüht, die so schon heuristisch die Fiktionalisierungsstrategie und den Prozeß der Stilisierung einleiten: Der Biograph findet, was er sucht. Während die Fiktionalisierungsstrategie die Stilisierung der Biographie auf ein Darstellungsmuster und -ziel hin leistet, ist gleichzeitig eine Faktualisierungsstrategie notwendig, welche die biographische Fiktion als wahrscheinlich erscheinen läßt und den Leser zumindest partiell zu einer faktualen Lektüre anregt. Insbesondere die didaktische Biographik, welche etwa die Vermittlung von Tugendkonzepten am Beispiel historischer Persönlichkeiten leisten soll, wird mit dieser doppelten strategischen Aufgabe konfrontiert, einerseits die Exemplarizität des Biographierten durch das Einschreiben von Tugendmustern zu leisten und andererseits die (Wirkung der) Authentizität des Exemplarischen durch die Erstellung eines Faktualitätseffektes zu gewährleisten.100 Abschließend bleibt zu vermuten, daß gerade in dieser Faktualisierung der Fiktionen und nicht in der Rekonstruktion des Unwiederbringlichen einerseits die spezifische und mit unterschiedlichen narrativen, ästhetischen, rhetorischen Mitteln verfolgte »Wahrheitsintention«101 der Biographien liegt, andererseits ihr Wert und Nutzen. Denn erst dadurch erhalten sie ihre Bedeutung als Erprobungsformen anthropologischer Annahmen, als Symbole ethischer, sozialer etc. Normen und Identifikationsbedürfnisse oder politischer, nationaler Prozesse, Projektionen und Prognostiken, als Vehikel didaktischer oder propagandistischer Vermittlungsabsichten.
1.3. Biographische Anthropologie und Moderne Biographien stellen unter der Oberfläche des erzählten individuellen Lebenslaufes exemplarische Fallgeschichten dar, in denen auf der Basis von Individualitätskonzepten und Menschenbildern Bedürfnisse und Ziele ———————— 100
101
Vgl. hierzu a.: Christian v. Zimmermann, Exemplarische Lebensläufe: zu den Grundlagen der Biographik. In: v. Zimmermann u. v. Zimmermann, Frauenbiographik; zu speziellen Fragen der Frauenbiographik: Nina v. Zimmermann: Zu den Grundlagen der Frauenbiographikforschung. In: Ebd. Ricœur betont gegen die ‘postmoderne’ Überstrapazierung des Fiktionsbegriffs für Geschichtsdarstellungen: Geschichtswissenschaft sei kein ‘wahrer’ Diskurs, aber »doch ein Diskurs, der sich an einer Wahrheitsintention mißt« (S. 43). Paul Ricœur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit. Münster, Hamburg u. London: Lit Verlag 2002 (Konferenzen des Centre Marc Bloch 1). – Ricœur scheint diesen Begriff freilich weniger als Gattungskriterium denn als ethischen Maßstab zu verstehen, wenn er die beständige ‘récriture’ als fortgesetzte Annäherung und die Wahrheitstreue als Anspruch des kulturellen Gedächtnisses benennt.
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1. Grundlagen der Biographik
menschlichen Handelns, Möglichkeiten und Grenzen des Menschen und seiner Fähigkeiten, Freiheiten und Abhängigkeiten gegenüber sozialen Ordnungssystemen, geschichtlichen Verläufen, sittlichen Normen und Norminstanzen etc. historisch-fiktional erprobt werden. Die biographische Darstellung impliziert jeweils grundlegend die Bezugnahme auf ein Menschenbild, ohne daß dies jeweils explizit in der Biographie zum Ausdruck kommen müßte. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf diejenigen Entwicklungsstränge der Biographik, die im Rahmen eines undisziplinären Anthropologischen oder aber im Kontext anthropologischer Wissenschaften Bedeutung gewinnen. (Die Perspektive versteht sich im ersten Fall insbesondere als Beitrag zu einer Historischen Anthropologie, im zweiten bewegt sie sich auf dem Feld einer Geschichte der Anthropologien.) Gleichwohl wäre neben der hier im Vordergrund stehenden expliziten biographischen Anthropologie und anthropologischen Biographik von einer in lebensgeschichtlichen Darstellungen notwendig vorhandenen verschwiegenen Anthropologie zu sprechen, welche aus der Notwendigkeit resultiert, daß das Reden vom einzelnen menschlichen Leben – wie auch immer reflektierte – Vorstellungen über menschliche Lebens- und Seinsformen voraussetzt, die in den Text implementiert werden. Insbesondere drei konkrete rhetorische Funktionsweisen der verschwiegenen biographischen Anthropologie lassen sich benennen: die Aufgabe der Identifikationsstiftung zwischen biographischer Darstellung und dem Menschenbild der Rezipienten, die Berücksichtigung didaktischer Anliegen und die Ermöglichung der Kritik: 1.) Die Notwendigkeit einer Identifikation ergibt sich aus der Absicherung biographischer Aussagen in diskursiven Kontexten; ähnlich führen Achim Barsch und Peter M. Hejl aus: »Geteilte Wissensbestände und damit auch Vorstellungssysteme [wie Menschenbilder ...] sind eine wesentliche [oder besser: unverzichtbare] Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation und damit auch für die Verständigung über gemeinsames Handeln.«102 2.) Insbesondere die Vereinnahmung historischer Persönlichkeiten für Gegenwartsinteressen setzt die erfolgreiche Implementierung anerkannter, identifikationsfähiger Menschenbilder voraus. Auch die pädagogische Funktionalisierung der Biographik kann nur auf der Basis einer Implementierung eines Menschenbildes erfolgen, denn sie setzt das Vorhandensein der pädagogisch als wertvoll erachteten Handlungs- und Verhaltensnormen in der Biographie voraus. Diese können jedoch allein über ein Menschenbild hergestellt werden, welches der Biographierte (also die ———————— 102
Achim Barsch u. Peter M. Hejl, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Einleitung. In: Barsch u. Hejl, Menschenbilder, S. 7–145, hier S. 12.
1.3. Biographische Anthropologie und Moderne
49
Fiktion der historischen Persönlichkeit) mit den pädagogischen Vorstellungen des Biographen teilt. 3.) Und schließlich kann der kritische Gestus gegenüber historischen Persönlichkeiten, die man glaubt, aus ihrer Leitbildfunktion verdrängen zu müssen, gerade auf der Basis ihrer Nicht-Identität mit konventionalisierten Menschenbildern die Basis der rhetorischen Strategie der Diffamierung bilden, wie etwa im Fall der Verdrängung jüdischer oder als jüdisch diffamierter Persönlichkeiten aus einer durch Rassezugehörigkeit bestimmten Geschichte und kulturellen Identität. Menschenbilder stellen »historisch kontingente Versuche [dar], fundamentale Aspekte der eigenen Identität zu bestimmen«.103 Sie sind ein gewichtiges argumentatives Fundament sozialer und staatlicher Ordnungen (Legitimation von Herrschaftsverhältnissen oder der Verteilung der Gewalten) und können als Argument zur Etablierung von Feindbildern und Ausgrenzungen funktionalisiert werden. Die (behauptete) Identität oder Differenz des einzelnen zum Menschenbild konstruiert bereits seine Zugehörigkeit zu Gruppen – in der Biographik seine Aktualisierbarkeit als Muster für die Gegenwart. In der Biographik entscheidet die Orientierung an adäquaten Menschenbildern nicht zuletzt über die Akzeptanz und Bewertung der biographierten Persönlichkeit. Die Biographie über eine geschichtliche Vorbildpersönlichkeit kann im Kontext einer dezidiert ‘bürgerlichen Anthropologie’104 nicht auf die Leiblichkeit und Sinnlichkeit des ‘Heros’ abstellen, ohne die biographierte Persönlichkeit zugleich im entlarvenden Hinweis auf seine ‘Triebnatur’ zu diffamieren. Umgekehrt muß die Heroisierung des Heros in einer Zeit, deren Vorstellungssysteme dieser ‘bürgerlichen Anthropologie’ und der ihr korrespondierenden Aufforderung zur Bezähmung der Leidenschaften und Etablierung eines bürgerlichen AntiHelden verpflichtet sind, auf die ‘Triebnatur’ des Biographierten im korrigierenden Gestus reagieren. In diesem Sinn ist die Pathologisierung des Leidenschaftlichen und körperlich Herausragenden etwa in Conrad F. Meyers biographischem Roman Jürg Jenatsch durchaus noch präsent, wenn Meyer im Unterschied zum ‘Normalmenschen’ die Triebnatur zwar zur Konstitutionsbedingung des Heros erhebt, aber dieses Defizit erst durch den geschichtlichen Erfolg legitimiert werden muß. Die Vorstellungen vom Menschen in der Moderne werden grundlegend von der Problematisierung der Individualität, der häufig emphatisch behaupteten Freiheit oder Autonomie des Individuums oder seiner ebenfalls kontinuierlich behaupteten Determiniertheit und Unfreiheit be———————— 103 104
Ebd., S. 8. Vgl.: Lukas, ‘Gezähmte Wildheit’.
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1. Grundlagen der Biographik
stimmt sowie von der Frage nach seiner Befähigung zu einer selbstverantwortlichen Lebensführung. Auf den einzelnen Menschen bezogen werden diese Themen im Blick auf die Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Rationalität und Moralität des Menschen, insbesondere aber auf die je spezifische Hierarchisierung dieser Kategorien verhandelt. In der Perspektive auf die Gemeinschaft der Menschen bestimmen die Fragen nach seiner Handlungsmächtigkeit in sozialen und historischen Systemen die Koordinaten des Menschenbildes. Versteht man die Moderne als ein Problem- und Diskursgefüge, dessen Entstehungsbedingungen in einer brüchigen Kette weit in den Beginn der Neuzeit zurückreichen und das im kulturellen Selbstverständnis der Moderne durch die Konstruktion einer Geschichte bestimmt wird, in welcher sich der Mensch als autonomes Subjekt etabliert haben soll und diese Autonomie zum Problem geworden ist, dann ist die Biographie, in welcher das Verhältnis des einzelnen zu Natur, Gesellschaft, Geschichte, Ethik und Religion zum zentralen Thema wird, eine, wenn nicht gar die zentrale literarische Gattung, in welcher sich die für das historische Selbstverständnis grundlegenden Individualitätskonzepte der Moderne abzeichnen müssen. Dabei wird im Kontext der vorliegenden Studie die Frage nach der Individualität des Menschen, nach seinem Selbstsein als lediglich ein Ausdruck der anthropologischen Bestimmung der conditio humana aufgefaßt; diese anthropologische Debatte erhält freilich in der Gattung einer individuellen historischen Lebensdarstellung und Fallbeschreibung ein besonderes, modernes Gepräge. Als Moderne 105 wird hier ein komplexer gesellschaftlich-diskursiver Entwicklungsprozeß verstanden, dessen zentrale Entwicklungs- und Pro———————— 105
Im weiteren Sinn wird der gesamte in der Arbeit umrissene Zeitraum als Moderne verstanden. Daneben gebrauche ich auch den Ausdruck ‘moderne’ Biographik, der im Sinn und in Fortführung der bisherigen Forschung eine spezifische Form der populären Biographik zwischen 1911/18 und etwa 1935/40 umfaßt (s. u.). Die Differenzierung zwischen diesen beiden Begriffsverwendungen ergibt sich aus der Begriffsgeschichte. Die ‘moderne Biographie’ schließt dabei an den seit Ende des 19. Jahrhunderts inflationär gebrauchten Abgrenzungsbegriff an, der gegen die Traditionslinien des Alten die Besonderheit des Neuen markieren soll, ohne bereits eine (einheitliche) Konzeption von Modernität einzuschließen. Der englische Alternativbegriff ‘new biography’ wäre in diesem Sinn dem Sachverhalt gemäßer, entspräche aber nicht dem eingeführten Begriffsgebrauch in der Biographikforschung, dem wiederum Selbstbezeichnungen der Autoren (etwa Emil Ludwig, s. u.) zugrunde liegen. Zum Begriff ‘modern’ vgl. im Überblick etwa: Horst Thomé, Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siécle. In: YorkGothart Mix (Hg.), Naturalismus – Fin de siécle – Expressionismus 1890–1918. München: Hanser 2000 (Hanser Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 15–27. – Zur Forschungsdiskussion vgl. zusammenfassend a.: Félix Duque, Moderne / Postmoderne. In: Enzyklopädie Philosophie. Hg. von Hans Jörg Sandkühler. 2 Bde. Hamburg: Meiner 1999, Bd. I, Sp. 859a–864a. Duque ist in der zeitlichen Einord-
1.3. Biographische Anthropologie und Moderne
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blembereiche die Kritik autonomer Individualität, die Auflösung verbindlicher ethisch-moralischer und theologischer Handlungslehren, Kosmopolitismus, Technisierung und Mechanisierung sowie wirtschaftlichsozialer Liberalismus und die damit verbundenen Verunsicherungen der Menschenbilder darstellen. Dabei geht es zunächst nicht um Erscheinungen historischer Realität, Zustände der Moderne, sondern eben um Konfliktbereiche, die zu zentralen Themen im diskursiven Kontext der Moderne sowie im Diskurs über Modernität geworden sind. Relevante Problemkomplexe der so verstandenen Moderne – zugleich die Kontexte, in denen die Biographien ihren Ort haben –, wären demgemäß: die Frage nach der Individualität und Sozialität des Menschen, wie sie Gegenstand einer breiten anthropologischen Debatte geworden ist, die Frage nach der Handlungsmächtigkeit der einzelnen in der Gesellschaft, in der Geschichte, die Frage nach der psychophysischen Konstitution des Menschen sowie nach seiner sozialen, historischen etc. Vorbestimmtheit. All dies sind Fragen, die als Gegenstand anthropologischer Disziplinen wie Psychophysik, Psychologie und Psychiatrie, Vererbungslehre und Genetik, Soziologie, Historik oder als Gegenstand philosophischer Erwägungen und als Thema eines breiten Stroms literarischer und publizistischer Entwürfe auf das Problem- und Diskursgefüge Moderne einwirken. Ob der Mensch die Geschichte macht oder die Geschichte den Menschen, ob der Mensch durch die Herrschaft seiner Vernunft, seine physische Konstitution oder ein wie immer vorgestelltes Wechselverhältnis von beidem bestimmt wird, ob das Individuum die Gesellschaft prägt oder die Gesellschaft das Individuum: Dies sind im 19. und 20. Jahrhundert stets wiederkehrende Fragen, ————————
nung zurecht zurückhaltend. Sein Hinweis, »das Wort ‘die Mod.’« gehöre »der letzten Phase der Periode an, die mit der Aufklärung begonnen hat« (S. 859), entspricht der engen Verbindung der Entwicklung modernitätsspezifischer Phänomene und Problemfelder mit den Aufklärungsdiskursen. Die Moderne wäre auch zu begreifen als Zeit der Auseinandersetzung mit der Aufklärung, und die Anfänge der Moderne lägen entsprechend dort, wo diese Auseinandersetzung nicht im Zeichen antiaufklärerischer konservativer Apologetik, sondern im Zeichen einer Überwindung, Fortführung und Bewahrung der Aufklärung geführt wird, spätestens in der Spätaufklärung. Dabei erscheint es sinnvoll, nicht in die Diskussion um Schwellendaten einzutreten, sondern bei einer vagen, prozessualen Bestimmung zu bleiben, welche auch in Betracht zieht, daß Moderne nicht eine ‘Epoche’, sondern eine kulturgeschichtliche Zielvorstellung und insbesondere die Debatte über diese Zielvorstellung bezeichnet. Dennoch lassen sich bestimmte Phasen dieser Debatte und besondere ‘Wegmarken’ erkennen. Eine erste Phase der ‘Moderne’ wäre bis zur Mitte des 19. Jh.s anzusetzen, und gerade für den deutschsprachigen Raum erweist sich das Jahr 1848 als wichtiger Wendepunkt. Für eine eingehende Diskussion der literaturwissenschaftlichen Konzepte von Modernität, Moderne, modern vgl. bes.: Gerhart v. Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1999 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 20); Jörg Schönert, Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. In: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1988 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 9), S. 393–413.
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1. Grundlagen der Biographik
auf die eine Vielzahl popularer oder disziplinärer Antworten formuliert werden. Die Reflexionen und Auseinandersetzungen über die Erfahrung dieser Modernität verlaufen vereinfachend gesprochen zwischen den Polen des Fortschrittdenkens und der Verlusterfahrungen. Die staatlichen Ordnungen, die Muster bürgerlicher Lebensführung, die Ideale von individueller Erwerbsfreiheit, Fleiß, Sparsamkeit und Ordnung, das Ideal einer an staatliche Institutionen delegierten Aggressivität (Gewaltmonopol) etwa werden konfrontiert mit der Auseinandersetzung um die Triebnatur und Animalität des Menschen.106 Verdrängung von Leidenschaft und Sexualität werden zunehmend auch als Basis psychopathologischer Erscheinungen erkannt. Die in den Debatten des 18. Jahrhunderts häufig behauptete Vernunftautonomie des Subjekts befreit nicht nur von sinnstiftenden Ordnungsmustern, sondern macht auch den Verlust heteronomer Tugend- und Verhaltensnormen deutlich. Im Selbstbewußtsein der Moderne wird auch der Konfikt zwischen einer Weltanschauung, die versucht, die Autonomie und Freiheit des Subjekts zu etablieren, und denjenigen kollektiven Kräften krisenhaft erfahren, die diese Freiheit und Autonomie beständig in Frage stellen. Doch wird das Konzept moderner Individualität nicht allein durch soziale und ökonomische Mechanismen der Industrialisierung, Globalisierung, der Entwicklung einer Massengesellschaft oder durch die katastrophalen Bedrohungen wie besonders Genozid, Krieg oder Naturkatastrophen problematisch. Neben diesen Entwicklungen der Moderne, auf welche auch die Biographik reagiert, steht der Gedanke der Individualität in der Diskussion um die psychophysische, biologische, psychische oder genetische ‘Unfreiheit’ des Menschen zur Debatte, die an die Stelle des Individuums andere Begriffe wie etwa ‘Person’ oder ‘Leben’ rückt und damit einen emphatisch-vernünftigen Begriff der Individualität und Freiheit ablöst. Die Moderne in der Perspektive der vorliegenden Arbeit wird dementsprechend maßgeblich verstanden als Konfliktgeschichte um das Problem der Individualität respektive als Diskursgeschichte(n) der Menschenbilder. Zunächst unabhängig von der Frage, welchen Individualitätsstatus Personen in der Frühen Neuzeit tatsächlich innehatten und wie sich dieser Status etwa in autobiographischen Aufzeichnungen auch immer artikulierte, nimmt ‘Individualität’ erst in der Moderne bzw. erst seit der Spätaufklärung eine zentrale Stellung in öffentlichen Diskursen ein. Die Autonomie des einzelnen, die Fragen der Bedingungen und Möglichkeiten dieser Autonomie sowie in dialektischer Gegenkehr die ‘soziale Frage’ sind Themen, welche einzelne wie ganze Gesellschaften in der Moderne fundamental betreffen. Bereits die daraus erwachsenden Konflikte zwi———————— 106
Vgl. hierzu etwa die Beiträge in: Barsch u. Hejl, Menschenbilder.
1.3. Biographische Anthropologie und Moderne
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schen Individuum und Gesellschaft etc. weisen freilich auf die überindividuelle Dimension dieser Debatte hin, und es wäre bedenkenswert, ob dieses Interesse am Einzelmenschen, wie es sich in der rasant steigenden Produktion der Biographien und in der Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs im Lauf des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts zeigt, nicht – so eine These dieser Studie – zuletzt anthropologisch bedingt ist: Der Einzelne wird bedeutend und gewinnt Interesse als Mensch, und die diskursive Bedeutung der Individualität und Zunahme der Individualitäten korrespondiert mit der Pluralisierung der Lebensentwürfe und Menschenbilder. Die Biographie wird erst zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Medium dieser Entwicklungen, die sich in vielen Aspekten bis weit in die Frühe Neuzeit (und diese wären als frühe Moderne zu bezeichnen) zurückverfolgen lassen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie aber das bevorzugte Medium zur Darstellung der individuellen Erscheinungsformen und allgemeinen Bedingungen des Menschlichen.
2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert 2.1. Ein Umweg als Einstieg – Adalbert Stifters Romanprojekt Maximilian Robespierre Was mag nur Adalbert Stifter umgetrieben haben? Inmitten der Bearbeitung der Journalfassungen seiner größeren Erzählungen für die Publikation der Studien, deren ersten beiden Bände 1844/45 erscheinen sollten, wendet sich der von Friedrich Hebbel später als Blumen- und Käferdichter abgestempelte Biedermeier-Erzähler in einem Brief vom 17. Juli 1844 an seinen Verleger Gustav Heckenast mit einem erstaunenswerten Vorschlag:1 Dann, meinte ich, noch den Maximilian Robespierre (historischer Roman in 3 Bänden) heraus zu geben, […] damit ich mit ernsteren und größeren Sachen auftrete. Der lezte Stoff ist so schön und hinreißend, daß ich oft selber beim Lesen von Memoiren und beim Notizenmachen in einen Schauer komme, und das Gewicht jener furchtbaren Zeit fühle. Hätte ich Muße, ich würde mich sogleich nieder sezen, und diesen Stoff in jener einfachen, quaderartigen Größe hinzuwerfen versuchen, wie er es verdient. […] Im Verbrechen und in seinem Sturze trotz aller übermenschlicher Kraft (wie sie oft in Danton sichtbar wird) liegt eine erschütternde moralische Größe, und der Weltgeist schaut uns mit den ernstesten Augen an – wie schön müssen neben diesen Männern einfach schöne, sittliche Frauenkaraktere stehen?
Stifter hat sich anscheinend nie wieder über dieses Projekt geäußert, und so steht die Briefstelle einsam zwischen Texten und Äußerungen, die eine ganz andere Tendenz zu haben scheinen. Schon ein halbes Jahr später schreibt er an Heckenast, nachdem er das Manuskript der Überarbeitung seiner Mappe meines Urgroßvaters auf die Post gegeben hat, über eben diesen Roman, es sei »das erste« als »klassisch« zu bezeichnende Werk aus seiner Feder: »In anspruchsloser Einfachheit und in massenhaft gedrängtem Erzählen, muß ein ganzes Leben, und einer der tiefsten Karaktere liegen.«2 Die Irritation, die von Stifters Erwähnung des Romanprojektes ausgeht, wenn man sie im Kontext des Werkes betrachtet, könnte sich wieder ———————— 1
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Adalbert Stifter an Gustav Heckenast. Brief vom 17. Juli 1844. In: Adalbert Stifters Sämmtliche Werke. Bd. 17. Briefwechsel. Erster Band. Hg. von Gustav Wilhelm. Prag: Calve 1916 (Bibliothek Deutscher Schriftsteller in Böhmen 34), Nr. 48, S. 122–128, zit. S. 123f. Adalbert Stifter an Gustav Heckenast. Brief vom 25. Dezember 1844. In: Stifters Sämmtliche Werke 17, Nr. 52, S. 132–135, zit. S. 133.
2.1. Ein Umweg als Einstieg – Adalbert Stifters Romanprojekt Maximilian Robespierre
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legen. Was Stifter dazu führte, mit einem heroischen Stoff zu liebäugeln, warum der Plan letztlich scheiterte und welche Verbindungen Stifter zu seinem eigenen Schreiben darin erblickte – diese Fragen lassen sich nur spekulativ beantworten. Offensichtlich allerdings haben Stifter die Probleme des Stoffs und der Gattung weiterhin bewegt. So veröffentlicht Stifter 1845 eine knappe Erzählung mit dem Titel Zuversicht,3 welche – sichtlich an Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten anknüpfend – 4 das Problem der Verhaltensweisen einzelner Menschen in der Zeit der Französischen Revolution behandelt, und er setzt sich in verstreuten Bemerkungen mit der Frage nach dem Heros und großen Menschen in der Geschichte auseinander, dem er in seinen Erzählungen einfache, sittliche Charaktere gegenüberstellt. Probeweise sollen diese Texte daraufhin gelesen werden, was sie über die Probleme der biographischen Gattung, der Beurteilung geschichtlicher Vorgänge und Persönlichkeiten aussagen, um daraus – eher als ein Nebenprodukt – eine Erklärung für das gescheiterte Projekt zu gewinnen. Die Erzählung Zuversicht folgt deutlich dem Novellenschema: Eine Abendgesellschaft sitzt beisammen, kommt ins Gespräch über die erstaunlichen Handlungen, die während der Französischen Revolution »plötzlich an Charakteren hervorgesprungen sind«. Man versucht, diese Erscheinungen zu erklären. Es werden unterschiedliche Thesen aufgestellt, und schließlich erzählt »ein alter Mann« eine Geschichte, welche für sich sehr rätselhaft ist und darauf hinausläuft, daß ein Sohn seinen Vater im Gefecht tötet. Die Gesellschaft ist schockiert über den ‘Vatermord’, wendet sich schließlich aber anderen Dingen zu und geht bald auseinander. Die Technik der offenen Rahmenerzählung, welche mehr oder weniger präzise ein Thema umreißt, zu welchem eine Binnenerzählung strukturell als Exempel eingeführt wird, das sich dann aber als rätselhaft erweist und auch nicht ausgedeutet wird, ist aus Stifters Werken hinlänglich bekannt. Kalkstein, Abdias und Brigitta folgen etwa diesem Schema. In dieser Weise wird der Leser stets über die Erzählungen hinaus verwiesen auf unterschiedliche Diskurse der Zeit. Zwei Themenkomplexe werden regelmäßig ———————— 3
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Adalbert Stifter, Zuversicht. In: Ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald u. Hartmut Laufhütte. Stuttgart: Kohlhammer 1978ff., Bd. 3,1 (2002), S. 83–91. – Zitate aus dem knappen und überschaubaren Text werden im folgenden nicht im einzelnen nachgewiesen. Vgl.: Gerhard Neumann, »Zuversicht«. Adalbert Stifters Schicksalskonzept zwischen Novellistik und Autobiographie. In: Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag. Hg. von Walter Hettche, Johannes John u. Sibylle von Steinsdorff. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 163–187; allgemein zum hier nicht weiter verfolgten Verhältnis von Stifters Erzählungen zur Novellentradition bes.: Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1993, bes. S. 267–277.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
angesprochen: die anthropologische Frage nach der conditio humana und die hermeneutische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen sowie den Aufgaben des Verstehens. Im Rahmen der Erzählung Zuversicht werden beide Themen aufgegriffen und miteinander verbunden. Gegenstand der Diskussion sind nicht die Ereignisse der Französischen Revolution, sondern die Menschen, welche in dieser Zeit gehandelt haben und deren Handlungsweise als rätselhaft erscheint. Auch die Frage, »wer Recht oder Unrecht« gehabt habe, wird von der Abendgesellschaft nicht diskutiert. Vielmehr geht es darum, die Handlungsweisen »in dem menschlichen Seelenleben zu erklären«, um die »Beweggründe und moralischen Rätsel« zu erkunden. Schließlich stehen sich zwei Meinungen gegenüber. Einige sind der Auffassung, die Menschen hätten »in ihrer entsetzlichen Gemüthsart« der Zeit ihren »abscheulichen Stempel« aufgedrückt; »ein alter Mann« widerspricht dem und betont, es seien die Umstände, welche im Menschen die negative Seite zum Vorschein brächten. Niemand könne von sich selbst wissen, wie er zu jener Zeit gehandelt und welche Eigenschaften jene Zeit an ihm hervorgebracht hätte. Er begründet dies durch eine anthropologische Erklärung, welche zu den meistzitierten Stifter-Sätzen gehört: »wir Alle haben eine tigerartige Anlage, so wie wir eine himmlische haben, und wenn die tigerartige nicht geweckt wird, so meinen wir, sie sei gar nicht da, und es herrsche blos die himmlische«. Man dürfe nicht von der eigenen Zeit und gesunden Konstitution auf die Handlungen schließen, welche in widriger Zeit und vielleicht im ‘Fieber’ begangen wurden, denn keiner wisse, »wie wir im Falle eines Nervenfiebers reden oder thun werden«. Diese Äußerung ruft Empörung hervor, denn ein Gesprächsteilnehmer vermutet darin eine Verteidigung der »Männer der Schreckenszeit«. Der Alte jedoch entgegnet, daß er nur die Beurteilungskriterien anders gewichte. Die Diskussion bietet die Basis für die nachfolgende rätselhafte Geschichte: Diese handelt von einem adligen Vater und seinem Sohn, die in enger Verbindung, gegenseitiger Aufmerksamkeit und Liebe ein geradezu ideales Leben führen, bis der Sohn sich in ein bürgerliches Mädchen verliebt und dies dem Vater verschweigt.5 Die gegenseitige und gewiß ernsthafte Verbindung der jungen Leute wird in aller Heimlichkeit enger, und ———————— 5
Das könnte eine Deutung der Erzählung aus der Mesalliance nahelegen, wie sie G. Neumann (»Zuversicht«, S. 166) versucht hat, der dabei auf die brüchige Genealogie des in der Geschichte erwähnten Sohnes dieser Verbindung – nun Privatlehrer am Ort der Rahmenerzählung – eingeht. M. E. ist die Frage der Doppelnatur des Menschen von gewichtigerer Bedeutung, während die adlige Stellung von Sohn und Vater eher auf eine vorbürgerliche Leidenschaftlichkeit verweist, denn für Stifter ist das Selbstbeherrschungs- und Mäßigungskonzept zum einen Teil eines bürgerlichen Selbstverständnisses, zum anderen einer sich historisch in der Verbürgerlichung der Gesellschaft durchsetzenden Sittlichkeit. – Vgl. im Kontext a.: Lukas, ‘Gezähmte Wildheit’.
2.1. Ein Umweg als Einstieg – Adalbert Stifters Romanprojekt Maximilian Robespierre
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schließlich wird das Mädchen schwanger. Nun muß der Sohn es doch dem Vater beichten; dieser jedoch gerät in »äußerste Entrüstung«, rauft sich die Haare und schickt seinen Sohn nach Paris. Dort wird der junge Emil von den Wirren der Zeit erfaßt, der Kontakt zum Vater bricht ab. Doch eines Tages stehen sich Vater und Sohn auf den feindlichen Seiten gegenüber. Der Vater zückt den Degen, setzt dem Sohn nach; dieser fühlt sich in die Enge getrieben und erschießt den Vater. Neigt sich hier noch die Schuld für das Ereignis zum Vater, so wird durch einen beim Toten gefundenen Versöhnungsbrief an den Sohn die verhängnisvolle Situation in ein anderes Licht gestellt, und es erschient nun der Sohn als ein ‘Vatermörder’. Emil wählt darauf den Freitod. So jedenfalls – als Vatermord – verstehen es die Zuhörer bei der Abendgesellschaft, die ins Schweigen verfallen, »weil Jeder den Dämon des Vatermordes mit düsteren Augen ansah«. Doch ist die Beunruhigung nicht von langer Dauer, die Gäste gehen nach Hause, »lagen in ihren Betten und waren froh, daß sie keine schweren Sünden auf dem Gewissen hätten«. Ganz so belanglos ist die Erzählung freilich nicht; vielmehr zeigt sie unter der Hand recht genau die Probleme, die für Stifter aus einer Geschichtsschreibung erwachsen können. Die Handlungen der Personen und die Dokumentation der Handlung geben keine Auskunft über Schuld und Verbrechen, sondern lenken von den Ursachen ab. Immerhin wird der Sohn vom Vater bedrängt, denn dieser »riß seinen Degen aus der Scheide und drang auf ihn ein«. Aus diesem Satz, der ja nicht die Perspektive des Sohnes wiedergibt, läßt sich kein Mißverständnis konstruieren, welches dann den Sohn zum Schuldigen stempelte. Aber auch der Brief spricht eine deutliche Sprache der Versöhnung. Beides, Brief und Degen, passen nicht zusammen: Die Erzählung ist ein Rätsel, und das Ereignis soll rätselhaft sein, denn letztlich ist es nur eine Verkettung von Zufällen, welche zur Katastrophe führt. Wäre die Zeit der Französischen Revolution nicht, dann stünden sich beide nicht in dieser Weise gegenüber und wären nicht gegenseitig zum Mörder des anderen geworden. Hier nun stimmt die Erzählung mit der Einführung durch den Alten zusammen: die Zeiten führen nur dazu, daß eine Anlage sich äußert, die andernfalls verborgen geblieben wäre. Und diese »tigerartige« Anlage wird im Text deutlich hervorgehoben. Die Idylle zwischen Vater und Sohn zerbricht nicht auf dem Schlachtfeld, sondern durch die ungezügelte Leidenschaft des Sohnes zu dem bürgerlichen Mädchen (»Schwärmerei des Gefühls«), welche seine Vernunft so außer Kraft setzt, daß er »kaum auf etwas anderes denken« konnte. Dieselbe ungezügelte Leidenschaft weist aber auch die Reaktion des Vaters auf, der nicht gerechten Zorn zeigt, sondern in Raserei fällt; er »rannte in dem Zimmer herum, raufte sich die Haare«. Die Verfehlung liegt also bereits vor dem verhängnisvollen Ereignis auf dem Schlachtfeld und tatsächlich dort, wo sie auch dem Alltag der Zuhö-
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
rer sehr viel näher liegen würde, die sich aber von dem einerseits entsetzlichen, andererseits singulären Vatermord zugleich blenden und beruhigen lassen. Stifter geht es hier sichtlich nicht darum, die »Schreckenszeit« der Französischen Revolution nachzuzeichnen (so H. Augustin)6 oder das Versagen des Menschen in einer konkreten Entscheidungssituation vorzuführen (so Sengle),7 sondern um die anthropologische Beobachtung der als latente Bedrohung der Ordnung stets gegenwärtigen Doppelnatur des Menschen, und bis ins letzte Detail vermeidet er die Möglichkeit einer Schuldzuweisung, denn auch in den Leidenschaftsausbrüchen stehen Vater und Sohn im gleichen Licht: Verfehlung steht Verfehlung gegenüber. Diese immanente Lektüre von Stifters Erzählung gewinnt zusätzlich an Profil, wenn sie auch im Zusammenhang mit dem aufgegebenen Plan zu einem voluminösen historisch-biographischen Roman gelesen wird: als eine Absage an die Biographie und das eigene biographische Erzählprojekt, welches sich der Gefahr aussetzt, die individuellen Handlungen und Ereignisse als sensationell zu betonen und dadurch die weit schockierendere, da anthropologische Dimension in den Hintergrund zu stellen. Das bei Stifter aufgeworfene Problem soll als eine mögliche literarische Option im Horizont der biographischen, historiographischen und literarischen Darstellungs- und Denkformen der Zeit aufgefaßt werden, um vor allem den Möglichkeitshorizont selbst exemplarisch zu beschreiben: die Absage Stifters an die Biographik als Zugang zur Reflexion über die Spielräume biographischer Gattungen. Hierzu freilich ist weiter auszuholen, und dies soll in sechs Schritten erfolgen: 1.) ist die in der Rahmenerzählung genannte Voraussetzung auf ihre Grundlagen zu prüfen: Die Abendgesellschaft fragt nicht nach einem Urteil, sondern nach einer seelischen und sittlichen Erklärung. Das Verhältnis der ethischen zur psychischen Fragestellung und die daraus abgeleitete Zurückhaltung in einem wertenden Urteil ist diskursiv kenntlich zu machen. 2.) stellt sich die Frage, ob es eine Biographik gibt, welche diese Voraussetzungen sich zur Aufgabe setzt. Dabei soll der Blick auf die ‘biedermeierliche’ Biographik von Varnhagen von Ense und Ernst von Feuchtersleben gelenkt werden. 3.) wäre das Verhältnis der Historiographie zu den bei Stifter in den Vordergrund gestellten anthropologischen Themen zu prüfen und in der Konkurrenz historischer und anthropologischer Betrachtungsweisen darzustellen. 4.) und 5.) stellt sich das Problem, wie sich die zuvor gezeigten allgemeinen Grundlagen und biographischen Erprobungen zu der von Stifter ———————— 6 7
Hermann Augustin, Adalbert Stifter und das christliche Weltbild. Stuttgart: Schwabe 1959, S. 128. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 966.
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
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erwogenen Stoffwahl verhalten: Auf welche Traditionen oder Positionen läßt sich die Gestaltung eines heroischen Stoffes ein, und wie verhalten sich diese zur Debatte um historische Ausnahmegestalten (HeroismusDiskussion) und Helden des Alltags (liberale Leistungsethik) in der Biographik der Zeit. In einem abschließenden Abschnitt werden 6.) anhand tatsächlicher Robespierre-Biographien Konturen eines anthropologisch und psychologisch motivierten biographischen Schreibens skizziert.
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel« In Stifters Erzählung Zuversicht wird die seelische und sittliche Erklärung charakterlicher Erscheinungsweisen vorgeführt und mit dem Hinweis auf die Doppelnatur des Menschen erörtert. Stifter gehört zu denjenigen Autoren, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ethisch-anthropologischen Debatten um den ‘ganzen Menschen’ zu einer spezifisch literarischen Anthropologie umprägen, während die anthropologischen Wissenschaften sich mehr und mehr von diesem ethischen Kerngedanken der Anthropologie entfernen. Die Trennlinie zwischen den Anthropologien (die wiederum für sich jeweils Sammelbecken unterschiedlichster Richtungen und Disziplinen sind) verläuft vereinfachend gesprochen zwischen der physischen und ethischen Anthropologie. Die literarische Anthropologie, also die Erkundung des Menschen im literarischen Raum, wie sie Stifter zum Programm erhebt,8 steht dabei in der Tradition der von Kant als ‘pragmatisch’ bezeichneten ethischen Richtung (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht), während die Naturwissenschaften und die Medizin diese Aspekte vernachlässigen und sich zunehmend auf die Katalogisierung der physischen Aspekte beschränken. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen wird die pragmatische Anthropologie aus den naturwissenschaftlichen und überhaupt universitären Diskursen und Disziplinen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend verdrängt, und die Versuche etwa des Psychologen Ernst von Feuchtersleben (1806–1849)9 gegen diese Tendenz eine Einheit der Anthropologie zu etablieren, welche zwar physiologische und statistische Forschungen integriert, aber die Überlegenheit der pragmatischen und metaphysischen Aspekte der Menschheitswissenschaft behaupten möchte, standen auf der Verliererseite der Wissenschaftskon———————— 8
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In seiner bekannten »Vorrede« zu den »Bunten Steinen« erfüllt erst der ‘Dichter als Menschenforscher’ den Auftrag der Literatur, an der Ausbildung und am Erhalt des Sittengesetzes mitzuwirken. Vgl.: Stifter, Werke und Briefe, Bd. 2,2 (1982), S. 9–16, hier S. 13. Vgl. Ernst v. Feuchtersleben, Fünf Vorlesungen über Anthropologie. (Bestimmt zu Vorträgen im Theresiano.) 1849. In: Pädagogische Schriften. Hg. von K. G. Fischer. Paderborn: Schöningh 1963 (Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften. Quellen zur Geschichte der Pädagogik), S. 6–41.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
junktur. An die Stelle dieser Positionen trat die literarische Anthropologie.10 Da es sich bei den anthropologischen und ethischen Positionen, an welche Stifters Ausführungen anschließbar sind, um Konzepte handelt, die bis in die moderne Biographik weiterwirken, sollen diese hier knapp skizziert werden. Ich greife dabei vor allem auf Kant, Johann Friedrich Herbart (1776–1841) und auf Ernst Freiherr von Feuchtersleben zurück, der selbst wiederum Kant und Herbart neben Fichte als wichtige Bezugspunkte häufig erwähnt; wobei nicht eigens darauf hingewiesen werden muß, daß gerade für Feuchtersleben und Stifter auch Herder und Wilhelm von Humboldt gewichtige Stützen der eigenen Orientierung waren. »Jedes Ding ist durch seine Individualität unterschieden von den andern gleicher Art. Die unterscheidenden Merkmale nennt man oft individuelle Charaktere; […].«11 Mit diesen Worten leitet der humanistische Pädagoge Johann Friedrich Herbart in seiner Allgemeinen Pädagogik (1806) seine Gedanken zur Differenzierung der Begriffe ‘Individualität’ und ‘Charakter’ ein – zur Differenzierung zweier Begriffe, die zunächst eng miteinander verbunden scheinen. Der bis heute auch emphatisch gebrauchte Begriff ‘Charakter’ wird bis weit ins 19. Jahrhundert hinein noch häufig synonym gebraucht mit dem Begriff ‘das Charakteristische’. Während in ethischen Kontexten der Begriff ‘Charakter’ die Stellung des einzelnen zum Tugendsystem markiert und Tugend als Ausdruck des sittlichen Charakters verstanden wird, handelt es sich zunächst in der Bedeutung ‘das Charakteristische’ um einen neutralen Begriff: Charakter bezeichnet dann die Menge derjenigen Merkmale, die ein Individuum, eine Gruppe (z. B. ‘Familiencharakter’) oder eine Nation (‘Nationalcharakter’) von anderen unterscheidet, wobei je spezifische äußere und innere Merkmalsgruppen zur Beschreibung des Charakteristischen herangezogen werden: etwa Klima und Gesetzgebung oder Bildung und Abstam———————— 10
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Mit Bezugnahme auf Stifter vgl.: Wolfgang Proß, Literatur und Anthropologie – ihre Berührungspunkte in der österreichischen Literatur von Herder zu Freud. In: Die Österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert. Hg. von Herbert Zeman. Graz 1982, S. 279–295, bes. S. 280–283. Proß spricht von einer Disfunktionalität zwischen Literatur und Wissenschaft: die Literatur verpasse den Anschluß an die Entwicklungen in den wissenschaftlichen Diskursen hin zu anatomischen Fragestellungen. Vgl. a. zur damit einhergehenden Entwicklung in der Medizin von anthropologischen Fragestellungen zur anatomisch-pathologischen Wissenschaft und ‘Sezierkunst’: Wolfgang Frühwald, Die Entdekkung des Leibes. Über den Zusammenhang von Literatur und Diätetik in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Brenner-Archivs 10 (1991), S. 13–23. Johann Friedrich Herbart, Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. 1806. In: Ders., Sämtliche Werke. In chronologischer Folge hg. von Karl Kehrbach. Bd. 2. Langensalza: Hermann Breyer & Söhne 1887, S. 1–226, hier S. 32f.
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
61
mung.12 In diesem Sinn wird der Charakter als das Charakteristische etwa in der Anthropologie Wilhelm von Humboldts zum Ausweis der Individualität des einzelnen, des Geschlechts, der Nation etc.13 Im anthropologischen Kontext verzichtet Humboldt dabei auf einen ethisch-emphatischen Charakter-Begriff, ja, es läßt sich eine weitgehende Absenz der moralischen Wertung in seinem Entwurf einer Anthropologie feststellen. Als Begriff zur bloßen Beschreibung von Differenzmerkmalen bleibt der ‘Charakter’ auch weiterhin erhalten, ohne daß daneben ein ethischer Charakterbegriff stets mitgedacht würde; dies belegen etwa die Artikel im Ästhetischen Lexikon (1839)14 oder im Neuen elegantesten ConversationsLexicon für Gebildete aus allen Ständen (1843).15 Auch Stifter, der in seiner Erzählung Zuversicht nicht von den Menschen, sondern von den Charakteren zur Zeit der Revolution spricht, schließt an diesen Begriff an: Die Charaktere sind zunächst einmal die einzelnen, voneinander unterscheidbaren Personen (und nicht etwa moralische Charaktertypen). Die moderne Bedeutung von ‘Charakter’ – in moralischer sowie in psychologischer Hinsicht – entwickelte sich wohl zuerst im Rahmen einer höfischen Hof- und Weltklugheit,16 welche die Charakterkunde als eine diplomatische Hilfslehre beschrieb, die dazu befähigen sollte, aus den äußeren Minen, Gesten und Handlungen auf die Meinungen und Absichten schließen zu können. Erst dadurch konnte der Begriff unter den philosophiegeschichtlichen Wandlungen des Rationalismus zum Zentralbegriff einer Vernunftethik werden. Das bekannte, vielfach aufgelegte Philosophische Lexicon von Johann Georg Walch etwa erhielt erst in der von Justus Christian Hennings bearbeiteten vierten Auflage (1775) im Artikel »caracter« einen Zusatz zum moralischen Charakter-Begriff.17 In dem Artikel ———————— 12
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Als Begriff zur Differenzierung von Gruppeneigenheiten wird zum Beispiel in der Reiseliteratur des 18. Jh.s das Charakteristische als die Menge der Differenzmerkmale der Nationen beschrieben. In diesem Zusammenhang wird mitunter auch von einem ‘moralischen Charakter’ gesprochen, mit dem dann besonders die ‘eigentümlichen’ Verhaltensnormen bezeichnet werden, wobei Tugendkonzepte als Beurteilungsmaßstab mitschwingen, der Begriff Charakter aber nicht emphatisch die individuelle Sittlichkeit bezeichnet. Vgl.: Wilhelm v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Ders., Werke. Erster Band. 1785–1795. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin: Behr 1903, S. 377–410, bes. S. 377ff. Ästhetisches Lexikon Hg. von Ignaz Jeitteles. Bd. 1. Wien: J. G. Ritter von Mösle’s Witwe und Braumüller 1839, S. 134–136. Neues elegantestes Conversations-Lexicon für Gebildete aus allen Ständen. Hg. von O. L. B. Wolff. Bd. 1. Leipzig: Kollmann 1843, S. 343f. (»Character«). Vgl.: Characterisiren. In: Walch, Philosophisches Lexicon, Bd. 1, Sp. 522–529. Hier geht es u.a. um den praktischen Nutzen der Charakterkenntnis etwa im diplomatischen Verkehr. Dabei werden die Charaktere noch traditionell aus der Mischung der Temperamente, nicht aus ihren moralischen Grundsätzen abgeleitet. Vgl.: caracter. In: Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon […] vermehret […] von Justus Christian Hennings. 2 Bde. Leipzig 1775, Bd. 1, Sp. 513–522. 4
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
»Charakter« der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie (1819) steht schließlich der ethische Charakterbegriff deutlich im Vordergrund; entsprechend wird hier auch der Begriff ‘charakterlos’ gebraucht,18 der erst in ethischer Hinsicht eine Bedeutung haben kann. Wenn so zwischen etwa 1770 und 1840/50 der Begriff ‘Charakter’ erst allmählich zu einem sittlichen Begriff wird – er ist dies nie ausschließlich – und ins Zentrum der ethischen Diskussion rückt, wäre dieser Zeitraum als Konstitutions- und Konsolidierungsphase eines vernunftethischen Menschenbildes zu bezeichnen, welches schließlich in die Konstitution einer spezifisch bürgerlichen Anthropologie mündet. Die unterschiedlichen Charakterbegriffe vom National- und Geschlechtscharakter bis zum Charakteristischen und ‘Charakter’ des Individuums werden bei Immanuel Kant nebeneinander verwendet. Kant differenziert in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, 21800)19 zwischen unterschiedlichen Charakterbegriffen, namentlich zwischen einem »physischen« und einem »moralischen« Charakter, welche die Dualität von Natur und Vernunft, in Kants Terminologie von ‘Physis’ und ‘Moral’ des Menschen spiegeln. Der physische Charakter bezeichnet dabei besonders die körperliche Konstitution, den ‘Charaktertyp’ seiner natürlichen Anlage; ihm gilt nicht das definitorische Bemühen Kants. Er wendet sich dem für ihn wichtigeren Begriff des moralischen Charakters zu, für den er in einer weiteren Differenzierung drei Kategorien findet, die das ‘Charakteristische’ einer Person ausmachen: »Naturell«, »Temperament« und den »Charakter schlechthin, oder Denkungsart«.20 Dabei markiert das Naturell die physische Anlage (etwa zur Gutmütigkeit), die auf dem »Gefühl der Lust oder Unlust« beruht und weder von Grundsätzen bestimmt wird noch einen festen Bezug zu Tätigkeiten aufweist. Das ‘Naturell’ oder die ‘Gemütsart’ ist eine subjektive, gefühls- und neigungsbetonte Anlage, welche den moralischen Zwecken auch entgegen stehen kann. Der Charakter bezeichnet dagegen den auf moralische, sittliche Zwecke gerichteten und vernunftgeleiteten Willen des Menschen in der Orientierung an objektiven Prinzipien (durch Einsicht). Wenn Stifter in seiner Erzählung Zuversicht bereits in der Rahmenerzählung die These diskutiert, ob die Menschen »in ihrer entsetzlichen Gemüthsart« die Revolution nicht erst so ‘abscheulich’ gemacht hätten, so werden bereits vor der Erwähnung der ———————— 18
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dd., Charakter. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon.) In zehn Bänden. Bd. 2. 5. Orginal-Ausgabe. Leipzig: Brockhaus 1819, S. 490–499. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Insel 1964 (Werke in sechs Bänden 6), S. 395–690. Ebd., S. 625.
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
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beiden Anlagen (himmlisch und tierisch) Sitte und Gemütsart als gegenläufige Pole des Menschlichen bestimmt, und es wird die Naturanlage als potentiell die Ordnung gefährdend eingeführt (s. u. zu Feuchtersleben). Zwischen diesen beiden Aspekten des Charakters ist das Temperament eingefügt als ein sowohl körperlich als auch seelisch bedingter und bedingender Übergangsbereich. Das Temperament beruht einerseits wie das Naturell auf einem inneren Gefühl, auf den physisch-psychischen Temperamenten (sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch), erweist sich aber andererseits durch äußerlich zuzuordnende Handlungsund Verhaltensweisen.21 Während das Temperament noch grundlegend von der Natur des Menschen bestimmt ist, äußert sich so der Charakter im engeren Sinn durch die Freiheit von der Natur: »und nur das letztere gibt zu erkennen, daß er einen Charakter habe«.22 Der eigentliche, moralische Charakter wird von Kant – in Abgrenzung zum bloß ‘Charakteristischen’ – als ‘Denkungsart’ bezeichnet. Es handelt sich dabei um einen normativ-sittlichen Begriff. Der Charakter im Sinn von Denkungsart gehört nicht zu den Anlagen des Menschen, sondern muß als ein besonders hohes Gut erst erworben werden. Dabei betont Kant eher die Ausbildung des Verstandes und der Vernunft, die Grundlage der sittlichen Entscheidungen werden, während später Herbart stärker die Einübung in gute Gewohnheiten und eine Erziehung zur Sittlichkeit selbst anerkennt, wodurch auch Kinder bereits moralische Charaktere werden können.23 Beide sehen die Funktion des Charakters in der Kontrolle des bewußten Wollens im Gegensatz zu den Begehrlichkeiten des Körpers; dabei besteht der Charakter in der Orientierung an sittlichen Normen, die nicht allgemein festgeschrieben, sondern durch Vernunft erkannt worden sind:24 Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.
Die Vernünftigkeit der Person hängt von der Stärke und Richtung des Willens ab, der als zweckgerichtetes Begehrungsvermögen aufgefaßt wird. Herbart versteht, um wieder auf die eingangs angedeutete Differenz zwischen Individualität und Charakter zurückzukommen, unter dem Begriff ‘Charakter’ das Charakteristische des Willens, während der physische Charakter des Menschen – das Charakteristische der Naturanlage – ———————— 21 22 23
24
Ebd., S. 627. Ebd., S. 634. Vgl.: Bernhard Dieckmann, Bildsamkeit und Sittlichkeit. Anthropologische Implikationen im Denken Herbarts. In: Christoph Wulf (Hg.), Anthropologisches Denken in der Pädagogik 1750–1850. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1996, S. 182–195. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 633.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
insgesamt der ‘Individualität’ zugeordnet wird: »[…] Kinder haben sehr kenntliche Individualitäten, ohne noch Charakter zu besitzen.«25 Denn der Charakter zeichnet den Menschen als vernünftiges Wesen aus; er ist das Resultat der Erziehung und zeigt sich in der »Art der Entschlossenheit« des Willens;26 er bezeichnet »das, was der Mensch will, verglichen mit dem, was er nicht will.«27 Wichtig ist dabei die fundamentale Umwertung, die der Begriff ‘Individualität’ erhält. Im Gegensatz zum Willen und zum Charakter, die dem Bewußtsein zugeordnet werden, repräsentiert die ‘Individualität’ diejenigen Eigenheiten des Menschen, die unbewußt sind. »Der Charakter äussert sich […] gegen die Individualität fast unvermeidlich durch Kampf.« Es ist dies der Kampf des bewußten Wollens gegen die ‘Begehrlichkeiten’ der ‘dunklen Wurzel’ des Menschen28 – gegen die Quelle seines Egoismus.29 Das Ideal eines sittlichen Charakters wird schließlich für Herbart dadurch erfüllt, daß sich der einzelne nicht äußeren Ansprüchen aus Gehorsam unterordne, sondern sich durch Gewohnheit und Erziehung die Sittlichkeit zu eigen mache und aus eigenem Wollen die Tugend übe.30 Die Individualität wird zugunsten der Charakterbildung deutlich eingeschränkt. ———————— 25 26 27 28 29
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Herbart, Allgemeine Pädagogik, S. 33. Ebd., S. 33. Ebd., S. 90. Ebd., S. 33. Ziel der Erziehung ist es nach Herbart zwar nicht, die Individualität des Kindes zu verdrängen, aber sie durch die Erziehung auf das pädagogische Ideal hin zu glätten. Ecken und Kanten – »die äussersten Hervorragungen« – der Individualität sollen nur so weit erhalten bleiben, »sofern sie den Charakter nicht verderben«. Ebd., S. 35. Vgl.: Ebd., S. 94ff. – Sittlichkeit kann so nicht als ein dem Menschen immer schon vorgegebenes Gut verstanden werden, sondern stellt die Lebensleistung des pflichtbewußten und entsagenden, des willensstarken und vernünftigen Individuums dar; Jürgen Hüllen faßt zusammen: »Die Neuzeit macht das Moralischsein in erster Linie zu einer Frage der Affekte und Leidenschaften, des Willens und des Gefühls und hängt es weitgehend von der Frage des Erkennens der Normen und Werte durch das handelnde Subjekt ab. Jetzt muß das einzelne Subjekt entscheiden, […]. Der Mensch richtet sich nicht mehr nach erkannten Werten und Normen aus, sondern schafft sie oder akzeptiert sie, verwirft sie oder kritisiert sie; die Tugend wird zum Objekt des über sie entscheidenden Subjektes.« (Jürgen Hüllen, Ethik und Menschenbild der Moderne. Köln u. Wien: Böhlau 1990, S. 55.) Indem Tugend zum Ziel freier rationaler Entscheidungen des einzelnen wird, gewinnt ein emphatischer Charakterbegriff an Bedeutung und wird Ausdruck der Emanzipation des mündigen Individuums und seiner Verantwortlichkeit als Bürger. Für Hegel etwa stellte der Charakter die Vermittlerinstanz zwischen Individuum und Staat dar. Das sittliche Verhältnis zwischen beiden sei die eigentliche »Tugend« und »Rechtschaffenheit«, »die einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört«. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und Zusätzen. Hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2 1989, Werke 7, § 150, S. 298.) Diese Vorstellung bestimmt bis in die Gegenwart hinein den Tugendbegriff; Tugend wird verstanden als Synthese des individuellen Selbstentwurfs mit der Verantwortung für das Allgemeine: als eigenverantwortliche Umsetzung der
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
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Wenngleich Stifter in seiner Erzählung den Begriff »Charaktere« zunächst auf die charakteristische Erscheinung der einzelnen Menschen bezieht, so zeigt sich, daß auch andere Aspekte mitschwingen, denn die Diskussion entspannt sich über »Entscheidungen, die plötzlich an Charakteren hervorgesprungen sind, von denen man ganz andere erwartet hätte«. Die Erwartung an die »Charaktere«, die sich durch eine ‘Entschlossenheit’ und ‘Richtung’ des Wollens auszeichnen, ist, daß sie dieser Richtung gemäß handeln. Die einzelnen Menschen handeln ‘charakterlich’ aufgrund einer rationalen Entscheidung des Verstandes (Kant) oder auf der Basis von angeeigneten ethischen Grundüberzeugungen (Herbart) gegen die eigene Triebhaftigkeit, das bloße Begehren, den Egoismus, die ‘Individualität’. Die plötzlichen Erscheinungen, die unerklärlich sind, könnten insofern den Charakter ein Stück weit in Frage stellen. Es ist deutlich, daß eine solche Auffassung von der Individualität und dem Charakter Konsequenzen für die Erzählung von Charakteren oder eben für das biographische Schreiben haben müßte: Eine ereignishafte Biographik, welche nur den äußeren Lebenslauf nacherzählt, oder eine Biographik, welche den Menschen in der Orientierung an sozialen Rollen etc. zeigt, hat hier ebensowenig einen Ort wie die Schilderung intuitiv handelnder, genialischer Ausnahmemenschen: »Künstlerlaunen sind nicht Charakter« (Herbart).31 Stifters Erzählung spielt geradezu mit dem zuerst genannten Fall, da sie zeigt, wie die Konzentration auf Ereignisse und konkrete Handlungen den Blick von den seelischen Ursachen abzulenken vermag. Eine Biographie, die sich nach diesen Vorgaben richten soll, hätte etwa die Lebensgeschichte als eine Erziehungsgeschichte zu beschreiben, in welcher schließlich der Charakter ausgebildet wird.32 Oder sie könnte als eine innere Geschichte des Menschen aufgefaßt werden, bei der der Biograph jeweils vor der schwierigen Aufgabe stünde, äußere Erscheinungen und Handlungen aus inneren Ursachen im Konflikt zwischen Charakter und Begehren darzustellen. Vor allem aber ergibt sich ein Problem im Spannungsfeld von Individualität und Charakter, denn eine Individualbiographie, welche den unverwechselbaren einzelnen skizziert, muß unter diesen Vorzeichen als Geschichte zunehmender Individualität zugleich die Lebensgeschichte als Geschichte der Normabweichungen ————————
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Norm. Vgl.: Dietmar Mieth, Wiederbelebung und Wandel der Tugenden. In: Hans-Jürg Braun (Hg.), Ethische Perspektiven. »Wandel der Tugenden«. Zürich: vdf 1989 (Zürcher Hochschulforum 15), S. 5–23, hier S. 9. Herbart, Allgemeine Pädagogik, S. 103. Da es sich folglich nicht um Ausnahmemenschen handelt, liegt es nahe, eine solche Form der Lebensdarstellung nicht in Biographien sondern vor allem in literarischen Texten zu suchen, in denen ‘Anti-Helden’ mit entsprechenden Erziehungsgeschichten versehen werden. Zu denken wäre etwa an Adalbert Stifters Erzählungen »Kalkstein« oder »Die Mappe meines Urgroßvaters«.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
beschreiben. In der Erfüllung des sittlichen Zieles dagegen wäre sie eine Geschichte der Einschränkung der Individualität, der Entsagung, der Leidenschaftslosigkeit. In diesem Sinn ist etwa die verspätete Initationsgeschichte Augustins in Stifters Mappe meines Urgroßvaters konzipiert. Für eine Biographie dagegen müßte es sich als Problem erweisen, wenn Konflikte zwischen Individualität und Sittlichkeit (Gesellschaft) immer zugunsten der letzteren ausgetragen würden. Das hieße wohl die Eigenheit des Individuums biographisch zu disziplinieren. Andererseits erscheint vor diesem Hintergrund die – noch darzustellende – Präferenz biedermeierlicher Lebensdarsteller für das Charakterbild statt der Lebenserzählung konsequent, in welchem der einzelne Mensch hinreichend durch die Bestimmung seines ‘Wollens’ charakterisiert ist, insbesondere wenn es sich gerade nicht um außergewöhnliche tragische Heroen (wie Robespierre), sondern um Menschen handelt, die in besonderer Weise ihren Charakter ausgebildet haben. Für Stifters Erzählung und eine Biographik, welche seinen in dieser Erzählung skizzierten anthropologischen Grundlagen der Beurteilung von Handlungen gerecht werden soll, ist hier noch genauer auf die Doppelnatur des Menschen einzugehen. Auch für den Verfasser des Artikels »Wille« in der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie (1820) steht außer Frage, daß der Wille im engeren Sinn ein moralischer Wille ist. In Abgrenzung vom tierischen Begehren (arbitrium brutum) sei der moralische Wille als Differenzmerkmal des Menschen »das Vermögen, das Vernünftige oder an sich Gute zu bestreben«.33 Der Wille sei die ethische Kraft des freien Menschen, der sich dafür entscheiden kann, das Gute zu ‘wollen’ oder eben sich dem Trieb hinzugeben. Etwas differenzierter ist der Artikel in Wilhelm Traugott Krugs Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften (1834). Dort wird der Wille zunächst als triebgesteuert vorgestellt:34 Allein der Wille kann sich auch zweitens über diese Herrschaft [des Triebs] erheben; denn er kann wollen, was der Trieb verabscheut (z. B. den Tod für’s Vaterland) und nicht wollen, was der Trieb begehrt (z. B. fremdes Gut). Insofern heißt der Wille frei. […] der Wille bekundet dadurch seine Freiheit am stärksten, daß er sich den Gesetzen der praktischen Vernunft (den Rechts- und Tugendgesetzen) unterwirft, und daher nur das schlechthin (absolut) oder sittlich Gute will, das Böse aber nicht will. ———————— 33 34
Wille. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819, Bd. 10, S. 741. Wille. In: Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearb. und hg. von Wilhelm Traugott Krug. 2., verbess. u. verm. Aufl. 4 Bde. und ein Supplementbd. Leipzig: Brockhaus 1832–34, 1838 (Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969), Bd. 4 (1834), S. 519–521, hier S. 520, ferner: Bd. 5 (1838), S. 463–465.
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
67
Abgegrenzt von diesem moralischen Wollen wird der unreine Wille, das rein sinnliche Begehren. Relativiert wird diese strenge Trennung von Moral und Sinnlichkeit durch den Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Menschen, dessen Wollen im Gegensatz zum reinen Willen Gottes, immer auch sinnlich sei; der menschliche Wille sei so immer auch ein »pathologischer, d. h. nicht allem Einfluß sinnlicher Antriebe entzogen«.35 Ist so schon jeder Mensch durch seine triebhafte Anlage auch ‘pathologisch’, so führt es insbesondere zur Pathologisierung des markant ‘triebhaften’ Menschen, wenn in Krugs Allgemeinem Handwörterbuch jede Unterordnung des Wollens unter das triebhafte Begehren konsequent als ‘pathologisch’ verstanden wird.36 Genau in diesem Sinn ist wohl in Stifters Erzählung Zuversicht der Hinweis zu verstehen, die Menschen, die in der Französischen Revolution schreckliche Taten vollbrachten, hätten im Zustand der Krankheit, im Fieber oder im Wahnsinn gehandelt. Die Herrschaft des Triebs ist das Versagen dessen, was den Menschen allererst als sittlich frei und somit als ‘Menschen’ auszeichnet; so heißt es etwa auch bei dem Wiener Arzt Ernst Freiherr von Feuchtersleben (1806–1849): »Die Ohnmacht des Menschen, seine Affekte zu mäßigen, zu beherrschen, nenne ich Knechtschaft.«37 Versagt die Herrschaft des Wollens über die Neigungen, so zeigen sich unter der Herrschaft der Neigungen die Leidenschaften, welche entsprechend in Beziehung zu Wahn und Krankheit rücken. 38 Auch dies wieder korrespondiert mit Stifters Erzählung, denn in der Binnenerzählung wird nicht ein Fieber oder Wahnsinn geschildert, sondern der Ausbruch der Leidenschaften, der beim Sohn als Herrschaft der Neigungen zu dem Mädchen über seinen Verstand deutlich gekennzeichnet ist, während der Wutausbruch des Vaters in seiner Raserei bereits an krankhafte Zustände erinnert. Nicht nur die Leidenschaft, welche den Charakter außer Funktion setzt und die sittliche Orientierung des Lebens aufgibt bzw. auf das Fehlen einer solchen Orientierung hinweist, ist freilich in diesem Sinn pathologisch, sondern überhaupt die (egoistische) Individualität, für welche Leidenschaft und ungezügelte Triebnatur stehen. Herbart interpretiert den Widerstreit zwischen ‘Individualität’ und ‘Charakter’ als körperlich-geistige, leiblich-seelische Doppelnatur des Menschen, welche die philosophisch-anthropologische Diskussion seit der Antike beschäftigte. Schon Platon hatte auf die Doppelnatur des Menschen verwiesen und die Herrschaft des Geistes über den Körper als Ziel ———————— 35 36 37
38
Wille. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819, Bd. 10, S. 741. Krug, Allgemeines Handwörterbuch, Bd. 4 (1834), S. 520. Ernst Freiherr v. Feuchtersleben, Zur Diätetik der Seele. In: Ders., Ausgewählte Werke. Fünf Teile in einem Bande. Hg. von Richard Guttmann. Leipzig: M. Hesse o. J. [ca. 1907/08], S. 432–534, hier S. 495. Ebd., S. 486.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
der Erziehung postuliert; schon Aristoteles hatte dagegen die leibseelische Einheit des Menschen und seine natürliche Anlage zum Sozialwesen betont. Auch im 18. Jahrhundert ist dieser Streit durchaus nicht eindeutig entschieden, denn einem strengen Rationalismus (Christian Wolff) steht die sensualistisch-mechanistische Auffassung des Menschen (John Locke, Johann Karl Wezel) gegenüber, welche auch die Moralität und Vernünftigkeit des Menschen letztlich aus den Einwirkungen der Umwelt auf den Organismus und den Reaktionen »in Säften und Nerven« erklärt.39 Das Problem rationalistischer Konzeptionen und ihre Reformulierung in einer idealistischen Vernunftethik, welche die Sozialität und Sittlichkeit des Menschen auf seine Vernunft und seinen Charakter gründeten, besteht – wie bei Herbart – so stets darin, zu zeigen, wie sich das Bewußtsein über die reine Körperlichkeit erheben kann – das heißt: wie die Selbstbestimmtheit des vernünftigen Menschen von einer naturalen, leiblichen Fremdbestimmtheit begründet werden kann. Einer im 18. Jahrhundert ebenfalls populären Sicht, welche die Sittlichkeit und Sozialität des Menschen gerade durch Natürlichkeit und Naivität gewährleistet sah und eher in der Kultur die Wurzeln für negative Erscheinungen erkannte, trat immer deutlicher die Ansicht von der zu zivilisierenden ‘Triebnatur’ des Menschen gegenüber, welche Sittlichkeit und Sozialität immer schon bedroht.40 Disziplinierung zur »Bezähmung der Wildheit« und Kultivierung des Menschen bilden darum die Grundaufgaben der Erziehung etwa in Kants Über Pädagogik (1803).41 Und einem Rousseau-Ruf: ‘Zurück zur Natur!’, setzt Herbart entgegen: »Naturmenschen bilden, heisst, die Reihe aller überstandenen Uebel womöglich von vorn an wiederhohlen [!].«42 Als die zentrale Instanz zur ‘Bezähmung’ der eigenen Wildheit des Menschen wird dabei die Erziehung des Charakters beziehunsgweise emphatisch zum Charakter aufgefaßt. Für Stifter, dessen Erzählfiguren vorwiegend im ländlichen Raum agieren, von der Natur beständig lernen und ihr Handeln nach den Gesetzen der Natur ausrichten müssen, gilt gleichwohl ebenfalls, daß die Natürlichkeit sittliche Unreife einschließt. Auch hier gilt ———————— 39
40
41 42
Johann Karl Wezel, Versuch über die Kenntniß des Menschen. In: Ders., Gesamtausgabe in 8 Bänden. Jenaer Ausgabe. Bd. 7. Hg. von Jutta Heinz und Cathrin Blöss. Heidelberg: Mattes 2001, S. 7–281, hier S. 95. Es liegt auf der Hand, daß dadurch die auf göttlicher Schöpfung beruhende sinnvolle Eigengesetzlichkeit der nichtmenschlichen Natur zum Problem wird, an dem sich auch Romanautoren immer wieder abarbeiten müssen. Kant, Über Pädagogik. In: Kant, Schriften, S. 693–761, hier S. 706. Herbart, Allgemeine Pädagogik, S. 7. – Eine Konsequenz dieser Auffassung Herbarts für die Erziehung besteht übrigens in seiner Ablehnung einer Pädagogik, die sich auf die Kinder einlasse, sogen. ‘kindgerechte’ Bücher empfehle und den Erzieher auf den längst überwundenen Stand der Kindheit zurückführen wolle. Dagegen müsse der Erzieher mit seiner Erfahrung und Reife als beständiges Vorbild dienen: Vorbildlichkeit entstehe aus Distanz nicht aus Nähe (vgl. ebd. S. 12f.).
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
69
die Parallelisierung Natürlichkeit/Triebhaftigkeit und Sittlichkeit/Bezähmung, denn die Natürlichkeit in dieser Begriffsfassung ist nur ein weiterer Begriff für die egoistischen Triebe der Individualität, welche sich noch nicht der ordnenden Charakterbildung unterworfen hat. (In Stifters Erzählung Zuversicht könnte die Wahl der Liebenden, auch Naturräume oder romantische Traditionsräume für heimliche Begegnungen aufzusuchen, wohl in diesem Sinn gedeutet werden.) Eine deutliche Spannung besteht so auch in den vernunftethischen Konzeptionen zwischen der Originalität des einzelnen Charakters und der Normativität sittlichen Handelns. Dieses Problem erweist sich im Konflikt zwischen der Freiheit des einzelnen und den Verhaltensnormen der Gemeinschaft – wie ihn Emil in Zuversicht erlebt –, aber er liegt auch in der Frage, wie herausragende einzelne sich profilieren können gegenüber den menschheitlichen Gedanken, welche der sittlichen Norm zugrunde liegen. Damit handelt es sich auch um ein Problem der Biographik. Die ‘Denkungsart’ – also Kants Bezeichnung für den Charakter im engeren Sinn – bezeichnet feste Grundsätze, welche die Denkweise und Ansichten der Person bestimmen,43 oder überhaupt die charakteristische Weise des Menschen, seinen Verstand bzw. seine Vernunft zu gebrauchen.44 Krugs philosophischem Handlexikon zufolge ist sie das Resultat von »Erziehung, Unterricht, Umgang, Beispiel etc.« und macht den »Hauptzug« des Charakters aus.45 Nach Kant besteht der Charakter des Menschen in individualistischer Interpretation sogar in der »Originalität der Denkungsart«, und wer hierin ein »Nachahmer« sei, der besitze gar keinen Charakter.46 Immer handelt es sich dabei um angenommene Überzeugungen, die als Schnittmenge gemeinsamer Überzeugungen einer Gruppe von Zeitgenossen einem modischen Wandel unterliegen können: »Die Denkart der in einem gewissen Zeitalter lebenden Mehrheit von Menschen heißt auch der Geist dieses Zeitalters oder kurzweg der Zeitgeist.«47 Die Begriffe Wille und Denkart weisen auf die Selbstverantwortlichkeit der Einzelmenschen und Gruppen von Einzelmenschen für ihr Streben, ihre Auffassungen und somit für ihre eigenen Taten. Sie sind Kernbegriffe der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung. Einerseits liegen ihnen Entscheidungen über die Annahme bzw. Ablehnung von Überzeugungen zugrunde, andererseits bieten sie die Grundlage für fol———————— 43 44 45 46 47
Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 633f. Spezifische Denkarten wurden nicht allein Personen, sondern zunächst Gruppen unterschiedlichen Bildungsstandes, unterschiedlicher Nationalität etc. zugesprochen. Denkart. In: Krug, Allgemeines Handwörterbuch, Bd. 1 (1832), S. 578f. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 635. Denkart. In: Krug, Allgemeines Handwörterbuch, Bd. 1 (1832), S. 578f.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
gende Entscheidungen und Handlungen, die auf vernünftigem Urteil fußen und der freien Urteilsfindung entspringen. Der Charakter, die Denkungsart, ist somit Voraussetzung und Garant für die ‘Freiheit’ des Menschen von seiner ‘Natur’, da er im Gegensatz zu Naturell und Temperament dasjenige bezeichnet, was nicht »die Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht« (Kant).48 Diese mögliche Freiheit der Vernunft von naturaler Fremdbestimmtheit durch Bildung und Erziehung schließt jedoch nicht die Wahl beliebiger Verhaltensweisen bzw. Richtungen des Wollens ein; Freiheit meint vielmehr die Möglichkeit des Menschen sich den sittlichen Normen zu unterwerfen – und somit weder soziale noch politische Freiheit. Die Literatur zur Erziehung, zur Diätetik als Selbsterziehung usf. kennt deswegen zahllose Beispiele, welche die Folgen für denjenigen aufzeigen, der sich nicht um diese freie Orientierung an der Sittlichkeit bemüht: Die Freiheit, das Vernünftige zu wollen, stößt an soziale und politische Grenzen, deren Überschreiten den Untergang des einzelnen mit sich bringen können. Nicht selten werden diese Grenzen der Freiheit als Aspekte einer höheren, überindividuellen Ordnung wiederum ‘naturalisiert’, wenn sich in der Natur die vernünftigen Gesetze offenbaren. Vergleichbar etwa mit dem naturgemäßen, ‘sanften Gesetz’ Adalbert Stifters, dessen ‘Sanftheit’ auf der Möglichkeit beruht, sich der ‘sanften’ Ordnung zu unterwerfen, aber gegenüber denjenigen, die diese Möglichkeit nicht wahrzunehmen vermögen, unbarmherzig und ‘unsanft’ wirkt. Der vernünftige Gebrauch der Freiheit wird so an eine Sittlichkeit zurückgebunden, welche den Menschen allererst vom Tier zum ‘Menschen’ als sittlichem Sozialwesen erhebt.49 Nur wer tugendhaft handelt, besitzt in einem emphatischen Sinn ‘Charakter’, und die Freiheit des Charakters besteht darin, sich freiwillig und per Vernunft an allgemeine Normen zu ———————— 48 49
Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 634. Entsprechend legt etwa der in der idealistischen Tradition stehende Philosoph und Pädagoge Joseph Hillebrand (1788–1871) in seiner anthropologisch orientierten »Philosophie des Geistes« (1835/36) dar, daß die Freiheit als die subjektive Kraft des Geistes gegenüber der Allgemeinheit der Natur, nur dadurch sich in ihrem eigenen ‘Wesen’ offenbaren könne, daß sie sich an der Gemeinschaft der Geister in der menschlichen Gesellschaft orientiere, und der einzelne erkenne, daß das »Reich der Freiheit, mit ihr das des Wissens, der Sittlichkeit und Kunst, welche nur ihre besonderen Formen sind, einzig in der Einheit und Gemeinschaft der einzelnen Geister, also auch der Menschen, unter Beziehung auf den höchsten Geist gedeihen könne«. (Joseph Hillebrand, Philosophie des Geistes oder Encyclopädie der gesammten Geisteslehre. 2 Bde. Heidelberg: Osswald 1835/36, Bd. 1, S. 94f.) – Hillebrand verhandelt das Problem nicht im Blick auf das Subjekt, darum auch nicht im Hinblick auf den Charakter. Für ihn stellen Intelligenz, Wille und Phantasie diejenigen Kräfte des Geistes resp. der Seele dar, welche die Freiheit begründen. Dabei wird insbesondere der Wille als Freiheit des Handelns zum Bereich der Moral (ebd., Bd. 2, S. 95ff.).
2.2. »Beweggründe und moralische Rätsel«
71
binden, wie sie Kant zunächst als Verbotskatalog formuliert und schließlich in dem Satz zusammenfaßt:50 Mit einem Worte: Wahrhaftigkeit im Innern des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat; und, da diesen zu haben das Minimum ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich aber auch das Maximum des inneren Wertes (der Menschenwürde): so muß, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter zu haben), der gemeinsten Menschenvernunft möglich und dadurch dem größten Talent, der Würde nach überlegen sein.
Dabei wird sogleich deutlich, daß der Charakter zur anthropologischen Grundlage des Menschen gehört: Jeder Mensch ist vernunftbegabt, und jeder Vernunftbegabte kann zur Tugend geleitet werden. Vernunft und Tugend sind letztlich nicht trennbar. Tugend wird nun – wie schon Wolfgang Martens in seiner grundlegenden Quellenstudie festgestellt hat – verstanden als »humane Leistung, Zeugnis von Vernunft und schöner Menschlichkeit«.51 Hier nun eröffnet sich der anthropologische diskursive Hintergrund für die Präferenz ‘biedermeierlicher’ Lebensbeschreiber für Charakteristiken und Kurzbiographien, welche die charakteristische Kontur des Denkens, die Denkungsart, skizzieren und die humane Leistung des einzelnen darstellen; heroische, quaderhafte Gestaltungen geschichtlicher Größe und tragischer Kämpfe dagegen werden relativiert, wenn der ‘Normalmensch’ anthropologisch ins Zentrum rückt. Hier bestätigt sich auch Sengles These von einer diskursiven (nicht lebenspraktischen) Rücknahme der Individualität gegenüber der Goethezeit (»Ablehnung des konsequenten Individualismus«).52 Die Biedermeierautoren greifen auf Anthropologie und Individualitätsbegriff der Aufklärung zurück. Nicht zufällig ist es eben ein »alter Mann«, der in Stifters Erzählung Zuversicht das anthropologische Problem ins Zentrum rückt, während »ein junger Mann« die Antworten in Ereignissen, Handlungen, aus Quellen eruierten Details sucht und so den Blick vom Allgemeinen auf das Besondere (und Unbedeutende) lenkt. Die angedeuteten biographischen Darstellungsstrategien – die biedermeierliche und die heroische – sollen im folgenden zunächst beispielhaft erörtert werden, bevor abschließend wieder der Blick zurück auf Stifter gelenkt wird.
———————— 50 51 52
Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 637f. Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler 1968, S. 184, vgl. a. S. 231–246. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 68f.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’ Die Biographik zwischen 1815 und 1848, so führt Friedrich Sengle in seiner großen Monographie zur Biedermeierzeit aus, sei »farblos, abstrakt, idealisierend« und nicht innovativ.53 Im Einklang mit seinen Thesen zur verspäteten Darstellung von Individuen in der Literatur und der Rücknahme der ‘konsequenten Individualität’ gegenüber der Goethezeit 54 erkennt er eine eigentliche Entwicklung der biographischen Gattungen erst nach der Jahrhundertmitte. Allerdings hat Sengle dies nicht davon abgehalten, die vorhandenen Tendenzen in der Biedermeierzeit – insbesondere die Präferenz für die ‘Helden zweiten Ranges’ – an Beispielen zu skizzieren.55 Helmut Scheuer, der Sengles Einschätzung gefolgt ist, klammert dagegen einen Großteil der Biographik dieser Zeit – zwischen Goethes Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) und 1848 – aus seiner Darstellung aus. Gleichwohl zeigt sich, daß der nähere Blick sowohl gattungsgeschichtlich als auch allgemein literarhistorisch aufschlußreich ist. Zählen zu den Autoren biographischer Werke doch auch der ‘preußische Plutarch’ Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), Heinrich Laube (1806–1884), Karl Gutzkow (1811–1878) und – in besonderer Nähe zu Stifter – Ernst von Feuchtersleben.56 Die Lebensdarstellung in der Form der mehr oder weniger biographisch oder als Porträt gefaßten »Charakteristik« wurde schon zeitgenössisch als eine »Lieblingsform der jungen Literatur« angesehen (Heinrich Laube).57 2.3.1. Privatcharakter und Geistesaristokratie (Varnhagen von Ense) Der älteste unter den hier näher behandelten Autoren – eine Generation älter als Feuchtersleben, Stifter, Laube und Gutzkow –, der Kritiker und Publizist Varnhagen von Ense 58 war ein äußerst produktiver biographischer Reihenautor, der im breiten Bereich zwischen Nachruf59 und Le———————— 53 54 55 56 57 58 59
Ebd., Bd. 2, S. 307. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 68ff. Ebd., Bd. 2, S. 306–321. Varnhagen und Gutzkow werden von Scheuer nur am Rande erwähnt, Laube und Feuchtersleben finden keine Berücksichtigung. Scheuer, Biographie, Reg. Heinrich Laube, Geschichte der Deutschen Literatur. 4 Bde. in 2 Büchern. Stuttgart: Hallberg 1839/40, Bd. 4, S. 212. Zu Varnhagen von Ense vgl. bes.: Ursula Wiedemann, Karl August Varnhagen von Ense. Ein Unbequemer in der Biedermeierzeit. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1994. Zur Geschichte des Nachrufs vgl.: Ralf Georg Bogner, Der Zeitungs-Nachruf oder das Fortleben von Leichenpredigt und Epicedium im Feuilleton. In: Kai Kauffmann u. Erhard Schütz (Hgg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler 2000, S. 212–228.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
73
bensbeschreibung zu Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte Texte verfaßte, von denen nicht wenige in der Tradition des Winckelmann von Goethe stehen und deren Konzeption ihrerseits wiederum für biographische Kurzformen und Biographien mit literarischem Anspruch im 19. Jahrhundert als vorbildlich galt.60 Heinrich Laube etwa betonte in seiner Geschichte der Deutschen Literatur (1839/40), erst Varnhagen habe die »Form der Lebensbeschreibung […] zu einer selbständig künstlerischen Art gesteigert« und dabei Goethes Winckelmann durch die einheitliche und ‘flüssige’ Darstellung übertroffen.61 Einige der von Scheuer herausgearbeiteten Aspekte von Goethes Darstellungs- und Stilisierungsstrategie 62 lassen sich auch bei Varnhagen zeigen: Der einzelne, der von den Bedingungen seiner Zeit begünstigt wurde, entfaltet seine Anlagen und wächst im harmonischen Verhältnis mit seiner Zeit zur Größe heran. An die Stelle des aufgeklärten Ideals der Erziehung und Vernunftbildung eines jeden einzelnen trat bei Goethe und anderen der elitäre Geistesaristokratismus idealischer Individuation. Nur der außergewöhnliche Mensch konnte demzufolge eine gewisse sittliche Selbstverantwortlichkeit und intellektuelle Freiheit erlangen. Dabei stellen Anlagen und Bildung die eigentliche Voraussetzung dar, auf welcher die gelungene Individuation fußt. Varnhagen von Ense stellt in seiner Biographie des Politikers und Publizisten Friedrich von Gentz (1836) fest:63 Wenn jeder Mensch mit eigentümlichen Anlagen geboren ist, die sich aber nur in seltenem Fall entwickeln, sondern meist im Keim zerdrückt werden, oder in schwachen Regungen doch nur verkümmern, so muß das Hervortreten schon als eine Gunst des Geschickes gelten, wodurch eine Klasse höherer Menschen ausgezeichnet wird, welche man die wahrhaft geschichtliche nennen dürfte.
Im Zentrum der biographischen Darstellung nach goethescher Manier steht, wie Scheuer über Goethes Winckelmann geurteilt hat, die »eigenständige Lebensverwirklichung«: »Als Lebensmaxime wird daraus die Anerkennung einer erstrebenswerten Balance zwischen Selbstentfaltungsdrang und Beschränkung durch äußere Umstände gezogen.«64 Soziale und historische Aspekte werden weitgehend ausgeklammert; der Fokus liegt auf der Individuation des einzelnen, der in vernünftiger Selbstbestimmung sich zu seinem eigenen Ideal bildet und in erster Linie dadurch gesellschaftliche und historische Relevanz erhält. Die individuelle Eigenheit wird dem ethischen und anthropologischen Diskurs der Epoche ent———————— 60 61 62 63
64
So z. B. Gottschall, Vorwort des Herausgebers. In: Der neue Plutarch 1, S. VII. Laube, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 4, S. 211. Vgl. Scheuer, Biographie 1979, S. 43–53. Karl August Varnhagen von Ense, Friedrich von Gentz. In: Ders., Biographien, Aufsätze, Skizzen, Fragmente. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. Ursula Wiedenmann. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990 (Werke in fünf Bänden 4), S. 123–151, S. 123,17ff. Scheuer, Biographie, S. 45.
74
2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
sprechend nicht im öffentlichen Wirken, sondern vor allem im ‘Privatcharakter’ des Biographierten gesucht, der nach üblicher biographischer Praxis, welche vor und parallel zu Varnhagen der erste Goethe-Biograph Heinrich Döring (1789–1862) in den 1820er Jahren zum Serienstil entwickelte, aus Briefzeugnissen, Anekdoten und Freundesmitteilungen erkennbar wird.65 Dies gilt über die Biographik und Charakteristik hinaus: Stifter, der sich von seinem Maximilian Robespierre-Plan abwendet, bearbeitet dafür seine Erzählung der Mappe meines Urgroßvaters. Hier wird deutlich vorgeführt, wie sich in der Geschichte durch die Erzählungen, aber auch allein schon durch den historischen Abstand, die Vergangenheit in einer Reihe lächerlicher Gegenstände und für die Gegenwart bedeutungsloser Wundergeschichten auflöst, während die gefundene und eröffnete Sammlung der Lebensaufzeichnungen (‘Mappe’) das private Leben des Urgroßvaters enthüllt, welches allein in seiner Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit anthropologische, allgemeinmenschliche Umstände zu Tage fördert, die den Graben zwischen Geschichte und Gegenwart schließen: Das Private der Menschennatur verbindet die Menschen. Bei Varnhagen wird die Idealisierung des Bildes in dem Sinn angestrebt, daß die Charakterzüge nicht aus einer die Ereignisse von Tag zu Tag protokollierenden Lebensgeschichte erarbeitet, sondern daß aus der summarischen Darstellung der Werke und Tätigkeit Grundstrukturen deutlich werden, welche die unveränderlichen Eigenheiten des Biographierten bezeichnen: die ‘Gemütsart’, die ‘Denkart’ oder die ‘Wesensart’. Dabei erhalten die Stücke durch den Bezug zum eigenen Freundeskreis oder den Rückgriff auf vertrauliche Geschichten und Privatkorrespondenzen – über die Darstellungsperspektive, die den Privatcharakter ohnehin besonders betont, hinausgehend – mitunter ein tatsächlich ‘privates’ Gepräge. Varnhagens eigene Autographensammlung wurde – wie ähnlich bei seinem biographischen Kollegen Wilhelm Dorow (1790–1846) – zum wichtigsten Fundament der Arbeiten. Viele der biographierten Persönlichkeiten entstammen der jüngeren Vergangenheit, und viele pflegten mit Varnhagen oder mit dessen Frau Rahel Levin näheren Umgang, die dem vertraulich-privaten Ton der Texte entsprechend in der Regel nur mit ihrem Vornamen und ohne weitere erklärende Zusätze genannt wird:66,67 ———————— 65
66 67
Döring biographierte auch Schiller, Klopstock, Bürger, Jean Paul; auffällig sind die relativ geringe Idealisierung und der dokumentarische Charakter der Darstellung. Schattenseiten der Persönlichkeit werden nicht vertuscht, sondern charakterlich hergeleitet. Vgl. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 315f. Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm von Humboldt. In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 184–203, hier S. 184,11f. Karl August Varnhagen von Ense, Prinz Louis Ferdinand von Preußen. In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 78–122, hier S. 122,22ff.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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Die schärfste und tiefste Einsicht in Humboldt’s innerstes Wesen hatte gewiß Rahel. Er [Prinz Louis Ferdinand] schrieb in jener Zeit an Rahel fast täglich; aber fast alles ist verbrannt. Eine Reihe anderer geretteter Briefe dürfte für jetzt noch nicht mitteilbar sein.
Mitunter hat Varnhagen von Ense diesen privaten Charakter durch den Publikationsrahmen noch betont: So wurde eine Sammlung von biographischen Werken von Varnhagen unter dem Titel Galerie von Bildnissen aus Rahel’s Umgang und Briefwechsel (Leipzig 1836) veröffentlicht. Viele biographische Stücke tragen dadurch den Charakter von in die Öffentlichkeit getragenen Denkmälern privater Beziehungen, so die Texte über Leuchsenring (1837/38), Prinz Louis Ferdinand von Preußen (zuerst 1836), Wilhelm von Humboldt (1838) und Koreff (Erstdruck 1871).68 Insbesondere profitiert Varnhagen von dem illustren Freundeskreis Rahels, die ihm überhaupt erst ermöglichte, die später biographisch vorgestellten Persönlichkeiten im privaten Umgang erleben zu können. Rahels Privatkorrespondenz wurde zur wichtigen Quelle seiner biographischen Arbeiten, ohne daß diese freilich lediglich Korrespondenzprotokolle wären. Es handelt sich – wenngleich teilweise aus der indirekten Perspektive des Gatten, der den Freundeskreis seiner Frau umschreibt, – um Beiträge zur populären Freundesbiographik, welche dem öffentlichen Andenken an eine Person gelten, die aus der Privatperspektive des Freundes geschildert wird. Gerade in Koreff werden auch die persönlichen Motive kaum verborgen, die Varnhagen zum Schreiben veranlaßten; denn er schreibt über einen Menschen, mit dem kurz vor dessen Tod die Freundschaft zerbrochen war. Varnhagens Rückblick gilt einem schwierigen Charakter und der Aussöhnung über den Tod Koreffs hinweg. Sengle hat zurecht darauf hingewiesen, daß Varnhagen in besonderer Weise die »Individualität« der Biographierten hervorhebt.69 Im Blick auf die Differenzierung von Herbart wäre gleichwohl eher von dem charakteristischen und charakterlichen Gepräge des einzelnen als von der Individualität zu sprechen, denn vor allem geht es um Bildung und Denkungsart. Varnhagen verzichtet weitgehend auf schematische Darstellungen ———————— 68
69
Alle Texte in: Varnhagen von Ense, Biographien. – Auch andere Biographen widmeten sich Persönlichkeiten des Freundes- und / oder Verwandtenkreises: Caroline v. Wolzogen schrieb über ihren Schwager Friedrich Schiller eine adorative Biographie (Schiller’s Leben. Verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Stuttgart: Cotta 1830); Julius Hitzig biographierte seinen Freund Chamisso (Leben und Briefe von Adalbert Chamisso. 2 Bde. Leipzig: Weidmann 1839f.) usf. Daneben entstanden zahlreiche Texte – nekrologische Biographien, biographische Sterbeund Trauerberichte – ansonsten wenig bekannter Verfasser, die Personen aus dem unmittellbaren Lebensumkreis beschrieben, ohne daß diesen öffentliche Bedeutung zugeschrieben würde. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 312, Anm.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
und betont keine zeittypischen Züge. Selbst bei Persönlichkeiten öffentlicher Wirksamkeit bleiben die historisch-sozialen Zusammenhänge eher blaß, und dies, obwohl Varnhagen Biograph einer spezifischen Generation ist, einer Generation, die von den historischen Ereignissen der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß geprägt wurde – und deren Lebensstil und Lebenswandel der Vergangenheit angehört. Vor allem legt Varnhagen Wert auf den Weg der Bildung zu einem eigenen Charakter. Gegen die Romantiker, die sich entschieden vom Rationalismus auch der idealischen Prägung abwandten und auch gegen jene liberalen Strömungen, welche Goethe eine gesellschafts- und nationferne elitäre Haltung vorwarfen, knüpft Varnhagen von Ense hier bewußt wieder an Goethe an. Besonders seine Schilderung Wilhelm von Humboldt konzentriert sich auf die geistigen Fähigkeiten und Anlagen Humboldts sowie die Geschichte ihrer Entfaltung. »Geist«, »Geistesart«, »Verstand« und »Geisteskraft« sind die immer wiederkehrenden Begriffe. In der Geistesart sucht Varnhagen den eigentlichen Charakter, die Bildung, die individuelle Kontur des Biographierten zu erfassen. Sie zeigt sich im Umgang mit anderen Menschen, in der Erinnerung an das gelehrte Gespräch, im geistreichen Briefwechsel und in anekdotischen Berichten, weniger im eigentlichen Lebenslauf oder in der Auseinandersetzung des einzelnen mit Geschichte und Gesellschaft. Bewahrenswert erscheint der private Charakter, in welchem die Individualität und Eigenheit am deutlichsten ausgeprägt ist. Schon der Literaturkritiker Rudolf Gottschall (1823–1909), der Varnhagens Werke auch als vorbildlich für seine eigene Biographik empfand, hat in seiner Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts betont, Varnhagen von Ense habe es gegen eine an »antiquarischen und philologischen Vermittlungen« orientierte Geschichtsschreibung seiner Zeit verstanden, die »Geschichte zu beleben und individuell zu machen«, wobei neben der Anknüpfung an antik-klassische Vorbilder (Plutarch) vor allem die eigene »Anschauung«, die persönliche Erinnerung förderlich gewesen sei.70 (Vgl. die ähnliche Gegenüberstellung der Geschichtssicht des jungen und alten Mannes in Stifters Erzählung Zuversicht.) In der biographischen Skizze Graf von Schlabrendorff (zuerst 1832) wird diese Betonung des privaten Charakters etwa dadurch deutlich, daß Varnhagen ohne ausführliche Ereignisschilderung sich darauf beschränkt, zu zeigen, wie Schlabrendorff inmitten der Wirren der Französischen Revolution seine eigene ethische Überzeugung bewahrt. Das ethische Gewissen71 des einzelnen zeigt sich ———————— 70
71
Rudolf von Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch bearbeitet. 6., verm. u. verbess. Aufl. 4 Bde. Breslau: Trewendt 1891/92, Bd. 2, S. 36. Als diejenige Instanz, die die Sittlichkeit des Individuums garantieren soll, wird das Gewissen des einzelnen gesetzt. Als individuelle Instanz ethischer Urteilsfindung erhält das Gewissen gerade im Ablösungsprozeß von der ethischen Norm und sozialen ethischen An-
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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gerade in einem Umfeld, in welchem die sozialen und ethischen Normen weitgehend aufgehoben scheinen: »persönliche Tätigkeit widmete er nur dem, was auf dem Schauplatz so wechselnder Ereignisse inmitten so vieler Verbrechen und Greuel sich als wahrhaft gut und rechtlich behaupten ließ«.72 Das Individuum vermag durch die Kraft seiner Vernunft und seines Gemüts auf die sozialen Verhältnisse in gewissem Maß sogar einzuwirken; so vermag Schlabrendorff etwa »durch seinen Geist und Charakter«73 auf Ansichten und Handlungen selbst der führenden Männer der Revolution Einfluß zu nehmen. Und schließlich wird das Gewicht der Darstellung zugunsten des Charakters noch dadurch verstärkt, daß Karriere und äußerliche soziale Stellung abgewertet werden. Varnhagen von Ense notiert über den Biographierten: »niemals fand er sich bewogen, selber eine sogenannte Rolle zu spielen«.74 Die soziale Stellung, der äußere Schein treten gegenüber der menschlichen Leistung des einzelnen in den Hintergrund, seiner auf eigenen Überzeugungen und Gesinnung beruhenden vernunftethischen Konstitution, die freilich dadurch elitäre, aristokratische Züge erhält.75 Konrad Feilchenfeldt und Ursula Wiedenmann ————————
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sprüchen Bedeutung (Adam Weyer, Gewissen IV. Neuzeit/Ethisch. In: TRE 13, 1984, S. 225–234, hier S. 225f.). Galt für Rousseau das Gewissen noch als eine natürliche Anlage des Menschen, als seine »angeborene Liebe zum Guten« (Blühdorn, s.u., S. 204), so wurde von Kant das Gewissen als eine Anwendung vernünftiger Überlegungen (des kategorischen Imperativs) auf das Handeln aufgefaßt: als die Vernunft, mit deren Hilfe der Mensch über sich selbst Gericht halten kann, eine angeborene Fähigkeit, die aber der weiteren Ausbildung und Pflege bedarf (Vgl.: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen. [2. Teil.] Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre [1797]. In: Ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Frankfurt/M.: Insel 1956, Werke in sechs Bänden 4, S. 501–634, hier § 13; vgl. a.. Hartmut Böhme u. Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 352–359). Für Kant, stärker noch für Hegel, wird das Gewissen zur Instanz mit der das Individuum »in sich und aus sich selbst« urteilt. Das Gewissen wird so Teil der ethischen Autonomie des Individuums. (Hegel, Grundlinien, § 137, S. 254ff., hier S. 255). Das Gewissen wird als Leistung der Vernunft und somit als »ein Eigenthum des Menschen« zur Voraussetzung des tugendhaften Charakters eines freien Individuums (Gewissen. In: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2, 1833, S. 265–268, hier S. 266). – Vgl. zur Geschichte des Gewissens den Überblick: Jürgen-Gerhard Blühdorn, Gewissen I. Philosophisch. In: TRE 13 (1984), S. 192–213. Karl August Varnhagen von Ense, Graf von Schlabrendorff. [Gekürzte Fassung von 1875.] In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 62–77, hier S. 64,3–6. – In der 18 Monate währenden Gefangenschaft war Schlabrendorff – so Varnhagen von Ense – »Tag für Tag des Beils der Guillotine gewärtig, ohne daß dieser Zustand sein Gemüt erschütterte oder seine Ansichten wankend machte« (ebd., S. 65,5–8). Ebd., S. 64,12f. Ebd., S. 64,8f. Entsprechend finden sich unter Varnhagen von Enses biographische Skizzen auch Verteidigungen öffentlich verkannter Persönlichkeiten durch den Hinweis auf ihren ‘eigentlichen’ Charakter.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
haben in ihrem Nachwort zur Edition ausgewählter biographischer Arbeiten Varnhagens (1990) festgehalten:76 Je umfassender sich Varnhagens biographische Arbeit entwickelte, um so deutlicher wurde sein Interesse an einem Menschentyp, der nicht durch äußerlich erkennbare und der breiten Öffentlichkeit bekannte Verdienste charakterisiert ist, sondern durch Außenseitertum, ein Sonderlingswesen und Wirken im Stillen. […] Varnhagens biographische Neigung zu scheinbar unbedeutenden Persönlichkeiten trägt typisch biedermeierliche Züge.
Als ‘biedermeierlich’ kann man diese Arbeiten allerdings nur bezeichnen, wenn man damit nicht die Vorstellung idyllisierter Genrebilder verbindet, sondern eine strenge vernunftethische Konzeption des Individuums, die bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein ein reflektiertes Vernunfthandeln des Einzelnen erforderlich macht, die Verantwortung für Glück oder Unglück, für moralisches Scheitern oder heiteren Lebensschluß zwar individuell regelt, aber vorurteilslos den anlagegemäßen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen gegenübersteht: Dies schließt auch die Darstellung des Versagens und Scheiterns ein. Varnhagens Skizze Leuchsenring (1837) stellt in diesem Sinn das Beispiel eines völligen Verfalls dar, denn Leuchsenring wird in zunehmender Verwilderung als egoistischer Grübler geschildert.77 Ein weiteres Beispiel findet sich in der knappen Skizze Karoline von Fouqué (ca. 1831/32), die trotz ihrer intellektuellen und sittlichen Anlagen sich ihrem Mann so untergeordnet habe, daß sie dessen schlechteren Lebenswandel mitgelebt habe.78 Varnhagen von Ense biographiert in der Regel gerade keine moralisch vollkommenen Charaktere, sondern gemischte, mittlere Persönlichkeiten, die stets mit moralischen Makeln behaftet und in manchen Verhaltensweisen gerade nicht vorbildlich sind. So wird etwa der leichtfüßige Lebenswandel und die Verschwendungssucht des ansonsten bewundernswürdigen Friedrich von Gentz (1836) getadelt:79 Seine Furcht, seine Eitelkeit, seine Sinnlichkeit, und was man sonst an ihm tadeln mochte, kannte und gestand er selbst mit liebenswürdiger Offenheit, seine Fehler und sein Verhalten gegen sie hatten etwas Kindliches und sogar Kindisches, man konnte sie wohl strafbar finden, aber zugleich mußte man die Erbstücke der Menschennatur darin erkennen und entschuldigen; man durfte sie lieben und nötigenfalls beschützen. ———————— 76 77 78 79
Konrad Feilchenfeldt u. Ursula Wiedenmann, Kommentar. In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 775–1120, hier S. 780. Karl August Varnhagen von Ense, Leuchsenring. [Fassung von 1875.] In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 152–183. Karl August Varnhagen von Ense, Karoline v. Fouqué. [Nach dem Erstdruck 1871.] In: Ebd., S. 290–296. Karl August Varnhagen von Ense, Friedrich von Gentz. [Fassung von 1875.] In: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 123–151, Zitat von S. 141,24–31, vgl. a. S. 132f., 140,6ff.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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Varnhagens zu Lebzeiten publizierte Biographik,80 die – wie hier explizit betont wird – stets die widersprüchliche und schwache Konstitution des Menschen bedenkt und als menschlich auch achtet, zielt auf ein »Verständnis verschlungener Charakterzüge« und gerade nicht auf »eine abstrakte Beurteilung von Lob und Tadel« (Gottschall)81 und steht so zumindest in der Nähe von Stifters Zuversicht, denn die Gesellschaft der Rahmenerzählung läßt ja ebenfalls die Frage nach »Recht oder Unrecht« beiseite, und der Binnenerzähler konzentriert sich auf die menschlichen Aspekte, während die eigentliche Handlung relativ bedeutungslos bleibt. Bei Varnhagen liegt das nahe bei einem Interesse an Sonderlingsgestalten, wie dies Feilchenfeldt und Wiedenmann etwas zu einseitig hervorheben; doch geht es letztlich mehr darum, die in jedem Menschen vorhandenen Mischungsverhältnisse der Gemüts- und Charakterzüge an besonderen Menschen idealisiert (nicht idealisierend) hervorzuheben. Gottschall betont die Offenheit und Unbefangenheit Varnhagens, der bereit sei, »jeder Erscheinung ihr eigentümliches Recht zu gönnen, dabei aber auch ihre Eigentümlichkeit mit treffender Silhouettenschere in ihren markanten Zügen nachzubilden«; zurecht weist schon Gottschall auf die Modernität dieser Arbeitsweise hin, die bereits Züge der modernen Biographik vorwegnimmt, zu welcher sie über die positivistische Ereignis- und Detailbiographik wie über die heroisch-stilisierende Biographik im späteren 19. Jahrhundert 82 hinweg eine Brücke schlägt. Varnhagen verzichtet sowohl darauf, den menschlichen Lebenslaufes auf äußere Ereignisse und Rollen zu verkürzen, als auch auf die bald einsetzende Funktionalisierung des Biographischen in politischen Kontexten und die sich immer stärker durchsetzenden Forderung nach einer funktionsorientierten Idealisierung der Biographierten im nationalen Kontext. Dieses relative Absehen vom sozialen Gesichtspunkt und besonders von der Frage nach der Relevanz des Biographierten für die Entwicklung einer ———————— 80
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Ein anderes Bild ergibt sich aus privaten Aufzeichnungen, in denen Varnhagen an Klatsch grenzende und rückhaltlose Skizzen von Zeitgenossen entwarf, deren postume Publikation als Skandal empfunden wurde und einen dauerhaften Schatten auf Varnhagens Werk warf. Vgl. Wiedenmann, Karl August Varnhagen von Ense, Kap. I; Nikolaus Gatter, »Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum«. Der diaristische Nachlaß von Karl August Varnhagen von Ense und die Polemik gegen Ludmilla Assings Edtionen (1860–1880). Bielefeld: Aisthesis 1996. – Oscar Walzel sah darin gar einen vom Autor inszenierten postumen Skandal mit geradezu hochverräterischen Invektiven. O. W., Varnhagen. In: ADB (1895), S. 769–780. Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur, Bd. 2, S. 38. Walzel, der Varnhagens Kunst der »Wesenserfassung« (S. 778) gleichwohl lobt, stellt auch fest, die Geringschätzung in der Gegenwart sei durchaus verständlich (S. 777): »Wir begreifen, daß eine machtvolle Individualität von dem Temperamente Treitschke’s jene Heldennaturen [etwa Blücher] in Varnhagen’s glatter Darstellung leblos, ja abgeschmackt finden kann […]. Gewiß ist Varnhagen’s Anpassungsfähigkeit zu weich, zu rückgratlos, um große Naturen in großen Zügen zu zeichnen.« Walzel, Varnhagen.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Deutschen Nation, wie sie gerade auf der politischen Tagesordnung stand, führte auch zu einer gewissen Distanz zwischen Varnhagen von Ense und einigen jungdeutschen und liberalen Autoren, die seine Literaturkritik und Charakteristiken – wie besonders Heinrich Laube – sonst durchaus schätzten.83 Der Dichter und Kritiker Ludolf Wienbarg (1802– 1872) sah ihn noch wohlwollend als »Kammerherr vom alten Goetheschen Hof«;84 der liberale Literaturkritiker Julian Schmidt (1818–1886) hat ihm in seiner Geschichte der Deutschen Literatur seit Lessing’s Tod schon deutlicher einen elitären »Geheimratsstil« vorgeworfen.85 Spätere Arbeiten Varnhagen von Enses rücken allerdings von der zunehmend anachronistisch anmutenden geistesaristokratischen Stilisierung ab; nun wird die Frage nach der Pflichterfüllung gegenüber der Allgemeinheit und Nation eingeschlossen. Dies zeigt etwa die Biographie des »Helden unserer Befreiungskriege«, Karl Müller (1847), in der ein mittlerer Held gezeigt wird, der nicht durch spektakuläre Aktionen, sondern durch selbstlose Pflichterfüllung und Vaterlandstreue Lob verdient.86 Der häufig verwendete Begriff ‘Gesinnung’ schlägt bei Varnhagen die Brücke zwischen Privatcharakter und öffentlicher Tugend. Gleichwohl bleibt die Eigenheit des Menschen ein Wert, der sich unabhängig vom öffentlichen Wirken entfalten kann, wie dies etwa in der zunächst 1851 als Nachruf konzipierten und später erweiterten, ambivalenten Freundesbiographie Koreff deutlich wird. Varnhagen zeigt hier durchaus den problematischen äußeren Anschein der Persönlichkeit Koreffs: Streitsucht, Mißtrauen usw. Dennoch bleibt das Gesamtbild positiv, da Varnhagen als eigentliches Wesensmerkmal einen privaten, inneren Charakter hervorhebt. In dieser Hinsicht wäre Sengles Vermutung – wenngleich mit Einschränkungen – zuzustimmen, daß Varnhagens Biographien »die Entfaltung des neuen Individualismus und der Einzelbiographie nach 1848« mit vorbereitete, denn Varnhagen erkennt den Wert des einzelnen jenseits sozialer und historischer Bezüge an. Seine eigenen Arbeiten stehen dadurch im Übergang von einer ‘bie———————— 83
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Varnhagen von Ense hatte zudem versucht, die deutsche Literatur mit dem Metternichschen System auszusöhnen. Goethe sollte dabei der gemeinsame Anknüpfungspunkt sein. Weder in Wien noch bei der jüngeren Autorengeneration war er mit diesem diplomatischen Spagat letztlich erfolgreich. Vgl. die Denkschriften über die Gründung einer Goethe-Gesellschaft (1834) sowie über das Junge Deutschland (1836) in: Varnhagen von Ense, Biographien, S. 755–774. Ludolf Wienbarg, Heinrich Heine. In: Ders., Ästhetische Feldzüge. Hg. von Walter Dietze. Berlin u. Weimar: Aufbau 1964, S. 257–270, hier S. 265. Julian Schmidt, Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing’s Tod. 4., umgearb. und verm. Aufl. Leipzig: F. L. Herbig 1858, Bd. 2, S. 168. Karl August Varnhagen von Ense, Karl Müller. In: Varnhagen von Ense, Biographien; S. 204–243; ein Held ist nicht derjenige, der militärisch etc. erfolgreich war, sondern auf charakterlicher Basis derjenige, »der sagen kann: Ich habe des Vaterlandes Not und Schmach mitgetragen, zu seiner Rettung nach Kräften mitgestrebt!« (ebd., S. 204,4f.).
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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dermeierlichen’ Charakter-Darstellung zu einer ‘konsequenten Individualität’. Die von Varnhagen von Ense biographierten und charakterisierten Persönlichkeiten sind weit davon entfernt, Tugendideale vorzustellen oder geschichtswirkende Heroen zu verkörpern. Die Darstellungen sparen in keinem Fall Kritik und negative Züge aus. Dennoch bleibt eine gewisse aristokratische Größe erhalten, denn es handelt sich insofern um außergewöhnliche und zugleich exemplarische Lebensläufe als die Dargestellten sich in besonderer Weise im Ringen um die Bewältigung des Lebens bewähren. An einem abschließenden Beispiel kann nochmals hervorgehoben werden: Nicht selten sind es eher historische Randfiguren, die von Varnhagen gewählt werden. Ein umfangreicheres »Karakterbild« gilt etwa dem preußischen Beamten und politischen Schriftsteller Hans von Held (1845), der weder durch seine Schriften politisch Einfluß gewonnen hatte noch durch seine eigene Karriere in irgendeiner Weise Aufsehen erregte.87 Hans von Held, der, in Varnhagens Darstellung, geleitet von der Vernunfttugend Kants eine freie Geisteshaltung mit dem Gebrauch des freien Wortes verbindet und dafür sogar Gefängnishaft auf sich nehmen muß, wird von Varnhagen weder vollständig rehabilitiert noch verurteilt, wenn er Helds »biedre Aufrichtigkeit« auch als realitätsfernen »Wahrheitseifer« beurteilt.88 Wieder interessieren ihn weniger die tatsächlichen Ereignisse, die er an mehr als einer Stelle nur andeutet. So wird etwa der genaue Gegenstand eines Prozesses gegen Held nicht benannt: »der eigentliche Stoff desselben liegt hier außerhalb unsres Zweckes, der nur ein Karakterbild aufstellen will«.89 Dafür wird breit aus Schriften und Gesprächen Helds zitiert, wodurch die Gesinnung und besonders die charakterliche Haltung hervortritt, mit denen die Gesinnung öffentlich vertreten wird.90 Anerkennung findet allein Helds Haltung, schonungslos und unabhängig für seine Überzeugung einzutreten und dabei allein an das Wohl des preußischen Staates zu denken. Held, »in seiner kraftvollen Rechtlichkeit, in seinem Hasse gegen alle Falschheit und Lüge«,91 steht für ein hegelianisches Denken, welches den Lauf der Geschichte der Verantwortung des einzelnen entzieht, ihn aber um so stärker auf die eigene Moralität und Rechtschaffenheit dem allgemeinen Wohl gegenüber verpflichtet. Das ———————— 87 88 89 90
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Karl August Varnhagen von Ense, Hans von Held. Ein preußisches Karakterbild. Leipzig: Weidmann 1845. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 124. Dabei zeigt sich, daß der Charakter als weitgehend statisch angesehen wird. Varnhagen interessiert sich entsprechend nicht für Helds Kindheit, und der 16jährige verfügt schon über dieselben Charaktereigenschaften wie der erwachsenen Mann (vgl. ebd., S. 7). Allein die Lebenserfahrung wirkt sich auf die äußere Erscheinung des Charakters aus. Ebd., S. 26.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Interesse Varnhagens richtet sich ganz in Übereinstimmung hiermit auf mittlere Persönlichkeiten und ‘gemischte’ Charaktere,92 die sich aber als rechtschaffene Bürger in besonderer Weise – im Fall Helds über das eigene Schicksal, im Fall des mittleren Nationalhelden Müller über den eigenen Anspruch auf Anerkennung und Ehre hinweg – bewährt haben. Hans von Helds Geisteshaltung wird von Varnhagen sogar zum Vorbild für eine parlamentarische Haltung, denn »als Mitglied einer großen nationalen Versammlung« würde er sich gewiß durch seine freie Rede bewährt haben: »Mögen die Späteren, die ihren Weg fertig finden, wenigstens mit Theilnahme auf solche Männer zurückschauen, welche dadurch, daß sie zu ihrem Schaden ihren Weg suchten, doch ihn bereiten halfen! –«93 Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, daß die Individualitätsproblematik bei Varnhagen von Ense konsequent zur hermeneutischen Kernfrage der Biographik führt. Es spricht für sich, wenn Varnhagen die Probleme immer wieder benennt, die der Glaube an eine ausgeprägte Individualität für den Biographen zur Folge hat: »Ich weiß nicht drei lebende Menschen, von denen ich mit Überzeugung sagen dürfte, daß sie Wilhelm von Humboldt ganz einsehen und würdigen.«94 Das ‘innere Wesen’, ist das Geheimnis, dem sich ein verstehender Biograph anzunähern hat. Dieses bietet das spezifische hermeneutische Problem, welches Biographen bekümmert, seit der private Charakter oder die Individualität ihr Thema geworden sind. Gerade dort, wo die Bildung des Charakters wie bei Wilhelm von Humboldt gelingt, wo diese Geschichte, Gesellschaft, auch den psychophysischen Menschen hinter sich läßt, wird sie Varnhagen zum biographischen Rätsel. Als Anmaßung erschiene das problemlose Verstehen des bedeutende(re)n anderen, und Varnhagen wahrt trotz der intimen Nähe zu den Biographierten diese letzte Distanz vor der fremden Persönlichkeit. Und auch in diesem letzten Zögern vor dem analytischen Zugriff auf die fremde Person, im Respekt vor dieser, erweist sich Varnhagen als Zeitgenosse des Biedermeier, denn die Konzentration auf den Privatcharakter bezeichnet in der biographischen Literatur Varnhagens wie in den Erzählwerken Stifters zwar das weitgehende Absehen von historischen und sozialen Gegebenheiten, aber damit nicht schon die intime Seelenanalyse, die Suche nach einem letzten Grund aller Handlungen. Paradigmatisch in diesem Sinn ist Stifters Geschichte vom armen Pfarrer im Kar zu lesen (Kalkstein), dessen letzter ———————— 92
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Ein deutliches Bild des ‘gemischten’ Charakters Helds geben die physiognomischen Bemerkungen zu seiner Erscheinung. Hier nur ein Beispiel: »Sein Mund verrieth die Gabe der freien Rede, die er unläugbar besaß, aber auch die Bitterkeit, die seinem Wort so leicht sich beimischte.« (Ebd., S. 257). Ebd., S. 260. Varnhagen von Ense, Wilhelm von Humboldt, S. 184,2ff.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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seelischer Handlungsgrund verrätselt wird, um den Pfarrer als Gestalt holistisch vorzuführen und nicht sezierend zu analysieren.95 In dieser Richtung – und nicht im Sinn einer Idealisierung der Biographierten (Sengle) – 96 wäre auch Varnhagens Zurückhaltung zu lesen. Stifter hat die eigene Nähe zum Verfasser der Charakteristiken selbst betont: Er kannte sowohl Karl August von Varnhagen als auch seine Frau Rahel, deren Charakter er sehr und deren Schreiben er wenig schätzte, persönlich; dem Verfasser der Charakteristiken räumt er einen wichtigen Einfluß auf seine eigene Entwicklung ein: »Varnhagen achtete ich schon lange sehr, und er hat zur Entwiklung [!], deren mein Inneres fähig war, nicht sehr wenig beigetragen.«97 2.3.2. Gefährdete Gemütsruhe (Feuchtersleben) »In der Brust eines jeden Menschen schläft ein entsetzlicher Keim von Wahnsinn. Ringt mittels aller heitern und tätigen Kräfte, daß er nie erwache!« (Ernst von Feuchtersleben, Tagebuchblätter)
Eine bedeutende Weiterung der ethischen und anthropologischen Rahmenkonzepte wie ihrer biographischen Realisierungen zeigt sich in der Verbindung des anthropologischen Konzepts eines sittlich freien Charakters mit diätetischen Vorstellungen, wie sie weder zuerst noch originär, aber für das 19. Jahrhundert vorbildlich Ernst von Feuchtersleben zum Thema seiner zum Bestseller avancierten Popularschrift Zur Diätetik der Seele (1838) machte. Für biographisch-charakteristische Darstellungen eröffnen sich durch das Einbeziehen seelenkundlicher Fragestellungen neue Dimensionen, das Menschliche zu erfassen. Hatte schon Varnhagen von Ense ein ausgeprägtes Interesse für ‘gemischte’ Charaktere, in denen Verstandes- und Gefühlskräfte in einem konkurrierenden Verhältnis zu stehen scheinen und vorurteilslos sowohl positive als auch negative Seiten erkennbar werden, so richtet sich das Interesse in diesem Kontext verstärkt auch auf die Frage nach der Pathologie der Individualität, wobei nicht nur ———————— 95
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Vgl. zu Stifter etwa: Christian v. Zimmermann, Fremde Natur – fremder Mensch. Bemerkungen zu Adalbert Stifters Hermeneutik am Beispiel der Erzählung »Kalkstein«. In: Régine Battiston-Zuliani (Hg.), Nature et paysages: un enjeu autrichien. Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur. Bern etc.: Peter Lang 2004 (Convergences), S. 29–50. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 311–314. Adalbert Stifter, Brief an Marie Hrussoczy vom 7. Januar 1859. In: Adalbert Stifters Sämmtliche Werke. Bd. 19. Briefwechsel Dritter Band. Hg. von Gustav Wilhelm. Reichenberg: Sudetendt. Verlag 21929, S. 142–147, zit. S. 144,13–15.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
die Frage nach gesunder und krankhafter Persönlichkeitsstruktur gestellt, sondern auch eine analytische Detailbeschreibung der individuellen Persönlichkeit angestrebt wird. Gerade die Modebegriffe ‘Hypochondrie’ und ‘Melancholie’ boten eine breite Basis für die Diskussion der Persönlichkeitspathologie. Der Wiener Arzt, Schriftsteller und Pädagoge Ernst Freiherr von Feuchtersleben widmet sich diesen Fragen nicht nur als ein bedeutender Psychologe98 – ein Schüler des einflußreichen Wiener Professors Karl Philipp Hartmann –, sondern auch als literarisch-publizistisch tätiger ‘Biograph’.99 Grundanliegen Feuchterslebens ist der Nachweis, daß die Herausbildung des Charakters und der Vernunft essentielle Lebensaufgabe eines jeden einzelnen und Grundbedingung seiner leibseelischen Gesundheit ist. Die Herrschaft der Seele über den Leib wird bei Feuchtersleben nicht als eine reine Negation des Leiblichen verstanden, sondern als ein ausgleichendes Regiment der vernünftigen Teile, welche über Mäßigung und Selbstbeherrschung zu einer vernünftigen Kontrolle der Leidenschaften gelangen. Ganz im Sinn des bürgerlich-anthropologischen Bezähmungskonzeptes wird leibseelische Gesundheit als ein Produkt der Bildung, der Entsagung und Mäßigung als eine Absage an jeden Egoismus und eine Hingabe an die Pflicht verstanden. Auch bei Feuchtersleben erlangt der Mensch seine Freiheit von naturaler Fremdbestimmtheit durch die Kontrolle seiner physischen Existenz:100 Verloren in Träume irrt die Phantasie, in ein wildes Nichts stürzt sich der Wille, – erteilt ihnen nicht der Geist die Weihe, »der Chaosordner, Schicksalslenker«. Es ist das höchste Thema der Seelendiätetik: die Gewalt der Bildung über die dunklen Kräfte der sinnlichen Natur zu erörtern; auszusprechen – was geistige Kultur zur Be———————— 98
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Zu Feuchterslebens Stellung in der Psychologiegeschichte vgl. u.a.: Max Neuburger, Ernst Freiherr von Feuchtersleben. 1806–1849. In: Theodor Kirchhoff (Hg.), Deutsche Irrenärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. Bd. 1. Berlin 1921, S. 218–222; Wolfgang Rißmann, Ernst Freiherr von Feuchtersleben (1806–1849). Sein Beitrag zur medizinischen Anthropologie und Psychopathologie. Freiburg i. Br.: H. F. Schulz Vlg. 1980 (Freiburger Forschungen zur Medizingeschichte N.F. 12). – Allgemein vgl. a.: Karl Pisa, Ernst Freiherr von Feuchtersleben. Pionier der Psychosomatik. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1998 (Literatur und Leben 52). Sengle erwähnt Feuchterslebens Schlegel-Darstellung in der Ausgabe der Sämtlichen Werke (Wien 1846) als Beispiel für eine publizistische Auftragsbiographie. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 319f. Feuchtersleben, Zur Diätetik, S. 474. – Wie wirkungsmächtig diese anthropologische Konzeption war, zeigt sich etwa noch bei den ‘willensstarken’ Persönlichkeiten, die Stefan Zweig vorstellt. In der ‘historischen Miniatur’ »Georg Friedrich Händels Auferstehung« etwa ringt Händels Willen mit der Natur, die als Schlaganfall das ‘Genie’ Händel zu zerstören droht: »dieser Wille schuf das Wunder gegen das Gesetz der Natur« (Stefan Zweig, Georg Friedrich Händels Auferstehung. In: Ders., Sternstunden der Menschheit. Zwölf historische Miniaturen. Frankfurt/M.: Fischer 1986 [zuerst 1943], S. 65–88, hier S. 71).
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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gründung der Gesundheit einzelner, wie ganzer Gesamtheiten, ja der Menschheit im Großen vermag.
Ein jeder Mensch – Feuchtersleben legt in der Zuordnung ‘weibliche Phantasie’, ‘männlicher Verstand’ freilich nahe, daß dies in seiner Konzeption insbesondere für das männliche, nicht in gleicher Weise für das weibliche Geschlecht gilt – ist für die Bildung seiner Kräfte letztlich selbst verantwortlich; das schließt die Verantwortlichkeit für Gesundheit und Schönheit ein, denn diese werden als Resultat sittlicher Vernunft interpretiert. In letzter Konsequenz führt dies zu einer sittlichen Beurteilung der Krankheit und der Kranken:101 […] es wird immer mehr anerkannt werden, daß der schwächliche Zustand, ja die Krankheiten selbst unserer Mitgebornen mehr im Sittlichen als Leiblichen ihre Wurzel haben und weder durch das kalte Waschen, noch die entblößten Hälse, noch sonstige Rousseau-Salzmannische Abhärtungsexperimente an Kindern, sondern durch eine höhere Kultur ganz anderer Art, deren Anfang in uns selbst gemacht werden muß, verhütet, und so Gott will, vertilgt werden können.
Die Vorherrschaft des Leiblichen über die Kräfte des Verstandes wird also – wie in Stifters Erzählung Zuversicht – als ‘krank’ bezeichnet, dabei reicht – und dies zeigt Stifters Erzählung – die nur natürliche Veranlagung zur Vaterliebe nicht für eine höhere und beständige Sittlichkeit des Sohnes aus. Feuchtersleben betont ganz in diesem Sinn, daß das seelische Regiment über den Leib nur positiv wirksam werden kann, wenn ihm die Orientierung an höchsten Gesetzen und ethischen Erwägungen zugrunde liegt. Diese Orientierung gewinnt der Mensch durch Selbsterkenntnis und durch Betrachtung der vernünftigen Ordnung in der Natur,102 welche ihn letztlich zur Religion führt.103 Die Freiheit des Menschen von seiner naturalen Fremdbestimmtheit durch ethische Vernunft ist zugleich die wichtigste Voraussetzung für seine Sittlichkeit und Sozialität. Sittliche Freiheit schließt die Begrenzung des individuellen Egoismus ein und ist auf Entsagung und Pflicht statt auf Trieberfüllung und »Behagen« gerichtet.104 Entsprechend werden – wie bei dem Pädagogen Herbart, den Feuchtersleben in seinen Schriften gelegentlich zustimmend erwähnt – ‘Gewöhnung an sittliche Verhaltensweisen’ und Annahme der Pflichten zu den zentralen Elementen des sittlichen Charakters: »Man lerne einsehen, daß das Leben zwar eine Gabe, vor allem aber ein Auftrag ist; eine Vollmacht zu Rechten, aber nur im ———————— 101 102 103 104
Feuchtersleben, Zur Diätetik, S. 450. – Auch hier zeigt sich – wie oben bei Herbart – die gegen Rousseausche Natürlichkeitsdoktrinen behauptete sittliche Kraft der Zivilisation. »Nach der Vernunft handeln, heißt nichts anderes, als dasjenige tun, was aus der Notwendigkeit unserer Natur, an sich betrachtet, folgt.« Ebd., S. 496. »Die Vernunft bilden ist aber wieder nichts anderes, als die Gottheit in den notwendigen Gesetzen der Natur erkennen zu lernen.« Ebd., S. 496, vgl. S. 499f. Ebd., S. 507.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
geheiligten Namen der Pflicht!«105 Der entsagende Blick auf das Ganze einer vernünftigen Ordnung, die erkennende, einsichtige Unterordnung der eigenen Freiheit unter eine überindividuelle Vernunft stellen das Ziel der Bildung und Kultur sowie das Ziel der Seelendiätetik dar. Belohnt wird dieser Bildungsweg der Mäßigung egoistischer Leidenschaften und Affekte zur Harmonie insbesondere durch die ‘Heiterkeit’, die geradezu zum Symbol der bürgerlichen Selbstkontrolle wird.106 Ins Zentrum des Interesses rückt in diesem Kontext das Gemüt oder Naturell des einzelnen Menschen.107 Das Gemüt wird sowohl von der sinnlichen als auch von der vernünftigen Seite des Menschen beeinflußt; je nachdem, ob der sinnliche Teil schwächer oder stärker ist, wird das Gemüt als sittlich stärker (‘gut’, ‘rein’) oder schwächer (‘schlecht’, ‘unrein’) aufgefaßt. Das Gemüt kann dementsprechend ‘schuldvoll’ sein, wenn es die höheren Zwecke den niederen untergeordnet hat, oder ‘unschuldig’, wenn aus natürlicher Anlage eine Neigung allein zu den höheren Zwecken empfindet. ———————— 105 106
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Ebd., S. 477. Diese Aspekte lassen sich über Feuchtersleben hinaus in einem breiten Strom anthropologischer, ethischer, pädagogischer Werke, gewiß auch in der Erzählliteratur nachweisen. Zu einem zentralen Bezugspunkt in der ‘ethischen Hausbibliothek’ wurden dabei – um nur einen symbolträchtigen Namen zu nennen – etwa Werke (oder eher zu Spruchweisheiten verkürzte Zitate aus den Werken) Wilhelm v. Humboldts. Die Diskussion der individuellen Leistung zur Sittlichkeit, eines entbehrungsreichen Weges zur Selbstbeherrschung prägt etwa das Werk Adalbert Stifters, der seinerseits sowohl mit Feuchterslebens als auch besonders mit Humboldts anthropologisch-ethischen Überlegungen weitgehend übereinstimmt. Stifter setzt in das gemeinsam mit Johannes Aprent gestaltete Lesebuch den Ausspruch Humboldts: »Was heiter macht, ist entweder die ruhig besonnene Klarheit des Geistes und der Gedanken, oder das Bewußtsein einer frohen, und des Menschen würdigen Empfindung. Man kann nicht Heiterkeit moralisch gebieten, aber nichtsdestoweniger ist sie die Krone schöner Sittlichkeit. Denn die Pflichtgemäßheit ist nicht der Endpunkt der Moralität, vielmehr nur ihre unerläßliche Grundlage. Das Höchste ist der sittlichschöne Charakter, der durch die Ehrfurcht vor dem heiligen, den edlen Widerwillen gegen alles Unreine, Unzarte und Unfeine, und durch die tief empfundene Liebe zum rein Guten und Wahren gebildet wird. In einem solchen Charakter herrscht die Heiterkeit von selbst […].« (Adalbert Stifter u. Johannes Aprent, Hgg., Lesebuch zur Förderung humaner Bildung. München: Bayerischer Schulbuch-Verlag 1947, S. 369.) Zusammenfassend ergibt sich ein Begriffskomplex, der zentral auf ‘Charakter’, ‘Sittlichkeit’, ‘Wille’ und ‘Vernunft’ basiert, ‘Bildung’, ‘Pflicht’, ‘Entsagung’ und ‘Heiterkeit’ als Kategorien der Lebensführung präsentiert und schließlich ‘Glück’, ‘Wahrheit’ und ‘Schönheit’ als Lebensziele unter bürgerlicher Perspektive reformuliert. Das Gemüt ist dabei eine Äußerung der Individualität des Menschen, denn jeder Mensch verfügt über eine für ihn charakteristische Gemütsanlage. Die »Allgemeine deutsche RealEncyclopädie« (1819) definiert das Gemüt in Anlehnung an ein körperliches Leibgefühl als Bewußtheit des »innersten Seyns und Lebens«. Die Stärke des Gemüts ist entsprechend mit der Stärke des Gefühls ‘psychischer Individualität’ verbunden. Siehe: Gemüth. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon.) In zehn Bänden. Bd. 4. Leipzig: Brockhaus 1819, S. 120f.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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Da das Gemüt den Willen beeinflußt, durch das Gemüt der moralische Charakter der Person wesentlich bedingt wird, und also ein reines Gemüt zu den Voraussetzungen der Sittlichkeit zu rechen ist, gewinnen die zeitweiligen ‘Gemütsbewegungen’ (Affekte)108 und besonders die pathologischen Veränderungen des Gemüts, die ‘Gemütskrankheiten’, an Interesse. Aufschlußreich ist die zunehmende Differenzierung zwischen Gemüts- und Geisteskrankheiten. Neben der herkömmlichen Pathologie der Körper- und Geisteskräfte etablieren sich stärker auch Störungen der Persönlichkeit (Gemütskrankheiten) als Forschungsgegenstände, denen sich Seelenkunde und Psychiatrie widmen. Die Allgemeine deutsche RealEncylopädie (1819)109 weist unter dem Lemma »Gemüthskrankheiten« mit Liebeswahnsinn und Melancholie auf zwei Gemütsstörungen hin, denen auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein fast modisches Interesse galt.110 Da der einzelne in hohem Maß für die Sittlichkeit seines Verhaltens in Verantwortung genommen wurde, entwickelte sich in dialektischer Entsprechung zu einer Vernunftethik das Interesse an den Gefahren, die der sittlichen Autonomie des einzelnen Menschen aus sich selbst, aus den psychischen und physischen Anlagen und Krankheiten erwuchsen.111 Dies zeigt sich etwa daran, daß bei der Beurteilung von Affekten und Gemütskrankheiten in der Seelenkunde eine deutliche Verbindung zu ethischen Fragen besteht. Als therapeutisches und diätetisches Ziel in der psychischen Seelenkunde und Diätetik im Gegensatz zur gerade in Wien vorherrschenden medizinisch-pathologischen Tendenz112 etabliert sich im Konstituierungszeitraum einer bürgerlichen Anthropologie im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts und mit einer Wirkungsgeschichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert reicht, die ‘Gemütsruhe’. Im teils expliziten Rückgriff auf die Tradition stoizistischer Lehren wurde Gemütsruhe mit neuer Zielrichtung nun begriffen als die Ruhe des ausgeglichenen Bür———————— 108 109 110
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Gemüthsbewegungen. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819, Bd. 4, S. 121f. Gemüthskrankheiten. In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie 1819, Bd. 4, S. 122f. Vgl.: Michael Schmidt-Degenhard, Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. In: Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald: Guido Pressler Vlg. 1990 (Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur 1), S. 162–182; zur Vorgeschichte der Melancholie etwa: Wolfram Mauser, Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 48–88. In diesem Sinn spricht Herbert Zeman von der »Zeit der psychosomatischen Störungen«, deren kulturgeschichtliche Voraussetzungen gerade in der Vernunftfreiheit des Menschen lägen. Herbert Zeman, Die österreichische Literatur im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Spätaufklärung und Biedermeier. In: Ders. (Hg.), Literaturgeschichte Österreichs. Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1996, S. 303–360, hier S. 335. Schon Neuburger hat auf den Konflikt zwischen therapeutischer Psychologie bei Feuchtersleben und »der eben anbrechenden Epoche des krassesten Materialismus, des eisigen therapeutischen Nihilismus« hingewiesen. Neuburger, Ernst Freiherr von Feuchtersleben, S. 220.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
gers, der den sittlichen Ausgleich zwischen Leib und Seele, zwischen Individualität und Gesellschaftlichkeit erreicht hat. So heißt es – repräsentativ für eine breite Diskussion um die Rolle der Leidenschaften – unter Bezugnahme auf spezifisch bürgerliche Tugendideale etwa in Krugs Allgemeinem Handwörterbuch (21833): »Es giebt jedoch nur ein Mittel, zur Gemütsruhe zu gelangen, so weit sie überhaupt für den Menschen erreichbar ist: Beherrschung der Affecten und Leidenschaften nebst treuer Pflichterfüllung in dem Berufe der jedem angewiesen ist.«113 Gerade die Ruhe und Unbeweglichkeit des Gemüts wird etwa bei dem Pädagogen Herbart zur Voraussetzung einer erfolgreichen sittlichen Erziehung, während sich eine übergroße Dynamik des Gemüts als tendenziell erziehungsresistent erweist: »Keine Art von Menschen ist charakterloser, als die, welche nach ihren Launen dieselben Dinge bald schwarz bald weiss sehen, oder welche, um ‘mit der Zeit fortzugehen’, ihre Ansichten nach der Mode richten.«114 ‘Gemütsruhe’, ‘Sanftmut’, ‘Heiterkeit’ sind auch die Begriffe mit denen etwa Wilhelm von Humboldt oder Adalbert Stifter die Erfüllung eines Ideals bezeichnen, welches in der Beherrschung der Leidenschaften und der Orientierung an Pflicht und Arbeit besteht.115 Auch die diätetischen Lehren, die der Beruhigung des Gemütes und der Begegnung der Gemütskrankheiten dienen, verbinden mit dem Ziel der Gemütsruhe vor allem einen moralisch-ethischen Zweck. In den Diätetiken – wie in Feuchterslebens Zur Diätetik der Seele – wird die Gemütsharmonie als Ziel individueller Lebenspraxis beschrieben, dessen erfolgreiche Umsetzung sich als psychische Gesundheit zeigt, denn »Seelenleiden sind nur zu oft Bußen – d. h. natürliche Folgen innerlicher Unruhen!« (Feuchtersleben).116 Dabei zeigt sich, wie Volker Hoffmann im Vergleich mit älteren Diätetiken nachweist, daß sich die Gemütsruhe nicht mehr allein durch ein Maßhalten in allen Dingen, sondern durch Ausgleich der Gegensätze (Oszillation) und Beherrschung der negativen Zustände einstellt.117 ———————— 113 114 115
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Gemüthsruhe. In: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2 (1833), S. 190 sowie Bd. 5 (1838), S. 449. Herbart, Allgemeine Pädagogik, S. 102. Um nur ein Aufschluß gebendes Beispiel anzugeben, welches auch den Wirkungszeitraum dieser Konzepte anzudeuten vermag, sei hier auf die Sammlung Humboldt’scher Aussprüche in dem von Adalbert Stifter gemeinsam mit Johannes Aprent edierten »Lesebuch« hingewiesen, das 1947 im Bayerischen Schulbuch-Verlag erneut verlegt worden ist: Stifter u. Aprent, Lesebuch, S. 362–373. Feuchtersleben, Ausgewählte Werke, S. 538 (aus: »Tagebuchblätter«). Volker Hoffmann, Der Konflikt zwischen anthropologischer Extremisierung und Harmonisierung in der Literatur vor und nach 1848. In: Michael Titzmann (Hg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen: Niemeyer 2002 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 92), S. 377–391, bes. S. 383–387.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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Es ist so erklärlich, daß der vorbildliche Lebenslauf im Sinn der hier skizzierten Anthropologie und Ethik des Bürgers kaum in einer Weise erzählt wird, wie es in einer idealisierenden oder gar heroisierenden Biographik geschieht. Die Vorbildlichkeit des einzelnen erweist sich nicht im Außerordentlichen, sondern im lebenslangen Kampf um den Ausgleich von Vernunft und Leidenschaft, um Pflichterfüllung und Entsagungsleistung. Adalbert Stifter formuliert dies in der bekannten »Vorrede« zur Erzählsammlung Bunte Steine (1853):118 Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit Einfachheit Bezwingung seiner selbst Verstandesgemäßheit Wirksamkeit in seinem Kreise Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemüthes furchtbar einherrollenden Zorn die Begier nach Rache den entzündeten Geist, der nach Thätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme feuerspeiende Berge Erdbeben.
Mit dem Komplex ‘Gewohnheit’, ‘Sittlichkeit’, ‘Heiterkeit’, ‘Gemütsruhe’, ‘Harmonie’ verschiebt sich auch die ethische Perspektive gegenüber abstrakten moralischen Normen, an denen sich der einzelne unweigerlich auszurichten hat. Jürgen Hüllen hat in seiner Arbeit über Ethik und Menschenbild der Moderne diese Verlagerung von den sittlichen Normen zu der sittlichen Lebensführung auch als einen Prozeß beschrieben, der neue Wertungsmaßstäbe für das einzelne Leben mit sich bringt: »Die Gelungenheit eines menschlichen Daseins (Eudaimonia, Beatitudo, Glückseligkeit, Freude/Lust) entscheidet sich nicht mehr im Moralischen, sondern in anderen, als ‘anthropologisch tiefer’ liegend aufgefaßten Zusammenhängen.«119 In der Biographik zeigt sich dieser Prozeß dort, wo keine absolute Tugend und Moral mehr wirksam ist, sondern der einzelne Mensch durch ———————— 118
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Adalbert Stifter, Vorrede. In: Ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald. Bd. 2,2. Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz: Kohlhammer 1982, S. 9–16, hier S. 12,6–16. Hüllen, Ethik und Menschenbild, S. 39. – »Das erkennende und handelnde Individuum ist der unhinterfragte Ausgangspunkt alles Geschehens in der menschlichen Welt. […] 1. Der Bezugspunkt von Ethik ist nicht mehr ein sie umgreifendes Welt- und Menschenbild, sondern der Mensch als autonomes Individuum. Werte und Normen, Tugenden und Pflichten müssen vor dem Richterstuhl eines von seiner Vernunft Gebrauch machenden Individuums bestehen können, müssen ihm in letzter Konsequenz einen Vorteil bedeuten. 2. Die ethischen Wahrheiten (Werte, Tugenden, Pflichten) sind nicht mehr von ontologischer Qualität. […] Moralische Werte werden in ihrer Abhängigkeit vom erkennenden, handelnden und wertenden Menschen nachgewiesen, haben keine objektive Existenz mehr, sondern sind Produkte. Als Werte, Normen, Präskription sind sie nicht erkenntnisfähig oder nur von minderer Erkennbarkeit; realwissenschaftliches Erkennen kann sie nur auf ihre »natürliche«, anthropologische, biologische, psychologische, soziale Basis reduzieren, sie in ihrer Bedingtheit entdecken. 3. Menschsein bedeutet nicht mehr eo ipso auf Moral hin angelegt sein.« (Ebd., S. 38f.)
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
sein charakteristisches ‘Set’ an Tugenden und Überzeugungen, Gewohnheiten und Pflichten gekennzeichnet ist. Das ermöglicht differenzierte ethische Blicke auf die Individuen, setzt keine Vollkommenheit als Ziel der Entwicklung mehr voraus, sondern ein je eigentümliches Gepräge, welches ‘Fehler’ ebenso zuläßt wie das vollständige ‘Scheitern’ – wie vorbildlich die Charakterstudien und biographischen Skizzen Karl August Varnhagen von Enses gezeigt haben, und wie nun – in spezifischer Verlagerung des biographischen Interesses – im Blick auf die Arbeiten Feuchterslebens zu zeigen ist. »Die Betrachtung der Eigentümlichkeit bedeutender Menschen bleibt immer die interessanteste, die fruchtbarste, die würdigste Beschäftigung.«120 Mit diesen Worten beginnt Feuchtersleben seine Erinnerungsschrift auf den oberösterreichischen Dichter Johann Mayrhofer, den Klassikerepigonen und Schubert-Freund, der sich am 5. Februar 1836 in Wien das Leben nahm. Die biographische Charakteristik leitet die von Feuchtersleben besorgte Gedenkausgabe der Gedichte (1843) von Mayrhofer ein und ist als »Denkmal« für den Freund gedacht,121 welches vor allem die »Gesinnung«122 und das »Wesen«123 beschreiben soll, während die ausgefaltete Detailbiographik von Feuchtersleben in deutlichen Worten abgelehnt wird – wobei auch auf die Ausblendung pikanter Details aus dem Privatleben gezielt ist –: »Der Äußerlichkeiten, des Geklatsches hat unsere Zeit ohnehin genug.«124 Dabei argumentiert Feuchtersleben mit den besonderen Interessen der Gegenwart, die sich im Vergleich zu den turbulenten politischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit stärker auf die Charaktere konzentrieren (sollen): »Das Leben bedeutender Menschen unserer Zeit […] ist, wie die Zeit selbst, mehr innerlich«.125 Dabei wird die eigene biographische Würdigung Mayrhofers in ihrer Beschränkung auf die Denkweise des Biographierten geradezu zum Exempel für eine auch außerhalb des biographischen Textes einzuübende Wahrnehmung und Beurteilung anderer Menschen, denn Feuchtersleben spielt die ———————— 120 121 122 123 124
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Ernst v. Feuchtersleben, Johann Mayrhofer. In: Ausgewählte Werke, S. 336–354, hier S. 336. Ebd., S. 345. Ebd., S. 337. Ebd., S. 339. Gerade die intime Charakterisierung der Biographierten wurde im späteren 19. Jahrhundert – wie die Rezeptionsgeschichte der Charakteristiken Varnhagens zeigt – als ‘Klatsch’ abgelehnt, wodurch sich der schützenswerte Raum des Privaten deutlich erweitert. Auf diese Entwicklung rekurriert wiederum der ‘Prüderie’-Vorwurf, den die modernen Biographen pauschal gegen die Biographik des 19. Jahrhunderts formulieren. Feuchtersleben, Johann Mayrhofer, S. 337.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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innere Gestalt des Menschen gegen »die zweideutigen Bedingungen des öffentlichen Beifalls« aus.126 Bei Feuchtersleben wird die äußere Lebenslauferzählung wiederum zugunsten des Charakterporträts zurückgedrängt, wobei ausdrücklich der Unterschied zwischen Narrativität der Lebenserzählung und Deskription des Charakterbildes reflektiert wird, wenn der Verfasser bekennt, seine Arbeit enthalte »weniger eine Geschichte als eine Darstellung«.127 Im Vordergrund steht die Eigenheit, das ‘Wesen’ des dargestellten Freundes. Dennoch werden biographische Eckdaten (Geburt und Tod) benannt; insbesondere der Freundeskreis um Franz Schubert, dem Mayrhofer wie auch Feuchtersleben angehörten, wird eingehend erwähnt. Feuchtersleben vermeidet in seiner Ausführung den Begriff ‘Charakter’, der in seiner Seelenkunde einen gewichtigen Platz einnimmt. In der Mayrhofer-Darstellung wird dagegen der Akzent auf das Gemüt, das »Naturelle«128 bzw. die »Natur«129 gelegt, welches als allgemeine Grundlage der Person durch die ‘Umstände’ und Umwelt eine besondere Richtung erhält: Der junge Jurist und angehende Schriftsteller Mayrhofer erhält in Wien Anregungen, die seinen Anlagen die richtige Form geben und das positive »Element in der Komplexion dieser ernsten, tüchtigen Natur« befördern.130 Dabei wird deutlich, daß die ‘Natur’ der Persönlichkeit als ein Komplex unterschiedlicher, negativer und positiver Kräfte verstanden wird. Dem positiven Element – »eine gemütliche, frohe Laune« – steht mit der ‘Hypochondrie’ Mayrhofers ein negatives gegenüber, welches am Ende seines Lebens gerade durch den Mangel an äußeren Anreizen (Zurückgezogenheit, ‘Stubenhockerei’) verstärkt wird. Dabei stimmt Feuchtersleben durchaus der Auffassung zu, daß die Ausrichtung des Gemüts manifeste physische Ursachen hat: wie im Fall der Hypochondrie eine »gestörte[] Funktion des Gangliensystems«.131 Je nach den äußeren Einflüssen und der Entwicklung seiner Anschauungen habe Mayrhofer dem einen oder anderen Element seines Naturells zugeneigt. Zeitweilig habe er den »Zwiespalt zwischen Ideal und Leben«132 dichterisch auffangen können, sei ihm aber schließlich erlegen.133 ———————— 126 127 128 129 130 131 132 133
Ebd., S. 338. Ebd., S. 337. Ebd., S. 342. Ebd., S. 339. Ebd., S. 339. Ebd., S. 346. Ebd., S. 348 Wenn Feuchtersleben in bezug auf Mayrhofer den Begriff ‘Charakter’ vermeidet, so könnte eine Erklärung gerade in der diagnostizierten Hypochondrie Mayrhofers liegen, denn nach der Auffassung eines von ihm zustimmend zitierten englischen Autors ist »der Hypochondrist stets, sei es auch nur momentan, schwach an Charakter«. Feuchtersleben, Zur Diätetik, S. 443.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Gegenüber dieser fast ärztlichen Perspektive auf die beiden Kräfte, welche das Leben Mayrhofers bestimmten, treten ‘spektakuläre’ äußere biographische Daten vollkommen als ‘Klatsch’ zurück. Weder die bekannte Abneigung Mayrhofers gegen das andere Geschlecht, noch die Intimität der Beziehung zu Schubert kommen hier zur Sprache, was sich aus einem öffentlichen Moralkodex der Zeit erklären läßt. Doch selbst unter Berücksichtigung dieser ‘Verschweigeregel’ bleibt auffällig, daß die Erwähnung des Freitods durch Feuchtersleben, dessen eigener Vater 1834 ebenfalls den selbstbestimmten Tod gewählt hatte, mit einer knappen – allerdings durchsichtigen – Paraphrase umgangen wird: »es ereignete sich, was man besser nicht ausspricht, was man vor dem eigenen Gedächtnisse lieber für ewig mit einem undurchdringlichen Schleier verhüllen möchte«.134 Die ehrende Freundesbiographik wird hier verstanden als ein respektvolles Übergehen biographischer ‘Fehler’, die dem Bereich des Historischen und Sozialen, teils dem Bereich der ‘Anschauungen’ angehören. Bewahrenswert sind allein die ‘Gesinnungen’ des Biographierten, die über einzelne Verfehlungen und spektakuläre Ereignisse wie selbst den Freitod erhaben sein können.135 Was hier vielleicht auch aus inneren Vorbehalten und somit einer psychisch motivierten Sicht des Verfassers erklärt werden könnte, erweist sich literaturgeschichtlich als allgemeines Charakteristikum einer Freundschafts- und Denkmalsbiographik, die aus der Verehrung keinen Hehl macht und ihrer Darstellung den Riegel des Respekts und damit auch den Riegel einer verschwiegenen – für die Publikation der Biographie relevanten – öffentlich-normativen Moral vorschiebt. Diese Grenze zwischen dem psychisch Auffälligen und der Verpflichtung zum öffentlichen Respekt wird in der Freundschaftsbiographik der Zeit nur im extremen Ausnahmefall überschritten, der in seiner Rätselhaftigkeit ein anderes Vorgehen erfordert. Dies ist der Fall in Wilhelm Waiblingers (1804–1830) Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn (Erstdruck 1831). Waiblinger verbindet hier die Biographie des ‘gesunden’ Hölderlin, welche das respektvolle Abwägen positiver und negativer Anla———————— 134 135
Feuchtersleben, Johann Mayrhofer, S. 352. In seiner politischen Streitschrift »Eine Stimme aus dem Volke« äußert sich Feuchtersleben hierzu explizit, als er zu den Voraussetzungen für die Übernahme eines politischen Amtes Stellung nimmt: »Gesinnung ist’s auf die es ankommt, die zum Charakter eines Menschen gehört und bleibend sein muß; Ansicht ist Besitz, der erworben und gewechselt werden kann; sie gehört zur Meinung eines Menschen und kann nach den Verhältnissen sich ändern, nicht nur unbeschadet dem Charakter, sondern sie muß oft geändert werden, um nicht die Gesinnung preisgeben zu müssen. Folgerichtigkeit in der Gesinnung ist unerläßlich, denn in ihr besteht eben der Charakter; Charakter in den Ansichten zeigen zu wollen, ist der Beweis kleinlicher Beschränktheit; denn wie soll die Wahrheit gefunden werden, wenn der Irrtum nicht anerkannt wird?« Ernst v. Feuchtersleben, Eine Stimme aus dem Volke. Zum Verständnis für Viele. In: Feuchtersleben, Pädagogische Schriften, S. 115–130, hier S. 126.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
93
gen bietet, mit dem bloßen Zustandsprotokoll des ‘Kranken’, welches sich auf eigene Beobachtungen stützt. Erst dort, wo die Grenze zwischen gesund und krank nach öffentlicher Meinung unzweifelhaft überschritten ist, kann eine schonungslose Veröffentlichung folgen.136 Für den Arzt Feuchtersleben läßt sich allerdings auch ein fachliches Interesse am ‘Fall’ Mayrhofer feststellen, welches gerade in dem Bemühen um eine exakte Wesensbeschreibung erkennbar wird. Feuchtersleben galt in Wien als eine Kapazität auf dem Gebiet der nicht-anatomischen Seelenkunde, dem er sich in der akademischen Lehre sowie in der Forschung widmete und deren Erkenntnisse er einem breiten Publikum in seiner Schrift Zur Diätetik der Seelenkunde vermitteln wollte. Ohne den Anspruch eines medizinischen Fachbuches, aber durchaus auf einer Ebene mit der diätetisch-philosophisch geführten Diskussion seiner Zeit,137 entwickelt der Seelenarzt hier gegen ältere diätetische Konzepte des Lebenserhalts, aber in Übereinstimmung mit einer bürgerlich-ethischen Anthropologie eine Lehre, das Leben harmonisch zu gestalten (‘Kalobiotik’). Trotz mancher Anlehnung kann sein Ansatz als ein Gegenmodell zu der spätaufklärerischen Diätetik von Christoph Wilhelm Hufeland (1762– 1836), Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796),138 verstanden werden. Im Gegensatz zu einer Lehre der physischen Gesundheit entwickelt Feuchtersleben das Konzept einer psychischen Harmonie mit der Natur, welche nicht nur seelische Gesundheit verspricht. Vielmehr erkennt Feuchtersleben die große Bedeutung der seelischen Gesundheit für die körperliche Verfassung. Seine Arbeit steht in der Tradition von Kants Hufeland-Kritik139 und stellt nach dem eigenen Verständnis des Verfassers eine Fortsetzung der Makrobiotik dar, wenngleich der Unterschied zwischen makrobiotischem und kalobiotischem Menschenbild einem Paradigmenwechsel gleichkommt. ———————— 136
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Wilhelm Waiblinger, Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahrheit. In: Ders., Werke und Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden. Hg. von Hans Königer. Band 3: Verserzählungen und vermischte Prosa. Stuttgart: Cotta 1986, S. 379–407. Vgl. hierzu den materialreichen Überblick: Volker Hoffmann, Das Verhältnis der klassifikatorischen und normativen Verwendung der Sachgruppe »Gesund« – »Krank« zwischen diätetischem Schrifttum und Texten der sogenannten schönen Literatur. In: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830–1880). Graz: Akademische Druck u. Verlagsanst. 1982 (Jahrbuch für Österreichische Kulturgeschichte 11/12), S. 173–187. Christoph Wilhelm Hufeland, Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Mit einem Brief Kants an den Autor. Frankfurt/M.: Insel 1984 (it 770), S. 9–226. Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten. In: Ders., Schriften zur Anthropologie, S. 260–393, darin S. 369–393.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
In seiner Diätetik nimmt Feuchtersleben wiederholt Bezug auf Kant, doch wird dessen auf ‘Naturell’, ‘Temperament’ und ‘Charakter’ beruhende Charakterkunde bedeutend erweitert. Das erste Anliegen Feuchterslebens ist es, die Einheit von Seele und Leib zu zeigen, die in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht miteinander derart verbunden sind, daß nicht nur manifeste leibliche Schäden solche der Seele nach sich ziehen können, sondern daß auch die Seele über Kräfte verfügt, die entweder heilen oder krank machen können,140 so daß etwa der in der MayrhoferCharakteristik beschriebene Sieg der Hypochondrie über das Leben zwar eine leibliche Ursache hat, aber letztlich durch das mangelnde seelische Gegengewicht zu erklären wäre. Die Diätetik verfolgt ein einziges Ziel: die Macht der Bildung und des Verstandes über die tierische Anlage des Menschen als praktisches Heilmittel von geradezu historischer Relevanz zu beweisen.141 Dabei begnügt Feuchtersleben sich nicht damit, auf die Kraft der Selbstheilung durch Selbsterkenntnis hinzuweisen, sondern entwirft ein komplexes System der menschlichen Geisteskräfte, die er in drei ‘Vermögen’ einteilt: Phantasie, Wille, Vernunft.142 Dadurch gelingt es Feuchtersleben, den Verstand (und letztlich die Moral) aus einer vegetativen Wurzel abzuleiten und aus einem natürlichen Entwicklungsweg des Lebenslaufes zu erklären. Die Phantasie stellt noch »die Brücke von der Körperwelt in die der Geister dar«143 und ist die Gabe der Jugend. Als ‘Einbildungskraft’ erweist sie sich nicht nur als ein mächtiges Instrument zur positiven oder negativen Beeinflussung der Gesundheit, sondern auch als diejenige Geistesfähigkeit, die den Menschen zur Bewunderung bedeutender Persönlichkeiten und zum Erfüllen hochgesteckter Bildungsziele befähigt. An die Phantasie schließt sich der Wille an, als die »tätige Energie des Daseins«,144 die in ihrer sittlichen Ausprägung als ‘Charakter’ bezeichnet wird. Das Wollen gibt dem Menschen eine Richtung, aber erst die Vernunft, die »Erkenntnis« als denkende Kraft, verschafft dem Wollen die letzten Inhalte und Ziele. In der Tradition des neuhumanistischen Bildungsdenkens (Herder, Har———————— 140
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Hufeland hatte die ‘Seelenstimmung’ nur am Rande erwähnt. Eine »angenehme Seelenstimmung« erwähnt er als letzte von sieben Möglichkeiten »zur Restauration« verbrauchter Lebensenergie (Hufeland, Makrobiotik, S. 114). Dagegen kennt er den schädlichen Einfluß einer übermäßig tätigen Einbildungskraft, wie sie durch das Lesen schlechter Romane angeregt werde (ebd., S. 144–146). Feuchtersleben, Zur Diätetik der Seele, S. 474: »Es ist das höchste Thema der Seelendiätetik: die Gewalt der Bildung über die dunklen Kräfte der sinnlichen Natur zu erörtern«. Ebd., S. 453. Ebd., S. 453. – Die allgemeinen anthropologischen Grundlagen, insbesondere die Verbindung physischer und metaphysischer Aspekte, stellt Feuchtersleben in seinen anthropologischen Vorträgen dar. Vgl.: Feuchtersleben, Fünf Vorlesungen über Anthropologie. In: Feuchtersleben, Pädagogische Schriften. Feuchtersleben, Zur Diätetik der Seele, S. 465.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
95
denberg) vertritt Feuchtersleben einen Bildungsoptimismus, der medizinische und pädagogische Aspekte vereint: Die Bildung »läßt uns die Phantasie des Knabenalters und den raschen Willen der Jünglingsjahre dem klaren Lichte einer männlichen Vernunft unterordnen, ohne sie zu zerstören«.145 Dadurch ist es letztlich die Bildung und mit der Bildung die Ausrichtung auf das Ganze der Gesellschaft und somit die Sittlichkeit, welche als diätetisches Mittel leibliche Relevanz erhält. Dort, wo die Phantasie ohne Richtung bleibt und nur passives ‘Gefühl’ ist, dort, wo der Wille sich nicht zur ‘Gesinnung’ bildet und durch die »Dämonen der Gesundheit«, das heißt durch »Unentschlossenheit, Zerstreutheit, Unaufgelegtheit, Verdrießlichkeit«, besiegt wird, dort, wo der Verstand sich nicht in »Selbstüberwindung und Entsagung«146 übt, dort ist nicht allein die leibliche Gesundheit bedroht, sondern auch die Moral: »Gesundheit ist nichts anderes als Schönheit, Sittlichkeit und Wahrheit«:147 Diese übergreifende Perspektive zeigt sich deutlich, wenn Feuchtersleben in seiner Diätetik mit der ‘Hypochondrie’ – »jene größte Lebenskrankheit des innerlichen Zwiespalts« – 148 ins Gericht geht, welche die negative Seite des Gemüts von Mayrhofer bezeichnet. In ihr erkennt er nicht nur eine krankhafte egoistische Neigung, sondern ein Zeitübel, welches von Tätigkeit und Sittlichkeit ablenkt: »Solange wir gesund genug sind, unser Tagewerk zu verrichten und nach getaner Arbeit das Behagen der Ruhe zu schmekken, so ist es unsere Pflicht – ich sage Pflicht, bürgerliche und diätetische, uns um unser Leibliches nicht weiter zu kümmern.«149 In der Entwicklung von der Phantasie, als ‘vegetativer’ Basis über das gebildete Wollen, den Charakter, zur Selbsterkenntnis und Integration in die bürgerliche Gesellschaft hat Feuchtersleben die psychologische und ethische Seite eines Lebenslauf-Modells entworfen, welches an die Konzeption eines Bildungs- oder ‘Initiationsromans’ erinnert und auch für die Biographik des 19. Jahrhundert relevant ist.150 Doch fehlt bei Feuchtersleben auch nicht die irrationale Seite des Menschlichen, die von Temperament, Leidenschaften und Affekten151 bestimmt wird. Hier hat der Ver———————— 145 146 147 148 149 150
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Ebd., S. 476. Ebd., S. 481. Ebd., S. 534. – ‘Schönheit’ ist in physiognomischer Hinsicht für Feuchtersleben Ausdruck innerer Harmonie der Kräfte. Ebd., S. 521. Ebd., S. 513. Zur Anthropologie des Initiationsromans vgl.: Michael Titzmann, Die »Bildungs-« / Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hgg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 7–64. Die Begriffe Leidenschaft und Affekt bezeichnen nicht eine scharfe Trennung zweier Bereiche, sondern Tendenzen: »Affekte sind Erschütterungen des Gemütslebens, haben
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
stand neben der Gewohnheit eine regulierende Wirkung, aber keine verdrängende. Der wichtigste Grundsatz wird in dem Begriff der »Oszillation«152 gefaßt, worunter Feuchtersleben das Wirken der Gegensätze versteht: Keine Leidenschaft, kein Affekt existiere ohne sein Gegenteil, wobei stets ein Gleichgewicht hergestellt werde. Je extremer nun eine Leidenschaft erregt wird, desto extremer tritt darauf ihr Gegenstück in den Vordergrund. Nur Mäßigung, Gewohnheit und teilweise der Verstand vermögen es, die Leidenschaften zu dämpfen und dadurch die Schwankungen zu mindern. Die Relevanz dieser Oszillationstheorie für die Interpretation des einzelnen Lebenslaufes zeigt nicht zuletzt die biographische Skizze Johann Mayrhofer, in welcher der Widerstreit von ‘gemütlicher Laune’ und hypochondrischem Egoismus als lebensvernichtend dargestellt wird. Im harmonischen Ausgleich (nicht in der Aufhebung) der Gegensätze wird Feuchterslebens Ideal einer Einheit sämtlicher Kräfte im Menschen deutlich: Leib und Seele finden zu einem harmonischen Verhältnis in der Besänftigung der gegensätzlichen Kräfte, im Ausgleich von Freude und Schmerz, in einer Herrschaft des Verstandes, die nicht zur Negation des Irrationalen führt:153 Gesundheit sieht Feuchtersleben nicht in der statischen Normalität, sondern in dem individuell zu schaffenden Gleichgewichtszustande von Leib und Seele. Jeder Mensch erzeugt immer neu durch innere Aktivität seine individuelle Gesundheit. Letztlich wird er nur gesund sein können, wenn er sich auf die höhere Bestimmung des Menschen und der Menschheit besinnt.
In jedem Menschen ist freilich ein Keim zur Disharmonie der Kräfte immer schon angelegt. Persönlichkeit und ‘individuelle Gesundheit’ werden so zu einem gefährdeten Gut, das im einzelnen Leben nach den je eigenen Voraussetzungen stets neu erworben werden muß. Bildung und Harmonie der Seelenkräfte sind die Voraussetzung zu ihrer Hervorbringung; Hypochondrie und Melancholie gelten als die markantesten Zeitübel, welche diese sittliche Individualität gefährden, da sie die moralische Integrität und die freie Selbstverantwortlichkeit des einzelnen außer Kraft setzen können. – Nichts zeigt dies eindringlicher als der Freitod Mayrhofers, der gerade als Versagen der Oszillation geschildert wird. Dabei erscheint der Freitod zwar durchaus als ein sittliches Versagen, doch liegt dieses eben im Rahmen des Menschlichen. Feuchterslebens Darstellung Mayrhofers folgt dem Interesse an der menschlichen Seite des Dichters in ihren Spannungen und ihrer spezifi———————— 152 153
mehr passiven Charakter, Leidenschaften bezeichnen den Zustand der ‘aktiven Gemütsbewegung’.« Rißmann, Ernst Freiherr von Feuchtersleben, S. 110. Feuchtersleben, Zur Diätetik der Seele, S. 509. Rißmann, Ernst Freiherr v. Feuchtersleben, S. 144.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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schen Konstitution. Diese erscheint wichtiger als die Äußerlichkeit der historischen und sozialen Daten oder des Ruhmes:154 Mich wird die Erinnerung an diesen echten, würdigen Menschen nie verlassen. Sie stärkt mich bei der entmutigenden Betrachtung des blinden Haufens, der sich, vom Winde der Mode getrieben, zum Feldgeschrei um die Standarte jener lebens- und marklosen Idole sammelt, welche die Schüler, die sie gemacht haben, für Götter ausgeben. Wenn ich sein Bild gegen das so vieler dieser voreiligen Verkünder einer neuen Dichtkunst halte, so erscheint er mir als ein Mann gegen Knaben. Ein Mann aber ist es eben, der uns in unsern jetzigen literarischen Zuständen nottut.
Die anthropologische Perspektive der Biographie richtet den Blick auf das die Menschen – den Leser und den Biographen mit den Biographierten – Verbindende, nicht auf das Trennende, sowie auf den bleibenden Wert des privaten Menschen, nicht auf die Tageskonjunkturen. Der bedeutende, aber nicht makellose, der besondere, aber nicht unerreichbare Mensch, dessen Charakter und Gemüt porträtiert werden, steht dem Biographen näher als lebensferne Genialität oder Idealität.155 Auch hier sind es die Äußerlichkeiten, die einzelnen Ereignisse, Handlungen, aber vor allem auch öffentliche Stellung, Ansehen und Ruhm, welche die menschlichen Qualitäten eher verdecken und darum nicht das Interesse des Biographen finden sollen. Darum wird auch der fundamentale Unterschied zu einer Charakteristik und Biographik jungdeutscher Autoren deutlich, die sich zwar auch von den Gegebenheiten entfernen und auf den Menschen konzentrieren, aber ihre Charakteristik zu jener polemischen Kritik nutzen, die Feuchtersleben wie Stifter fernstand.156
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Feuchtersleben, Johann Mayrhofer, S. 354. Entsprechend wird in einem Aufsatz »Goethe und Schiller« selbst Goethe vor jenen in Schutz genommen, die ihn als »Genie« feiern, denn auch bei Goethe sei es »nicht so geistig schlaraffenmäßig« gewesen, vielmehr habe die Persönlichkeit, die Bildung und vor allem der »Schweiß« das Werk geschaffen. Ernst v. Feuchtersleben, Goethe und Schiller. In: Feuchterslebens ausgewählte Werke, S. 329–336. Zum hier nicht zu skizzierenden Verhältnis der österreichischen Autoren zu den Jungdeutschen sowie zum inneren Profil des Vormärz in Österreich sei verwiesen auf: Hubert Lengauer, Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien, Köln: Böhlau 1989; Primus-Heinz Kucher, Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österreichischen Literatur 1820– 1850. Tübingen u. Basel: Francke 2002.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
2.3.3. Jungdeutsche Charakteristiken (Laube und Gutzkow) »das Interessanteste sind nicht mehr die Begebenheiten, sondern die Menschen« (Karl Gutzkow)
Mehrere der führenden jungdeutschen Autoren, darunter Heinrich Laube und Karl Gutzkow, auch Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt (1808– 1861) oder Gustav Kühne (1806–1888) und Alexander Jung (1799–1884) publizierten seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ebenfalls Charakteristiken und Biographien.157 Allerdings beschritten die Jungdeutschen andere Wege als Varnhagen, indem sie die literarische Persönlichkeitsdarstellung nicht als »Todten- und Sühnungsopfer« (Gutzkow)158 nutzten, sondern als ein scharfes Instrument der Kritik. Die wichtigsten Tendenzen sollen hier nach einem Seitenblick auf Laube vor allem anhand von Gutzkows Arbeiten demonstriert werden. Bei den Texten, die Heinrich Laube unter dem Titel Moderne Charakteristiken in zwei Bänden 1835 veröffentlichte, handelt es sich um vorwiegend literaturkritische Charakterbilder, nicht eigentlich um Biographien, denn es fehlt ihnen fast vollständig das epische Moment. Das Werk erschien in dem Jahr, als der berüchtigte Bundestagsbeschluß zum Verbot der jungdeutschen Schriften gefaßt wurde. Laubes Buch stellt – von einigen politischen Stücken im ersten Band abgesehen – eine literaturgeschichtliche Sichtung dar, in welcher aus der überlegenen Haltung einer nachfolgenden, fortschrittlicheren literarischen Generation eine kritische Abrechnung mit der vorangegangenen romantischen Epoche vorgenommen und das Lob der moderneren Autoren (wie Varnhagen von Enses) formuliert wird: »Es rollt jetzt eine werdende Welt, ihre Fahne ist die Prüfung, ihr Scepter das Urtheil.«159 Schon der Titel des Bandes kündigt den parteiischen Standpunkt an, denn ‘modern’ ist für Laube – seiner Geschichte der deutschen Literatur folgend –160 verknüpft mit dem revolu———————— 157
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Wienbarg, Mundt, Kühne und Jung sollen hier nicht genauer betrachtet werden; zu nennen wären folgende Werke: Ludolf Wienbarg, Paganini’s Leben und Charakter. Hamburg: o. Vlg. 1830; Theodor Mundt, Charlotte Stieglitz. Ein Denkmal. Berlin: Veit 1835; ders., Charaktere und Situationen. Novellen und Skizzen, Wanderungen auf Reisen und durch die neueste Literatur. 4 Bücher. Wismar u. Leipzig: Schmidt 1837; Gustav Kühne, Weibliche und männliche Charaktere. 2 Bde. Leipzig: Engelmann 1838; ders., Portraits und Silhouetten. 2 Theile. Hannover: C. F. Kius 1843; ders., Deutsche Männer und Frauen. Eine Galerie von Charakteren. Leipzig: Brockhaus 1851; Alexander Jung, Charaktere, Charakteristiken und vermischte Schriften. 2 Bde. Königsberg: Samter 1848. Karl Gutzkow, Vergangenheit und Gegenwart. 1830–1838. In: Ders., Schriften. 3 Bde. Hg. von Adrian Hummel u. Thomas Neumann. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1998, Bd. 2, S. 1157–1244, hier S. 1241. Heinrich Laube, Moderne Charakteristiken. Mannheim: Löwenthal 1835, S. 3. Laube, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 4, S. 93ff.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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tionären Aufbruchsgeist der jungen Generation nach der Julirevolution. Die Eigenständigkeit der deutschen Situation betonend erklärt er für die Modernen in ästhetischer Hinsicht Goethe, in systematischer Hegel und erst an dritter Stelle in revolutionärer Hinsicht Rousseau zu den Ahnen. Seit der Julirevolution sei deswegen zwar kein Traditionsbruch erfolgt, aber eine Zeit neuer Maßstäbe habe begonnen: die »kritische Periode«,161 deren Aufgabe es nicht mehr sei, literarische Fehden auszufechten, sondern gültige Urteile über das Überwundene zu fällen. Anders als bei den biographischen Arbeiten Varnhagens oder Feuchterslebens geht es explizit darum, die Charakteristik für die Kritik zu instrumentalisieren.162 Dabei zielt Laube freilich ebenfalls nicht auf die Wiedergabe äußerer Begebenheiten oder der literarischen Werke etwa eines Ludwig Tieck. Laube versucht aus einem kritischen Antrieb, das Wesen und den Charakter der Autoren in deren Werken zu finden.163 Dem polemischen Anliegen entsprechend findet sich keine sachliche Auseinandersetzung mit der Biographie oder ein abgewogenes Urteil über die einzelnen Werkaspekte. Laube gesteht Tieck durchaus literarisches Gespür und handwerkliches Geschick zu, doch: »Er hat niemals einen Mann, einen Charakter gezeigt, er hat für Alles geschrieben.«164 Besonders ein Darstellungsinteresse ist es, durch welches die Differenz zu Varnhagen von Enses Anliegen deutlich wird und das nun zum Mittelpunkt der kritischen Charakteristik wird: die Frage nach der Verbindung von privatem Charakter und öffentlichem Wirken für die Allgemeinheit, namentlich für die ‘Nation’. Laube urteilt über Ludwig Tieck: »er hat nichts mit unsrer Nation zu schaffen«,165 und dies stellt in seinen Augen einen Mangel an Charakter und Tugend dar: »So muß heutiges Tags Ludwig Tieck angesehen werden: als ein geistreicher Privatmann, der an der Regierung keinen Theil haben kann wegen Mangel an Grundsätzen und nationaler Würde.«166 In der Perspektive auf diese Verbindung von Privatcharakter und öffentlichem Charakter, die sich bei Varnhagen von Ense nur am Rand findet und die für ihn zumindest kein Bewertungsmaßstab für die biographierte Persönlichkeit war, wird die Umge———————— 161 162
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Laube, Moderne Charakteristiken, S. 7. Varnhagens Charakteristiken, die Laube als ‘klassische’ Texte der Gattung schätzte, sind für ihn so auch noch Ausdruck einer Zeit, der »die dogmatischen Maßstäbe in Wahrheit fehlen« (Laube, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 4, S. 212); hier soll die ‘kritische Periode’ mit einer ‘modernen Charakteristik’ deutlich andere Akzente setzen. Laube, Ludwig Tieck. In: Laube, Moderne Charakteristiken, S. 145–169. – Ähnlich verhält sich dies auch bei der politischen Charakterbiographie »Talleyrand« (ebd., S. 57–99). Obwohl in diesem längsten Stück der »Modernen Charakteristiken« das Biographische breiter berichtet wird, steht deutlich der Charakter Talleyrands im Vordergrund. Laube, Tieck, S. 160. Ebd. Ebd., S. 161.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
wichtung von der Charakterskizze zur Gesinnungskritik erkennbar. Laube kritisiert auf dieser Grundlage Tieck, Bettina von Arnim, E.T.A. Hoffmann und andere. Bettina von Arnim, so Laube, »vindicirt die Freiheit des Individuums in Launen und Liebe, aber man findet doch bald […], daß sie nur im Ahnungsreichen, Behaglichen, Wollüstigen der Kunst sich gern bewegt«.167 Eine wirkliche Humanität, die sich in der Beteiligung an allen Weltbegebenheiten zeigen müßte, fehle ihr (im Gegensatz zu Rahel Varnhagen). Die Kritik an E.T.A. Hoffmann fällt noch weit schärfer aus, denn dieser habe sich in vollständiger Wirklichkeitsflucht der Nachtseite des Lebens verschrieben: »erst wenn der Sonnenschein überstanden war, und er im Weinhause sich eingerichtet hatte, begann sein Leben«.168 Die kritische Charakteristik bedeutete eine deutliche Verschärfung der literarisch-ästhetischen Auseinandersetzung,169 denn es ging erst in zweiter Linie um die ästhetische Bewertung des einen oder anderen Werkes, in erster Linie um die moralische Kritik an der Person selbst, da deren Charakter bzw. Charakterlosigkeit als Basis des Werkes zum eigentlichen Gegenstand der literarischen Fehde wurde. Laube hat diese Charakterkritik der Literatur auch – und teils entgegen der eigenen Forderung, die Geschichte der Literatur nicht als eine Geschichte der Männer, sondern in Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte zu schreiben – 170 in seiner Geschichte der Deutschen Literatur fortgeführt, welche besonders zur Darstellung der jüngeren Literatur immer wieder Charakteristiken in der skizzierten Machart bietet und so über Strecken zwar nicht als biographistische Literaturgeschichte, aber als eine Charaktergeschichte der Literaten und der Literatur zu lesen ist. Interessant wäre eine Analyse dieser Literaturgeschichte anhand der Frage, welche Autoren charakterlich, welche historisch und welche nur abstrakt im Hinblick auf ihre ‘Lehre’ dargestellt werden. Hegel, dessen Werk als philosophisch wegweisend für die neueren Richtungen angesehen und breit dargestellt wird, wird fast ausschließlich im Blick auf die Lehren betrachtet. Schiller dagegen ist durch Werk und Persönlichkeit wichtig für die Literaturgeschichte, Börne trotz seines unliterarischen Stils wegen seines lauteren Charakters, und Grabbes Werk ist überhaupt nur aus seiner Persönlichkeit zu verstehen: »Miß———————— 167 168 169
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Ebd., S. 173. Ebd., S. 181. Eine gewisse Abmilderung der Texte in »Moderne Charakteristiken« gegenüber den ihnen teils zugrunde gelegten Rezensionen für die »Zeitung für die elegante Welt« im Hinblick auf Adelskritik und die Deutlichkeit der liberalen Forderungen erkennt: Ellen von Itter, Heinrich Laube. Ein jungdeutscher Journalist und Kritiker. Frankfurt/M. etc.: Lang 1989 (Europäische Hochschulschriften I/1143), S. 64–68. So in der Rezension zu August Wilhelm Bohlz’ »Geschichte der neueren deutschen Poesie«, vgl. bei: Jacob Karg, Poesie und Prosa. Studien zum Literaturverständnis des Jungdeutschen Heinrich Laube. Bielefeld: Aisthesis 1993, S. 102f.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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lich erscheint’s, hier den Einfluß der Zeit nachzuweisen. Er ist gewiß in starkem Grade hinzugetreten; aber die Scheidung von aller rein persönlichen Art ist bei Grabbe schwer.«171 Im Gegenteil: Die mangelnde Berücksichtigung der »Grabbe’schen Lebensgeschichte« zugunsten einer Erklärung bloß aus dem Zeitgeist – wie bei Gervinus – müsse fehl gehen. Laube setzt dagegen eine Pathologie der Persönlichkeit Grabbes (‘Zerrüttung’), welche insbesondere aus der mangelhaften Erziehung durch eine gewalttätige, rohe Mutter resultiere. Aus dieser leite sich die Unbändigkeit in Charakter und Werk ab. Frühzeitiger Alkoholexzeß und die juristische Klage gegen die Mutter werden als zusätzliche Zeichen der Zerrüttung angesehen. Entsprechend sei das Werk zwar von bedeutenden Ideen getragen, aber die mangelnde Durchbildung der Werke lasse ihn als Vorbild ungeeignet erscheinen: »Nur Jugend, im Thatendrange unklare Jugend hat für wachsende Literatur von Grabbe gehofft […].«172 Wenn so die Persönlichkeit des Autors sich im Charakter seines Werkes ausdrückt, und zugleich die Werke die ihnen charakterlich nahen Leser ansprechen, so zeigt sich, daß der Literaturkritik ein über die literarisch-ästhetische Ebene hinausführendes Potential der Zeit- und Kulturkritik zukommt, vor allem ein Potential, neben den Autoren auch deren Leser ethisch und psychopathologisch zu diskreditieren (oder zu erheben). Diese Ebene der Kritik teilt Laube durchaus mit Feuchtersleben, der für eine ärztliche Kritik der Literatur eintritt, und sie kulminiert in der Pathologie der Kultur eines Max Nordau (s. u.). Den wohl umfangreichsten Beitrag zur jungdeutschen Biographik lieferte der bekannte Journalist, Dramatiker, Erzähler und frühe Erfolgsschriftsteller Karl Gutzkow – »der Schriftsteller mit dem großen Schneid und der noch größeren Schnauze« (Sengle)173 –, der in seiner Sammlung der zunächst hauptsächlich in der Augsburger Allgemeinen veröffentlichten Oeffentlichen Charaktere (seit 1835),174 in seinem »psychologische[n] Fragment« Schiller und Goethe (1841)175 und in seinem breiter angelegten ———————— 171 172 173 174
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Laube, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 4, S. 105. Ebd., S. 112. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 156. Karl Gutzkow, Oeffentliche Charaktere. Vollständig umgearb. Ausgabe. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt 1845 (Gesammelte Werke 2; der erste Teil der hier vereinten ‘Charaktere’ erschien 1835 bei Hoffmann & Campe in Hamburg; Ndr.: Frankfurt/M.: Athenäum 1973). [Karl Gutzkow,] Schiller und Göthe. Ein psychologisches Fragment. Hamburg: Hoffmann & Campe 1841. – Hierzu auch: Ders., Ueber Göthe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte. Berlin: Plahr’sche Buchhdlg. 1836. – Beide Werke neu ediert in: Gutzkow, Schriften.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Werk Börne’s Leben (1840)176 entsprechende Arbeiten vorgelegt hat. In der Vorrede zu Börne’s Leben bekennt Gutzkow, er habe eine besondere »Neigung«, sich »in fremde Individualitäten hineinzuleben«,177 und versuche stets, den Biographierten »von innen heraus zu beurteilen«.178 Der jungdeutsche Gutzkow wendet sich trotz der grundsätzlich ähnlichen Tendenz auch gegen eine detaillierte Entwicklung des »Privat-Charakters«, wie er sie bei Varnhagen von Ense oder Wilhelm Dorow erkennt. Ausdrücklich lehnt er die vorherrschende Auffassung der Biographen ab, daß die »Begebenheiten« ausschließlicher Gegenstand der Geschichtsschreibung und nur der private Charakter Gegenstand der Biographik zu sein habe. Gleichzeitig grenzt sich Gutzkow von einer dokumentarischen Biographik ab, die in möglichst schlichtem Stil die objektiven Fakten darbieten möchte. Er betont dagegen sowohl einen künstlerischen Anspruch als auch eine von Toleranz und Verständnis geprägte Biographik, die hinter der Wahrheit der Fakten die Wahrhaftigkeit des sittlichen Menschen sucht bzw. in der Negation auch deutliche moralische Verurteilungen einschließt. Zwischen Privatcharakteristik und philologischer Geschichte positioniert Gutzkow das eigene Anliegen, zu zeigen, was in der Geschichte »auf Rechnung der Charaktere kommt«.179 Nach der Zeit der großen Geschichtsbewegungen, denen der einzelne im hegelianischen Sinn untergeordnet schien, möchte Gutzkow nun die individuelle Verantwortung und Leistung derer hervorheben, die in einer weniger geschichtsträchtigen und für individuelles Handeln darum mehr Spielräume bietenden Zeit »wieder die Begebenheiten machen«.180 Damit weicht Gutzkow deutlich von der bisher skizzierten Biedermeierbiographik ab. Der gewählten Form des biographisch-charakterisierenden Essays entspricht der Verzicht auf breite Geschichtserzählung sowie von biographischen Details im Sinn einer ‘Privatbiographie’ – etwa von der biographischen Darstellung, »um welch Uhr des Morgens Martinez de la Rosa aufsteht, ob Wellington gern geräucherten Schinken ißt«.181 Während er die detaillierte Privatschilderung »einem biographischen Denkmalsetzer« überläßt,182 geht es Gutzkow um die Frage nach der charakterli———————— 176 177 178 179 180 181 182
Karl Gutzkow, Börne’s Leben. Hamburg: Hoffmann & Campe 1840 (Ludwig Börne’s gesammelte Schriften. Supplementband). Ebd., S. X. Ebd., S. XI. Gutzkow, Oeffentliche Charaktere 1845, Vorrede zur ersten Ausgabe [1835], S. III–VI, hier S. VI. Ebd., S. III. Ebd., S. V. Erst im Vergleich mit diesem direkten Vorläufermodell treten die Eigenheiten der Kurzbiographien und Charakteristiken Gutzkows hervor. Dann wird auch deutlich, daß Gutzkow weder auf die bloßen Lebensereignisse noch, wie Martina Lauster meint, auf die Lebensumstände zielt, sondern auf die Frage nach der charakterlichen Disposition und indi-
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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chen Disposition der eher vermeintlichen Helden der Zeitgeschichte. Im jeweiligen Charakter wird nun auch die Verantwortung für ‘Recht und Unrecht’ gesucht, denn in seinen persönlichen ‘Abrechnungen’ (wie in den zahlenmäßig geringeren laudativen Essays) geht er der Frage nach, »was auf Rechnung der Charaktere kommt, welche dies oder jenes Faktum entweder selbst gemacht oder doch gebilligt haben«.183 In der »Vorrede zur neuen Ausgabe« der Oeffentlichen Charaktere (1845) fügt Gutzkow diesem Anliegen noch die generalisierende Forderung nach einer unbefangenen und rückhaltlosen Geschichtsschreibung hinzu. Der Begriff Charakter wird von Gutzkow in doppelter Weise gebraucht. Zum einen handelt es sich um das ‘Charakteristische’ der Persönlichkeit, zum anderen gibt es auch bei Gutzkow den normativen Charakterbegriff, wie ihn Kant aufgestellt hat: ‘ein Mann von/mit Charakter’. Dabei werden die Begriffe vermischt, wie schon die von ihm aufgestellte Reihe der in den Charakteristiken repräsentierten, moralisch negativen Individualitätsklassen zeigt: »Meineidige, Servile, Dummköpfe, Glückspilze, Staatsphilosophen, Kammerherrn u. s. w.«184 In der Sammlung Oeffentliche Charaktere vereint Gutzkow essayistisch-klassifizierende Charakteristiken von Persönlichkeiten der jüngsten Geschichte. Neben Martinez de la Rosa, Mehemed Ali von Aegypten, Chateaubriand, Wellington, Rothschild u.v.a. wird auch der französische Klerikale und Staatsmann Talleyrand skizziert, dessen Charakteristik hier exemplarisch vorgestellt werden soll. Dabei wird die Annahme bestätigt, daß Gutzkows Charakteristiken, die zunächst den die Person charakterisierenden Merkmalen gelten, häufig in die ethische Frage münden, ob die jeweilige historische Persönlichkeit im emphatischen Sinn ‘Charakter’ gehabt habe. Gleich im ersten Satz macht Gutzkow deutlich, was Gegenstand der folgenden Studie ist: die sechs gebrochenen Schwüre, welche die ‘Geschichte’ Talleyrand zuschreibe. Geschickt wählt der Verfasser seinen Ausgangspunkt bei positiven Vorurteilen über Talleyrand: »Es gibt nämlich Leute, welche diesen greisen Priester für einen verkannten Propheten ansehen.«185 Dieses Urteil wird der kritischen Prüfung unterzogen:186 Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, seine Kokarde bald weiß, bald bunt zu färben? War sein Leben die Einflüsterung eines besonderen Genius, der ihn zu seinem Liebling gemacht hatte? Besaß Talleyrand eine unveränderliche Idee, eine Pensée immuable, wie Louis Philipp? Wir wollen sehen. ————————
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viduellen Verantwortlichkeit des einzelnen in der Geschichte. – Martina Lauster, Moden und Modi des Modernen. Der frühe Gutzkow als Essayist. In: Forum Vormärzforschung. Jahrbuch 1 (1995), S. 59–95, hier S. 72. Gutzkow, Oeffentliche Charaktere 1845, S. VI. Ebd., S. IV. Karl Gutzkow, Talleyrand. In: Ders., Oeffentliche Charaktere 1845, S. 21–38, hier S. 22. Ebd., S. 22.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Der folgende kurze Abriß des Lebenslaufes bringt ohne Erwähnung von Daten eher Anspielungen auf die historischen Ereignisse, als Informationen über deren Verlauf. Gutzkow setzt voraus, daß den Lesern die ‘Eckdaten’ der Biographie weitgehend vertraut sind. In sechs Schritten vollzieht er darum nur die sechs gebrochenen Schwüre Talleyrands nach, die Gutzkow einerseits zu der Auffassung bringen: »Talleyrand scheint die Diplomatie zum Selbstzwecke machen zu wollen«,187 andererseits aber das vernichtende moralische Urteil über den ‘Charakter’ Talleyrands als eines Vertreters des Individualitätstypus ‘der Meineidige’ vorbereiten: »Talleyrands sechs Meineide wird man vielleicht verzeihlich finden unter seinen Umständen; aber ein großer Charakter wäre nie in Verlegenheit gerathen, sie schwören zu müssen.«188 So besteht das Anliegen der biographischen Charakteristik darin, den Mangel an Charakter als einen Mangel an »Prinzip«, »System« und »Maxime« nachzuweisen.189 In seiner Grundauffassung ist Gutzkow hier nicht allzu weit von Varnhagen von Ense entfernt. Beide stellen die Frage nach der moralisch-charakterlichen Gestalt des einzelnen ins Zentrum ihrer Charakteristiken. Doch sucht Gutzkow diese nicht im Privaten als verborgenen ‘eigentlichen’ Charakter, sondern fragt kritisch nach dem Wirken des Charakters im öffentlichen Leben. Bereits der Titel der Sammlung, Oeffentliche Charaktere, kann also programmatisch als Reaktion auf die vorherrschende Art der (Privat)Biographik verstanden werden. Gutzkows Charakteristiken politischer Männer – die später erweitert wurden um Betrachtungen über Persönlichkeiten des literarischen Lebens wie Georg Büchner – erweisen sich so vor allem als politische Essayistik, deren publizistischen Ort jenseits der Tagesjournalistik Gutzkow selbst in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe (1835) ausführlich bestimmt. Er wendet sich dabei gegen eine Zeit, die so politisiert sei, daß man die Tageszeitung keinen Tag ungelesen lassen könne. Die Jagd nach den politischen Ereignissen habe überhand genommen: »Es ist doch nun genug dafür gesorgt worden, die Zeit unannehmlich, nüchtern und unpoetisch zu machen.« 190 Er fordert darum sowohl zur beschaulicheren Betrachtung der Menschen (statt der Ereignisse) als besonders auch zur kritischen Revision der ‘Heroen’ der jüngsten Geschichte auf. Seine Texte begreift er nicht lediglich als kritische Zweckprosa, sondern formuliert einen literarischen Anspruch. Diese Gratwanderung zwischen einer Prosa, die der ruhigen Betrachtung wie einem kunstvollen Stil verpflichtet sein soll, und politischer Polemik wird von Gutzkow mit ironischer Selbstkritik als Beschönigung bezeich———————— 187 188 189 190
Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Gutzkow, Oeffentliche Charaktere 1845, S. III.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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net, wofür er eine wohldurchdachte Erklärung liefert, in welcher die Beschönigung als Ausdruck des Mitleids mit dem geschichtlich Überholten gerechtfertigt wird:191 Ich habe die Blumen der Poesie auf die schlotternden Charaktere der großen Welt nicht geworfen, um die Narben ihrer Ehre oder die offenen Schäden ihres Verstandes zu verdecken, sondern um Euch zu zeigen, wie erhaben Ihr steht über Allen und wie mitleidig Ihr seyd mit der fremden Schwäche und dem allzuzähen Alter, das jedoch bald treten muß vor den Thron des ewigen Gerichtes!
Im Zentrum steht freilich nicht der Stilanspruch, sondern die ethische Charakterkritik. Gutzkow hat sich in seinen Ausführungen über Das Moderne (1837) deutlich zu der impliziten ethischen Konzeption seiner Charakteristiken geäußert. Er führt dort aus, daß sich in der Gegenwart der Mensch kaum mehr auf die Zeit berufen und Verantwortung anderen zuschieben könne. Der einzelne sei in der modernen Zeit für sich selbst in stärkerem Umfang verantwortlich:192 Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Individuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Thron Gottes? Ich glaube, das Letztere. Ich glaube, daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen.
Es zeigt sich, daß Gutzkows kritische Charakteristiken nicht allein einem polemischen Anliegen gehorchen, sondern daß die Veränderungen gegenüber Varnhagens Privatcharakteristiken auch auf einer veränderten Anschauung über die Verantwortlichkeit des einzelnen in seinem öffentlichen Handeln beruhen. Genügte bei Varnhagen von Ense die Besonderheit der charakterlichen Ausprägung für seinen Wert als Mensch, da der Biographierte ohnehin in seinem öffentlichen Handeln an die Zeitumstände zu sehr gebunden schien, als daß er in vollem Umfang für die historischen Entwicklungen oder nur für sein Verhältnis zu und Verhalten in Geschichte und Gesellschaft hätte verantwortlich sein können, bestand Gutzkow angesichts fehlender übergreifender Normen auf der umfassenden Eigenverantwortlichkeit des Individuums. Neben der politisch motivierten Charakteristik öffentlicher Persönlichkeiten verfaßte Gutzkow auch Texte ehrender Denkmalsbiographik, in welchen das Ansehen von persönlich oder gesinnungsmäßig nahestehenden Persönlichkeiten der jüngsten Zeitgeschichte gepflegt wird. Dies zeigt ———————— 191 192
Ebd., S. V. Karl Gutzkow, Die Moderne. In: Gutzkow, Schriften, S. 124–143, hier S. 133.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
seine bereits erwähnte Darstellung des verehrten, im Februar 1837 in Paris verstorbenen Dichters Ludwig Börne, den Gutzkow nicht persönlich gekannt hat: Börne’s Leben. Hier handelt es sich nicht um eine Angriffsschrift, sondern um die Verteidigung des biographierten Jungdeutschen gegen seinen Dichterkollegen Heinrich Heine. Heines Börnekritik nach dessen Tod ist der unmittelbare Redeanlaß für Gutzkow, der seine eigene ‘Biographie’ als einen ausgeweiteten, ehrenden Nekrolog (‘Ehrenkranz’) 193 versteht. Dabei geht es nicht um eine detaillierte Schilderung des (privaten) Lebenslaufes, sondern um die tolerante und respektvolle Erinnerung an den Charakter Börnes für die Nachwelt, welche nicht durch eine Detaildarstellung geleistet werden könne:194 Es war mir nicht möglich, mit den Lebensmomenten eines so merkwürdigen Mannes, wie Börne war, erst ein polizeiliches Verfahren anzustellen. Sollt’ ich zu Gericht sitzen und von einem abgekühlten Standpunkt herab in Börnes Leben sichten und scheiden, hier räumen, dort verdammen und aus einer Charakteristik eine gerichtliche Anatomie machen?
In der umfangreicheren und nicht polemisch motivierten Börne-Darstellung gewinnt zugleich Gutzkows ‘Charakterkunde’ an Profil. Die zentralen Begriffe, die Gutzkow mit gewisser terminologischer Unschärfe verwendet, sind ‘Gemüt’, ‘Umstände’, ‘Verstand’ und eben ‘Charakter’. Das Gemüt bezeichnet auch hier eine allgemeine Disposition und Veranlagung. Die konkrete Ausprägung des Gemütes, seine Entwicklung, erfolgt durch die ‘Umstände’: Erziehung, soziales Umfeld, Anregungen von außen. Entsprechend räumt Gutzkow in Börne’s Leben bei der Darstellung von Börnes Kindheit dem sozialen Umfeld, welches das Gemüt nicht bildet, aber doch in gewisse Richtungen drängt, einen breiteren Raum ein, als dies noch Varnhagen tat. Die Biographie wird eröffnet durch das Bild einer idealen Kindheit, die alle Bildungsvoraussetzungen erfüllt. Demgegenüber erscheint die Jugend des »Judenknaben«195 Börne als denkbar ungünstige Voraussetzung für die Entwicklung einer bedeutenden Persönlichkeit. Aus dieser sozialen Perspektive erklärt Gutzkow etwa einen Mangel an Ehrgeiz, der aus der Isolation der frühen Privaterziehung und sozialen Ausgrenzung entstanden sei. ———————— 193
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Gutzkow, Börne’s Leben, S. VIII; Gutzkow bezeichnet seine Biographie auch als »Gedächtnißtempel« (S. XII). – Gutzkow hatte 1837 bereits ein Gedicht »Börne’s Tod« publiziert; 1838 erschien ein Aufsatz »Erinnerungen an Börne« im »Telegraph für Deutschland«; Auszüge aus dem Buch »Börne’s Leben«, welches schon 1839 fertiggestellt war und bei Campe verzögert wurde, erschienen als Vorabdruck im »Telegraph« (Jg. 1840). Vgl. a.: Joachim Jendretzki, Karl Gutzkow als Pionier des literarischen Journalismus. Frankfurt/M.: Lang 1988 (Europäische Hochschulschriften I/1067), S. 215ff. Gutzkow, Börne’s Leben, S. XI. Ebd., S. 57.
2.3. ‘Biedermeierliche Biographik’
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Gutzkow ist weit von einer psychologischen Deutung der Kindheit entfernt. Das Gemüt hat eher wie bei Kant einen fast physiologischen Charakter und wird durch das Umfeld positiv oder negativ beeinflußt, ohne daß es sich um innere Konfliktsituationen im Sinne einer modernen Psychologie handelte. Als regelnde Kraft vermag allerdings der Verstand auf das dispositionelle Gemüt zu wirken, worin sich der Charakter erweist. Gutzkow bezeichnet ein spezifisches Verhältnis von Gemüt und Verstand als Charakter, in welchem die negativen Züge des Gemüts – übergroße Emotionalität – durch den Verstand und besänftigende Gemütszüge eingedämmt werden. Einerseits stellt Gutzkow traditionell die »Dämonen des Gemüts« ganz im Sinn der anthropologisch-ethischen Grundlagen der Leistung des ‘Charakters’ gegenüber; andererseits widerspricht die Herrschaft des Gemüts über den Verstand nicht mehr einer positiven Einschätzung der Person.196 Daß sich Börne vor dem Hintergrund der schlechten sozialen Bedingungen dennoch zu einer bedeutenden Persönlichkeit entwickelt, ist die Leistung des Charakters, dessen frühe Regung sich als eine »Sehnsucht« zeigt, die Verhältnisse zu überwinden. Allerdings scheint hier für Gutzkow ein Anreiz von außen notwendig zu sein:197 So tragen wir doch Alle eine Erinnerung in uns von jugendlicher Pfingstwonne und Weihnachtsfreude, von den ersten Bescherungen, die uns gute Eltern auf den grünen Teppich unsrer Kindheit legten, von unsern ersten Träumen auf dem Rasen unserer Spielplätze: – Börnen, dem Judenknaben, wurde wenig davon geschenkt und doch lag es in ihm, die Sehnsucht darnach fühlte er schon im väterlichen Hause, und darum, weil er so wenig davon gehabt hatte, rührte ihn so sehr die Welt Jean Pauls.
Der von Gutzkow gesuchte Reiz von außen, der hier den Charakter trotz der Isolation seiner sozialen Umgebung weckt, wird durch die Literatur – und einzig durch Jean Paul – an Börne herangetragen. Aus Disposition und Kindheitsentwicklung entwickeln sich schließlich die Stimmungen und Anschauungen des Erwachsenen, die das äußere historische Erscheinungsbild der Persönlichkeit prägen. Im gewöhnlichen Lauf des Lebens werden die Eigenschaften der Person allerdings kaum erkennbar, da hier das historische Tagesgeschehen im Vordergrund steht. Allerdings gibt es Situationen, in denen der normativ-sittliche Charakter, der letztlich statisch ist, stärker hervortritt: »Der Charakter offenbart sich bekanntlich in Krisen«,198 die der Biograph deshalb genauer zu analysieren hat. Gutzkow erkennt eine solche gewichtige Krise in der »Wirkung seiner Pariser Briefe«, als Börne »von allen Seiten die bittersten Verletzungen seines Herzens ———————— 196 197 198
Vgl. ebd., S. 246f. Ebd., S. 57. Ebd., S. 246.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
und Ehrgefühls zu erfahren hatte«. »Sanftmut und Adel«199 habe der Kritisierte gegenüber seinen Gegnern gezeigt, und darin erweise sich letztlich, daß »Börne’s Gemüth seinen Verstand beherrschte«.200 Auch in seinen Werken zeige sich diese Eigenheit Börnes:201 Börne’s Schriften bestätigen, was die, die ihn kannten, von ihm als Menschen erzählen. Er hatte Waffen, um verheerend zu wirken, er hatte Witz und Satyre genug, um unter Voraussetzung der deutschen Verhältnisse, mit Voltaire zu wetteifern, aber sein Gemüth zog ihn zu Rousseau hin, dem er auch in dem edlen Gebrauch des Spottes, als der letzten Waffe der Indignation über bösen Willen und böse That, ähnlich ist. Jede Zeile seiner Schriften verrätht[!] den Menschenfreund, der, entfernt von Eitelkeit oder selbstsüchtigen Zwecken sein großes Talent nur unter der Form des Berufes kannte.
Der Zusammenhang von Werk und Gemüt wird von Gutzkow wiederholt unterstrichen, und besonders für den »tiefern Forscher« böten sich hier Erkenntnismöglichkeiten: »Es giebt in Börne’s Schriften gewisse Wendungen, die öfters wiederkehren und für die Richtung seines Gemüthes sehr bezeichnend sind.«202 Beiläufig bezieht hier Gutzkow – anläßlich einer Seitenbemerkung zu Börnes Hypochondrie – auch literatur- und biographietheoretisch Stellung, wenn er die größere Bedeutung des Charakters gegenüber physischen Einflüssen auf das Werk unterstreicht. Börnes Gegner »werden seine Schriften aus den krankhaften Störungen des Unterleibes zu erklären suchen und alles das, was sie an dem trefflichen Mann für excentrisch halten, mit seinen Ganglien in Verbindung bringen«.203 Doch habe die physische Konstitution auf Börnes Schreiben keinen wesentlichen Einfluß gehabt. Börne wäre bei anderer Konstitution allenfalls weniger anfällig für traurige Stimmungen gewesen und hätte seine Ansichten nur um so nachdrücklicher vertreten. Der Charakter ist im Sinn Gutzkows also zum einen als ein Gegenpol zu Geschichte und Gesellschaft zu verstehen, zum anderen zeigt sich auch bei ihm die biedermeierlich-anthropologische Ansicht von der Freiheit des Menschen von seiner anatomisch-pathologisch sezierbaren physischen Beschaffenheit. Durch die jungdeutschen Autoren wurden die Möglichkeiten biographisch-charakteristischen Schreibens beträchtlich erweitert. Der ‘bieder(meierlich)en’ Tugendbiographik eines Varnhagen von Ense stand die kritische und gar polemische Charakteristik der Jungdeutschen zur Seite. In der biographischen Darstellung selbst kamen neben oder an der Stelle ———————— 199 200 201 202 203
Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 250. Ebd., S. 249.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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von Privatzeugnissen und Korrespondenzen nun stärker die Erziehung und das soziale Umfeld zur Sprache; der Privatcharakter des sittlichen Individuums wurde ergänzt durch die Frage nach seinem öffentlichen Wirken. Im Umfeld jungdeutscher Autoren wäre wohl eine RobespierreBiographie denkbar gewesen. Immerhin hat der Vormärzautor Rudolf Gottschall – später tatsächlich Robespierre-Biograph – das erste deutsche Robespierre-Drama verfaßt (Robespierre. Drama in fünf Aufzügen. Neisse 1845), in welchem Robespierre aus dem Schatten Dantons gezogen wird, in welchen ihn Büchner gestellt hatte.204 Gottschall beschreibt das eigene Stück selbstkritisch in seiner Literaturgeschichte: »Der innere Konflikt des Helden ist nicht genugsam markiert; dagegen viel Fleiß auf die Charakteristik der Revolutionshelden und die Darstellung des wilden revolutionären Lebens und seiner ganzen Gedankenatmosphäre verwendet.«205 Der innere Konflikt, wie ihn Stifter im eingangs zitierten Brief an Heckenast eher vage andeutet, wird auch in den Charakteristiken des Biedermeier und Vormärz kaum entfaltet: Der individuelle Konflikt zwischen Idealität der Anschauungen und den tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten in einer eigendynamischen Geschichtsentwicklung wird zugunsten der anthropologischen und ethischen Perspektive zumeist verdrängt – mit Ausnahme etwa Feuchterslebens, der übrigens wie Stifter von der Gestalt Robespierres fasziniert war.206
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke »Die Historie hat genug mit dem, was sie kann. Sie verzichtet darauf, aus der Psychologie der Menschen, auch der bedeutendsten, erklären, d. h. ableiten zu wollen.« (Johann Gustav Droysen, Vorlesungen zur Historik 1857)
Stifters Position zur ‘großen’ Geschichte wird in der bekannten Vorrede zu den Bunten Steinen sowie im ersten Kapitel der Studienfassung der ———————— 204
205 206
Vgl. zur Stoffgeschichte: Gerhard P. Knapp, Robespierre. Prolegomena zu einer Stoffgeschichte der Französischen Revolution. In: Elemente der Literatur. Beiträge zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung. Elisabeth Frenzel zum 65. Geburtstag. Hg. von Adam J. Bisanz u. Raymond Trousson. Stuttgart: Kröner 1980 (Themata 702), Bd. 1, S. 129–154. Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur, Bd. 4, S. 165. Feuchtersleben schrieb in den nicht datierten »Tagebuchblättern« (1824 oder später): »Den Robespierre vertheidigte ich stets. Ich hoffe, einst, was ich über ihn halte, zu schreiben.«. Ernst v. Feuchtersleben, Tagebuchblätter I. In: Ders., Sämtliche Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Hedwig Heger. Bd. 6. Bearb. von Barbara Otto. 2 Teilbde. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 2002, S. 285–290, hier S. 288.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Mappe meines Urgroßvaters in wünschenswerter Deutlichkeit skizziert, indem er ein allgemeines Interesse an der menschheitsgeschichtlichen Ausbildung des Sittengesetzes und an dessen Wirken in Geschichte und Gegenwart gegen eine Ereignisgeschichte oder eine Geschichte der Heldentaten abgrenzt.207 Bei Stifter artikuliert sich so der epochale Widerstreit zwischen literarischer Anthropologie und akademischer Historik, der auch für die gattungsgeschichtliche Situation der Biographik, wie sie sich im Kontrast zwischen biedermeierlicher Charakteristik und akademischer Personalhistoriographie zeigt, bedeutsam wird. Und bei Stifter wird vor dem anthropologischen Hintergrund auch das Problem der tragischen Größe und überhaupt der bedeutenden Einzelpersönlichkeit relativiert, ———————— 207
Im ersten Kapitel der »Mappe meines Urgroßvaters« (Studien-Fassung) beschreibt Stifter im Rückgriff auf die familiale Erinnerung, wie sich die geschichtlichen Handlungen in der Geschichtserzählung in eine »Dichtung des Plunders«, eine Abenteuer- und Heldengeschichte verwandeln, da die Selektionsprozesse gerade das menschheitsgeschichtliche Moment des Sittengesetzes und des sittlichen Lebens ausblenden. Erst die Erkenntnis der alltäglichen, anthropologischen Komponenten des vergangenen Lebens vermag die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, wie sie in der »Mappe« durch die Lektüre der autobiographischen Aufzeichnungen des Urgroßvaters ermöglicht wird. Der menschheitsgeschichtliche und anthropologische Aspekt offenbart sich also weder in einer Ereignis- und Tatengeschichte noch in einem breiten menschheitsgeschichtlichen Epos. In der »Vorrede« zu den »Bunten Steinen« heißt es entsprechend: »Wenn wir die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das vorzugsweise Epische. Aber wie gewaltig auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen alltäglichen in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesez am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden und gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens.« Stifter geht noch weiter, wenn er deutlich macht, daß nur in diesen alltäglichen Dingen das menschheitstreibende und -erhaltende Sittengesetz erahnt werden kann, denn für sich, als Abstraktion aus der Geschichte bleibt es ebenso unerkannt wie das tatsächliche Wirken der Natur erst allmählich durch die Erekenntnis einzelner Naturgesetzmäßigkeiten erahnt werden kann. Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Stifter, Werke und Briefe, Bd. 1,5 (1982), S. 9– 234, hier bes.: S. 16,23–16,33; ders., Vorrede. In: Ebd., Bd. 2,2 (1982), S. 9–16, zit. S. 14,17– 28. – Diese anthropologische Geschichtsauffassung, welche die Naturgeschichte des Menschen als eine Entwicklungsgeschichte hin zu einem höheren Zweck beschreibt, der sich nicht im Einzelwesen, sondern in der Gattung, in der Sozialität des Menschen erweist, steht in einem dauerhaften Spannungsverhältnis zu einer empirischen Geschichtsschreibung. Dabei wird das Projekt der Universalgeschichte zu einem fernen Zukunftsprojekt (bei Schiller, noch bei Stifter) erklärt. Vgl. im Zusammenhang etwa: Achim Lohner, Anthropologie und Vernunftkritik. Hegels Philosophie der geschichtlichen Welt. Paderborn etc.: Schöningh 1997, S. 170–184 (zu Kant); Ulrich Muhlack, Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus. In: Otto Dann, Norbert Oellers u. Ernst Osterkamp (Hgg.), Schiller als Historiker. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 5–28. – Aufgegeben wird der universalgeschichtliche Gedanke weder von Stifter noch bei Historikern wie Droysen oder Ranke; die jeweiligen Wege erklären sich eher aus den unterschiedlichen Lösungsansätzen zur Bewältigung des Vermittlungsproblems zwischen anthropologischer, geschichtsphilosophischer und historisch-politischer Aufgabenstellung.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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denn das Interesse an dem tragischen Geschick des einzelnen in der Ereignisgeschichte lenkt – nicht zuletzt bei einer grundsätzlich pessimistischen Sicht auf die Handlungsmöglichkeiten des einzelnen in konkreten historisch-politischen Konstellationen – von der Erkenntnis der in übergreifender Schau nicht tragisch verlaufenden, sondern unaufhaltsam voranschreitenden Entwicklung der Menschheit ab. Dies schließt zunächst – wie Stifters Romanprojekt zeigt – freilich nicht das eigene Interesse an der Frage nach dem Konflikt ethischer Handlungsmotive und geschichtlicher Verwicklung aus.208 Um die für die Biographik relevanten Aspekte des Widerstreits zwischen Anthropologie und Historik zu gewinnen, soll in diesem Abschnitt die Personalhistoriographie von Droysen und Ranke skizziert werden. Die Biographik der Historiker entwickelte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht lediglich abseits von der skizzierten Biographik und Charakteristik, sondern explizit gegen diese.209 Dabei wurde die Auseinandersetzung freilich nicht direkt, sondern über den Klassiker charakterisierender Lebensbeschreibungen, über Plutarch, geführt, in dessen Tradition die Betonung des Individuums, des Charakters und der Moralität des einzelnen, die Betonung des ‘Privatcharakters’ zu stehen schien.210 Der ‘preußische Plutarch’ Varnhagen von Ense, der ‘österreichische Plutarch’ Joseph von Hormayr (1781–1848)211 akzentuierten in unterschiedlicher Weise die ———————— 208
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In diesem Sinn zieht Wolfgang Matz in seiner Stifter-Biographie eine Verbindungslinie zwischen der Erzählung »Hochwald« und dem Robespierre-Plan. Wolfgang Matz, Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. München u. Wien: Hanser 1995, S. 228ff. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf die Kennzeichnung dieser Gegenüberstellung; für eine ausführliche Darlegung der biographischen Arbeiten im Kontext historiographischer Methodik vgl.: Hähnel, Historische Biographik; Eckhart Jander, Untersuchungen zu Theorie und Praxis der deutschen historischen Biographie im neunzehnten Jahrhundert. (Ist die Biographie eine mögliche Form legitimer Geschichtsschreibung?) Diss. masch. Freiburg im Br. 1965. Für Schiller stand Plutarch noch unter dem Zeichen heroischer Heldengalerien mit didaktischem Lehrauftrag, während die charakterisierende Darstellung von Einzelpersonen nicht mit der Plutarch-Tradition verbunden wird. Dieser heroische Vorbildcharakter spielt in der hier skizzierten Auseinandersetzung um Plutarch keine Rolle und wird auch nicht mehr mit Plutarch identifiziert. – Zu Schiller, der gegen Plutarchs Heldenbilder zunächst eine Charakteristik der historischen Gestalten anstrebt, dann aber in der »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« die Charakteristik zugunsten einer Integration der historischen Gestalten in die Gesamtdarstellung der geschichtlichen Handlungen verdrängt, vgl. eingehend: Ernst Osterkamp, Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung« In: Dann, Oellers u. Osterkamp, Schiller als Historiker, S. 157–178. Zur Plutarch-Rezeption vgl. im Überblick: Thomas Winkelbauer, Plutarch, Sueton und die Folgen. Konturen und Konjunkturen der historischen Biographie. In: Winkelbauer, Vom Lebenslauf zur Biographie, S. 9–46. – Vgl. dort auch zu Hormayr.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Persönlichkeit, wobei der gemeinsame Zug darin lag, das Bildnis des einzelnen von der Geschichte zu lösen, ja, von den Ereignissen abzusehen zugunsten einer charakterlichen und ethischen Persönlichkeit. Plutarch hatte die Charakteristik und Biographik explizit als Gattung gegen die Geschichtsschreibung etabliert, und an diese Unterscheidung in der Gegenwart anknüpfend entstanden die ersten bedeutenden HistorikerBiographien explizit als antibiographische Darstellung: als Geschichtsschreibung einer Einzelpersönlichkeit. So zeigt sich eine Abgrenzung von Biographie und Historiographie oder – wie es im Blick auf die Diskurse und Diskursgenesen der Zeit richtiger formuliert wäre – zwischen literarischer Anthropologie und akademischem Historismus, die von wenigen Autoren wie Gutzkow (und dann in politischer Zielrichtung) überschritten wurde, der einerseits der Ereignisgeschichte die Bedeutung der Charaktere, andererseits der Charakteristik die Verantwortung des Individuums für die Begebenheiten entgegenstellte. Beide Klassiker der historiographischen Biographie oder Personalhistoriographie, Johann Gustav Droysen (1808–1884) in seiner Geschichte Alexanders des Großen (1833) sowie Leopold von Ranke (1795–1886) in seiner Geschichte Wallensteins (1869), setzen sich in den einleitenden Passagen ihrer Werke mit dieser als Plutarch-Tradition aufgefaßten Darstellungsweise der Biographie auseinander und entwickeln dagegen je eigene Möglichkeiten, Geschichte durch die Einzelpersönlichkeit darzustellen. In der Brief-Vorrede zu seinem historiographischen Frühwerk Geschichte Alexanders des Großen, das später in überarbeiteter Fassung als erster Teil seiner Geschichte des Hellenismus erneut publiziert wurde, erläutert Droysen, er wolle die Zeit des Hellenismus nicht als eine epochale Monographie darstellen, aber er wolle auch keine Biographie Alexanders verfassen. Droysen betont demgegenüber, daß die einzelne große Gestalt nur als Vollbringer einer geschichtlichen Tat Bedeutung erlange, ja, daß letztlich die einzelne große Gestalt nur das Instrument einer in fortwährenden Wiederholungen sich zeigenden Geschichte sei.212 Nicht der einzelne wirke in der Geschichte, sondern die Geschichte erhebe den einzelnen zum ausführenden Organ. Die einzelnen, denen die Geschichte den Ball der Tat zuspiele, mache die Geschichte zu »Werkmeistern ihrer Gedanken«: »Berufen sind alle«, kann Droysen deswegen schreiben.213 Die individuelle »Persönlichkeit« stellt das äußere Zeichen dieser historischen Tat dar.214 Das Individuum interessiert den Historiker dort, wo es im Hegelschen Sinn mit dem Allgemeinen der Geschichte korrespon———————— 212 213 214
Droysen, Geschichte Alexanders, S. 2. Ebd., S. 1. Ebd., o. Pag.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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diert.215 Alexander wird idealisierend und stilisierend als Symbol des Hellenismus vorgeführt. Die Darstellung ist an den Ereignissen orientiert, in deren Mittelpunkt Alexander agiert. Droysen verzichtet dagegen explizit auf die Darstellung der Persönlichkeit Alexanders oder eine Charakteristik,216 wie sie die literarische Biographik erforderlich gemacht hätte. Entgegen diesen Erwartungen an eine Biographie erfüllt Droysen bewußt nicht »den Anspruch […], die große historische Erscheinung […] in der Weise zu fassen, daß man sagt: So war dieser Mensch beschaffen, nach diesem inneren Gesetz mußte er seinen Weg gehen in der Geschichte« (Jander).217 Die Geschichtserzählung wird nicht von Alexanders Lebenslauf, sondern von den großen historischen Bewegungen getragen, die Droysen in pathetischer Eindringlichkeit einleitend evoziert. In Wendungen wie »Chaos des Menschengeschlechts«,218 »in den geschichtlichen Kämpfen« oder »Völker des geschichtlichen Kampfes«219 werden die eigentlichen Kräfte gleich zu Beginn der Erzählung unzweifelhaft erkennbar. Alexander wird zur Symbolgestalt der großen geschichtlichen Ereignisse idealisiert, der Lebenslauf lediglich als Kausalkette wiedergegeben. Nicht dem Charakter, der Moralität oder der Rationalität des Biographierten gilt die Aufmerksamkeit des Historikers, sondern den Taten und Ereignissen, vor allem aber den historischen Impulsen, als deren Agent der einzelne erst historische Bedeutung gewinnt. Olaf Hähner bezeichnet dies in seiner Dissertation Historische Biographik (1999) gerade in der Gegenüberstellung zu Plutarchs charakterisierender Alexander-Biographie als den Idealfall biographisch vermittelter Geschichte, als »eine rein historische Biographie«.220 Droysens Geschichte Alexanders des Großen zeigt schon im eigenen Versuch einer ‘historischen Biographie’ den grundsätzlichen Ausschluß anthropologischer und psychologischer Fragestellungen aus der Geschichte, den er in seinen Vorlesungen über die Historik (1857) ausführlich darlegt.221 Droysen grenzt dort zunächst die Historik von einer naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie ab:222 ———————— 215
216 217 218 219 220 221
Vgl. die eingehende Analyse bei: Dietrich Harth, Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens »Alexander« und Rankes »Wallenstein«. In: DVjs 54 (1980), S. 58–104, bes. S. 62–76. Vgl. zu Droysens »Alexander«: Jander, Untersuchungen, S. 89–96, hier S. 93f.; Harth, Biographie als Weltgeschichte, S. 72. Ebd., S. 95. Droysen, Geschichte Alexanders, S. 1. Ebd., S. 3. Hähner, Historische Biographik, S. 122. Johann Gustav Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857. (Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung aus den Handschriften.) In: Ders., Historik. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Peter Leyh. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1977,
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Sowenig wie die Anthropologie und Psychologie unternehmen sollte, die Geschichte erklären zu wollen, ebensowenig kann die Historie in diesen Bereichen arbeiten, in denen die natürliche Gebundenheit des Menschen, seine naturgeschichtliche Existenz in Frage kommt.
Droysen geht es dabei um die Feststellung einer nicht zu vermittelnden Differenz der Perspektiven zwischen Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte verläuft nach eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht auf natürliche Grundlagen reduzieren lassen. Diesem Bemühen steht gerade eine charakterliche und anthropologische Sicht auf den Menschen entgegen, wie sie in den Charakteristiken der Biedermeierautoren oder in den Erzählungen Stifters noch versucht wird, denn dort wird die Anthropologie ja weiterhin als menschheitsgeschichtliche und ethische Disziplin behauptet. Allerdings gelingt auch den Literaten die Verbindung zwischen (Universal)Geschichte und Mensch nicht mehr. Stifter kann bei einer grundsätzlich pessimistischen Sicht, in welcher der tragische Konflikt zwischen Charakter und Geschichtsverlauf zum Problem wird, die anthropologischen Fragen nur noch dadurch mit historischen verbinden, daß er gegen die politische Geschichte entweder die Kontinuität des Sittengesetzes in einem geschichtsfernen Setting kleinster Räume, überschaubarer Familiengeschichten erkennbar werden läßt oder eine menschheitsgeschichtliche Position einnimmt, welche die Universalgeschichte in Facetten kleinster (und breit entfalteter) erzählbarer Einheiten auflöst.223 Aber auch die Biographen vermögen in ihrer Perspektive auf die charakterlichen und letztlich anthropologischen Grundlagen diesen Bruch nicht mehr zu heilen: Für Varnhagen von Ense ist die politische und soziale Geschichte der unabwendbare Teil der menschlichen Existenz, aus welchem der Charakter durch Ausblendung erst wieder herauszuziehen ist. Auch Gutzkows Frage nach dem Anteil der Charaktere an den historisch-politischen Ereignissen beruht letztlich auf der ———————— 222 223
S. 1–393. – Bei den folgenden Zitaten werden die editorischen Markierungen handschriftlicher Korrekturen nicht übernommen. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 53,26–30. Stifters Ringen um diese Frage wird deutlich, wenn man der zunächst formulierten Ablehnung einer epischen oder tragischen Geschichtsdarstellung und dem aus dieser abgeleiteten Rückzug auf eine im Alltäglichen aufscheinende Sittlichkeit den späten Versuch eines historischen Romans, »Witiko«, gegenüberstellt, in welchem nun gerade der menschheitsgeschichtliche Gang, das Primat der Geschichte vor dem Individuum im Vordergrund steht. (Vgl.: Adalbert Stifter, Brief an Gustav Heckenast vom 7. März 1860 und vom 8. Juni 1861. In: Stifter, Sämmtliche Werke 19, S. 222–226, 281–287.) Geschichte und Individuum lassen sich nicht verbinden. Das anthropologisch bedeutsame Sittengesetz wird nur in geschichtsfernen Zonen an Individuen erkennbar, während im Strom der ‘großen’ Geschichte die Individuen relativiert werden. Vgl.: Wolfgang Wiesmüller, Geschichte als Kassandra? Zum Verhältnis von Historie und Dichtung bei Adalbert Stifter. In: Johann Holzner u. W. W. (Hgg.), Ästhetik der Geschichte. Innsbruck: Institut für Germanistik 1995 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 54), S. 61–75.
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Ansicht, daß in den historischen Umwälzungszeiten (wie der Französischen Revolution) die Individuen eben gerade nicht handlungsmächtig sind, woraus für die Charakteristik und Biographik – durchaus in Übereinstimmung mit Droysen – die Bevorzugung der Nebengestalten, der Persönlichkeiten zweiten Ranges resultiert. Droysen betont in seinen Vorlesungen, daß sich für die Biographie nur Persönlichkeiten zweiten Ranges eignen, während gerade die tatsächlich historisch bedeutenden Persönlichkeiten (Cäsar und Friedrich II.) vollkommen im Geschichtsverlauf aufgingen.224 Die Abgrenzung der Biographie von der Geschichte seitens der Biographen ist im 19. Jahrhundert häufig explizit zu finden. Der Biograph Wilhelm Herbst (1825–1882) betont in seiner Matthias ClaudiusBiographie etwa, daß er sich nicht um die ‘große Geschichte’, sondern um den Mann »seitwärts am Wege« bemühe,225 und er wählt hierfür die sprechende Gattungsbezeichnung »Stillleben«. Im Blick auf die Trennung von Biographik und Geschichtswissenschaft wird deutlich, daß die Biographen wie die Historiker diese in unterschiedlicher Akzentuierung anerkannt haben. Wenn die Biographen und Charakteristiker feststellen, die Wahrheit des Menschen liege nicht in seinem geschichtlichen Wirken (und öffentlichen Handeln), sondern in seinem Charakter, so korrespondiert dies mit der umgekehrten Feststellung, der allgemeine Gang der Geschichte entwickle sich weitgehend oder vollständig unabhängig vom Schicksal einzelner Menschen (und auch mit Hegels Ansicht von der sozialen Gefangenheit des Menschen in der Gegenwart). Selbst Gutzkow, der die Verbindung zwischen beiden Bereichen herzustellen versucht, indem er den Anteil der Individuen an den Begebenheiten akzentuiert, räumt ein, daß diese Betrachtung der einzelnen nur in der Gegenwart möglich sei – sozusagen in den Pausen der allgemeinen Geschichte. Die Biographik außerordentlicher historischer Persönlichkeiten, die als geschichtlich Handelnde dargestellt werden, muß unweigerlich zum Problem einer je individuellen Tragödie führen, die im Auseinanderfallen von menschlicher Moralität, menschlichem Streben und historischer Notwendigkeit besteht und dadurch die Frage persönlicher Schuld und Integrität durch die Erklärung der Verstrickung in geschichtliche Verläufe relativiert – entsprechend hat wohl auch Stifter seinen Maximilian Robespierre-Plan verstanden. Die Tragödie kann als Individualschicksal für den Historiker nur von bedingtem Interesse sein, aber auch der anthropologisch, charakterlich-konstitutionell von der sozialen Wirklichkeit abstrahierende Biograph findet hier kein Beispiel idealer Menschlichkeit, wenn die Macht des Geschichtlichen den einzelnen erdrückt. Droysens – an ———————— 224 225
Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 243,11ff. Wilhelm Herbst, Matthias Claudius – der Wandsbecker Bote. Ein deutsches Stillleben. 3., verm Aufl. Gotha: Perthes 1863 (zuerst 1857), S. 2.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Hegel erinnernde – 226 Definition des Verhältnisses von Persönlichkeit und Geschichte, von Biographik und Historik, hätten die Biographen wohl durchaus akzeptieren können:227 Die Persönlichkeit als solche hat nicht ihren Wertmesser in der Geschichte, in dem, was sie dort leistet, tut oder leidet; ihr ist ein eigenster Kreis bewahrt, in dem sie, wie arm oder reich an Geist, wie bedeutend oder unbedeutend an Wirkung und Erfolgen, mit sich und ihrem Gott allein verkehrt. Sie ist nicht ein bloßes Molekül allgemeinen geschichtlichen Lebens, sondern eine Welt in sich, eine Totalität sittlicher Bezüge mannigfachster Art, welche sich in ihr verknüpfen, durchdringen, persönlich motivieren und eben damit ihre Welt und Gegenwart sind. [etc.]
Für den Historiker Droysen folgte noch am Ende seines Lebens, als er sich mit dem Leben Friedrichs II. beschäftigte, daraus, daß der in der Geschichte aufscheinende Mensch allein in seiner historischen Position darzustellen sei, während das individuelle Streben und Wollen, welches in der Geschichte keinen entscheidenden Faktor darstellt, ebenso wenig Berücksichtigung finden dürfe wie Friedrich als Privatperson:228 […], wenn ich den Alten Fritz als Monarchen darzustellen habe, so ist es mir gleichgültig, ob er Spaniol oder Karotten geschnupft, ob er gelegentlich mit seinen Windhunden gespielt oder den Lumpen-Literaten Voltaire gelegentlich an die Luft gesetzt hat, – so wie ein ordentlicher preußischer Beamter im Dienst seine Schuldigkeit tut und nur aus dem Ich des Staates, nicht aus seinem kleinen privaten Ich richtet, administriert, lehrt usw., gleichgültig, ob er daheim ein glücklicher Ehemann oder Witwer oder Hagestolz ist.
Privatleben und Öffentlichkeit, die Lebensführung des einzelnen und der Gang der Geschichte werden als unabhängig gedacht. Führerfiguren und ———————— 226
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»Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster, Talente und ihre Taten, die kleinen und die großen Leidenschaften, Schuld und Unschuld, Herrlichkeit des individuellen und des Volkslebens, Selbständigkeit, Glück und Unglück der Staaten und der Einzelnen haben in der Sphäre der bewußten Wirklichkeit ihre bestimmte Bedeutung und Wert und finden darin ihr Urteil und ihre, jedoch unvollkommene Gerechtigkeit. Die Weltgeschichte fällt außer diesen Gesichtspunkten; in ihre erhält dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht, und das darin lebende Volk und dessen Taten erhalten ihre Vollführung und Glück und Ruhm.« Georg Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21989 (Werke 7; stw 607), S. 505. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 192,28–36. Johann Gustav Droysen an den Sohn Gustav Droysen, Brief vom 24.09.1883. In: Ders., Briefwechsel. Hg. von Rudolf Hübner. 2 Bde. Stuttgart, Berlin u. Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1929 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts 25/26), Bd. 2, Nr. 1317, S. 969f., hier S. 969. – Ein interessanter Untersuchungsgegenstand wäre es, die Entwicklung dieser Positionen zum großen Menschen und zum Beamten in der Trennung von öffentlicher und privater Existenz einmal in Bezug zu setzen zur Geschichte vom Ethos des Redners oder zur Geschichte der Frage nach der Bedeutung der Persönlichkeit, der privaten Lebensführung und Glaubensgewißheit des Pfarrers für die Erfüllung seines Amtes.
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heroische Kämpfer spielen in dieser Geschichtssicht keine bedeutende Rolle: Angesichts des Strebens und Wünschens der ‘Helden’ bemerkt Droysen: »ich sehe in jedem solchen großen Menschen seine Tragödie«. 229 Als »Geschichte« bezeichnet Droysen in einem Brief an seinen Sohn Gustav Droysen, der gerade selbst biographisch mit Bernhard von Weimar beschäftigt war, das »Mitschaffen an den großen politischen und staatlichen Verhältnissen«. Die Biographie dagegen erstrecke sich auf das Persönlichste des Dargestellten, sein ‘Ich’. Es war Droysens feste Überzeugung, daß dieses Ich nicht darstellbar sei; allerdings führte ihn gerade Friedrich II. zu der Beobachtung, daß auch in der »Geschichte« ein solches Persönlichstes durchscheinen könne.230 Das psychologische Interesse an den geschichtlichen Charakteren erkennt Droysen gleichwohl in seiner Historik ausdrücklich an: »Es liegt in der Natur der Sache, daß uns menschlicherweise ganz besonders die Psychologie interessiert […].«231 Der Historiker freilich könne sich diesem Gebiet nicht nähern, denn weder ließe sich die Charakteristik einer geschichtlichen Persönlichkeit direkt aus den Quellen ablesen, noch sei es möglich aus dem bloßen Lebenslaufmoment einer »Tathandlung« diese Charakterzüge interpretatorisch zu erschließen.232 Der gewichtigste Einwand bezieht sich allerdings darauf, daß in den geschichtlich relevanten Handlungen sich ein komplexes Geflecht aus vielfältigen Motiven ergebe, aus denen der persönliche Anteil sich nicht mehr herauslösen lasse.233 Die geschichtlich gewachsenen Institutionen – »der Staat, die Kirche, die Kunst, der Erwerb« – sind ebenso wie der »Gang der geschichtlichen Dinge«234 überindividuell und weder im Rückgriff auf den Charakter zu erklären noch im Hinblick auf einen persönlichen, charakterlichen Anteil analysierbar. Soweit sich die Biographen wie Varnhagen von Ense oder Feuchtersleben auf die persönliche Bekanntschaft mit den Biographierten beziehen können und den Charakter aus dieser und nicht aus den Handlungen erschließen, befinden sie sich durchaus im Einklang mit Droysens Ausführungen.235 Dies gilt bei Droysen freilich nicht für die Behandlung ———————— 229 230
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Ebd. Johann Gustav Droysen, Brief an Gustav Droysen vom 08.09.1883. In: Johann Gustav Droysen, Briefwechsel. Hg. von Rudolf Hübner. 2 Bde. Stuttgart, Berlin u. Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1929 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts 25/26), Bd. 2, Nr. 1316, S. 968f. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 188,17f. »[…] der Handelnde tritt nicht mit der ganzen Fülle seines geistigen Inhalts in das Äußere, das Getane ist nur der relative, nur der teilweise Ausdruck der Totalität, die wir sein Ich nennen.« Ebd., S. 189,31–33. Ebd., S. 190,8–10. Ebd., S. 193,12 u. 30. In Stifters »Mappe« wird der Zugang zum Charakter und zum sittlichen Leben des Urgroßvaters bezeichnenderweise dadurch geleistet, daß an die Stelle der historischen Rekon-
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
historischer, nicht persönlich vertrauter Gestalten in naiv verehrenden Biographien wie etwa in Hormayrs Österreichischem Plutarch oder Leben und Bildnisse aller Regenten und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler des österreichischen Kaiserstaates (Wien 1807–1814). Droysen allerdings bleibt nicht nur als Historiker auf Distanz zur Charakteristik und Psychologie, denn seine Abneigung gegen die Charakteristik in der Geschichtsschreibung (u. a. bei Carlyle, Macaulay und Ranke) erläutert er durchaus auch alltagsweltlich: »je länger ich mit Menschen lebe, desto bedenklicher werde ich, ihren Charakter mit Sicherheit zu erfassen«.236 Zwar wird auch bei Varnhagen von Ense – wie gezeigt – diese Zurückhaltung vor der Klärung letzter psychischer Fragen der Individuen deutlich, aber grundsätzlich bemühen sich sowohl Varnhagen und Feuchtersleben als auch Laube und Gutzkow um eine Charakterbeurteilung.237 In seinen Vorlesungen weist Droysen die Behandlung der psychologischen Ebene historischen Handelns der Literatur zu, dem Drama in der Tradition Shakespeares und dem historischen Roman.238 Die Fragen, die der historische Roman in poetischer Lizenz behandeln kann, sind dem Historiker durch die Bindung an seine Quellen und sein Material verschlossen. In diesem Zusammenhang wählt Droysen das Beispiel Robespierre:239 War Robespierre nur abstrakt der revolutionäre Demagog? Vielleicht war er es nur in dieser Zeit und früher ein ganz anderer, sein Charakter mag sich mit den Umständen geändert haben; aber zu seinem Wesen gehört auch, wie er früher war; nur in dieser Zeit, unter diesen Umständen, in dieser Richtung war er der blutige, kaltblütige Demagog.
Stifters Plan zu einem Maximilian Robespierre-Roman, der gerade diese Konfrontation des Menschen mit der Geschichte in tragischer Verstrikkung und im Untergang zeigen sollte, entspricht vollkommen dem skizzierten Programm. Tatsächlich erweisen sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem der historische Roman und das historische Drama als eigentliche Form der Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Mensch und Geschichte. Noch der Erfolgsbiograph Emil Ludwig (s. u.) begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit historischen Dramen, und er ————————
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struktion das Selbstzeugnis des Urgroßvaters tritt, welches auch nicht durch den lesenden Urenkel hinterfragt wird. Ähnliches gilt auch für die Erzählung der Lebensgeschichte des Pfarrers in »Kalkstein«, wo der Ich-Erzähler explizit darauf verzichtet, durch Neugier oder Interpretation ein psychisches Geheimnis der eigenen Lebenserzählung des Pfarrers zu lüften. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 239,17–19. Allein bei Stifter bleiben die Geheimnisse der individuellen Seele gewahrt, und mehr als die Biographen verzichtet er – vor allem nach 1848 – auf einen analytischen Zugriff zu seinen Figuren. Vgl. v. Zimmermann, Fremde Natur – fremder Mensch. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 188,32–189,8. Ebd., S. 190,2–7.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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betonte die innere Verwandtschaft zwischen Drama und Biographie (gegen die historische Biographik, aber auch gegen den historischen Roman). Wenn Droysen zusammenfassend festhält, der Historiker habe »nicht wie Shakespeare die Aufgabe aus der Psychologie der Menschen ihr Tun und Leiden zu entwickeln, sondern er hat den Gang und die Entwicklung des historischen Gedankens, der eben auch die Persönlichkeiten als Medien seiner Verwirklichung braucht, zu verfolgen«, dann stellt die charakterisierende Biographik in ihrem Bemühen, weder die Persönlichkeit auf ihren Anteil an der Geschichte zu reduzieren, noch die Charakteristik mit poetischer Lizenz zu behandeln, den dritten Weg neben Literatur und Historik dar. Dieser dritte Weg der Biographik hat etwa zwischen 1830 und 1850 seinen vorübergehenden Ort240 im Droysens Historik vorangehenden Erosionsprozeß, der von der Etablierung naturwissenschaftlicher Methodik sowie gewandelten Erkenntnisinteressen in der Erforschung des Menschen durch die anthropologischen Disziplinen ausgeht. Denn während die traditionellen Fragen einer ethisch motivierten Anthropologie im Bewahrungsraum erzählender und biographischer Literatur vorübergehend erhalten bleiben, führt derselbe Paradigmenwechsel in der Auffassung vom Menschen zu einer Ausgrenzung der nun gegenüber einer als sinnhaft postulierten Geschichte als irrational empfundenen Komponente Mensch. Gerade Droysen reagiert – wie Daniel Fulda gezeigt hat – in seinen Vorlesungen auf den naturwissenschaftlichen Materialismus und Empirismus,241 auf die Umkehrung des Menschenbildes von der individuellen ethischen Freiheit zur weitgehenden Determiniertheit der Willensakte und der daraus resultierenden Bedrohung für ein ethischteleologisches Geschichtsbild, indem er das sittliche Handeln in der Geschichte von den Entscheidungsspielräumen der Individuen auf die »Bewegung der Geschichte und die Bedeutung des sittlichen Lebens« verla———————— 240
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Die Zäsur um das Jahr 1850 ist in unterschiedlichen Zusammenhängen bereits hervorgehoben worden: So führt Horst Thomé aus, um 1850 erlösche »in den außermedizinischen Diskursen das Interesse am Pathologischen«, welches im Rahmen der Charakteristik – wie Feuchterslebens Studie zeigt – durchaus noch erkennbar und möglich ist. Aber auch die neutrale, abwägende Charakteristik endet um 1850, ihre Nachfolger sinken zu anekdotischen Freundschaftscharakteristiken – eine Modeform im gesamten 19. Jahrhundert – herab, in denen komplexere Charakterstudien kaum mehr erkennbar werden. Und selbst in Stifters Erzählungen wird die Reduktion der Charakterzeichnungen auf die bloße Erzählung psychologisch wahrscheinlicher Handlungen erkennbar; eine Entwicklung, die Thomé ebenfalls für die Entwicklung des realistischen Erzählens nachzeichnet und erläutert. Horst Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen: Niemeyer 1993 (Hermea 70), S. 21ff. Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York: de Gruyter 1996 (European Cultures 7), S. 136f.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
gert.242 Und er entanthropologisiert die Geschichte nicht zuletzt dadurch, daß er die anthropologische Menschheitsgeschichte zur Geschichte des Gedankens abstrahiert. Dadurch aber wird nicht nur die seelische Charakterisierung der historisch Handelnden obsolet, sondern überhaupt die anthropologische Perspektive der Geschichte: also die Verbindung der Naturgeschichte der Menschheit mit der historischen Analyse aufgegeben, wie sie von Herder über Wilhelm von Humboldt bis Feuchtersleben erkennbar ist. Die Literatur erbt so von einer umfassend konzipierten ethischen Anthropologie nach dem Auszug der naturwissenschaftlichen Anthropologien und dem Rückzug der Geschichte von den anthropologischen Fragestellungen die Bewältigung der Problematik des Verhältnisses von Mensch und Geschichte und die Biographik die Bewahrung der individuellen Charaktere als ethische Exempel für die Nachwelt. In anderer Hinsicht wurde es freilich auch für Droysen diskutabel, sich stärker auf die Einzelperson zu konzentrieren, als dies die eigene Historik eigentlich zulassen dürfte. Wenn Droysen in der Geschichte Alexanders des Großen betont, »denselben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unablässig«,243 und dadurch den Unterschied von Geschichte und Gegenwart im Problemhorizont von Mensch und geschichtlichem Kampf einebnet, so liegt die politische Parallelisierung von Geschichte und Gegenwart nahe. Das Wirken historischer Menschen kann zum Exempel und Vorbild der Gegenwart mutieren: nicht in dem Sinn, daß der individuell ausgetragene heroische Konflikt zwischen Ich und Welt lehrhaft wird,244 und auch nicht in dem Sinn, daß die konkreten Entscheidungssituationen beispielhaft für die gegenwärtige Entscheidungen würden, aber in einer Weise, welche spezifische in der Gegenwart verschüttete Haltungen und Werte vergangener Epochen am Einzelfall illustriert und für die Gegenwart aktiviert. Zumindest kann im ‘Geist’ vergangener Epochen Bewahrenswertes für die Gegenwart erkannt werden. Diesen Schritt zur politischen Biographik, der bereits in der Geschichte Alexanders des Großen angelegt ist, hat Droysen – sicher vor dem Hintergrund der eigenen politischen Erfahrungen in der Paulskirche und der Hinwendung zu politischen Gegenwartsfragen – in einem späteren Werk vollzogen. Als Repräsentanten seiner Zeit sah ———————— 242 243 244
Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 266,33f.; vgl. insgesamt die Auseinandersetzung mit einer nicht näher genannten Streitschrift von Lotze, S. 266,15–268,13. Droysen, Geschichte Alexanders, S. 2. Sehr kritisch äußert sich Droysen in seiner Vorlesung über eine Biographik, welche »große Muster menschlicher Naturen und Taten« als »Paradigmen« für die Jugend aufstellt: »Weder Muster zur Nachahmung noch Regeln zur Wiederanwendung zu geben kann der Zweck der Historie sein.« Das schließt freilich die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen, wenn diese sich nicht auf den individuellen Fall beschränkt, nicht aus. Vgl. Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 251,4–25.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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Johann Gustav Droysen den von ihm biographierten fridericianischen Offizier Graf Yorck von Wartenburg, dessen Leben er darstellte, um den alten Geist der preußischen Armee in die Gegenwart zu retten. In der Vorrede zur ersten Ausgabe von 1851 hat Droysen noch zurückhaltend geäußert, wegen des Fehlens einer umfassenden Regimentsgeschichte biete die Biographie eine alternative Darstellungsform, denn die Biographie könne sich einerseits an individuellen Zügen orientieren und anderseits dennoch das Gesamte des »Korps« zum Ausdruck bringen.245 In der Vorrede zur siebenten Auflage wurde Droysen deutlicher:246 Weder Yorck zu ‘idealisieren’, noch in Yorck das Ideal eines preußischen Generals darzustellen, war meine Absicht. Sein Leben bot mir die Momente, das, was mir im Sinn lag, zur Anschauung zu bringen. Es ist der alte fridericianische Geist der preußischen Armee, der in ihm und in dem er mächtig war und sich bewährt hat, derselbe Geist, der der Armee geblieben ist, auch seit sie zu dem ‘Volk in Waffen’ umgewandelt, seit in ihr sich die Heeresmacht der deutschen Nation vereinigt hat.
Helmut Scheuer hat Droysens Werk als Ausgangspunkt für die »eigentliche politische Biographik im Dienste Preußens« bezeichnet:247 Droysen faßt, ohne in diesem Fall eine bloß durch die Einzelgestalt vermittelte Geschichtsschreibung zu geben, einen exemplarischen preußischen Lebenslauf, dessen Zentrum ein Mann unter anderen seinesgleichen ist. Trotz dieser stärkeren Orientierung am Individuum findet sich jedoch keine abwägende oder kritische Charakteristik in der Tradition der Biedermeier- und Vormärzautoren. Eine solche Charakterisierung Yorck von Wartenburgs wird zugunsten der Stilisierung zur Symbolgestalt nicht zuletzt deshalb vermieden, um nicht solche Züge Yorcks einbeziehen zu müssen, die dem politischen Darstellungsziel entgegengestanden wären.248 An seinen Sohn Gustav Droysen schrieb er noch 1883 rückblickend über die Arbeit an der Biographie:249 […] nur was von seiner Persönlichkeit zur Erklärung seiner geschichtlichen Leistung gehört, gehört in die Biographie; ob er dann nebenbei sich Mätressen gehalten, ob er seinen zweiten Sohn fast mißachtet und verstoßen, ob er gelegentlich in Gütern geschachert hat, ist mir gleichgültig.
Droysens Darstellung erfüllte durch diese Begrenzung ein politisches Anliegen: die Repräsentation des preußischen Geistes in der historischen ———————— 245 246 247 248 249
Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg. 2 Bde. [11. Auflage.] Leipzig: Insel 1913 [zuerst 1851f.]. Ebd., Vorwort zur siebenten Auflage, S. IX. Scheuer, Biographie, S. 64 Vgl. Hähner (Historische Biographik, S. 156f.), der den Briefwechsel zwischen Droysen und Theodor v. Schön auswertet. Johann Gustav Droysen, Brief an Gustav Droysen vom 08.09.1883. In: Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 1316, S. 968f.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Gestalt und deren Vergegenwärtigung. Wie viele liberale Zeitgenossen setzte Droysen, der in der Frankfurter Nationalversammlung Schleswig und Holstein vertreten hatte, nach den Erfahrungen der 40er Jahre Hoffnungen in Preußen als wichtigen Initiator einer künftigen deutschen Einheit.250 Olaf Hähner hat betont, daß Droysen dabei im Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg eine agitatorische Position für eine konservative, »offensive preußisch-deutsche Interessenpolitik« einnimmt, für die Yorck von Wartenburg als Symbolfigur evoziert werde.251 Das in der Historik erkennbare Bemühen um einen eigenen Objektivitätsstatus (in Abgrenzung zur Naturwissenschaft) und um heuristisch und kritisch gesichertes Verstehen der Geschichte (in Abgrenzung zur Literatur, Psychologie und ethischen Anthropologie) wird bei Droysen überlagert von einem bewußten Handeln in einer gegenwärtigen historischen Situation, welches Parteinahme im Sinn eines preußischen Standpunktes gerade nicht ausschließt. Denn auch der Historiker ist Teil der in der Geschichte wirkenden Kräfte.252 Für Droysen kann sich die biographische Darstellung letztlich nur dadurch legitimieren, daß sie Aspekte aufweist, die über die Biographie hinausgehen, wie dies in sämtlichen seiner historisch oder politisch motivierten Personalhistoriographien der Fall ist. Vom Alexander-Buch über die Ausführungen in der Historik bis zu den Vorbereitungen einer ‘Geschichte’ Friedrichs II. hat er eine skeptische Haltung gegenüber einer individualistischen Biographik bewahrt, die im Sinn einer ‘Privatbiographie’ für ihn nicht zur Historiographie gehört. Aus dem Motiv für das Yorck-Buch erhellt so auch, daß es sich keineswegs um eine »Selbstkorrektur« Droysens handelt (Riesenberger), wenn er in der Historik eine Scharnhorst-Biographie ablehnt 253 und zuvor eine Yorck-Biographie schrieb. Die Ablehnung bezieht sich auf eine mögliche ‘Privatbiographik’ Scharnhorsts, aber für Droysen existieren dessen ungeachtet legitime politische Interessen an Repräsentationsfiguren und historischen Typen. 254 Gerade vor dem Hintergrund dieser politischen Funktionalisierung der Biographie erhält Droysens Kritik an der Plutarch-Tradition bei Varnha———————— 250
251 252 253
254
Vgl. im Überblick: Michael Maurer, Neuzeitliche Geschichtswissenschaft. In: Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben Bänden. Hg. von Michael Maurer. Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Stuttgart: Reclam 2003 (RUB 17031), S. 281–499, hier S. 401ff. Hähner, Historische Biographik, S. 156f. Vgl. Maurer, Neuzeitliche Geschichtswissenschaft, S. 405f. »Ebensowenig sollte man eine Biographie von Scharnhorst schreiben wollen: die militärische Organisation Preußens von 1796 bis 1813 ist sein biographisches Denkmal.« Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 243,20–22. Dieter Riesenberger, Biographie als historiographisches Problem. In: Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen. Düsseldorf: Schwann 1977, S. 25–39, hier S. 35.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
123
gen von Ense eine weitere Ebene; Varnhagens Biographik, die sich weder auf Geschichte noch auf Politik einläßt, gilt ihm abfällig als »Leisetreterei und Parfüm«.255 Aber auch Leopold von Rankes Objektivitätsstreben stieß bei Droysen trotz hoher Wertschätzung für den »größte[n] Historiker unseres Jahrhunderts«256 auf wenig Verständnis. Die Historiographie sollte sich nicht auf Regesten und die Scheinobjektivität der Fakten zurückziehen, sondern sich den Gegenwartsfragen stellen: »unsre Wissenschaft ist von denen, die vor allem den Menschen auch besser machen sollen; ihre beste Kraft ist ethischer Art«.257 Wie Droysen hat auch Leopold von Ranke die charakterisierende Individualbiographik abgelehnt, doch mit einem anderen Resultat für die eigene biographische Praxis. Schon in der umfassenden Darstellung Die römischen Päpste (1834–36) wird trotz reichhaltiger biographischer Hinweise zu einzelnen Päpsten, deren Namen teils die Kapitelüberschriften bilden, das ‘hochgestellte’ Individuum in das Allgemeine der Geschichte integriert, indem Ranke den »Kairos-Charakter« der Situationen (Fulda), in denen sie handeln, hervorhebt: Das Handeln der Individuen wird von geschichtlichen und situativen ‘Notwendigkeiten’ geprägt, und das Handeln in den Notwendigkeiten bietet erst die Voraussetzung für einen personenzentrierten Ansatz.258 Entsprechend können die Namen der Päpste zu Ordnungszeichen der Darstellung werden, ohne daß sich daraus die Papstgeschichte als Reihe päpstlicher Biographien gestaltet. Wenn Horst Michael, der Herausgeber von Rankes Werk im Rahmen der RankeEdition Historische Meisterwerke, betont:259 Auch diese Männer gehören zu den Faktoren, aus denen das Geschehen sich zusammensetzt. Sie stehen nicht frei und isoliert, die Zeit erzieht und lenkt sie, von ihr empfangen sie Richtung und Umfang ihres Wirkens. Aber bei ihnen liegt doch immer die Entscheidung. ———————— 255
256 257 258 259
Droysen an General Gustav von Below. Brief vom 25.08.1852. In: Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 628, S. 125–128, hier S. 127. – An Rudolf Haym schrieb Droysen am 16.04.1863 ähnlich: »Mein Urteil über seine Biographien ist kein besonders günstiges. Diese sind alle aus demselben leisen, flüsternden, düftelnden Ton, der für gewisse diplomatische Figuren vortrefflich sein mag, aber nauseam fert. Doch sind das Geschmackssachen; selbst den päderastischen Stil würde ich dem Kerl verzeihen, wenn er nicht selbst schlimmer als sein Stil gewesen wäre.« (Ebd., Bd. 2, Nr. 1161, S. 806f., hier S. 807.) Droysen, Historik. Die Vorlesungen von 1857, S. 247,18f. Droysen an Heinrich von Sybel. Brief vom 5.08.1853. In: Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 667, S. 168–170, hier S. 169. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 375. Einleitung von Horst Michael in: Leopold v. Ranke, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten. Hg. und eingel. von Horst Michael. 2 Bde. Wien, Hamburg u. Zürich: Gutenberg-Verlag o. J. (Leopold von Rankes historische Meisterwerke 15/16), Bd. 1, S. I– XII, zit. S. XI.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Dann bleibt festzuhalten, daß diese Entscheidungen eben im Möglichkeitshorizont allgemeiner Notwendigkeiten fallen und Ranke kaum einmal zu einem tatsächlichen biographischen Exkurs ausholt. Zwar blicke man, schreibt Alfred Dove über Ranke’s Verhältnis zur Biographie (1895),260 in Rankes Papstgeschichte tief »in die Kleinigkeiten einer mehr oder minder apostolischen Hagestolzenwirthschaft hinein«, doch zeige sich deutlich Rankes prinzipielles Unbehagen am Biographischen, für welches Dove Rankes Wort über Papst Paul III. zitiert:261 »Wie unbedeutend erscheint auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber!« 262 Diesen Gedanken über das Verhältnis von Individuum und Geschichte paraphrasiert Ranke auch in der Vorrede zu seinem bekannten Alterswerk, der Geschichte Wallensteins (1869), in welchem zugleich die personenzentrierte Geschichte als Alternative zur Biographie exemplarisch demonstriert wird:263 Wie viel gewaltiger, tiefer, umfassender ist das allgemeine Leben, das die Jahrhunderte in ununterbrochener Strömung erfüllt, als das persönliche, dem nur eine Spanne Zeit gegönnt ist, […]. Die Entschlüsse der Menschen gehen von den Möglichkeiten aus, welche die allgemeinen Zustände darbieten; bedeutende Er———————— 260 261
262
263
Zitiert nach dem Neuabdruck in: Alfred Dove, Ausgewählte Schriften vornehmlich historischen Inhalts. Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 205–226. Ebd., S. 208f. Dove widmet sich ausführlich auch den Spuren biographischer Arbeit in Rankes Frühwerk, die erst seit der Papstgeschichte durch die später mit dogmatischer Strenge vertretene antibiographische Haltung verdrängt worden seien. Dove weist darauf hin, daß es selbst in der Papstgeschichte eine Wendung zur ‘richtigen’ Biographie gebe: in der »Digression über Königin Christine von Schweden« (Ranke, Die römischen Päpste, Bd. 2, S. 167–181). Dieses in der Tat beachtliche charakterisierende biographische Seitenstück des Antibiographen läßt sich vor allem dadurch erklären, daß für Ranke – wie ähnlich für Droysen – die nicht unmittelbar geschichtsrelevanten Gestalten, die Persönlichkeiten zweiten Ranges, zunächst durchaus noch als biographische Objekte geeignet erscheinen, während gerade die bedeutenden Persönlichkeiten in der Geschichte aufgehen. Später freilich hat Ranke deutlicher betont, daß das Leben eines jeden Menschen in den Handlungen und Pflichten aufgeht: die Gelehrten in der Geschichte der Lehren, die Staatsmänner in der Geschichte der Institutionen etc. Immerhin läßt Rankes Seitenstück erneut einen Ausdifferenzierungsprozeß zwischen Biographik, Historik und erzählender Literatur bei der Behandlung der Frage nach der Stellung des Menschen zur Geschichte zwischen 1830 und 1850 tatsächlich erkennbar werden. Ranke, Die römischen Päpste, Bd. 1, S. 156. – Das gesamte Kapitel über Papst Paul III ist rhetorisch als Exempel über diesen Gedanken konzipiert, denn der erste Absatz stellt als allgemeine These die Frage nach der historischen Bedeutung der ‘hochgestellten’ Persönlichkeiten auf. Diesen würde im Guten und Schlechten zugeschrieben, was eigentlich der »Gesamtheit« zukomme (ebd., S. 140). Am Ende des Kapitels formuliert Ranke dann als ‘tragisches’ Fazit über den Konflikt von Anlage und Geschichte: »Ein Mann, voll von Talent und Geist, durchdringender Klugheit, an höchster Stelle! Aber wie unbedeutend erscheint auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber!« Die Ausblendung des Menschen aus der Geschichte wird hier exemplarisch und der rhetorischen Struktur nach zu urteilen mit didaktischem Anliegen vorgeführt. Leopold v. Ranke, Geschichte Wallensteins. Leipzig: Duncker & Humblot 1869 (Faksndr.: Leipzig: Reprint-Verlag o.J.), S. Vf.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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folge werden nur unter Mitwirkung der homogenen Weltelemente erzielt; ein Jeder erscheint beinahe als eine Geburt seiner Zeit, als der Ausdruck einer auch außer ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz.
Ranke lehnt eine bloße Privatbiographik im Sinn von Plutarchs strikter Trennung von Biographie und Historiographie allerdings ebenso ab wie ein völliges Absehen vom Individuum, denn es gelte im »großen Gang der welthistorischen Ereignisse« den »Impuls« der »Persönlichkeiten« gegenwärtig zu halten.264 Zwar bleibt in der allgemeinen oder historischen »Weltordnung« der einzelne ein Produkt »seiner Zeit«: Wallenstein ist nur denkbar in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die zum einen die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten in seinen sozialen und historischen Bedingungen vorgibt,265 zum anderen die allgemeinen geschichtlichen Tendenzen umfaßt, in deren Rahmen er agieren kann. Doch postuliert Ranke daneben eine »moralische Weltordnung«, die wohl als Verhaltensmodus des einzelnen in der allgemeinen Geschichte zu verstehen ist und dem einzelnen einen gewissen Freiraum zur Entfaltung der Persönlichkeit bietet, der in bestimmten Phasen der Geschichte – »in Zeiten gewaltsamer Erschütterung« – 266 besondere Bedeutung erlangen kann. Als eine solche Zeit hat Ranke zweifelsohne den Dreißigjährigen Krieg aufgefaßt, und es erklärt sich wohl bereits aus diesem Umstand, daß der Historiker seinem Werk über diese Zeit – fast irreführend – den Namen eines einzelnen Mannes gegeben hat: Geschichte Wallensteins. Dennoch wird der Leser von Rankes historischer Studie gewisse Schwierigkeiten haben, in der Geschichte Wallensteins eine Biographie zu erkennen. Die Informationen zu Wallensteins Lebenslauf beschränken sich auf seinen Anteil an der geschichtlichen Situation; die Charakterisierung der Person wird einem eher fragwürdigen Zeugnis überlassen: Keplers astrologischer Ausdeutung der Geburtskonstellation. Davon abgesehen gibt es kaum eine Stelle, an der eine Analyse des ‘Privatcharakters’ zu finden wäre; lediglich Wallensteins Verhaltensweisen im geschichtlichen Kontext werden kurz vor dem Ende des Buches zusammenfassend charakterisiert. Zwar scheint Ranke Gutzkows Frage nach dem Anteil der Charaktere an der Geschichte nicht allzu fern zu liegen, denn in verstreuten Nebenbemerkungen werden individuelle Verhaltensmuster der einzelnen Akteure deutlich, die Ranke deren ‘Gemüt’ oder ‘Naturell’ zuschreibt: »Zugleich ein ideales, auf die Befriedigung des größten Anliegens ———————— 264 265
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Ebd., S. V. Deutlich wird dies etwa bei den Ausführungen Rankes zu den historischen Machtverhältnissen, die den Generälen im 17. Jh., die ihre Armee auf eigene Kosten unterhalten hätten, eine ganz andere Position als in jüngerer Zeit einräume. Ebd., S. 340. – Ein weiteres Beispiel sind die verstreuten Anmerkungen zum Erbfürstentum, das dem Machtstreben Wallensteins Grenzen setzen mußte. Ebd., S. VIII.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
der deutschen Nation gerichtetes Bestreben, und sein ehrgeiziges und unbotmäßiges, weitausgreifendes und reizbares naturel hatten ihn dahin geführt, wo er stand.«267 Von einer umfassenden, abwägenden Charakteristik,268 gar von einem Interesse an der Pathologie der Persönlichkeit ist Ranke hier jedoch weit entfernt, und er geht auch kaum so weit, einzelne Ereignisse und Handlungen aus dem Charakter oder Gemüt der Akteure abzuleiten. Die Kohärenz der Darstellung wird erzählerisch ebenfalls nicht durch eine Lebenslaufentwicklung oder eine durchgängige Charakterbildung geleistet, sondern durch die Folge der historischen Ereignisse (»die allgemeine politische Verwicklung«). Ranke greift gegen die vernunftethische Überzeugung des freien Handelns auf den Begriff ‘Schicksal’269 zurück, ———————— 267 268
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Ebd., S. 372. Ein Beispiel dafür, wie sehr sich Ranke der Charakterisierung Wallensteins enthält, zeigt die folgende Darstellung seiner äußeren Erscheinung: »Sein Antlitz erscheint, wie es die bestbeglaubigten Bilder darstellen, zugleich männlich und klug; man könnte nicht sagen groß und imposant. Er war mager, von blasser, ins Gelbe fallender Gesichtsfarbe, von kleinen hellen, schlauen Augen. Auf seiner hohen Stirn bemerkte man die Signatur der Gedanken, nicht der Sorgen: starke Linien, keine Runzeln; früh ward er alt: schon in den vierziger Lebensjahren erbleichte sein Haar. Fast immer litt er am Podagra. In den letzten Jahren konnte er nur mit Mühe an seinem spanischen Rohre einherschreiten: bei jedem Schritt sah er um sich.« (Ebd., S. 348.) Eine eigentliche Charakterisierung und sei es durch die Physiognomik wird an dieser Stelle nicht gegeben. Vielmehr bemüht er sich um eine Neutralität und historische Objektivität, welche gerade auf die Widersprüche zwischen Physis und geschichtlichem Wirken aufmerksam macht. ‘Schicksal’ bezeichnet im allgemeinen Sinn die Gesamtheit aller von außen auf den Menschen einwirkenden und durch ihn nicht kontrollierbaren Kräfte, also generell »das dem menschl. Willen unverfügbar Vorgegebene« (Jürgen Werbick, Schicksal III, s. u., Sp. 140f.). Während der Begriff zunächst für das Wirken unkontrollierbarer und unterschiedlich gefaßter ‘Schicksalmächte’ gebraucht wurde, trat später ein psychophysischer Determinismus in den Vordergrund, der Aspekte wie körperliche Konstitution, psychische Anlagen oder Krankheiten als Schicksal des einzelnen auffaßte; auch ein soziologischer Schicksalsbegriff, der Umwelt und Erziehung als Faktoren umfaßt, die für den einzelnen zum Schicksal werden, hat seinen Ort in dieser variablen Begriffsgeschichte. Vgl. zusammenfassend u.a.: M. Kranz, Schicksal. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992), Sp. 1275– 1289; Maximilian Forschner u. Jürgen Werbick, Schicksal I–IV. In: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (2000), Sp. 137–141; H. Ringgren, K. E. Løgstrup u. J. Konrad, Schicksal I– III. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 5 (1961), Sp. 1404–1410. – Unabhängig von der genaueren Bestimmung des Schicksals kann die Vorstellung einer unabwendbaren Determiniertheit des Menschen – durch welche Faktoren auch immer – im Rahmen einer aufgeklärten Anthropologie, die den freien Willen des Menschen ins Zentrum stellt, nicht anerkannt werden. Deutlich wird dies etwa im Artikel »Schicksal« in Wilhelm Traugot Krugs »Allgemeinem Handwörterbuch der philosphischen Wissenschaften«. Das Schicksal im Sinn einer ›unbedingten Notwendigkeit‹ wird hier als ›vernunftlos‹ und ›blind‹ bezeichnet, »weil es der Vernunft widerstreitet, ein solches zuzulassen, nach dem Grundsatz: In mundo non datur fatum (scil. coecum)« (Schicksal. In: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 3 (1833), S. 600–603, hier S. 600). Der Glaube an das Wirken des Schicksals wird als eine Bedrohung der Humanität schlechthin verstanden: »In praktischer Hinsicht aber würde ein solcher Fatalismus alle Freiheit, Sittlichkeit, Zurech-
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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der hier individuelle Freiheit durch die determinierende Kraft der historischen Situation und der politischen Konflikte beschränkt, welche erst den Handlungsspielraum bezeichnen. Auch Wallensteins Werdegang wird eher übergangen, da dem späteren Generalissimus hier noch nicht eine tragende Rolle im Geschehen zufällt: »Bei welthistorischen Ereignissen [die Schlacht am weißen Berg] treten Persönlichkeiten, die nicht gerade zur Führung berufen sind, nothwendig zurück.«270 Den eigentlichen Gegenstand des Buches stellt unzweifelhaft der Dreißigjährige Krieg dar, dessen Verlauf bis zu Wallensteins Tod detailliert protokolliert wird. Erst als Wallenstein als Akteur erkennbar wird, wird er zu einer zentralen Figur der Darstellung, aber die Aufmerksamkeit des Historikers gilt dennoch ebenso den Schauplätzen, an denen Wallenstein nicht operiert, und ausgiebig verweilt der Erzähler bei anderen Protagonisten und Geschehnissen des Krieges. Die Biographie des Feldherren tritt hinter die Erzählung der historischen Ereignisse zurück. Die Darstellung Wallensteins bleibt an die allgemeine Geschichte gebunden.271 Zwar fragt Ranke nach dem »Antheil Wallensteins an den Ereignissen der Jahre 1625 und 1626«, doch ist diese Frage letztlich Anlaß zu einem breiten Exkurs über die europäischen Verhältnisse:272 Um zu verstehen, was er unternahm, und zu würdigen, was er leistete, müssen wir uns den größeren Schauplatz vergegenwärtigen, auf welchen sein Schicksal ihn rief, und an die allgemeine politische Verwicklung erinnern, welche von dem in Böhmen gegebenen Anstoß aus die Welt ergriff.
Der einzelne vermag in der Geschichte Impulse zu geben, doch die welthistorischen Ereignisse geben die Konflikte vor,273 in welche er gestellt wird. Zwar mischen sich »individuelle Antriebe und Beziehungen in die Kriegführung der Zeit«,274 und durch persönliches Können vermag Wallenstein seinen Vorteil mit den politischen Entwicklungen mitunter zu verknüpfen,275 doch dominiert letztlich auch bei Ranke die Entwicklung der allgemeinen historischen Tendenzen. ————————
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274 275
nung, Verdienst und Schuld, und folglich alle Religion aufheben.« (Schicksal. In: Allgemeines Handwörterbuch, S. 600.) Insofern könne es nur ein bedingtes Schicksal geben, welches letztlich in den durch den Menschen mitbestimmten sozialen Faktoren oder im höchsten Willen einer göttlichen Vorsehung begründet ist. Ranke, Geschichte Wallensteins, S. 22. Vgl. a.: Hellmut Diwald, Einleitung. In: Leopold v. Ranke, Geschichte Wallensteins. Hg. u. eingel. von Hellmut Diwald. Kronberg/Ts. u. Düsseldorf: Athenäum, Droste 1978 (Athenäum-Droste-Taschenbücher 7211), S. 7–30, hier S. 27. Ranke, Geschichte Wallensteins, S. 26. Harth hat in seiner eingehenden Analyse der »Geschichte Wallensteins« den Kräfteantagonismus als elementares Bauelement der Rankeschen Geschichtsnarration und -auffassung hervorgehoben. Vgl.: Harth, Biographie als Weltgeschichte, S. 81f. Ranke, Geschichte Wallensteins, S. 67. Ebd., S. 101.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Besondere Aufmerksamkeit sollte die Frage nach der einleitend von Ranke vorgenommenen Einteilung in zwei Weltordnungen beanspruchen. Ist dort neben einer allgemeinen historischen von einer moralischen Weltordnung die Rede, so ist dies nicht auf die ethische Selbstverantwortlichkeit des Individuums bezogen, welches sich nach rationalen Erwägungen frei entscheiden könnte. Ranke umgeht Fragen nach der moralischen und rationalen Grundlage des Handelns. Die historischen Persönlichkeiten als Einzelpersonen oder als Gruppierungen sind in ihrem Handeln den allgemeinen geschichtlichen Entwicklungen, den allgemeinen Tendenzen ihrer Zeit untergeordnet. Dennoch besteht ein individueller Freiraum; das gesamte historische Geschehen wird zwar von den allgemeinen Tendenzen bestimmt, doch mischen sich in diese die ‘Interessen’, ‘Antriebe’, ‘Tendenzen’ der einzelnen handlungsmächtigen Persönlichkeiten. Die Frage nach den charakterlichen und individuellen Antrieben des Handelns, die den Historiker vor ein unlösbares Erkenntnisproblem stellt,276 wird ersetzt durch die neutrale Darstellung der Interessen, Wünsche und Absichten. Obwohl Rankes Sympathien wohl bei Wallensteins Position zwischen schwedischen und österreichisch-spanischen Interessen liegen, zeigt er deutlich, daß in Wallensteins Handlungstendenzen allgemeine politische Ziele mit selbstsüchtigen Machtinteressen verbunden sind: »die Gedanken, die er verfolgte waren mit nichten populär: sie waren zugleich mit egoistischen Absichten durchdrungen«277 – und gerade an dieser Stelle ist ‘egoistisch’ eben nicht auf einen Wesenszug asozialer Leidenschaftlichkeit bezogen, wie es im Rahmen der ethischen Anthropologie als Hinweis auf die ‘tierische Anlage’ des Menschen der Fall wäre, sondern auf handfeste ‘Karriereinteressen’: den Griff nach der »Churwürde«. Die Geschichte wird in Rankes Augen von Konflikten und Gegensätzen bestimmt. Den Handlungsintentionen Wallensteins stehen die anderer Persönlichkeiten gegenüber, die ebenfalls ihre Interessen durchsetzen wollen. Und alle Einzelinteressen werden schließlich wieder bestimmt von großen Zeittendenzen, die von der gesamteuropäischen Lage ausgehen. Die sogenannte ‘moralische Weltordnung’ scheint so nichts weiter zu sein als das Feld der persönlichen Ziele und Konflikte, die das Handeln der einzelnen Akteure bestimmen; letztlich jedoch ist die Durchsetzbarkeit der Einzelinteressen von den großen historischen Tendenzen abhängig: Die Interessenkonflikte in Deutschland, die Ranke weitgehend als persönliche Interessen der historischen Akteure bezeichnet, werden überlagert von den ‘welthistorischen Tendenzen’, welche über einen großen ———————— 276 277
Ranke gibt für das Absehen von dieser Frage die Begründung: »etwas Hypothetisches bleibt in dem Dunkel menschlicher Antriebe und Ziele immer übrig« (Ebd., S. 421). Ebd., S. 350.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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Zeitraum hinweg die konfessionellen und machtpolitischen Auseinandersetzungen bilden, in deren Zentrum das habsburgische Spanien gestellt wird.278 Rankes erzählerisches Bemühen ist ganz darauf gerichtet, die Konfliktlage ‘objektiv’ vorzustellen. Immer wieder werden exkursartig die allgemeinen Tendenzen, das sind im wesentlichen die Interessen der großen Parteiungen, dargestellt. Auch die Annäherung an die Perspektive nur einer Figur, nur Wallensteins, wird weitgehend vermieden, und entsprechend wird die Er-Form der Erzählung nicht als personales Erzählverhalten realisiert:279 »Die Perspektive des Historikers Ranke beschränkt sich in keinem Augenblick auf den Horizont des Helden, vielmehr deckt er alle Kräfte politischer und geistiger Art, denen er begegnet, auf in ihrer eigenen Bedeutung […].«280 So bleibt insgesamt eine gewisse relativierende Distanz zu den agierenden Personen, auch zu Wallenstein, gewahrt, die letztlich auch verhindert, daß die agierenden Figuren in ihrem historischen ‘Schicksal’ zu tragischen Akteuren auf der ‘dramatischen’ Bühne der Geschichte werden. Ganz ohne eine tragische Zuspitzung kommt Ranke indes auch nicht aus. Der Schlußabsatz des 14. Kapitels bildet den tragischen Höhepunkt vor der Katastrophe im folgenden Kapitel, und hier wird im Stil des historischen Romans das tragische Schicksal einmal individuell gefaßt, das heißt, die grundsätzliche Tendenz der historischen Biographie gegenüber dem historischen Roman, den Helden und zentralen Aktanten im Rahmen der allgemeinen historischen Entwicklung nicht als Person aufzubauen, wird hier zugunsten der Dramatizität und Anschaulichkeit der Darstellung durchbrochen:281 Besonders behielt Wallenstein das Bewußtsein des sich vollziehenden Ereignisses. Er entließ den kaiserlichen Rath, der bei ihm war, um an den Friedensverhandlungen Theil zu nehmen: denn davon konnte dort nicht weiter die Rede sein. »Ich hatte den Frieden in meiner Hand«, sagte er dem Obersten Beck, den er noch einmal sah; noch verzweifelte er vielleicht nicht; nach einem Augenblick des Stillschweigens fügte er hinzu: »Gott ist gerecht.«
Die eigentliche Mordtat wird dagegen kaum ausgefaltet. Hier dominiert wieder die Schilderung der allgemeinen Konfliktlage und die historische Einordnung; die Katastrophe Wallensteins bildet nur den erzählerischen Aufhänger für die katastrophale geschichtliche Situation, welcher eigentlich die Aufmerksamkeit des Historikers gilt. ———————— 278 279
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Vgl. bes. ebd., S. 353ff. Ranke nähert sich einmal davon abweichend einem personalen Erzählen an, als er die Interessen und Ziele Wallensteins aus dessen Perspektive wiedergibt: »Welch ein großartiges Unternehmen, in dem er begriffen war: den verderblichen Krieg in Deutschland zu beendigen; den Religionsfrieden mit Befestigung alles dessen, was ihn gestört hatte, in voller Wirksamkeit wiederherzustellen; die Integrität des Reiches zu erhalten.« Ebd., S. 350. Jander, Untersuchungen, S. 127. Ranke, Geschichte Wallensteins, S. 427.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Eine deutliche Distanz zeigt sich nicht nur zur einseitigen Perspektivierung oder zur Darstellung des ‘Privatcharakters’, sondern letztlich auch gegenüber dem kritischen Impetus von Gutzkows Frage nach dem Anteil der Charaktere an den historischen Ereignissen. Eine urteilende politische Charakteristik wie bei Gutzkow oder eine politische Geschichtsschreibung wie bei Droysen lehnt Ranke explizit ab. Bereits in der Vorrede gibt er der Hoffnung Ausdruck, aus der abwägenden Beurteilung und vollständigen Sichtung der parteilichen Quellen zu einer objektiven Darstellung gelangen zu können. Entsprechend tritt das ‘Ich’ des Historikers in der Geschichtsnarration zurück;282 die Bewertung der Quellen wird nicht selbst zum Gegenstand der Darstellung. Der Stil der Darstellung bleibt trotz Rankes literarischen Bemühens um eine geschlossene ‘Erzählung’ – nüchtern, erörternd. Ranke sucht nicht wie Droysen in seiner Geschichte Alexanders des Großen nach einer pathetischen Inszenierung der großen geschichtlichen Weltbewegung. Seine Darstellung ist stets ereignis- und sachorientiert. Er vertraut der Wahrheitssuggestion der schlichten Erzählung und verzichtet auf den hohen Stil pathetischer Weltgeschichtsschreibung ebenso wie auf die Kunst argumentativer Schlüsse. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, daß Ranke durchaus Hinweise zu einer politischen Bewertung aus der Sicht der Gegenwart gibt. Immerhin steht im Dreißigjährigen Krieg aus der Sicht des Historikers 1869 auch das Schicksal der deutschen Nation in Frage. Gerade die scheinbar objektive Erzählung der großen Gegensätze muß zu der Frage nach ihrem vereinenden Mittelpunkt führen. Und hier zeigt sich, daß Wallenstein kaum zufällig den Namen für das Werk lieferte, denn zwischen den rein protestantischen und mit machtpolitischen Positionen vermengten Interessen Schwedens und den Motiven des österreichischspanischen Kaisertums, die eher auf eine Hauspolitik als auf eine deutsche Politik gerichtet scheinen, wird Wallenstein (hier teils im Einvernehmen mit den Höfen von Sachsen und Brandenburg) als der einzige dargestellt, der nach einem Gesamtfrieden der deutschen Nation ohne fremde Beteiligung strebt.283 Erst mit Wallensteins Tod und dem Scheitern dieser Pläne sei der Vernichtungskrieg ausgebrochen, der letztlich zur Auflösung des Reiches geführt habe.284 Wenn man diese Position Rankes ———————— 282
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Ausgesprochen selten tritt das ‘Ich’ des Historikers als urteilende Instanz überhaupt in Erscheinung (vgl. ebd., S. 257, 397). Fast immer wird das Abwägen der Urteile und Beurteilungen hinter einem unverbindlichen ‘man’ verborgen. Ranke führt den Leser auf die Spur dieser Gedanken, wenn er formuliert: »Es war, als sollte er [Wallenstein] zwischen den in Kampfe begriffenen Elementen der Welt Maß geben und über ihre Ansprüche entscheiden: und zwar nicht wie etwa Richelieu als Ratgeber seines Fürsten und im Einverständnis mit demselben, sondern selbst im Gegensatz zu ihm. War er dazu wirklich im Stande?« (Ebd., S. 401.) Ebd., S. 454f.
2.4. Personalhistoriographie bei Droysen und Ranke
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der Gustav-Adolf-Verehrung preußisch-protestantischer Reichspatrioten (wie Treitschke) gegenüberstellt, wird die politische Dimension deutlich. Es sind die leisen politischen Töne, die Ranke in die Nähe des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. oder des bayerischen Maximilian II. führten, die hier den politischen Bezugspunkt bilden. Nicht durch Stilisierung im Sinn Droysens wird dies erreicht, sondern dadurch, daß dem machtversessenen, ehrgeizigen Heerführer ein zweites, pazifistisches, verhandlungsliebendes, auf den Gesamtfrieden der deutschen Nation in ihrer Teilung gerichtetes Interesse hinzugefügt wird. An eine Erneuerung der deutschen Nation unter einer preußischen Kaiserkrone hat Ranke – so lassen die Schlußsätze seines Buches vermuten – dagegen 1869 weder geglaubt, noch hat er dies wohl eigentlich gewünscht.285 Gleichgültig, ob die Geschichtsschreibung die Konzentration auf eine Person politisch oder objektivierend gestaltet, gegen die Grundforderung an eine Biographie, das Menschenleben ins Zentrum zu stellen, verwahren sich Historiker wie Droysen und von Ranke ausdrücklich, und umgekehrt wurden diese Werke auch nur bedingt als Biographien wahrgenommen. Für den Biographen, Literaturhistoriker und Biographiekritiker Rudolf Gottschall zählten in einem zweiteiligen Artikel Die Biographie der Neuzeit (1874) die Biographien von Ranke ebenso wie die des jüngeren Gustav Droysen,286 dem Sohn Johann Gustav Droysens, zur ‘pragmatischen Biographik’, welche zwar nicht die Fehler einer archivalischen Lebensdokumentation begehe, also eine geschlossene Darstellung unter einem leitenden Blick biete, aber gleichzeitig nicht eigentlich biographisch orientiert sei, sondern die Biographie als Vehikel zur Darstellung allgemeiner historischer Entwicklungen benutze: »im Wesen der pragmatischen Biographie liegt das Übergewicht des allgemeinen Geschichtlichen über die Darstellung des Individuellen«.287 Gegen diese pragmatische Bio———————— 285
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Den einzigen Hinweis auf eine solche Vorstellung könnte einer durch den Erzähler besonders der Beachtung empfohlenen Äußerung Wallensteins entnommen werden, »daß es Kaiser auch noch aus einem anderen Hause geben könne als dem österreichischen, das sich von den Spaniern regieren lasse« (ebd., S. 433). Im Kontext der Darstellung bezieht sich dies jedoch auf die französischen Interessen an der Kaiserkrone. So beginnt die Vorrede zum »Gustaf Adolf« (2 Bde., 1869) mit den Sätzen: »Die Geschichte Gustaf Adolfs ist oft in biographischer Form behandelt worden. Ich will den vorhandenen Biographien über ihn nicht eine neue hinzuführen. Nicht den Verlauf seines Lebens will ich erzählen, sondern eine Reihe von Verhältnissen darlegen, in die er eingegriffen hat.« G[ustav] Droysen, Gustaf Adolf. 2 Bde. Leipzig: Veit 1869/70, Bd. 1, S. VII. – Ausdrücklich trennt er die ‘welthistorische Bedeutung’ von dem Mythos seiner Tugenden: »als der fromme Held im Dienste des Glaubens« (S. VIII). Denn auch, wenn sich die Gründe für das Handeln Gustaf Adolfs bei ihm nun anders darstellten, bliebe die welthistorische Bedeutung erhalten: »Der Erfolg überdauert in der Geschichte, nicht die Absicht« (ebd.). Rudolf Gottschall, Die Biographie der Neuzeit. In: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart 10 (1874), Bd. 2, S. 577–593, 657–677, zit. S. 672.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
graphik grenzt Gottschall zwei weitere historisch-biographische Darstellungsweisen ab, welche nicht seinem Anspruch genügen, da sie entweder das Leben des Biographierten als Archivsammlung der Dokumente präsentieren (‘Urkundenbiographik’) oder aber ‘tumultuarisch’ Weltbilder ausbreiten (Thomas Carlyle, Johannes Scherr), in deren dramatischer, anekdotischer und lebensvoller Darstellung eher ein ‘Massentableau’ gezeigt werde, als eine konzentrierte Biographie. Gottschalls Ideal der Biographie wird trotz des ausdrücklichen Traditionsbezuges auf Plutarch und Varnhagen von Ense erst deutlich, wenn man Gottschalls eigene Biographie Maximilian Robespierre liest, denn Gottschall führt gerade die Tradition der biedermeierlichen Charakteristik und der jungdeutschen Essayistik (in Verbindung mit dem Stilvorbild Macaulay) fort, indem er Biographik und Historiographie trennt. Gegen die pragmatische, archivalische und tumultuarische Darstellungsweise der Historiker wird die konzentrierte, negative und positive Züge abwägende Charakteranalyse ins Zentrum gestellt. Die allgemeine Geschichte ist nur insofern interessant, als sie die Charakterbildung beeinflußt, das Handeln des Biographierten verdeutlicht oder seine spezifischen Gesinnungen erklärt: »Das psychologische und selbst pathologische Element des Einzellebens soll zu seinem Rechte kommen […]«.288
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags Ute Frevert hat im Blick auf die Geschichte des Heroismus mit den hier vorgetragenen Beobachtungen übereinstimmend betont, daß die Exzeptionalität stark idealisierter, heroischer Individuen am Beginn des 19. Jahrhunderts noch kein zentrales Thema der biographischen Literatur gewesen sei: »In der Gesellschaft des Vormärz gab es offenbar nur wenig Bedarf an exzeptionellen Aktivitäten einzelner, die sich damit aus der Solidargemeinschaft bürgerlicher Existenzen herausgehoben hätten«.289 Diese Einschätzung entspricht durchaus vielfältigen Selbstbestimmungen der Restaurationszeit. In wünschenswerter Deutlichkeit bestimmt etwa der Jungdeutsche Gustav Kühne Varnhagens Charakterdarstellungen als zeitgemäß: »Für große Zeiten und große Naturen ist Varnhagen’s Darstellung nicht gemacht. Er schildert Zwischenepochen und Nebenfiguren ———————— 288 289
Ebd., S. 675. Ute Frevert: Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert. In: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1998, S. 323– 344, hier S. 326.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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am glücklichsten.«290 Kühne bemängelt einerseits durchaus, daß Varnhagen eine Gestalt wie Napoleon nur aus der Salonperspektive zu schildern vermöge, aber er erkennt ausdrücklich die dafür verantwortliche zeitgemäße anthropologische Perspektive auf die Helden zweiten Ranges als Akt der ‘Humanität’ an:291 Menschliches Glück zu begreifen und das Dasein in seinen Genugthuungen, das Pflanzenleben der Menschheit in seiner glänzenden Farbenschönheit zu verstehen und hinzustellen, das ist das Ziel dieser biographischen Feinheit. Für Tragödie des Unglücks hat dieser Pinsel nur matte Tinten, und eine dämonische Größe zerfällt fast in kleine Bischen vor dieser historischen Portraitmalerei […]
Der anthropologische Blick auf die biographierten Lebensläufe wendet gegen Verehrung und Verherrlichung der Helden die Achtung und den Respekt vor dem Mitmenschen nach Maßgabe des Grundsatzes: »er war ein Mensch auch mit menschlichen Fehlern und Schwächen« (so unter vielen anderen Ludwig Geiger über Johann Reuchlin).292 Auch Adalbert Stifters bereits zitierte Sätze aus der »Vorrede« zur Erzählsammlung Bunte Steine belegen, daß gerade die anthropologische, menschheitliche und sittliche Perspektive zu einer Distanz zum Heroismus führen; sein Robespierre-Plan dagegen läßt zumindest noch die dennoch bestehende Faszination erkennen, die von Ausnahmeindividuen und -schicksalen ausgeht. Während Stifter gegen die eigene Fasziniertheit noch eine literarisch-bürgerliche anthropologische Sicht behauptet, formiert sich gleichzeitig eine Heroismusdebatte, in welcher sich auch eine positive Haltung gegenüber der historischen Ausnahmegestalt Bahn bricht. Gegen die Entsagungsethik, gegen eine absolut gesetzte Egoismuskritik und gegen Leidenschaftsabsage wird die übersteigerte Leidenschaftsfähigkeit und Triebhaftigkeit etc. zur freilich erst durch den geschichtlichen Erfolg legitimierten Konstitutionsbedingung des Heroen. 293 ———————— 290 291
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Gustav Kühne, Varnhagen von Ense. In: Kühne, Portraits und Silhouetten, S. 180–192, hier S. 188. Ebd., S. 189f. – Auch Kühne bemüht sich übrigens im Stil anderer VormärzCharakteristiker, die »Darstellungskunst Varnhagen’s aus des Mannes eigenem Naturell« herzuleiten (S. 190). Ludwig Geiger, Johann Reuchlin. Sein Leben und seine Werke. Leipzig: Duncker & Humblot 1871, S. 475. – Entsprechend betont Geiger gleichzeitig: »Der wäre ein schlechter Biograph, der nicht für seinen Helden, wenn man dieses Wort anwenden soll, Achtung und Liebe empfände« (S. XXII). Dies zeigt etwa deutlich Conrad Ferdinand Meyers biographischer Roman »Jürg Jenatsch« (zuerst 1876), in welchem Meyer die Konstitution des heroischen Menschen im literarischen Raum erprobt. Jenatsch wird schon körperlich als klassischer Heros gezeichnet, seine Exzeptionalität schließt sozial die Isolation und Asozialität, individuell Selbstsucht, Vitalität, ein erhöhtes Leidenschaftspotential ein. Jenatsch ist gerade nicht ein Volksheld im Sinn eines idealtypischen Mitglieds einer Volksgemeinschaft, sondern er ist eine vollständig von der Allgemeinheit geschiedene, von dieser gefürchtete und gehaßte Einzelgestalt.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Diese Position tritt zugleich in Konkurrenz zur letztlich antiindividualistischen Personalhistoriographie. Aber nicht nur die Handlungsmächtigkeit der bedeutenden Persönlichkeiten, sondern auch die Leistungsfähigkeit des einzelnen in der Gesellschaft, seine Eigenverantwortung für Erfolg und Mißerfolg seiner Lebensleistung werden zu zentralen Themen in der ethischen und biographischen Debatte um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft oder Individuum und Geschichte – einer Debatte, die sich erst aus der Vielfalt der biographischen Optionen rekonstruieren läßt und die kaum einen eigenen biographischen (Meta)Diskurs ausbildet, in welchem die Positionen in der Konfrontation deutlich würden. Beide Diskussionszusammenhänge: die Heroismusdebatte und die liberale Leistungsethik, haben gleichwohl – besonders im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – entscheidend auf die Entwicklung der Biographik gewirkt und zur Entwicklung je eigener biographischer Optionen beigetragen. 2.5.1. Ausnahmemenschen – historische und konstitutionelle Besonderheit der Heroen (Carlyle, Burckhardt, Nietzsche) Ist bei Hegel schon jeder einzelne in die bürgerliche und staatliche Ordnung auf Kosten seiner individuellen Freiheit integriert und hat so kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, so wird besonders der aus der Masse herausragende einzelne nur noch als substantieller Arm des Weltgeistes oder des Ganges der Geschichte aufgefaßt. Dem ‘normalen’ Menschen scheint Hegel mitunter im Rahmen der sozialen Handlungsspielräume größere Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen als jenen, die geschichtlich handelnd fest an die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung gebunden sind. Hegel relativiert die Leistung einzelner geschichtlich Handelnder, wenn er ausführt, daß diese ihre Bedeutung und ihren Ruhm nur durch die Übereinstimmung ihres individuellen Handelns mit der allgemeinen Geschichte erlangen. Die »großen Menschen in der Geschichte« seien »insofern ‘Heroen’ zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, geordneten, durch das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, aus dem innern Geiste der noch unterirdisch ist«.294 »Staaten, Völker und Individuen« sind im Hegelschen Geschichtsbild dem Gang der Geschichte vollständig untergeordnet. Sie erhalten ihre Funktion durch die Geschichte, die ihnen vorübergehende ———————— 294
Georg Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 41995 (Werke 12, stw 612), S. 45f.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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Bedeutung zuweist, jedoch über sie hinweggeht und sie hinter sich zurückläßt. Die jeweiligen Individualitäten sind »Werkzeuge und Glieder jenes innern Geschäfts […], worin diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber den Übergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet«.295 Die Individuen werden zu bloß ausführenden Akteuren (»Geschäftsführer des Weltgeistes«),296 die in der Verwirklichung ihres subjektiven Willens letztlich in einem geschichtlichen Plan agieren, der ihnen selbst verborgen bleibt: »An der Spitze aller Handlungen, somit auch der welthistorischen, stehen Individuen als die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten.«297 Seine Konzeption des Verhältnisses von geschichtlich handelndem Individuum und allgemeinem Gang der Geschichte wurde zum wichtigen Anreger etwa für die Anfänge der historiographischen Arbeit seines Schülers Droysen (Alexander)298 oder für Eduard von Hartmanns (1842–1906) weithin rezipierte Philosophie des Unbewußten (1869).299 Aber noch in Gegenpositionen werden – häufig verschwiegene – Bezüge zu Hegels Konzeption kenntlich: so etwa bei Thomas Carlyle und Jakob Burckhardt, welche die Frage nach der Bedeutung geschichtsmächtiger Personen für die allgemeine Geschichte neu stellten und gegen Hegels teleologisches Modell beantworteten.300 Sowohl Thomas Carlyle (1795–1881), der im Mai 1840 eine im deutschen Sprachraum breit rezipierte Vorlesungsreihe On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History hielt,301 als auch Jakob Burckhardt (1818–1897), der ———————— 295 296 297 298 299
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Hegel, Grundlinien, S. 505. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 46. Hegel, Grundlinien, S. 506. Im Lauf der 40er Jahre scheint Droysen mehr und mehr auf kritische Distanz zur Hegelschen Schule gegangen zu sein, doch bleibt er dem Modell verpflichtet. Hartmann sah die Aufgabe seines Werkes vor allem darin, »Hegels unbewusste Philosophie des Unbewussten zu einer bewussten zu erheben« (Eduard v. Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Berlin: Duncker 41872, S. 23), und knüpfte dabei insbesondere an Hegels Geschichtsphilosophie an. Er betont deutlicher als Hegel das unbewußte Wirken der Idee in der Geschichte, welche sich auf »zweierlei Art« verwirkliche: »nämlich einerseits [durch] Einpflanzung eines instinctiven Dranges in die Massen und andererseits [durch] Production von wegweisenden und bahnbrechenden Genies« (S. 338). Diese Genies der Geschichte werden zu Vollstreckern der geschichtlichen Absichten entweder dadurch, daß ihr Handeln unbewußt die Resultate erbringt, welche die Absichten erfüllen, oder indem das Unbewußte in der Geschichte »im rechten Augenblick das rechte Genie erweckt, das befähigt ist, gerade diese Aufgabe zu lösen« (S. 339). Auch bei Hartmann bleibt der Kerngedanke des Primats der Geschichte über die Freiheit der Individuen erhalten. Vgl. hierfür a.: Engel-Janosi, Von der Biographie im 19. und 20. Jahrhundert; Christian v. Zimmermann, Biographik und Individualität. Überlegungen zum Problemhorizont biographischer Schreibformen. In: Schüle, Biographie, S. 21–40. Carlyles Äußerungen zur Konstitution und zum Status des Heroen sind in Deutschland breit rezipiert worden. Nicht nur durch die Biographie Friedrichs des Großen (1858–65), sondern durch persönliche Beziehungen nach Deutschland (etwa zu Goethe oder Varnha-
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
sich mit dem Phänomen der »Größe« gut dreißig Jahre nach Carlyle in öffentlichen Vorträgen für Studierende und historisch Interessierte beschäftigte, haben versucht, das Phänomen einer von der Allgemeinheit geschiedenen, exzeptionellen Individualität als durchsetzende Kraft in der Geschichte zu beschreiben. Sie näherten sich dem Begriff des Helden, und sie stellten dem Droysenschen »Berufen sind alle« das prinzipielle Anderssein der Größe gegenüber. Der Glaube an die heroische Persönlichkeit, die über den Horizont der Allgemeinheit bewußt oder unbewußt in eine verborgene Sinnhaftigkeit blickt – sei diese der Lauf der Geschichte (Hegel)302 oder der ewige eigengesetzliche Gang der Natur (Carlyle, im Anschluß an Fichte) – wurde auch von vielen Hegelkritikern geteilt. Die besondere Funktion der Heroen in Hegels Geschichtsphilosophie bildete dagegen den kaum namentlich genannten Gegenpol zu den Überlegungen eines Burckhardt oder Carlyle. Hegels Auffassung von einem die Geschichte durchwirkenden vernünftigen ‘Weltgeist’, der im Geschichtslauf ————————
302
gen von Ense) und durch die fast zahllosen Ausgaben seiner Werke (bes. seines Heroenbuches, das auch im Schulunterricht Verwendung fand) übte Carlyle einen bedeutenden Einfluß auf das Bild der historischen Persönlichkeiten in Deutschland aus. Besonders populär war das ‘Heldenbuch’ zwischen 1895 u. 1940. Die erste deutsche Übersetzung ist wohl die 1853 erstmals erschienene Ausgabe: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Sechs Vorlesungen. Deutsch von J. Neuberg. Berlin. Decker 1853 [31898]; eine fünfte, sprachlich überarb. Auflage erschien 1917 bei Decker mit einer Einleitung von Walter v. Molo. Der Neubergsche Text liegt auch den Ausgaben im Verlag Deutsche Bibliothek (Berlin, hg. von Robert v. Erdberg 1912) und im Weltgeist-Verlag (Berlin 1920, 1925) zugrunde. – Weitere Editionen: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Aus dem Englischen von Friedrich Bremer. Leipzig: Wigand 1895; Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. 6 Vorträge. Halle/S.: Hendel o.J. [1898] (Bibliothek der Gesamt-Literatur des In- und Auslandes 1149-53); Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Übers. von E. Pfannkuche, hg. von A. Pfannkuche. Leipzig: Reclam 1900 u.ö. (RUB 4191/93); Helden und Heldenverehrung. Übers. von Paul Baudach. Mit einem Nachwort von S. Saenger. Berlin: Dt. Buchgemeinschaft 1910; Helden und Heldenverehrung. Bearb. von Adalbert Lautowski. Berlin: Neues Leben 1912; Helden und Heldenverehrung. Berlin: Borngräber 1912; Helden und Heldenverehrung. Übers. von Ernst Wicklein. Jena: Diederichs 1913, 21922 (Sammlung Diedrichs 2). – Daneben auch Auswahlausgaben: Der Held in uns – die Wiedergeburt des Heroischen in der Deutschen Notwende. Die großen Seelen-Schmiede als Volks-Erwecker und -Erzieher. Hg. von K. O. Schmidt. Pfullingen: Baum 1932 (Bücher der Weißen Fahne 85). – In der NS-Zeit war Carlyle bekannt durch: Heldentum und Macht. Schriften für die Gegenwart. Hg. von Michael Freund. Leipzig: Kröner 1935 u.ö. (Kröners Taschenausgabe 123). – Bereits früh erschienen Ausgaben in Originalsprache in Deutschland: On heroes, hero-worship and the heroic in history. Leipzig: Tauchnitz 1916 (Collection of British Authors 4514); sowie für den Schulunterricht: On heroes, hero-worship and the heroic in history. Auf Grund der Reform-Ausgabe von A. Lindenstead mit deutschen Anmerkungen versehen von Albert Herrmann. Bielefeld u. Leipzig: Velhagen & Klasing 1908 (Sammlung französischer und englischer Schulausgaben. English Authors B 94). – Die Liste ist wohl noch unvollständig. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 46. Die welthistorischen Individuen werden in diesem Sinn als »die Einsichtigen« bezeichnet.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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zur Vollendung dränge, wurde beständig als Vorwurf und Ausgangspunkt der Diskussion genommen.303 Hegels Bild des geschichtsmächtigen Heroen bzw. des ‘welthistorischen Individuums’304 kann als ein Ausgangspunkt des HeroismusDiskurses im 19. Jahrhundert gelten. Der Heros zeichne sich dadurch aus, daß er in rastloser Tätigkeit und beherrscht von Leidenschaften305 einem partikularen Ziel nachstrebe, dem er sein ganzes Tun unterwerfe, wodurch er Großes leisten könne: »Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.« 306 Hegel erhebt den Heros über Fragen der Moral, Sittlichkeit und Rechtlichkeit des Handelns. Diese bereits von Schiller vorgeprägte 307 und seit Hegel geläufige Trennung der geschichtlichen Bedeutung von der moralischen Bewertung des großen Individuums bricht mit der Tradition einer philanthropischen Anthropologie, welche noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die aufgeklärte Biographik prägte und in deren Vorstellung ‘Größe’ unmittelbar an moralische Vorbildlichkeit gebunden war.308 Hegel trennt dagegen die für die in der bürgerlichen Gesellschaft lebenden Individuen gültigen moralischen Normen von der höheren Moralität der Welthistorie. Die weltgeschichtliche Entwicklung und die mit ihr verbun———————— 303
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Vgl. hierzu grundlegend: Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard. Stuttgart: W. Kohlhammer 41958, bes. S. 44ff. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. »Was sie [die Geschichte] dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu offenbaren: ‘daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwekke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.« Friedrich Schiller, Was heisst und zu welchem Zwecke studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: Ders., Historische Schriften und Erzählungen I. Hg. von Otto Dann. Frankfurt/M.: Deutscher Klassikerverlag 2000 (Werke und Briefe 6), S. 411–431, hier S. 430,5–9, vgl. Komm. S. 863. Zwei Beispiele aus der hier exemplarisch anzuführenden Zeitschrift »Der Biograph – Darstellung merkwürdiger Menschen der drey letzten Jahrhunderte« (Halle 1802–1810) können dies zeigen. So weist etwa Kurt Polykarp Joachim Sprengel (1766–1833), Professor für Pathologie an der Universität Halle, in seinem »Karl Linné« (1808) besonders auf die strenge Frömmigkeit des Biographierten und die Verbindung von Geist und Moral hin. ([Kurt Polykarp Joachim] Sprengel, Karl Linné. In: Der Biograph 7 (1808), S. 207–256.) Die Leistung, eine neue naturkundliche Richtung geschaffen zu haben, wird erst im Verein mit einer überdurchschnittlichen Sittlichkeit verehrungswürdig. Dies gilt nicht nur für die Gelehrten wie Linné sondern auch bei durch ihre Tat bekannten Persönlichkeiten wie »Christophero Colombo« (1803), dem Christian Daniel Voß (1761–1821) in der genannten Zeitschrift eine Biographie widmet. ([Christian Daniel] Voß, Christophero Colombo, oder: Columbus, oder Colon. In: Der Biograph 3 (1803), S. 111–226.) Zwar werden hier Willensstärke und Leidenschaft betont, aber die Vollendung des großen Menschen wird auf sittlichem und moralischem Gebiet erreicht. Von dieser Auffassung der großen Gestalt im Sinne einer exemplarischen Tugend und Sittlichkeit wendete sich Hegel ab.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
denen welthistorischen Individuen stehen außerhalb der moralischen Bewertung ihrer Zeit.309 Ausdrücklich lehnt Hegel eine (biographische) Kritik der geschichtlichen Persönlichkeit ab, und er verteidigt die welthistorischen Individuen gegen die »sogenannte psychologische Betrachtung […], welche, dem Neide am besten dienend, alle Handlungen ins Herz hinein so zu erklären und in die subjektive Gestalt zu bringen weiß, daß ihre Urheber alles aus irgendeiner kleinen oder großen Leidenschaft, aus einer Sucht getan haben und, um dieser Leidenschaften und Suchten willen, keine moralische Menschen gewesen seien«.310 Damit zielt Hegel sowohl gegen die biographische Präferenz für die ‘Helden zweiten Ranges’, als auch überhaupt gegen eine ethisch-charakterliche Betrachtungsweise, welche den Privatcharakter vor der öffentlichen Handlung gewichtet: »Diese Psychologen hängen sich dann vornehmlich auch an die Betrachtung der Partikularitäten der großen, historischen Figuren, welche ihnen als Privatpersonen zukommen.«311 Gegen die kurzsichtige Moralität einer solchen ‘Kammerdiener-Perspektive’ – und zugleich gegen eine ethisch-anthroplogische Sichtweise – betont Hegel Selbstsucht und rückhaltlose Zweckerfüllung gerade als Bedingung der welthistorischen Individuen. Im Verhältnis zu den Normen der ‘normalen’ Individuen wie der ‘Psychologen’ (Biographen) ergibt sich hieraus ein Moraldispens der welthistorischen Individuen (der freilich in welthistorischer Perspektive durch die höhere Moralität der geschichtlichen Zwecke aufgefangen wird). Die grundlegenden Merkmale des Helden, wie sie Hegel benennt, werden auch von anderen Theoretikern des Heroismus wie Carlyle oder Burckhardt geteilt. Dies gilt gerade auch für den Moraldispens des Erfolgreichen. Die weltgeschichtliche Dimension des Heros als »Geschäftsführer des Weltgeistes«, der über den Helden hinweg zu seiner Vollendung schreitet, wurde von beiden abgelehnt. Der einzelne wird in Hegels Sicht zum Helden dadurch, daß sich das unbeirrbar verfolgte Partikularinteresse mit dem Allgemeininteresse, das heißt mit dem Geschichtsprozeß, verbindet. Der Held handelt also nicht selbstlos für ein historisches Ziel, sondern egoistisch für sein eigenes begrenztes Interesse und wird eher zufällig – wenn auch nicht voraussetzungslos – zum historischen Träger der allgemeinen geschichtlichen Bewegung. Gerade die welthistorischen Implikationen dieser Konzeption der Heroen wurden von Carlyle und Burckhardt abgelehnt. Für Carlyle etwa wurde der Heros nicht zum Träger der Weltgeschichte, da er den Gedanken an einen linearen Fortschritt der Geschichte nicht akzeptierte. Sein Heldenbild beruhte auf der Exi———————— 309 310 311
Hegel, Grundlinien, § 345. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 47. Ebd., S. 48.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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stenz einer ahistorischen Natur, deren Gesetze durch den Helden zu ihrem Recht drängen. In seiner Vorlesungsreihe On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History hat sich Carlyle mit einer eigentümlichen Reihe von »heroes« beschäftigt: Odin, Mohammed, Dante, Shakespeare, Luther, Knox, Johnson, Rousseau, Burns, Cromwell und Napoleon. Anhand dieser exemplarischen Gestalten untersucht er die Grundzüge des heroischen Charakters, der als ahistorischer Typus gedacht wird. Der Held ist in seinen Augen ein Einzelgänger, der nahezu voraussetzungslos eine neue Idee gebiert: »Every new opinion, at its starting, is precisely in a minority of one.«312 Er erscheint keinem determinierenden Kontext zugehörig, sondern zeichnet sich durch das Berufensein aus. Im Zentrum seines Handelns steht als treibende Kraft die ‘Idee’ oder Vision, welche er als einzelner mit unbeirrbarem Willen verfolgt: »In this wild element of a Life, he has to struggle onwards […].«313 (Hier ist auch eine Quelle der in heroischen Biographien häufig erscheinenden Lebenskampfmetaphorik erkennbar.) Der Held ist gekennzeichnet durch rückhaltlose und schonungslose Aufrichtigkeit, mit der er sich dem Alltagsdenken entgegenstellt, um den tiefen Wahrheiten der verborgenen ‘Natur’ zur Sprache zu verhelfen. Carlyle sieht in diesen Tätigen die Führer der Menschheit, die Former der Geschichte, die Leitbilder ihrer Epochen und die eigentlichen Kreativen in der Verwirklichung der dem Normalmenschen uneinsichtigen allgemeinen Ziele. Aus menschlicher Sicht ist der Held ein Zufallsereignis, dessen ‘schicksalhaftes’ Erscheinen Rettung und dessen Ausbleiben Untergang bedeuten kann. Die Zeit, die nach einem Befreier, Führer und Helden verlange und ihn nicht finde, müsse ihrem Schicksal – »to go down to confusion and wreck« – erliegen, denn es stehe nicht in der Macht der Menschen, die Verhältnisse zu ändern, wenn »providence had not sent him«.314 Die geheime Macht der Vorsehung, die der menschlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist, lenkt das Schicksal durch die Helden:315 […] all things that we see standing accomplished in the world are properly the outer material result, the practical realisation and embodiment, of Thoughts that dwelt in the Great Men sent into the world: the soul of the whole world’s history, it may justly be considered, were the history of these.
Carlyles Aussage, die Geschichte sei nichts anderes als die Verkettung der Biographien der großen Gestalten, ist allerdings nur die menschliche Perspektive. Hinter dem Wirken der Helden bleibt die Kraft der Vorsehung ———————— 312 313 314 315
Thomas Carlyle, On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History. In one volume. Hg. v. H. D. Traill. London: Chapman and Hall 1904 (Centenary Edition 5), S. 61. Ebd., S. 47. Ebd., S. 13. Ebd., S. 1, vgl. auch S. 13, 29.
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verborgen.316 Allein der Held vermag zu erkennen, daß die Welt nur eine äußere materielle Maske ist: »a visual and tactual Manifestation of God’s power and presence«.317 Vision, Wahrheit, Erkenntnis zeichnen den Helden weit mehr aus als die historisch-persönliche Erscheinung, Kraft und Ausdauer.318 Den nicht heldenhaften Zeitgenossen, denen diese Einsicht nicht möglich ist, falle die Aufgabe der Heldenverehrung als konstitutivem Gesellschaftselement zu: »Society is founded on Hero-worship.«319 Die Gesellschaft ist auf die Führung durch einen einzelnen Heroen angewiesen und diesem verpflichtet. Hierin kann der einzelne als Teil der Gesellschaft sogar eine relative Größe erreichen. Besonders in der Rezeptionsgeschichte hat sich gezeigt, daß Carlyle eine schwierige Gratwanderung zwischen Massengefolgschaft gegenüber einem Führer und einem deutlichen Individualismus unternimmt, die Ernst Bloch in seiner Einschätzung Carlyles als »Paradox eines individualistischen Neufeudalismus« auf durchaus philantropisch-utopischer Grundlage charakterisiert hat.320 Seine eigene Zeit wollte Carlyle wieder zum Respekt und zur Verehrung der Führer bekehren, denn der Gegenwart sei die Heldenverehrung abhanden gekommen: »I am well aware that in these days Hero-worship, the thing I call Hero-worship, professes to have gone out, and finally ceased.«321 Für Carlyle sind die Helden durchaus auch die treibende Kraft eines gesellschaftlichen Fortschritts, vor allem jedoch repräsentieren sie die – einer periodisch in »Aufstieg und Niedergang« verlaufenden Geschichte 322 ———————— 316
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Bereits Wellek hat darauf hingewiesen, daß Carlyle letztlich von einem Wirken des göttlichen Willens ausgeht, der jedoch dem Menschen verborgen ist. Allein der Held vermag nicht bloß das Geschehen zu schauen, sondern auch das Wirken der Welt zu erkennen. – Vgl. Renè Wellek, Carlyle and the Philosophy of History. In: Philological Quarterly 23 (1944), S. 55–76; Charles H. Haws, Carlyle’s Concept of History in »Heroes and HeroWorship«. In: Horst W. Drescher (Hg.), Thomas Carlyle 1981. Papers given at the International Thomas Carlyle Symposium. Frankfurt/M. etc.: Lang 1983 (Scottish Studies 1), S. 153–163. Carlyle, On Heroes, S. 69. Vgl. Fasbender, der diesen Gedanken allerdings zu ausschließlich faßt, wenn er schreibt: »In seinem Wesen ist der Held nichts anderes als die Idee der Wahrheit in der Verkörperung durch das Individuum […].« (S. 167) Der kämpferische Aspekt – »to struggle onwards« – gehört ebenso zur Kontur des Heroischen. – Thomas Fasbender, Thomas Carlyle. Idealistische Geschichtssicht und visionäres Heldenideal. Würzburg: Königshausen + Neumann 1989 (Epistemata. Reihe Philosophie 58). Carlyle, On Heroes, S. 12. Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (stw 3), Bd. 2, S. 719. Carlyle, On Heroes, S. 12. – Vgl.: Karina Momm, Der Begriff des Helden in Thomas Carlyles’ »On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History«. Diss. masch. Freiburg/Br. 1986, S. 180ff. Vgl.: Momm, Der Begriff des Helden, S. 80: »Die Konstellation einer jeden historischen Epoche wird als einmalig angesehen, sie folgt jedoch einem immer wiederkehrenden
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zugrundeliegende – unveränderliche Natur. Carlyle wendet sich entsprechend dieser Sicht des Geschichtsverlaufs deutlich gegen eine teleologische Geschichtsdeutung, welche zu einer Abwertung der jeweils überwundenen Stufen der Geschichtsentwicklung und einer Unvergleichbarkeit der historischen Situationen etc. führt. Nicht historische Zielvorstellungen, sondern Leiden und Lebenskampf einer jeden für sich einmaligen geschichtlichen Generation stehen darum im Zentrum:323 All generations of men were lost and wrong, only that this present little section of a generation might be saved and right. They all marched forward there, all generations since the beginning of the world, like the Russian soldiers into the ditch of Schweidnitz Fort, only to fill-up the ditch with their dead bodies, that we might march-over and take the place! It is an incredible hypothesis.
Die Geschichte ist für Carlyle ein beständiges Hier-und-Jetzt der im Lebenskampf stehenden Menschen, nicht aber eine erkennbare Kausalkette. Sie ist für ihn nicht eine Universalgeschichte, sondern wie es in einem kurzen Essay Biography (1832) heißt, die Geschichte des immer gleichen, von Epoche zu Epoche wiederkehrenden Existenzkampfes eines jeden einzelnen Menschen.324 Entsprechend polemisiert er in einem Essay On History (1830) gegen eine narrative Geschichtsschreibung und »causeand-effect speculations« eines rationalistischen Geschichtsverständnisses, aus dem jede Transzendenz verbannt sei.325 Obwohl es dem besonders hierzu begabten Menschen möglich sei, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen, hält Carlyle – hier gewiß geprägt durch die calvinistische Prädestinationslehre – daran fest: »History is a real Prophetic Manuscript, and can be fully interpreted by no man«.326 Hinter der wechselhaften Seite aller Geschichte, in der nichts Bestand haben könne, walte eine eigengesetzliche und unvergängliche Natur, die der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sei. Die widerstreitende Einheit von Geschichte und Natur wiederholt sich im Typus der Helden, die einerseits ein historisches Erscheinungsbild haben, sich andererseits zu allen Zeiten wesensgleich sind: »all sorts of heroes are intrinsically of the same material«.327 Sie gleichen sich darüber hinaus in der Funktion, die sie in der Welt einnehmen, denn in der veränderlichen Geschichte stellen die Helden jeweils eine ursprüngliche Wahrhaftigkeit her: »It is the property of every Hero, in every time, in every place and situation, that he come back to reality; that he stand upon ———————— 323 324 325 326 327
Grundmuster von Aufstieg und Niedergang.« – Ferner: Wellek, Carlyle and the Philosophy of History, S. 68. Carlyle, On Heroes, S. 119f. Carlyle, Biography. (1832.), S. 44. Carlyle, On History. (1830.), S. 90. – Vgl. a.: Fasbender, Thomas Carlyle, S. 70ff. Carlyle, On History, S. 90. Carlyle, On Heroes, S. 115.
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things, and not shows of things.«328 Dies versucht Carlyle in seiner Auswahl der Helden exemplarisch zu erläutern. Die Perspektive ist dabei willentlich auf die Wiederkehr ähnlicher Situationen angelegt und mag so – aus anderer Perspektive – als willkürlich und ahistorisch erscheinen, wenn sich etwa eigenwillige Parallelen zwischen den historischen Erscheinungen der Helden – etwa zwischen Mohammed und Luther – ergeben. Genauso etwa wie Mohammed gegen den ‘Götzenglauben’ (»idolatry«) angekämpft habe, sei Luther gegen den Götzenglauben seiner Zeit vorgegangen. Beide hätten die Menschen in ihrem Glauben wieder der »reality« angenähert. Die wiederkehrende Aufgabe der Helden besteht wie bei Mohammed und Luther in »Regeneration und Innovation«329 in allen Bereichen von Kultur, Religion und Gesellschaft. In seinen biographischen Essays reduziert Carlyle entsprechend die Erzählung der Lebensgeschichte auf wenige initiale Ereignisse. Für das Leben Luthers etwa werden nur einige zentrale Situationen wie die Entscheidung ins Kloster einzutreten, nachdem auf einer Wanderung sein Weggefährte vom Blitz erschlagen worden sei, oder sein Auftritt vor dem Reichstag in Worms als Schlüsselereignisse herangezogen. Carlyle verzichtet dabei auf einen narrativen Kontext oder auf historische Erklärungen, denn der historischen Größe liegt keine Willensentscheidung des Menschen Martin Luther zugrunde, sondern eine Berufung, die den eigentlich ängstlichen und schwachen Mann erhebt. Die heroischen Fähigkeiten bestehen vor allem im Schauen des wahrhaftigen Grundes der Geschichte und im standhaften Beharren auf der Wahrheit. Wenn er hierdurch einerseits »solitary, friendless« wird, da er von anderen nicht die Erkenntnis sondern nur den Glauben erwarten kann, so wird er andererseits zum Führer der im Alltäglichen befangenen Menschen. Er repräsentiert die Wahrheit der überzeitlichen Natur in einer geschichtlichen Welt:330 I will call this Luther a true Great Man; great in intellect, in courage, affection and integrity; one of our most loveable and precious men. Great, not as a hewn obelisk; but as an Alpine mountain, – so simple, honest, spontaneous, not settingup to be great at all; there for quite another purpose than being great! […] A right Spiritual Hero and Prophet; once more a true Son of Nature and Fact, for whom these centuries, and many that are to come yet, will be thankful to Heaven.
Als Merkmale der heroischen Gestalt können im Sinne Carlyles zusammenfassend verstanden werden: 1) die Verbindung zwischen Alltagszeitlichkeit und ewiger historischer und natürlicher Eigengesetzlichkeit; 2) das Seher- oder Prophetentum, welches aus der ahnenden Erkenntnis ———————— 328 329 330
Ebd., S. 123. Momm, Begriff des Helden, S. 82. Carlyle, On Heroes, S. 142.
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dieses Wesensgehaltes resultiert; 3) das unbedingte Beharren auf dieser Wahrheit; 4) die asoziale Einsamkeit des Helden, der bei seinem Glauben bleibt; 5) die Berufung zur Größe, die nicht selbstgewählt ist; 6) der Erfolg der historischen Leistung, welcher auch die Mittel heiligt. Insgesamt könnten diese Punkte unter dem Schlagwort des erfolgreichen, überindividuell wirksamen Lebenskampfes subsumiert werden Jedes Merkmal der äußeren körperlichen oder historischen Erscheinung dagegen kann wandelbar sein. Der klassische Heroentypus von athletischer Gestalt, der auch in seiner Körperlichkeit die Zeitgenossen überragt und übertrifft, ist für Carlyle eher ein Zeichen tierischer Gewalt als menschlichen Heldentums, welches zwar alle Formen der Gewalt in sich begreifen kann und hierfür einen Moraldispens erhält, diese Gewalt jedoch stets im Dienst der verborgenen Sache, der allein geschauten Wahrheit gebraucht. Aus der Perspektive der Historiographie wäre entsprechend festzuhalten, daß die letztlich undurchschaubare, weder kausal erklärliche noch spekulativ teleologisch erfaßbare Geschichte sich für den Betrachter allein im Handeln der Individuen und insbesondere in ihrem Existenzkampf erweist. Während so das Handeln der großen Individuen in der Geschichtsdarstellung nachvollzogen werden kann (gerade auch um das Zufällige und Chaotische in der Geschichte zu zeigen), bleiben die Helden freilich einer biographischen Darstellung unzugänglich, denn zum einen kann das geschichtsmächtige Wirken der Heroen nicht biographisch hergeleitet werden, zum anderen hat die Biographie für Carlyle andere Aufgaben zu erfüllen: Die Biographik ist auf moralische und anthropologische Aspekte verpflichtet, die sich auch für Carlyle vor allem an ‘mittleren Charakteren’ zeigen lassen. Die Biographie ist vor allem Ausdruck des menschlichen Strebens nach Selbsterkenntnis und nach Einsicht in den sich wiederholenden – potentiell tragischen – Existenzkampf zwischen »human Freewill« und »material Necessity«.331 Von Carlyle aus ergeben sich darum – über die eher kritische Aufnahme seiner ‘Monumentalbiographien’ hinaus – 332 zwei wichtige Rezeptionslinien, welche einerseits zur modernen Biographik führen (Zweig, von Molo), andererseits zu einer biographischen Essayistik, in welcher der einzelne als Symbolgestalt geschichtlicher Kämpfe instrumentalisiert (und dadurch von seiner menschlichen Existenz abgekoppelt) wird. ———————— 331 332
Carlyle, Biography, S. 44. Rudolf Gottschall etwa äußert sich zwar bewundernd über die lebendige Darstellung in Carlyles »Frederick the Great«, gleichwohl handle es sich sowohl wegen der Tendenz zum »Größencultus« als auch wegen der äußeren Dimensionen und mangelnden harmonischen Durchgestaltung dieser »Monstrebiographie« nicht eigentlich um ein vorbildliches Werk der Gattung. Gottschall, Die Biographie der Neuzeit, S. 587f.
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Tiefgreifender als das von Carlyle populär-pathetisch vorgetragene Gegenbild eines vitalistischen Heroen war Jacob Burckhardts Beitrag zum Heroismus-Diskurs. In doppelter Zielrichtung wendet er sich dabei einerseits gegen die voreilige Begeisterung für scheinbar große Persönlichkeiten, und andererseits stellt er dem Hegelschen Heroen eine Größe entgegen, die gegenüber dem Mitwirken am welthistorischen Fortschritt die Leistung zur Wahrung der kulturellen Kontinuität betont. Gegen eine teleologische Geschichte des Geistes der Menschheit äußert Burckhardt »Der Geist war schon früh komplett!«333 In der Geschichte zeige sich der ‘Geist’ zwar wandelbar, doch wirkten die Grundelemente der Kultur unveränderlich in der Gegenwart fort: »Für B[urckhardt] ist dieser Prozeß ein ewiges Formenschaffen des einen unsterblichen Geistes, das wie alles Geschehen, eine immaterielle Seite hat und damit in die Sphäre des Unvergänglichen, Ewigen aufragt.«334 Die Arbeit an der Geschichte des Abendlandes ist zugleich eine Arbeit gegen den Verfall der abendländischen Kultur, den Burckhardt in seiner Gegenwart befürchtete.335 Für den Historiker hat die kulturgeschichtliche Einstellung Burckhardts die Konsequenz, daß jede Epoche in ihrem eigenen Wert erkannt werden soll, ohne daß sie als Vorbedingung oder Vorstufe einer aufsteigenden Entwicklung zur Gegenwart hin aufzufassen ist. Zwar hat jede Zeit ihre eigenen Leistungen, die sich auch wesentlich von denen vergangener Zeiten unterscheiden können – so erkannte Burckhardt in seiner Zeit einen bedeutenden Fortschritt der Geschichtswissenschaft –,336 dennoch steht letztlich in seiner Geschichtsauffassung die beständige Erneuerung einer als unverrückbar angesehenen abendländischen Kultur im Vordergrund. Dieser Erneuerung wollte er durch seine historische Forschung bildend zuarbeiten. Burckhardt kommt in einem der später zu den Weltgeschichtlichen Betrachtungen vereinten Vorträge auf das Thema des geschichtsmächtigen Individuums bzw. der historischen ‘Größe’ zu sprechen. Den Begriff der Größe sieht er als eine problematische Kategorie, denn das Prädikat der Größe werde allzu schnell von den Voraussetzungen der Gegenwart gedacht und nicht mit dem Maß der Zeit gemessen, in welcher sie bestehe: Man halte aus der Perspektive des eigenen ‘Vorteils’ denjenigen für groß, ———————— 333
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336
Jakob Burckhardt, Glück und Unglück in der Weltgeschichte. In: Ders., Gesammelte Werke. Band 4: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über das geschichtliche Studium. Basel: Schwabe 1956, S. 181–196, hier S. 185. Wilhelm Krüger, Das Dekadenzproblem bei Jakob Burckhardt. Diss. Köln 1929, S. 30. Vgl. Jörn Rüsen, Jakob Burckhardt. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Bd. 3. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 5–28; ferner: Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 27ff. Jakob Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine. In: Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 151–180, hier S. 153.
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der als Bedingung der Gegenwart erscheine.337 Burckhardt legt sich deswegen nicht auf eine Definition fest, sondern beschränkt sich darauf, das Anderssein der Größe zu konstatieren: »Größe ist, was wir nicht sind.« 338 Die Erkenntnis absoluter Größe ist dem Menschen auch gar nicht möglich; er bleibt in seinem Erklärungsvermögen auf den relativen Unterschied, das Anderssein beschränkt, ohne dies definieren zu können. Die Größe eines Menschen wird letztlich nur durch ihre »Einzigkeit« und »Unersetzlichkeit« in der Geschichte erkannt:339 Einzig und unersetzlich aber ist nur der mit abnormer intellektueller oder sittlicher Kraft ausgerüstete Mensch, dessen Tun sich auf ein Allgemeines, d. h. ganze Völker oder ganze Kulturen, ja die ganze Menschheit Betreffendes bezieht.
Für Burckhardt stellt ‘Größe’ eine übergreifende Kategorie dar, die in unterschiedlichsten Sparten ihren Ort haben kann. Mit gewissen Einschränkungen könne etwa von großen Erfindern, Forschern und Entdekkern (allenfalls Kolumbus) als großen Menschen gesprochen werden. Auf jeden Fall sei es aber möglich, diese Qualität großen Dichtern und Künstlern zuzusprechen, die dadurch unersetzlich seien, daß wohl niemand ihre Werke geschaffen hätte, wenn sie nicht existiert hätten: Raffael, Michelangelo, Rubens, Calderón, Mozart, Schiller. Wichtiges Kriterium der Größe ist für Burckhardt folglich die Unersetzbarkeit des Individuums für seine historische Leistung, die eben für die Taten der Entdecker nicht in Anspruch genommen werden könne. Wenn sich bei Hegel grundsätzlich der Geist der Geschichte in beliebigen Individuen manifestieren kann, besteht also ein kategorialer Unterschied zwischen einem Hegelschen Heros als Vollstrecker der Geschichte und Burckhardtscher Größe. Einen sehr hohen Rang nehmen bei Burckhardt die Stifter und Reformatoren der Religionen ein – wie bei Carlyle werden Mohammed und Luther hervorgehoben. Am wichtigsten sind jedoch bei Burckhardt die »großen Männer der sonstigen historischen Weltbewegung«,340 also die politisch, militärisch auf die Geschicke von Völkern, Staaten und Kontinenten wirkenden Führerpersönlichkeiten. Eine »Koinzidenz« des Besonderen mit dem Allgemeinen – des individuellen Egoismus mit dem Interesse der bestehenden oder entstehenden Gemeinschaft – ist die Voraussetzung für die Entfaltung der ‘Größe’: »Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht.«341 Das große Individuum zeichnet sich durch einen rückhaltlosen, unbeirrbaren Einsatz für Ziele ———————— 337 338 339 340 341
Ebd., S. 152. Ebd., S. 151. Ebd., S. 153. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166.
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aus, auch wenn sie nicht zugleich seine Individualziele sind. Es zeigt sich entweder als Personifikation des Gemeinwesens – wie Alkibiades, der »Athen im Guten und Bösen« personifiziert habe –342 oder im »tödlichen Streit mit dem bisherigen Zustande«,343 wie etwa Napoleon, dem Burckhardt trotz einer eher ambivalenten Einschätzung doch Größe zugesteht. Vom Einsatz des großen Individuums kann das Schicksal ganzer Nationen abhängen. So seien Dschingis-Khan oder Peter der Große bedeutend, da sie den Wechsel ihres Volkes bzw. Staates von einem Kulturzustand in einen anderen vollbracht hätten. Gerade die kulturgeschichtliche Leistung gilt Burckhardt als Nachweis der Größe des einzelnen und überhaupt als bedeutendste Tat der Geschichte, gegenüber der bloße militärische Aktionen oder die ungeheure Machtfülle einzelner verblassen. Die Konstitution des großen Individuums hat auch bei Burckhardt typologische Züge: Der Große vermöge alles, erfülle jede Aufgabe und zeige »Macht und Leichtigkeit in allen geistigen (und selbst leiblichen) Funktionen«; dabei zeige er die Fähigkeit sich ganz und gar jeweils wechselnden Gegenständen zu widmen.344 Er »übersieht und durchdringt jedes Verhältnis, im Detail wie im Ganzen, nach Ursachen und Wirkungen« und verfügt über eine »abnorme Willenskraft«, die ihm alle »Elemente der Macht und Herrschaft« gefügig macht und unbedingte Gefolgschaft oder tödliche Feindschaft herausfordert.345 Im Gegensatz zu Hegel, aber in Übereinstimmung mit Kant gelten »Seelenstärke« und ‘Seelengröße’ Burckhardt als wichtige Eigenschaften: die Seelenstärke, im Augenblick größter Spannung standhaft und stark zu bleiben, die seltene Seelengröße, das eigene Interesse hinter das der Allgemeinheit zurückzustellen. Beides soll im bedeutenden Menschen vereint sein: »die Gewalttätigkeit seiner festen Maximen« (Kants Paraphrase für ‘Seelenstärke’) und die »Seelengüte«.346 Bei Burckhardt stehen noch rationalistische Vernunft- und Tugendbegriffe dem idealistischen Geschichtsdenken Hegels gegenüber. »Bloße Kontemplation«347 genüge allerdings nicht, um große Taten zu vollbringen. Vielmehr müsse sich das große Individuum, dem von Jugend an besondere Gefahren begegneten, aus den Begrenzungen der Alltagswelt befreien. (Hier finden sich Erzählmomente, die zu zentralen Motiven der Jugendgeschichte von Heroen werden.) Dabei geht auch Burckhardt so weit, dem Großen einen Dispens von moralischen und sozialen Normen zuzugestehen. »Namentlich der Bruch abgedrungener politischer Verträge« könne leicht verziehen werden. Nicht jedes Verbrechen ———————— 342 343 344 345 346 347
Ebd., S. 173. Ebd., S. 175. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 635. Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine, S. 169.
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gegen die Sittlichkeit ist allerdings dem Großen gestattet, und allein das erreichte Ziel legitimiert für Burckhardt – in Übereinstimmung mit Hegel – die Übertretung der bestehenden Ordnung: »Auf den Erfolg [der jeweiligen Tat] kommt alles an.«348 Besonders die Anwendung von Gewalt findet Burckhardts Billigung, wenn sie die erhoffte Wirkung zeigt, denn vieles Große sei erst durch Gewalt erreicht worden, und der Mensch erfahre erst im Kampf, was er erreichen wolle und könne.349 Schließlich seien die grausamen Taten der Großen nicht selten geschehen, um durch die eine Grausamkeit andere zu vermeiden.350 Die private Leidenschaft sei ebenfalls verzeihlich, wenn sie auch selbst zum Verbrechen führe. Denn der Große durchmesse sein Leben mit stärkeren Leidenschaften als ein ‘normaler’ Mensch. Das große Individuum, wie es Burckhardt beschreibt, erinnert an den Heroen Carlyles. Burckhardts ‘Held’ bleibt jedoch an den Begriff der Kultur – nicht an eine ursprünglich wahrhaftige und die göttliche Ordnung bezeichnende Natur – gebunden, deren Kontinuität über den historischen Wandel hinweg durch die aristokratische Gemeinschaft der historischen Größen gewahrt bleibt. Erst im Bezug auf die Kultur wird der einzelne zum großen Individuum. Dies ist gerade auch gegen manche BurckhardtRezipienten zu betonen: Obwohl kein Geringerer als der nationalintellektuelle Dichter Gottfried Benn Burckhardts Heldenmodell in seiner berüchtigten Antwort an die literarischen Emigranten (1933) bemüht,351 um noch das Phänomen Hitler zu erklären, der die nationale Bewegung halb hervorgebracht habe, halb durch diese hervorgebracht worden sei, ist diese völkische und antizivilisatorische Interpretation mit Burckhardts Kulturbegriff kaum in Einklang zu bringen. Eher noch kann sie sich auf Burckhardts Umdeutung durch Nietzsche berufen. Auch die massenhafte Heldenverehrung, die bei Carlyle durchaus erwünscht ist, blieb Burckhardt fremd, da er – sicher teils aus aristokratischem Dünkel gegenüber breiteren Bevölkerungsschichten – die Neigung der Massen befürchtete, »sich zeitweise durch Abenteurer und Phantasten imponieren zu lassen«.352 Im Unterschied zu Carlyle sieht er besonders im Blick auf Robespierre, St. Just oder Marius die Gefahr der demagogischen Verführbarkeit.353 Trotz seines Mißtrauens in die Verführbarkeit der Massen erkennt Burckhardt einen besonderen Wert in der »Idealisierung« einzelner großer ———————— 348 349 350 351 352 353
Ebd., S. 176. Ebd., S. 184f. Ebd., S. 177. Gottfried Benn, Antwort an die literarischen Emigranten. In: Ders., Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster. Bd. 4: Prosa 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1989, S. 24–32, hier S. 31,12 ff. Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine, S. 180. Ebd., S. 167.
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Gestalten zu Helden. Eine Form der Idealisierung stellt dabei im klassischen Sinn die Heroisierung dar, worunter das Fortleben der Einzelgestalt als richtungsweisender Typus – der wohl letztlich die als ahistorisch gedachten kulturellen Konstanten repräsentiert – zu verstehen ist:354 Die als Ideale fortlebenden großen Männer haben einen hohen Wert für die Welt und für ihre Nationen insbesondere; sie geben denselben ein Pathos, einen Gegenstand des Enthusiasmus und regen sie bis in die untersten Schichten intellektuell auf durch das vage Gefühl von Größe; sie halten einen hohen Maßstab der Dinge aufrecht, sie helfen zum Wiederaufraffen aus zeitweiliger Erniedrigung. Napoleon, mit all dem Unheil, welches er über die Franzosen gebracht, ist dennoch weit überwiegend ein unermeßlich wertvoller Besitz für sie.
Diese Sätze bieten einen bedeutenden Anknüpfungspunkt für eine heroisierende, idealisierende Biographik und noch für die Mythographik im George-Kreis. Sie weisen der Idealisierung nicht nur eine spezifische gesellschaftliche Funktion in einer Zeit zu, die, wie Burckhardt mit Carlyle übereinstimmend beklagt, keine wahre Größe mehr anerkenne und mediokrer Selbstzufriedenheit lebe, sondern sie legitimieren gleichzeitig durch dieses Ziel eine Idealisierung der historischen Gestalt – wie Napoleon – selbst über historische Widersprüche hinweg.355 Burckhardt war sich sichtlich nicht nur bewußt, daß jede Epoche die relevanten Größen nach ihrem eigenen Nutzen neu definiert und bestimmt, nach einem Nutzen, der den Blick auf wahre Größe allzu oft verstellt, sondern auch, daß diese idealisierende Geschichtsglättung einen wichtigen gesellschaftlichen Zweck erfüllen kann. Es sind dies Gedanken, die Burckhardt als Historiker in den Augen mancher Fachkollegen ins Zwielicht stellen könnten, die aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein anschlußfähig blieben. Friedrich Nietzsches Sicht auf die historische Größe kann im Blick auf die hier skizzierten Ansätze Carlyles und Burckhardts als eine Radikalisierung dieser Positionen verstanden werden, und den Ausgangspunkt für Nietzsche bilden explizit die Abgrenzung von Thomas Carlyle und implizit die kritische Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Jakob Burckhardt. Besonders in den nachgelassenen Aufzeichnungen, die unter freilich abenteuerlichen editorischen Prinzipien als Der Wille zur Macht publiziert ———————— 354 355
Ebd., S. 179. Karl Löwith hat »Auswahl, Betonung und Beurteilung« als wichtigste Operationen Burckhardtscher Geschichtschreibung hervorgehoben, mit deren Hilfe er die relevante Vergangenheit gegenüber einer Gegenwart stets erneut zum Sprechen bringe. Der Blick in die Vergangenheit zeige vor allem die immerwährende Mühsal der menschlichen Existenz – gerade also nicht den intellektuellen oder moralischen Fortschritt der Menschheit – und verhindere die Selbstüberhebung der Gegenwart über vergangene Epochen. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 27–33.
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worden sind, werden die Gedanken Nietzsches über die großen Menschen bzw. die »Menschen der Macht und des Willens« erkennbar, wie sie breit und populär rezipiert worden sind.356 »Der große Mensch«, so notierte Nietzsche 1885,357 zeichne sich aus durch »eine lange Logik«, das heißt durch die Erkenntnis von Zusammenhängen und Planung von Handlungen in einem für die unbegabteren Mitmenschen nicht nachvollziehbaren Rahmen. Wiederum sind ein unbeirrbarer Wille und Beharrlichkeit Zeichen der Größe: »er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der ‘Meinung’«. Dem großen Menschen fehlen alle Tugenden der Gefolgschaft, denn er richtet sich weder nach der Meinung der anderen noch kennt er die Achtung vor einem anderen Menschen. Sein Sinn ist auf Macht und auf Auslösung aus der Masse gerichtet. (Nietzsche bezeichnet den Individualismus bereits als eine erste »Stufe des Willens zur Macht«.)358 Er verlangt im Gegenteil selbst unbedingte Gefolgschaft. Ein interessanter Aspekt, der bei Burckhardt und Carlyle fehlt, findet sich auch in Nietzsches Ausführungen zum Verhältnis von »Solitär-Person« und Masse. Dem einzelnen Großen, der sich abzulösen versuche, stünden die berechtigten (!) Interessen der Allgemeinheit – »die Instinkte der Herde, die Tradition ihrer Werte« – entgegen.359 Der Dispens vom allgemeinen Sittengesetz, wie ihn Burckhardt dem Großen zugestand, wird von Nietzsche schließlich zugespitzt in »eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat«.360 Ein Unterschied besonders zu Thomas Carlyle ist auch darin zu erkennen, daß Nietzsche in Morgenröte den Helden gegen »die moralischen Vorurteile« der Heldenverehrer nicht moralisch oder ästhetisch bereinigen und idealisieren möchte, wie er es – nicht gänzlich zurecht – bei »jenem alten anmaßlichen Wirr- und Murrkopfe, Thomas Carlyle,« diagnosti———————— 356
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360
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Welt. Ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietzsche. Hg. von Alfred Baeumler. Stuttgart: Kröner 1964, vgl. bes. Nr. 962ff., zit. Nr. 871, S. 593. – Die einzelnen Passagen wurden – mithilfe der Konkordanz von Haase und Salaquarda – abgeglichen mit: Ders., Nachgelassene Fragmente. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. [7 Bde.] Berlin: dtv u. de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe 7–13), hier: Bd. 13, Nr 11 (153), S. 72. – Marie Luise Haase u. Jörg Salaquarda, Konkordanz. Der Wille zur Macht. Nachlass in chronologischer Ordnung der kritischen Gesamtausgabe. In: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 446–490. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 962; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 11, Nr. 34 (96), S. 451f. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 784, S. 523; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 12, Nr. 10 (82), S. 503. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 887, S. 602f., vgl. a. Nr. 896, S. 607; ; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 12, Nr. 10 (61), S. 493 (»den Instinkt der Heerde, die Traditionen der Werte«), vgl. a. ebd. Nr. 9 (137), S. 413. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 962, S. 641f.; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 11, Nr. 34(96), S. 452.
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ziert.361 Die psychophysische Natur des großen Menschen vertrage keine Idealisierung. Denn dieser sei nicht nur durch außerordentliche Tugenden, sondern, wie in Ansätzen bereits Burckhardt feststellt, auch durch außerordentliche Leidenschaften geprägt. Der große Mensch sei – von großen Spannungen zwischen den Tugenden und ihren Gegenpolen beherrscht –362 kein Ideal der Tugend:363 Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.
Es ergibt sich eine seltsame Parallele zwischen Stifter und Nietzsche, da beide nachdrücklich die ‘tigerartige Anlage’ des Menschen als Bedrohung der sozialen Ordnung betonen. Wenn Stifter sich jedoch erzählerisch daran abarbeitet, den letztlichen Triumph der Entsagung über die Leidenschaften zu behaupten, vermeint Nietzsche – übrigens ein begeisterter Stifter-Leser – 364 ein geschichtswirksames Potential dieser ‘animalischen Vitalität’ zu erkennen, die er gleichwohl nicht beschönigt. Entsprechend wendet sich Nietzsche gegen die Idealisierung und auch gegen eine idealisierende Heldenverehrung, die er im Gegensatz zu Carlyle als eine romantische »Prostration« ablehnt.365 Er betont dagegen die problematische Erscheinung der Größe für den Erwählten selbst – denn das Erwähltsein des Helden sei nicht eine angenehme Auszeichnung, sondern schweres Schicksal der »heroischen Lastträger«, die gegen große Widerstände ankämpfen – 366 wie für seine Mitwelt, denn die Unabhängigkeit der großen Persönlichkeit besteht auch darin, sich keinen Überzeugungen unterzuordnen.367 Überzeugungen sind nur Werkzeuge des ‘Willens zur Macht’, der sich mit allen Mitteln jenseits moralischer Kategorien Weg verschafft. Von Nietzsche wird so eine weitere Ebene bei der Betrachtung der Ausnahmepersönlichkeit berücksichtigt: die psychophysische, vielleicht ———————— 361 362 363 364
365 366 367
Friedrich Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Hg. von Alfred Baeumler. Stuttgart: Kröner 1976 (Kröners Taschenausgabe 76), Nr. 298, S. 216f. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 967, S. 644; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 11, Nr. 35(18). Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 968, S. 644f.; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 12, Nr. 5(50), S. 202. Was auch immer hierfür den Grund liefert, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Stifter und Nietzsche könnte man trotz aller Differenzen darin erkennen, daß beide nachdrücklich und ohne idealisierende Tendenz die Konstitution des Menschen in ihrer auch animalischen bzw. psychophysischen Anlage gewärtig halten. Nietzsche, Morgenröte, Nr. 298, S. 216f. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 971, S. 646; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 13, Nr. 11(25), S. 15. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 963, S. 642; Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Bd. 13, Nr. 11(48), S. 22f..
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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psychopathologische Konstitution des Genies oder Heros, der dadurch schon konstitutionell, psychisch und physisch von der Normalität geschieden ist und dies in einem sozial kaum mehr verträglichen Maß, da die Vitalinteressen des Heros sich an keine normierte Moral der Gesellschaft (und der Biographen) mehr binden lassen. Für eine ethischanthropologische Biographik wären solche Ausnahmegestalten von geringerem Interesse, da diese – wie gezeigt – zwar ideale Vertreter der menschlichen Spezies charakterisiert, aber nicht die Grenzräume menschlicher Existenz auslotet. Diese Biographen stehen diesseits der Grenze, welche durch das Anderssein der Größe markiert ist. Die ‘Männer ersten Ranges’ sind nicht Gegenstand charakterisierender Biographik, vielmehr sind ihr Handeln und ihre Wirkungen Objekt einer Historiographie, da erst aus dem geschichtlichen Zusammenwirken, nicht aus der Privatcharakteristik ihr Wert erkannt werden kann. In gewisser Weise – und dies legt die Wirkungsgeschichte nahe – kann insofern bei Nietzsche von einer Reanthropologisierung der historischen Größe gesprochen werden, denn diese wird nicht mehr im archivalischen oder historiographischen Zugriff von der Seite ihrer charakterlichen, psychophysischen Existenz enthoben, sondern zu einer vor allem auch psychopathologisch begründeten Existenzform. Und genau diese Perspektive einer neuerlichen biographischen Anthropologie ist es, welche an der Wende zum 20. Jahrhundert zu einer Ausdifferenzierung der biographischen Gattungen von der Pathographie bis zur modernen Biographik im engeren Sinn führt. 2.5.2. Liberalethische Biographik – zur Rezeption von Smiles’ Self-Help Weder die biedermeierliche Charakteristik oder die Charakterkritik der Jungdeutschen, noch die Personalhistoriographie oder die Asozialität der Heroen vermag es letztlich, personalisierte Leitbilder zur Orientierung für die Lebenslaufgestaltung zu bieten, welche auch die lebenspraktischen Erfordernisse und persönlichen Lebensglücksehnsüchte der Lesenden berücksichtigte. Am ehesten werden in der charakterlich-moralisch wertenden und insofern Vorbildlichkeit oder Abwertung der dargestellten Personen berücksichtigenden jungdeutschen Charakterkritik Orientierungshilfen geboten; die anthropologische oder historiographische oder heroische Darstellung dagegen verzichtet zwar nicht unbedingt auf eine moralische Glättung der Darstellung oder auf eine ethische Wertung, aber doch weitgehend auf eine didaktisch konzipierte Vorbildlichkeit. Gleichwohl ergibt sich bei der Durchsicht der biographischen Literatur, daß eine immense Produktion gerade biographischer Reihenwerke genau auf diesen Aspekt zielt: die Biographik als moralische Lehranstalt, die den Lesenden vorbildliche Muster der Lebensführung und -bewältigung an die
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Hand gibt. Überdeutlich weisen die Werktitel von biographischen Sammlungen und Reihen auf diese Aufgabenstellung – die Anregung zur selbsttätigen Nachahmung – hin: Sie heißen Aus eigner Kraft (Karsten Brandt, Stuttgart o.J.), Männer eigener Kraft (Franz Otto, Leipzig 1910; unter dems. Titel: Hans Löw, Basel o.J.), Aus eigener Kraft (biographische Reihe im Perthes-Verlag), Männer aus eigener Kraft (Bruno Paul Schaumburg, Leipzig 1938) usf. Ihr ungenanntes Vorbild haben diese Werke in den populären Bestsellern des schottischen Arztes, Biographen, Moralphilosophen und Journalisten Samuel Smiles (1812–1904), dessen Hauptwerk unter dem Titel Self-Help (1859) rasch zur »sacred scripture of personal betterment« (Raymond Chapman),368 zur »Bible of Victorian business morality« (George Watson)369 und vom angelsächsischen Sprachraum ausgehend zu einem der wichtigsten populären ethischen Grundlagenbücher avancierte. Schon ein Jahr nach dem Erscheinen waren über 30’000 Exemplare der englischen Ausgabe verkauft, bis 1864 waren es 58’000, bis 1889 164’560, bis zu Smiles’ Tod mehr als eine viertel Million,370 und der Erfolg hielt mindestens bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Dazu kommen zahllose Übersetzungen in europäische und außereuropäische Sprachen, die einen fast schon globalen Erfolg des SelbsthilfeKlassikers dokumentieren. In nordamerikanischen Zeitschriften wie The New Englander, The Continental Monthly oder The North American Review wurden Smiles’ Werke in den 1860er Jahren geradezu hymnisch gefeiert,371 und Smiles’ liberalistisches »Selbsthilfe«-Konzept wurde noch zum Bezugspunkt für diejenigen, die sich am Wirtschaftsliberalismus der westlichen Industrienationen orientieren wollten:372 One of the first Western books translated into Japanese which became a nationwide bestseller was Samuel Smiles’ Self Help, a collection of stories about people ———————— 368 369 370
371
372
Raymond Chapman, The Victorian Debate. English Literature and Society 1832–1901. London: Weidenfeld and Nicolson 1968 (Literature and Society), S. 41. George Watson, The English Ideology. Studies in the Language of Victorian Politics. London: Allen Lane 1973, S. 51. Vgl.: Sidney Lee, Samuel Smiles. In: Dictionary of National Biography. Suppl. 1901–1912 (1912), Sp. 322b–325b, sowie detaillierter: Tim Travers, Samuel Smiles and the Victorian Ethic. New York u. London: Garland Publ. 1987, S. 360f. Über »Self-Help« schrieb ein Rezensent: »This is a book which we should like to have circulated by tens of thousands in every State of the Union« (Anonymus, Self-Help: In: The New Englander 18, 1860, S. 546f.). Vgl. a.: Anonymus, Industrial Biography: Iron Workers and Tool Makers. By Samuel Smiles. In: The Continental Monthly 5 (1864), S. 603; Anonymus, Smiles’ Lives of the Engineers. In: The North American Review 95 (1862), S. 260f. Sepp Linhart, The Study of Biographies, Life Histories, Life Courses, Life Cycles: A Personal Assessment. In: Susanne Formanek u. S. L., Japanese Biographies: Life Histories, Life Cycles, Life Stages. Wien: Akademie der Wissenschaften 1992 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 590), S. 11–25, hier S. 21.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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who experienced success in their lives. One of the foremost entrepreneurs and inventors, Toyoda Sakichi, the founder of the modern Toyota car imperium, was only one of the many young Japanese who were highly influenced by Smiles’ collection.
Die erste deutsche Übersetzung von Smiles’ Werk erschien noch im Ersterscheinungsjahr unter dem Titel Selbst ist der Mann. Charakterskizzen und Lebensbilder (Kolberg 1859, 31881, 41886). Weitere Ausgaben folgten beim Otto Hendel Verlag in Halle an der Saale (Selbsthilfe, übers. von F. Dobbert, div. Aufl.), beim Verlag Hoffmann & Campe in Hamburg (Die Selbsthülfe in Lebensbildern und Charakterzügen, übers. von Joseph Boyes, 1866 u. ö.) sowie beim Verlag Philipp Reclam in Leipzig (Selbsthilfe, übers. von David Hack). Es wurden sogar Auswahlausgaben für den Schulunterricht eingerichtet, wobei der Unterricht in englischer Sprache mit moralischen Unterweisungen verbunden werden konnte: Lebensbilder aus Samuel Smiles’ »Self Help«. Mit einem Verzeichnis der Redensarten (hg. von A. Wiemann. Gotha 1881, Englische Schüler-Bibliothek 10).373 Da weder die Rezeption von Smiles’ Ideen im deutschen Sprachraum noch überhaupt die deutschsprachige liberal-ethische Selbsthilfe-Literatur bislang untersucht worden ist, die liberal-ethischen Maximen jedoch bis in die moderne Biographik hinein tradiert werden (Stefan Zweig), sollen die Grundzüge der Rezeption hier in einem Exkurs vorgestellt werden. Das Konzept der Selbsthilfe stellt einen Versuch dar, ökonomische, soziale und ethische Probleme der industriellen Staaten auf der Basis des liberalen Kerngedankens von der Freiheit des Individuums und einer spezifischen Familienideologie und Genderkonzeption ausgehend zu lösen.374 Samuel Smiles – »the hero-worshipper of the Manchester School« (A. O. J. Cockshut) – 375 vereint dabei unterschiedliche Aspekte des Liberalismus. Zum einen greift er auf den klassischen ökonomischen Diskurs zurück, wenn er davon ausgeht, daß der ökonomische Erfolg einer Nation nicht durch gesetzliche Reglementierung sondern durch die Freiheit der ökonomisch handelnden Individuen bewirkt wird. Die Nation bzw. der Staat stellt auch für Smiles nichts anderes dar als die Summe der Leistungen der Individuen; dennoch bildet dieser Gedanke nicht das Zentrum seiner Überlegungen. Vielmehr geht es Smiles darum zu zeigen, daß die Aus———————— 373
374 375
Zur Smiles-Rezeption vgl. a.: Christian v. Zimmermann: »Schweizer eigener Kraft!« – »Die Schweizer Frau«: Komplementäre Kollektivbiographik und Geschlechterkonzeptionen im freisinnigen Staat. In: v. Zimmermann u. v. Zimmermann, Frauenbiographik, S. 145–171. Zur geschlechterkomplementären Biographik vgl. ebd. A. O. J. Cockshut, Truth of Life. The Art of Biography in the Nineteenth Century. London: Collins 1974, S. 107. Vgl. das Kap. 7 »Smiles as Biographer« – eine der nicht eben zahlreichen Studien zum Biographen Smiles.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
übung der Freiheit zugleich die beste moralische Schule darstellt, denn äußerer Erfolg ist für Smiles ein Zeichen einer gelungenen Individuation auf moralischer Grundlage. Die utopische Dimension dieses Denkens machte Smiles’ Konzept in besonderer Weise tauglich für eine breite Rezeption, denn die Betonung der individuellen Verantwortung für den Erfolg des eigenen Lebens wertet die sozialen Strukturen ab: Jeder, auch der Kleinbürger und selbst der Angehörige unterster Schichten kann ‘aus eigner Kraft’ auf der Basis individueller Arbeit die sozialen Hierarchien überwinden, und sogar der Erbe, der den Erfolg vorheriger Generationen verzehrt, muß aus sich die Kraft für den Erfolg erst neu schöpfen. Gerade dieser Aspekt der individuellen Freiheit, der sich auf George Lillie Craik (1798–1866), The Pursuit of Knowledge under Difficulties (1830f.), stützt, 376 öffnete das Werk breiten Rezipientenkreisen. Smiles’ ethische Konzeption kann kaum als eigenständig bezeichnet werden; viele Elemente ruhen auf den Konzepten der liberalistischen Vordenker, die von Smiles immer wieder zitiert werden: besonders John Stewart Mill, und auch das spezifische ‘Lob der Arbeit’ wurde vor Smiles in popularen Traktaten gefeiert.377 Die von Smiles so breitenwirksam wie wohl von keinem anderen Autor vertretenen Vorstellungen waren offensichtlich seinerzeit auf breiter Linie konsensfähig: »A general belief in the virtue of self-help, both as an economic and as a moral good, is of course one of the central components in the Victorian social and political outlook« (Peter P. Nicholson).378 Das Idealbild der Erziehung war entsprechend nicht der gelehrige Schüler, sondern der Autodidakt; die soziale Frage sollte nicht durch staatliche Fürsorge, sondern durch die Selbsthilfe-Aktivität des einzelnen bzw. in der Selbsthilfe-Aktivität sozialer Gruppen (so etwa in Deutschland der liberale Genossenschaftspropagator Hermann Schulze-Delitzsch, 1808–1883) gelöst werden. Smiles war zweifellos die populärste Stimme in diesem liberal-ethischen Diskurs. Samuel Smiles fragt in seinem Werk Self Help nach den Grundlagen des nationalen und sozialen wie des individuellen Fortschrittes. Weder die staatlichen Instrumentarien noch die Nation können in seinen Augen den Fortschritt hervorbringen: »The power of Nationalities and Acts of Parliament is […] a prevalent superstition.«379 Nation und Staat seien das ———————— 376 377
378 379
Vgl. Travers, Samuel Smiles, S. 171f., 357–359 u. Reg. Vgl. auch: Asa Briggs, Samuel Smiles and the Gospel of Work. In: Ders., Victorian People. The Reassessment of Persons and Themes. 1851–67. Chicago: Univ. of Chicago Press 1954, S. 116–139; Travers, Samuel Smiles, bes. S. 241ff. Peter P. Nicholson, The Political Philosophy of the British Idealists. Selected Studies. Cambridge etc.: Cambridge University Press 1990, S. 177. Samuel Smiles, Selp Help; with Illustrations of Character, Conduct, and Perseverance. The Author’s Revised and Enlarged Edition. New York u. London: Harper & Broth. [1873], S. 24.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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Resultat des Wirkens der Individuen, und je freier sich diese entfalten könnten, desto mehr profitierten auch die Organisationsformen der Individuen. Jedes Hemmnis der freien Entwicklung des einzelnen jedoch müsse sich negativ auswirken. Smiles erklärt unumwunden: »Moreover, it is every day becoming more clearly understood, that the function of Government is negative and restrictive, rather than positive and active […].«380 Der Glaube an die Kräfte des sich frei entfaltenden Individuums setzt jedoch voraus, daß sich das Individuum selbst an einer hohen ethischen Norm orientiert. George Watson charakterisiert den Freiheitsbegriff des Viktorianismus mit den Worten: »Liberty is not the right to do as you please: it is the chance to do as you ought.«381 Dies ist zweifellos richtig; dabei muß bedacht werden, daß die freiwillige Orientierung an einer moralischen Norm und sozialen wie ökonomischen Notwendigkeit nicht die Orientierung an einem vorgeordneten staatlichen oder ökonomischen System meint, sondern, daß die individuelle Freiheit und die Selbstverantwortung für den eigenen Lebenslauf durch Erfolg und Mißerfolg bestimmt werden. Die Befolgung der moralischen Grundsätze der Self Help bildet die notwendige Grundlage für eine geglückte Lebensorganisation: »The solid foundations of liberty must rest upon individual character; which is also the only sure guarantee for social security and national progress.«382 Es handelt sich, so könnte man schließen, um die Ethik und individuelle Perspektive des von Michel Foucault 383 als Idealtyp ‘regierbarer’ Individuen des Liberalismus charakterisierten ‘homo oeconomicus’, dem diese Lebenslaufmuster Orientierungshilfen bereitstellen, dem sie Vertrauen in die Wirksamkeit des liberalen Interessenspiels und eine positive Selbstgewißheit vermitteln: eine Lebenshilfe zur Beförderung der »Technologien des Selbst«.384 Die bürgerlichen Tugenden ruhen auf dem ideologischen Fundament dieses ethischen Liberalismus. Die ethische Grundlegung soll nicht zuletzt der Gefahr eines starken Individualdenkens, dem Egoismus, entgegenwirken und so Individualität und soziale Verantwortlichkeit versöhnen. Das Individuum soll seine Freiheit dazu nutzen, im eigenen Lebenslauf auf der Basis von ‘Selbsthilfe’ einen tugendhaften Charakter auszubilden. Der Charakter ist überhaupt das Ziel der Persönlichkeitsbildung, beruht auf rationalen Bildungsprozessen und wird nur sehr bedingt ———————— 380 381 382 383
384
Ebd., S. 22. Watson, English Ideology, S. 60. Smiles, Self Help, S. 23. Vgl.: Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France. 1978–1979. Hg. von Michel Sennelart. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, bes. Vorlesungen 11&12. Vgl.: Michel Foucault, Technologien des Selbst. In: Luther H. Martin, Huck Gutman u. Patrick H. Hutton (Hgg.), Technologien des Selbst. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 24–62.
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durch die soziale Herkunft, psychische oder biologische Faktoren bestimmt:385 In fine, human character is moulded by a thousand subtle influences; by example and precept; by life and literature; by friends and neighbors; by the world we live in as well as by the spirits of our forefathers, whose legacy of good words and deeds we inherit. But great, unquestionably, though these influences are acknowledged to be, it is nevertheless equally clear that men must necessarily be the active agents of their own well-being and well-doing […].
Was dieser Satz aus dem Schluß des ersten, einführenden Kapitels von Smiles’ Self Help bedeutet, wird durch die folgenden an zahlreichen biographischen Exempeln belegten Ausführungen deutlich gemacht, in denen Smiles die Grundlagen für die Selbsterziehung des Individuums vorstellt. Beständige Hingabe an Arbeit, Fleiß und Pflichterfüllung sind der Weg, sich selbst für die Zwecke von Staat und Gesellschaft zu bilden. Diese Tugenden stellen die Grundlage für das persönliche Lebensglück und die erfolgreiche Lebensverwirklichung dar: »It is the diligent hand and head alone that maketh rich – in self-culture, growth in wisdom, and in business.«386 Dies ist der Inhalt stets reformulierter Sentenzen, Lebensweisheiten, die das Werk durchziehen. Hinzu kommen Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Ordnung, auch Sparsamkeit. Es sind dies die »wirtschaftlichen Tugenden« (Bollnow) des Bürgertums, welche die Organisation des alltäglichen Lebens nach den ökonomischen, sozialen und individuellen Notwendigkeiten leisten.387 Sie sind eng mit der liberalistischen Ideologie verbunden. Der Begriff ‘Fleiß’ etwa erhielt erst im späten 18. Jahrhundert im Kontext dieser Ideengeschichte seine moderne Verbindung mit der beruflichen und ökonomischen Aktivität des Individuums (‘Erwerbsfleiß’).388 Ihm ist auch die Beharrlichkeit zugeordnet, die hier nicht mehr wie in den älteren ‘heroischen’ Konzepten in erster Linie das im weitesten Sinne (neo)stoizistische Festhalten an einer als Wahrheit erkannten Auffassung auch gegen äußere Widerstände meint, sondern vor ———————— 385 386 387
388
Smiles, Self Help, S. 47. Ebd., S. 39. Otto Friedrich Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt/M., Berlin u. Wien: Ullstein 1958 (Ullstein Buch 209), S. 32. – Der Begriff ‘bürgerliche Tugenden’ rührt ursprünglich von einem Standesdenken her, welches die Verhaltensnormen für ‘gemeine Leute’ von den ‘exemplarischen Tugenden’ der vornehmen Standespersonen trennt. Vgl.: Georg Philipp Harsdörffer, Des Teutschen Secretariis Zweyter Theil […].: Nürnberg: Endter 1659 (Nachdruck: Hildesheim 1971), S. 483. Vgl. Bollnow, Wesen und Wandel, S. 50–59. – In großräumigeren historischen Zusammenhängen wäre zweifellos auf das allmähliche Auftreten bürgerlicher Leistungsethik in der Neuzeit zu verweisen, welche die auf Repräsentation angelegte höfische Ethik verdrängt. Dieser Prozeß kulminiert sichtlich im liberalistischen Arbeitsethos des 19. Jh.s, verweist aber auf die über mindestens zwei Jahrhunderte verlaufende Emanzipationsbewegung.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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allem die ausdauernde Hingabe an die berufliche Tätigkeit. Pünktlichkeit und Ordnung stellen sekundäre Unterstützungstugenden gegenüber dem Fleiß dar, die Fleiß überhaupt erst ermöglichen. Arbeit und Fleiß sind Grundlage des ökonomischen Erfolges, Basis der Charakterbildung und letztlich über die Selbstkontrolle auch der sozialen Disziplinierung. Wer die Früchte seines Fleißes genießen will, muß sich pünktlich, ordentlich und ausdauernd seiner Lebensarbeit widmen und den Gewinn aus dieser Tätigkeit durch eine sparsame und umsichtige Haushaltsführung sichern. ‘Sparsamkeit’ wird geradezu zum wichtigsten Instrument der sozialen Sicherung des Individuums in einer sozialökonomischen Ideologie, welche staatliche Sozialfürsorge weitgehend ablehnt. Bei einigen Vertretern der Sparsamkeitsbewegung (man denke auch hier an Schulze-Delitzsch) wird Sparsamkeit gar zu einem wichtigen Schlüssel zur Lösung der sozialen Frage erklärt. In einem eigenen Werk legt Smiles die Gedanken der Self Help ausgehend von dieser Tugend dar: Thrift (1875). ‘Thrift’ und ‘temperance’ als Zentralbegriffe bürgerlicher Haushalts- und Lebensführung sind sozialdisziplinierende Instrumente des liberalen Staates, vermitteln dem Individuum Pflicht und Notwendigkeit zur allein eigenverantwortlichen Sozialsicherung und diskreditieren die Lebensfreude als unverantwortlichen Hedonismus. (So besteht etwa eine enge Verbindung zwischen Sparsamkeitsideologie und Antialkoholbewegung.) Smiles’ biographische Exempel, die den Argumentationsgang seiner Auslegungen in Self Help und Thrift ebenso wie in anderen Büchern wie Character (1871) oder Duty (1880) stützen und die er in biographischen Sammelwerken wie Industrial Biography (1863), Lives of Engineers (1874) oder Men of Invention and Industry (1884) in popularisierender Weise vorstellt, zeigen mustergültige Lebensläufe solcher Menschen, die ihr Leben aufopferungsvoll den Problemen ihres Lebens- und Arbeitsfeldes gewidmet haben. Sie sind Exempel von Fleiß und Ausdauer, Ordnung und Pünktlichkeit, und bevorzugt – gleichwohl nicht ausschließlich – stellt Smiles solche Lebensläufe dar, welche die ‘Belohnung’ der Tätigkeit und Bildung aus eigener Kraft durch den sozialen Aufstieg vorstellen. Sämtliche dieser Werke und weitere biographische Studien von Smiles erschienen in deutschen Übersetzungen;389 die hohe Zahl der Ausgaben und Auflagen lassen erkennbar werden, daß es sich im eigentlichen Sinn um ethische Haus- und Volksbücher handelt. Die moraldidaktische Funktion der Werke von Smiles impliziert auch ein Abrücken von biographischen Vorgängerkonzepten. Smiles’ ‘great men’ und ‘heroes’ unterscheiden sich deutlich von den Helden eines Thomas Carlyle. Sie sind nicht mehr die in den geheimen Daseinsgrund eingeweihten Lenker und ———————— 389
Besonders erfolgreich waren, wenn man vom heutigen Angebot in Antiquariaten ausgeht, neben »Self help« die Bücher »Thrift« und »Character«.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Seher, deren Handeln dem bürgerlichen Vernunftdenken verborgen bleibt, sondern sie sind gerade die repräsentativen Idealbilder der bürgerlichen Tugend und insbesondere der von Asa Briggs als die vier ethischen Eckpfeiler des Viktorianismus bezeichneten Ideenkomplexe: »the gospel of work, ‘seriousness’ of character, respectability and self-help«.390 Das rationale, durchsichtige Handeln der exemplarischen Bürgerhelden wird zum Vorbild eines jeden freien Individuums. Von einer Verehrung der Führerpersönlichkeiten wie bei Carlyle rückt Smiles deutlich ab: »Ceasarism is human idolatry in its worst form – a worship of mere power […].«391 Ein in der Heroismuskonzeption Carlyles und anderer angelegter Moraldispens des Erfolgreichen ist mit Smiles’ bürgerlich-tugendhafter Konzeption des selbsttätigen Individuums kaum mehr vereinbar. Smiles’ bürgerlich-ethische Sicht auf die außerordentlichen Persönlichkeiten bedeutet einen großen Schritt von den exzeptionellen asozialen geschichtswirksamen Persönlichkeiten in Richtung auf das Konzept der ‘Helden des Alltags’ – so werden etwa die Biographien der »lives of second-rate literary men« als »equally remarkable illustrations of the power of perseverance« neben die Lebensläufe ‘großer Männer’ gestellt.392 Immer wieder betont Smiles, daß es die beständige Arbeit eines jeden einzelnen und letztlich die Arbeit von Generationen ist, welche die Leistungen der Nation begründen: »Though only the generals’ names may be remembered in the history of any great compaign, it has been in a great measure through the individual valor and heroism of the privates that victories have been won.«393 Gleichwohl zieht Smiles hieraus kaum adäquate Konsequenzen für die Biographik. Er betont zwar: »Many are the lives of men unwritten, which have nevertheless as powerfully influenced civilisation and progress as the more fortunate Great whose names are recorded in biography.«394 Doch bleiben es auch bei ihm in der Regel außerordentliche Individuen, welche in der Biographik zur Darstellung kommen. Dies hat zwei Gründe. Zum einen erfüllen gerade diese außerordentlichen Muster des ethischen Konzepts die Funktion der Biographie, die nun stärker als in den vorherigen Konzepten darin besteht, moralische Lehranstalt zur Orientierung für die sich frei nach den ethischen Maßstäben entwickelnden Individuen zu sein: »Biographies of great, but especially of good men, are nevertheless most instructive and useful, as helps, guides, and incenti———————— 390
391 392 393 394
Asa Briggs, The Age of Improvement. 1783–1867. London u. New York: Longman 21979 [1959] (A History of England), S. 450. – Bei Smiles steht ‘Self Help’ in der zentralen Position, von der aus die ethischen Lebensmaximen abgeleitet werden. Smiles, Self Help, S. 24. Ebd., S. 134. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26.
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ves to others.«395 Zum anderen bleibt die Idee der ‘großen Männer’ gerade auf der ethischen Grundlage bestehen. Indem Smiles für die geschichtliche Entwicklung wie für den individuellen Erfolg die Bedeutung etwa von Zufällen (‘accidents’)396 oder des Vorhandenseins besserer Arbeitsmittel 397 gering einschätzt und demgegenüber beständig auf die Eigenleistung des Erfolgreichen verweist, wird dieser Erfolgreiche ‘aus eigener Kraft’ in besonderer Weise aus der Masse gehoben. Es ist der Charakter, das heißt: die erfolgreiche Selbstbildung in den ‘wirtschaftlichen Tugenden’, der die ‘großen Männer’ auszeichnet. Auf dieser Basis ist es Smiles möglich, Carlyle in seinem Werk Character zuzustimmen:398 Great workers and great thinkers are the true makers of history, which is but continuous humanity influenced by men of character – by great leaders, kings, priests, philosophers, statesmen, and patriots – the true aristocracy of man. Indeed, Mr. Carlyle has broadly stated that Universal History is, at bottom, but the history of Great Men.
Gleichzeitig bleibt der Unterschied zu Carlyle in der ethischen Konzeption deutlich. Nicht nur stellt der Charakter der ‘großen Männer’ deren besondere Auszeichnung dar, das Gemeinwohl kann auch nur auf der Basis der Charakterbildung aller Individuen profitieren, und die Nation – die hier als Individuum interpretiert wird – erhält ihren Charakter auf der Basis der individuellen Charakterbildung. Und ein weiterer Unterschied fällt auf: Die ‘großen Männer’ sind zuerst die ‘great workers’, in welchem Bereich auch immer sie tätig sind. Tim Travers hat in seiner Studie über Smiles drei heroische Typen herausgearbeitet: den aus eigener Kraft gegen die sozialen Gefährdungen arbeitenden ‘working class man’, den in eigener Anstrengung für das Gemeinwohl und den als Vorbild für andere wirkenden Menschen.399 Vor allem sind es die Erfinder und Ingenieure, teils auch Unternehmerpersönlichkeiten, die neue bürgerliche Elite, die Smiles in den Rang der ‘großen Männer’ erhebt. Die liberale Tugendlehre erweist sich so als Ideologie des liberalen Wirtschaftswesens:400 ———————— 395 396
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Ebd., S. 27. »Accident does very little towards the production of any great result in life. Though sometimes what is called ‘a happy hit’ may be made by a bold venture, the common highway of steady industry and application is the only safe road to travel.« Smiles, Self Help, S. 144. – Dies gilt auch für die Künste: »There is nothing less accidental than the painting of a fine picture or the chiselling of a noble statue. Every skilled touch of the artist’s brush or chisel, though guided by genius, is the product of unremitting study.« Ebd., S. 182. »Some of the very best workmen have had the most indifferent tools to work with. But it is not tools that make the workman, but the trained skill and perseverance of the man himself.« Ebd., S. 150. Samuel Smiles: Character. London: John Murray o.J. [1939], S. 29. Travers, Samuel Smiles, S. 172–174. Smiles, Self Help, S. 50.
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Inventors have set in motion some of the greatest industries of the world. To them society owes many of its chief necessaries, comforts, and luxuries; and by their genius and labor daily life has been rendered in all respects more easy as well as enjoyable. Our food, our clothing, the furniture of our homes, the glass which admits the light to our dwellings at the same time that it excludes the cold, the gas which illuminates our streets, our means of locomotion by land and by sea, the tools by which our various articles of necessity and luxury are fabricated, have been the result of the labor and ingenuity of many men and many minds.
Der Kanon ‘großer Männer’ wird also durch die liberal-ethische und moraldidaktische Biographik deutlich verändert. Zwar finden sich auch die Beispiele aus Kunst und Literatur (an hervorgehobener Stelle etwa Sir Walter Scott), aber im Vordergrund stehen – wie schon die Kapitelüberschriften seines Self Help dokumentieren – die »Leaders of Industry – Inventors and Producers« (Kap. 2), »The Great Potters« (Kap. 3); und die Künstler werden mit der sprechenden Bezeichnung versehen »Workers in Art« (Kap. 6). Als »worker« und »character« wird der einzelne zum Leitbild in der biographischen Argumentation: der tugendhafte Mensch ist der arbeitende. Ein knappes Beispiel:401 Literary life affords abundant illustrations of the same power of perseverance; and perhaps no career is more instructive, viewed in this light, than that of Sir Walter Scott. His admirable working qualities were trained in a lawyer’s office, where he pursued for many years a sort of drudgery scarcely above that of a copying clerk. His daily dull routine made his evenings, which were his own, all the more sweet; and he generally devoted them to reading and study. He himself attributed to his prosaic office discipline that habit of steady, sober diligence, in which mere literary men are so often found wanting. As a copying clerk he was allowed 3d. for every page containing a certain number of words; and he sometimes, by extra work, was able to copy as many as 120 pages in twenty-four hours, thus earning some 30s.; out of which he would occasionally purchase an odd volume, otherwise beyond his means. During his after-life Scott was wont to pride himself upon being a man of business, and he averred, in contradiction to what he called the cant of sonnetteers, that there was no necessary connection between genius and an aversion or contempt for the common duties of life. On the contrary, he was of opinion that to spend some fair portion of every day in any matter-of-fact occupation was good for the higher faculties themselves in the upshot. While afterwards acting as clerk to the Court of Session in Edinburgh, he performed his literary work chiefly before breakfast, attending the court during the day, where he authenticated registered deeds and writings of various kinds. »On the whole,« says Lockhart, »it forms one of the most remarkable features in his history, that throughout the most active period of his literary career, he must have devoted a large proportion of his hours, during half at least of every year, to the conscientious discharge of professional duties.« It was a principle of action which he laid down for himself, ———————— 401
Ebd., S. 131–134.
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that he must earn his living by business, and not by literature. On one occasion he said, »I determined that literature should be my staff, not my crutch, and that the profits of my literary labor, however convenient otherwise, should not, if I could help it, become necessary to my ordinary expenses.« His punctuality was one of the most carefully cultivated of his habits, otherwise it had not been possible for him to get through so enormous an amount of literary labor. He made it a rule to answer every letter received by him on the same day, except where inquiry and deliberation were requisite. Nothing else could have enabled him to keep abreast with the flood of communications that poured in upon him and sometimes put his good nature to the severest test. It was his practice to rise by five o’clock, and light his own fire. He shaved and dressed with deliberation, and was seated at his desk by six o’clock, with his papers arranged before him in the most accurate order, his works of reference marshalled round him on the floor, while at least one favorite dog lay watching his eye, outside the line of books. Thus by the time the family assembled for breakfast, between nine and ten, he had done enough – to use his own words – to break the neck of the day’s work. But with all his diligent and indefatigable industry, and his immense knowledge, the result of many years’ patient labor, Scott always spoke with the greatest diffidence of his own powers. On one occasion he said, »Throughout every part of my career I have felt pinched and hampered by my own ignorance.« Such is true wisdom and humility; for the more a man really knows, the less conceited he will be. The student at Trinity College who went up to his professor to take leave of him because he had »finished his education,« was wisely rebuked by the professor’s reply, »Indeed! I am only beginning mine.« The superficial person who has obtained a smattering of many things, but knows nothing well, may pride himself upon his gifts; but the sage humbly confesses that »all he knows is, that he knows nothing,« or like Newton, that he has been only engaged in picking shells by the sea shore, while the great ocean of truth lies all unexplored before him.
Smiles’ Argumentation nimmt ihren Ausgang von einer These (»power of perseverance«), welche durch den Hinweis auf den Lebenswandel eines bedeutenden Menschen, Walter Scott, belegt wird. Smiles benennt die einzelnen Aspekte dessen, was er unter dem Begriff »perseverance« faßt, und er zeigt wie diese Aspekte im vorbildlichen Lebenslauf idealtypisch realisiert worden sind: »admirable working qualities«, »habit of steady, sober diligence«, »earning his living by business, and not by literature«, »punctuality«, »most accurate order«. Gekrönt werden Fleiß und Erfolg durch die Tugend der Bescheidenheit, die gleichsam als Ziel und Fazit der Darstellung formuliert und durch weitere Exempel als Charakterqualität belegt wird. Es bestätigt sich hier die predigtartige Struktur der biographischen Essays, wie sie bereits Helmut Scheuer im Blick auf Ralph Waldo Emersons Representative Men (1850) und seine deutschen Nachahmer charakterisiert hat.402 Smiles bildet Kataloge solcher biographischer ———————— 402
Vgl. Scheuer, Biographie, S. 82ff.
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Argumente, nicht selten werden die Biographien dabei zu längeren Lebenslauferzählungen ausgeweitet, mitunter beschränkt sich die biographische Argumentation auch allein auf den gerade für den Argumentationszusammenhang wichtigen Aspekt. Eine besondere Vorliebe zeigt sich bei Smiles für die idealen Vertreter der Self Help, für die »self-taught men«, die aus ungünstigen sozialen und ökonomischen Verhältnissen durch Lerneifer und Charakterbildung den Aufstieg schaffen, und er spitzt deren Ausgangssituation in deutlichen Worten zu:403 Richard Arkwright, like most of our great mechanicians, sprang from the ranks. He was born in Preston in 1732. His parents were very poor, and he was the youngest of thirteen children. He was never at school: the only education he received he gave to himself […].
Die sozialutopische Dimension des Self Help-Konzepts wird an diesen Beispielen deutlich: Wo weder Geburt und Stand, noch soziale und historische Umstände den ‘self-made man’ am sozialen Aufstieg hindern können, ja, eine grundsätzliche Gleichheit der zur freien Charakterbildung befähigten Individuen besteht, da werden die sozialen Grenzen durchlässig: »No class is ever long stationary. The mighty fall, and the humble are exalted. New families take the place of the old, who disappear among the ranks of the common people.«404 Gerade durch die sozialdynamische Utopie der ‘Self-Help’-Ideologie unterscheidet sie sich von früheren ‘Feiern der Arbeit’ etwa des 18. Jahrhunderts, die in der Regel die Erfüllung der sozialen Rolle, der schichtspezifischen Anforderungen an das Individuum durch ein christlich-tugendhaftes Arbeitsleben propagieren, aber den ehrgeizigen sozialen Aufstieg des einzelnen kaum zum Programm erheben, sondern die soziale Ordnung bestätigen. Das neue Konzept, welches sich allein an Erfolg und Leistung des einzelnen orientiert hat gleichwohl eine nur selten formulierte Kehrseite. Der Erfolglose, der soziale ‘Versager’ ist in vollem Umfang für seinen mißglückten Lebenslauf und den verfehlten sozialen Aufstieg oder gar den sozialen Abstieg verantwortlich:405 »Alas!« said a widow, speaking of her brillant but careless son, »he has not the gift of continuance.« Wanting in perseverance, such volatile natures are outstripped in the race of life by the diligent and even the dull. »Che va piano, va longano, e va lontano,« says the Italian proverb: Who goes slowly, goes long, and goes far.
Das ist die Kehrseite des idealen regierbaren Menschen im liberalen Staat, des ‘homo oeconomicus’, wie ihn Foucault nennt, aber zugleich auch die Voraussetzung seiner Regierbarkeit im Kontext liberaler ‘Biopolitik’,406 da ———————— 403 404 405 406
Smiles, Self Help, S. 54. Ebd., S. 232f. Ebd., S. 122. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II.
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das Scheitern keine moralische Option für Ansprüche gegen das Gemeinwesen bereitstellt. So wundert es nicht, daß der Selbsthilfe-Ideologie aus unterschiedlichen Richtungen Kritik entgegenwuchs. Die rasch sich verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mußten und müssen das Konzept der allein individuellen Verantwortlichkeit fragwürdig erscheinen lassen. In den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts, da das liberale Wirtschaftssystem immer weniger von der individuellen Unternehmerpersönlichkeit geprägt war, sondern von der marktbeherrschenden Macht und dem Konkurrenzkampf der Konzerne, war der Erfolg und Mißerfolg des einzelnen als Kriterium zur Bewertung seines Charakters kaum mehr tauglich.407 Die Muster, welche die biographische SelbsthilfeLiteratur bis weit ins 20. Jahrhundert anbietet, werden so zu durchaus ambivalenten Orientierungspunkten für die eigene Charakterbildung, denn sie schaffen Ansprüche, die der einzelne in einer nicht oder zumindest nicht mehr individualistisch konzipierten Lebenswelt kaum mehr zu erfüllen mag. Der Ausweg, den hier bereits Smiles andeutet und den seine Nachfolger ebenfalls bemühen, besteht darin, das Lebensglück allein in der ausdauernden, hingebungsvollen Arbeit zu sehen und zumindest vom ökonomischen Erfolg im eigenen Lebenslauf zu trennen. So gibt es auch Beispiele für verarmt gestorbene Erfinder, die nichtsdestotrotz moralische Vorbilder darstellen. Hier offenbart die liberale Ideologie ihren sozialdisziplinierenden Charakter, denn es besteht trotz allem nicht der Anspruch auf Teilhabe am ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft, und wer sein Lebensglück nicht trotzdem findet, hat in der Selbstbildung seines eigenen Charakters versagt. Vollends fragwürdig wird die Ideologie der Leistung und Selbsthilfe im Übergang von der Arbeitsgesellschaft zur – euphemistisch gesagt – Freizeitgesellschaft bzw. zu einer Gesellschaft, in der die Arbeit der einen allem Anschein nach nur auf Kosten des Ausschlusses anderer von den Arbeitsmitteln und von der Arbeitswelt gesichert werden kann. Biographiegeschichtlich relevanter ist allerdings ein anderer Einwand gegen die Selbsthilfeideologie. Sie setzt dort ein, wo Smiles die Gleichheit der Individuen und ihrer Aufstiegsmöglichkeiten betont. Aus unterschiedlicher Richtung ist gegen die Annahme des freien Individuums, welches sich durch Leistung und rationale Erwägung entfalten kann, argumentiert worden. Wenn Smiles äußert: »The blood of all men flows from equally remote sources«,408 dann setzt dies zumindest voraus, daß zwar jemand besonders durch seine Anlagen begünstigt, jedoch niemand so benachteiligt sein kann, daß er am sozialen Wettstreit nicht teilnehmen kann. Diesem rationalistischen Konzept, welches allein auf die Bildung und Bil———————— 407 408
So schon: Chapman, The Victorian Debate, S. 41f. Smiles, Self Help, S. 232.
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dungsfähigkeit baut, aber die physische und psychische Konstitution des Menschen vernachlässigt, wird um die Jahrhundertwende von einem breiten Strom biologisch, psychologisch oder selbst rassisch argumentierender Lehren widersprochen. Explizit äußert sich etwa Wilhelm Wundt (1832– 1920) zur Selbsthilfe-Ideologie:409 […] unter allen bedenklichen Moralprinzipien ist das der sogenannten Selbsthilfe eines der zweideutigsten. Vortrefflich für den, der den Willen und die Kraft hat, sich selbst zu helfen, heilsam für den, dem es nur an der nötigen Energie des Handelns fehlt, aber wertlos für jenen, der zu schwach ist, um den Kampf zu bestehen, ist es ein Verbrechen im Munde desjenigen, der es auf andere anwendet, denen er nicht helfen will.
Wundt argumentiert, daß gerade die Grundannahme des Selbsthilfekonzepts, die relative Anlagengleichheit der Individuen, falsch sei. Gleichzeitig sei es ein Gesetz der Humanität, jedem den Zugang zu den geistigen Gütern der Menschheit zu ermöglichen; dies setzt ein sozialpolitisches Engagement voraus, welches im Rahmen der Selbsthilfe-Ideologie keinen Raum hat. Ein weiterer Einwand gegen die Forderung nach Mitte und Mäßigung, Nüchternheit und Arbeitsverherrlichung, gegen den Rationalismus dieses Denkens, entstand aus lebensphilosophischen Ansätzen, die das Dionysische und Bacchantische als Sehnsucht nach dem Schönen gegen die Mäßigungslehren setzten. Nach der Lektüre der Bücher von Smiles und anderen, so schreibt Theodor Lessing in Untergang der Erde am Geist (1914, 31924), »begreife ich nur allzugut: alle die Laster der weissen Menschheit […]. Und auch dies spüre ich, dass Ausschweifung, Völlerei, Kauzigkeit und Überspannung jeder Art […] zuletzt nichts Anderes sind als der verzweifelte Flügelschlag unausrottbarer Schönheitslust«.410 Sosehr jedoch das Selbsthilfekonzept der Kritik unterworfen wurde und sosehr es selbst durch die ökonomischen und sozialen Probleme in Frage gestellt war, so populär blieb die biographische Darstellung exemplarischer ‘großer Männer aus eigener Kraft’. Diese Spannung zwischen veränderter ökonomischer Situation und einem Fortbestehen der Individualideologie in breiter populärer Form gehört zu den Kernproblemen der Geschichte der Biographik.411 Sie bestimmt die Kritik an der moder———————— 409 410 411
Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. 4., umgearb. Aufl. 3 Bde. Stuttgart: Enke 1912, S. 274. Theodor Lessing, Untergang der Erde am Geist. (Europa und Asien.) Hannover: Wolf Albrecht Adam Vlg. 31924, S. 345f. Max Horkheimer etwa führt zu der Spannung zwischen einer ‘self-made-man’-Illusion und den Erscheinungen der Massenkultur aus: »Jedes Mittel der Massenkultur dient dazu, die auf der Individualität lastenden sozialen Zwänge zu verstärken, indem es jede Möglichkeit ausschließt, daß das Individuum sich angesichts der ganzen atomisierenden Maschinerie der modernen Gesellschaft irgendwie erhält. Die Betonung des individuellen Handelns und des ‘self-made-man’ in populären Biographien, pseudoromantischen Ro-
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nen Biographik in der Weimarer Republik als kleinbürgerlicher Verherrlichung des Individuums durch Kracauer und Löwenthal (s. u.); und sie ist heute virulent in der Diskussion über die anhaltende Popularität der biographischen Gattung und ihr weitreichendes Beharren auf einer traditionellen Einheit des Individuums. Obwohl sich die belehrende Biographik stets bis auf Plutarch zurückbezogen hat, läßt sich aus der Gattungsgeschichte durchaus festhalten, daß mit Samuel Smiles der Biographik eine zuvor kaum in diesem Maße gekannte didaktische Funktion zugesprochen wurde. Anhand der Lektüre der Leben exemplarischer Persönlichkeiten soll jeder Leser (und nicht nur der gebildete) seinen Charakter schulen. Smiles betonte dabei die Bedeutung der Literatur, der Bücher, für Bildung und Selbstbildung der Individuen, und er sah in sämtlicher Literatur letztlich die Verschriftlichung des eigenen oder fremder Lebensläufe. In dieser Sicht wird auch die Bibel zu einer didaktisch-biographischen Sammlung uminterpretiert:412 And what is the Bible, the most sacred and impressive of all books – the educator of the youth, the guide of manhood, and the consoler of age – but a series of biographies of great heroes and patriarchs, prophets, kings, and judges, culminating in the greatest biography of all, the Life embodied in the New Testament?
Neben der biographischen Monographie, der sich Smiles ebenfalls widmete, ist es besonders die Tradition einer auf Lebensmaximen und Exemplarität reduzierten biographischen Kleinform – für die sich auch Smiles auf die Plutarch-Tradition beruft –,413 die im Zentrum des didaktisch-biographischen Schreibens steht. Gerade in dieser Form der biographischen Serien erscheint ein eigener Strang moralisierender Biographik, der auch im deutschen Sprachraum breite Popularität genoß und den von Smiles’ bestimmten Funktionen der Bibel wie der biographischen Literatur überhaupt folgte: »educator of the youth«, »guide of manhood«, »consoler of the age«. Zur gleichen Zeit als sich auch die preußisch-nationalisierende Essayistik zur populären Darstellungsform entwickelt, zur gleichen Zeit also, in welcher der preußische Liberalismus mehr und mehr von einem obrigkeitsstaatlichen Nationaldenken verdrängt wird, ist außerhalb Preu————————
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manen und Filmen entkräftet diese Feststellung nicht. Dieser maschinell hergestellte Ansporn zur Selbsterhaltung beschleunigt in Wirklichkeit die Auflösung der Individualität. Wie die Slogans des schrankenlosen Individualismus den großen Trusts politisch bei ihrem Versuch nützen, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen, so verleugnet in der Massenkultur die Rhetorik des Individualismus eben das Prinzip, dem sie Lippendienst zollt, indem sie den Menschen Muster kollektiver Nachahmung auferlegt.« Max Horkheimer, Aufstieg und Niedergang des Individuums. In: Ders., Gesammelte Schriften. Band 6: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«. Hg. von Alfred Schmidt. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 136–164, hier S. 161. Smiles, Character, S. 225. Vgl. bes.: Ebd., S. 227–230.
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ßens, in Leipzig etwa, eine biographische Textform populär, die in der äußeren Gestalt wie ihren ideologischen Grundlagen einem angelsächsischen sozialliberalen Moralismus verpflichtet ist. Besonders deutlich ist die Nähe zu Smiles in einer Sammlung von exemplarischen Biographien, die der Leipziger Gründerzeitunternehmer, der Verleger und Jugendbuchautor Franz Otto Spamer (1820–1886) unter dem Pseudonym Franz Otto zusammenstellte: Männer eigner Kraft. Lebensbilder verdienstvoller, durch Thatkraft und Selbsthülfe emporgekommener Männer. Der Jugend und dem Volke in Verbindung mit Gleichgesinnten zur Aneiferung vorgeführt (1875; zahlreiche weitere Aufl.).414 Im Titel sind die verwandten Publikationsintentionen deutlich formuliert. Das Werk wurde mehrmals nachgedruckt und von einem späteren Bearbeiter (Richard Roth) in vermehrter und überarbeiteter Form erneut herausgegeben. 415 Bereits der Begriff »Selbsthülfe« im Titel und das Motto »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott« verweisen auf Smiles’ Self-Help, der ebenfalls als Eingangszitat die Sentenz »Heaven helps those who help themselves« gewählt hatte. Doch finden sich weitere Ähnlichkeiten. So orientiert sich etwa die Auswahl der biographierten Persönlichkeiten stark am britischen Vorbild. Franz Otto Spamer beginnt mit dem französischen Töpfer Bernard Palissy, dem auch Smiles besondere Aufmerksamkeit zuwandte, und weitere Personen wie George Stephenson, Richard Arkwright, Sir Humphry Davy u. a. m. stammen aus dem von Smiles gebildeten Kanon der SelbsthilfeHelden. Manche Ausführung legt die Vermutung nahe, Spamer habe lediglich eine Paraphrase des Vorbildes geliefert; so folgen seine Schilderungen des Lebenslaufes zum »Erfinder des Dampfhammers«, James Nasmyth, bis ins Detail den entsprechenden Ausführungen bei Smiles.416 Spamer wählt ebenso wie Smiles vorbildliche Beispiele selbsttätiger Techniker und Erfinder (ein Beitrag zu Heinrich Schliemann in der mir vorliegenden dritten und vermehrten Ausgabe ist gewiß erst später durch Richard Roth hinzugefügt worden).417 Auch bei ihm wird das Interesse an Lebensläufen deutlich, die unter widrigen äußeren Umständen – »harte ———————— 414
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Zu Spamer vgl.: Ludwig Hirschberg, Spamer, Johann Christian Gottlieb Franz Otto. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. von Klaus Doderer. 3 Bde. und 1 Ergbd. Basel u. Weinheim: Beltz 1975/77/79/82, Bd. 3, Sp. 423b–424b; ders.: Spamer’s Jugend und Hausbibliothek. In: Ebd., Sp. 424b–425b. Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe: Franz Otto, Männer eigner Kraft. Vorbilder von Hochsinn, Thatkraft und Selbsthilfe für Jugend und Volk. 3., verm. und überarb. Auflage von Richard Roth. Leipzig u. Berlin: Otto Spamer 1892. Zahlreiche weitere Auflagen wurden gedruckt. Mir lag noch die 8. Aufl. aus dem Jahr 1906 vor. Ebd., S. 134ff. Für einen knappen Überblick zur Geschichte der deutschen Technikerbiographik mit einem Hinweis auf F. O. Spamer vgl.: Ulrich Troitzsch, Technikerbiographien vor 1945. Typologie und Inhalte. In: Füßl u. Ittner, Biographie und Technikgeschichte, S. 30–41.
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Lebensschule« –418 und schlechten sozialen Ausgangsvoraussetzungen – »unter der harten Zucht der Armut« – 419 dennoch Erfolge zeigen. Dabei werden die von Smiles formulierten liberal-individualistischen Prämissen in der Einleitung eher noch zugespitzt. Ausdrücklich wird auf die Rationalität des Menschen verwiesen, die ihn in die Lage versetze, »durch seinen Geist die Naturgesetze sich dienstbar zu machen«.420 Fortschrittsglaube und Technikbegeisterung 421 fußen auf dem Glauben an die Individualität des Menschen, der in eigner Selbstentfaltung »durch die eigne Kraft, durch die Kraft des Geistes, des Willens und der That«422 sich die Kenntnisse und Fähigkeiten erarbeitet, um »der großen Menge« den Weg zu ebnen.423 Jeder einzelne, so die bereits von Smiles vertretene Utopie sozialer Dynamik, kann sich durch ‘eigne Kraft’ ‘emporarbeiten’, jeder einzelne, auch wenn er einen sozialen Startvorteil durch Namen, Geld und familiäre Stellung hat, muß sich erst erneut durch eigne Anstrengung bewähren.424 Dabei wird der Selbstwert von Arbeit und Fleiß häufig betont: »Sein Streben hatte für ihn keinen anderen Zweck als eifriges Lernen und Weiterstreben.«425 Dabei werden auch Erzählmotive von Smiles aufgenommen, die das von Entbehrungen und Unverständnis begleitete Schaffen des Biographierten selbst im häuslichen Bereich zeigen: so das Handlungsmotiv ‘Das zerstörte Modell’, welches durch eine Illustration von Richard Leinweber (1891) im Band zusätzlich exponiert wird. Die Ehefrau des Biographierten, welche die zunächst brotlosen und fruchtlosen Bemühungen ihres Gatten mit Sorge um die Haushaltsgrundlage verfolgt, zerstört das Modell, das Resultat langer Bemühungen. Im Beispiel des Erfinders Richard Arkwright, der an der Entwicklung einer Spinnmaschine tüftelt, ———————— 418 419 420 421
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Otto, Männer, S. V. Ebd., S. IV. Ebd., S. III. »Es liegt in der That ein geheimnisvoller Zauber in jedem Maschinenwerke, welches gleich einem Uhrwerke seine Verrichtungen ausführt. Gleicht es doch einem lebenden Wesen, ist meist so lenksam, daß die Hand eines Kindes die Leitung besorgen kann, dabei unermüdlich thätig und fähig, mit Leichtigkeit Riesenarbeiten zu vollbringen.« Ebd., S. 17. Otto, Männer, S. IV. Otto, Männer, S. III. Bezeichnend in diesem Kontext ist das negative Urteil über ererbten Besitz und ererbten Stand. Der Großindustrielle Franz Haniel wird von seinem ‘Biographen’ Gustav Klitscher in der Zeitschrift »Daheim« etwa verteidigt: »Franz Haniel ist kein Self-made-man. Sein Wirken beruht auf der breiten, wohlgesicherten Grundlage, die ihm die Väter überliefert haben. So mag mancher sein persönliches Verdienst kleiner anschlagen, als es in der Tat ist. Gewiß, er ward von einem gütigen Schicksal sehr glücklich eingesetzt. Aber Glück ist nicht alles. Es gehören auch Umsicht und Tatkraft und Arbeit dazu, den Besitz des väterlich Ererbten immer neu zu erwerben.« G. K., Führende Männer der Industrie. Franz Haniel. In: Daheim 44 (1907/08), S. 12f., hier S. 13. Otto, Männer, S. 19 (über George Stephenson).
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
führt dies gar zur Trennung der Eheleute, was trotz eines engen moralischen Codex nicht dem Helden zur Last gelegt wird, sondern den steinigen Weg seiner Karriere unterstreichen soll.426 Ein weiteres Erzählelement, welches bereits bei Smiles häufig genutzt wird, ist die Beschreibung der Nebenbeschäftigungen des Tätigen, der trotz seines aufopferungsvollen Einsatzes für die eigene Arbeit immer noch Zeit findet, sich etwa dem Studium der Sprachen, der Lektüre von Büchern oder auch – wie George Stephenson –427 nur der liebenden Fürsorge für Tiere zu widmen. (Gerade in letzterem Beispiel ist die Funktion dieser Nebeninformationen zu erkennen, auch jüngere Leser für die biographierte Person zu interessieren.) Gleichwohl wird Samuel Smiles in Spamers Werk nicht erwähnt, und es wird im Zuge der Biographien der Versuch unternommen, sich von der starken Orientierung an dem britischen Kanon biographierter Tätiger zu lösen und stattdessen Beispiele »echter deutscher Thatkraft und Tüchtigkeit« zu finden, die wie im Fall des Lokomotiv-Entwicklers Johann Friedrich Karl August Borsig ausdrücklich die Konkurrenzfähigkeit der deutschen gegenüber der englischen Industrie dokumentieren sollen.428 Spätere Autoren ähnlicher Werke – wie der Biograph und Journalist Bruno Paul Schaumburg (1884–1948) – 429 haben schließlich gänzlich auf Personen verzichtet, die nicht deutscher Herkunft waren, und so das SelbsthilfeKonzept deutlich nationalistisch umgeprägt. Die Struktur der einzelnen biographischen Darstellungen folgt bei Spamer weitgehend einem einfachen Muster, für welches einerseits Smiles, andererseits die Tradition der »Erzählungen für das Volk«430 Pate gestanden haben mag. Den Ausgangspunkt bildet häufig eine explizit formulierte These, nicht selten eine moralisch-didaktische Sentenz, die durch den Lebenslauf exemplarisch bestätigt wird. Als Beispiel sollen die Einleitungen zu den ersten drei Lebenserzählungen über Bernard Palissy, George Stephenson und Richard Arkwright dienen:431 Es ist noch kein Mann auf dieser Erde groß und berühmt geworden, der in thatloser Ruhe seine Lebenszeit verbracht, der ohne Kampf, Mühe, Sorge und Arbeit empfangen, was er hat und was er geworden ist. Wer in seinem Berufe nicht mit Ungemach und Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wem, wie man zu sagen pflegt, alles nur so von selbst zufällt, von dem läßt sich kaum erwarten, daß er sich in seinem Berufe auszeichnen wird. Mutiger Kampf stählt die Kraft, bringt Übung ———————— 426 427 428 429 430 431
Ebd., S. 35; Smiles, Self Help, S. 55. Otto, Männer, S. 19. Ebd., S. 214. Bruno Paul Schaumburg, Männer aus eigener Kraft. 13.–22. Tsd. Leipzig: v. Hase & Koehler 1938. Vgl. Klaus Müller-Salget, Erzählungen für das Volk. Evangelische Pfarrer im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Berlin: E. Schmidt 1984, bes. S. 293ff. Otto, Männer, S. 3, 15, 33.
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in Beharrlichkeit und Ausdauer und führt selbst durch Unglück, Not und Entbehrung zum Sieg. […] Von einem Manne, der solch mutigen, zum Siege führenden Kampf bestanden, will auch dieser erste Abschnitt Bericht erstatten. – Die Verherrlichung der blutigen Triumphe der Eroberer liegt der Ausgabe dieses Buches ferner – es gibt viel herrlichere Siege und Triumphe, die um so schöner und erhebender sind, je unblutiger sie errungen wurden: die Siege des Talentes, des Fleißes und der Ausdauer auf den Gebieten der menschlichen Arbeit. Ein Millionär, dessen Wünschen alles erreichbar, sprach einst gegen seine Kinder und Geschäftsgenossen seinen bedeutungsvollen Erfahrungssatz in den Worten aus: »Millionen zu verdienen ist mir leicht geworden, sauren Schweiß aber hat es mich gekostet, die ersten fünfhundert Thaler zu erwerben!« Der Kriegsmeister Napoleon I. gab auf die Frage, was zu vollbringen ihm wohl die meiste Mühe bereitet habe, zur Antwort: »Zum erstenmal eine Kanone zu richten.« Peter der Große, gefragt, bei welcher Gelegenheit er sich die meisten Kenntnisse erworben, erwiderte: »Auf den Schiffszimmerplätzen in Holland.« – Wir sehen in allen drei Fällen, daß es immer die Anfänge eines später reich gesegneten sind, welche aufstrebenden Menschen die meisten Schwierigkeiten verursacht haben. Das Gefühl der Selbstachtung und des Selbstvertrauens hoffen wir in unsern strebsamen Lesern zu erhöhen und zu festigen, wenn sie sehen, wie alle diejenigen Streiter, welche wir ihnen vorführen, nur in andrer Weise und unter anderen Umständen, aber immer aus kleinen und wenig versprechenden Verhältnissen sich mühsam zur Höhe des Lebens haben emporringen müssen. [etc.]
Das moralische und didaktische Anliegen wird in seiner traditionellen rhetorischen Gestalt sofort deutlich. Der Hinweis auf bekannte historische Anekdoten oder auf geläufige Lebensweisheiten bestärkt die Glaubwürdigkeit der Selbsthilfeideologie und gibt den Interpretationsrahmen für die nachfolgend erzählte Lebensgeschichte vor, die nurmehr ein Exempel des vorab postulierten Satzes darstellt. Der Lebenslauf selbst wird in einer Weise erzählt, die durch schlichte Sprachgestalt und anekdotische Auflokkerung einem breiten, auch jüngeren Publikum gerecht werden soll. Quellennachweise oder die Dokumentation der eigenen Recherchearbeit des Verfassers bleiben ausgespart, und die historische Rekonstruktion bedient sich fiktionaler Elemente wie etwa erfundene Dialoge. Ferner schneidet der Verfasser den Lebenslauf auf wenige Aspekte zurecht, wobei einerseits die Entwicklung der Erfindungen erzählt wird, andererseits Lebenslaufelemente bevorzugt werden, welche den Selbsthilfecharakter illustrieren (etwa schwierige Kindheit, aber auch Nebentätigkeiten, »das zerstörte Modell«) und die exemplarische Bedeutung unterstreichen. Den Abschluß der biographischen Erzählung bildet schließlich eine laudatio des Biographierten, dessen Andenken der Nachwelt als Vorbild empfohlen wird. So heißt es am Ende der bereits in den Eingangspassagen zitierten Stücke über Palissy, Stephenson und Arkwright:432 ———————— 432
Ebd., S. 14, 32, 42.
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Ehre und Segen dem Andenken dieses Helden der Arbeit und Überzeugung. […] – Ein einfacher Grabstein bezeichnet die Ruhestätte dieses großen, guten und glücklichen Menschen. Die dankbaren Zeitgenossen haben ihm bereits Statuen an mehreren Orten errichtet; das schönste und unvergänglichste Denkmal aber hat er sich selbst geschaffen: das dankbare Gedenken der Nachwelt aller Zeiten. […] Hochgeehrt, im vollsten Genusse der Früchte eines wohlangewandten Lebens, wie den Helden der Arbeit nur selten zu teil wird, starb der denkwürdige Mann am 3. August 1792 auf seinem großartigen Etablissement zu Cromford, seinem Sohne ein Vermögen von zehn Millionen Mark hinterlassend. –
Struktur und Inhalt der Biographien nehmen so traditionelle Elemente des Nachrufs und der Predigt oder der ‘Erzählung für das Volk’ auf und nutzen sie zur Durchführung ihrer didaktischen Aufgaben. Der biographische Erzähler tritt dabei häufig auktorial als die Wahrheit garantierende Autorität und die Moral weisende Lehrerpersönlichkeit auf und führt den Leser anhand der teils explizit vorweg genannten, teils auch erst aus der exemplarischen Lebenserzählung abgeleiteten Maximen nicht selten mit rhetorischem Geschick durch den Lebenslauf. Der individualistischen Konzeption der Selbsthilfeideologie entspricht dabei die laudatio der exemplarischen aber stets selbsttätig agierenden Persönlichkeit vollkommen. Dieses Muster wird auch von vielen der weiteren Publikationen in diesem Umfeld verfolgt. Franz Otto Spamer selbst ließ 1881 neben anderen von ihm herausgegebenen biographischen Sammlungen eine Fortsetzung Hilf dir selbst folgen, und nach seinem Tod erschien aus dem Nachlaß: Wohlthäter der Menschheit. Vorbilder des Hochsinns, der Duldung und Menschenliebe (1886). Im Zentrum dieser und ähnlicher Werke anderer Verfasser stehen in der Regel die Bereiche Wirtschaft und Technik, auf die sich einige Nachfolger wie der Volkswirtschaftler Hermann Schöler (1869–1931) mit seinem Werk Helden der Arbeit. Lebensbilder des deutschen Wirtschaftslebens (1921 u. ö.) oder der bereits genannte Schaumburg in seiner Galerie deutscher Techniker (Männer aus eigener Kraft, 1938 u. ö.) auch weiterhin beschränken. Gleichzeitig wird jedoch das Schlagwort ‘aus eigener Kraft’ – wie dies bei Smiles, der gleichwohl die Techniker und Ingenieure in die erste Reihe der Selbsthilfe-Helden stellte, ja bereits angelegt war – auf andere Berufsgruppen ausgeweitet. Breit gefächert von Theodor Körner über Friedrich Ludwig Jahn, Zieten und George Stephenson (nach Smiles) bis zu Alfred Krupp ist etwa das Spektrum der Lebensläufe, die von Karsten Brandt (?–?) unter dem Titel Aus eigener Kraft. Lebensbilder hervorragender Männer (Stuttgart ca. 1900 u.ö.) herausgegeben wurden, und die »sechs Biographien für die reifere Jugend« von Hans Löw (?–?), die unter dem Titel Männer eigner Kraft in Basel erschienen, umfassen den von Smiles nur beiläufig erwähnten Komponisten Joseph Haydn, den von
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Smiles nur kurz zitierten US-Präsidenten James Garfield, den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, den einzig bei Smiles schon ausgiebiger behandelten Entdecker David Livingstone, den Schriftsteller Peter Rosegger und den Pfarrer Aloys Henhöfer – hier ist die Verbindung zur Technikgeschichte vollständig aufgegeben. Vielen Publikationen aus diesem Kontext ist ein Vorwort beigegeben, welches ausdrücklich die didaktische Intention bezeichnet und den Leser zur »Nacheiferung solcher Vorbilder« (Brandt) auffordert.433 Die Gruppe Schweizer liberaler Politiker, Pädagogen und Universitätsgelehrter, die einen voluminösen, reich illustrierten Band Schweizer eigener Kraft! Nationale Charakterbilder (1906) verfaßte, erhoffte sich die Erfüllung des volkserzieherischen Anliegens dadurch, daß das Werk zum ‘Volksbuch’ werden sollte, welches von der älteren an die jüngere Generation jeweils weiterzureichen sei, um die vorbildlichen »Schweizermänner, die auf allen Gebieten als führende Geister unbestrittene Anerkennung gefunden haben«,434 zur Nachahmung zu empfehlen:435 Unsere Zeit, unsere Jugend bedarf der Anregung, der aufmunternden Beispiele. Hier sind sie. Und je härter die Existenzbedingungen zu werden scheinen, je dichter die Speere die heranwachsende Generation umsausen, umso mehr wird ihr unser Buch zur Rüstkammer mutiger Erhebung werden. Der Vater lege es in die Hände seiner Söhne, er übergibt ihnen damit ein wertvolles Vermächtnis: »Da sind eure Vorbilder! Ahmt sie nach! Prüft eure Fähigkeiten, alle Tore stehen euch offen, die Demokratie kennt keine hemmenden Schranken mehr. Zieht in den Kampf, wie diese Männer, eure Mitbürger, hinausgezogen sind. Haltet euch, wie sie sich gehalten haben, und ihr werdet erreichen, was ihr erstrebt, – euch zum Wohle und dem Vaterlande zur Ehre! –«
Erziehung zur Selbsthilfe und Individualität als Aufgaben des demokratischen Staatswesens – hierin haben der Verleger und die Autoren des Bandes ihr Anliegen gesehen. Schon bei Smiles bestand neben den individuellen Aspekten auch ein nationales Interesse in der Selbsthilfeideologie und in der Feier der nationalen ‘Männer eigener Kraft’. Bei diesen Schweizer Autoren ist der nationale Zug – das heißt die Aufstellung eines biographischen Kanons zur nationalen Identitätsstiftung – noch deutlicher.436 In ———————— 433 434 435 436
Karsten Brandt (Hg.), Aus eigner Kraft. Lebensbilder hervorragender Männer. Stuttgart: Loewes Verlag Ferdinand Carl 3. Aufl. o. J., Vorwort o. Pag. Schweizer eigener Kraft! Nationale Charakterbilder für das Volk bearbeitet. Neuenburg: F. Zahn [1906], Verlegervorrede S. 3. – Vgl. a.: v. Zimmermann, »Schweizer eigener Kraft!«. Schweizer eigener Kraft!, S. 4. Parallel zu den hier skizzierten Bestrebungen entwickelte sich im Laufe des 19. Jh.s eine rege Diskussion um die Vermittlung der Schweizer Geschichte im Schulunterricht über biographische Erzählungen. Vgl.: Barbara Helbling, Eine Schule für die Schweiz. Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in den Schweizer Lesebüchern seit 1900. Zürich: Chronos 1994, S. 192–218. – Helblings Arbeit zeigt auch die Vermittlung des bürgerlichen
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mehr als einem der Beiträge wird auf die grundlegende Bedeutung der individuellen Selbstentfaltung für das demokratische Staatswesen hingewiesen. Selbsthilfeideologie und Liberalismus, Individualismus und demokratischer Nationalismus sind die ideologischen Bezugspunkte des Werkes; Anliegen und Anlage sind moralisch-didaktisch ausgerichtet. Besonders auffällig ist dabei bereits in der Einleitung der Rückgriff auf die Lebenskampf-Metaphorik, welche in pathetischer Weise die Notwendigkeit für den einzelnen unterstreichen soll, sich den moralischen Maximen zu unterwerfen. Das Vorgehen der einzelnen Autoren ist trotz der gemeinsamen inhaltlichen Orientierung am Ethos der individuellen Leistung breit gefächert. Die bei Smiles und Franz Otto Spamer konstatierte Struktur der biographischen Erzählung wird am deutlichsten von den ersten vier Beiträgen des Bandes erfüllt. Der Ständerat und Genfer Professor für Rechtswissenschaft Eugène Richard (1843–1925) eröffnet seine Biographie mit einer laudatio auf den Techniker und Unternehmer Louis Favre, der als »ein Mann von eigener Kraft« und »das sprechendste Beispiel eines ‘Selfmade man’« vorgeführt wird.437 Richard bezeichnet Demokratie und Individualismus als Basis wirtschaftlicher Prosperität und zivilisatorischen Fortschritts; durch die Emanzipation des Individuums in der Demokratie sei »ein Aufmarsch glänzend gerüsteter Helden, der Pioniere der Zivilisation,«438 möglich geworden. Favre wird eingeordnet in einen Katalog der Namen vorbildlicher ‘Männer eigener Kraft’, die sich aus teils niedrigen sozialen Verhältnissen aufgeschwungen haben. Der erzählte Lebenslauf Favres stellt so das konkrete Exempel eines allgemeinen Ideals dar. Die Würdigung »dieses Helden der Arbeit«439 am Ende der Biographie nimmt mehrere Seiten ein, durchläuft die moralischen Grundlagen der Selbsthilfeideologie und betont den Selbstwert der Arbeit, die »Freude an der Anstrengung«, für den außerordentlichen Menschen: »Bestimmt und praktisch in seinen Berechnungen, erwartete er nichts vom Zufall, sondern alles von der Arbeit, der hartnäckigen Arbeit.«440 Wie bereits bei Smiles wird auch hier der Erfolg des individuellen Lebens, das Lebensglück, nicht in erster Linie in der Erreichung eines persönlichen Wohlstandes gesehen,441 ———————— 437
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Tugendkanons (Hingabe an die Arbeit, Fleiß, Sparsamkeit etc.) im Schulbuch. Siehe hierzu die entsprechenden Stichworte im Reg.! Eugène Richard, Louis Favre. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 5–63, hier S. 7. – Favres Leben wurde Anfang des 20. Jh.s auch in den Schullesebüchern der freisinnig dominierten Schweizer Kantone erzählt. Vgl. Helbling, Eine Schule für die Schweiz, S. 216 u. Reg. Richard, Louis Favre. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 8. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Eduard Herzog (1841–1924), erster christkatholischer Bischof der Schweiz, Theologieprofessor und zeitweilig Rektor der Universität Basel, legt das Gewicht in der Erfolgsgeschichte des Schuhindustriellen Carl Franz Bally darauf, daß dieser nicht nur einen ökonomi-
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wenngleich dieser als Nachweis für den gelungenen sozialen Aufstieg viele der biographischen Exempel krönt.442 Der vor Abschluß seines Werkes – des Gotthard-Tunnels – verstorbene, vielfach kritisierte Favre erlebte die Frucht seiner Arbeit nicht mehr. Dennoch erscheint er in Richards Darstellung nicht als bemitleidenswert, sondern als Ansporn zur Nacheiferung, da er in idealer Weise die Forderungen der Selbsthilfeideologie an das Individuum erfüllt und zudem ein Werk geleistet hat, welches dem Gemeinwohl dienlich ist.443 Auch der Nationalrat, Jurist und Friedensnobelpreisträger von 1902, Charles Albert Gobat (1843–1914), strukturiert seine Biographie des Berner freisinnig-demokratischen Bundesrates und Bundespräsidenten Jakob Stämpfli in ähnlicher Weise. Gobat betont einerseits die höheren Anforderungen an die Moral und Tüchtigkeit des einzelnen im demokratischen Staatswesen und andererseits die Chancen der sozialen Dynamik in der demokratischen Gesellschaft. Wiederum wird die moralisch-didaktische Maxime als Ausgangspunkt genommen, zu welcher die Lebensgeschichte das konkrete Exempel bietet. In der abschließenden Gedenkformel mischt sich allerdings ein anderer Aspekt in das Lob Stämpflis: »Auf diesem Ehrenplatze [im Gedächtnis des Volkes] steht auch der Mann aus eigener Kraft, der Bauernsohn von Janzenhaus, für sein Bernervolk und die Eidgenossen!«444 Nicht nur die soziale Dynamik wird durch den Aufstieg des exemplarischen Mannes im Rahmen der Selbsthilfeideologie betont, sondern seine besondere Eignung für die repräsentative Staatsform als ‘Mann aus dem Volk’ (»Bauernsohn« für das »Bernervolk«). Diese Tendenz zu einer nationalisierenden biographischen Darstellung findet sich in mehreren Beiträgen des Bandes, die neben der Eigenleistung des Individuums häufig auch die Gesamtleistungen des Schweizer Volkes betonen. Beson————————
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schen Privaterfolg erzielt habe, sondern ein vorbildlicher Mitmensch gewesen sei (S. 419); hier werden die liberalistischen Selbsthilfegedanken durch christliche Anschauungen zusätzlich relativiert. E. Herzog, Carl Franz Bally. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 359– 420. Vgl. im hier vorgestellten Band die Biographie des demokratischen Nationalrats Emil Hofmann (1865–nach 1927) über den vom Uhrmachersohn zum Industriellen aufgestiegenen Schaffhausener Heinrich Moser: Der Nachwelt »höchstes Lob aber gilt den Männern ureigenster Kraft, den Heldengestalten auf dem Schlachtfeld der Arbeit, die allem Schicksal zum Trotz den Weg zu den Gipfeln des menschlichen Daseins fanden und den Platz an der Sonne bis an das Ende ihres Lebens behaupteten«. E. Hofmann, Heinrich Moser. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 189–243, hier S. 192. In dem biographischen Beitrag des Gotthelf-Übersetzers P. Buchenel (?–?) über Jakob Ludwig von Pourtalès steht sogar die Leistung für den sozialen Fortschritt des Biographierten – das Hospital Pourtalès in Neuenburg – und sein Wirken im Zeichen von »Glaube und Liebe« gegenüber Selbsthilfeaspekten im Vordergrund. P. Buchenel, Jakob Ludwig von Pourtalès. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 245–308. [Charles] Albert Gobat: Bundespräsident Jakob Stämpfli. In: Schweizer eigener Kraft!, S. 139–187, hier S. 187.
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ders bei den Lebenslauferzählungen über Arnold Böcklin (von Heinrich David, 1856–1935) und in Anklängen in jener über Gottfried Keller (von Walther von Arx, 1852–?) wird der typisch schweizerische Charakter der Biographierten und ihrer Werke betont, wodurch der liberal-ethische Ansatz mit nationalpatriotischen Interessen verbunden wird: Die individuelle Leistungsschau der ‘Helden eigener Kraft’ soll zugleich im Wettstreit der Nationen die Leistungsfähigkeit liberal denkender, handelnder und ‘lebender’ Schweizer bezeugen. Obwohl die Schweizer eigener Kraft! ausdrücklich der Jugend gewidmet sind, wenden sich die Autoren kaum direkt an junge Leser und unterstützen die moralisch-didaktische Wirkabsicht nicht durch ein dem Adressatenkreis angepaßtes Erzählen. Ganz anders geht hier Hans Löw in seinem mehrfach aufgelegten Buch Männer eigner Kraft vor, der sich in Leseransprachen direkt an die junge Leserschaft wendet und ganz die Position des belehrenden Geschichtenerzählers einnimmt:445 Von meinen jungen Lesern weiß wohl jeder, wer David Livingstone gewesen ist? Wenn man die Lebensgeschichte von Männern erzählen will, die, aus engen, bescheidenen Verhältnissen hervorgegangen, etwas Tüchtiges oder gar Berühmtes und Bedeutendes geworden sind, so kann man auch diejenige eben dieses Mannes erzählen.
Die Struktur der einzelnen knappen biographischen Erzählungen entspricht weitgehend dem bekannten Modell, zu einer Maxime ein biographisches Exempel aufzustellen und die Beispiel gebende Erfüllung der Maxime durch den Biographierten in einer abschließenden Würdigung zu loben und der Nacheiferung zu empfehlen. Dabei bemüht sich Löw darum, die Interessen seiner projektierten Leserschaft vorwegzunehmen und reagiert darauf mit rhetorischer Gewandtheit. Wenn er über Livingstone schreibt, so setzt er die gespannte Erwartung der Leser voraus und befördert diese dadurch, daß er etwa spannende und abenteuerliche Züge, den Reiz der Fremde unterstreicht und im Sinne seines Anliegens einsetzt:446 Vielleicht finden es meine jungen Leser interessant, daß es in jenen Gegenden viele Löwe [!] gibt. Wer wie Livingstone aber die Lebensgefahr sah, in der durch diese reißenden Tiere die armen Eingeborenen beständig leben, dem tut ihre Not in der Seele weh.
Handelt es sich dagegen um den Lebenslauf eines Pfarrers, so wirkt der Erzähler dem zu erwartenden taedium seiner Leserschaft entgegen, in———————— 445
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Hans Löw, Männer eigner Kraft. Sechs Biographien für die reifere Jugend zusammengestellt. Basel: Friedrich Reinhardt 5. Aufl. o. J., Kap. IV, S. 3. – Die Biographien sind ursprünglich als Serie konzipiert und in der Buchfassung einzeln paginiert. Ebd., Kap. IV, S. 12.
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dem er die vielleicht lebensfern wirkende Autorität des Pfarrers dadurch abmildert, daß er darauf hinweist, dieser sei genauso ein Bäume erkletternder Bube gewesen wie der Leser selbst. Ja, die lesernahe Erzählung erlaubt sogar die scherzhafte Diminuierung des Pfarrers:447 Und wenn sich alles um einen Pfarrer drehte! Die kommen so wenig wie sonst irgendwer gleich als Pfarrer auf die Welt, etwa mit einem kleinen schwarzen Talar und zierlichen, winzigen Bäffchen. Nur das Glätzlein bringen die meisten schon in ihrem ersten Geburtstag hinein und eine gute Stimme, die weithin schallt; im übrigen sind’s Menschen wie andere auch und tun ganz genau nach der Menschen Weise; so steigen sie auch auf Kirschbäume, wenn sie größer werden, und pflücken darauf nicht bloß Blätter, zerreißen die Höschen am gleichen Ort wie andre kleine Erdenbürger, wenn sie erstmal welche anhaben. Deshalb ist ihr Leben, ihr Werden und Wachsen ebenso hübsch zu verfolgen, wie das anderer Leute.
Die direkte Ansprache herrscht vor; der biographische Erzähler bleibt immer als ein freundlicher Lehrer gegenwärtig, der die Fragen der Leser aufzunehmen sucht und beantwortet. Die Belehrung der Leser erfolgt dabei ganz offen und ebenfalls in der direkten, häufig kolloquial gehaltenen Ansprache, welche von der Richtigkeit der ethischen Maximen zu überzeugen sucht. Mitunter erhofft er sich auch, daß eine Geschichte – wie die Erzählung des Lebens von James Garfield – weitgehend für sich spricht; doch stets wird am Ende ein belehrendes Fazit gezogen:448 Lieber junger Leser! Ich habe dir einfach und schmucklos diese ergreifende Geschichte erzählt und zu den Tatsachen nichts hinzugetan. Es schien mir unnötig, jedesmal die edeln Charaktereigenschaften aufzuzeigen, die in der Lebensgeschichte des armen Bübleins aus der Blockhütte zutage treten; sie leuchten ganz von selbst auf wie helle, stille, große Lichter. Und ich denke, sie leuchten nun auch in dein Leben hinein, daß du wie er dem Guten nachjagst und das Gemeine hassest. Dann weckst du noch einmal den Helden, der auch in dir schläft! –
In dem optimistischen Vertrauen auf die ‘guten’ Kräfte, die er in seinen jungen Lesern nur wecken zu müssen glaubt, und im Verzicht auf die harschen Töne einer Lebenskampfmetaphorik (und nationalistische Aspekte) gehören die Biographien von Hans Löw gewiß zu denjenigen Werken, die in besonderer Weise die Interessen und Bedürfnisse einer jugendlichen Leserschaft berücksichtigen. – Auch andere Autoren schrieben in ähnlicher Weise biographisch-didaktische Skizzen, so etwa der Schweizer Pfarrer Alexander Voemel (?–?), der in geschlechtlicher Arbeitsteilung mit der Frauenbiographin Dora Schlatter (1855–1915) in einer Reihe Unsere Vorbilder die männlichen Vorbilder darstellte – im selben Baseler Verlag wie Hans Löw. Auch hier wird der Kanon der Tu———————— 447 448
Ebd., Kap. VI (Dr. Aloys Henhöfer), S. 3f. Ebd., Kap. II (James A. Garfield), S. 32.
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genden an einzelnen hervorragenden Beispielen dokumentiert. So wirbt Voemel etwa mit einer Kurzbiographie über den Pfarrer Arnold Bovet (ca. 1908/09), den »Freund der Trinker«, für die Aktivitäten der Blaukreuzler – ganz im Sinne einer christlich motivierten temperance-Lehre: »Was meinst du, lieber Leser, willst nicht auch du ein Mitarbeiter und Mitkämpfer an diesem schönen Werke werden?«449 In Deutschland reicht die Tradition dieser Biographik im Zeichen der Selbsthilfeideologie bis in die Nachkriegszeit. So erschien 1946 ein schmaler Band Aus eigener Kraft. Lebensbilder führender Männer, der vier biographische Aufsätze vereint, die unter dem gleichlautenden Titel in einer Heftreihe des Stuttgarter Perthes-Verlages bereits Ende der 20er Jahre erstmals gedruckt worden waren. Der Herausgeber dieser Reihe war wiederum ein besonders an erzieherischer Jugendliteratur interessiereter Publizist, der Jugendbuch-Theoretiker und wesentliche Mitgestalter der deutschen Jugendbuchbewegung Wilhelm Fronemann (1880–1954). 450 Die Autoren, deren Namen wohl wegen der nicht ganz unbelasteten Lebensläufe 1946 verschwiegen wurden, waren der bereits erwähnte Volkswirtschaftler und Biograph Hermann Schöler, der Volkshochschullehrer und freie Schriftsteller in Eutin, Christian Jenssen (1905–1996), der Lyriker, Erzähler und Jugendbuchautor Erich Bockemühl (1885–1968)451 und der Oberstudiendirektor und Verfasser lyrischer und biographischer Werke Karl Friedrich Schmid (1876–nach 1955) – also sämtlich Autoren, die es sich zur Aufgabe setzten, in populärerer Weise ein jugendliches Publikum zu unterrichten. Unter der im vormaligen Reihenbeschreibungstext und späteren Vorwort hervorgehobenen Maxime »Jeder Tüchtige kann zu den Gipfeln hinauf« sind in der Nachkriegspublikation die Biographien über Ernst Abbe (Schöler), Albert Ballin (Jenssen), Benjamin Franklin (Bockemühl) und Robert Mayer (Schmid) zusammengefaßt. Gegenüber dem Reihenbeschreibungstext wurde lediglich ein Satz eingefügt, welcher die pädagogische Bedeutung der Publikation 1946 betont: »Gerade dem heutigen Geschlecht, welches das Opfer abenteuerlichen und verbrecherischen Führertums geworden ist, müssen echte Führer lebendig vor Augen ———————— 449 450 451
Alexander Voemel, Arnold Bovet. Ein Lebensbild. Basel u. Ludwigshöhe: Verlag Friedrich Reinhardt o. J. [ca. 1908/09] (Unsere Vorbilder [4]), S.16. Zu Fronemann vgl.: [Redaktion,] Fronemann, Wilhelm. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1, Sp. 422a–422b. Bockemühl schrieb u. a. Biographien für Kinder über »Goethe« (Köln 1932) und »Schiller« (Langensalza 1932). Vgl. a.: Hermann Bertlein, Bockemühl, Erich. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Ergbd., Sp. 74b–75a. – Für seine Gedichtbände aus dem Umkreis Otto zur Lindes und einige Prosastücke wurde Bockemühl in Hellmuth Langenbuchers NS-Literaturgeschichte aufgenommen. H. Langenbucher, Volkhafte Dichtung der Zeit. 6., unveränd. Aufl. Berlin: Juncker & Dünnhaupt 1941, S. 165–167, 389f., 600. Die Werke für jugendliche Leser fanden bei Langenbucher keine Beachtung.
2.5. Konstitution und Ethos des Individuums: Heroen der Geschichte und des Alltags
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geführt werden.«452 Mit Vorbildern von Männern, die sich etwa als »armer Leute Kind«453 hervorgearbeitet haben, zielte diese Neupublikation auf die deutsche Nachkriegsbevölkerung, denen erneut die Selbsthilfeideologie gepredigt werden sollte. (1948 druckte der Stuttgarter Kröner-Verlag wieder Smiles’ Der Charakter; zuletzt 1939 in dieser Ausgabe gedruckt.)454 Die Schlagworte der Selbsthilfe haben so über ein dreiviertel Jahrhundert hinweg einen breiten Strom didaktischer biographischer Literatur in eigenständigen Buchpublikationen, Heftchenreihen oder Zeitschriftenbeiträgen von Otto Spamers Anfängen bis hin zu dieser Nachkriegspublikation geprägt. In unterschiedlichen Fassungen liegt dabei ein liberalistisches Menschenbild zugrunde, welches das Vertrauen in den wirtschaftlichen, technologischen und zivilisatorischen (teils auch sozialen) Fortschritt auf den Glauben an die Kräfte des selbsttätigen Individuums gründet.455
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Wilhelm Fronemann u. Karl Friedrich Schmid (Hgg.): Aus eigner Kraft. Lebensbilder führender Männer. Ernst Abbe / Albert Ballin / Benjamin Franklin / Robert Mayer. Frankfurt/M: Siegel-Verlag u. Otto Müller 1946, S. 5. [Hermann Schöler:] Ernst Abbe. In: Fronemann u. Schmid, Aus eigener Kraft, S. 7. Samuel Smiles: Der Charakter. Übers. von Heinrich Schmidt-Jena. 28.–32. Tsd. Stuttgart: Kröner 1948 (Kröners Taschenausgabe 7). Eine Auszugsausgabe erschien 1954: Ders., Charakter macht den Menschen. Neu dargestellt und bearbeitet. Basel: Riggenbach [1954]. Doch begegnet der Begriff ‘aus eigener Kraft’ nicht allein in dieser individualistischen Ausprägung. Im Zuge einer zunehmend in Mode kommenden rhetorischen Personifizierung der Nation als einer übergeordneten, sich über die Masse der Einzelkräfte erhebenden ‘Individualität’, wurde es auch üblich von der ‘eigenen Kraft’ der kollektiv-individualistisch vermenschlichten Nation zu sprechen. So publizierte etwa ein Diplom-Ingenieur und Patentanwalt aus Frankfurt am Main, Carl Weihe, der ab 1919 als Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in Darmstadt Vorlesungen über Technikgeschichte und Patentrecht hielt, 1918 eine Broschüre »Aus eigner Kraft. Bilder von deutscher Technik und Arbeit für die reifere Jugend«. Dabei handelt es sich nicht – wie der Titel suggerieren könnte – um eine weitere Sammlung exemplarischer Technikerbiographien, sondern um eine die Rolle Deutschlands im Weltkrieg verherrlichende Erzählung aus der Arbeiterwelt mit dem Ziel zu zeigen, daß »die deutsche Technik, abgeschnitten von aller Zufuhr, ‘aus eigner Kraft’ […] als innere Front der Kampffront den Rückhalt gegeben hat«. Weihe betont das Aufgehen des einzelnen Arbeiters im höheren Zweck der Kriegsindustrie und nutzt hierfür die personfizierende Formulierung aus der Selbsthilfetradition. (Carl Weihe: Aus eigner Kraft. Bilder von deutscher Technik und Arbeit für die reifere Jugend. Leipzig u. Berlin: B. G. Teubner o. J. [Vorwort datiert: 16.10.1918!], zit. S. III.) – Weihe schrieb auch Biographien über Max Eyth, Max Maria von Weber sowie Abhandlungen zur Technikgeschichte. Vgl. die knappe biographische Notiz in: Carl Weihe, Franz Reuleaux und die Grundlagen seiner Kinematik. In: Deutsches Museum 14 (1942), S. 83–104, hier S. 83, Fn.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik Der Gang der Darstellung hat sich weit von Stifters Briefanmerkung über das Romanprojekt Maximilian Robespierre entfernt und soll auch nur indirekt wieder zu dieser zurückgeführt werden, indem abschließend und zusammenfassend auf die tatsächliche Robespierre-Biographik hingewiesen wird, um so etwas wie den Kernbereich der Biographik im 19. Jahrhundert zu bestimmen. Das Interessenfeld der Biographik wurde in der Konkurrenz zur Personalhistoriographie als anthropologisch bezeichnet; ihren zentralen Gegenstandsbereich bildeten eher die ‘Männer zweiten Ranges’ oder Persönlichkeiten, die sich im privaten Kreis und im persönlichen Salongespräch mitteilten. Die Biographien konnten als Muster idealer (und wiederum nicht idealisierter) menschlicher Lebensführung gelten. Dabei ergibt sich eine Spannbreite der biographischen Erscheinungsformen, welche von einer kritischen Charakteristik über eine um Objektivität bemühte Charakteranalyse bis hin zur moraldidaktischen Funktionalisierung reicht. Im Zentrum steht freilich jeweils die Frage nach dem privaten Charakter der dargestellten Persönlichkeit, während die geschichtliche respektive öffentliche Wirksamkeit geringere Beachtung findet und – falls sie behandelt wird – aus der Perspektive der privaten Sphäre und der charakterlichen und psychischen Anlage der Person betrachtet wird. Gewiß finden sich im 19. Jahrhundert zahlreiche andere biographische Formen: die monumentale und faktengesättigte archivalische Biographie, die kompilatorische (Auto)Biographie, welche das fremde Leben im Spiegel einer Collage aus Selbstzeugnissen wiedergibt, die auf das Denken der dargestellten Persönlichkeit konzentrierte philosophische Gelehrtenbiographie, die im Kontext von Nationaldenkmal und patriotischen Gedenkfeiern gehaltenen Reden und veröffentlichten Essays zu Symbolgestalten der nationalen Geschichte und andere mehr. Mitunter tritt dabei die zentrale Aufgabe der Biographie zurück: den individuellen Lebenslauf als Option im Rahmen des anthropologischen Horizontes zu spiegeln. Gerade in diese Richtung – allerdings verbunden mit der Forderung nach einer geschlossenen und literarisch anspruchsvollen Gestaltung – zielt die bereits zitierte Abhandlung von Rudolf Gottschall über Die Biographie der Neuzeit (1874): »Wir […] wollen ein volles Menschenbild, einen Charakter wie er leibt und lebt, vor uns sehen, […]. Das psychologische und selbst pathologische Moment soll zu seinem Rechte kommen […].«456 Dies ist keine abstrakte Forderung, sondern entspricht durchaus einer biographischen Praxis, die sich von Lexikonartikeln bis hin zu dem ———————— 456
Gottschall, Die Biographie der Neuzeit, S. 675.
2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik
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von Gottschall herausgegebenem biographischen Sammelwerk Der Neue Plutarch (1874ff.) zeigen läßt. Als Beispiel sei auf die biographischen Artikel in der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände – hier in der 10. Auflage von 1854 – hingewiesen. Die ausführlichen Personenartikel sind wohl sämtlich nach demselben Muster geschrieben wie der Artikel Robespierre:457 Wenn Robespierre im Artikeleingang als »einer der bedeutendsten Charaktere der Französischen Revolution« bezeichnet wird, so ist dies zugleich programmatisch zu verstehen: Die biographischen Artikel legen das Gewicht jeweils auf eine individuell-charakterliche Zeichnung der vorgestellten Persönlichkeiten, und im Zug der chronologischen Lebenslaufschilderung werden hervorstechende Charaktereigenschaften benannt und zur Erklärung individueller Handlungsweisen und öffentlichen Verhaltens herangezogen. Robespierres »Wesen« etwa zeichne sich durch »Ehrgeiz, Anmaßung und Eifersucht« aus, und er machte »aus Eifersucht die Politik der Girondisten verdächtig«. Gewiß läßt sich hieraus eine moralische Verurteilung ablesen. Im Vordergrund steht allerdings der Versuch, die psychischen Handlungsmotive objektivierend darzustellen. Es geht also dem Artikelverfasser nicht darum, die Verwerflichkeit des Charakters Robespierres zu beweisen – er mag immerhin durch zweifelhafte Charakterzüge bestimmt gewesen sein –, sondern es geht grundlegender darum, die öffentliche Handlung als Ausdruck seiner psychisch-charakterlichen Disposition zu verstehen. Typisch für die biographische Darstellung der Artikel ist der Abschluß durch eine charakterisierende conclusio: R. besaß wol [!] Fähigkeiten, aber nicht zu der Mission, zu der ihn sein Ehrgeiz drängte. Ohne persönlichen Muth, die Menschen verachtend, suchte er die Revolution durch die Schrecken des Henkers zu unterjochen; maßlose Eitelkeit und philosophische Schwärmerei aber führten ihn zu dem abenteuerlichen Plane, die unterworfne Nation durch eine theokratische Regierung zu beglücken.
Was der Artikel in der Kleinform zeigt, entspricht zugleich der Struktur und biographischen Argumentationsweise der ausführlichen Lebensdarstellungen: etwa Friedrich August Schulzes (1770–1849, Ps. Fr. Laun) Robespierre (1837) und Rudolf Gottschalls in vielen Punkten recht ähnliche, aber in der Gesamttendenz abweichender Beitrag zum Neuen Plutarch: Maximilian Robespierre (1875). Die anonym publizierte Biographie Schulzes, welche zur abschreckenden Erinnerung an die Zeit der Schrekkensherrschaft angesichts einer zeitgenössischen Verklärung Robespierres dienen soll,458 folgt der Struktur des Lexikonartikels, »an eine treue Schil———————— 457 458
Anonymus, Robespierre. In: Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexicon 13 (101854), S. 31–34. [Friedrich August Schulze,] Robespierre. Mit Beziehung auf die neueste Zeit dargestellt von einem Wahrheitsfreunde. Leipzig: Brockhaus 1837. – Im Vorwort seiner Biographie
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
derung des Lebens Robespierres Betrachtungen zu knüpfen, die zu Erläuterung und Würdigung dieses Charakters vielleicht beitragen können«.459 Die Darstellung folgt dieser Vorgabe, einen weitgehend neutralen Lebensabriß zu geben und erst in einer abschließenden charakterisierenden Summe die charakterliche Bewertung Robespierres vorzunehmen. Schulze ist zwar durchaus an dem psychologischen »Räthsel«, an der Klärung der »Widersprüche«460 im Charakter Robespierres interessiert, und er versucht sich sogar in einer psychologischen Erklärung der Charakteranlage (früher Tod der Mutter), aber die »große psychologische Merkwürdigkeit«461 des scheinbaren Wandels von »Rechtlichkeit und Unbestechlichkeit«462 zum Blutterror erfolgt nur teilweise über die psychologische Deutung des Individuums. Vielmehr fallen kollektive und individuelle Erklärungsmomente zusammen. Die Französische Revolution und der Königsmord erscheinen Schulze als kollektiv-pathologischer Zustand: als zur »furchtbarste[n] Epidemie ausgeartete[r] Wahnsinn« und als »die bedauernswerthe Verkehrtheit des Gemüthszustandes der damaligen Mehrzahl der Menschen«.463 Robespierre habe sich in dieser Zeit vom rechtlichen Bürger zum Schreckensdiktator gewandelt, da er seine eigenen Gesinnungen und Anschauungen unter die leitende Idee der Verwirklichung einer Rousseauschen Staatsutopie gestellt habe. Die Unmöglichkeit, diese Utopie auf das französische Volk zu applizieren, habe zu der immer größeren Bereitschaft geführt, Gewalt anzuwenden. Robespierre erscheint Schulze als ein »durch die unglücklichen Folgen seines Wirkens in einer den ihm eigentümlichen Kräften völlig unangemessenen Sphäre[ ] zum wahrhaften Abscheu der Menschheit gewordener Mann«.464 Äußere Umstände und innere Anlage (Ehrgeiz) werden dabei letztlich verbunden, ————————
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deutet Schulze nur an, daß er Leben und Charakter Robespierres darstelle, da diesem besonders seit 1833 neue Aufmerksamkeit gewidmet werde. Erst am Ende seiner Biographie kommt er wieder auf diese Andeutung zu sprechen. Nachdem man Robespierre aus der Tagesdiskussion verdrängt habe, sei er 1832/33 in der französischen Tagespresse wieder häufiger genannt worden. Bestimmte radikale Kreise – »eine auf den Umsturz der bestehenden Verfassung in Frankreich rastlos sinnende Partei« (S. 210) –, welche auf den Sturz der Regierung Ludwig Philipps drängten, würden in der Gegenwart den Blutterror der Schreckenszeit und namentlich Robespierre verherrlichen: »Ein unheilvoller Wahnsinn treibt noch im Jahre 1837 ihr Dichten und Trachten in den blutigen Nebeln des letzten Decenniums vom achtzehnten Jahrhunderte herum« (S. 211). Darum sei es notwendig, den Namen Robespierres als Warntafel gegen die Revolutionsgelüste der Gegenwart zu erinnern (S. 212). Ebd., S. XVI. Ebd., S. 171. Ebd., S. 178. Ebd., S. 200 u.ö. Ebd., S. 175, 176. Ebd., S. 208.
2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik
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wenn auch Schulze zunächst die Umstände betont und erst im Nachsatz auf den Ehrgeiz hinweist:465 Aus diesem Allen stellt sich wohl ziemlich klar heraus, daß einzig das große Zeitereignis und die damit verbundenen Umstände Robespierre die furchtbare Gestalt gegeben haben, in der er der Welt und besonders Frankreich erschienen ist und daß er zu anderer Zeit und im gewöhnlichen Laufe der Dinge dem Berufe eines Sachwalters, für den er geboren schien, wahrhafte Ehre gemacht haben würde, wenn sein, allerdings unangemessener, Ehrgeiz nicht etwa verhindernd dazwischen getreten wäre.
Auch Gottschall reflektiert in der Einleitung das konkrete biographische Vorgehen seiner Arbeit, weist dabei allerdings auf die besondere Stellung des biographischen Ansatzes hin. Die Bewertung Robespierres gebe dem Historiker Probleme auf, da Charakter und historische Tat auseinanderfallen; der Historiker gerate dadurch in Widersprüche. Erst der analysierende Biograph vermöge hier das Rätsel zu lösen, indem er sich dem Charakter und weniger den Ereignissen widme:466 Solche Gestalten fordern die Geschichtschreibung und selbst die Dichtung zu einer neuen Begründung auf; es gilt nicht blos, eine geschichtliche Erscheinung darzustellen, sondern auch ein psychologisches Räthsel zu lösen.
Gottschalls Abgrenzung von Historiographie und Biographie, die hier durchaus als Kritik an der historiographischen Praxis verstanden werden darf, ist weder neu, denn sie gehört seit Plutarch zur Selbstbestimmung der Biographen und seit Hegel und Droysen steht ihr die antipsychologische bzw. antianthropologische Sicht der Historiker gegenüber, noch aber ist sie weniger radikal als die Historikerschelte von Emil Ludwig (s. u.). Vielmehr handelt es sich um eine tradierte Bestimmung des Standorts der Biographie im Verhältnis zu Psychologie und Historiographie als lebensgeschichtliche Anthropologie und Psychologie: Der historische Einzelmensch als besondere Erscheinungsform der Gattung wird im Rahmen anthropologischer Zugangsweisen (hier der Charakteranalyse) als Sonderfall beschrieben. Biographisch interessant ist zwar stets der besondere Fall, das psychologische Rätsel, aber eben das Rätsel, das im Rahmen charakterlich-psychologischer Analyse auch gelöst werden kann. ‘Welthistorische Individuen’ müssen darum aus dieser Perspektive genausowenig für eine biographische Darstellung geeignet erscheinen wie die Ausnahmeerscheinung der Heroen, denn deren letzte Handlungsmotive sind gemäß den konkurrierenden Auffassungen überindividuell durch den Gang der Geschichte oder die göttliche Vorsehung bestimmt. (Möglicherweise ist in dieser Interessenlage neben den zeitgeschichtlichen Entwicklungen einer der Gründe dafür zu erkennen, daß sich das Interesse an den Gestalten ———————— 465 466
Ebd., S. 207. Rudolf Gottschall, Maximilian Robespierre. In: Der Neue Plutarch 2 (1875), S. 1–122.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
der jüngeren französischen Geschichte seit etwa 1830 stärker von Napoleon auf Robespierre oder Danton verlagerte: vom Heros zu den gemischten Charakteren der Revolutionstage.) Gottschall konzentriert sich in seiner Biographie, deren Umfang von 120 Druckseiten er übrigens in der Konkurrenz von Materialfülle und künstlerischer Darstellung wohl als Obergrenze für eine ästhetisch anspruchsvolle biographische Darstellung auffaßt,467 auf die charakterlichpsychische Seite Robespierres. Dabei reflektiert der Biograph stärker, als dies in biographischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts die Regel ist, auch die Kindheit Robespierres, um – quasi bevor diese durch die Zwänge der geschichtlichen Situation verdeckt werden –468 Aufschluß über die grundlegenden Charakterzüge zu erhalten.469 Die Authentizität seiner Feststellung, Robespierre sei einerseits durch »Herzensgüte und Milde«470 und andererseits durch »Kränklichkeit« und »nervöse Überreitzungen«471 aufgefallen, unterstützt er durch den Hinweis auf Aussagen der Schwester und eines Mitschülers Robespierres. Das psychologische Rätsel besteht allerdings nicht in dieser gemischten und widersprüchlichen Charakteranlage des Kindes und jungen Mannes, wenngleich die mehrfach betonte kränkliche und nervöse Anlage bereits auf die spätere Entwicklung verweisen könnte. Das gewichtige biographische Problem sieht Gottschall in dem bei äußerlicher Betrachtung unerklärlichen Wandel vom gemäßigten Mitglied der »Constituante« und Gegner der Todesstrafe, vom »Humanitätsapostel von 1791« zum »blutigen Terroristen von 1793«.472 Die Frage, ob Gottschall Robespierre damit gerecht wird und ob die Konzentration auf die Psyche angesichts der Verstrickung in den Gang der Französischen Revolution gerechtfertigt ist, braucht hier nicht weiter zu interessieren. Wichtiger erscheint mir die Konstruktion der Biographie. Zunächst wird in einer propositio ein allgemeines Problem skizziert: die Notwendigkeit einer charakterlichen Analyse historischer Persönlichkeiten, wenn ———————— 467 468
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470 471 472
Rudolf Gottschall, Vorwort des Herausgebers. In: Der Neue Plutarch 2 (1875), S. Vf. Gottschall, Maximilian Robespierre, S. 5f. – Gottschall spricht im Blick auf positive Charakterzüge des Kindes und jungen Mannes von »Charaktereigenschaften […], welche der verrufene Schreckensmann in seiner politischen Wirksamkeit verleugnete«. Gottschall und Schulze greifen sichtlich auf dasselbe Material zurück und unter Umständen hat Gottschall hier auch Schulzes Darstellung benutzt. Auch Schulze betont die Wichtigkeit der jedoch kaum verläßlich zu erlangenden Kenntnisse der Kindheit und Jugend zu einer »vollständigen Entwicklung des Charakters und der Gesinnungen des tiefverschlossenen Mannes, dessen eiserner Gang durch das Leben die grauenvollste Spur hinterließ« (Schulze, Robespierre, S. 1). Schulze übt dabei deutlicher als Gottschall Kritik an den Ausagen der Schwester und der Mitschüler, da diese erst im Nachhinein und schon in parteilicher Projektion auf die Kindheit und Jugend erfolgt seien. Gottschall, Maximilian Robespierre, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 18.
2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik
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deren Handeln Erklärungsschwierigkeiten bietet. Robespierre wird als ein solcher ‘dunkler Charakter’ in der Geschichte aufgefaßt. Da die eigentlichen historischen Ereignisse und vor allem das Lebensende Robespierres hinlänglich bekannt sind, kann über dieses psychologische Rätsel – die scheinbare Wandlung des Charakters –, dem Biograph und Leser detektorisch folgen, Spannung erzeugt werden. Der Ansatzpunkt seiner Biographie ist derselbe wie derjenige, den die Abendgesellschaft in Stifters Erzählung Zuversicht untersucht: Auch für Gottschall geht es darum, die Wandlung Robespierres im Verlauf der Revolutionsjahre aus seiner psychischen Anlage verständlich zu machen, und seine Erklärung dieser Wandlung stellt die Biographie nicht nur in die Traditionslinie der Charakteristiken Varnhagens oder Gutzkows, sondern entspricht zunächst auch der Diskussion in Stifters Erzählung:473 Es bedurfte einer großartigen Bewegung, welche in ihren Ueberstürzungen alle einzelnen mit fortriß, einer Bewegung, wie sie die Weltgeschichte nicht zum zweiten mal aufzuweisen hat, um aus dem Anwalt der Gerechtigkeit und Milde einen unerbittlichen Dictator zu machen, der die ganze Maschinerie des Schrekkens spielen ließ; es bedurfte dazu überdies gewisser Charaktereigenschaften, welche in friedlichern Zeiten gleichsam im Schlummer lagen, in Epochen gewaltiger Zuckungen aber ans Licht traten und jene ruhige Milde geistiger Erwägungen nicht aufkommen ließen.
Auch bei Gottschall (und im Gegensatz zu der ambivalenten Erklärung Schulzes) offenbart die ‘Schreckenszeit’ erst die Schwächen von Charakter und Gemüt, die auch vorher bereits vorhanden waren, aber nicht dieselbe Konsequenz hatten. Der Ansatz ähnelt Stifters Vorgehen, doch erscheint die Erzählung, in welcher die menschliche Konstitution letztlich in jedem Menschen potentiell bedrohlich ist, weit radikaler als die Biographie, in welcher dasselbe Grundproblem durch die individuelle Fassung als ein psychologisches Rätsel eher verdeckt wird. Gerade diese Gefahr, daß der besondere Einzelfall – besonders wenn er spektakulär oder skandalös erscheint – vom anthropologischen Grundproblem ablenken kann, könnte eine Erklärung für die Frage bieten, warum Stifter an die Stelle des historischen Romans eine knappe, eindrückliche anthropologische Erzählung stellte. Entsprechend Stifters Ausführungen zum Spektakulären in der Geschichte, welches die eigentliche Geschichte verdeckt, liegt auch in der spektakulären historischen Persönlichkeit das Risiko, die allgemeinen anthropologischen Probleme zu verdecken. Dabei zeigen sich zugleich die Grenzen einer biographischen Anthropologie gegenüber der literarischen Anthropologie freier Fiktionen: Die biographische Anthropologie ist an die Grenzen einer immer auch besonderen Fallgeschichte gebunden. ———————— 473
Ebd., S. 18f.
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2. Biographische Anthropologie im 19. Jahrhundert
Wie Stifter tendiert in diesem Fall auch Gottschall dazu, die Aufsehen erregenden Handlungen während der ‘Schreckenszeit’ als Ausdruck einer krankhaften Anlage oder momentan krankhaften Verfassung des Einzelmenschen (und nicht der Masse, wie dies Schulze andeutet) zu sehen. Robespierres Handlungen in den Terrorjahren der Revolution erscheinen als Ausdruck zumindest einer inneren Unausgeglichenheit, wenn nicht einer krankhaften Psyche (»krampfhafte Natur«):474 »Sein von den Idealen der Humanität erfüllter Geist wurde verwirrt durch die unheimlichen Eigenheiten seines Naturelles, das bei krampfhafter Erregtheit den Schreck- und Wahngebilden einer erhitzten Einbildungskraft preisgegeben war.«475 Im Sinn seiner Ausgangsfeststellung schildert Gottschall im weiteren Verlauf der biographischen Darstellung die Wandlung Robespierres als einen wechselseitigen Prozeß, in welchem die ungünstige Seite seiner inneren Anlage (besonders Mißtrauen) durch eine die negative Entwicklung begünstigende Umgebung immer bestimmender wird. Die Darstellung wird dabei auf das Drama des Charakters hin zugespitzt. Zum einen konzentriert sich die Biographie auf die Persönlichkeitsentwicklung, während der historische Hintergrund nur dann ausführlich geschildert wird, wenn er für diese relevant erscheint und besonders wenn er für die »Beurteilung seines Charakters […] von Wichtigkeit« ist,476 wie etwa die Frage nach Robespierres – von Gottschall gering veranschlagter – Mitschuld an den ‘Septembermorden’ von 1792. Zum anderen wird die Lebensdarstellung tatsächlich im Spannungsaufbau an eine Tragödie angelehnt, wenn Gottschall die Erzählung dramatisch – nahezu szenisch – bis zur Hinrichtung Robespierres zuspitzt, um nach der Katastrophe in einer conclusio die Charakteranalyse zusammenzufassen und das Rätsel (zumindest dem Anspruch des Biographen zufolge) zu lösen. Für die Deutung der historischen Gestalt ergeben sich dabei folgende Haupttendenzen: Robespierre erscheint als gemischter Charakter, dessen ausgeprägte negative Züge – »das Düstere, Gehässige, Neidische« –477 durch die Revolutionszeit begünstigt wurden. Gleichwohl aber betont Gottschall auch die positiven Eigenschaften wie »die Milde, die Humanität, die Blutscheu«,478 die ebenfalls immer wieder und selbst in den schlimmsten Revolutionszeiten hervorgetreten seien.479 Von den meisten – nicht von sämtli———————— 474 475 476 477 478 479
Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Ebd., S. 44. Ebd., S. 120. Ebd., S. 120. Auch bei Schulze wird zumindest eine positive Eigenschaft betont: die Unbestechlichkeit und Mäßigkeit Robespierres, der sich – im Gegensatz zu manchen Revolutionären – nie bereichert habe. Diese einzige positive Eigenschaft, welche Schulze anerkennt, ist der letz-
2.6. Maximilian Robespierre und die Aufgaben der Biographik
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chen – ihm zur Last gelegten Greueltaten spricht Gottschall Robespierre frei: Robespierre trägt für Gottschall letztlich vor allem die »Schuld seiner Epoche«.480 Wenn Gottschall so Robespierres Schuld durch den Hinweis auf Zeitumstände und Konstitution bedeutend mildert, ihn trotz der Einschränkung gar als unvergängliches Symbol der Demokratie bezeichnet,481 zeigt sich die Problematik der anthropologischen und psychologischen Biographik, denn gerade der Versuch, Handlungen psychisch erklärbar zu machen, führt auch dazu, persönliche Schuld zu tilgen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es in den Biographien zu einem guten Teil die historischen Umstände sind, welche die negativen Eigenschaften an einem Charakter zum Vorschein bringen. Das geläufige Wort, daß alles verstehen, alles verzeihen heiße, ist gegen die psychologische Biographik besonders im 20. Jahrhundert immer wieder ins Feld geführt worden. Vielleicht hat auch darum Stifter letztlich von dem historischen Roman über eine tatsächliche Gestalt der Schreckenszeit Abstand genommen, da aus seiner anthropologischen Perspektive die individuelle Schuld gegenüber der prinzipiell gefährdeten und gefährdenden conditio humana des Menschen ein eher sekundäres Problem darstellte, er jedoch bei einem RobespierreRoman gezwungen gewesen wäre, die Schuldfrage zu stellen. Gerade im Blick auf die in den folgenden Kapiteln vorgestellten pluralen anthropologischen Tendenzen und die mit ihnen verbundenen biographischen Entwicklungen erweist sich die biographisch-anthropologische Traditionslinie von Varnhagen bis zu Gottschall als die modernste biographische Entwicklung im 19. Jahrhundert, da hier nicht allein Fragestellungen, Perspektiven (und teils auch der künstlerische Anspruch) der späteren Entwicklungen vorweggenommen werden, sondern zugleich der Standort der Biographik im Gefüge der Diskurse sich etabliert: als individuelle Anthropologie, historische Psychologie und charakterkritische Historiographie.
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te Rest Humanität, der die conditio humana in seiner Auffassung auch bei der schrecklichsten Gestalt der Geschichte noch zum Ausdruck bringt. Schulze, Robespierre. Gottschall, Maximilian Robespierre, S. 122. Vgl. ebd., S. 122.
3. Anthropologische Biographik – Biologie, Pathologie und Psychologie der Helden, Forscher und Genies »Bis vor kurzer Zeit galt noch der Grundsatz, das Bild eines großen Künstlers müsse der Nachwelt fleckenlos erhalten bleiben[,] und die Biographen sahen ihre Hauptaufgabe darin, dunkle Punkte – oder was sie für dunkle Punkte hielten –, aus dem Leben ihrer ‘Helden’ zu entfernen und das Bild in tadellosem Glanze der Nachwelt zu überliefern. So hätten wir fast statt einer Galerie grosser Menschen eine Walhalla mit unnahbaren Göttern erhalten […].« (Wilhelm Stekel, Die Träume der Dichter 1912)
3.1. Entdeckung des Menschen und Vermenschlichung der Biographie »[…] wo immer der Mensch neu entdeckt wird, da hat die Biographie ihre große Zeit«1 – diese Feststellung von Günther Blöcker aus dem Jahr 1963 hätte längst zu einem Forschungsgebiet der Biographieforschung im Rahmen einer historischen literarischen Anthropologie ausgebaut werden können.2 Die Untersuchung biographischer Schreibformen ist in den deutschen Literaturwissenschaften nur zögerlich aufgenommen worden und hat sich lange der Beantwortung zentraler Forschungsfragen enthalten: etwa der Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Lebenslauf oder allgemeiner der Frage nach dem Verhältnis von biographischer Praxis zu anthropologischen, biologischen und psychologischen Erkenntnissen über die Kondition und Entwicklung eines jeden Menschen. Wenn solche Fragestellungen aufgegriffen worden sind, dann zumeist von den Wissenschaftshistorikern der beteiligten Fachdisziplinen, besonders der Psychologie und Psychiatrie, die sich mit der historischen Psychobiogra———————— 1 2
Blöcker, Biographie – Kunst oder Wissenschaft?, S. 69. Eine ausgreifende und fundierte Aufarbeitung anthropologischer Konzepte und ihrer wechselhaften Verhältnisse zur Erzählliteratur, die als wegweisend für die hier angesprochenen Fragestellungen zu gelten hat, liegt in der Habilitationsschrift von Horst Thomé vor: Thomé, Autonomes Ich und ‘Inneres Ausland’.
3.1. Entdeckung des Menschen und Vermenschlichung der Biographie
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phik und Pathographik kritisch auseinandergesetzt haben. Vor allem die Biographik im Zeichen Freuds fand hier Interesse, während nicht nur manche Neben- und Seitenwege unbeachtet blieben, sondern die weit allgemeinere Tendenz der ‘Vermenschlichung’ durch eine anthropologisch orientierte Biographik weitgehend vernachlässigt wurde, innerhalb derer die Psychologisierung nur einen Teilbereich bildet und an der die tiefenpsychologische Biographik einen – zunächst geringen – Anteil hat. So ist mit Blöckers Beobachtung von 1963 eine Aufgabe für die Literaturwissenschaften formuliert, die nach der Wiederentdeckung anthropologischer Fragestellungen in der Literaturwissenschaft3 nun der Bearbeitung harrt. Lebenslaufdarstellungen orientieren sich an historisch, sozial, regional differenten Konzepten von Individualität, Freiheit, Rationalität oder an deren jeweiligem Gegenteil: Dann zeugen sie etwa vom Primat der Geschichte vor dem einzelnen, von der Auflösung des einzelnen in Staat, Volk, Rasse oder Geschlecht, von seiner psychisch oder mythisch determinierten Irrationalität oder von seiner genetischen Vorbestimmtheit. Nicht selten vermischen sich wissenschaftlich auftretende Theorien und Erkenntnismodelle (Charakterologie, Psychologie, Biologie, auch Historik) mit popularen Vorstellungen und Traditionen der Mythisierung. Aus diesen Fragestellungen entstehen Biographien, die bereits auf die Krise eines vernunftethischen, liberalen, bürgerlichen Menschenbildes reagieren und Antworten auf die Frage nach der conditio humana des Menschen in lebensphilosophischen, biologischen, psychologischen, aber auch völkisch, rassisch, geschlechtlich argumentierenden Wissenssystemen suchen, also jenseits der sozialen und historischen Existenz des Menschen auch dessen spezifische Menschlichkeit in den Blick nehmen. Dabei wird in den beteiligten anthropologischen Diskursen – etwa unter dem einheitsbildenden Begriff des Lebens – 4 immer wieder auch der ‘ganze Mensch’ in den Blick genommen, das heißt seine psychophysische Einheit gegen die ‘Zergliederung’ des Menschen in der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung,5 gegen die Vergesellschaftung des Individuums oder gegen die ———————— 3 4
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Vgl. einführend: Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: WBG 2003, S. 41–65. Gerade dieser Begriff, der aus der medizinisch-naturwissenschaftlichen Forschung «als Kategorie eliminiert« worden war, wurde in eher weltanschaulichen und philosophischen anthropologischen Konzepten aktualisiert, welche sich gerade gegen ‘materialistische’ Tendenzen der Medizin und Naturwissenschaften wandten. Vgl. zum Kontext: Wolfgang Jacob, Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows. Stuttgart: Enke 1967, hier S. 135f. Der Begriff des ‘ganzen Menschen’ bestimmt schon im 18. Jahrhundert den Streit zwischen den Anthropologien mechanistischer, physiologischer oder eben Körper und Seele harmonisierender Ausrichtung; vgl.: Hans Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. An-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
lebensferne Mythisierung zu behaupten gesucht (Ostwalds energetische Lebenslaufkonzeption, Physiognomik, Charakterologie). Als Probleme für die Biographik erweisen sich das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen den allgemeinen anthropologischen Annahmen und der historischen Besonderheit und Individualität der biographierten Persönlichkeiten, die Tendenz zur ahistorisch-anthropologischen Betrachtungsweise des Menschen und der mögliche Vorwurf, die besondere Gestalt auf ein Jedermannsniveau herabzuziehen. Die Biographien, die in diesem Spannungsfeld entstehen, sind teils als wissenschaftliche Darstellungsformen, vor allem aber als Popularisierungsformen im Umkreis unterschiedlicher Disziplinen sowie überhaupt übergreifender Sichtweisen konzipiert. Vielen dieser Texte von Autoren wie dem Monisten Wilhelm Ostwald bis zum Erfolgsbiographen Stefan Zweig ist ein weltanschaulicher6 oder besser lebensanschaulicher Gestus zu eigen; denn die biographischen Darstellungen werden vor dem Hintergrund übergeordneter Annahmen einer Weltsicht oder Lebensauffassung von einem argumentativen Zentrum aus perspektiviert. Dabei werden wissenschaftliche Erfahrung, häufiger aber Lebenserfahrung und -auffassung zu den wichtigen Argumentationstopoi des biographischen Subjekts, welches dadurch – besonders im Fall der modernen Popularbiographen – das spekulative Abweichen von positivem Faktenwissen (historisch und naturwissenschaftlich) legitimieren bzw. dessen Fehlen spekulativ auffüllen kann. ————————
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thropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1982. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1994 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 15). – Im 19. Jh. verlagert sich die Anthropologie des ganzen Menschen stärker in seelenkundliche, diätetische, weltanschauliche und literarische oder theologische Bereiche, während sich Teilgebiete der Anthropologie stärker naturwissenschaftlich ausrichten. Die medizinische Anthropologie wird von anatomisch-pathologischen und physiologischen Fragestellungen bestimmt, die teils den Kontakt zum lebenden (und ‘ganzen’) Menschen (Diätetik, Therapie) zu verlieren scheinen (sogen. ‘therapeutischer Nihilismus’); die menschheitsgeschichtlichen Fragestellungen werden von Spezialgebieten wie der ‘Craniometrie’ geprägt. – Bezeichnend für diese Entwicklung sind etwa die fünf Vorlesungen, die Ernst v. Feuchtersleben 1849 noch in einem alle divergierenden Bereiche einschließenden Gestus verfaßte, in denen aber zugleich und nicht ohne ironische Seitenhiebe die Ergebnisse und Grenzen der ‘materialistischen’ Anthropologie vorstellt und den Vorrang der philosophisch-pragmatischen Betrachtungsweise für ein Konzept des ganzen Menschen und seiner Bestimmung behauptet. Bezeichnend sind ferner Adalbert Stifters Anmerkungen zu den Grenzen der wissenschaftlichen (Er)Kenntnis, die durch den Literaten als einen ‘Menschenforscher’ im Sinn einer literarischen Anthropologie überschritten werden könnten. Vgl. Feuchtersleben, Fünf Vorlesungen über Anthropologie. In: Pädagogische Schriften; ferner im Zusammenhang: Frühwald, Die Entdeckung des Leibs; Proß, Literatur und Anthropologie. Vgl. grundlegend hierzu: Horst Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Danneberg u. Vollhardt, Wissen in Literatur, S. 338–380, für den Zshg. vor allem die Ausführungen »Zum Konzept ‘Weltanschauung’«, S. 341ff.
3.1. Entdeckung des Menschen und Vermenschlichung der Biographie
189
Durch das gesamte 19. Jahrhundert hat es – um ein Schlagwort der breiten Diskussion um die moderne Biographik aufzugreifen – Tendenzen einer ‘Vermenschlichung’ der besonderen Persönlichkeit gegeben, die anderen Tendenzen von der Personalhistoriographie bis zur Idealisierung und Heroisierung der Einzelpersönlichkeit mitunter explizit entgegen gesetzt sind und gegenüber diesen entweder anthropologisch konstante Merkmale als allgemeinmenschliche Basis thematisieren oder psychische und physische Besonderheiten des Heros oder Genies auf dieser Basis begründen. Diese Tendenzen werden immer dort erkennbar, wo zur Erklärung der Erscheinung und des Charakters des besonderen Individuums dessen biologische und psychische Konstitution berücksichtigt wird und besonders wo auf der Basis solcher Annahmen Urteile über die biographierte Person gefällt werden. Nicht zuletzt wird dies deutlich in der biographischen Darstellung weiblicher Lebensläufe, die stark von Annahmen über die Eigenheit des weiblichen Geschlechts sowie von Erkenntnissen über geschlechtsspezifische Konstituenten der Person und deren Lebensentwicklungen geprägt sind.7 Dies gilt aber auch etwa für die Annahmen über die Bedeutung von Kindheitserfahrungen oder die Persönlichkeitsentwicklung im Alter, über den Einfluß von Krankheit und Wahnsinn auf Genialität oder die Beeinflussung des Charakters durch körperliche Defekte. Als wegbereitend für diese veränderte Wahrnehmung der bedeutenden Persönlichkeit können etwa die Schriften von Jacques Joseph Moreau de Tours (1804–1884) und Benedict Augustin Morel (1809–1873) oder aber die erfolgreiche Studie Genio e follia von Cesare Lombroso (1835– 1909) angesehen werden. Grundlegend für die Entwicklung in Deutschland war auch die Lehre der Psychophysik von Georg Theodor Fechner (1801–1887), der nachdrücklich auf die Verbindung geistiger und körperlicher Prozesse hinwies. Die Lehren von Lombroso griff Max Nordau (1849–1923; eigtl. Simon Maximilian Südfeld) auf, dessen Begriff der ‘Entartung’ die abnorme Psyche auch des genialischen Menschen bezeichnete. Viele dieser Autoren – wie schon Moreau de Tours und selbst noch die Lebenslaufforscher des 20. Jahrhunderts – greifen für ihre Studi———————— 7
An dieser Stelle können nicht ansatzweise die vielfältigen Thesen zur Frage nach der intellektuellen Geschlechterdifferenz benannt werden. Eine gewisse Bedeutung erlangten Möbius’ Studien über den ‘physiologischen Schwachsinn’ des weiblichen Geschlechtes oder über die abnorme mathematische Intelligenz einiger Frauen. Eine Evolutionsthese zur Geschlechterdifferenzierung formuliert dagegen Georg Sommer, der die Entwicklungsgeschichte der Frau zur Hausfrau (ähnlich der Domestizierung von Wildtieren zu Haustieren!) als Grund dafür ansieht, daß die Frau über breite Grundlagenfähigkeiten verfüge, aber nicht zur Ausbildung einer einseitigen Begabung als Grundlage der Genialität fähig sei. Georg Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. Leipzig u. Berlin: Teubner 1916 (Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-allgemeinverständlicher Darstellungen 512), S. 78f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
en auf prominentes biographisches Material zurück: »La psychologie, classique ou expérimentales, consomme du matériau biographique« (Madelénat).8 Aber auch eine eigene Gattung der biographischen Literatur, die Pathographie, entwickelte sich aus diesen Voraussetzungen. Insbesondere Paul J. Möbius (1853–1907) mit seinen pathographischen Studien zu Rousseau, Goethe oder Scheffel, Isidor Sadger (1867–1942) mit seinen Werken über Lenau und C. F. Meyer sind als deren frühe Vertreter zu nennen. Auch allgemeine Studien zur Charakterbildung und Charakterkunde wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) oder Ludwig Klages’ Prinzipien der Charakterologie (1910) haben Anteil an der veränderten Auffassung von der Konstitution des Menschen, des Individuums, der Person. Die Perspektive der ‘Vermenschlichung’ betrifft insbesondere das biographische Dogma von der Trennung öffentlicher und privater Persönlichkeit. Das weitgehende Verschweigen des Privaten und damit auch des Menschlichen hatte in unterschiedlichen Formen von der Personalhistoriographie über die Quellencollage bis hin zur Helden- und Tugendessayistik zu den Aufgaben der Biographen gezählt. Bereits der im Eingangskapitel zitierte Artikelverfasser im Ästhetischen Lexikon, der einerseits vor Beschönigungen warnt und Wahrheitstreue einfordert, setzt andererseits Grenzen, indem er fordert, man solle »nicht Anderer Schwächen schonungslos aufzudecken [suchen]«.9 Intimes, Skandalöses oder gar widersprüchliche Charakterzüge – die charakterlich, psychologisch und anthropologisch denkende und in diesem Sinn wegbereitende Biographen von Varnhagen von Ense bis Rudolf Gottschall als Signum des Menschlichen gelten ließen – wurden in der Darstellung zugunsten des Typischen und Repräsentativen, Privates wurde zugunsten des Öffentlichen häufig verdrängt. Für diese Biographien gilt in ähnlicher Weise, was Michael Shortland und Richard Yeo zusammenfassend über die viktorianische Biographik festgestellt haben: »These are lives in which neither illegitimate children nor adultery, neither mental anguish nor sexual peccadillo exists.«10 Diese Trennung der sozialen Position, der geschichtlichen Leistung und der charakterlichen Grundhaltung von der psychischen und physischen Konstitution, der biologischen Menschlichkeit der biographierten Persönlichkeiten wurde zunehmend fragwürdig. Als Reaktionen resultierten daraus Tendenzen sowohl der ‘Biologisierung’ der Bio———————— 8 9 10
Daniel Madelénat, La biographie. Paris: Presses Universitaires de France 1984 (Littératures Modernes 33), S. 101. Anonymus, Biographie. In: Ästhetisches Lexikon. Michael Shortland u. Richard Yeo, Introduction. In: Dies. (Hgg.): Telling lives in science. Essays on scientific biography. Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 1–44, hier S. 23.
3.1. Entdeckung des Menschen und Vermenschlichung der Biographie
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graphierten als auch – dieser Entwicklung gerade entgegengesetzt – ihrer vollkommenen Entmenschlichung zum idealisierten Mythos. Die deutlichste Gegenbewegung zur ‘Vermenschlichung’ der Biographierten und zugleich die extremste Form seiner Idealisierung stellte die mythisierende Geniebiographik dar, die im George-Kreis entstand. In diesen neohagiographischen Texten übertraf das Interesse an idealischen Statuen11 jedes Interesse an einer – wie auch immer gearteten – allgemeinen Menschlichkeit. Gerade nicht die historische oder menschliche Persönlichkeit sollte das Ziel der Arbeit sein, sondern – wie Ernst Bertram (1884–1957) in der Einleitung zu seiner Studie Nietzsche: Versuch einer Mythologie (1918) schrieb – die Arbeit an der ‘entzeitlichten’ Legende als »dichteste Gestaltwerdung der Seele […] ohne Erdenrest«.12 Der wichtigste Vertreter dieser Biographik, Friedrich Gundolf (1880–1931),13 kritisierte in einem Essay Dichter und Helden (1921) diejenigen Biographen, die sich bereits darum bemühten, die psychische und physische Humanität der historischen Gestalt nachzubilden:14 Wissenschaft und Literatur wetteifern darin[,] das Heroische zu »vermenschlichen«, wie sie es nennen, d.h. zu verheutigen, aktuell zu machen; nämlich eine adlige, ihnen nicht erlebbare und erreichbare Haltung gewaltiger Menschen zu begreifen als klassizistische Aufhöhung ihrer eignen Gewohnheiten und Gemeinheiten.
Demgegenüber propagierte Gundolf eine Verehrungsbiographie, die sich dem Großen in religiöser Andacht und nicht rational nähert. Diesen Verehrungsbiographien Gundolfs und anderer mußte der Blick hinter die Kulissen einer überlieferungsgeschichtlichen Heroisierung auf die ———————— 11
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Vgl. hierzu a.: Ulrich Raulff, Wäre ich Schriftsteller und tot… Vorläufige Gedanken über Biographik und Existenz. In: Hartmut Böhme u. Klaus R. Scherpe (Hgg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 (re 575), S. 187–204, bes. S. 198ff. Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Bondi 41920 [1918], S. 9. Bertram sieht die Aufgabe der Geschichte und Biographie darin, aus der Vergangenheit eine neue, höhere, entzeitlichte Wirklichkeit zu schaffen, die dem Anspruch nach keine »bewußte künstlerische Erfindung« (S. 4) sein dürfe, sondern einem gegebenen Mythisierungsprozeß folge: »Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten. Wir retten es nicht in unsere Zeit hinüber, wir machen es zeitlos. Indem wir es uns verdeutlichen, deuten wir es schon. Was von ihm bleibt, wie immer wir es zu erhellen, zu durchforschen, nachzuerleben uns bemühen, ist nie das Leben, sondern immer seine Legende.« (S. 1). – Zur Kritik an Bertrams Studie und zur Einordnung in den George-Kreis vgl. (trotz des einseitigen Urteils): Heinz Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme. Berlin u. New York: de Gruyter 1984 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 12), S. 134ff.; vgl. ferner zur Biographik der Georgeaner: Scheuer, Biographie, S. 112ff, bes. S. 132–141. Zu Gundolfs Biographik vgl.: Raulff, Wäre ich Schriftsteller und tot…, S. 197–203. Friedrich Gundolf, Dichter und Helden. In: Ders., Dichter und Helden. Heidelberg: Weiss’sche Universitätsbuchhandlung 1921, S. 23-58, hier S. 27.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Menschlichkeit der Biographierten oder auf die Konstruiertheit seiner Monumentalität fremd bleiben. Wenngleich in diesem Umfeld bedeutende Biographien entstanden, so blieb die Vollendung der Verherrlichungsbiographik doch eher ein elitäres Randphänomen. Auf breiter Linie wurde dagegen in der populären und popularisierenden Biographik wie auch in biologischen und psychologischen Ansätzen zu einer historischen Lebenslaufforschung die von Gundolf kritisierte Vermenschlichung betrieben. Das dabei zu umreißende Feld der Literatur ist von solchem Umfang, daß es keine vollständige Betrachtung erlaubt. Eine Vielzahl von Forschungen, zu denen nicht nur psychoanalytische, sondern auch charakterologische, biologische, genetische, rassische, völkische Arbeiten gehören, betonen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in unterschiedlicher Ausrichtung die partielle Determiniertheit des einzelnen Menschen durch allgemeinmenschliche Konstituenten und führen so zu einer Problematisierung und in der Regel zur kritischen Restitution der vernunftethischen oder liberalistischen Individualitätskonzepte, welche die Freiheit des selbstbestimmten Individuums durch selbsttätige Bildung und Ausbildung und die Autonomie seiner Vernunftentscheidungen behaupten. Allenfalls die sozialen Zwänge des Milieus, der staatlichen Ordnungen, der gesellschaftlichen Rücksichten, von denen die Literatur des deutschen Realismus vielfältig handelt, fanden hier Berücksichtigung. Die biographischen Autoren, denen sich das ‘Problem’ der Individualität auf sehr bodenständigem Niveau als konzeptionelles Schreibproblem stellt, nehmen mit ihren Werken in jedem Fall Teil an dieser Diskussion, auf die sie – zumeist nur implizit – reagieren. Dabei stellt sich auch das Problem, wie traditionell ebenfalls bestehende Tendenzen zur Idealisierung und Heroisierung mit der ‘Vermenschlichung’ in Einklang gebracht werden können. Die Autoren reagieren mit Strategien der Behauptung des Außerordentlichen oder seiner Integration in neue Menschenbilder. Eine solche Verbindung von idealisierender und vermenschlichender – hier ‘biologischer’ – Betrachtungsweise findet sich etwa in den Lebensbeschreibungen herausragender Erfinder des Monisten, Chemikers und Wissenschaftshistorikers Wilhelm Ostwald.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald) Als der Psychologe Carl Gustav Jung (1865–1961) 1921 seine Arbeit Psychologische Typen vorlegte, in welcher vor der Entwicklung eigener Überlegungen die Geschichte der typologischen Persönlichkeitsmodelle kritisch gesichtet wird, widmete er lediglich ein Nebenkapitel dem Großbereich der Biographik. Ein einziger biographischer Autor hatte nach seiner
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
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Meinung einen wesentlichen Beitrag zur Typologie geleistet: der Deutschbalte Wilhelm Ostwald (1853–1932).15 Ostwald wirkte zunächst am Polytechnikum in Riga und folgte 1887 einem Ruf an die Universität Leipzig, an welcher er bis 1906 lehrte. Danach zog er sich auf eigenen Wunsch von der Lehrtätigkeit zurück und lebte fortan als Privatgelehrter in Großbothen. Ostwald war bekannt für seine Forschungen u.a. über Katalyse und Isometrie, für die ihm 1909 der Nobelpreis verliehen wurde, und er hatte zahlreiche Schüler, unter ihnen wiederum mehrere spätere Nobelpreisträger. Neben seinen naturwissenschaftlichen Forschungen interessierte sich Ostwald für naturphilosophische und ‘kulturwissenschaftliche’ Fragen, die ihn auch in den von Ernst Haeckel gegründeten Monistenbund führten. Über die Fachgeschichte kam Ostwald zudem zur biographischen Forschung, an der ihn besonders die Frage nach der Genese und »Biologie« des forscherlichen Genies beschäftigte. Sie bildete den Gegenstand der biographisch orientierten wissenschaftshistorischen Vorlesung, die Ostwald unter dem Titel Grosse Männer (1909 u.ö.) in Buchform zusammenfaßte. Das Werk folgt der Vorlesungsstruktur und bietet eine allgemeine Grundlegung sowie Kurzbiographien von Humphry Davy, Julius Robert Mayer, Michael Faraday, Justus Liebig, Charles Gerhardt, Hermann Helmholtz u.a.16 C. G. Jung interessierte besonders Ostwalds binäre – teilweise von Justus Liebig beeinflußte – 17 Typologie der Forscherpersönlichkeiten, die er in den romantischen und den klassischen Typus einteilte.18 Tatsächlich ———————— 15
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Carl G. Jung, Psychologische Typen. Zürich: Rascher 13.–15. Tsd.1950 [11921], S. 437–448. – Zu Ostwald vgl. u.a.: Heinrich Scheel (Hg.), Internationales Symposium anläßlich des 125. Geburtstages von Wilhelm Ostwald. Berlin: Akademie 1979 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Mathematik – Naturwissenschaften – Technik 1979, 13/N); Regine Zott, Über Wilhelm Ostwalds wissenschaftshistorische Beiträge zum Problem des wissenschaftlichen Schöpfertums. In: Wilhelm Ostwald, Zur Geschichte der Wissenschaft. Vier Manuskripte aus dem Nachlaß. Mit einer Einführung und Anmerkungen von Regine Zott. Leipzig: Akademische Verlagsges. Geest & Portig 1985, S. 10–39. – Einzelne Abschnitte u. Gedanken des vorliegenden Ostwald-Kapitels wurden auf dem IVG-Kongreß (Wien 2000) vorgestellt. Vgl.: Christian v. Zimmermann, Biographie und Lebenslauf. Der Mythos der ‘Großen Männer’ und die biographischen Forschungen Wilhelm Ostwalds (1853–1932). In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongesses Wien 2000 »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«. Hg. von Peter Wiesinger. Bd. 9. Betreut von Ortrud Gutjahr, Manfred Engel u. Wolfgang Braungart. Bern etc.: Lang 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A/61), S. 323– 330. Wilhelm Ostwald, Grosse Männer. Leipzig: Akademisches Verlagsges. 3/41910 (Grosse Männer. Studien zur Biologie des Genies 1). Vgl.: Regine Zott, Zu W. Ostwalds und J. v. Liebigs Reflexionen über schöpferische Forscherpersönlichkeiten. In: Scheel, Internationales Symposium, S. 69–79. Diese Typologie entwickelte Ostwald zunächst in den Aufsätzen »Zur Biologie des Forschers I/II« (1907) und vertiefte sie dann an praktischen Beispielen in der Vorlesung »Grosse Männer«. – Wilhelm Ostwald, Zur Biologie des Forschers. In: Ders., Die Forde-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
stellte die binäre Typologie ein zentrales Ergebnis der Reihenuntersuchung Ostwalds dar, dessen biographisches Bemühen weniger auf die individuelle Erscheinung als auf die gesetzmäßige Bestimmung des Forschers gerichtet war. Hierin allein erkannte Ostwald ein wissenschaftliches Vorgehen, welches er vom »üblichen historisch-literarischen Betrieb« und seiner »abergläubischen Überschätzung der Einzelpersönlichkeit« in einer deutlichen Option für die ‘Vermenschlichung’ der herausragenden Persönlichkeit abgrenzte: »Denn für die Wissenschaft ist nicht das wichtig, wodurch sich der Einzelfall von allen anderen unterscheidet, sondern umgekehrt das, was er mit möglichst vielen anderen gemein hat.«19 Am Ende seiner Vorlesung formuliert Ostwald für die beiden Forschertypen grundlegende Merkmale, die er als »eine Anzahl naturwissenschaftlich begründeter Gesetze« auffaßt. Differenzierungskriterium ist die jeweilige »Reaktionsgeschwindigkeit ihres Geistes«.20 Der klassische Typus sei gekennzeichnet durch eine langsamere Entwicklung, durch das Bemühen um wissenschaftliche Exaktheit, durch die späte Vollendung sowie durch ein bescheidenes, fast hermetisch wirkendes Auftreten im persönlichen Umgang wie in der fachlichen Publizistik. Im Gegensatz dazu wird der romantische Typus als frühreif gekennzeichnet. Er suche und finde schnelle Anerkennung durch sein gewinnendes Wesen, publiziere in rascher Folge zu unterschiedlichen Themen, ohne auf die letzte Wahrheit seiner Darstellung Rücksicht zu nehmen. Auch als akademischer Lehrer sei er eher begeisternd. Allerdings wirke sich dieses Wesen des romantischen Typus dahingehend aus, daß seine Kräfte bald verbraucht seien, und er immer stärker an Ermüdungszuständen zu leiden habe. In dieser binären Typologie greift Ostwald auch auf die Temperamentenlehre zurück: Die Vertreter des romantischen Typus werden als »sanguinisch bis cholerisch«, die des klassischen als »phlegmatisch bis melancholisch« beschrieben.21 Im Zentrum der biographischen Studien in Ostwalds Grosse Männer steht der fünfte, Justus Liebig gewidmete Vorlesungsabschnitt,22 der zugleich das hervorragendste Beispiel Ostwalds für den romantischen Typus darstellt und den Ausgangspunkt für die hier zu formulierenden Beobachtungen zu Ostwalds Biographik bieten soll. Ostwald beginnt seine Darstellung ohne weitere Einführung mit dem initialen Lebenslaufereignis, der Geburt Liebigs. Die Schilderung von ———————— 19 20 21 22
rung des Tages. Leipzig: Akademische Verlagsges. 1910, Teil I: S. 282–299, Teil II: S. 300– 317. Ostwald, Grosse Männer, S. 18. Ebd., S. 371. Ebd., S. 372. Ebd., S. 154–219.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
195
Kindheit und Jugend beschränkt sich fast ausschließlich auf den Bildungsweg und die Experimentierstunden unter Anleitung des Vaters. Die frühe chemische Beschäftigung und das Scheitern Liebigs am Gymnasium weisen für Ostwald darauf, daß Liebig »frühreif« gewesen sei.23 Liebig habe spielerisch und jenseits der klassischen Schulbildung seine Interessen verfolgt und habe durch seine gewinnende Art frühzeitig Förderer begeistern können, die schließlich dem Schulabbrecher gar ein Hochschulamt vermitteln konnten.24 Hier wird deutlich, daß Ostwald Liebig als Exempel für institutionskritische Anliegen nimmt, die gegenwarts- und zukunftsorientiert sind. Die Verteidigung der unterforderten Hochbegabten und daher auffälligen Schüler sowie der akademischen Seiteneinsteiger gegenüber einer bildungspolitischen Systemblindheit gehört zu den gewichtigen Nebenanliegen von Ostwalds Biographik. Hochbegabung werde an der Schule häufig nicht erkannt und führe dadurch auch zum Scheitern:25 Das Ideal der Schule ist der stille, fleissige und vor allen Dingen gehorsame Knabe, der gleichförmig in allen Fächern das »Klassenziel« erreicht und dem Lehrer nach keiner Hinsicht Mühe macht. Aber wenn sich Gelegenheit bietet, einen Blick in die Schulzeit der späteren ganz grossen Männer zu tun, so erfahren wir, wie ausserordentlich häufig diese die Schmach ihrer Klasse, die Sorge ihrer Lehrer und jedenfalls höchst unbefriedigende Schüler gewesen sind. Man darf hier nicht mit dem Einwande kommen, dass es sich um Ausnahmen handelt. Wenn der übliche Schulbetrieb so gänzlich an denen versagt, die zu den grössten Leistungen geboren sind, so kann man vernünftigerweise daraus nur schliessen, dass er bei den Mittelmässigen noch kläglichere Folgen erzielt, nur dass diese nicht sich widersetzen und daher ihren Weg in Frieden machen.
Liebig, der nie einen Schulabschluß machte, wird Ostwald für diese bereits in einem früheren Aufsatz formulierte These zum Beispiel. Die negativen Konsequenzen seien nur deswegen ausgeblieben, da der Universitätsbesuch zu jener Zeit noch nicht in jedem Fall einen Schulabschluß vorausgesetzt habe – eine Zugangsbeschränkung, die Ostwald konsequent in Folge seiner negativen Sicht der Schule ablehnt. Bereits die Schilderung der Jugend und frühen Erfolge zeigt, daß Ostwald Justus Liebig als einen Vertreter des romantischen Typus inter———————— 23 24
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Ebd., S. 155. »Da damals die Unvernunft, nur junge Leute, die das Abiturientenexamen bestanden haben, zum Universitätsstudium zuzulassen, noch nicht so wie heute grassierte, so machte es keine Schwierigkeiten.« Ebd., S. 156. Ostwald, Zur Biologie des Forschers II, S. 306f. – Gegen Ostwalds Verteidigung der schlechten Schüler wenden sich Apologeten des Ausleseprinzips Schule. Josef Somogyi etwa wendet ein, es bestehe schlichtweg ein statistischer Zusammenhang zwischen »Schulbewährung und Lebensbewährung« (S. 489). Auf Einzelfälle könne da keine Rücksicht genommen werden (S. 494). Josef Somogyi, Begabung im Lichte der Eugenik. Forschungen über Biologie, Psychologie und Soziologie der Begabung. Leipzig u. Wien: Deuticke 1936.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
pretiert, wie dies auch explizit ausgeführt wird. Liebig habe, so heißt es dort, »die bei großen Männern des romantischen Typus oft beobachtete Fähigkeit, starke persönliche Eindrücke fesselnder Art auszuüben«.26 Er sei »wieder ein Beispiel der charakteristischen Frühreife der großen Männer, insbesondere des romantischen Typus«.27 Als konzeptionell ausgesprochen glücklich erweist es sich, daß Ostwald dem ‘romantischen’ Liebig zwei Vertreter des ‘klassischen Typus’ gegenüberstellt, die als »minor characters« die biographische Konstruktion stützen:28 Liebigs Kritiker und späteren Gegner Jöns Berzelius29 sowie seinen Freund und Kollegen Friedrich Wöhler.30 Immer wieder kann Ostwald so die typologische Charakteristik Liebigs im Vergleich herausarbeiten, wie etwa in der folgenden Bestimmung der durch den Typus bedingten Arbeitsweise: Man sieht auch ferner Liebigs eigentliche Begabung: Sie liegt in der Zusammenfassung von nahezu bereit liegendem Material zu einem glänzenden Ganzen. Unter seinen Entdeckungen einzelner Stoffe oder Reaktionen läßt sich kaum eine angeben, welche erhebliche Folgen für die Wissenschaft und Technik gehabt hätte, wie dies z. B. bei Wöhler reichlich der Fall war. [etc.]
Solche Vergleichsbildungen, durch die Ostwald immer wieder Differenzen zu Vertretern des klassischen und Ähnlichkeiten zu solchen des romantischen Typus aufweist, unterstreichen rhetorisch das typologische Darstellungsinteresse, demzufolge auch das sich Wiederholende und daher Typische bedeutender erscheint als das Einzelphänomen: »Das ganz Individuelle ist in solchem Sinn gerade das Unwichtigste, das Zufälligste.«31 Auch zu anerkannten Größen der Geschichte werden Vergleiche hergestellt, welche typische Verhaltensweisen und Lebenssituationen durch die Gruppenbildung unterstreichen: Eine Anekdote um Liebig »erinnert an die vom jungen Mozart«;32 Liebig war ein hochbegabter gescheiterter Schüler wie »G. G. Gervinus«;33 die Freundschaft zwischen Liebig und Wöhler ähnelt der »Freundschaft zwischen Goethe und Schiller«34 usf. Ostwald sieht die Typen jedoch nicht als konstante Merkmalskonstellationen, die sich im Leben des Menschen nicht verändern. Die Persönlichkeitstypen sind vielmehr als Formen der Persönlichkeitsentwicklung ———————— 26 27 28
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Ostwald, Grosse Männer, S. 157. Ebd., S. 161. Zur Profilierung biographierter Persönlichkeiten durch solche ‘minor characters’ vgl.: Judith Mara Gutman, On Biography: the Case for Minor Characters. In: Biography and Source Studies 2 (1996), S. 37–51. Ostwald, Grosse Männer, S. 190. Ebd., S. 170. Ebd., S. 20. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 170.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
197
anzusehen, die in unterschiedlichen Lebensphasen veränderte Persönlichkeitsmerkmale ergeben. An den Schnittstellen dieser Lebensphasen unterbricht Ostwald jeweils die Erzählung des wissenschaftlichen Werdegangs und privaten Lebenslaufs, um die »persönliche Entwicklung« des Biographierten summarisch darzustellen.35 Dem raschen Erfolg der frühen Lebensphase, der trotz vielseitiger Förderungen außerordentliche Anstrengungen erforderte, seien im 30. Lebensjahr zunehmende Erschöpfungszustände gefolgt, die Ostwald als »Symptome der beginnenden Neurasthenie« beschreibt, deren wichtigste Kennzeichen: erhöhte psychische Erregbarkeit und körperliche Erschöpfbarkeit, aus Selbstzeugnissen Liebigs belegt werden.36 Diese Entwicklung vom frühreifen Erfolgschemiker zum reizbaren Neurastheniker sieht Ostwald als bezeichnend für den romantischen Forschertypus an, der seine Kräfte früher aufzehre als der klassische Typus. Hieraus läßt sich erkennen, daß die Grundlage psychischer Veränderungen und überhaupt der Persönlichkeitsentwicklung physischer Natur ist: Ostwald geht von einem bestimmten (‘ererbten’)37 ‘Kräftevorrat’ des Menschen aus, der im Lauf des Lebens gemäß der jeweiligen Lebensintensität allmählich verbraucht werde und durch bestimmte Lebensweisen erneuert werden müsse.38 Dies sind geläufige Vorstellungen, die bereits die Grundlage der ‘Makrobiotik’ Hufelands bildeten, dessen Vorstellungen von einer Regeneration der Lebenskräfte durch Reisen und Entspannung auch von Ostwald diskutiert werden. Doch zieht Ostwald daraus weitreichendere biographische Schlußfolgerungen. So führt er positiv aus, frühe Förderung bewirke ein ‘Aufsparen’ der Energien,39 die später sinnvoller eingesetzt werden könnten, andererseits vermutet er gerade in dem mangelnden Widerstand und im daraus resultierenden »Energieüberschuß« einen Grund für die Freude an öffentlich geführten polemischen Abkanzelungen von Forscherkollegen.40 Weiterhin erkennt er beim romantischen Forschertypus – und exemplarisch bei Liebig – die früh ausgeprägte Nei———————— 35 36 37 38
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Ebd., S. 180. Ebd., S. 180. Ostwald weist auf die »Abstammung aus dem ‘Volke’« hin, die einen besonders großen »Energievorrat« mit sich bringe. Ebd., S. 214. Dabei spielt übrigens eine kräftige oder schwächliche Ausgangsdisposition des Kindes oder Jugendlichen keine entscheidende Rolle, sondern der Kräftehaushalt in der Lebensführung. Ostwald, Grosse Männer, S. 216. – Als Beispiel für ein gelungenes Kräftemanagement wird besonders Helmholtz genannt, der trotz einer schwächlichen Konstitution bis ins Alter Kraft und Leistungsfähigkeit habe erhalten können (ebd., S. 303ff.). Ebd., S. 218. – Ostwald betont hier zwar einerseits, daß die polemische Art Liebigs als ‘Überschuß’ zu entschuldigen sei, andererseits weist er wiederholt darauf hin, daß es sich nicht selten um Irrtümer Liebigs gehandelt habe, deren polemischer Vortrag nur auf den Forscher selbst zurückfalle.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
gung zur Lehrtätigkeit und zur Förderung eines großen Schülerkreises. Doch auch die hierzu notwendigen Kräfte seien beschränkt und verbrauchten sich im Lauf des Lebens. Der begeisterte Lehrer Liebig zeige im Alter von 47 Jahren eine vollständige Unlust zum Unterrichten. Ostwald folgert:41 Ich habe schon bei früherer Gelegenheit die Vermutung ausgesprochen, daß es sich hier um einen physiologischen Verbrauch derjenigen Gehirnpartien handelt, welche beim Praktikantenunterricht, wie ihn Liebig zu betreiben pflegte, ganz besonders stark beansprucht worden waren.
Ostwalds Ausführungen zu diesem einerseits allgemein-biologischen andererseits typusbedingten Lebenslaufprozeß münden in die Forderung nach einer flexiblen Verwendung der Hochschulprofessoren, durch welche die jeweils günstigste Förderung (und Nutzung) ihrer Fähigkeiten erreicht werden könnte.42 In Liebigs Lebenslauf hat der glückliche Zufall diese Flexibilität ersetzt, was den Chemiker zum Musterfall einer solchen Forscherbiographie macht. Liebig folgte in der zweiten Lebenshälfte einem Ruf an die Universität München, an der er von jeder Praktikantenausbildung (nicht von der Vorlesungsverpflichtung) befreit war.43 Dies habe ihm »eine Art zweiter Jugend«44 beschert, da er sich nun von der forscherlichen Laborarbeit abwenden und der literarischen Tätigkeit widmen konnte. Ostwald sieht so im Alterungsprozeß einerseits einen zunehmenden Verfall der Kräfte, doch wird diese negative Entwicklung bis ins hohe Alter immer wieder aufgefangen durch die Verlagerung der Tätigkeit auf andere Gebiete. In der letzten Lebensphase, deren Eintritt Ostwald bei Liebig an einem Interessenwandel im Alter von 60 Jahren feststellt,45 wachse schließlich das Bedürfnis einerseits nach zusammenfassender
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Ebd., S. 196f. Vgl.: Ostwald, Zur Biologie des Forschers II, S. 309ff. – Wilhelm Ostwald geht von einer Abnutzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten aus; besonders bei ausgeprägten Forscherpersönlichkeiten mache sich die einseitige Belastung der organischen und energetischen Ressourcen bemerkbar. Allerdings könnten durch eine Verlagerung der Arbeit auf neue Gegenstände und Fähigkeiten bisher ungenutzte Gehirnpartien aktiviert werden. »[…]; dieser Umstand ist für die sachgemäße Lebensgestaltung derartiger Forscher von der größten Bedeutung, sei es nun, daß es sich um eigne Entschlüsse oder solche der zuständigen Unterrichtsbehörden handelt. Nur dadurch, daß man den großen Männern für die zweite Periode ihres Lebens diese in der Jugend so gern getragene Last abnimmt, und sie andern bereit stehenden jugendlichen Schultern übergibt, kann man dauernde große Erfolge in der Lehrtätigkeit einer höheren Lehranstalt erzielen.« Ostwald, Grosse Männer, S. 200. – Vgl. hierzu unten. Ebd., S. 199. Ebd., S. 209.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
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Rückschau,46 andererseits nach Auszeichnung und Würdigung der eigenen Arbeit.47 Die Biographie Liebigs wird mit einer allgemeinen Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen, welche die entscheidenden Entwicklungszüge zusammenfaßt. Dabei beschreibt Ostwald im Einklang mit seinem Anliegen, die ‘Biologie’ des Forschers zu erkunden, zunächst die »energetische Charakteristik« Liebigs: die Herkunft seines ererbten Energievorrates, den Kräftehaushalt (Ernährung, Geselligkeit, Schlaf, Krankheiten). Daran schließt sich eine Betrachtung über das »Gesamtbild von Liebigs Persönlichkeit« an, die im wesentlichen die Typus-Charakteristik wiederholt und aus dem ‘Energiehaushalt’ wichtige Eigenarten der Persönlichkeit begründet. C. G. Jung hat grundsätzlich Ostwalds Differenzierung beider Typen und namentlich vielen präzisen Einzelbeobachtungen zugestimmt, ihre Begründung auf der Basis der jeweiligen mentalen Reaktionsgeschwindigkeit allerdings abgelehnt.48 Jung favorisiert dagegen die Unterscheidung von introvertiertem und extrovertiertem Typus, der seine Reaktion nach innen bzw. nach außen entfaltet. Ostwalds Vorgehensweise und zugleich seine Kritik an der bisherigen Biographik gründet auf der Vorstellung, eine historische Biographie könne in weitgehender Annäherung an die empirisch-wissenschaftliche Exaktheit naturwissenschaftlicher Forschungen verfaßt werden. Allerdings folgt er explizit nicht den wissenschaftlichen Forderungen der Fechnerschen »Psychophysik« oder der »Anthropologie« (etwa Francis Galton).49 Die eigene Erfahrung 50 und Erkenntnisse der »Popularpsychologie« möchte Ostwald an die Stelle der Theoriebildung zur Grundlage seiner »psychographischen Rekonstruktion« erheben,51 so etwa ein allgemeines Lebenslaufmodell, das Annahmen über die konkrete Lebensentwicklung des Biographierten ermöglicht: »Zum Beispiel, daß er immer älter und deshalb nach Überschreitung eines gewissen Alters auch geistig stumpfer und beschränkter werden wird […].«52 Obwohl schon die Anthropologie der Goethezeit – in Anlehnung an die Lebensaltertradition – von einem vierstufigen Entwicklungsmodell – Kindheit / Jugend / Erwachsenenalter ———————— 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., S. 212. Ebd., S. 211. – Allerdings wird Liebigs Zurückhaltung in diesem Punkt positiv hervorgehoben. Jung, Psychologische Typen. Ostwald, Grosse Männer, S. 8. Vgl. auch Wilhelm Ostwald, Psychologis [!] und Biographie. [Einleitung.] In: Ostwald, Forderung des Tages, S. 211–216, bes. S. 215. Ostwald, Grosse Männer, S. 9. Ebd., S. 13.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
(‘Mannesalter’) / Greisenalter – 53 ausging, wurden hieraus in den Biographien, die in der Regel eher einem antiken Alterslob als Phase der Weisheit und Besonnenheit folgen,54 nicht entsprechende Konsequenzen gezogen.55 Gegenüber den anthropologischen Annahmen von einem negativ beschriebenen Greisenalter56 bevorzugt die biographische Literatur in Ostwalds Sicht eine Mythisierung der Lebensphasen als Aufstiegsmodell ohne Umkehr. Begünstigt wird die Tendenz zu einer ehrfürchtigen Behandlung des Alters in den Texten freilich auch durch eine dispositionelle Eigenheit der Biographien im 19. Jahrhundert, da in diesen regelmäßig am Ende der Darstellung – häufig vor der Schilderung der Todesumstände – eine umfassende Würdigung der geschichtlichen Leistung, der Gesinnung oder des Charakters der biographierten Persönlichkeit erwartet wird, welche in eine rhetorisch problematische Spannung zur Beschreibung von negativen Alterserscheinungen treten könnte. Ostwald dient diese Kritik der Biographik freilich auch zu einem pragmatischen Ziel, wenn er anregt, das österreichische Vorbild zu übernehmen, demgemäß Professoren in einem bestimmten Alter aus ihrem Amt entfernt würden, um es an Jüngere weiterzugeben. Und er macht konkrete Vorschläge zu einer Beschäftigungspolitik, die durch eine flexi———————— 53
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Vgl. hierzu jetzt den aus den anthropologischen und juridischen Grundlagenwerken geschöpften Überblick bei: Michael Titzmann, Die »Bildungs-« / Initiationsgeschichte, hier S. 34. – Titzmann zeigt sowohl, daß mitunter eine verminderte Straffähigkeit des Greisenalters in Gesetzestexten berücksichtigt wird (S. 33), als auch die weitgehende Uneinheitlichkeit der Lebenslaufkonzeptionen im anthropologischen Diskurs (S. 34f.). – Vgl. a. den Artikel: Lebensalter. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon (141892–97), Bd. 10, S. 1035. Hier werden zusätzlich ein Fötusalter und ein Säuglingsalter genannt, die in den Lebensbeschreibungen nicht relevant werden; teils werden diese frühen Lebensalter auch der Phase der Kindheit untergeordnet (vgl.: Kind. In: Ebd., S. 337f.). Vgl. knapp: Joachim Latacz, »Blüte der Besonnenheit …«. In: Forschung und Lehre (1997), H. 2, S. 70. Bereits vor den biographischen Studien hat Wilhelm Ostwald das weitgehende Fehlen einer physiologischen Altersforschung beklagt. Vgl.: Wilhelm Ostwald, Persönlichkeit und Unsterblichkeit. (1905.) In: Ostwald, Forderung des Tages, S. 234–264, hier S. 257. – Auch Titzmann kommt zu dem Ergebnis, daß es zum Alter kaum spezifische Ausführungen gab und vor allem im anthropologischen Diskurs die Definition des Alters als Negation der Eigenschaften des Erwachsenen unvermittelt neben derjenigen als Phase der Weisheit besteht. Titzmann, »Bildungs-« / Initiationsgeschichte, S. 40f. – Freilich wäre gegen Ostwald auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende medizinisch-pathologische Beschäftigung mit den ‘Krankheiten des Greisenalters’ hinzuweisen: Maxime Durand-Fardel, Handbuch der Krankheiten des Greisenalters. Aus dem Franz. übertr. und mit Zusätzen vers. von D. Ullmann. Würzburg: Stahel 1858; Lorenz Geist, Clinik der Greisenkrankheiten. Erlangen: Enke 1860. Vgl. zum Lexikonwissen etwa: Greis. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon (141892–97), Bd. 8, S. 299f. Das Greisenalter wird als die Phase der Abnahme körperlicher und geistiger Fähigkeiten beschrieben, die beim Mann zwischen dem 50. und 60., bei der Frau zwischen dem 40. und 55. Lebensjahr einsetze.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
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ble Zuordnung der Aufgabenfelder der Lebensentwicklung des Hochschullehrers Rechnung tragen sollte.57 Auch die traditionelle Biographik wird von Ostwald auf dieser Basis kritisiert, da die lebensferne Mythisierung der Größe als eine Erscheinung, die nicht mit der Elle der Allgemeinheit gemessen werden könne, die Anwendung dieses Lebenslaufmodells auf bedeutende Persönlichkeiten in der populären Biographik behindert habe:58 Nun aber vergleiche man einmal die populäre Auffassung vom Wesen der großen Männer mit diesem allgemeinen Gesetz! Es klingt wie eine unverzeihliche Rohheit, wenn man behauptet, daß die Intelligenz eines großen Mannes, der sagen wir, fünfundsiebzig Jahre alt geworden ist, nunmehr sehr viel geringer ist, als sie vor dreißig Jahren war. Wir wagen nicht, die sichersten und allgemeinsten Gesetze auf solche Erscheinungen anzuwenden, und keinem Biographen fällt es ein, etwa die regelmäßige Abnahme der geistigen Kräfte seines alt werdenden Helden zuzugeben, geschweige denn zu beschreiben und zu belegen.
Dabei betont Ostwald, daß gerade die außerordentlich produktiven Forscher nicht nur auch dem normalen Alterungsprozeß unterworfen sind, sondern daß dieser Prozeß aufgrund des höheren Kräfteverbrauchs auch früher einsetze und umfassender verlaufe.59 Ostwald weist auf eine grundlegende Bedingtheit biographischen Schreibens hin: Die biographische Routine wird nicht allein bestimmt durch die Interpretation von Lebenslaufereignissen oder durch die kulturspezifischen Vorgaben existenter Lebenslaufmodelle und Menschenbilder. Soziale Verhaltensnormen wie etwa Rücksichtnahmen, Höflichkeitsanforderungen oder Respektgebote, denen sich der Biograph verpflichtet, Denkroutinen und traditionelle Mythographien – wie etwa die Heroisierung – überlagern die Erzählung des Lebenslaufes. Ostwald erklärt das Verschweigen der Alterserscheinungen mit der Verehrung und Dankbarkeit mancher biographischer Autoren gegenüber der dargestellten Person sowie mit der Verwandtschaft der Biographie zum »Nekrolog———————— 57
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Dabei erhoffte er sich insbesondere eine Anpassung der Beschäftigungsverhältnisse an die je nach Forschertypus erwartbare Entwicklung. Rückblickend stellte er 1923 fest: »Von den Ergebnissen [der biographischen Untersuchungen] sei hier nur die Entdeckung der beiden Typen Klassiker und Romantiker erwähnt […]. Die Einteilung ist oft seitdem von anderen zur Kennzeichnung einzelner Forscher benutzt worden […]. Die von mir dargelegte Bedeutung der Kennzeichnung für die Wissenschaftspolitik scheint allerdings noch nicht erkannt zu sein.« Wilhelm Ostwald, Wilhelm Ostwald. In: Raymund Schmidt (Hg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 4. Leipzig: Felix Meiner 1923, S. 1[= 127]–35[=161], hier S. 14f.[=140f.]. Ostwald, Grosse Männer, S. 13. Ebd., S. 149f. – In diesem Zusammenhang betont Ostwald, daß eine anatomische Hirnforschung, die sich darauf beschränken müsse, ‘verbrauchte’ Gehirne zu studieren, eben deswegen nicht zu einer Erkenntnis des produktiven und ‘genialen’ Gehirns gelangen könne (ebd.).
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stil«,60 der daher rühre, daß die Biographie häufig von Weggefährten, Schülern oder geistigen Nachfolgern geschrieben werde, die eine pathetische Redewirkung bezweckten, nicht aber die wissenschaftliche Analyse. 61 Dem wäre zum einen hinzuzufügen, daß in der traditionellen Biographik zwischen Privatheit und Öffentlichkeit des Menschen unterschieden wird. Alterserscheinungen werden wie generell Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit einem privaten Bereich zugeordnet, der den Biographen nicht interessieren darf und nicht zur Klärung seines öffentlichen Auftretens und seines Charakters herangezogen wurde. Zum anderen ist zu ergänzen, daß die psycho-physiologische Betrachtung hervorragender Persönlichkeiten schon deshalb Probleme aufwarf, da hierdurch die intellektuelle Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums in Frage gestellt war – in den Worten von Birgit Hoppe und Christoph Wulf: »Altern impliziert das Scheitern des cartesianischen Prinzips: Die Erkenntnis, daß der Geist nicht obsiegt!«62 Das hier offensichtlich werdende Problem ist bislang noch kaum untersucht worden: Obwohl Darstellungen über den Verfall der geistigen und körperlichen Kräfte im hohen Alter seit der Antike bekannt sind, werden diese Kenntnisse kaum zur Beschreibung eines individuellen Lebenslaufes hervorragender Persönlichkeiten in der Biographie genutzt. Zwei Beschreibungsroutinen sind erkennbar, die hierfür Gründe geben können: zum einen das Bildungsromankonzept, welches den Individuationsprozeß als Bildung des Urteilsvermögens und als Sozialisation beschreibt, zum anderen der bereits angesprochene Mythos der Exzeptionalität. Im ersten Modell kann das Alter letztlich nur konnotiert werden als Stadium der Weisheit, denn die Umkehr der Individuation im Verfallsprozeß würde zugleich das humanistische Bildungs- und Gesellschaftskonzept in Frage stellen, welches Ostwald auch tatsächlich als überholt kritisiert. Im zweiten Fall gilt die Darstellung körperlicher Gebrechen als Herabwürdigung einer Erscheinung, die – wie etwa Thomas Carlyle wirkungsmächtig vertrat – göttlicher Vorsehung entspringt und deshalb menschlichen Maßstäben unzugänglich ist. Man wünsche, so heißt es bei Ostwald, »den Wohltätern der Menschheit die Freiheit von den natürlichen Lasten der Menschlichkeit«, aber man könne diese nicht gewähren, indem »man so tut, als hätten jene Gesetze keine Gewalt über ———————— 60
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Ebd., S. 15. – Diese Beobachtung Ostwalds ist vor dem Hintergrund der seit dem beginnenden 19. Jh. bestehenden Tradition der Freundes- und Denkmalsbiographik (s.o.) nicht ganz von der Hand zu weisen. Aus diesem Grunde seien Biographien für die psychologische Betrachtung auch unzureichende Quellen. Der wissenschaftliche Biograph müsse vielmehr auf Korrespondenzen, Tagebücher und andere Primärquellen zurückgreifen. Birgit Hoppe u. Christoph Wulf, Alter. In: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim u. Basel: Beltz 1997, S. 398–403, hier S. 400.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
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sie«.63 Damit stellt Ostwalds Biographik einen durchaus beachtlichen Schritt in Richtung auf eine Entmythisierung und Enthierachisierung der Lebenslaufmodelle hin zu einer »Normalbiographie« dar,64 zu einem Lebenslaufmodell also, welches die jedem menschlichen Lebenslauf zugrundeliegende Lebensentwicklung beschreibt. Ein eigentlicher Durchbruch in der Erforschung biologischer und biographischer Lebensverläufe erfolgte freilich erst durch die Arbeit der Wiener Professorin Charlotte Bühler (Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, 1933).65 So sehr allerdings Ostwalds energetischer Ansatz zur Lebenslaufdeutung den Blick für Alterserscheinungen schärft, so wenig taugt sein Konzept zur Beschreibung anderer Lebensphasen wie der Kindheit und Jugend, die Ostwald in den einzelnen Biographien in wenigen Absätzen abhandelt. Die energetische Betrachtungsweise führt zu einer Abwertung sozialer und pädagogischer Einflüsse gegenüber der Selbstverwirklichungskraft des einzelnen. Von den Bildungsinstitutionen forderte Ostwald dementsprechend mit Nachdruck, daß sie nicht Bildungsballast weiterreichen, sondern selbständiges Denken ermöglichen und fördern sollten: »Das Wissen ist in erster Linie, [!] um das Wissen von der Natur zu orientieren, und die Richtung der Charakterentwicklung soll die Freiheit des Denkens und der Gesinnung sein.«66 Die Kindheit wird wesentlich an der Frage gemessen, ob durch Widerstände im familiären Umfeld energetische Reibungsverluste aufgetreten sind oder nicht. Die Jugend gilt zusätzlich als Durchbruchphase, wobei zwar Orientierungspunkte in Lehrerpersönlichkeiten von Ostwald anerkannt werden, aber letztlich nicht äußere Faktoren, sondern die Verwirklichung der Anlagen entscheidend ist.67 Ostwalds Sichtweise korre———————— 63 64
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Ostwald, Grosse Männer, S. 13, vgl. zu Liebig etwa S. 197. »Normalbiographie meint, daß alle Menschen einer Gesellschaft – bei allen Unterschieden im Detail – unabhängig von ihrer jeweils lokalen und sozialen Herkunft bestimmte und gleiche Lebensphasen durchlaufen, für die es jeweils einheitliche Anforderungen gibt.« Gert Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Michael Mitterauer. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1996, S. 102. – In der Geschichtswissenschaft wird der Begriff ‘Normalbiographie’ mitunter für die Biographie sogen. ‘normaler’ Menschen im Gegensatz zur Biographie der Ausnahmepersönlichkeit verwendet. Ich würde demgegenüber eine Differenzierung zwischen Normal- und Ausnahmebiographie vorziehen, welche Normalität und Exzeptionalität als Resultat spezifischer Argumentationsstrategien und Darstellungsverfahren bezeichnet. Diese hätte sich dann an den Wortgebrauch in der Historischen Anthropologie anzuschließen. Charlotte Bühler, Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Leipzig: Hirzel 1933 (Psychologische Monographien 4). Schlußworte der Vorlesung: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. Leipzig: Klinkhardt 1909 (Philosophisch-soziologische Bücherei 16), S. 184. Ostwald sieht im Lebenslauf zwei konträre Entwicklungen: ein allmähliches Schwinden des Lebenspotentials und eine zunehmende Fähigkeit, hinzugeführte Energie produktiv
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
spondiert biographiegeschichtlich durchaus mit dem traditionellen biographischen Verfahren des 19. Jahrhunderts, und erst allmählich erfolgt dessen Veränderung in der Biographik durch den Einfluß der starken Betonung der kindlichen Erfahrung im Rahmen der Freudschen Psychoanalyse. In einem umfangreichen, nachgelassenen biographischen Manuskript hat Wilhelm Ostwald sich nach der Vorlesung Grosse Männer erneut der Persönlichkeit Justus Liebigs gewidmet und sich auch eingehender mit der Kindheit und Jugend des Biographierten beschäftigt.68 Dabei tritt nun ein neuer Aspekt stärker hervor: die genetische Betrachtung. Liebigs Begabung wird aus der Familie des Vaters abgeleitet, der gegenüber dem Vater steilere Aufstieg findet seine Erklärung in der vermuteten besseren Abkunft der Mutter, die Ostwald allerdings nicht nachweisen kann, da ihm nur deren Stiefvater bekannt ist. Dennoch glaubt er sich – durchaus in Übereinstimmung mit Vererbungstheoretikern –69 zu der Annahme berechtigt, daß die Mutter »einen ganz wesentlichen Teil des Erbgutes beigetragen« habe.70 Die festgestellte Ähnlichkeit »im Gesichtsschnitt« zwischen Mutter und Sohn soll diese Annahme stützen.71 Die Bedeutung der Vererbung für die Persönlichkeitsbildung wird von Ostwald noch dadurch betont, daß er gegen den Einfluß von Erziehung und Umwelt argumentiert:72 So haben wir auch hier [bei Liebig] den in der Regel auftretenden Fall, daß die geniale Begabung inmitten einer kleineren oder größeren Schar von Kindern plötzlich und einzig hervortritt, während die Geschwister innerhalb des Durchschnitts bleiben, obwohl sie anscheinend unter denselben Bedingungen entstanden sind, und wir wissen, daß die Keimzellen aller Lebewesen durch eine bestimmte Anzahl Kernkörperchen gekennzeichnet sind, die wir als (chemische) Träger der Gattung- und Individualeigenschaften betrachten müssen.
Letztlich wird allerdings der Blick auf Kindheit und Jugend dadurch kaum verändert. Sie stellen für Ostwald nunmehr die Phasen der Harmonisierung der Erbanlagen dar. Schon die energetische Betrachtung allein, erst recht aber ihre Kombination mit genetischen Begründungen, zeigt die Grenzen von Ostwalds ‘Vermenschlichung’ der Größe auf. Zwar weisen die ‘großen Männer’ in seiner Sicht normalbiographische Züge auf, doch bleiben das Mysterium ———————— 68
69 70 71 72
zu nutzen. Dadurch wird das Optimum in einer mittleren Lebensphase erreicht. Ostwald, Zur Biologie des Forschers II, S. 301f. Wilhelm Ostwald, Justus Liebig. In: Ostwald, Zur Geschichte der Wissenschaft, S. 138– 242. (Die Edition ist nicht vollkommen zuverlässig, da einzelne Änderungen und Streichungen besonders nationalistischer Passagen nicht gekennzeichnet sind.) Vgl. etwa: Sommer, Geistige Veranlagung, S. 114f. Ostwald, Justus Liebig, S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 142.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
205
der Erscheinung bedeutender Männer und die Besonderheit ihrer Anlagen und ihres energetischen Potentials letztlich bestehen. Ostwald trägt so auch zum Fortbestand einer biographischen Denkroutine bei, wenn er den Mythos der Exzeptionalität auf der Basis seiner biologischen Energetik mit einer neuen Begründung neu erschafft. Man könnte demgemäß auch von einer ‘Entrümpelung’ sprechen, der traditionelle Muster der Mythisierung sowie der öffentliche Weihecharakter der heroisierenden Biographik zum Opfer fallen. Gleichzeitig bleibt die Existenz der Exzeptionalität aber unbestritten. So heißt es etwa in der Vorlesung Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (1909):73 […] alle Kultur wird nur durch solche große Männer vorwärts gebracht. Es hat zwischen den Forschern der Geschichte von jeher ein Streit darüber bestanden, ob die Menschheit durch einzelne Individuen maßgeblich gefördert wird, oder ob auch diese führende Menschen nur Produkte ihrer ‘Umwelt’ sind, von der in letzter Linie alles abhängt. Für die Angelegenheit der Wissenschaft, dieser höchsten Verkörperung der Kultur, gibt die Geschichte hier eine ganz unzweideutige Antwort. Man kann ja die einzelnen Fortschritte, die wir den großen Männern verdanken, nach Jahr, Ort und Namen aufweisen, und so kann überhaupt kein Zweifel bestehen, daß diese Fortschritte durch jene besonderen Menschen und niemand anderes bewirkt worden sind.
Dieses grundsätzliche Festhalten am Mythos der großen Männer wird schließlich gerade durch die Betonung der Alterserscheinungen noch in heroisierender Tendenz verfestigt, denn die großen Männer der Forschung setzen sich »freiwillig« den »ungewöhnlichen Anstrengungen« aus, die ihre Kräfte verzehren und so das Martyrium der Forschung einer heroisierenden Wissenschaftsgeschichte neu begründen.74 Trotz dieser Einschränkungen bleibt bei Ostwald – gerade als Neubegründung der Größe – jene ‘Vermenschlichung’ der biographierten Persönlichkeit erkennbar, welche in der Biographik sich eben nicht erst unter dem Einfluß Freuds und nicht erst unter der Feder der ‘modernen’ Biographen abzeichnet. Dies zeigt sich neben der Darstellung des Alterns auch in der explizit bekundeten Absicht, die menschlichen Seiten der biographierten Forscher – »mit ‘den landesüblichen Rundungen vorn und hinten’« – 75 hervorzuheben. Den »blendende[n] Eindruck, den Leben und Taten der großen Männer« auf den Biographen machen, vergleicht er mit dem Blenden der Sonne, das dem Physiker den Blick auf die Sonnenflekken verstelle:76 Aber erst die entschlossene Anerkennung des Umstandes, daß auch die Sonne Flecken haben kann, hat uns den Weg zu ihrer wissenschaftlichen Erforschung ———————— 73 74 75 76
Ostwald, Energetische Grundlagen, S. 177. Ostwald, Grosse Männer, S. 150. Ebd., S. 6 (in Anlehnung an einen Ausspruch seines Lehrers Carl Schmidt). Ebd., S. 14.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
gebahnt, und ebenso ist die entschlossene Anerkennung des Umstandes, daß auch die großen Menschen eben Menschen mit menschlichen Eigenschaften gewesen sind, die unumgängliche Voraussetzung für ihr wissenschaftliches Verständnis.
Tatsächlich scheint Ostwald um eine sachliche und unvoreingenommene Darstellung Liebigs bemüht. Auch dieser Chemiker in der Reihe von Ostwalds biographischen Vorlesungen, mit dem sich Ostwald in manchen Lebenslaufdetails identifizierte, wird nicht ganz ohne Makel geschildert. So weist Ostwald etwa auf eine übertriebene Streitsucht hin. Das Lebenslaufereignis, an welchem sich Ostwalds Haltung eigentlich besonders deutlich erweisen müßte, Justus Liebigs Beziehung zu August von Platen, wird im Liebig-Kapitel seiner Vorlesung Grosse Männer allerdings allzu rasch abgetan. Erst in dem nachgelassenen, breiter ausgeführten LiebigProjekt werden Andeutungen zu dieser Beziehung gemacht. Ostwald schildert die Schönheit Liebigs, von der Platen eingenommen gewesen sei, und er deutet zumindest einseitig die Intensität der Zuneigung Platens an. Schenkt man Platens eigenen Ausführungen zu Liebig Glauben,77 so liegt zumindest zeitweise eine homoerotische Neigung auch von Liebigs Seite zu Platen nahe. Bei Ostwald jedoch erhält allein der Dichter das Gewand eines Verführers, der den Naturwissenschaftler von seiner Karriere ablenken will: »Platen suchte den Freund mit allen Kräften von der Chemie abzulenken, die er für materialistisch hielt, und empfahl ihm sprachliche und geschichtliche Studien als den einzigen Weg zur wahren Bildung.«78 Platen wird als Vertreter einer abgelebten Bildungsidee kritisiert, die Geschichte und Künste überbetone und die in Ostwalds Sicht allein Kultur schaffenden Naturwissenschaftler dadurch hemme. Obwohl diese Darstellung Ostwalds Bildungskritik entspricht, scheint sie hier vor allem einer indirekten – da nach den eigenen Vorgaben explizit nicht möglichen – moralischen Verurteilung Platens und Inschutznahme Liebigs zu dienen. Trotz einiger Einschränkungen bleibt also Ostwalds Beitrag zu einer Uminterpretation und teilweisen Entmythisierung der geschichtlichen Größe erkennbar. Damit repräsentiert sein Werk einen wichtigen Standpunkt in der modernen Geschichte der Biographik. Insbesondere wird erkennbar, daß die biographische Darstellung zur Explikation und Erprobung typologisch differenzierter Lebenslaufmodelle dient. Ostwald begriff ———————— 77
78
August v. Platen, Tagebücher. Auswahl und Nachwort von Rüdiger Görner. Zürich: Manesse 1990, S. 328f.: »[Liebig] gab mir Beweise einer so plötzlichen und entschiedenen Zuneigung, daß ich wirklich darüber in eine Art Erstaunen geriet. So viel Liebe hat mir noch niemand, am wenigsten nach einer so kurzen Bekanntschaft, bewiesen.« – Insgesamt wird die Beziehung in der biographischen Literatur jedoch – besonders in ihrer Entwicklung – als zunehmend einseitig beurteilt; vgl.: Peter Bumm, August Graf von Platen. Eine Biographie. Paderborn, München, Wien u. Zürich: Schöningh 1990, S. 284ff. Ostwald, Justus Liebig, S. 152.
3.2. Das biologische Konzept – »Naturgeschichte der großen Männer« (Ostwald)
207
diese Arbeit nicht als Geschichtsschreibung, sondern betont ihren praktischen Wert für die Gegenwart sowohl für die Deutung und möglicherweise die Organisation des eigenen Lebenslaufes wie überhaupt für die Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen insbesondere der Lebensläufe forschender Hochschullehrer. Ostwalds biographische Studien blieben nicht die einzigen Versuche zur Biologie bedeutender Persönlichkeiten. Im Kontext der Literaturgeschichtsschreibung sei nur der österreichische Orthopäde und Schriftsteller Otto Hamann (1882–1948) erwähnt. Hamann publizierte eine Studie über die Biologie deutscher Dichter und Denker (1923), in welcher der Verfasser »die Zusammenhänge geistigen Schaffens mit dem körperlichen Substrat« darstellen wollte und hierzu an ein breites Spektrum unterschiedlicher Forschungsrichtungen wie Vererbungslehren, Psychophysik, physiologische Psychologie, Ostwalds Biologie der Forscher, selbst Psychoanalyse anschließt.79 Hamann berücksichtigt in der umfangreichen theoretischen Einleitung etwa Studien zum Eiweißhaushalt des Körpers oder zur Periodizität aller – auch geistiger – »Lebensvorgänge« (nach Wilhelm Fließ).80 Dabei postuliert Hamann einen ‘idealistischen Monismus’, der Gehirn und Nerven einerseits als rein physisch begreift und andererseits der Herrschaft des Willens unterwirft.81 Während Ostwald sich allerdings vor allem detailliert um eine genaue Analyse des historischen Materials und der historischen Persönlichkeit bemüht, haben Hamanns knappe biographische Skizzen eher den Charakter von Lexikonartikeln; eine kurze Auflistung der wichtigsten Daten zu Leben und Werk wird neben eine Kurzbeschreibung der psychophysischen Konstitution gestellt. Die ‘Zusammenhänge’, welche das Ziel der Darstellung sind, werden jeweils behauptet, aber an keiner Stelle detailliert beschrieben oder analysiert. So heißt es, Kant habe seiner schwächlichen körperlichen Konstitution nur mit Disziplin begegnen können; Johann Georg Hamann sei vom »dunklen Untergrund« seiner Sinnlichkeit bestimmt gewesen usw. Keine der Charakterisierungen umfaßt mehr als drei, vier Druckseiten; schon der Umfang gestattet keine argumentative Darlegung der Leiblichkeit des Geistigen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß in derselben Weise eine Vielzahl mit den Biographien bekannter Persönlichkeiten argumentierender Studien zu biologischen, psychischen oder krankhaften Bedingungen der Persönlichkeit struktu———————— 79 80 81
Otto Hamann, Biologie deutscher Dichter und Denker. Zürich, Leipzig u. Wien: Amalthea 1923 (Amalthea-Bücherei 38), S. 1. Hamann, Biologie, S. 27. – Wilhelm Fließ, Der Ablauf des Lebens. Grundlegung zur exakten Biologie. Leipzig u. Wien: Deuticke 1906. Hamann, Biologie, S. 1.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
riert sind.82 Der Hinweis auf die scheinbar vorauszusetzende Kenntnis der Biographie der als Argument angeführten historischen Persönlichkeit genügt jeweils, um den Thesen Gewicht zu verleihen.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte In seiner Einführung in eine Anthologie psychoanalytischer biographischer Studien benennt Johannes Cremerius zwei gegenläufige Grundtendenzen der Darstellung besonderer Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert: »den Geniekult und die Genieentwertung«.83 Den Tendenzen zur Idealisierung und Überhöhung stünde die Entwertung des Genies »als Erscheinung krankhafter Entartung« gegenüber, die »Exterritorisation des Genies und seine Ansiedlung im Bereich von Geisteskrankheit und Entartung«.84 Wenngleich dieses Urteil gewiß zu kurz greift, da die Erklärung der Genialität durch pathologische Erscheinungen letztlich auch die Besonderheit des Genies vor der Normalität zementiert, also den Außergewöhnlichen vollständig von der Masse scheidet, so trifft Cremerius doch einen wesentlichen Konfliktpunkt in der Auseinandersetzung über die Konstitution der herausgehobenen Persönlichkeit. Einer biographischen Tradition, die besonders auf die geschichtliche und soziale Bedeutung der leitenden Persönlichkeiten in Politik, Staat und Kultur abhob, stand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Bemühen entgegen, die Besonderheit kausal aus biologischen, physiologischen Bedingungen abzuleiten. Weit radikaler als Wilhelm Ostwald dies im naturwissenschaftlichen Blick auf die Forscherpersönlichkeit erst Anfang des 20. Jahrhunderts unternahm, hatten Autoren wie Moreau, Lombroso und Nordau auf der Basis einer medizinischen Psychologie die Kausalität der Abnormität des Genies erkundet. Bevorzugte Untersuchungsobjekte waren Dichter, bildende Künstler und Musiker. Die Entwicklung reicht von Moreaus La Psychologie morbide dans ses rapports avec la philosophie de l’histoire ou de l’influence des nevropathies sur le dynamisme intellectuel (Paris 1859), Lombrosos Genio e follia, Nordaus Entartung über die Pathographien von Möbius und Sadger bis hin zu den pathopsychologischen Studien der Psychiater Karl Jaspers (Strindberg und van Gogh, 1922), Wilhelm Lange-Eichbaum (1875–1950; Genie. Irrsinn und Ruhm, 1928) und Ernst Kretschmer (1888–1964, Genia———————— 82
83 84
Ein weiteres Beispiel wäre etwa: Erich Ebstein, Tuberkulose als Schicksal. Eine Sammlung pathographischer Skizzen von Calvin bis Klabund, 1509–1928. Mit einer Einführung von Georg B. Gruber. Suttgart: Enke 1932. – Hier wird der Einfluß der Erkrankung auf das künstlerische Schaffen in gleicher Weise ‘belegt’. Johannes Cremerius, Einleitung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.), Neurose und Genialität. Psychoanalytische Biographien. Frankfurt/M.: S. Fischer 1971, S. 7–25, hier S. 7. Ebd., S. 7, 8.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
209
le Menschen, 1929). Besonders die Werke von Lange-Eichbaum und Kretschmer wurden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts neu aufgelegt. Die Beziehung von Genie und Wahnsinn bildet dabei den zentralen Untersuchungsgegenstand der pathographischen Studien. Ein bedeutendes Thema in dieser Literatur war auch die Pathographik der Religionsführer. Schon David Friedrich Strauß hatte die irrationalen Aspekte der Jesus-Gestalt betont; Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Jesus zum Gegenstand der Pathographik.85 Maßgeblich die Kritik der psychoanalytischen Schule an der Pathographik führte schließlich zu einer weiteren Veränderung in der Wahrnehmung der besonderen Persönlichkeit. Sigmund Freud selbst oder Autoren wie Wilhelm Stekel und der spätere Isidor Sadger wichen – bei einer weitreichenden Ausblendung des Körpers – von der ‘Wahnsinnstheorie’ ab, suchten nicht mehr nach einer physiologischen (psychotischen) sondern nach einer psychischen (neurotischen) Kausalität der Besonderheit und vertraten die Auffassung, die bisherige Unterscheidung von gesunder Norm und krankhaften Zuständen könne nicht aufrecht erhalten werden. Auch der ‘Normale’ habe eine analysierbare psychische Konstitution, und der ‘Besondere’ zeige gerade nicht krankhafte Züge, sondern zeichne sich durch die Sublimation negativer Anlagen etwa in der von ihm geschaffenen Kunst aus. 3.3.1. Die Grundlegung der psychopathologischen Pathographik Grundlegend für die Entwicklung medizinisch-psychiatrischer Forschungen war die Ablösung rationalistischer Umwelttheorien, welche die psychischen Krankheitszustände weitgehend von äußeren Einflüssen abhängig machten, und naturphilosophisch-romantischer Lehren im Zeichen des Deutschen Idealismus durch die Erkenntnis anatomisch-pathologischer Ursachen. Erstmals hatte 1822 Antoine Laurent José Bayle in einer Dissertation eine solche Ursache für die progressive Paralyse nachgewiesen.86 In Deutschland bemühten sich Mediziner wie Wilhelm Grie———————— 85
86
Vgl. hierzu im knappen Überblick: Peter K. Schneider, Wahnsinn und Kultur oder Die Heilige Krankheit. Die Entdeckung eines menschlichen Talents. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2001, S. 119ff., insbesondere aber: Philipp Kneib, Moderne Leben-JesuForschung unter dem Einflusse der Psychiatrie. Eine kritische Darstellung für Gebildete aller Stände. Mainz: Kirchheim 1908; Albert Schweitzer, Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik. Tübingen: Mohr 1913. Vgl. hier und für die folgenden Ausführungen: Albrecht Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie. Von der Hirnmythologie zur Neurosenlehre. Tübingen: edition diskord 1991, hier S. 26; sowie: Franz G. Alexander u. Sheldon T. Selesnick, Geschichte der Psychiatrie. Ein kritischer Abriß der psychiatrischen Theorie und Praxis von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart. Zürich: Diana 1969, hier S. 201; ferner: Werner Leibbrand
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singer (1817–1868) seit den 40er Jahren um eine naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin und eine pathologisch-physiologische Erklärung der geistigen Störungen. Psychologie wurde nun als eine Physiologie und Anatomie des Gehirns und also als eine medizinische Wissenschaft beschrieben (‘antipsychologische Psychiatrie’), welche von der bisherigen Kontroverse zwischen psycho- und somatogenetischer Erklärung psychischer Krankheiten zugunsten einer »hirnpathologisch ausgerichtete[n] Psychiatrie« abwich.87 Wegbereiter dieser neuen Richtung waren der Physiker Gustav Theodor Fechner, der eine Lösung des Leib-Seele-Problems durch die Annahme eines psychophysischen Parallelismus mit weitreichenden Abhängigkeiten der psychischen Prozesse von physischen lehrte, und Physiologen wie Rudolf Hermann Lotze (1817–1881) oder Hermann von Helmholtz (1821–1894), der einen physiologischen Materialismus vertrat, der davon ausging, daß psychische und organische Vorgänge letztlich chemisch-physikalisch erklärt werden könnten. Ihre feste institutionelle Verankerung wurde schließlich durch die Begründung eines Instituts für experimentelle Psychologie durch den Helmholtz-Schüler Wilhelm Wundt in Leipzig erreicht. Auch auf dem Gebiet der Neurologie setzten rasant neue Entwicklungen ein. Insbesondere »zwischen 1860 und 1885 [wurden] zahlreiche außerordentlich wichtige und aufsehenserregende Entdeckungen auf dem Gebiet der Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems« geleistet.88 Forscher wie Wilhelm Griesinger, »the founder of scientific psychiatry«,89 bemühten sich Psychiatrie und Neurologie zusammenzuführen. 1909 resümiert der Wissenschaftshistoriker Emanuel Rádl die seit Fechner sich durchsetzende Ansicht, das Psychische werde auch von der Materie bestimmt, mit den Worten: »noch heute steht die wissenschaftliche Psychologie bei seiner [Fechners] Ansicht, daß es die Physik ist, welche die richtigen Schlüssel zur menschlichen Seele besitzt.«90 Insbesonde———————— 87
88 89
90
u. Annemarie Wettley, Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. München: Alber 1961 (Orbus Academicus). Vgl. zur Vorgeschichte: Udo Benzenhöfer, Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hürtgenwald: Guido Pressler 1993 (Schriften zur Wissenschaftsgeschichte 11). Hirschmüller, Freuds Begegnung, S. 36. Besonders zu Griesinger und überhaupt zur Entwicklung im 19. Jh., die hier nur gestreift werden kann, vgl. a. die psychiatriegeschichtlichen Ausführungen bei: Gerlof Verwey, Psychiatry in an Anthropological and Biomedical Context. Philosophical Presuppositions and Implications of German Psychiatry 1820–1870. Dordrecht, Boston u. Lancaster: D. Reidel Publ. 1985 (Studies in the History of Modern Science 15); aus literaturwissenschaftlicher Sicht vgl. vor allem: Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland«. Emanuel Rádl, Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit. Bd. II: Geschichte der Entwicklungstheorien in der Biologie des XIX. Jahrhunderts. Leipzig: Engelmann 1909 (Faksimiledruck. Hildesheim u. New York: Olms 1970), S. 99.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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re der Darwinismus und die durch ihn angestoßenen Wissenschaftsentwicklungen hätten zu einer fundamentalen Umkehr des Denkens geführt: »Früher vertraute man übermäßig dem Verstande und hegte die Hoffnung, im Verstande die Natur entdecken zu können; jetzt herrscht Verehrung der Natur und der Verstand wird als durch die Natur bedingt dargestellt.«91 Bis in die Verästelungen der Kultur hinein, etwa bis zu Zola und dem französischen naturalistischen Roman, habe die Entwicklung gereicht: »so wollte auch Zola aus seinen Romanen alle Herrschaft des Willens, der Vernunft, des Ideals, alle Herrschaft der Seele ausmerzen, und sie durch die Macht des Blutes und der Instinkte ersetzen.«92 Zugleich stellt Rádl jedoch fest, daß dieses Denken nun überwunden sei und sich die Hoffnung der medizinischen Psychologie, »daß das Skalpell, das Mikroskop und eine feine Färbetechnik der Gehirnschnitte imstande sei, alles Seelische zu enträtseln«,93 inzwischen als vergeblich erwiesen habe. Man müsse vielmehr eine ‘praktische Psychologie’ entwickeln, zu der auch bereits Möbius (in seiner Goethe-Studie!) Ansätze entwickelt habe; unerwähnt bleibt bei Rádl allerdings, daß gerade Sigmund Freud diese Anregungen von Möbius aufgegriffen hatte. Auch Wilhelm Ostwald läßt sich in die Reihe derjenigen einordnen, die von den Vorstellungen Fechners nun abwichen und stärker das eigene Erfahrungswissen heranzogen, sei es um (wie Ostwald) die »Biologie des Forschers« zu bestimmen oder (wie Freud und andere) die Psychologie eines jeden Menschen. Eine zweite Linie der Beschäftigung mit dem menschlichen Gehirn im 19. Jahrhundert entwickelte sich aus anthropologischer Sicht. Die moderne Anthropologie ging dabei andere Wege als die Aufklärungsanthropologie, die sich weitgehend auf die physische Erscheinung des Menschen konzentrierte. Ausgehend von Jean Baptiste Lamarcks (1744–1829) Gedanken über die Vererbung von Eigenschaften und von Jacques-Joseph Moreau de Tours, schließlich wesentlich geprägt durch die Lehren von Charles Darwin entwickelte sich eine entwicklungsgeschichtliche Sicht auch auf den Menschen, die nicht nur einen menschheitsgeschichtlichen Fortschritt beschrieb, sondern auch negative Entwicklungstendenzen einschloß. Gehirnkrankheiten wurden hier nicht so sehr durch organische Befunde erklärt als durch ‘degenerative’ Veränderungen in der Erbfolge. Bénédict Augustin Morel erklärte in seinem Traité de Dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine … (1857) solche ‘Degenerationen’ als Abweichungen – Varietäten und Entartungen – von einem Normaltypus, die sich durch Vererbungen zunächst verstärken und ———————— 91 92 93
Ebd., Bd. 2, S. 191. Ebd., Bd. 2, S. 225f. Ebd., Bd. 2, S. 99.
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schließlich durch Aussterben der Erbfolge verschwinden: »Eine Generation ist vielleicht nervös; die nächste würde noch nervöser sein; die dritte wäre vielleicht völlig psychotisch; die vierte würde einen totalen Zustand der Degeneration aufweisen; und bei etwaigen späteren Generationen würde die Demenz so fortgeschritten sein, daß die Familie ausstürbe.«94 Valentin Magnan (1835–1916) erweiterte dieses Degenerationskonzept – teils gemeinsam mit Jean Martin Charcot, der Hysterie als Degeneration erklärte – auf neurotische Erscheinungen; von seinem Werk wurde auch Paul J. Möbius stark beeinflußt, der es in Deutschland bekannt machte. 95 Dadurch erfuhr der Blick auf die psychische Konstitution des einzelnen eine markante Veränderung, denn das Degenerationskonzept förderte ein besonderes Interesse an Familiengeschichten. Die Degenerationstheorie führte auch zu einem Interesse an neuen Personengruppen, die für die Beobachtung von Degenerationsphänomenen besonders geeignet sein mußten. Der italienische Anthropologe Cesare Lombroso versuchte etwa die Asozialität von Verbrechern aus hirnanatomischen Degenerationserscheinungen zu erklären. Seine Studien zur Pathogenese des Verbrechers waren europaweit von bedeutendem Einfluß auf die Kriminologie und Rechtsphilosophie (Sinn der Strafe). Auch eine andere Personengruppe wurde von ihm unter diesem Gesichtspunkt betrachtet: die Genies. Als ein Vorläufer Lombrosos auf diesem Gebiet war ein Cousin von Charles Darwin hervorgetreten, der englische Gelehrte Francis Galton (1822–1911), der sich in den 60er Jahren mit einer Erbtheorie der Genialität beschäftigt hatte. Sein Buch Hereditary Genius (1869; dt. 1909) faßte diese Bemühungen zusammen. Galtons Arbeit über die Vererbung der hervorragenden Anlagen basierte auf mathematischen Methoden und umfaßte eine tabellarische Auswertung zahlreicher Biographien bedeutender Persönlichkeiten und eine Analyse der Familienhäufigkeit. (Seine Forschungen zur Vererbung menschlicher Anlagen führten ihn schließlich auf das Gebiet der Eugenik, der Frage nach den Zuchtmöglichkeiten für eine verbesserte menschliche Rasse.) In der Arbeit Hereditary Genius differenziert er zwischen weiblicher und männlicher Generationenfolge – bei Dichtern und Künstlern sei der Einfluß der weiblichen Linie entschieden geringer als bei Theologen – und zwischen der Vererbung der Anlagen – wie sie Ostwald für die Vererbung der Anlagen von Liebigs Mutter auf Liebig anführt – und etwa sonstigen physischen Merkmalen (Gesichtszügen). Äußere Ähnlichkeiten und Vererbung der Anlagen stünden in keinem Zusammenhang. Erst in einer späteren ———————— 94 95
Alexander u. Selesnick, Geschichte der Psychiatrie, S. 213f.; vgl. a.: Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹, S. 169–178, hier S. 170. Valentin Magnan, Psychiatrische Vorlesungen. Übers. von Paul J. Möbius. 6 Hefte. Leipzig: Thieme 1891–93.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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Auflage räumte Galton im Vorwort ein, er habe die physiologischen und anatomischen Bedingungen bei seiner eher statistischen Untersuchung vernachlässigt: »Diejenigen Menschen, die einen außerordentlich tätigen und übereifrigen Geist haben, müssen auch oft Gehirne besitzen, die reizbarer und eigentümlicher sind, als es mit Unversehrtheit vereinbar ist.«96 Galton greift hier in der jüngeren Vorrede die Gedanken auf, die inzwischen von Lombroso vertreten wurden, der seinerseits auf Galtons Erbtheorie zurückgegriffen hatte: die Genialität als eine Degenerationserscheinung des Gehirns. Gegen Galton hatte Lombroso argumentiert, daß sich Genialität und Talent nur äußerst schwach vererben – besonders im Vergleich zum Irrsinn, der sich von Generation zu Generation verstärke. Lombroso lehnt sich dabei an Morels Theorie an, daß geistige Krankheit als Degenerationserscheinung auftrete, die sich zunächst von Generation zu Generation deutlicher zeige, bis die Erblinie aussterbe.97 Lombroso hält fest:98 Offenbar ist hiermit die schwache Erblichkeit des Genies durchaus nicht zu vergleichen. [… Doch] tritt uns eine andere zwar sonderbare aber nichts destoweniger feststehende Thatsache entgegen. Viele Wahnsinnige stehen in verwandtschaftlichen Beziehungen zu genialen Menschen, und umgekehrt haben viele hochbegabte Männer Verwandte und Kinder, die an Fallsucht, Blödsinn, Irrsinn litten.
Aus dieser, auch von Galton später akzeptierten Beobachtung, die in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu seinen eugenischen Utopien steht, folgert Lombroso die enge Beziehung zwischen dem Genie und anderen Erscheinungen der Degeneration. Dabei argumentiert er mit dem biographischen Material zu einer Vielzahl besonderer Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Gebieten. Staatsmänner werden ebenso herangezogen wie Dichter und bildende Künstler, Religionsführer ebenso wie Gelehrte. Die Rhetorik der biographischen Argumentation ähnelt derjenigen, die in ganz anderen diskursiven Kontexten schon bei Samuel Smiles beobachtet werden konnte, wobei Lombroso noch stärker lediglich die für den Gang der Argumentation gerade wichtigen Aspekte der Lebensläufe herausnimmt und auf geschlossene biographischen Erzählungen in der Regel verzichtet. Die Interpretation der Argumente erfolgt hier freilich nicht durch moralisierende Betrachtung, sondern durch den Bezug auf die Ergebnisse der physiologischen und anthropologischen Forschung. Dabei ———————— 96
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Francis Galton, Einleitung zur zweiten Ausgabe von 1892. In: Ders., Genie und Vererbung. Autorisierte Übers. von Otto Neurath und Anna Schapire-Neurath. Leipzig: Kröner 1909 (Philosophisch-soziologische Bücherei 19), S. IX–XXVII, hier S. XII. Vgl. das Beispiel der Familie Berti: Cesare Lombroso, Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen. Zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Nach der 4. Aufl. des italienischen Orginals übers. von A. Courth. Leipzig: Reclam 1887, S. 78. Ebd., S. 81.
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ist Lombrosos Darstellungsweise nicht im engeren Sinn akademisch, sondern – was auch einen Teil seines bedeutenden Erfolges erklären mag – essayistisch. Nur selten werden andere Forscher namentlich erwähnt, und Lombroso verzichtet auf den Nachweis der Forschungsliteratur. Dennoch bleibt erkennbar, daß Lombroso weitgehend auf die Überlegungen Morels Bezug nimmt. Die Darstellung folgt mehreren Argumentationsschritten, in denen die Ähnlichkeit zwischen Genie und Irrsinn belegt werden soll. Lombroso argumentiert zunächst mit physiologischen Parallelen, geht dann zum vergleichbaren Einfluß der ‘Meteore’ (Wettererscheinungen), ‘Gestirne’, des Jahreszeiten- und Mondzyklus über, um schließlich die Einflüsse von Rasse und Familienbeziehungen zu behandeln. Er beschränkt sich also nicht auf die immanente Konstitution des Menschen, sondern knüpft an Modelle zu einer Ökologie des Menschen an, die auch auf die Aufklärungsanthropologie zurückweisen (etwa Klimatheorie). Dabei kann sich Lombroso eigentlich nur auf historisches Material stützen und gerade die zeitgemäßen Methoden einer experimentellen Psychologie nicht anwenden. So bleiben auch seine Beobachtungen zur Physiologie des Genies ganz auf die Auswertung biographischer und autobiographischer Literatur beschränkt. Dort findet sich genügend Material für die Bestätigung der parallelen psychischen und physischen Erscheinungen, welche die größere Erregbarkeit und Empfindlichkeit des Genies erweisen, seine körperlichen Degenerationserscheinungen – »das frühzeitige Erbleichen oder Verschwinden der Haare, die Magerkeit des Körpers sowie die geringe Kraft seiner Zeugungsorgane und des Muskelsystems« –, seine Neigung zur Trunksucht, seine Leidenschaftlichkeit und auch seine fast monomanische – ‘monotypische’ – Spezialisierung. Daß Lombroso dabei Widersprüchliches zutage fördert, wenn er etwa einerseits von der geringen sexuellen Potenz des Genies99 spricht und andererseits davon, daß manche Genies wie der italienische Dramendichter Vittorio Alfieri von übersteigerter Leidenschaft für das weibliche Geschlecht ergriffen gewesen seien, daß Lombroso zudem aus dem reichen Material willkürlich immer gerade das passende biographische Argument herausfindet, braucht hier kaum ———————— 99
In der Geniedebatte spielt die Annahme, geistig genialische Menschen seien nicht so fortpflanzungsaktiv wie geistig mindere, insofern eine Rolle, als hier Theorien vom menschlichen Energiehaushalt zum Tragen kommen. Der menschliche Organismus – so wird hier gefolgert – ziehe die für die höhere geistige Anstrengung benötigte Energie von der für die biologische Reproduktivität benötigten Kraft ab. Grundlegendes hierzu konnte man Herbert Spencers »Principles of biology« (1864) entnehmen. Otto Hamann hält 1923 in seiner Studie »Biologie deutscher Dichter und Denker« fest: »es besteht ein Wettbewerb zwischen den drei Funktionen, in welchen die Kräfte der Menschenwesen verbraucht werden, nämlich in den Funktionen der Muskeln, der Nerven und der Reproduktionsorgane. Jede dieser Funktionen wird beeinträchtigt, wenn die anderen zuviel beanspruchen.« (S. 33.)
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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genauer dargelegt zu werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß sich Lombroso nicht auf die These verkürzen läßt, die Genies seien Geisteskranke; es handelt sich nach seiner Auffassung lediglich um ähnliche Phänomene.100 Ja, über Strecken der Argumentation unternimmt Lombroso gerade eine Verteidigung des Genies gegen weit zurückreichende Vorurteile über dessen Sonderlichkeit, denn aus dieser Parallelität genialer und pathologischer Erscheinungen werde auch jene Verachtung der Genies durch die nicht genialen Menschen erklärbar:101 Das Beispiel Goethes, der Italien auf das genaueste beschrieb, ehe er es gesehen hatte, beweist, daß der Genius fast imstande ist, die Dinge zu erraten, ehe er sie noch recht betrachtet hat. Und gerade dieser weit über die Grenzen des gewöhnlichen Gesichtskreises hinausgehende Blick, die Gewandtheit in hohen und schweren Geistesbeschäftigungen und die damit verbundene Unfähigkeit, sich mit geringern Sachen erfolgreich zu befassen, die dem Narren eigene, dem Talente aber widerwärtige Neigung zur Unordnung, bilden die Ursache, daß der geniale Mensch oft unverdienterweise verschmäht, verkannt wird von der Mehrzahl der Menschen, die nur den Abstand seiner Anschauungen von den landläufigen und eingebürgerten wahrnimmt, dagegen die logische Brücke, welche diese mit jenen verbindet, vollkommen übersieht.
Lombroso unternimmt eine gewiß abenteuerliche Gratwanderung zwischen der Anerkennung des Genies, das er als »jene einzige reinmenschliche Macht« bezeichnet, »vor welcher man ohne Beschämung sein Haupt beugen darf«, und der zustimmend rezipierten »unbarmherzige[n] Profanation« des Genies durch die Aufdeckung seiner physiologischen Parallelität zum Irrsinn.102 Er untermauert die physiologischen Beobachtungen noch durch die von ihm aufgestellte Behauptung, die Gestirne hätten auf geniale Würfe den gleichen hohen Einfluß wie auf Irrsinn und Tod. 103 Und auch die Herkunft der Genialen und Irrsinnigen aus spezifischen klimatischen und geologischen Räumen sei ähnlich; so sei auffällig, daß viele Geniale hügeligen Gebieten entstammten, wie auch »die Bewohner hügeliger Landstriche mehr Anlagen zum Wahnsinn haben als die in der Ebene Lebenden, eine Thatsache, die auch von der Statistik bestätigt wurde«.104 Den Hauptteil von Lombrosos Studie machen schließlich biographische Fallschilderungen aus, in denen er zunächst »Beispiele geisteskranker Genies« und dann »Geisteskranke mit poetischem Genie, mit humoristischen Anlagen u. s. w.« vorstellt. In seiner Beispielreihe geisteskranker Genies beschränkt sich Lombroso auf essayistische Fallschilderungen, das ———————— 100 101 102 103 104
Vgl. Lombroso, Genie und Irrsinn, S. 338ff. Ebd., S. 32. Ebd., S. 3. Ebd., S. 61. Ebd., S. 68.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
heißt, er verkürzt die biographische Darstellung auf die Schilderung der Krankheitsgeschichte, aber er nimmt auch keine Klassifizierung der Krankheitsbilder vor. So werden Beispielketten gebildet, die lediglich einer Leitthese entsprechen, die am Anfang und Ende des Kapitels wiederholt wird:105 [Erster Absatz des Kapitels:] Diese engen Beziehungen, diese zahlreichen Berührungspunkte zwischen Genie und Irrsinn beweisen, daß beide Geisteszustände sich in einem und demselben Individuum nicht ausschließen, daß sie vielmehr nebeneinander in demselben Menschen bestehen können, womit natürlich nicht behauptet wird, daß man beide miteinander verwechseln dürfe. [Letzter Absatz:] Wer nach so vielen Beispielen, die sich zu unseren Zeiten und vor unsern Augen, im Schoße der verschiedensten Völker, zutrugen, noch an der Möglichkeit, daß Genie und Wahnsinn in demselben Menschen zusammenfallen können zu zweifeln vermag, muß entweder blind oder eigensinnig sein.
Dazwischen finden sich unterschiedlich ausführliche Fallschilderungen, von denen hier zur Illustration nur eine kürzere exemplarisch herausgegriffen werden soll:106 Schumann, der Vorläufer der Zukunftsmusik, wurde im Schoße einer reichen Familie geboren; kein Hindernis hielt ihn von der Pflege seiner Kunst ab und in Klara Vicek [!] fand er eine liebenswürdige und für ihn passende Lebensgefährtin. Und dennoch hatte er noch nicht das dreiundzwanzigste Lebensjahr überschritten, als er schon an Trübsinn litt; als er sechsundvierzig Jahre alt geworden war, verfolgte ihn überall hin der Gedanke an die sprechenden Tische, die alles wissen und verraten. Er hörte einzelne Töne, die ihn verfolgten, sich zu Accorden entwickelten und schließlich zu ganzen Kompositionen wurden. Beethoven und Mendelssohn diktieren ihm aus dem Grabe Noten. Im Jahre 1854 stürzt er sich in den Fluß. Man zieht ihn aus dem Wasser, doch stirbt er zu Bonn [,] und die Secierung seines Körpers und die Betrachtung seines Schädels ergeben Krankheiten des Knochensystems, Auszehrung und Gehirnübel.
An dieser Stelle weist Lombroso ausnahmsweise auch auf einen pathologischen Befund hin und geht gewiß davon aus, daß auch in den Fällen, zu denen ihm keine solchen Untersuchungen bekannt sind, pathologische Erscheinungen zugrunde liegen. In vielen der Biographien wird zudem auf die verwandtschaftliche Beziehung der Genies zu »Wahnsinnigen« hingewiesen:107 Cardanus wurde von seinen Zeitgenossen als der größte aller Männer und als das blödeste aller Kinder bezeichnet. Er hatte den Mut [,] den Galen zu kritisieren, das Feuer von den Elementen auszuschließen, die Zauberer und Heiligen für Narren zu erklären, und was war er? Der Sohn, Vetter und Vater von Wahnsinnigen und er selbst wahnsinnig sein ganzes Leben hindurch. […] ———————— 105 106 107
Ebd., S. 84, 123. Ebd., S. 87f. Ebd., S. 89f.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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Während so Lombroso zunächst nachweist, daß auch geniale Menschen wahnsinnig gewesen seien, versucht er im darauffolgenden Kapitel zu zeigen, daß Geisteskrankheit nicht ein gewisses Maß an Genialität ausschließt, sondern daß gerade »die Geistesstörung sehr oft und in der sonderbarsten Weise zur Erhöhung« der Geisteskraft beitrage.108 Schließlich stellt er einen Merkmalskatalog auf, der die »Menschen von Genie, die zugleich Verrückte waren«, von den nicht geisteskranken Genies unterscheidet. Diese Merkmale sind:109 1) Charakterlosigkeit, 2) Hochmut, 3) »frühreife Zeichen ihres Genies«, 4) Mißbrauch von Narkotika und Alkohol, 5) abnorme Sexualität (zu große oder zu geringe sexuelle Aktivität), 6) Ruhelosigkeit, 7) häufiger Wechsel der Betätigungsfelder (im Widerspruch zur oben genannten Monotypie), 8) Pionierrolle in der Wissenschafts- und Kunstentwicklung, 9) Besonderheiten des Stils, 10) Religionszweifel, 11) egozentrische Beschäftigung auch mit der eigenen Krankheit, 12) mangelnde Logik, Widersprüchlichkeit und Phantasterei in ihren Werken, 13) hoher Stellenwert der Träume, 14) hirnanatomische Anomalien, 15) Wechsel von Zuständen der Begeisterung und Erschöpfung. – Diese Kriterien sollen nun nicht dazu dienen, das Genie schlechthin zu deklassieren und in die Nähe des Wahnsinns zu rücken, sondern gerade dazu, in einem kritischen Umgang mit den sich genialisch gebenden Menschen, die ‘wahren’ bedeutenden Persönlichkeiten von denen zu scheiden, die zur Geisteskrankheit neigen:110 Welcher Unterschied zwischen ihnen und jenen großen Männern, die, vertrauend und heiter, die Parabel der dem Verstande anhörenden [!] Laufbahn vollenden; die weder durch das Unglück zerrüttet, noch durch die Leidenschaft irre geführt werden! Solche Männer waren Spinoza, Bacon, Galilei, Dante, Voltaire, Columbus, Machiavelli, Michelangelo und Cavour. – Es ist unter diesen keiner, der nicht durch den weiten und zugleich harmonischen Umfang des Schädels die Denkkraft, gezügelt durch die Ruhe der Begierden, gezeigt hätte; keiner, in welchem die Leidenschaft für das Wahre und Schöne die Liebe zur Familie und zum Vaterlande erstickt hätte. –
Die von Lombroso aufgestellten Merkmale sollten schließlich auch zur Kritik gelehrter, dichterischer und künstlerischer Werke herangezogen werden können und namentlich Studierende vor allzu waghalsigen Phantasten in der Gelehrtenwelt schützen. Der tatsächliche, wahrhaft geniale Mensch – und hier wird deutlich, daß Lombroso letztlich, wie dies auch schon bei Ostwald gezeigt werden konnte, die ‘Vermenschlichung’ der großen Persönlichkeit gerade zu einer Zementierung ihrer Größe und Besonderheit nutzt –, der geniale Mensch also, erweise sich gerade durch ———————— 108 109 110
Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 318–338. Ebd., S. 340f.
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seine geistige Gesundheit. Von den Rezipienten seiner Werke ist dies häufig genug übersehen worden, wenn sie seine Ausführungen daraufhin verkürzten, Genialität sei eine Erscheinung des Wahnsinns. Ausgehend von der Theorie, daß geistige Anlagen auch ihre körperliche Grundlage haben, hatte er lediglich gezeigt, daß scheinbare Genialität in die Nähe der Degenerationserscheinungen zu rücken ist. Die gewichtigeren Auswirkungen von Lombrosos Denken gehen deswegen auch nicht von der angeblichen Entheroisierung der Genies aus, sondern von der konsequent durchgeführten Behauptung, der Mensch werde wesentlich auch durch seine Erbanlagen und seine physische Konstitution bestimmt. Lombrosos kriminalistische Studien, die zeigen sollen, »daß es Verbrecher gäbe, denen ihre gesetzwidrige Handlungsweise und Gemütsart angeboren ist«, widersprechen – wie schon Emanuel Rádl festhält – fundamental solchen juridischen Auffassungen, die »jeden einzelnen Menschen für verantwortlich für seine guten und bösen Taten erklären«.111 Und auch wenn Lombrosos Auffassungen im Detail kritisiert wurden: Hinter diese Erschütterung der sittlichen Autonomie des Individuums konnte – so Rádl – nun keiner mehr zurück. Andere Forscher – wie der bereits erwähnte Francis Galton – bemühten sich weitergehend auch darum, die anatomischen Merkmale der wahren Genialität aufzustellen. Galton etwa beschäftigte der auch in der oben zitierten Lombroso-Passage anklingende Zusammenhang zwischen anatomischer Kopf- und Hirngröße mit der Intelligenz. So befragte er etwa die Mitglieder der Royal Society nach ihrer Hutgröße – wobei er allerdings selbst sehr schlecht abschnitt. Solche Forschungen wie auch die älteren anatomischen Arbeiten von Franz Joseph Gall (1758–1828) – eben jener Gall, der nach einigen Gesprächen mit Goethe 1807 zu Forschungszwekken dessen Maske nehmen durfte – griff auch Paul J. Möbius in seinen Studien über die Anlage zur Mathematik auf. 3.3.2. Max Nordau – Degeneration und Kultur Im deutschsprachigen Kontext wurden die Degenerationstheorien von Morel, Lombroso und anderen112 besonders durch den in Paris lebenden österreichisch-ungarischen Arzt Max Nordau113 fortgesetzt, der die deut———————— 111 112 113
Rádl, Geschichte der biologischen Theorien, Bd. 2, S. 228. Nordau nennt etwa: Ch. Féré, J. Roubinovitch, Legrain, Henry Colin und Magnan. Zu Nordau vgl.: Christoph Schulte, Psychopathologie des Fin de Siècle. Der Kulturkritiker und Zionist Max Nordau. Frankfurt/M.: Fischer 1997 (FischerTB 13611); Jens Malte Fischer, Dekadenz und Entartung. Max Nordau als Kritiker des Fin de siècle. In: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. von Roger Bauer, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann u. a. Frankfurt/M.: Klostermann 1977 (Studien zur Philosophie
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
219
sche Entsprechung für den Begriff ‘Degeneration’, ‘Entartung’, populär machte. Sein zweibändiges Werk mit eben diesem Titel entfachte eine kontroverse internationale Diskussion. Es war bewußt als eine Fortsetzung der Gedanken Lombrosos konzipiert und enthält eine überschwenglich verehrende Dedikation an das italienische Vorbild. Lombroso reagierte auf Nordaus Werk mit einer eingehenden, sehr kritischen Rezension in der US-amerikanischen Zeitschrift The Century,114 die er Nordau zuvor brieflich mit der Bitte um Freigabe ankündigte. Die Differenzen zwischen beiden populären Theoretikern der Genie-Wahnsinns-Debatte treten dabei trotz gegenseitiger Bekundungen der Wertschätzung offen zutage.115 In wohl bewußter Verkürzung der Arbeitsfelder Lombrosos skizziert Nordau in Entartung sein eigenes Untersuchungsfeld.116 Er wolle die Forschungen erstmals auch auf das Gebiet »der Kunst und des Schriftthums« ausdehnen:117 Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler. Aber diese weisen dieselben geistigen – und meist auch leiblichen – Züge auf wie diejenigen Mitglieder der nämlichen anthropologischen Familie, die ihre ungesunden Triebe mit dem Messer des Meuchelmörders oder der Patrone des Dynamit-Gesellen statt mit der Feder oder dem Pinsel befriedigen.
Hier also, deutlicher als bei Lombroso, wird die Pathologisierung der Dichter und Künstler erkennbar, werden Genie und Wahnsinn in bedeutende Nähe gerückt. (Auch für Nordau gibt es jedoch das von dem entarteten zu trennende ‘gesunde’ Genie.)118 Dabei versteht Nordau seinen anthropologischen Ansatz als eine objektive Kritik der Kunstwerke und Künstler, die er der bloß subjektiven Kritik des Geschmacksurteils gegenüberstellt: »Eine ausschließlich literarisch-ästhetische Bildung ist ja auch die denkbar schlechteste Vorbereitung zu einer richtigen Erkenntniß des pathologischen Charakters von Entarteten.« Insbesondere möchte sich Nordau der Idealisierung der Dichter und Künstler »als Schöpfer einer neuen Kunst, als Herolde der kommenden Jahrhunderte« entgegenstellen, ————————
114 115 116
117 118
und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 35), S. 93–111; jetzt auch: Petra Zudrell, Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2003 (Epistemata 421). Cesare Lombroso, Nordau’s »Degeneration«: its Value and its Errors. In: The Century 50/N.F. 28 (Mai–Okt. 1895), S. 936–940. Vgl. die Briefe in: Nordau’s »Degeneration«: An Exchange of Compliments. In: The Century 50/N.F. 28 (Mai–Okt. 1895), S. 954. Jens Malte Fischer spricht (etwas überzogen) von einer »grobe[n] Irreführung der Leserschaft«. Fischer, Dekadenz und Entartung, S. 97. – Lombroso hat Nordaus Selbsteinschätzung mit der lobenden Formulierung zurecht gerückt: »he is the first to apply psychiatry to literary criticism« (Lombroso, Nordau’s »Degeneration«, S. 940). Max Nordau, Entartung. 2 Bde. Berlin: Duncker 31896, Bd. 1, S. [VII]. Ebd., Bd. 1, S. 44.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
die er als eine negativ wirkende Modeerscheinung seiner Zeit kennzeichnet. »Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen.« Darum sei es notwendig, objektive Kriterien zu finden, die dazu befähigen, »zu beurtheilen, ob diese Werke die Ausgeburten eines zerrütteten Gehirns sind und welcher Art die Geistesstörung ist, die sich in ihnen ausdrückt«.119 (Der Arzt als der berufene Kritiker der Literatur – dieser Gedanke, der letztlich auf der Pathologisierung kultureller Erscheinungen beruht, findet sich bereits bei Ernst von Feuchtersleben120 und ist für das Selbstverständnis des Mediziners noch bei Gottfried Benn von Bedeutung gewesen.) Lombroso hat in seiner Rezension deutlich die Befürchtung ausgesprochen, Nordau versuche in seiner Ablehnung aller Neuerungen, sämtlicher moderner Erscheinungen, die Künstler erstens als Wahnsinnige abzustempeln und zweitens für die sozialen, kulturellen Veränderungen – mithin die Dekadenzerscheinungen – verantwortlich zu machen. Nordau tendiere so dazu, die Genialen entweder überhaupt zu Wahnsinnigen zu erklären oder zu differenzieren, daß dieser oder jener Schriftsteller kein Genie sei, da er ihn als Wahnsinnigen überführe. Beides jedoch widerspreche seiner eigenen Auffassung:121 Certainly Poictevin, Mallarmé, and Ghil are degenerates and even mattoids. Tolstoi, Wagner, and Swinburne may be mad or degenerate, but in addition to the qualities just named, and which belong to the ordinary insane, they have genius: this is what Nordau has too frequently forgotten. Degeneration, for one who follows my theories, instead of destroying, fortifies the diagnosis which proves them to be geniuses, and enlarges its range; because only the mediocre have not maddish forms, for the very reason that they lack fecund originality, which is the basis of genius.
Nordau selbst hatte bereits zuvor in einem The Century-Artikel unter dem Titel A Reply to My Critics (1895) betont, für ihn seien Genialität und ———————— 119 120
121
Ebd., Bd. 1, S. VIII. Vgl. etwa Feuchterslebens Bemerkung zur Literaturkritik: »Ist […] die Leistung vom Leistenden untrennbar, so werden wir aufgefordert, in den Lebenskreis des letztern zu dringen, und es entsteht die biographische Kritik, welche nach Unständen, wenn zum Verständnis, zur Rechtfertigung des Autors die Betrachtung einer abnorm modifizierten Natur unerläßlich ist, zur pathologischen wird. Wer wollte die Schriften eines Staatsmannes ohne seine Lebensgeschichte verstehen? Wer so manche abenteuerliche Produktion neuerer Romantiker ohne pathologische Rücksicht entschuldigen?« Ernst v. Feuchtersleben, Die Kritik. In: Feuchterslebens ausgewählte Werke, S. 311–329, S. 319; ferner: Feuchtersleben, Diätetik, S. 520: »[…] Hypochondrie ist die Amme der modernen Literatur, und man wird nächstens zur richtigen Beurteilung unserer jüngsten Dichter, des Arztes statt des Rezensenten bedürfen.« – Unter diskurstheoretischer Perspektive stellt zum einen diese Verbindung von kulturellem Wandel und Wahnsinn als Ausschlußprinzip ein beachtliches Zeugnis dar, zum anderen die Delegation der Diskurshüterschaft an spezifische Disziplinen wie Seelenkunde, Psychiatrie, Medizin. Lombroso, Nordau’s »Degeneration«, S. 937.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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Entartung zwei durchaus verschiedene Erscheinungen: »for genius is incidential to evolution, while degeneration is retrogressive«. Allerdings stünden wahre Genialität ebenso wie degenerative Scheingenialität in der Nähe zum Wahnsinn; die Gründe lägen jedoch nicht in degenerativen Erscheinungen, sondern in einer erhöhten Sensibilität und Empfindlichkeit.122 Nordaus Ansatz verlagert aber gegenüber Lombroso auch das Hauptanliegen von der Frage nach der Konstitution des Genies hin auf die Frage nach der Entartung als Erscheinung der kulturellen Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sein Blickpunkt ist der einer tiefgreifenden Kulturkritik, mit welcher er die Kultur des ‘fin de siècle’ analysiert, in welcher er eine gesamtgesellschaftlich sich auswirkende Verbindung von krankhaften Einzelfällen erkennt, die aus der Sicht des Neurologen und Psychiaters teils als Degeneration teils als Hysterie bezeichnet werden könnten. Einzelne degenerierte und hysterische Persönlichkeiten bestimmten durch Gruppenbildungen und Gefolgschaften das Bild einer insgesamt auf bedenkliche Bahnen geratenen Gesellschaft. Dabei verbindet Nordau anthropologische Argumentationen mit moralischen Urteilen, wenn er den Zeitgeist als »Mißachtung der herkömmlichen Anschauungen von Anstand und Sitte« und »praktische Lossagung von der überlieferten Zucht« kritisiert.123 Die physische Entartung korrespondiert mit einer moralischen: »Was fast allen Entarteten fehlt, das ist der Sinn für Sittlichkeit und Recht.«124 Die objektive Kritik der Dichtung und Kunst, wie sie Nordau propagiert, zielt auf die Kritik einer amoralischen Dekadenzkultur der kulturprägenden Schichten, welcher die Normalbürger als Bewunderer zu kritiklos folgten. Nordaus Thesen entfachten eine hitzige internationale Debatte, in der sich Gegner und Befürworter seiner Thesen in leidenschaftlichen Beiträgen zu Wort meldeten. In The North American Review etwa feierte Mayo W. Hazeltine Nordau und sein Werk als einen Hoffnungsschimmer, der bereits die kommende Überwindung der Dekadenzkultur einer müßiggängerischen Oberschicht und ihres pervertierten Kunstverständnisses unter dem »dogma of art for art« anzeige.125 Hazeltine stellt Nordau in den Kontext des französischen Naturalismuskritikers ———————— 122 123 124 125
Max Nordau, A Reply to My Critics. In: The Century 50/N.F. 28 (Mai–Okt. 1895), S. 546– 551, hier S. 551. Nordau, Entartung, Bd. 1, S. 10. Ebd., Bd. 1, S. 35. Mayo W. Hazeltine, Nordau’s Theory of Degeneration III: As to Age-End Literature. In: The North American Review 160 (1895), S. 743–752. – Nordau antwortete auf Hazeltine trotz der Zustimmung zu dessen Fin-de-siècle-Sicht kritisch, da Hazeltine die Dekadenz bloß als einen periodisch auftretenden Verfall der Moral und des Glaubens darstelle. Nordau beharrt dagegen auf der Einmaligkeit des Entartungsprozesses. Max Nordau, Degeneration and Evolution I: A Reply to My Critics. In: The North American Review 161 (1895), S. 80–93, bes. S. 90ff.
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Ferdinand Brunetière (1849–1906), des englischen Sozialpsychologen Benjamin Kidd (1858–1916), des schottischen Theologen und Entdekkungsreisenden Henry Drummond (1851–1897) und des konservativen britischen Staatsmann Arthur James Balfour (1848–1930). Besonders die Verführungskraft der angeblich Degenerierten ist es, die Nordau bloßzulegen versucht, indem er auf die Tendenz zur Gruppenund Schulbildung hinweist:126 Das ist die Naturgeschichte der ästhetischen Schulen. Ein Degenerirter verkündet unter der Wirkung einer Zwangsvorstellung irgend ein literarisches Dogma, den Realismus, die Pornographie, den Mystizismus, den Symbolismus, den Diabolismus. Er thut es mit heftiger, durchdringender Beredsamkeit, mit Aufregung, mit wüthender Rücksichtslosigkeit. Andere Degenerirte, Hysteriker, Neurastheniker schaaren sich um ihn, empfangen das neue Dogma aus seinem Munde und leben von nun an für dessen Ausbreitung.
Von diesen Kreisen ließen sich »junge Leute ohne Urteil«, »Flachköpfe« und »abgelebte Greise« zu einem »überlauten Hoch- und Heil-Gebrüll« verführen.127 Nordaus Aufforderung zu einer Kritik scheinbarer Größe stellt so auch eine Kritik des ‘hero-worship’ und der Massenverführbarkeit dar, deren Gefahren er in deutlichen Worten umreißt:128 […] diese Menge macht, weil sie von Krankheit, Eigennutz und Eitelkeit getrieben ist, sehr viel mehr Lärm und Getümmel als eine weit größere Anzahl gesunder Menschen, die sich ruhig und ohne selbstsüchtige Nebenabsicht an den Werken gesunder Talente erfreuen und sich nicht verpflichtet fühlen, ihre Schätzung auf der Straße auszubrüllen und harmlose Entgegenkommende, die in ihr Gejohl nicht einstimmen wollen, mit Todtschlag zu bedrohen.
Diese Kritik der Zeiterscheinungen verbindet Nordau mit anthropologischen und neurophysiologischen Erklärungen. Denn wenn die kulturelle Situation durch degenerative Erscheinungen verursacht wird, wird »die Zivilisationskritik […] damit Sache des Arztes, besonders des Psychiaters« (Schulte),129 der die Antworten auf die Zeitprobleme aus seinem Fachgebiet geben muß. Gerade auch die Gruppenbildung zeige die Verwandtschaft zwischen Wahnsinnigen, Verbrechern und Künstlern, denn es bestünde eine »gemeinsame organische Grundlage« bei der »Bildung ästhetischer Schulen und der Gründung von Verbrecher-Banden«.130 Entsprechend stellen für Nordau diese Erscheinungen nicht eine Frage persönlicher Schuld der Verführer und Verführten dar, sondern eine Folge der anatomischen Degeneration, die sich in einigen – bereits von Morel und Lombroso aufgestellten – auffälligen körperlichen Stigmata zeige. Nordau ———————— 126 127 128 129 130
Nordau, Entartung, Bd. 1, S. 58. Ebd., Bd. 1, S. 61. Ebd., Bd. 1, S. 62. Schulte, Psychopathologie, S. 202. Nordau, Entartung, Bd. 1, S. 57.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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vermutet entsprechend, daß sich bei einer wissenschaftlichen Untersuchung der »Urheber aller fin-de-siècle-Bewegungen in Kunst und Literatur« solche Entartungserscheinungen durch »körperliche Untersuchungen der bereffenden Persönlichkeiten und eine Prüfung ihres Stammbaumes« nachweisen ließen.131 Allerdings genüge auch ein Blick auf die geistige Charakteristik dieser Persönlichkeiten, denn es sei inzwischen hinreichend bewiesen, daß die körperlichen Stigmata der Entarteten ihre Entsprechung in ‘geistigen Stigmata’ fänden. Als solche geistige Stigmata der Degneration beschreibt Nordau besonders den ‘moralischen Irrsinn’, der seine Wurzeln in einer ‘ungeheuerlichen Selbstsucht’ und ‘Impulsivität’ habe,132 sowie eine Neigung zum »Mysticismus«.133 Hinzu käme eine nicht ausschließlich bei Degenerierten, aber immer bei diesen anzutreffende erhöhte ‘Emotivität’, eine Neigung zu Melancholie, »zur leeren Träumerei« und »Gedankenflucht«.134 Auch für die Erscheinung der Hysterie (bei Frauen und Männern) stellt er einen Merkmalskatalog auf: ‘Emotivität’, ‘Suggestibilität’ und Selbstverliebtheit – mithin die von Nordau aufgestellten »Eigenschaften des ‘fin-de-siècle’-Publikums«.135 Die Verführungskraft der Degenerierten verbindet sich so mit der hysterischen Veranlagung ihrer Verehrer und Bewunderer zu einem Massenphänomen des ‘fin de siècle’. Nordaus Erklärungsversuch für diese Erscheinungen zeigt deutlich den dekadenzkritischen Impuls seiner Theorie. Zunächst schließt er sich zustimmend Morels Vergiftungstheorie an, derzufolge die Degenerationserscheinungen durch den Gebrauch von Alkohol, Tabak, Opium etc., durch den Verzehr verdorbener Nahrung und durch Krankheiten (»organische Gifte«) wie Syphilis, Tuberkulose und andere hervorgerufen würden. Auf diese Weise seien Entartung und Hysterie immer schon vorhanden gewesen, doch fügt Nordau hinzu, daß seit Morels Thesen eine zweite Ursache immer deutlicher hervortrete und Entartung und Hysterie zu einer »Volkskrankheit«136 werden lasse: »der Aufenthalt in der Großstadt«,137 der eine organische Ermüdung des Menschen zur Folge habe, die von Generation zu Generation sich verstärkend zu Entartung und Hysterie führe. Auf diese Weise wird Nordaus Untersuchung zur Entartung schließlich zu einer Pathologie der Zivilisation, welche die Kritik am Moral- und Werteverfall auf eine neurologische Grundlage zu stellen versucht. So erklärt Nordau etwa den ‘Mystizismus’ und seine Schulen ———————— 131 132 133 134 135 136 137
Ebd., Bd. 1, S. 34. Ebd., Bd. 1, S. 36. Ebd., Bd. 1, S. 42. Ebd., Bd. 1, S. 38ff. Ebd., Bd. 1, S. 50. Ebd., Bd. 2, S. 523. Ebd., Bd. 1, S. 65.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
(Präraphaeliten, Symbolisten, Tolstoianer, Richard-Wagner-Verehrer) auf neurophysiologischer Grundlage als ein Fehlen der ‘Aufmerksamkeit’, welche die Sinneseindrücke des normalen Menschen, seine ‘IdeenAssoziation’ und die Verwaltung der Erinnerungsbilder reguliere. Durch die fehlende ‘Aufmerksamkeit’ entstünden »Gedanken und Vorstellungen […], die das Bewußtsein narren und necken wie Irrlichter oder Dünste über Sümpfen«.138 Diesem fehlgeleiteten Denken entspreche auch der Stil und die Ausdrucksweise der Mystiker. Seine Belege für die Werke der Entarteten muß Nordau deswegen nicht aus einer biographischen Argumentation herleiten, sondern aus einer werkimmanenten, indem er Sprach-, Form- und Stilkritik an den Werken der Schriftsteller übt. Verlaine etwa zeige deutlich die Merkmale »schwachsinnigen Denkens«, was sich zum einen durch »die häufige Wiederkehr desselben Wortes, derselben Wendung« zeige, zum anderen durch »das Verknüpfen gänzlich unzusammenhängender Haupt- und Beiwörter, die einander durch eine sinnlos schweifende Ideen-Assoziation oder durch Klangähnlichkeit rufen«.139 Gerade Verlaine habe zudem die »Verschwommenheit seines Bewußtseins« in »einem psychologisch höchst bemerkenswerthen« Gedicht Art poètique zum poetologischen Prinzip erklärt.140 Dagegen setzt Nordau ein Dichtungsideal, welches er durch Goethe (Prometheus, Iphigenie auf Tauris) oder Heine (Nordsee-Zyklus) repräsentiert sieht. Neben dem Mystizismus gilt seine Kritik den Vertretern der »Ich-Sucht« (Ibsen und Nietzsche als wichtige Belege) und den scheinbaren ‘Realisten’ (besonders Zola). Dabei betont Nordau, daß sämtliche Entarteten letztlich alle Stigmata aufweisen, wenn auch einzelne Züge wie der Mystizismus und die Ich-Sucht besonders hervortreten könnten. In einem Rundumschlag werden so alle jüngeren literarischen und künstlerischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts in Nordaus Entartungskritik einbezogen. Entsprechend lautete etwa die Kritik des amerikanischen Malers und JeanLeon Gerome-Schülers Kenyon Cox (1856–1919) in The North American Review, Nordau werte letztlich jedes künstlerische Schaffen als pathologische Erscheinung ab und weise das Urteil über die Kunst und Kunstentwicklung den ästhetisch konservativen und kunstfeindlichen Schichten des Kleinbürgertums und des Proletariats zu, die Nordau in den Besitz »of all that is left of mental soundness in a decaying age« setze.141 ———————— 138
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Ebd., Bd. 1, S. 106. – Der ausführliche neurophysiologische Argumentationsgang Nordaus soll an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Entscheidend ist vor allem die Erklärung der ‘Zeitübel’ auf der Basis neurophysiologischer Erscheinungen. Ebd., Bd. 1, S. 224, 226. Ebd., Bd. 1, S. 227. Kenyon Cox, Nordau’s Theory of Degeneration I: A Painter’s View. In: The North American Review 160 (1895), S. 735–740, zit. S. 735. – Vgl. auch Nordaus Reaktion auf die Kritik in: Nordau, Degeneration and Evolution I, S. 80–89.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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In einem Schlußkapitel verbindet sich Nordaus kritische Sicht auf die eigene Zeit mit einer durchaus optimistischen Zukunftsvision,142 derzufolge sich die »Zeithysterie« als Ermüdungserscheinung der Großstadtmenschen dadurch von selbst beheben werde, daß – streng nach den Degenerationsgesetzen – die Entarteten und Hysteriker mit der Zeit aus der Gesellschaft durch Absterben ihrer Erbfolge ausgeschieden würden und ein neuer, anpassungsfähigerer Teil der Menschheit sich aus den ‘Gesunden’ entwickeln werde.143 Die Degenerierten allerdings seien nicht zu retten: »Sie werden eine Zeit lang rasen und dann untergehen.«144 Sein Werk dagegen solle dazu beitragen, die Verführungskraft der Degenerierten zu begrenzen und das Zeitübel nicht über den Grad hinaus wirksam werden zu lassen, der anthropologisch-anatomisch nun einmal vorhanden sei. Dazu fordert er zur gezielten Kritik unsittlicher Werke auf, die kein Buchhändler vertreiben solle und zur Ausgrenzung entarteter Literaten aus den Publikationsmedien:145 Daran mag jeder die echten Modernen erkennen und von den Schwindlern, die sich Moderne nennen, sicher unterscheiden: wer ihm Zuchtlosigkeit predigt, der ist ein Feind des Fortschrittes, und wer sein Ich anbetet, der ist ein Feind der Gesellschaft. Diese hat Nächstenliebe und Opferfähigkeit zur ersten Voraussetzung und der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer Bezwingung des Thiers im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung, immer feinern Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühls. Die Emanzipation, für die wir wirken, ist die des Urtheils, nicht die der Begierden.
Gerade in diesen Sätzen wird deutlich, daß die Entartungsdiskussion bei Nordau durchaus ein anderes Ziel verfolgt als die Vermenschlichung historischer Persönlichkeiten im Sinn einer Klärung ihrer psychophysischen Konstitution. Es geht zentral auch um die Verteidigung des vernunftethischen Menschenbildes der bürgerlichen Anthropologie gegen die Erkenntnis der persönlichkeitskonstitutiven Psyche und Physis des Menschen, insbesondere gegen seinen sozialethisch unverantwortlichen Egoismus und dessen soziale Erscheinungen wie Nationalchauvinismus, Klassenkampf oder Anarchie.146 Nordau gehörte zu den heftigen Kritikern des (Pseudo-)Darwinismus. In einem Aufsatz Philosophy and Morals of War (1899) vertrat er die Ansicht, unter dem Namen und der Autorität der Evolutionstheorie Charles Darwins würden die ‘natürliche Barbarei’ und ———————— 142
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Dies setzt ihn auch – wie bereits Schulte angemerkt hat (Psychopathologie, S. 216) – in Gegensatz zur Zivilisationskritik eines Langbehn, dessen Werk Nordau als »Faselei eines Schwachsinnigen» ablehnt (Nordau, Entartung, Bd. 1, S. 119f., Fn. 1). Vgl. Nordau, Entartung, Bd. 2, S. 521–544. Ebd., Bd. 2, S. 547. Ebd., Bd. 2, S. 562. Max Nordau, Philosophy and Morals of War. In: The North American Review 169 (1899), S. 787–797, hier S. 797.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
die ‘innersten blutigen Instinkte’ legitimiert.147 In Nordaus Entartung werden so Normalität und Degeneration anders als bei Lombroso zum Prinzip der Ausgrenzung, welches die sittliche Autonomie des Bürgers von der Triebnatur des Kranken und Entarteten sowie desjenigen trennt, der der Herrschaft der sittlichen Vernunft widerstrebt, und das insbesondere jüngere kulturelle Entwicklungen als ‘Entartungen’ von einer vernunftethischen und wissenschaftlich-rationalistischen Tradition scheidet. – So verwundert es kaum, daß Nordaus eigene biographische Essays, die er 1916 unter dem Titel Französische Staatsmänner publizierte, konventionellen Mustern verpflichtet bleiben, die ihre Wurzeln in der biographischen Essayistik am Beginn des 19. Jahrhunderts haben. Wenn Nordau die französische Geschichte seit der Revolution bis in seine Gegenwart als Geschichte des Konflikts zweier ‘Frankreiche’ sieht, deren eines die Anerkennung der ‘souveränen Persönlichkeit’ und deren anderes die ‘willenlose’ Königsgefolgschaft propagiere, dann handelt es sich letztlich um die Durchsetzungsgeschichte eines vernunftethischen Individualismus, der nun von Nordau gegen andere Entwicklungen verteidigt wird. In der Tradition eines Varnhagen von Ense gibt Nordau differenzierte Charakterprofile, die eine unrealistische Idealisierung durch die Analyse ethischer Grundsätze, richtiger und falscher Überzeugungen ersetzen. Die biographische Studie Adolphe Thiers etwa wird als Abwägung der positiven und negativen Charaktereigenschaften und Handlungsziele inszeniert. Thiers erscheint als autonomes Individuum, dessen »sittlicher Heldenmut«148 sich – in einer eher deutschen Perspektive auf die französische Geschichte – etwa darin zeigt, daß er sich als einzelner gegen den ‘allgemeinen französischen Chauvinismus’ bei der Kriegsentscheidung 1870 gestellt habe. »Zu den höchsten Gestalten aller Zeiten und Länder«149 sei er nun zu rechnen, da er Frankreich nach der Niederlage wieder ‘eingerichtet’ habe – und selbst Bismarck habe seine Leistung anerkennen müssen. Ausführungen zu Generationsverhältnissen, Erbfolgen fehlen hier ebenso wie jede Form einer Pathologisierung – im Bereich der autonomen Individuen und sittlichen Entscheidungen herrscht Verantwortlichkeit, Vernunft … und psychophysische Gesundheit. Aus dieser Perspektive wäre auch Thomas Anz zuzustimmen, der Nordau letztlich in der Tradition der Aufklärungsdebatten des 18. Jahr———————— 147
148 149
»[…] since the theory of evolution has been promulgated, they [i. e. »the pseudo-Darwinian philosophers and politicians«] can cover their barbarism with the name of Darwin and proclaim the sanguinary instincts of their inmost hearts as the last word of science.« Nordau, Philosophy and Morals, S. 794; vgl. a.: Ronald W. Clark, Charles Darwin. Biographie eines Mannes und einer Idee. Übers. von Joachim A. Frank. Frankfurt/M.: Fischer 1985, S. 250. Max Nordau, Adolphe Thiers. In: Ders., Französische Staatsmänner. Berlin: Ullstein 1916, S. 43–71, hier S. 56. Ebd., S. 61.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
227
hunderts sieht.150 Nordaus Position ist eine Verteidigung der philosophisch-ethischen Konzeption des reflektierenden Vernunftmenschen in der Tradition Kants gegen Erscheinungen des Irrationalismus und der Begrenzung der ethischen Freiheit des Menschen – freilich um den Preis einer Grenzziehung zwischen den ‘gesunden’ Vernunftmenschen und den ‘entarteten’. 3.3.3. Die Pathographik von P. J. Möbius Gegen eine deutliche Grenzziehung zwischen Geisteskrankheit und Geistesnormalität wendete sich dagegen Paul Julius Möbius, der insbesondere die juridischen Konsequenzen einer solchen Grenzziehung als »Thorheit und Unheil« klassifizierte.151 Da es in der Natur keine Sprünge gebe, könne auch die Einteilung in sittlich selbstverantwortliche Individuen einerseits und Geisteskranke andererseits nicht aufrecht erhalten werden: »Wir alle sind nicht vollkommen gesund, sind in gewissem Grade entartet, und wenn wir von gesunden und kranken Menschen reden, so handelt es sich eigentlich nur um Grad-Unterschiede.«152 Entsprechend widmete sich Möbius mit einer gewissen Vorliebe gerade anerkannten Persönlichkeiten – Goethe, Rousseau, Schopenhauer oder einer Reihe von Mathematikern –, um die Zusammenhänge von Pathologie und Persönlichkeit auch diesseits der Grenzziehung zu dokumentieren. Dabei betonte Möbius allerdings die Nähe des Genialen zum Geisteskranken, denn: »Einseitigkeit ist Entartung«.153 Möbius arbeitete auf den unterschiedlichsten Gebieten der Medizin und Neurologie; zu seinen wichtigsten, teils bis heute diskutierten Forschungsergebnissen zählen Beiträge zur Syphilis, zur Basedowschen Krankheit und zur Erforschung der Migräne. Dabei beschäftigten ihn besonders die organischen Ursachen dieser Krankheiten. So entdeckte er als erster, daß die Basedowsche Krankheit auf einer Fehlfunktion der Schilddrüse basiert, und er versuchte organische Erklärungen für die Migräne zu geben. Schon frühzeitig trat ein weiteres Untersuchungsgebiet hinzu: die Erblehre und die Frage nach den anatomischen, organischen Grundlagen besonderer Fähigkeiten. Während er so in der Tradition der ———————— 150
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Vgl. Thomas Anz, Gesundheit und literarische Norm. Max Nordaus Theorie der Entartung als Paradigma pathologischer Kunstkritik. In: Anz, Gesund oder krank?, S. 33–52, hier etwa S. 46f. Vgl. die Einleitung in: Paul J. Möbius, Goethe. I. Theil. Leipzig: J. A. Barth 1903 (Ausgewählte Werke 2), zit. S. 3. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. – Als Entartung definiert Möbius »jede nachtheilige Abweichung vom Typus, die vererbbar ist« (ebd., S. 7).
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
anatomisch und physiologisch arbeitenden Neurologie stand, leitete ihn sein Interesse auch auf bis dahin wenig behandelte Felder, die zu einem interessanten Anknüpfungspunkt für den drei Jahre jüngeren Freud wurden – wie etwa sein Hinweis auf die Bedeutung der Sexualität in der künstlerischen Produktion. In seinen Werken bezieht sich Möbius selten auf die Studien seiner Vorbilder, und auch kritischen Auseinandersetzungen mit anderen Meinungen werden nur am Rande geführt. Dennoch lassen sich einige Gewährsleute finden, deren Werke und Lehren Möbius zustimmend rezipiert. Explizit hervorgehoben werden vor allem die Psychophysik Fechners sowie die frühen hirn- und schädelanatomischen Studien von Franz Joseph Gall. Magnans Theorien machte Möbius durch eine Übersetzung ins Deutsche bekannt.154 Zurückhaltender, aber weitgehend zustimmend, verweist Möbius zudem auf die Werke von Lombroso, dem er allerdings angesichts der Breite seiner Interessen Oberflächlichkeit und Fahrlässigkeit im Umgang mit Einzelfällen vorwirft,155 sowie auf Galton und Nordau. In den biographischen Studien finden sich zudem Ausführungen über die ‘Periodizität’ der Lebenstätigkeiten; nachdrücklich weist Möbius – in Anschluß an Wilhelm Fließ oder den englischen Sexualforscher Havelock Ellis (1859–1939) –156 auf die Existenz einer geschlechtlichen 28-TagePeriode nicht nur beim weiblichen sondern auch beim männlichen Geschlecht hin. Wenngleich beim ‘gesunden’ Mann diese Periode kaum zu bemerken sei, so macht er sie doch für gewisse körperliche und geistige Veränderungen verantwortlich.157 Möbius vertritt in seiner Rezeption Galls und Fechners weitgehend eine monistische Sicht auf das Verhältnis von Körper und Geist, Leib und Seele oder Physis und Psyche des Menschen. Dabei geht er allerdings nicht von einer mechanistischen oder materialistischen Beziehung aus, sondern von einer Parallelität leiblicher und seelischer Prozesse: »Soweit unsere Beobachtung reicht, geht neben jedem seelischen Vorgange ein körperlicher oder materieller her.«158 Auf Gall Bezug nehmend übernimmt ———————— 154 155 156
157 158
Magnan, Psychiatrische Vorlesungen. Vgl. etwa die Einleitung in: Paul J. Möbius, Schopenhauer. Leipzig: Barth 1904 (Ausgewählte Werke 4), S. 1–4. Havelock Ellis äußert sich in seinem bekannten Werk »Mann und Weib« in der Gewißheit, daß es einen solchen Zyklus beim Mann gebe, wendet aber ein, sein eigenes diesbezügliches Material sei noch nicht publikationsreif: Havelock Ellis, Mann und Weib. Anthropologische und psychologische Untersuchung der sekundären Geschlechtsunterschiede. Übers. von Hans Kurella. Leipzig: Wigand, 1894, S. 246, Fn. 3. – Die Periodizitätsstudie von Wilhelm Fließ erschien erst 1906 (Fließ, Ablauf des Lebens). Zum Thema äußerte sich zuvor auch Hermann Swoboda, der über Fließ’ Freund Sigmund Freud von dessen langjährigen Studien Kenntnis hatte. Möbius, Goethe. I. Theil, S. 205, 227. Ebd., S. 11.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
229
er auch dessen Grundannahme »über die gesetzmäßige Verknüpfung geistiger Eigentümlichkeiten mit Eigentümlichkeiten der Kopfform«,159 und er versucht durch eigene Forschungen etwa Ueber die Anlage zur Mathematik, Galls These vom ‘mathematischen Organ’ kritisch zu verifizieren und durch neue Untersuchungsergebnisse zu erweitern.160 So untersuchte Möbius etwa den Schädel seines Großvaters, des Mathematikers A. F. Möbius, zeigte das ‘mathematische Organ’ sowie das Zeichen für zeichnerische Begabung und bestätigte an diesem Beispiel Galls Ausführungen über den Sitz des ‘Sinnes für Mechanik’.161 Galls Phrenologie war am Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung, doch gerade die psychiatrische Forschung bestätigte zu dieser Zeit regelmäßig die Bedeutung kraniologischer Untersuchungen.162 Möbius bewegte sich also durchaus in einem zentralen Forschungsgebiet der Neurologie und Psychiatrie, wobei er als sein Untersuchungsfeld vor allem die historische Perspektive wählt. Besonders in seinen Pathographien zu Nietzsche und Schopenhauer kommentiert er ausführlich die Besonderheiten der Schädelform. Diese Forschungen dokumentieren die grundlegende Ansicht von Möbius, daß letztlich sämtliche Fähigkeiten des Menschen auf seinen angeborenen Anlagen beruhen: »Ein erworbenes Talent, eine erworbene Anlage giebt es nicht.«163 Explizit wendet sich Möbius dabei gegen die Annahme der Aufklärungsanthropologie (Helvetius) von der grundlegenden Gleichheit der Menschen; nicht die Erziehung, sondern die Anlagen seien für die spezifischen Fähigkeiten des Menschen verantwortlich. So hält Möbius etwa eine Trunksucht nur dann für möglich, wenn die erbliche Veranlagung zur Sucht besteht. Derselbe Grundgedanke zeigt sich auch in seiner Studie Ueber Kunst und Künstler, in welcher er bemängelt, in der Erforschung des künstlerischen Talentes gehe man vom Kollektivsingular ‘Kunst’ aus und nehme nur eine Neigung zur Kunst als Anlage an. Möbius möchte dagegen zeigen, daß die unterschiedlichen Künste ganz differenzierte Anlagen voraussetzen. Bei der Wahl des künstlerischen Betätigungsfeldes spiele eben nicht die Erziehung eine Rolle, sondern die spezifische angeborene Anlage des Individuums, seine angeborene Befähigung zu einer bestimmten künstlerischen Tätigkeit.164 Solche Überlegungen stehen offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit den Vererbungstheorien, wie sie für die Anlagen der Talen———————— 159 160 161 162 163 164
Paul J. Möbius, Franz Joseph Gall. Leipzig: Barth 1905 (Ausgewählte Werke 7), S. 210. Paul J. Möbius, Ueber die Anlage zur Mathematik. 2., verm. Aufl. Leipzig: Barth 1907 (Ausgewählte Werke 8). Paul J. Möbius, Ueber den Schädel eines Mathematikers. Leipzig: Barth 1905. So a. Hirschmüller, Freuds Begegnung, S. 156ff. Paul J. Möbius, Mathematik, S. 9. Paul J. Möbius, Ueber Kunst und Künstler. Leipzig: Barth 1901, S. 14.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
tierten respektive Genialen von Galton vorgenommen worden sind. Möbius kritisiert allerdings bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit Galton dessen undifferenzierte Betrachtung, denn Galton habe nur allgemein nach den hervorragenden Verwandten der besonderen Persönlichkeiten gefragt, nicht aber nach den spezifischen Talenten. Auch diese Kritik zieht ihre wesentlichen Argumente aus der Rezeption der Lehren Galls, der eben eine differenzierte Anatomie der Anlagen in seinen schädelanatomischen Untersuchungen angenommen hatte. Ähnlich wie Galton führen allerdings auch Möbius diese erbtheoretischen Fragen zu eugenischen Überlegungen, die er in einem ausführlichen Essay Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes dargelegt hat.165 Dabei interessiert sich Möbius insbesondere für die pragmatische, legislative Eugenik. Es käme darauf an, so heißt es dort, daß »man erkenne, die Geburt nicht die Erziehung mache den Menschen. Will man den besseren Menschen, so muss man ihn zeugen, nicht nur erziehen«.166 Grundlegend für eine zielgerichtete staatliche Eugenik sei dabei, daß man sich um eine wissenschaftliche Grundlegung der Erbfragen bemühe und sich über das zu erreichende Ideal im Sinne einer Harmonie der Körper- und Geisteskräfte verständige.167 Die wichtigsten praktischen Anregungen gehen zum einen von der legislativen Verhinderung von Degenerationserscheinungen und zum anderen vom Rückzug der bürgerlichen Gesetzgebung aus der natürlichen Partnerwahl aus. Einerseits sei die Fortpflanzung Geisteskranker gesetzgeberisch zu verhindern: »Das erste Ziel wäre die Ausmerzung der Kranken und der Bösen.«168 Andererseits sollten sozialstaatliche Erleichterungen die natürliche Partnerwahl begünstigen, denn die natürliche Anziehungskraft in der Liebesehe würde die Kombination günstiger Anlagen befördern. Solche Eheschließungen sollten durch den Staat finanziell abgesichert werden, auch wenn das bürgerliche Kriterium eigener Existenzsicherung durch die Brautleute noch nicht erreicht wäre. Schließlich müsse es eine Erleichterung für Ehescheidungen geben in solchen Fällen, in denen eine ungünstige Anlagenvererbung durch die Degeneration eines Partners vorliege oder überhaupt die Pflicht zur veredelnden Fortpflanzung nicht gewährleistet sei. Freilich ist dieser Gedanke bei Möbius nicht so kulturkritisch aufzufassen, wie er zunächst erscheinen könnte, denn er führt aus, auch manche zivilisatorischen Erscheinungen und sozialen Reglementierungen hätten positive Auswirkungen auf die ‘Veredelung’ gehabt, so etwa die Adelspflicht zur standesge———————— 165
166 167 168
Paul J. Möbius, Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. In: Ders., Im Grenzlande. Aufsätze über Sachen des Glaubens. Leipzig: Barth 1905 (Ausgewählte Werke 6), S. 99–140. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 104. Ebd., S. 116.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
231
mäßen Heirat, die über die Jahrhunderte hinweg gerade das paradigmatische Beispiel für eine überwiegend gelungene Veredelungsgeschichte auf ein schichtspezifisches Ideal hin darstelle. Am Ende seines Essays Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes kommt schließlich Möbius auf das Problem der »Rassenkreuzung« zu sprechen.169 Allein hier fehlten die wissenschaftlichen Grundlagen, um dieses Problem adäquat zu behandeln. Die negativen Beispiele – wie »die Sprösslinge von Engländern und Australnegern« –170 reichten nicht aus, um eine »Rassenkreuzung« prinzipiell abzulehnen. Immerhin gehörten Franzosen und Engländer, also Produkte der Rassenkreuzung, zu »den vortrefflichsten Völkern«, und auch gegen Ehen »zwischen Juden einerseits, Deutschen u. s. w. andererseits« könne man keine Einwände vorbringen.171 Möbius abschließende Forderung nach »eingehende[n] Untersuchungen und womöglich planmässige[n] Versuche[n] über die sogenannten Rassenkreuzungen«172 rufen gleichwohl die Pervertierung dieser Forschungsrichtung im 20. Jahrhundert in Erinnerung, für welche Möbius zumindest als ein Stichwortgeber fungierte. Vor dem Hintergrund dieser knapp skizzierten Vorstellungen entwickelt Möbius auch seine historisch-pathographischen Studien über bedeutende Persönlichkeiten. Bei der Darstellung von historischen Taten und bedeutenden Werken müsse immer ein deutlicher Biographismus verfolgt werden, denn die Kenntnis der Personen sei für die Deutung von Taten und Werken unmittelbar relevant. Da nun die Kenntnis der Person maßgeblich von der Kenntnis ihrer Anlagen und deren Entfaltung im Leben bestimmt sei, diese Anlagen aber das Forschungsgebiet der Vererbungstheoretiker und vor allem der Mediziner seien, müsse die Biographik auch in erster Linie von diesen als Wissenschaftsaufgabe anerkannt werden. Sie könne nicht den »Buchmenschen (Philologen, Historiker, Schriftsteller ohne Belastung durch Fachwissen)« überlassen werden, sondern müsse durch die ‘Praktiker’ der Menschenkenntnis (Juristen, Ärzte, Theologen, Diplomaten und Offiziere) betrieben werden.173 Insbesondere der Arzt sei der wichtigste ‘Sachverständige’ im Ringen um die biographische Wahrheit: »Weil an jedem hervorragenden Menschen das Pathologische theilhat, darum ist bei jeder Biographie die Hilfe des Sachverständigen nöthig: Man soll über Keinen urtheilen, ohne Grad und Richtung seiner Entartung ———————— 169 170 171 172 173
Ebd., S. 139. Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Ebd., S. 140. Paul J. Möbius, Einleitung zu den ersten vier Bänden. In: Ders., J. J. Rousseau. Leipzig: Barth 1903 (Ausgewählte Werke 1), S. V–XIV, hier S. VII.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
bestimmt zu haben.«174 Möbius verstand seine Pathographien entsprechend als Berichte eines Sachverständigen innerhalb der jeweiligen Biographisierungsgeschichte, und er konzentrierte sich entsprechend auf die Anlagen der Persönlichkeit und die Geschichte ihrer Entfaltung im Lebenslauf, wesentlich also um die Entwicklungsgeschichte der pathologischen Züge des Biographierten. In dieser Weise wird von Möbius zum Beipiel Goethe analysiert. In seiner pathographischen Studie Goethe (zuerst 1898), die sich in die beiden Teile »Goethe und das Pathologische« und »Das Pathologische in Goethe« gliedert, umreißt Möbius zunächst den seelenkundlichen und psychiatrischen Kenntnisstand Goethes175 und gibt dann eine Lebensbeschreibung als Krankengeschichte. Die Pathographie Goethes im zweiten Teil der Studie wird als die Geschichte der körperlichen Erkrankungen und die des Geisteszustandes nacheinander dargestellt. Krankheitsbilder und Geisteszustände werden jeweils aus dem biographischen Material beschrieben; die Aufgabe des Pathographen besteht dann in einer Analyse und Wertung des Materials. Möbius betont dabei einerseits bestimmte Merkmale der Genialität (z. B. »Frühreife«, Lebensüberdruß im Jugendalter),176 andererseits wird die Ähnlichkeit der genialischen Züge Goethes mit pathologischen Erscheinungen hervorgehoben. Dabei ist es Möbius besonders wichtig, jeweils die inneren (leiblich-seelischen) Ursachen der Körper- und Geisteserscheinungen aufzuzeigen und gegen die literatursoziologisch-positivistischen Theorien eines Hippolyte Taine und seiner Nachfolger zu zeigen, daß »die widerwärtige und dumme Lehr, dass die Hauptsache für den Menschen das ‘Milieu’ sei«177 unzutreffend ist:178 Man muss anerkennen, dass die äusseren Bedingungen [für Goethe in Weimar] ausserordentlich günstig waren, die Hauptsache bleibt aber doch die dem Individuum Goethe eigene Entwicklung aus inneren Gesetzen. Gewiss kann die Rose ohne Sonne und Regen nicht blühen, aber die Rosen entfalten sich doch nur auf einem Rosenstrauche. ———————— 174 175
176 177 178
Ebd., S. XII. Möbius, Goethe. I. Theil. – Möbius versucht diesen Kenntnisstand anhand einzelner Lektüren, Spitalbesuche, Bekanntschaften mit Geisteskranken und Kontakten zu Ärzten zu rekonstruieren. Ferner wird Goethes Begriffsgebrauch (Hypochondrie, Wahnsinn, Seelenleiden) analysiert und der seelenkundlich-psychiatrische Gehalt seiner Werke bestimmt. – Möbius’ Goethe-Biographie hat seinerzeit Aufsehen erregt und das Goethe-Bild im Sinn eines Ausgangspunktes für die weitere Auseinandersetzung beeinflußt. Hans-Martin Kruckis hat dieses Werk, welches manche seiner Thesen betroffen hätte, leider nicht berücksichtigt. Kruckis, »Ein potenziertes Abbild der Menschheit«. Ebd., S. 176, 183. – Das besondere taedium vitae des Genialen erklärt Möbius aus der ‘einseitigen Gehirnentwicklung’ als Teil der Abnormität des Genies. Ebd., S. 183. Ebd., S. 191. – Dies gilt auch für Krankheiten: »der Gesunde wird nicht krank und überwindet die Hindernisse, der Entartete aber wird das Opfer der Krankheit, und der Stein, der jenem eine Strafe ist, erdrückt diesen.« (Ebd., S. 261).
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
233
Insbesondere sind zwei Aspekte für Möbius wichtig: zum einen die ursächlich pathologische siebenjährige Periodizität 179 der Erregungszustände und Depressionen bei Goethe,180 zum anderen die erbliche Belastung, die aus einer Analyse der gesamten Familie Goethe (und Vulpius) gewonnen werden. Zwar läßt sich, wie Möbius einräumt, aufgrund der außerordentlichen Komplexität und der jeweiligen Einmaligkeit des Vererbungsprozesses kaum Zuverlässiges aussagen, doch läßt er die Pathologie der Familienmitglieder einfach für sich sprechen: »In Goethes Nachkommenschaft erreichte das Pathologische eine furchtbare Höhe.«181 Allein Goethe selbst scheint als Genie aus der Reihe entarteter Abnormität herauszuragen; seine eigenen Nachkommen werden als durchweg pathologisch gekennzeichnet, was den doppelten Grund habe, daß einerseits eine über mehrere Generationen anwachsende erbliche Belastung in der Familie Goethe vorhanden sei (erbliche Trunksucht), andererseits »die Fülle der Geisteskinder der natürlichen Vaterschaft abträglich zu sein«182 scheint: »Der Genius erscheint auf der Erde nicht, um die Zahl der Menschen zu vermehren, seine Werke sind seine unsterblichen Kinder.«183 3.3.4. Kritik der Pathographik Kritik an der Psychopathologie formierte sich von unterschiedlicher Seite. Sowohl Veränderungen in der Auffassung von der Psychopathologie184 als auch neue psychologische Ansätze wie die Sozialpsychologie, die Psychoanalyse oder der Irrationalismus führten zu einer Veränderung der Sichtweise auf das Individuum. Gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zeigen sich vielfältige Neuerungsversuche innerhalb (und am Ran———————— 179
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Die siebenjährige Periodizität dürfte noch in der Tradition der auf die Antike zurückreichenden und bis ins 19. Jh. angenommenen Konzeption der ‘Stufenjahre’ zurückverweisen, die als Schicksalsjahre bzw. als Jahre organischer Umstrukturierung galten. Vgl. Titzmann, »Bildungs-« / Initiationsgeschichte, S. 38. – Titzmanns Annahme einer »Tilgung dieses Konzepts aus dem kulturellen Wissen« im späten 19. Jh. (ebd.), erwiese sich dadurch als unzutreffend; eher wäre von einer Reformulierung im Kontext der Periodizitätsannahmen in (Teilen der) medizinisch-psychiatrischen Anthropologie zu sprechen. Auch für die Erklärung des sogen. ‘Dichterfrühlings’ (1814) weist Möbius entsprechend auf die inneren Ursachen hin – im Gegensatz zu den bisherigen, ‘psychologisch’ mit äußeren Einflüssen argumentierenden Biographen. Dies betont auch: Paul Knauth, [Rezension zu: Möbius, Über das Pathologische bei Goethe.] In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 13 (1899), S. 576–583, hier S. 582. Möbius, Goethe. I. Theil, S. 240. Ebd., S. 245. – Möbius führt in diesem Zusammenhang auch aus, daß sich bei Frauen Reproduktion und geistige Produktivität vollkommen ausschließen (ebd.). Ebd., S. 264. Von besonderer Bedeutung etwa: Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin: Springer 1913.
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de) der Psychologie sowie eine Neuorganisation des gesamten psychologischen Wissensbestandes mit einer schnell wechselnden Terminologie, deren rascher Wandel in den jeweils neuesten Auflagen von Emil Kraepelins (1856–1926) Compendium der Psychiatrie (seit 1883) seinen Niederschlag fand.185 Auch die Pathographik macht in dieser Zeit deutliche Änderungen durch; die ältere, hirnanatomische Pathographik war bereits durch Möbius’ kritischen Anschluß an Entartungstheorien überwunden worden. Die Lombroso zugeschriebene Auffassung, es handle sich bei der Degenerationserscheinung Genialität um Psychosen und ‘geistige Erkrankungen’ wurde durch reizphysiologische Theorien ergänzt oder ersetzt, nach denen »sich diese Abnormität [des Genies] auf gewisse indifferente Züge von Nervosität« beschränkt (Lomer).186 Daneben entwickelten sich zahlreiche neue Versuche historischpathographischer Arbeiten. Angesichts eines rasch sich wandelnden Kenntnisstandes wurden die Ergebnisse dieser Arbeiten auch deutlicher als jeweils ‘historische’ Fallstudien erkennbar, und 1912 konnte der zur Psychoanalyse übergeschwenkte Nervenarzt und Pathograph Isidor Sadger (1867–1942) in einem Aufsatz Von der Pathographie zur Psychographie zu Recht von einer Krise der Pathographie sprechen: »Es konnte passieren, daß eine Diagnose von 1905 schon 1910 vollständig überholt war, oder, was noch erquicklicher, daß namhafte Psychiater auf Grund des nämlichen Quellenmaterials zu entgegengesetzten Diagnosen kamen.« 187 Als Beispiel nennt Sadger den Streit zwischen Paul J. Möbius und Hans W. Gruhle über die Krankheit des Schriftstellers Joseph Victor von Scheffel. Tatsächlich waren Entscheidungen im Bereich der historischen Pathographik kaum mit letzter Gewißheit zu treffen, besonders wenn das historische Material von so zweifelhaftem Wert war wie etwa bei der vielfach abgehandelten Frage nach dem Menschen Jesus. Nicht selten wurden dann die Auseinandersetzungen um psychologische und psychiatrische Schulrichtungen nicht auf dem Boden der Theoriedebatten geführt, sondern beschränkten sich auf die zur Diskreditierung des Gegners weit einfachere Methode der Kritik der Quellenarbeit. Dies weist auf das grundlegende Problem einer jeden historischen Psychologie und Psychiatrie, daß ———————— 185
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Emil Kraepelin, Compendium der Psychiatrie zum Gebrauche für Studirende und Aerzte. Leipzig: Abel 1883; ab der 2. Aufl. u. d. Titel: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Leipzig: Abel 21887, 31889, 41893; ab der 5. Aufl. u. demselben Titel im Verlag Barth: 51896, 61899, 71903/04, 81909–15, 91927. De Loosten [d. i. Georg Lomer], Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters. Eine kritische Studie für Fachleute und gebildete Laien. Bamberg: Handels-Druckerei 1905, S. 6. – Zu Lomer siehe u. Isidor Sadger, Von der Pathographie zur Psychographie. (1912). In: Jens Malte Fischer (Hg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus »Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften« (1912–1937). Tübingen u. München: Niemeyer u. dtv 1980 (dtv 4363), S. 64–85.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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sie sich – wie schon Albert Schweitzer (1875–1965) fordert – einer doppelten Kritik, »einer Nachprüfung vom Standpunkt des Psychiaters und Historikers«, unterziehen muß.188 Und die vielfach beteuerte Ansicht, bei der Beurteilung der historischen Persönlichkeit sei allein der Nervenarzt als Fachmann qualifiziert, war leicht durch den Nachweis eines unsachgemäßen Umgangs mit den Quellen – etwa im Fall der Jesus-Studien seitens der theologischen Bibelkritik – zu entkräften. Schweitzer kommt in seiner Dissertation, einer Kritik der Jesus-Pathographik, 1913 zu dem Schluß, die Autoren würden auf der Basis ungesicherter biographischer Fakten Krankheitssymptome herleiten, die sie als charakteristische Symptome solcher Krankheitsbilder ausgäben, welche sich wiederum kaum zwanglos den aus der Literatur bekannten »klinischen Krankheitsformen« zuordnen ließen.189 Einen anderen Aspekt benennt dagegen Karl Jaspers, der insbesondere kritisiert, der Pathograph überschreite seine Grenzen, wenn er nicht nur über sein Fachgebiet schreibe, sondern auch eine Beurteilung etwa der literarischen Werke des Pathographierten unternehmen wolle: »Urteilt der Psychopathologe darüber, so gibt er als Dilettant ein subjektives Urteil ab, das niemand interessieren, aber manchen empören kann.«190 Auch das grundsätzliche Problem einer historischen Pathographik bringt Jaspers zur Sprache. Er fordert entsprechend, die psychopathologischen Studien nicht so sehr im historischen Bereich, sondern für die Gegenwart zu leisten. Bereits 1902 hatte – wiederum mit anderer Akzentuierung – der erst 25jährige Wundt-Schüler und Sozialpsychologe Willy Hellpach (1877– 1955) in seiner umfangreichen und beeindruckend breit angelegten Studie Die Grenzwissenschaften der Psychologie Kritik an den Grundlagen der Pathographik geübt.191 Zwar ging es ihm zunächst darum, den Entwicklungsgedanken für die Psychologie fruchtbar zu machen, und er schloß darum einerseits an Darwin, aber auch an Lombroso und Möbius gegen eine zu einseitige Hirnanatomie und -pathologie an,192 aber andererseits ———————— 188 189 190 191
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Schweitzer, Die psychiatrische Beurteilung, S. 2. Ebd., S. 44. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, S. 309, Fn. 1. Willy Hellpach, Grenzwissenschaften der Psychologie. Die biologischen und soziologischen Grundlagen der Seelenforschung, vornehmlich für die Vertreter der Geisteswissenschaften und Pädagogik. Leipzig: Dürr 1902. Gegenüber der pathologischen Bestimmung von Krankheiten und der Vorstellung einer »Verkettung« des Denkens mit der »Gehirnsubstanz« (ebd., S. 421) betont Hellpach den Aspekt der klinischen Psychologie nach Kraepelin, der eine Abgrenzung der Krankheiten nach Krankheitsbildern und -verläufen vorgenommen habe und Beobachtung und Erfahrung über die anatomischen Verfahren stelle. – Hellpachs Kritik richtet sich vor allem gegen die Ansichten des Hirnanatomen Paul Flechsig (1847–1929).
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war er nicht bereit, deren Sichtweise von der Entartung und Belastung zu teilen. Gewiß seien ‘psychopathische Belastungen’ die wichtigste aller Krankheitsursachen,193 aber sie böten keine hinreichende Erklärung für die Erscheinung von Verbrechen oder Genialität. Hellpach – der 1920 das erste Institut für Sozialpsychologie in Deutschland (in Karlsruhe) begründete – betonte anders als etwa auch sein Lehrer Wilhelm Wundt 194 die sozialpsychologischen Faktoren. So lehnte er Lombrosos »anthropologische Theorie des Verbrechens« ab, nach welcher Verbrecher generell als Entartungserscheinungen aufgefaßt werden und ihre kriminellen Neigungen als ‘angeboren’ gelten. Zwar habe diese Theorie einen wahren Kern, doch sei dieser gering und vor allem durch die soziologische Kritik des Juristen Franz von Liszt (1851–1919) zu relativieren.195 Franz von Liszt betonte, es gebe neben den gewohntheitsmäßigen und unverbesserlichen Verbrechern, für deren Beurteilung die ‘Kriminalanthropologie’ (Lombroso) Erkenntnisse liefere, eben auch sozial bedingte Täter, die durch Erziehung und Abschreckung (als Strafzwecke) reintegriert werden könnten.196 Soziale Faktoren werden entsprechend von Hellpach auch für unterschiedliche Krankheitsbilder geltend gemacht. So weist Hellpach neben der Anlage zur Sucht auf die sozialen Bedingungen des Alkoholismus hin, bezeichnet die Nervosität als eine Zeitkrankheit, die durch unterschiedliche Streßfaktoren bewirkt werde, hält die physiologische Begründung der Geschlechterdifferenz für unhaltbar und betont ihre sozialen Bedingungen usf. Insgesamt wird dadurch auch der Begriff Entartung – explizit gegen Möbius – neu definiert: »Nach meiner Auffassung kann die Entartung nichts anderes bedeuten, als den Verlust der Anpassung an die bisher gewöhnten Lebensreize ohne einen entsprechenden Ausgleich.«197 Solche Entartungen würden sich ansteigend und generationsübergreifend herausbilden – hier kommen auch Begriffe wie ‘Volk’ oder, allerdings nur am Rande, ‘Rasse’, vor allem aber kleinere soziale Einheiten ins Spiel. Auch der Entartungsbegriff selbst wird so aus dem Ansatz einer entwicklungspsychologisch ausgerichteten Sozialpsychologie reformuliert. ———————— 193 194
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Ebd., S. 426. Hellpach gilt einerseits als einer der wenigen Wundt-Schüler, die vor allem dessen völkerpsychologische Erwägungen weiterentwickelten, andererseits geht Hellpach – wohl unter dem Eindruck des ebenfalls von Wundt beeinflußten Karl Lamprecht – ganz eigene Wege bei der Entwicklung einer Sozialpsychologie. – Vgl. a.: Helmut E. Lück, Willy Hellpach. Geopsyche, Völker- und Sozialpsychologie in historischem Kontext. In: Gerd Jüttemann (Hg.), Wegbereiter der Historischen Psychologie. München u. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union 1988, S. 263–272. Hellpach, Grenzwissenschaften der Psychologie, S. 367. Vgl.: Franz v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Bd. 1. Berlin: de Gruyter 1970 (Nachdr. der Ausg. Berlin 1905). Hellpach, Grenzwissenschaften der Psychologie, S. 500.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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Gleichwohl bleibt dies nicht der einzige Neuerungsaspekt bei Hellpach, denn neben einer Reformulierung der Entartung betont er die sozialpsychologische Sichtweise auch dadurch, daß er überhaupt die Annahme einer einheitlichen Disposition zu Verbrechen oder zu Genialität ablehnt und auf die für den Einzelfall konstitutiven sozialhistorischen Faktoren hinweist. Er folgt dabei einer Geschichtssicht, die sich namentlich sowohl gegen den Heroismus Carlyles als auch gegen den ‘Ökonomismus’ von Marx richtet und Positionen verpflichtet ist, die von Auguste Comte, besonders aber von Hellpachs Lehrer, dem Historiker Karl Lamprecht (1856–1915), formuliert worden sind: »Lediglich durch den Erfolg seiner historischen Leistung wird der Mensch als Genie erkennbar; das Genie wirkt nicht, weil es genial ist, sondern wir nennen eine Persönlichkeit genial, die in einer bestimmten Weise auf die sozialpsychische Entwickelung eingewirkt hat.«198 Entsprechend kann es für Hellpach keine spezifische Disposition zur Genialität und keine einheitliche psychologische respektive anthropologische Definition der Genialität geben. Ansätze zu einer sozial- oder eher noch völkerpsychologischen Pathographik finden sich in der Literatur häufiger – allerdings eher von Hellpach abweichende Konzeptionen und wohl keine direkten Bezugnahmen. Einer der anerkannteren Pathographen auf diesem Gebiet war der Nervenarzt Georg Lomer (auch: de Loosten; 1877–1957), der 1905 eine noch weitgehend der Degenerationstheorie verpflichtete Studie Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters publiziert hatte 199 und 1913 die pathographische Darstellung Ignatius von Loyola folgen ließ; dieser jüngeren Studie bescheinigte der Rezensent Otto Braun im Archiv für die gesamte Psychologie zustimmend, sie sei »im ganzen sachlich und kritisch«.200 Ohne die theoretischen Bezugspunkte offen zu legen, zeigt sich bei Lomer eine deutlich Orientierung an einerseits sozialpsychologischen und auch rassischen Vorstellungen, andererseits an psychischen Aspekten. Entsprechend werden von Lomer zunächst die allgemeinen Umrisse des »spanische[n] Mensch[en] am Ausgange des Mittelalters« in seiner historischen und rassischen Charakteristik skizziert.201 Als Wurzel des spanischen Religionscharakters etwa wird der Rassen- und Volkscharakter angegeben; ———————— 198
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Ebd., S. 497f. – Hellpach verweist hier explizit auf Lamprecht. – Vgl. dessen in: Karl Lamprecht, Ausgewählte Schriften. Zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Hg. von Herbert Schönebaum. Aalen: Scientia 1974. De Loosten [d. i. Georg Lomer], Jesus Christus. – Neben anderen Aspekten diskutiert Lomer hier auch die Frage einer erblichen Belastung, die ihm durch vermutete Verwandtschaftsbeziehungen zu Johannes dem Täufer, den viele Zeitgenossen für geisteskrank gehalten hätten, wahrscheinlich scheint (ebd., S. 21). Otto Braun, [Rezension zu: Lomer, Ignatius von Loyola]. In: Archiv für die gesamte Psychologie 32 (1914), Literaturbericht, S. 69. Georg Lomer, Ignatius von Loyola. Vom Erotiker zum Heiligen. Eine pathographische Skizze. Leipzig: Barth 1913, S. 13ff.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
insbesondere sei die spezifische Blutmischungssituation für den Menschen entscheidend: »Nach alledem haben wir es in Ignatius mit einem Mischblut zu tun, bei dem das germanische Element merklich zurücktritt.«202 Innerhalb dieser allgemeinen Rahmenbedingungen, die auch die stereotype Annahme einer größeren Sinnlichkeit des Südländers einschließen,203 werden dann die Besonderheiten der Einzelperson herausgearbeitet. Kurz zusammengefaßt: Ignatius von Loyola wird im Einklang mit dem Volkscharakter als ein dem spanischen Rittertum verhafteter, stark sinnlich-erotisch interessierter Mensch gesehen, der nach einem Unfall der gewohnten ritterlichen Lebensweise überdrüssig wird und dem Reiz des Neuen, der Religion erliegt.204 Dabei sei die vorher gepflegte Minneleidenschaft (und die ausgelebte Sexualität) zunächst auf ein Marienbildnis übertragen, dann seien die irdischen Leidenschaften durch eine fanatisch-asketische Lebensführung verdrängt worden. Diese Verdrängung habe allerdings Sinneserscheinungen (‘pathologische Wahrnehmungen’) produziert,205 die sich zu wahnartigen Vorstellungen verdichtet hätten: »Mit gewaltiger Willensanstrengung wurden die nach wie vor dem Geschlechtszentrum entströmenden Reize unterdrückt aber auf das [!] Gebiet religiöser Inbrunst ‘abreagiert’. Die geknechtete Urmutter alles Lebens starb nicht, sondern nahm nur eine andere Energieform an.« 206 Die asketische Lebensweise führt dabei zu einem sich selbst bestärkenden Prozeß, da die Askese jeweils »Ausgleichs- und Kompensationserscheinungen« produziere, die mit neuer Kraft asketisch niedergekämpft würden, um wiederum stärkere Gegenerscheinungen zu produzieren.207 Das Fazit der psychopathologischen Analyse lautet entsprechend: »Daß es sich bei all jenen absonderlichen Erscheinungen des Ignatius um Äußerungen einer pathologischen Sexualität, gewissermaßen um eine ins Geistige übersetzte, krankhaft verzerrte Wollust handelt, ist nach alledem zum mindesten als wahrscheinlich anzusehen.«208 Dabei beschränkt sich Lomer nicht auf den Einzelfall, sondern leistet in explizitem Anschluß an Studien von F. Mörchen209 einen Beitrag zur Pathologie der Heiligen und Religionsführer: »Der katholische Gläubige verehrt in vielen mit dem Heiligenschein gekrönten Männern und Frauen der Kirchengeschichte nichts ———————— 202 203 204
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Ebd., S. 26. – Ähnliches stellt Lomer über Jesus fest, vgl.: Lomer, Jesus Christus, S. 33, 90. Lomer, Ignatius von Loyola, S. 41. Diese sogenannte ‘Bekehrung’ als Folge von Gewöhnung, Überdruß und Reiz des Neuen hat – so Lomer – »gar nichts Wunderbares und ist uns physiologisch wie psychologisch heute ganz verständlich« (ebd., S. 43). Dabei handle es sich insbesondere um Lichterscheinungen: »Immer sah er das, womit er sich gerade besonders beschäftigte.« Ebd., S. 62. Ebd., S. 47. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 73. F. Mörchen, Die Psychologie der Heiligkeit. Halle/S.: Marhold 1908.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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anderes als hochgradig kranke Individuen, die heutzutage […] schlankweg der Irrenanstalt überantwortet würden.«210 In der älteren Studie Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters, in welcher ebenfalls der sozialpsychologische und sozialpositivistische Einfluß spürbar ist, gibt Lomer zudem Auskunft über vier Untersuchungsaspekte, die nach seiner Ansicht durch eine Pathographie abzuhandeln seien:211 Um körperliche und geistige Gesundheit oder Krankheit einer geschichtlichen Persönlichkeit feststellen zu können, suchen wir uns nach Möglichkeit zu unterrichten: a. über ihre anthropologische und soziale Abstammung, b. über das Milieu, in dem sie sich entwickelt hat, c. über ihre Worte und Handlungen, d. über ihre Wirkung auf andere und die Beurteilung ihres Körper- und Geisteszustandes durch dieselben.
Dieses für beide Pathographien gültige Schema Lomers zeigt nochmals die Abweichung gegenüber älteren pathographischen Studien. Insbesondere die strikte Betonung des Milieus sowie der sozialen Abstammung weicht von der starken Betonung des Einzelmenschen durch die ältere Pathographik zugunsten kollektiver Faktoren und Einflüsse ab. So kann Lomer einleitend in seiner Christus-Studie auch darauf verweisen, daß das Genie nur jeweils Endpunkt einer bedingenden »Kausalitätskette« sei – und zwar in sozial-historischer wie in anthropologischer Sicht. Anthropologisch stellt sich das Genie als »Gipfelpunkt einer aufsteigenden Entwicklungsreihe, und zwar einzig und allein einer Entwicklung des phylogenetisch jüngsten Organs, des Gehirns«, dar; historisch ist »die Wirkung eines bedeutenden Mannes auf seine Zeit […] nur dann möglich, wenn seine Ideen unausgesprochen, ja unausgedacht bereits in den Köpfen der Zeitgenossen ruhen«.212 Gerade diese soziale, historische, in gewissem Sinn sozialpsychologische Sichtweise verbindet Hellpach und Lomer und läßt eine gewisse Nähe zu Positionen von Karl Lamprecht auch bei Lomer erkennen, nach denen der einzelne vom sozialpsychologischen Charakter des Volkes, seiner Zeit im Denken und Handeln abhängig ist.213 In einer ähnlichen – wenngleich mit Hellpach nicht mehr zu verbindenden – Weise wird auch von anderen Kritikern der Pathographik die Bedeutung der kollektiven Faktoren für den Einzelmenschen und auch die ———————— 210 211 212 213
Lomer, Ignatius von Loyola, S. 12. – In der Christus-Studie weist Lomer dagegen darauf hin, daß zwischen der Lehre und dem Menschen Jesus zu trennen sei. Lomer, Jesus Christus, S. 18. Ebd., S. 5. Vgl.: Karl Lamprecht, Individualität, Idee und sozialpsychische Kraft in der Geschichte. [1897.] In: Lamprecht, Ausgewählte Schriften, S. 329–351, bes. S. 334f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
herausragende Persönlichkeit und das Genie betont. Der keiner psychologischen Schule angehörende, allerdings in einer gewissen Nähe zur differentiellen Psychologie und zu William Stern stehende Pädagoge und Autor populärwissenschaftlicher Darstellungen Richard Müller-Freienfels (1882–1949) übte dabei auch generell Kritik an der ‘Entartungstheorie’. In seinem Werk Psychologie der Kunst (1912) distanziert er sich von der Pathologisierung des Genies bei Lombroso und Möbius. Zum einen sei die Unterscheidung zwischen Normalfall und pathologischem Fall ein Konstrukt, welches die Zwischenbereiche übersehe. Zum anderen könnten pathologische Züge allenfalls im Vorfeld der künstlerischen Arbeit als anregendes Moment in der Materialerhebungsphase Bedeutung erlangen: »der Schaffungsprozeß selber setzt gerade eine völlige Intaktheit und gute Funktion der Psyche voraus und ist selber der beste Beweis für dieselbe.« 214 Gegen die Pathologisierung stellt Müller-Freienfels fest, das Kunstschaffen sei die »Arbeit« des Gesunden. In anderen Arbeiten hat MüllerFreienfels sich darum bemüht, die differentiellen Merkmale der Persönlichkeit zu erarbeiten, und besonders auf die jeweils heterogenen psychologischen Verhältnisse hingewiesen, welche den Einzelmenschen und die besondere Persönlichkeit prägen – eine einheitliche psychologische Charakteristik der Genialität lehnt Müller-Freienfels ab.215 In späteren Studien von Müller-Freienfels wird – wiederum kollektive Aspekte betonend – schließlich ‘volkspsychologisch’ argumentiert und das Kulturschaffen der einzelnen aus einer Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur (1922) hergeleitet.216 Die von Isidor Sadger 1912 angesprochene Krise der Pathographik findet so Bestätigung einerseits in der Diskussion um die Grundlagen der Pathographik aus sozial- und völkerpsychologischer Perspektive oder der Sichtweise der differentiellen Psychologie, andererseits in der Kritik an den Pathographien besonders seitens der Historiker und Theologen. Der maßgebliche Impuls zu einer Abwendung von der Pathographie ging allerdings weniger von diesen Diskussionszusammenhängen aus, sondern von den Fragestellungen, die sich im Umfeld der Psychoanalyse nun in den Vordergrund drängten. Im Blick auf die sozialpsychologische Kritik an der Psychopathologie könnte dies nahezu als ein Rückschritt erscheinen, denn wiederum handelt es sich um eine deutliche Betonung des Einzelmenschen vor kollektiven Erscheinungen. ———————— 214 215 216
Richard Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst. Eine Darstellung der Grundzüge. 2. Bde. Berlin: Teubner 1912, Bd. I, S. 230. Vgl.: Richard Müller-Freienfels, Persönlichkeit und Weltanschauung. psychologische Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie. Leipzig u. Berlin: Teubner 1919. Richard Müller-Freienfels, Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur. Ein volkscharakterologischer Versuch. München: Oskar Beck 1922.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
241
Isidor Sadgers eigene psychopathographische Studien markieren den allmählichen Übergang von der älteren pathographischen Richtung zu neuen Aspekten. Dies zeigt etwa seine »pathographisch-psychologische Studie« Konrad Ferdinand Meyer (1908). Sadger betont hier den doppelten Einfluß von ererbter Belastung und erworbener psychischer Störung: »Im ganzen sehen wir die Kindheit und erste Jugend des Knaben von zwei Faktoren gelenkt und beherrscht, die dann bis tief ins Mannesalter entscheidend bleiben: der Belastung auf der einen Seite, der Erotik auf der andern.«217 Hervorgehoben werden einerseits die erbliche Belastung, durch eine Verwandtenheirat in der mütterlichen Linie und auch beim Vater erkennbare ‘Zeichen der Belastung’, andererseits die Erotik der Mutter-Sohn-Beziehung nach dem Tod des Vaters. C. G. Jung hat Sadgers Studie in einer Rezension bescheinigt, sie bleibe nicht wie ältere Pathographien, etwa von Möbius, dabei stehen, die Störung »mit den psychiatrischen Termini« zu benennen und »einige Geographie davon« zu geben; Sadger versuche vielmehr, »die Entwicklung der ganzen Persönlichkeit psychologisch zu fassen«.218 1912 ist Sadger – wie seine Gattungskritik zeigt – weiter auf die psychoanalytische Schule eingeschwenkt. Erst Freuds psychologische Erklärungen des ‘normalen’ Menschen hätten zu einer Basis für biographische Arbeiten geführt. Und: »Das wichtigste war wohl die mangelnde Kenntnis des Unbewußten und der sexuellen Zusammenhänge, die Freud erst mühsam aufdecken mußte.«219 Die Pathographik stellt für ihn ein Durchgangsstadium zur künftigen Psychographik dar, doch hält er weiterhin daran fest: »Eine jede künftige Psychographie wird also, um erschöpfend zu sein, ein pathographisches Kapitel aufweisen müssen, da vermutlich kein einziger Genius existiert, der nicht mehr oder weniger belastet wäre und davon erheblich beeinflußt wird.«220 Wichtiger als die Klärung der Belastung sei aber in jedem Fall die Darstellung und Erklärung der psychischen Entwicklung im Lebenslauf, welche eben aus der psychiatrischen Belastungsdefinition allein nicht abzuleiten sei. In den Vordergrund tritt darum auch bei Sadger die Frage nach der Kindheit, denn »sexuelle Eindrücke in früher Kindheit« könnten einen Menschen lebenslang prägen
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Isidor Sadger, Konrad Ferdinand Meyer. Eine pathographisch-psychologische Studie. Wiesbaden: Bergmann 1908 (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 59), S. 9. C. G. Jung, Besprechung von Sadger: »Konrad Ferdinand Meyer. Eine pathographischpsychologische Studie.« In: Ders., Das symbolische Leben. Verschiedene Schriften. Hg. von Lilly Jung-Merker u. Elisabeth Rüf. Bd. 1. Olten u. Freiburg i. Br.: Walter 1981 (Gesammelte Werke 18/1), S. 364–366, hier S. 364. Sadger, Von der Pathographie zur Psychographie, S. 69. Ebd., S. 71.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
und bildeten einen wichtigen Baustein seiner psychischen Charakteristik.221 Die psychoanalytische Kritik der Pathographik im Gefolge Lombrosos und Nordaus stand besonders unter der Kritik an der angeblichen ‘Herabsetzung von Künstlern’ durch die Theorie der pathologischen ‘Entartung’. Im Umkreis der psychoanalytischen Schule in Wien, der er von 1902 bis 1912 angehörte, bemühte sich etwa Wilhelm Stekel (1868–1940) um eine Rehabilitierung des Genies auf psychoanalytischer Grundlage. In seinen Werken Dichtung und Neurose (1909) und Die Träume der Dichter (1912), in denen er einerseits Beiträge zu einer Psychologie des Künstlers, andererseits zu einer psychobiographischen Deutung der Kunstwerke geben wollte, betonte er namentlich gegen Lombroso, Nordau, Magnan und Möbius, daß die zwar auffällige Psychologie des Künstlers aber gerade die hirnanatomische Unauffälligkeit und die Gesundheit der Gehirnfunktionen zeige: »Der Dichter ist kein Geisteskranker! Er ist ein seelisch abnormer Mensch, wie jeder Neurotiker. Sein Gehirn funktioniert in normaler Weise. Es zeigt sogar eine übermässige Produktionskraft.«222 Diese Abkehr von der Genie-Wahnsinn-Debatte erfolgt ganz im Zeichen der psychoanalytischen Bemühungen seit Freud. An die Stelle der pathologischen Erscheinungen trat die Frage nach dem Zusammenhang von Schaffen und Neurose, die Theorie der Triebverdrängung und der Sublimation der Triebe durch den Künstler in seiner Schöpfung. Die psychoanalytische Richtung der Biographik zielt dabei ihrem eigenen Anspruch der Vermenschlichung der Biographierten nach sowohl gegen die entmenschlichende Idealisierung der Heroen und Genies als auch gegen deren Pathologisierung. Was ‘Vermenschlichung’ in diesem Kontext meint, wird deutlich, wenn Stekel von einer allgemeinmenschlichen Psychologie ausgehend, dem Künstler ein besonderes Sublimationsverhalten zuschreibt. Die Besonderheit hat ihre Basis im Allgemeinen. Noch einen Schritt weiter geht Stekel mit seiner Adaption der Traumlehre Freuds. In Dichtung und Neurose heißt es bereits: »Zwischen Traum und Dichtung gibt es eigentlich keine Unterschiede.«223 Zwar hält Stekel hier noch differenzierend in bezug auf den Neurotiker fest: »Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter. Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker«,224 doch verfestigt er in seinem späteren Werk Die Träume der Dichter ausdrücklich seine Ansicht von der allgemeinmenschlichen Konstitution des Begabten mit dem Ausspruch: »alle ———————— 221 222 223 224
Ebd., S. 75. – Dies unterscheidet Sadgers Beschäftigung mit der Sexualität auch von Lomer, der wesentlich auf den Triebhaushalt abhebt (s. o.). Wilhelm Stekel, Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes. Wiesbaden: Bergmann 1909, S. 8. Ebd., S. 2. Ebd., S. 5.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
243
Menschen sind Dichter«.225 Allerdings kann auch Stekel den Künstler nicht gänzlich vom Makel des Krankhaften befreien, stellt er ihn doch dem Neurotiker und dem Verbrecher (kriminelle Träume der Autoren!) zumindest an die Seite. Im Umkreis der psychoanalytischen Kollegen in Wien geriet Stekel deswegen und auch grundsätzlich wegen überzogener psychoanalytischer Literaturdeutungen in Kritik.226 3.3.5. Fortführung der Genie-Debatte (Kretschmer) Trotz der Kritik an der Genie-Wahnsinn-Debatte und der Pathographik haben diese Forschungsgegenstände eine nahezu ungebrochene Fortführung erfahren. Die beiden wichtigsten in diesem Kontext zu nennenden Autoren sind fraglos Wilhelm Lange-Eichbaum227 und Ernst Kretschmer. Insbesondere Kretschmers Werk trug auch zur andauernden Popularität dieser Gedanken bei, nicht zuletzt weil sich Kretschmer um einen popularen Stil in seinen Werken bemühte. Liest man das vielfach aufgelegte, einflußreiche Werk Geniale Menschen (1929, 21931, 51958) des Marburger Professors für Psychiatrie und Neurologie, so fällt zunächst auf, daß Kretschmer weitgehend auf Lombroso und Möbius fußt. Grundsätzlich stellten für ihn Begabung und Genialität eine Frage der psychischen Konstitution dar, der ererbten Anlagen, und diese Konstitution steht im unmittelbaren Zusammenhang mit psychopathologischen Erscheinungen. Die Grundannahmen sind weder neu, noch besonders provozierend, ja, sie wirken angesichts der skizzierten Debatte um die Psychopathologie in mancher Hinsicht fast anachronistisch. Gleichwohl werden einige Akzente neu gesetzt und Anregungen selbst der Psychoanalyse trotz kritischer Distanz aufgenommen.228 Zudem durchzieht das ganze Buch eine ideologische Tendenz, die man etwas überspitzt als psychopathologische Fun———————— 225
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Wilhelm Stekel, Die Träume der Dichter. Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern. (Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes.) Wiesbaden: J. F. Bergmann 1912, S. 17. Vgl.: Josef Rattner, Wilhelm Stekel. In: Ders. (Hg.), Der Weg zum Menschen. Wien, München u. Zürich: Europaverlag 1981, S. 9–33. Die weitere Tradition der pathographischen Studien Lange-Eichbaums und seiner Nachfolger kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Kretschmer ist gewiß der populärere, d.h. der über den eigenen akademischen Kontext hinaus bekanntere Autor gewesen. Kretschmer verweist auf die Erkenntnis ‘perverser Triebstrukturen’ durch Freud und Wilhelm Stekel; insgesamt betont Kretschmer allerdings die ‘biologische’ Seite der Psychologie. Gottfried Benn, der Kretschmers biologische Psychologie zustimmend rezipiert, folgt auch dieser Aufnahme tiefenpsychologischer Anregungen, aber gerade bei Benn wird die grundlegende Differenz zur Tiefenpsychologie deutlich markiert, wenn er betont, letztlich sei immer (!) der Organismus, die Biologie, »der Körper der letzte Zwang und die Tiefe der Notwendigkeit«. Gottfried Benn, Genie und Gesundheit. In: Ders., Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster. Band III. Prosa. Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 253–258.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
dierung neubürgerlicher Konzeptionen des mittleren Menschen, des Normalbürgers, bezeichnen könnte. Vorsichtig könnte die These aufgestellt werden, daß Kretschmers eigentliche ‘Leistung’ nicht so sehr darin besteht, den genialen Menschen zu beschreiben, als gerade umgekehrt einen Beitrag zum Ideal des bürgerlichen ‘Durchschnittsmenschen’ zu liefern. Zunächst jedoch zur Frage nach der Genialität: Kretschmer trennt in seiner Studie zwischen der ihn interessierenden Biologie und Psychologie der Persönlichkeit und der von ihm weitgehend ausgeklammerten Soziologie, den Fragen nach Ruhm und Heldenverehrung. Im Zentrum steht also wiederum der einzelne Mensch, nicht sein geschichtliches Umfeld oder seine geschichtliche Wirkung. Es geht dabei um die psychopathologische Anlage der Ausnahmepersönlichkeit. Das führt zu einer interessanten Konzentration auf eine bestimmte Personengruppe: auf die Dichter, denn für eine ‘wissenschaftliche’ Untersuchung der Genialität könne nur derjenige Lebenslauf herangezogen werden, der sich in kontinuierlichen, psychologisch verwertbaren Originalzeugnissen dokumentieren lasse, wie dies bei einer anhaltenden dichterischen Produktion der Fall sei. Neben diesen pragmatischen Gründen, die innerhalb der Gruppe der Künstler, Dichter und Forscher eine Präferenz eben für die Dichter ergibt, gibt es aber auch andere Ausgrenzungskriterien. Einleuchtend ist, daß Kretschmer von vornherein antike Heroen und mittelalterliche Heilige aus seiner Betrachtung ausschließt, denn hier ginge es eben nie um die Person, sondern um die verehrten Tugenden, den göttlichen Plan etc., der sich hinter diesen Personifikationen verberge. Interessanter ist dagegen die Ausgrenzung von zwei Gruppen, die traditionell als biographiewürdig und verehrungswürdig galten: die »Heroen der Weltgeschichte« und die Offiziere, Diplomaten etc.229 Die weltgeschichtlichen Helden könnten nicht Anspruch auf Genialität erheben, da »Weltgeschichte eigentlich immer von allen zusammen, von den ganzen Völkern und einer Vielheit von einflußreichen Figuren in Spiel und Gegenspiel gemacht wird«.230 Auch die bloß partielle Leistung von Sportlern oder Schauspielern oder die Leistung der Diplomaten, Offiziere, Heerführer, die »sich wesentlich in der intelligenten Ausübung traditioneller Berufsleistungen erschöpft«, genügt nicht für das Prädikat des Genialen.231 Weitere Abgrenzungen betreffen den Abenteurer und die ‘Tatgenies’ wie etwa Columbus, da hier der Wert der Person kaum zu beurteilen sei und sich dauerhafte Fehlurteile einschleichen ———————— 229 230
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Vgl.: Ernst Kretschmer, Geniale Menschen. Berlin: Julius Springer 21931, S. 3. Ebd., S. 3. – Eine Ausnahme bilden für Kretschmer allein jene welthistorischen Helden, die durch breitere Begabungen hervorgetreten wären, also nicht allein eine geschichtliche Wirkung entfaltet hätten: »Cäsar, Luther, Napoleon, Friedrich d. Gr., Bismarck« (ebd.). – Kretschmer bezieht sich durchaus auch auf Hegels Geschichtsverständnis. Ebd., S. 3.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
245
könnten.232 Ebenfalls auszuschließen seien »Fälle von reinem geistigen Konjunkturgewinn und einfacher Verblüffungswirkung durch barocke psychopathische Seltsamkeit«.233 Auf diese Weise erhält Kretschmer in einem ersten Schritt einen Kernbestand der ‘wirklich’ – das heißt der kritischen Sichtung standhaltenden – genialen Menschen, in dessen Zentrum Goethe und Bismarck stehen, deren Leistungen außerordentlich positiv geschätzt werden. Abgegrenzt werden einerseits Modeerscheinungen und Abenteurertum, andererseits bürgerliche Vorbildgestalten wie Offiziere und Diplomaten. In einem zweiten Schritt weist Kretschmer umfänglich und detailliert den Zusammenhang von psychopathologischer Störung und Genialität nach. Dabei kommt es zur vollständigen Pathologisierung der Genialität, aber gleichzeitig auch zur Bezeichnung der Genialität als eines Glücksfalls, denn die Mehrheit der belasteten, entarteten Personen sei nun einmal nur auffällig, abnorm, ohne geniale Züge zu besitzen:234 »Genie ist, rein biologisch gesprochen, eine seltene und extreme Variantenbildung menschlicher Art.«235 Kretschmer bemängelt, daß die traditionelle Biographik den wahren Charakter der Genialität »vielfach beschönigt, bestritten und retuschiert« habe.236 Ihm dagegen gehe es um »ein plastisches und lebensnahes Bild schöpferischer Persönlichkeiten«, denn die psychopathologische Konstitution des genialen Menschen sehe »meist ganz anders aus, als die traditionelle Heldenverehrung«237 sie sich vorstelle:238 Als die Frau eines berühmten Forschers nach seinem Tode eine Audienz bei dem König von Schweden hatte, antwortete sie auf dessen teilnehmende Frage nach dem Verstorbenen: »Majestät, er war unausstehlich!« Wenn alle Biographen die Ehrlichkeit dieser Dame besäßen, so könnte man mit dieser Inschrift den Sockel manches Heroendenkmals verzieren. ———————— 232 233 234
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Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. So rechtfertigt Kretschmer etwa die Schullehrer großer Genies, die in der Biographik häufig mit ihren Fehlurteilen über die mangelnde Leistung, Eignung etc. ihrer Zöglinge vorgeführt würden: Der Regelfall sei eben, daß ein derartig auffälliges Verhalten nicht auf Genialität sondern auf sonstige psychopathologische Erscheinungen schließen lasse (ebd., S. 16). Ebd., S. 21. – In Übereinstimmung mit Positionen seiner Vorgänger vertritt Kretschmer auch die Auffassung, daß sich das Genie »nicht weiterzüchten« lasse (ebd., S. 22), da die Nachkommen – wenn es überhaupt welche gebe – nurmehr belastet seien (Musterbeispiel Goethes Nachkommen). Den Zusammenhang zwischen Genialität und Entartung stellt Kretschmer unzweideutig fest: »Genie entsteht im Erbgang besonders gerne an dem Punkt, wo eine hochbegabte Familie zu entarten beginnt.« (Ebd.) Ebd., S. 14. Ebd., S. 7, 6. Ebd., S. 16.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Um keinen Zweifel an dem Zusammenhang zwischen Genialität und psychopathologischer Abnormität zu belassen, stellt Kretschmer schließlich fest:239 Je mehr man Biographie studiert, desto mehr wird man zu der Vermutung gedrängt: dieses immer wiederkehrende psychopathologische Teilelement im Genie ist nicht nur eine bedauerliche äußere Unvermeidlichkeit biologischen Geschehens, sondern ein unerläßlicher innerer Wesensbestandteil, ein unerläßliches Ferment vielleicht für jede Genialität im engsten Sinne des Wortes.
Diese Pathologisierung der Ausnahmepersönlichkeit, die Kretschmer deutlich in ihren negativen Erscheinungen bezeichnet,240 ist letztlich nur zu verstehen, wenn man ihr die Aufwertung des Normalbürgers gegenüberstellt, denn diese bildet unter der Hand ein zentrales Motiv in Kretschmers Abhandlung:241 Der gesunde Mensch paßt sich an, er paßt sich schließlich auch der schwierigsten Situation an, er schlägt sich durch, hat Geduld, behält immer frohen Mut, er weiß das Leben zu nehmen wie es ist, er findet sich mit gesundem Instinkt unter gesunden Menschen zurecht.
Bürgerliche Tugendideale verbinden sich bei Kretschmer mit Merkmalen traditioneller Heroisierung nahezu zu einer Heroisierung des Bürgers, der gesunden Mitte. Damit kommt eine Entwicklung zum Abschluß, der sich Lombroso explizit bereits in seiner Rezension von Nordaus Entartung entgegenstellte. Schon bei Nordau befürchtete Lombroso, daß die Genialen herabgewürdigt würden, »that they are inferior to normal men whom he [Nordau] does not criticize«.242 Im weiteren Verlauf des Buches scheidet Kretschmer etwa die Vergangenheit genialer Forscher in der Antike von der Gegenwart des bürgerlichen Zeitalters: »Besonders der wissenschaftlichen Forschung wäre ohne intensivsten Berufsfleiß lediglich durch geistvolle Gespräche heute nicht mehr wesentlich gedient.«243 Kretschmer befindet sich hier offenbar in einem Dilemma, denn trotz der Tendenz zur Pathologisierung der Genies soll die Leistung der genialen Persönlichkeiten nicht herabgewürdigt werden. Obwohl Kretschmer so zwischen Bewunderung der genialen Leistung, Abwertung der bloßen Fleißarbeit des Philisters einerseits und Pathologisierung des Genialen sowie Aufwertung des gesunden Normalbür———————— 239 240
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Ebd., S. 28. Die psychopathologische Konstitution des Genialen »besteht […] ebensosehr in der gespannten Dynamik solcher seelischer Elemente, die man in anderem Zusammenhang bald als erhaben, bald als tragisch, häufig aber auch als sozial negativ, krankhaft, häßlich, ja verabscheuungswürdig zu werten pflegt« (ebd., S. 6). Ebd., S. 15. Die ethischen Implikationen dieser Aussage sind gewiß fragwürdig, werden von Kretschmer aber nicht explizit weiter verfolgt. Lombroso, Nordau’s »Degeneration«, S. 938. Kretschmer, Geniale Menschen, S. 140.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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gers andererseits schwankt, bleibt die Grundtendenz deutlich: Genialität ist das wenig erstrebenswerte, aber dennoch produktive Schicksal einer zufälligen genetischen Konstellation – letztlich eine Erscheinung von recht zweifelhaftem Charakter. Die Aufwertung des Normalbürgers, des ‘Spießers’, des ‘Philisters’ kulminiert sogar darin, daß die ‘wirklich großen Genies’ – wie eben Goethe 244 und Bismarck – die »psychopathologisch[e] Teilkomponente mit der festgefügten Masse ihrer gesunden Gesamtpersönlichkeit«245 vereinen müssen:246 Dies darf man nicht vergessen: ein kräftiges Stück Spießbürger gehört zum ganz großen Genie meist mit hinzu. Dieses Stück gesunder Normalbürgerlichkeit mit den regelrechten menschlichen Grundinstinkten, mit dem Behagen an Essen und Trinken, an solider Pflichterfüllung und Staatsbürgerlichkeit, an Weib und Kind, wie es etwa in Goethes Hermann und Dorothea und Schillers Glocke sich ausdrückt.
Kretschmer leistet so die anthropologische und psychopathologische Fundierung der bürgerlichen Mitte, welche gleichweit von Genialität und Wahnsinn entfernt ist, aber für die Realität einer normalen, gesunden Gesellschaft die bürgerlichen Tugenden und Handlungsmodelle eben als eine conditio humana mitbringt. In einer ähnlichen Weise, wie dies für die Formierung einer bürgerlichen Anthropologie zwischen 1840 und 1860 beobachtet worden ist, findet auch hier bei Kretschmer in einer neubürgerlichen Suche nach der Mitte, nach einer Fundierung bürgerlichen Pflichtbewußtseins und bürgerlicher Tugend, die Verlagerung der Triebe und Triebnaturen auf die unbürgerlichen Seitenbereiche der Gesellschaft statt – hier nicht auf ein karikierendes Adelsbild, sondern auf Genialität und Wahnsinn. Das Genie stellt freilich den Glücksfall dar, den Glücksfall einer Natur, welche zu »komplizierten Triebverwandlungen«247 in der Lage ist, sexuelle Perversion etwa in spezifische positive Verhaltensmuster überführen kann. Als Beispiel dient die Verwandlung homoerotischer Triebe in pädagogische Neigungen und die außergewöhnliche Bereitschaft zur Förderung junger Männer (Seneca, Herbart, Gleim). Kretschmer geht in der Folge auf unterschiedliche genetische Konstellationen, auf die Frage des Geschlechtes und der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen ein. Die immer wiederkehrende Feststellung ist, daß Genialität zunächst und vor allem einen genetischen Ursprung hat und nicht allein durch Sublimation der Triebe erklärt werden könne. Ausdrücklich ———————— 244
245 246 247
Kretschmers Ausführungen zu Goethe stellen wesentlich eine Zusammenfassung der Arbeiten von Möbius dar (s. o.). Insbesondere Möbius’ Ausführungen über die Periodizität des künstlerischen Schaffens werden von Kretschmer übernommen. (Vgl.: Ebd., S. 113ff.) Ebd., S. 29. Ebd., S. 29f. Ebd., S. 31. – Im Zusammenhang mit Sexualität und Zwangsneurosen wird ausnahmsweise auch auf Freud und Stekel verwiesen (ebd., S. 36).
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
wendet er sich gegen die »Vernachlässigung der Erbanlage« durch ‘Milieutheorie’ und Psychologie.248 Psychologisch allein, so bemerkt Kretschmer gegen Alfred Adler, lasse sich die Kompensation nicht erklären: »Tausende von geltungsbedürftigen Nervösen überkompensieren ihre Schwächen, ohne daß bei aller Anstrengung etwas anderes als Neurose, leeres Theaterspiel oder mühsam erreichte Durchschnittsleistung herauskommt.«249 Ein weiterer Aspekt, der durch Kretschmer populär in die Diskussion um Genialität und die psychophysischen Beziehungen hineingetragen wurde, betrifft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem ‘geistigen Produktionstypus’ und der ‘körperlichen Form’. Kretschmer hatte sich grundlegend hierzu in seiner Arbeit Körperbau und Charakter (1921) geäußert, aber auch die Studie Geniale Menschen enthält hierzu manche Bemerkung.250 In einer Reihe von Porträts versucht Kretschmer, die äußere Ähnlichkeit verwandter Produktionstypen zu zeigen. Schiller und Zacharias Werner werden so etwa durch den gegenüberstellenden Abdruck von Bildnissen in ihren Ähnlichkeiten erfaßbar, ebenso Martin Luther und Johann Peter Hebel, Torquato Tasso und Ludwig Uhland. Kretschmers Lehre der Körpertypen wurde u. a. von dem Sexualwissenschaftler und Psychotherapeuten Arthur Kronfeld (1886–1941) gemeinsam mit neueren Theorien zur Physiognomik und Ausdruckslehre, etwa den Arbeiten von Ludwig Klages, zu einer umfassenden Charakterkunde verbunden. Die Theorie der Körper- und Charaktertypologie und -analyse blieben so zumindest für die Biographik der Weimarer Republik ein populärer und angesehener Bezugspunkt, der gegen die Präferenz der Biographieforschung für die psychoanalytische Theoriebildung kaum nachdrücklich genug betont werden kann. Gerade dort, wo die Körperlichkeit der Biographierten als organische Basis, als Biologie der Persönlichkeit, als physiognomischer Hinweis auf die Einheit von Körper, Psyche und Verstand aktualisiert wird, zeigen sich jeweils biographische Strukturen, die teils explizit der tiefenpsychologischen Betrachtung entgegengestellt werden, teils diese ergänzen oder umprägen. 3.3.6. Psychoanalytische Psychographik Neben den skizzierten vielfältigen anthropologischen, psychologischen und pathographischen Tendenzen stand der Wandel vom äußeren geschichtlichen Erscheinungsbild zur inneren psychischen Konstitution der ———————— 248 249 250
Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd., S. 195ff.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
249
biographierten Gestalten gleichwohl auch unter dem Einfluß des Werkes Sigmund Freuds (1856–1939),251 der sich selbst in einer biographischen Studie mit Leonardo da Vinci auseinandersetzte: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910). Freud sah da Vinci nicht als Hervorbringung aus spezifischen kulturgeschichtlichen Zusammenhängen, und er unternahm den Versuch, die Rätselhaftigkeit des besonderen Individuums auf irdische Füße zu stellen. Den Biographen des vergangenen Jahrhunderts warf er Blindheit für die tatsächlichen Wirkkräfte im Menschen vor. Er forderte, der Autor einer ‘Psychopathographie’ solle gerade die bisher ausgeblendeten Seiten vorstellen. Dabei versuchte Freud, sich in doppelter Weise von den Gefahren biographischen Schreibens fernzuhalten. Einerseits warnte er vor der Idealisierung des Biographierten, die aus einer psychischen Fixiertheit des Biographen erwachsen könne, der etwa in den Biographierten das idealisierte Vaterbild projiziere. Andererseits wollte Freud auch dem Problem jener pathographischen Darstellungen entgehen, welche die ‘großen Männer’ auf physische, psychische oder charakterliche Unzulänglichkeiten reduzierten. Das eigene Werk charakterisierte er mit den Worten: »Das Ziel unserer Arbeit war die Erklärung der Hemmungen in Leonardos Sexualleben und in seiner künstlerischen Tätigkeit.«252 Damit wird die (gestörte) Triebstruktur zu einer wichtigen Erklärungsbasis für die Seinsweise des Individuums. Den Schlüssel für seine Analyse fand Freud in jener Lebensphase, die von bisherigen Biographen eher als eine unbedeutende Vorphase abgehandelt worden war: in der Kindheit. Ludwig Marcuse, selbst ein Biograph moderner Prägung, formuliert in seiner Freud-Biographie zugespitzt:253 Nach der alten Vorstellung beginnt der eigentliche Mensch mit den Jahren der geschlechtlichen Reife. Dann setzt ein Bildungsprozeß ein: das Hineinwachsen in die Gesellschaft, der Aufstieg in ihr, die Entfaltung der Anlagen. Begriffe wie Epoche, Nation, Klasse waren Bausteine des Biographen. Das Allgemeine wurde individualisiert von Talent und Fleiß und Glück. Das Leben vor dieser Entwicklung, in Anekdoten berichtet, war paradiesisch geschichtslos […]. Nach Freuds kopernikanischer Wendung wurde – übertrieben ausgedrückt – das Leben nach ———————— 251
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Zu den Wechselbeziehungen zwischen Psychoanalyse und Biographik vgl. im Überblick a.: Thomas Anz, Autoren auf der Couch? Psychopathologie, Psychoanalyse und biographisches Schreiben. In: Klein, Grundlagen der Biographik, S. 87–106; Joachim Bernd Hoefele, Individualpsychologie und Literatur. Zur Literaturästhetik Alfred Adlers und seiner Schule. Frankfurt/M., Bern u. New York: P. Lang 1986 (Literatur und Psychologie 15), S. 18–58; Thomas Kornbichler, Psychobiographie. 3 Bde. Frankfurt/M. etc.: Lang 1989/94/ 94 (Psychopathologie und Humanwissenschaften 5–7). Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. (1910.) In: Ders., Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Reichards und James Strachey. Band 10: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt/M.: Fischer 31969, S. 87-160, hier 153. Ludwig Marcuse, Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Hamburg: Rowohlt 1964, S. 94f.
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der Pubertät geschichtslos; […] Das Schicksal des einzelnen wird zwischen drei und fünf besiegelt.
Ein Biograph wie Karl August Varnhagen von Ense konnte, um ein repräsentatives Beispiel zu nennen, in seiner sonst ausführlichen Biographie des Hans von Held (1845) dessen Kindheit schlichtweg übergehen: »Der ältere dieser Söhne, Hans von Held, nachdem er eine höhere Schule in Züllichau eine Zeitlang besucht hatte, kam mit sechszehn Jahren als Alumnus auf das Joachimsthal’sche Gymnasium nach Berlin, […].«254 Mit diesen Worten war die Kindheit abgehandelt. Die Biographie sollte mit der Bildung und Ausbildung beginnen. Der Zeitraum davor blieb im Dunkeln. Adolf Beer als Biograph Maria Theresias (1875)255 wählt einen noch radikaleren, aber ebenfalls typischen biographischen Weg. Bei ihm können Kindheit und Jugend nahezu gänzlich übergangen werden, da er sich weitgehend auf die historisch-politische Biographie der Kaiserin konzentriert. Entsprechend ist das biographische Einstiegsereignis auch nicht die Geburt Maria Theresias, sondern der Tod des Kaisers und das Fehlen eines männlichen Thronfolgers. Bereits auf der zweiten Seite der Biographie erfolgt der Regierungsantritt Maria Theresias. Kindheit und Jugend werden allenfalls in Seitenbemerkung zur (mangelhaften) Vorbildung für das Amt angesprochen. Aus den Lebensphasen der Kindheit und Jugend blieben so Bildung und Erziehung oder eben nur die wenigen historisch relevanten Eckdaten für die Biographen des 19. Jahrhunderts von Bedeutung. Dagegen hatte zwar bereits eine romantische Verklärung der Kindheit ein größeres Interesse auf die ersten Lebensjahre gelenkt, aber hier erweist sich, daß das Kind in der Regel aus der Perspektive des Lebensweges des Erwachsenen betrachtet wurde.256 Freud setzte mit einer stärkeren Betonung der umgekehrten Perspektive vom Kind auf den Erwachsenen257 deutlich neue biographische Akzente, wobei er freilich an vorhandene Studien anknüpfen konnte, hatte doch bereits Möbius in seinen Pathographien sowohl auf den Geschlechtstrieb als auch auf die Kindheit als eine wichtige Lebensphase hingewiesen. Allerdings interessierten Möbius nicht die Erfahrungen des Kindes und seine psychische Entwicklung, sondern vor allem die ererbten Anlagen, die sich wie bei Rousseau etwa in einer Besonderheit der kindlichen Geschlechtsentwicklung offenbarten. ———————— 254 255 256 257
Karl August Varnhagen von Ense, Hans von Held. Ein preussisches Karakterbild. Leipzig 1845, S. 2. Adolf Beer, Maria Theresia. In: Der neue Plutarch 2 (1875), S. 123–243. Vgl.: Valerie Sanders, Childhood and Life Writing. In: Encyclopedia of Life Writing, Bd. 1, S. 203f. Kritiker wie Emil Ludwig in seinem Werk »Der entzauberte Freud« (1946) betonen dagegen allerdings den Konstruktionscharakter dieser Perspektive, da reale Kinheitserfahrungen vom Biographen nicht zugrunde gelegt werden könnten, also die Basis für Aussagen über eine reale Kindheitsentwicklung fehle.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
251
Freuds tiefenpsychologische Analyse sieht dagegen von Fragen der Vererbung oder überhaupt einer ‘biologischen’ Psychologie gänzlich ab. Für Freud waren die Entwicklungsphasen der Kindheit – die bis dahin vor allem als anatomisch-physiologische Bildungsphase des vollwertigen Erwachsenen betrachtet worden war – 258 mit den sie prägenden Ereignissen die psychisch determinierenden Konstituenten des Erwachsenen. Dies zeigte er exemplarisch an seiner Analyse des italienischen Renaissancegelehrten. Freud war sich wohl bewußt, daß er mit einer psychoanalytischen Deutung da Vincis provozieren würde, denn gleich in der Einleitung zu seinem Aufsatz widerspricht er dem möglichen Einwand, eine solche Darstellung, die auf allgemeinen Verfahren der Traumanalyse wie der Erfahrung aus der psychoanalytischen Praxis beruht, entwürdige »einen der Großen des Menschengeschlechts«.259 Aus dem universalen Anspruch seines Ansatzes ergibt es sich von selbst, daß sämtliche Menschen nach der gleichen Methode gemessen werden müssen. Freud unternimmt den Versuch, die Rätselhaftigkeit des Genies, wie die traditionelle Biographik sie Leonardo da Vinci zuschreiben könnte, erklärbar zu machen. Besonders interessiert ihn der Widerstreit zwischen dem Künstler und dem Forscher, »hat doch in seiner Entwicklung der Forscher den Künstler nie ganz freigelassen, ihn oftmals schwer beeinträchtigt und ihn vielleicht am Ende unterdrückt«.260 Dies habe da Vinci von der Vollendung vieler Werke abgehalten. Während die herkömmlichen Biographen versucht hätten, über den aus dieser Interessenspannung herrührenden »Makel der Unstetigkeit« hinwegzutäuschen,261 sei es richtiger, sich gerade diesen Widersprüchen und Problemen der großen Gestalt zu nähern. Freud analysiert einen überlieferten Kindheitstraum da Vincis dahingehend, daß dieser in homosexuellen Neigungen einen Ersatz für die verdrängte Liebe zur Mutter gesucht habe, und er schließt daraus auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten »neurotischen Typus […], den wir als ‘Zwangstypus’ bezeichnen«.262 Das Künstlertum wird letztlich als eine Sublimierung der unterdrückten Triebe gesehen. Dabei gesteht Freud einen gewissen Spielraum der Individualität – »einen Grad der Freiheit« – zu, da die Reaktionen des Individuums unterschiedlich ausfallen könnten. Dennoch ist letztlich nicht die Individualität Leonardo da Vincis der zentrale Gegenstand seiner Untersuchung; das Interesse am allgemeinen psychischen Prozeß übertrifft das Interesse am einzelnen geschichtlichen ———————— 258 259 260 261 262
Vgl. etwa den Artikel: Kind. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon (141892–97), Bd. 10, S. 337f. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, S. 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 93. Ebd., S. 153.
252
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Leben. Die historische Arbeit über da Vinci war ihm ein Exempel einerseits für die Darlegung der Wirksamkeit frühkindlicher Erfahrungen im späteren Leben und andererseits für eine Annäherung an den psychischen Typus des Künstlers. Freuds psychopathographische Studie fand zahlreiche Nachahmer. Bereits 1930 konnte Adolf J. Storfer bibliographisch 70 Titel psychoanalytischer Biographien erfassen.263 Freud hat mit seinem eigenen Ansatz eine psychoanalytische Biographik begründet, die von Bühler und Ekstein als »Klinische Biographie« bezeichnet wird, da sie von einem traumatischen Kindheitserlebnis ausgehend den schöpferischen Prozeß bzw. seine Störung zu beschreiben sucht.264 Als ein Beispiel aus den 60er Jahren wird dort Humberto Nageras Vincent van Gogh – A Psychological Study (1967) 265 genannt, in der wiederum aus einem Kindheitstrauma die schöpferische Fähigkeit des Malers erklärt wird: Vor van Goghs Geburt starb einjährig der ältere Bruder, dessen Vornamen Vincent dann der spätere Maler erhielt. Das Schicksal des Ersatzsohnes mit erborgter mütterlicher Zuwendung bietet die Grundlage von Nageras Studie. In gleicher Weise argumentiert die zwei Jahre später erschienene Studie The Second Vincent van Gogh (1969) von A. J. Lubin.266 Gleichzeitig entwickelten sich in der psychoanalytischen Biographik gegen die Konzentration auf Kindheitserlebnisse auch Ansätze, die stärker den gesamten Lebenslauf berücksichtigten; besondere Bedeutung erlangte hier der über die Fachgrenzen hinaus u. a. durch seine Lutherbiographie Young Man Luther (1958) bekannt gewordene Psychologe Erik H. Erikson.267 Freuds eigene Studie zu Leonardo da Vinci wird indes noch heute als wegweisendes Werk psychobiographischen Schreibens anerkannt. Allerdings gilt dies besonders für die theoretischen Überlegungen und den Hinweis auf die möglichen Fehlerquellen der psychobiographischen Arbeit, nicht so sehr für die Ergebnisse seiner Studie selbst. Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, daß Freud die eigenen Richtlinien biographischen Schreibens gebrochen habe. Alan C. Elms, der die kritische Literatur zur Leonardo-Studie zusammengefaßt hat,268 stellt fest, daß Freud ———————— 263 264
265 266 267 268
A. J. Storfer, Beitrag zur Bibliographie der psychoanalytischen Biographik. In: Psychoanalytische Bewegung 2 (1930), S. 385–393. Charlotte Bühler u. R. Ekstein, Anthropologische Resultate aus biographischer Forschung. In: Hans-Georg Gadamer u. Paul Vogler (Hgg.), Psychologische Anthropologie. Stuttgart u. München: Thieme, dtv 1973 (Neue Anthropologie 5), S. 349–385, hier S. 358. Humberto Nagera, Vincent van Gogh – A Psychological Study. New York: IUP 1967. A. J. Lubin, The Second Vincent van Gogh. In: Stanford Today II/3 (1969), S. 1–16. Erik H. Erikson, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History. New York: Norton 1958. Alan C. Elms, Freud as Leonardo: Why the First Psychobiography Went Wrong. In: Journal of Personality 56 (1988), S. 19–40. – Vgl. neben der dort genannten Literatur u. a.:
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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gerade den Problemen der Pathologisierung und Idealisierung zugleich erlegen sei. Einerseits betreibe Freud den Heldensturz, da er auf Leonardos für den überwiegenden Teil der damaligen Leserschaft unakzeptable Homosexualität hinweise und dessen Forschertrieb als sublimierte homosexuelle Libido charakterisiere. Andererseits sei hierin auch eine Idealisierung zu erkennen, da Freud den Forschertrieb zwar als Sublimierung beschreibe, aber diesen letztlich nicht als neurotische Obsession klassifiziere, sondern auf einen angeborenen außerordentlichen Forscherinstinkt hinweise. Freud hat selbst in seiner Goethe-Preis-Rede von 1930 diese Ambivalenz der Biographie zwischen Heldensturz und Verherrlichung in umgekehrter Perspektive als ein Grundproblem der biographischen Arbeit beschrieben: »Nicht herabsetzen zwar will der Biograph den Heros, sondern ihn uns näherbringen. Aber das heißt doch die Distanz, die uns von ihm trennt, verringern, wirkt doch in der Richtung einer Erniedrigung.« Der Biograph müsse zwangsläufig eine ambivalente Haltung gegenüber den biographierten großen Männern (!) einnehmen. Einerseits identifiziere er sie mit den Figuren des Vaters und der Lehrer und verehre sie in dieser Identifikation; andererseits verdecke diese Verehrung »regelmäßig eine Komponente von feindseliger Auflehnung«.269 Elms’ Studie zur kritischen Auseinandersetzung mit Freuds da VinciPsychobiographie stellt selbst eine psychobiographische Arbeit dar, denn die ‘Fehler’ Freuds in der Leonardo-Psychobiographie werden psychobiographisch aus einer eigenen Analyse der biographischen Arbeit Freuds erklärt: »Freud identified with Leonardo, and increased the identification by endowing Leonardo erroneously with Freud’s own characteristics.« 270 Dies führe dazu, daß Freud schon bei der Bewertung des biographischen Materials dasjenige für wahrscheinlicher halte, das diesen Identifikationsprozeß stütze. Insbesondere aber habe Freud den eigenen Forschertrieb – als Sublimierung homosexueller Neigungen – identifiziert und deswegen nicht pathologisiert. Wie auch immer die psychobiographische Begründung in Elms metapsychobiographischer Studie bewertet wird, so vermag sie und so vermögen auch Freuds späte Einsichten271 in jedem Fall das ———————— 269
270 271
Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1983, S. 104–118. Sigmund Freud, Ansprache im Frankfurter Goethehaus [anläßlich der Goethe-PreisVerleihung 1930]. In: Ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud u. a. Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931. Frankfurt/M.: Fischer 1948, S. 547– 550, hier S. 550. Elms, Freud as Leonardo, S. 24. Vgl. zu Freuds Kritik der Biographik im knappen Überblick: Norbert Rath, »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben« – Nietzsches und Freuds Kritik der Biographik. In: Psychologie und Geschichte 8 (1998), S. 281–298, hier S. 286–288.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Bewußtsein für die psychische Seite der komplexen Prozesse zu schärfen, welche die Lebenslaufnarration bereits im Entstehungsvorgang von den historischen Lebensfakten entfernen. Gerade für den psychoanalytischen Biographen gilt – wie für den Psychoanalytiker überhaupt –, daß er sich das Risiko einer Identifikation der biographierten Persönlichkeit mit Personen aus dem eigenen Lebensfeld wie auch einer Projektion der Selbstanalyse auf den Biographierten beständig vor Augen führen muß. Aus dieser Forderung gehen vielfältige Formen metabiographischen Schreibens hervor, die besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den biographischen Arbeitsprozeß in die Darstellung einbeziehen und in seiner psychischen Relevanz für die Biographie reflektieren. Für den Biographen hat Wolfgang Hildesheimer als Verfasser einer fingierten Biographie über den erfundenen Marbot diese Gefahr der Fixierung eigenwillig zugespitzt in dem Selbstbekenntnis, er habe den von ihm ‘biographierten’ Marbot auch erfunden, um sich »nach Belieben an den Helden oder an den Mittler zwischen ihm und dem Leser, also den Biographen, zu fixieren«.272 Der allenfalls vorhandene subjektiv produktive Aspekt dieser Identifikation für den schreibenden Biographen erfüllt sich folglich günstiger in der fiktiven Biographie. (Gibt es also so etwas wie einen Rest, einen ‘Widerstand des Faktischen’, der sich der völligen Vereinnahmung widersetzt?) Gleichwohl markiert Freud in seiner Goethe-Preis-Rede auch gerade das Feld psychoanalytischer Leistungen für die Biographik, in welchem die nachhaltigste Wirkung zu verzeichnen ist. Grundsätzlich hält er die Bemühungen der Biographen für legitim und insbesondere auch die Bemühungen der Goethe-Biographen; gleichwohl sei die Leistung der bisherigen Goethe-Biographik eher gering:273 Was aber sollen uns diese Biographien leisten? Auch die beste und vollständigste könnte die beiden Fragen nicht beantworten, die allein wissenswert scheinen. Sie würde das Rätsel der wunderbaren Begabung nicht aufklären, die den Künstler macht, und sie könnte uns nicht helfen, den Wert und die Wirkung seiner Werke besser zu erfassen.
Gerade für diese beiden Fragestellungen – so das unmißverständliche Fazit der Rede – könne die Psychoanalyse wertvolle Hinweise bieten. Die biographische Erforschung künstlerischer und literarischer Kreativität einerseits und die psychoanalytische Literaturdeutung andererseits beschäftigten Freud und vor allem die auf diesen Gebieten tätigen psycho———————— 272
273
Wolfgang Hildesheimer, Arbeitsprotokolle des Verfahrens »Marbot«. In: Ders., Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 139– 150, hier S. 148. Freud, Ansprache im Frankfurter Goethehaus, S. 549.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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analytischen Autoren wie Otto Rank, Isidor Sadger und Wilhelm Stekel, deren Werke einflußreich wurden. Gegen die tiefenpsychologische Sicht der Persönlichkeit wurden freilich zwei gewichtige Einwände erhoben: zum einen der Vorwurf, Freud vernachlässige den Körper und die Biologie der Persönlichkeit (Charakterologie, Kretschmer, G. Benn etc.), zum anderen der Einwand, die psychoanalytische Betrachtung könne zwar spezifische Charakterentwicklungen erhellen, sei aber nicht befähigt, das konkrete Handeln in wechselnden sozialen und historischen Handlungskontexten zu erklären. Die Psychoanalyse kläre nur die »subjektive Seite der Handlungen und des Charakters«, nicht aber die »objektive Bedeutung eines Lebens« (Max Horkheimer).274 3.3.7. Begegnung zwischen Psychoanalyse und moderner Biographik (Freud und Zweig) Während sich so ein anhaltendes Interesse an der Psychobiographik entwickeln konnte, zu welchem Freud, Rank, Sadger, Stekel und andere den Anstoß lieferten, zeigt sich in bezug auf die populäre Biographik ein ganz anderes Bild: Der Einfluß Freuds auf die moderne Biographie wird in der Regel überbewertet.275 Wenngleich inzwischen die These, Lytton Strachey habe seine biographischen Skizzen ohne Kenntnis des Werkes von Freud geschrieben, durch den Nachweis der literarischen Auseinandersetzung mit Freud relativiert worden ist,276 handelt es sich auch hier eher um eine partielle Aufnahme psychoanalytischer Anregungen als um eine tiefenpsychologische Biographik in der Tradition Freuds.277 Besonders beschränkt sich aber im deutschen Sprachraum die Rezeption weitgehend auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Freuds (Stefan Zweig) oder auch nur auf die Partizipation am allgemeinen Interesse an der charakterologischen oder ‘psychologischen’ Betrachtungsweise. Emil Ludwig, dessen frühe biographische Studien anderen psychologischen Modellen ———————— 274
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Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen aus Deutschland (1931/1934). In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932. Hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/M.: Fischer 1987, S. 309–452, darin die Abschnitte »Zur Charakterologie« (S. 367f., zit. S. 367) und »Der Charakter« (S. 429f.). Zu diesem Schluß kommen auch: Richard D. Altick, Lives and Letters. A History of Literary Biography in England and America. New York: Alfred A. Knopf 1966, S. 334–343; Scheuer, Biographie, S. 166ff. Vgl. hierzu: Matthias Munsch, Psychoanalyse in der englischen Moderne. Die Bedeutung Sigmund Freuds für die Bloomsbury Group und für Lytton Stracheys biographisches Schreiben. Marburg: Literaturwissenschaft.de 2004. Munsch, Psychoanalyse in der englischen Moderne, S. 156.
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verpflichtet sind, hat sich später sogar von Freud in seinem Werk Der entzauberte Freud (1946) ausdrücklich distanziert (s. u.). Wenngleich die ersten psychobiographischen Studien gewiß nicht ohne Einfluß auf das biographische Schreiben blieben, so ist auch zu berücksichtigen, daß es zu einem eigentlichen ‘Boom’ psychobiographischer Werke erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam. In den 20er, 30er Jahren bildeten Psychobiographien außerhalb der im engeren Sinn psychoanalytischen Fallstudien in der populären Biographik noch ein Randphänomen.278 Eher selten finden sich in den Biographien tatsächlich längere Betrachtungen über Kindheitserfahrungen oder sexualpsychologische Analysen.279 Allerdings haben manche Biographen wie besonders Stefan Zweig (1881–1942) das Werk Freuds mit Interesse aufgenommen und für die psychologische Charakterisierung ihrer Figuren dadurch ein besonderes Gespür entwickelt. Vor allem wurden jedoch die moralischen Grenzen, die dem Biographen des 19. Jahrhunderts auferlegt waren, überschritten. Die »Schamhaftigkeit« der älteren sollte der »Unbefangenheit« der modernen Biographen weichen.280 Letztlich ging die eigentliche Wirkung Freuds auf die ‘modernen’ Biographen weder von seiner LeonardoStudie noch überhaupt von wesentlichen Komplexen seiner Lehre aus, sondern grundlegender von der Überzeugung, daß nicht nur pathologische Fälle psychologisch erklärt werden können, sondern daß auch die Geistesschöpfungen des psychiatrisch ‘Normalen’ psychologisch erklärt und gedeutet werden können: »wo der Kunstrichter notgedrungen aufhören mußte, weil er nicht mehr zu begreifen vermochte, dort setzte die Freudsche Psychologie überhaupt erst an, und zwar bereits im Gebiet des Normalen, nicht erst des pathologisch Verzerrten« (Sadger).281 Erst durch Freud konnte sich eine psychologisierende Biographik zumindest in der Theorie vom Makel der Pathologisierung bedeutender Persönlichkeiten befreien. Die Praxis sah – wie schon Freuds eigene Leonardo-Studie zeigt – freilich häufig anders aus. Stefan Zweig, der bereits seit 1908 einen Briefwechsel mit dem 25 Jahre älteren Sigmund Freud unterhielt 282 und mit dem Psychologen auch ———————— 278 279 280
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Runyan, Progress in Psychobiography, hier bes. S. 299–301. Amerikanische Ausnahmen nennt Munsch, Psychoanalyse in der englischen Moderne, S. 153. So Romein, der die moderne Biographik ganz aus der Argumentation ihrer Vertreter darstellt: Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. Bern: Francke 1948 (niederld. Originalausgabe 1946), hier S. 43f. – Das Schlagwort der ‘Unbefangenheit’ findet sich auch in den zahlreichen Auseinandersetzungen der Autoren moderner Biographien mit der Gattung. Von zentraler Bedeutung etwa: André Maurois, Die Biographie als Kunstwerk. In: Neue Rundschau 40 (1929), S. 232-248, u.a. S. 246. Sadger, Von der Pathographie zur Psychographie, S. 68. – Vgl. a.: Cremerius, Einleitung. Stefan Zweig, Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler. Hg. von Jeffrey B. Berlin, Hans-Ulrich Lindken und Donald A. Prater.
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persönlich bekannt war, übersandte Freud regelmäßig neue Arbeiten und widmete ihm sein Werk Der Kampf mit dem Dämon (mit Porträts von Hölderlin, Kleist und Nietzsche). Freud nahm den Band wohlwollend auf und lobte besonders die Fähigkeit Zweigs, verborgene Charakterzüge nachzuzeichnen. Zweig antwortet darauf in einem Brief vom 15. April 1925, in welchem er den Anstoß durch Freud für sein biographisches Schreiben unterstreicht und zugleich bekennt, daß er sich nicht psychoanalytischer Methoden bedient habe:283 […] manche Capitel wie »Die Pathologie des Gefühls« bei Kleist oder die »Apologie der Krankheit« im Nietzsche hätten nicht geschrieben werden können ohne Sie. Ich meine damit nicht, dass sie Resultate psychoanalytischer Methode wären – aber Sie haben den Mut gelehrt, an die Dinge nahe heranzugehen, furchtlos und ohne jede falsche Schamhaftigkeit auch an das Äusserste wie das Innerste des Gefühls heranzugehen. Und Mut ist notwendig für die Wahrhaftigkeit –
Zweig schrieb auch einen biographischen Essay über den von ihm hoch verehrten Psychologen Freud, den er in den Band Die Heilung durch den Geist (1931) aufnahm.284 Das Kernstück des Freud-Essays, in welchem sich Zweig sowohl um eine Annäherung an die Persönlichkeit und den Charakter Freuds als auch um eine Skizzierung von dessen Werk bemüht, bildet wiederum die These von dem fast heroischen Mut Freuds, der gegen die Prüderie des vorangegangenen Jahrhunderts die Frage der Sexualität gestellt habe. In der vorfreudianischen Zeit konstatiert Zweig eine reine Vorzeigemoral. Diese habe nicht in einer strengen Sittlichkeit bestanden, sondern in einer oberflächlichen Moral des Verschweigens: »Ein Jahrhundert lang wird innerhalb Europas die sexuelle Frage unter Quarantäne gesetzt.«285 Mit mangelndem Sachverstand sei denen begegnet worden, die an psychischen sexuellen Störungen litten, so sei »jener Typus von Neurasthenikern serienweise erschaffen« worden, der seine »Knabenängste als rückgestaute Hemmungen« lebenslang unbewältigt mit sich herumtrage.286 Als ein Beispiel einer in jener Zeit unbehandelt gebliebe————————
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Frankfurt/M.: Fischer 1987, S. 163–265. – Zur Beziehung zwischen Freud und Zweig vgl. bes.: Johannes Cremerius, Stefan Zweigs Beziehung zu Sigmund Freud, »eine heroische Identifizierung«. (Zugleich ein Beispiel für die Zufälligkeit der Rezeption der Psychoanalyse.) In: Jahrbuch der Psychoanalyse 8 (1975), S. 49–89; Thomas Haenel, Stefan Zweig – Psychologe aus Leidenschaft. Leben und Werk aus der Sicht eines Psychiaters. Düsseldorf: Droste 1995; vgl. ergänzend über Zweigs Beiträge in der »Neuen Freien Presse«: Maria Tichy u. Sylvia Zwettler-Otte, Freud in der Presse. Rezeption Sigmund Freuds und der Psychoanalyse in Österreich 1895–1938. Wien: Sonderzahl 1999, S. 149–152. Zweig an Freud, Brief vom 15.04.1925. In: Zweig, Briefwechsel mit Hermann Bahr, …, S. 173. – Auch über andere Werke tauschten sich Zweig und Freud aus. Besonders gelobt hat Freud Zweigs »Marie Antoinette«. Stefan Zweig, Sigmund Freud. In: Ders., Die Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker-Eddy – Freud. Hg. von Knut Beck. Frankfurt/M.: Fischer 1982, S. 273–380. Ebd., S. 279. Ebd., S. 281.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
nen ‘abnormen’ Veranlagung nennt Zweig die Homosexualität, der er selbst eine feinsinnige literarische Studie gewidmet hat: Verwirrung der Gefühle (1927). In der Figur eines Hochschullehrers der Anglistik entwirft Zweig eine Skizze der menschlichen Verstrickungen, die allein aus einer rigiden Gesellschaftsmoral erwachsen, welche den erotischen Außenseiter in einen Teufelskreis von Zwängen ziehen. In der Figur des Studenten, um den der Lehrer wirbt und der seine sexuellen Erfahrungen mit dessen Gattin erlebt, wird deutlich, daß die sozial verdrängte Sexualität letztlich zu einer dauerhaften Gefährdung der Gesellschaft wird. Zweigs Freud-Essay ist durch und durch rhetorisch organisiert und folgt einer mehrstufigen Disposition, welche um die Auslegung eines gleich in der Eröffnung als propositio formulierten Satzes kreist, in welchem der das Interesse leitende Aspekt benannt wird: »Das sicherste Maß jeder Kraft ist der Widerstand, den sie überwindet.«287 Der Essay ist von diesem Satz her konzipiert, welchem die einzelnen Abschnitte jeweils exemplarisch zugeordnet sind, und dieser Satz bildet das grundlegende Element in der Konstruktion der Gestalt Freuds, die Zweig in doppelter Weise auf ein Heroisierungsmodell hin stilisiert, indem er einerseits die gesellschaftlichen Widerstände gegen eine offene Behandlung der Sexualität überbetont und andererseits die Thematisierung der Sexualität als Tabubruch eines einzelnen auf die Person Freuds hin zuspitzt. So wird die Verlogenheit einer bürgerlichen Scheinmoral des Verschweigens zum Maß für die unbedingte heroische Aufrichtigkeit Freuds. Die »Tat Sigmund Freuds«,288 die »herrliche Tat eines einzelnen Menschen«,289 durchbricht geradlinig und ‘unbefangen’ das gesellschaftliche Verschweigen. Neben der Entdeckung des ‘Unbewußten’ und der Traumdeutung sowie der Entwicklung der psychoanalytischen Gesprächstechnik betont Zweig vor allem die Behandlung der Sexualität. Freud habe gegen eine rigide Prüderie eine unbedingte Aufklärung gesetzt – ein Umstand, der nicht ohne kritische Nebentöne gewürdigt wird:290 So mag tatsächlich eine gewisse Überbewertung des Sexuellen in seinem Werke und seiner Therapie vorwalten, aber dieses starke Betonen war historisch bedingt durch die von den andern jahrzehntelang systematisch geübte Verschweigung und Unterwertung des Geschlechtlichen. Ein Übertreiben tat not, um die Zeit für den Gedanken zu erobern; […].
Die Heroisierung Freuds wird mit den Registern rhetorischen Redeschmucks in pathetische Bildlichkeit gefügt, wobei sich Zweig per Vergleichstechnik der Bildlichkeit tradierter Heroisierungstypen annähert: ———————— 287 288 289 290
Ebd., S.275. Ebd., S. 275. Ebd., S. 288. Ebd., S. 361f.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
259
»Wie ein Nordwind scharf und schneidend, hat sein Einbruch in eine dumpfe Atmosphäre viele goldene Nebel und rosige Wolken des Gefühls zerblasen, aber vor den gereinigten Horizonten liegt nun ein neuer Ausblick ins Geistige klar.«291 Sätze wie diese offenbaren eine zivilisationskritische Sicht auf die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und markieren über die Aufbruchs- und Nordstimmung die Hoffnung auf einen kathartischen Rückweg zu idealer Bürgerlichkeit. Das bürgerliche Individualideal wird dabei sowohl aus dem Ideal einer ursprünglichen (charakterlich nordischen) Männlichkeit als auch aus bürgerlichen Individualtugenden konzipiert. Zweig argumentiert in seinem Essay weder biologistisch-rassisch noch psychologisch-psychoanalytisch. (Im Gegensatz zur späteren Tradition psychoanalytischer Freud-Biographik wendet Zweig die Lehren Freuds nicht auf diesen selbst an – sondern schreibt bewußt aus der Außenperspektive.) Zweigs Konzeption Freuds verbindet dagegen einen Nachhall der individuellen Tugendkonzeption in der Smiles-Tradition mit popularen Adaptionen charakterologisch-physiognomischer Beschreibungsmodelle. Überdeutlich zeigt sich diese Konzeption im zweiten, »Charakterbildnis« betitelten Kapitel seines Essays. Freud erscheint geradezu als Idealbild des tugendhaften Bürgers, der frei von egoistischen Neigungen seine Privatexistenz hinter die Arbeit zurückstellt: »Pater familias von sechs Kindern, persönlich völlig bedürfnislos, ohne andere Passion als die des Berufs und der Berufung.«292 Die gleichmäßige, geordnete Hingabe an die Arbeit, die bürgerliche ‘Normalität’ der Lebensführung verbinden sich mit dem »völligen Ausgewogensein« des Charakters und einer fast uncharakteristischen Physiognomie zum Bild einer »immer und überall zwischen den Extremen geradezu vorbildliche[n] Mitte«.293 Wenngleich Zweigs Charakterbild durchaus nicht frei ist von Widersprüchen – wenn etwa Maß und Selbstkontrolle einerseits und Spontaneität statt Willensleistung andererseits behauptet werden –,294 so bleibt in der Grundtendenz doch die Stilisierung Freuds zum Idealbild bürgerlicher Tugenden, zum bürgerlichen Heroen, der allein für die unpersönlichen Ziele seiner Arbeit eine unbedingte Stärke einsetzt – vergleichbar also mit den durch unterschiedlichste Mühsalen sich um den Fortschritt mühenden Erfindern und Technikern in der Biographik von Smiles. Wenn Zweig in seinem Essay die Leistung Freuds nicht zuletzt aus dessen charakterlicher Disposition erklärt, dann folgt er zwar einerseits dem psychoanalytischen Anliegen, Person und Werk in eine enge Verbindung zu setzen, bedient sich aber traditioneller und popularer charaktero———————— 291 292 293 294
Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. Ebd., S. 293. Ebd., S. 296f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
logischer Anschauungen, die im weitesten Sinn in deutlicher Gegenbewegung zu den pathologisierenden oder neurotisierenden Geniemodellen eher als Fortführung einer ethisch konzipierten Anthropologie des Bürgers zu verstehen wären: in der Erfüllung der Ideale von Harmonie und Gesundheit, bürgerlicher Lebensführung und Hingabe an die Arbeit als individueller und – ethisch vermittelt – sozialer Pflicht. Als Bezugspunkt wäre auch zu denken an die ‘Spießigkeit’ des wahren Genies, wie sie Kretschmer für Goethe und Bismarck in Anspruch nahm, der seinerseits die Tugenden des Normalbürgers dadurch aufwertete. Dabei verbindet sich in Zweigs Darstellung die Normalbürgerlichkeit mit dem Heroentum des Forschers. Neben seinem Essay wirkte Zweig auch in werbenden Artikeln »als Propagandist und Missionar für die Sache, vor allem für die Person Freuds«.295 Dieser reagierte auf solche Sympathiebekundungen allerdings zurückhaltend. Neben kleineren Unrichtigkeiten – Zweig hatte Freud als außeruniversitären Kämpfer stilisiert, Freud betonte dagegen, daß er ein Ordinariat innegehabt habe – erschien Freud besonders die Auswahl und Beschreibung der psychoanalytischen Techniken als zu oberflächlich. Die Technik der freien Assoziation etwa habe Zweig vernachlässigt. Besonders verärgert war Freud wohl auch über die Behauptung Zweigs, die psychoanalytische Gesprächstechnik sei eigentlich das Resultat der starken persönlichen Wirkung des Psychoanalytikers – also Freuds. So kam Zweig im Gegensatz zu Freud zu der Ansicht, daß die Psychoanalyse nicht lernoder lehrbar sei.296 Nicht zuletzt irritierte Freud auch der Umstand, daß Zweig ihn in eine Reihe mit eher zweifelhaften Vorgängern wie Franz Anton Mesmer und Mary Baker-Eddy stellte, die Zweig ebenfalls in dem Band Die Heilung durch den Geist porträtierte.297 Freud stand den biographischen Versuchen an seiner eigenen Person – möglicherweise auch durch die Erfahrung mit Zweigs Essay – sehr kritisch gegenüber, und als Freud brieflich von dem ihm persönlich bekannten Schriftsteller Arnold Zweig darüber in Kenntnis gesetzt wurde, daß ———————— 295 296 297
Cremerius, Stefan Zweigs Beziehung zu Sigmund Freud, S. 52. Zweig, Sigmund Freud, S. 343. Auch Lutz Weltmann spricht in einer Rezension von der Gefahr der Herabwürdigung Freuds durch diesen Kontext. Der Freud-Essay erhält jedoch seine ungeteilte Zustimmung. Lutz Weltmann, Die Heilung durch den Geist. Stefan Zweigs neues Buch. In: Die Literatur 33 (1930/31), S. 430–432. – Einen Hinweis, »daß es für das Ansehen des ärztlichen Standes recht nützlich wäre, wenn die Medizin jeweilen [!] Neuerungen, auch unbequeme, etwas genauer ansehen wollte, bevor sie urteilt«, entnimmt dagegen der Rezensent in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« der Lektüre. Die Zusammenstellung der Biographien störe nur auf den ersten Blick. E. Bleuler, Stefan Zweig: Die Heilung durch den Geist […]. In: Münchener Medizinische Wochenschrift 78 (1931), Bd. 1, S. 925.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
261
dieser ebenfalls eine Biographie über ihn plane, wehrte er im Mai 1936 vorsorglich ab:298 Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen.
Stefan Zweig hat trotz der zwischenzeitlichen Verstimmungen in der Beziehung an seiner öffentlichen Verehrung festgehalten. Am 26. September 1939 erhielt er die Gelegenheit, die deutschsprachige Grabrede auf den Zeitgenossen im gemeinsamen Londoner Exil zu halten. Zweig verzichtet in seiner mit den Mitteln pathetischer Rhetorik ausgestatteten Rede auf eine Darlegung der Leistung Freuds, die am Ende seines Lebens keiner weiteren Hervorhebung mehr bedürfe, und er betont statt der eigentlichen wissenschaftlichen Leistung wiederum die Breitenwirkung des Psychoanalytikers: »[…] jeder von uns dächte, urteilte, fühlte enger, unfreier, ungerechter ohne sein uns Vorausdenken, ohne jenen mächtigen Trieb nach innen, den er uns gegeben.«299 Allein in diesem allgemeinen Sinn – nicht im bezug auf die Lehre Freuds – wird der ‘Einfluß’ Freuds auf die moderne Biographik adäquat erfaßt. Letztlich wäre es wohl richtiger von einer symbolischen Bedeutung des Namens Freud für die stärker psychologisch-charakterologisch orientierte Biographik zu sprechen. Zweig dagegen knüpft an seine Essays Die Heilung vor dem Geist die grundlegende Hoffnung auf die Kraft des Willens, des Geistes, des Charakters über die irrationalen Kräfte – die Tendenz seiner Werke steht so weitaus deutlicher in einer ethischen Tradition als in der Nachfolge Freuds. 3.3.8. Ausblick auf die Entwicklung psychobiographischer Ansätze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Edel, Eissler, Ellmann) »But how great a difference between having such innert data on the table and having the living subject in a chair or on a couch!« (Leon Edel, Writing Lives 1985)
Zu einer breiteren Publikation psychobiographischer Werke kam es im deutschen Sprachraum – obwohl die literatur- und dichterpsychologi———————— 298 299
S. Freud, Brief an Arnold Zweig vom 31.05.1936. In: Sigmund Freud u. Arnold Zweig, Briefwechsel. Hg. von Ernst L. Freud. Frankfurt/M.: Fischer 1968, S. 137f. Stefan Zweig, Worte am Sarge Sigmund Freuds. Gesprochen am 26. September 1939 im Krematorium London. In: Ders., Gesammelte Aufsätze und Vorträge 1904–1940. Hg. von Richard Friedenthal. Stockholm: Bermann Fischer 1946, S. 49–54, hier S. 52.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
schen Fragestellungen in der Frühzeit der Psychoanalyse einen wichtigen Raum einnahmen – mit deutlicher Verzögerung etwa seit Mitte der 60er Jahren des 20. Jahrhunderts.300 Erst spät setzte im deutschen Sprachraum eine erneute Freud-Rezeption in biographischem Kontext ein, in der Regel wohl als Übernahme angloamerikanischer Tendenzen, wie nicht zuletzt die sehr späte – und dadurch fast anachronistisch anmutende – Übersetzung der wichtigen biographischen Arbeiten des gebürtigen Wieners und US-amerikanischen Psychoanalytikers Kurt R. Eissler (1908– 1999) belegt, die im Kontext der Freiburger literaturpsychologischen Gruppe um Johannes Cremerius (1918–2002) erschienen. Ein ganz anderes Bild ergibt sich im angelsächsischen Sprachraum, wo nach einer punktuellen raschen Aufnahme psychoanalytischer Anregungen für biographische Arbeiten die psychographischen Überlegungen Freuds weiterentwickelt und modifiziert worden sind. Dies gilt sowohl für eher psychologisch motivierte Arbeiten wie Erik Eriksons Lebenslaufforschung (etwa am Beispiel Martin Luthers) als auch für die literarische Biographik. Dabei werden die psychobiographischen Modelle immer stärker nicht nur von Psychoanalytikern und Psychiatern, sondern etwa auch von Persönlichkeitspsychologen, von Historikern und Literaturwissenschaftlern adaptiert. Zumindest auf zwei herausragende Vertreter dieser psychologisch-literaturkritischen bzw. -historischen Richtung wird im folgenden neben Eissler wegen ihres weitreichenden Einflusses eingehender hinzuweisen sein: Leon Edel (1907–1997) und Richard Ellmann (1918–1987). Edel und Ellmann sind beide sowohl durch theoretische Äußerungen im Rahmen ihrer akademischen Tätigkeit als auch durch bedeutende Biographien hervorgetreten. Die Alexander-Lectures, die Edel 1957 in Toronto hielt, gehören in ihrer zuerst im selben Jahr publizierten Buchfassung Literary Biography zu den methodischen Standardwerken der Biographiegeschichte.301 In seinen Ausführungen entwirft Edel eine Poetik der Biographie.302 Obwohl sich Edel auf die Tradition der modernen Biographik seit Lytton Strachey beruft, der vorbildlich gewesen sei im Umgang mit dem ausufernden Quellenmaterial, welches der Biograph bei seinen Recherchen sammeln und zugleich begrenzen müsse, zeigt er deutlich deren Grenzen auf. Ins———————— 300 301
302
Den sprunghaften Anstieg psychobiographischer Literaturproduktion seit 1965 dokumentiert Runyan, Progress. Erstedition: Leon Edel, Literary Biography. The Alexander Lectures 1955–56. London: Rupewrt Hart-Davis 1957; im folgenden zitiert: Leon Edel, Literary Biography. Bloomington u. London: Indiana Univ. Press 21973; einige Abschnitte gingen in überarbeiteter Form auch ein in: Ders., Writing Lives. Principia Biographica. New York u. London: Norton 1985. Edel, Literary Biography 21973, S. X.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
263
besondere fehle es den Biographien Stracheys am Bemühen um eine objektive Darstellung. Überall bleibe seine abfällige Haltung gegenüber dem viktorianischen England spürbar. Kritik übt Edel auch am laienhaften Gebrauch der psychoanalytischen »tools«, und er fordert eine psychologische Professionalisierung der biographischen Arbeit. Die deutlichste Abgrenzung erfolgt jedoch in eine andere Richtung. Leon Edels poetologischer Versuch über die Biographie stellt zugleich einen Versuch zur Wiederbelebung der biographischen Literaturgeschichte dar. Wenngleich seine Ausführungen über diesen Rahmen hinausweisen, gelten sie doch vorrangig der »literary biography«, und diese ist nicht mißzuverstehen als eine literarisch anspruchsvolle – mit explizit fiktionalisierenden Elementen durchsetzte – biographische Arbeit (‘literarische Biographie’), sondern bezeichnet in der angloamerikanischen Forschung die Gattung der Dichterbiographie.303 Seine Vorlesung wendet sich ausdrücklich gegen solche literaturtheoretischen Versuche, die darauf abzielten, Text und Autor zu trennen. Das literarische Werk dürfe nicht als »a mere artefact« betrachtet werden, wie es namentlich die »new critics« propagierten. Eine solche Reduktion der Literatur auf die bloßen Texte bedeute eine »dehumanization of literature«:304 »the close reading of that text is the beginning of all literary study; but it is not the end of it. The text cannot be an appendage to the biography, for it is an integral part of it; and it is a reflection not only of the poet’s reading but of his way of experiencing life.«305 Aufgabe des Biographen sei es, den geheimen (psychoautobiographischen) Gehalt der Texte durch kontrollierte Methodik wieder lesbar zu machen. Edel kritisiert entsprechend auch die positivistische Rekonstruktion des gelebten Alltags, welche auf die Verbindung der Texte zum Leben verzichte und dadurch den zentralen schöpferischen Prozeß nicht durchsichtig mache. Vielmehr solle der Biograph seinem Leser einen Eindruck geben einerseits von der »essence of a life«, andererseits von dem »mysterious and magical process of creation«, der ein Teil der »inner consciousness« des Dichters sei.306 Edel ist sich bewußt, daß seine Ausführungen auf Kritik stoßen müssen. Zurecht habe man solche Biographien verurteilt, in denen aus literarischen Zeugnissen Kurzschlüsse auf die emotionale Haltung des Autors vorgenommen worden seien. Doch sei die schlechte Biographik kein Argument gegen die (psycho)biographische Arbeitsweise. Der Erfolg dieser Arbeit hänge in großem Maße von der Erfahrenheit des Biographen ab, der lieber dem Pfad der wenigen ———————— 303
304 305 306
Vgl. zum Begriff: Donald J. Winslow, Life-Writing. A Glossary of Terms in Biography, Autobiography and Related Forms. 2., überarb. und erw. Aufl. Honolulu: University of Hawai‘i Press 1995, S. 37. – Vgl. a.: Altick, Lives and Letters, S. IX ff. Edel, Literary Biography, S. XIII f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 3.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Bruchstücke des Lebens folge, als sich wie die »new critics« der Illusion hinzugeben, eine werkimmanente Betrachtung sei ausreichend.307 Nicht ob und wann Thomas Gray einen Friedhof besuchte, als er seine berühmte Elegie schrieb, sei dabei entscheidend, sondern die Frage, warum er sie geschrieben hat. Man dürfe und könne nicht vom Werk auf biographische Ereignisse kurzschließen, allerdings sei es möglich, aus den Texten etwas über die »texture of that life« (Edel) zu erfahren308 bzw. »ein psychisches Grundmuster« (wie dieser Aussagemodus in der deutschen Literatur erst in den späten 70er Jahren bei Hans J. Fröhlich aufgegriffen und formuliert wird) analytisch zu rekonstruieren.309 In diesem Sinne seien literarische Texte – auch die Gedichte von T. S. Eliot – »palpable projections of the impalpable and wholly personal inner experience«.310 Der Biograph hat auf der Suche nach der ‘texture’ des Lebens die Aufgabe, das heterogene und widersprüchliche Material in eine logische und kohärente Darstellung zu überführen.311 Gleichzeitig warnt Edel den Biographen davor, zu glauben, er könne die Arbeit des Psychoanalytikers leisten. Auch wenn er mit ähnlichen Phänomenen beschäftigt sei, bleibe ein Unterschied zwischen der professionellen und der literarischen Analyse; letztere dürfe nicht zur Demonstration der analytischen Methodik werden. Während der Psychoanalytiker die psychische Tiefenschicht suche – »the artist’s mental or psychic health« –, müsse es dem Dichterbiographen darum gehen zu zeigen, wie diese Tiefenschichtung in der Literatur kompensiert werde: »These are the triumphs of art over neurosis, and of literature over life, […].«312 Diese für seinen Biographismus zentrale These hat Edel wiederholt vertreten. Der Sublimationscharakter der Kunst – und besonders der Literatur – wendet sich allerdings nicht nur gegen die werkimmanente Trennung von Werk und Schaffenshintergrund. Er bedeutet – wie besonders in Edels Vortrag The Biographer and Psycho-Analysis (1960) deutlich wird – auch eine Wendung gegen jene Art psychoanalytischer Studien, die sich allein auf die Anormalität der psychischen Konstitution des Autors werfe, die Bedeutung seines literarischen Schaffens jedoch nahezu übergehe. Edel setzt dem entgegen: »Proust the man was sick, Proust the artist was strong, healthy, assertive«.313 Kunst wird so zum Produkt einer bestimmten inne———————— 307 308 309 310 311 312 313
Ebd., S. 65f. Ebd., S. 69. Hans J. Fröhlich, Schubert. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988 (rororo 12430; zuerst München: Hanser 1978), S. 18. Edel, Literary Biography, S. 88. Ebd., S. 58. Ebd., S. 95. Leon Edel, [The Biographer and Psycho-Analysis (1960)]. In: James L. Clifford (Hg.), Biography as an Art. Selected Criticism. 1560–1960. London / New York u. Toronto: Ox-
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
265
ren Spannung oder Leidenschaft, eines »state of desequilibrium« im Dasein des Künstlers stilisiert.314 Leon Edel war sich der Problematik bewußt, daß die Biographen nicht selten als psychoanalytische Laien schrieben und – im schlechteren Fall – die Inhalte eigener Therapieerfahrungen oder bloße Versatzstücke der Lehren Freuds wie den Ödipuskomplex auf die fremden Leben applizierten: »A biographer cannot psychoanalyze documents […]. The biographer is not a therapist; and lacks all qualifications for therapy.«315 Auch der Ich-psychologische Ansatz von Erikson oder popularpsychologische Konstrukte böten kaum Möglichkeiten für eine genaue Beschreibung der »particular inner lives«. Gleichwohl hielt Edel noch 1985 fest:316 Today the new biography can assert, as I have done, that neglect of psychoanalytical psychology means the neglect of a very large area of modern human knowledge. I would go so far as to say that biographies which do not use this knowledge must henceforth be reckoned as incomplete: They belong to a time when lives were entirely »exterior« and neglected the reflective and inner side of human beings.
Besonders für die Dichter- und Künstlerbiographik ist hiermit gewiß auch ein Leseinteresse der Biographikrezipienten in den 80er Jahren beschrieben. Edels Präferenz gerade für die ‘literary biography’, die Dichterbiographie, basiert auf einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Möglichkeit zu einer Psychonanalyse vergangener Leben, der Edel aber für die Dichterbiographie selbst ein literaturpsychologisches, auf Freuds Traumdeutung und Alltagspsychologie beruhendes Modell entgegenstellt. Die Ausgangslage für die historische Psychoanalyse ist hier in seiner Sicht günstiger, denn in den hinterbliebenen Zeugnissen der zu biographierenden Dichter können Traumprotokolle und »slips of the pen and of the tongue« erkannt und analysiert werden.317 Diese Kritik an der psychoanalytischen Pathologisierung der Dichter und Künstler, für die oben exemplarisch die Arbeiten von Nagera und Lubin genannt worden sind, wurde parallel auch in der Psychologie selbst geübt. Im Anschluß etwa an Ernst Kris (1900–1957), der in der literarischen Produktion die eigentlich positive Energie der Konfliktüberwindung ————————
314 315 316 317
ford Univ. Press 1962, S. 226–239, hier S. 238. – In demselben Aufsatz kritisiert er die ‘Unart’ mancher Biographen, psychoanalytische Begrifflichkeiten an die Stelle biographischer Erzählungen zu setzen. Die Biographie dürfe sich nicht auf den Analysevortrag beschränken, sondern solle narrative Lebensbeschreibung sein. Edel, The Biographer and Psycho-Analysis, S. 238. Edel, Writing Lives, S. 146. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 149.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
(‘Sublimierung’) erkannte,318 versuchte Kurt R. Eissler in seinen umfangreichen biographischen Arbeiten über Leonardo da Vinci (1961, dt. 1992) 319 und Goethe (1963, dt. 1983/85)320 diesen Umstand hervorzuheben. Eisslers Leonardo da Vinci versteht sich allerdings ausdrücklich als eine »Apologie der aus Freuds Schriften abgeleiteten biographischen Methode«,321 insbesondere der Methode und Schlußfolgerungen in Freuds eigener Leonardo-Studie. Wegen der sich hieraus entwickelnden orthodox-psychoanalytischen Vorgehensweise hat Thomas Kornbichler Eisslers Goethe als anachronistischen Versuch einer Biographik im Zeichen Freuds bezeichnet.322 In der angloamerikanischen Diskussion um die psychobiographischen Methoden finden Eisslers Arbeiten vielleicht auch wegen dieser Verspätung keine Erwähnung (Edel, Ellmann, Gittings) – und die noch einmal deutlich verspätete deutsche Rezeption muß erst recht als ein Kuriosum erscheinen. Immerhin aber handelt es sich um einen der monumentalsten und konsequentesten psychobiographischen Versuche. Besonders drei im Zug der biographischen Darstellung verhandelte theoretische Fragestellungen sind von allgemeinerem Interesse: erstens der Unterschied zwischen psychoanalytischer und historischer Methode, zweitens die Besonderheit des künstlerischen Menschen und drittens die psychische Funktion der schöpferischen Tätigkeit. Ausgangspunkt für die Leonardo-Analyse ist wie schon bei Freud auch bei Eissler der auf der Rückseite einer Vogelflugstudie notierte Kindheitstraum Leonardos. Er benutzt dieses Beispiel nicht zuletzt, um den Unterschied zwischen historischer und psychoanalytischer Arbeitsweise zu demonstrieren, denn zur Erklärung böten sich zwei Modelle an: die historische Interpretation des genutzten Bildbereiches oder die psychoanalytische Traumdeutung. Die Kernfrage sei: »War Leonardos Erinnerung bloß historisch vermittelt oder gab er etwas Persönliches, Intimes preis?«323 Der Vorwurf, den Eissler dem Historiker macht, zielt letztlich darauf, daß dieser nur das äußere historische Erscheinungsbild erkenne – ———————— 318 319
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321 322 323
Ernst Kris, Psychoanalytic Explorations in Art. New York: International Univ. Press 1952. – Vgl. Bühler u. Ekstein, Anthropologische Resultate, S. 360. Kurt R. Eissler, Leonardo da Vinci. Psychoanalytische Notizen zu einem Rätsel. Aus dem Amerikanischen [!] übersetzt von Pauline Cumbers u. Michael Berg. Basel u. Frankfurt/M.: Stroemfeld-Roter Stern 1992 (New York: International Univ. Press 1961). Kurt R. Eissler, Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 1775–1786. 2 Bde. Aus dem Amerikanischen [!] übers. von Peter Fischer u. Rüdiger Scholz. In Verbindung mit Wolfram Mauser u. Johannes Cremerius hg. von Rüdiger Scholz. Basel u. Frankfurt/M.: StroemfeldRoter Stern 1983/85 (Detroit 1963). – Zu Eisslers Studie vgl.: Anz, Autoren auf der Couch?, S. 101–106. Eissler, Leonardo da Vinci, S. 23. Thomas Kornbichler, Psychobiographie. Bd. 3: Lebensgeschichte und Selbsterkenntnis. Frankfurt/M. etc.: Lang 1994 (Psychopathologie und Humanwissenschaften 7), S. 40. Eissler, Leonardo da Vinci, S. 36.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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Eissler nennt dies auf deutsch den ‘Zeitgeist’ – während der Psychoanalytiker zur psychischen Tiefenstruktur vordringe und somit etwa den »spezifischen Inhalt« eines Traumes erkenne, und damit nicht bei der Erkenntnis über die »Art des Motivs«324 stehen bleibe:325 Der Mensch ist nicht das bloße Medium seiner Kultur. Der Bereich der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten – selbst wenn es um nicht mehr ginge als darum, unter den zahllosen Angeboten seiner Umgebung die Wahl zu treffen – ist größer als der Historiker zugesteht.
Eine Entgegnung auf dieses Zitat aus historischer Sicht fiele gewiß leicht, könnte doch auf die Historizität nicht nur der jeweiligen ‘Angebote’, sondern auch der spezifischen sozialen, moralischen, bildungsspezifischen – und durchaus nicht nur äußerlich bestimmten – Möglichkeiten einer ‘Wahl’ hingewiesen werden: zu denken wäre etwa an Bourdieus Begriffe Habitus und Praxis. Das ändert jedoch nichts an der für nahezu alle charakterologisch-psychologischen Ansätze gültigen Hauptthese, es gäbe so etwas wie eine äußere wandelbare Welt (die Geschichte) und davon zu trennende unveränderliche Basiskonstituenten der menschlichen Psyche bzw. unveränderliche Charaktertypen. In Deutschland wurde diese Ansicht u.a. von dem einflußreichen Psychologen Alexander Mitscherlich (1908–1982) vertreten, der über den kreativen Prozeß künstlerischen Schaffens äußert: »Der Prozeß des Hervorbringens ist intrapsychisch durch geschichtliche Zeiträume hindurch strukturell kaum verändert.« 326 Wenn Eissler diesen Ansatz mit einer Behauptung der Individualität des Biographierten gegen seine geschichtliche und gesellschaftliche Determiniertheit verbindet, so ist hier deutlich die bürgerlich-liberale Traditionslinie der Psychoanalyse erkennbar, welche den Einzelmenschen gegen die Abhängigkeit von Geschichte, Gesellschaft (und Körper) behauptet. Wenn schließlich Eissler – dem historischen Verfahren entgegengesetzt – die Behauptung aufstellt, die Analyse der »inneren Erlebniswelt« Leonardos könne auch dort Aufschlüsse über die realen Bedingungen der Kindheit geben, wo andere Zeugnisse fehlen, ist damit wiederum nicht die Herstellung einer historischen Wirklichkeit gemeint, sondern die psychoanalytische »Rekonstruktion der äußeren Realität« als eine biographische Konstruktion auf der Basis stereotyper bzw. allgemeinmenschlicher Erfahrungs- und Erlebnismuster: also eine psychische Wahrscheinlichkeit, die an die Stelle historischer Faktizität treten soll. Die tiefenpsychologische Vermenschlichung der biographierten Persönlichkeit verläuft parallel zu ihrer Enthistorisierung, indem die Konstanzannahmen ———————— 324 325 326
Ebd., S. 39. Ebd., S. 79f. Alexander Mitscherlich, Einleitung. In: Psycho-Pathographien I. Schriftsteller und Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. VIII–XII, hier S. XII.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
psychologischer Anthropologie die Faktizität des Geschichtlichen ersetzen. Eissler weicht in einem entscheidenden Punkt von der frühen psychoanalytischen Deutungsweise der besonderen Persönlichkeit (und auch von Mitscherlich) ab. War unter dem Einfluß der Psychoanalyse die ‘Vermenschlichung’ der herausragenden Gestalten im Sinn einer prinzipiellen psychischen und physischen Anlagegleichheit gefordert worden, so versucht Eissler – wie im übrigen viele psychologische Biographen – die Besonderheit des Genies auf psychologischer Basis neu zu begründen. In seiner Goethe-Biographie polemisiert Eissler gegen solche Autoren, die nur allgemeine psychologische Verhaltensmuster an bekannten Personen demonstrieren:327 Freud soll einmal gesagt haben, Psychoanalytiker müssen sich an die Tatsache gewöhnen, daß auch das Genie einen Ödipuskomplex hat; und in der Tat erschöpft sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der psychoanalytischen Biographien darin, das zu beweisen, was man voraussagen konnte.
Seine eigenen ‘Vorurteile’ über die Genialität werden deutlich, wenn er eingesteht, er sei tatsächlich überrascht, wenn er bei Goethe allgemeinpsychologische Muster entdecke. Er beharrt demgegenüber darauf, daß schöpferische Menschen eine »Persönlichkeitsstruktur« haben, die »wesentlich verschieden ist von der anderer Menschen«,328 ja, Eissler versteht wohl seine Goethe-Darstellung als eine Verteidigung des Genius gegenüber seiner ‘Herabwürdigung’ insbesondere in der zeitgenössischen deutschen Kritik. Das Genie entwickle sich aus dem zufälligen Zusammentreffen von idealen Milieubedingungen und dem »geeignete[n] psychobiologische[n] Material«.329 Goethe »besaß die psychobiologische Wandelbarkeit, die es möglich macht, das Maximum an psychobiologischem Potential aus jeder Phase des Lebens zu ziehen«.330 Während so einerseits fast genetische Grundlagen der Genialität die Besonderheit des großen Individuums zementieren, wird diese auch psychoanalytisch hervorgehoben, da die Psychobiologie letztlich die Grundlage dafür bildet, einen produktiven ‘Schutzmechanismus’ des ‘psychischen Apparates’ gegen innere Konflikte und Störungen aufzubauen.331 Die künstlerische Kreativität wird hier nicht als Resultat einer neurotischen Störung angesehen, sondern als positive Energie des psychischen Apparates:332 Das Kunstwerk ist das Ergebnis des unbewußten (und manchmal auch bewußten) Versuches eines Künstlers, eine Lösung – und mag sie auch noch so vorläu———————— 327 328 329 330 331 332
Eissler, Goethe, S. 22. Eissler, Leonardo da Vinci, S. 47. Eissler, Goethe, S. 28. Ebd., S. 37. Vgl.: Eissler, Leonardo da Vinci, S. 328ff. Eissler, Goethe, S. 32.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
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fig sein – für einen inneren Konflikt zu finden; gleichzeitig ist es ein Produkt, das seinen Platz in der Geschichte der Gattung dieser Produkte hat.
Abgesehen von der wiederum vorgenommenen schematisierenden Dichotomie zwischen psychologischer (Schöpfung) und historischer (Geschichte der künstlerischen Produkte) Sichtweise, wird die literarische Kreativität hier weitgehend reduziert auf eine Kanalisierungsleistung. Diese Funktion der Kreativität wird jedoch nicht jedem Menschen zugestanden, sondern allein den Genialen, die Eissler als eine psychopathologische Sondergruppe bezeichnet.333 Bei Goethe werden Kanalisierung und Kreativität als Prozeß und Resultat einer Suche erkannt: Goethes Jahre zwischen 1775 und 1786, also vor der Italienreise, werden geschildert als Jahre der unbewußten Suche nach einer Art psychoanalytischer Therapie. In diesem Sinn interpretiert Eissler Goethes Beziehungen zu Plessing, Lenz und seiner Schwester Cornelia. Gleichzeitig sei die literarische Produktivität Ausdruck einer auf die Schriftstellerei verlagerten Suche nach Lösungen für innere Konflikte, insbesondere für das Problem mangelnder sexueller Erfahrung; Eissler spricht in diesem Zusammenhang von zeitweiliger Impotenz. Auch wenn hier weiterhin die Lösung zentraler innerer Konflikte psychobiographisch im Vordergrund steht, muß der psychoanalytischen Biographik Eisslers jedoch zugestanden werden, daß – wie gezeigt – die Kreativität nicht mehr als Ausdruck pathologischer Abweichung oder psychischer Störung behandelt wird, sondern als die spezifische Fähigkeit, innere Konflikte auszugleichen. Gleichwohl bleibt Eisslers Ansatz grundsätzlich fragwürdig, denn alles, was auf den 1538 Seiten der deutschen Ausgabe minutiös hergeleitet wird, bleibt – wie Thomas Anz aufgezeigt hat – ein Konstrukt aus gewagten, sich gegenseitig stützenden Spekulationen, die Eissler zwar selbst als anfechtbar ausgibt, die aber immer erneut in die Darstellung eingebunden werden. Aus dieser Spekulationsverdichtung entsteht eine dichte biographische Fiktion, ein »psychoanalytischer Roman« (Anz).334 Dabei bleibt die psychoanalytisch bedeutsame Forderung nach einer ‘Gegenübertragungsanalyse’, also nach einer Analyse und kritischen Reflexion der Beteiligung des Biographen selbst, ausgespart.335 Wie problematisch zudem die psychoanalytischen Spekula———————— 333 334 335
Ebd., S. 38f. Anz, Autoren auf der Couch?, S. 106. Ebd., S. 105. – Horst Thomé hat in einer eingehenden Analyse einer Fallgeschichte von Freud diese Tilgung der Gegenübertragung aus der Erzählung herausgestellt und gezeigt, wie sich Freud erzählerisch an einem wissenschaftlichen Erkenntnisoptimismus orientiert, der in der Literatur (etwa bei Raabe oder Meyer) bereits problematisch geworden sei, da etwa in »Die Akten des Vogelsangs« die Involviertheit des Biographen in den Prozeß der Biographisierung bereits thematisiert worden sei. Horst Thomé, Freud als Erzähler. Zu literarischen Elementen im »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«. In: Lutz Danneberg u. Jörg Niederhauser (Hgg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontext. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen: Narr 1998, S. 471–492, hier S. 487ff. Eiss-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
tionen von Freud und Eissler im Licht anderer psychologischer Theorien erscheinen müssen, haben 1982 der Psychologe P. G. Aaron und der Historiker Robert G. Clouse am Beispiel Leonardo da Vincis gezeigt, indem sie alle psychoanalytisch interessierenden Biographie-Aspekte durch eine schlichte neuropsychologische (Gegen)Spekulation ad absurdum geführt haben. Für die Autoren läßt sich Leonardos Persönlichkeit aus einer spezifischen »form of cerebral organization« erklären.336 Wie auch immer die eigene Spekulation der Autoren zu bewerten sein mag, ihr Fazit zeigt deutlich die Grenzen einer psychoanalytischen Biographik:337 However, psychohistorical analysis can itself become illusory if it creates a biased view of human nature by disregarding neurological, genetic, and biological factors and relies solely on psychoanalytical interpretations.
Auf deutliche Distanz zu Erik Erikson und Leon Edel ging der Literarhistoriker Richard Ellmann, als er 1971 seine Antrittsvorlesung als Professor für englische Literatur mit dem Thema Literary Biography an der Universität Oxford hielt. Die von ihm favorisierte psychoanalytische Biographik sollte spezifische Fehler seiner Vorgänger vermeiden. So warf er Erik Erikson vor, sein Lebenslauf-Modell der sieben krisenhaften Lebensphasen sei letztlich immer noch zu schematisch. Jeder Biograph wisse, daß es Lebensphasen gäbe, die ruhiger oder konfliktreicher verliefen, »but the division into seven, even if Shakespeare used it too, is magical and arbitrary.«338 Gegen Leon Edel wendet Ellmann ein, dieser habe in seiner Biographie von Henry James das biographische Material psychoanalytisch überstrapaziert, indem er unbewußte assoziative Vorgänge in Zeugnisse hineininterpretiert habe, für die sich auch andere, banalere Erklärungen finden ließen. In einer jüngeren Studie über Freud and Literary Biography spitzt Ellmann diese Kritik an Leon Edels Biographie, die sich auch auf Eissler beziehen läßt, noch zu: »In an area where witnesses are so hard to come by, speculation can rife. An aphorism of our time for Freudian biography might be: if you can’t see it, it must be there.«339 Letztlich zeigt sich in Ellmanns Kritik, daß sich psychoanalytische biographische Methoden ———————— 336
337 338
339
ler knüpft an diesen Erkenntnisoptimismus trotz immer wieder behaupteter Anfechtbarkeit seiner eigenen Thesen deutlich an. P. G. Aaron u. Robert G. Clouse, Freud’s Psychohistory of Leonardo da Vinci: A Matter of Being Right or Left. In: Journal of Interdisciplinary History 13/1 (Summer 1982), S. 1–16, zit. S. 3. Ebd., S. 16. Richard Ellmann, Literary Biography. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford in 4 May 1971. Oxford: Clarendon Press 1971, S. 11. – Auch gedruckt in: Ders., Golden Codgers. Biographical Speculations. New York u. London: Oxford Univ. Press 1973, S. 1–16. Richard Ellmann, Freud and Literary Biography. In: Peregrine Horden (Hg.), Freud and the Humanities. New York: St. Martin’s Press 1984, S. 58–74, hier S. 72.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
271
als inkompatibel erweisen gegenüber historiographisch-biographischen Verfahren der Verifizierung des ‘Faktischen’. Aus diesem Spannungsfeld der interpersonalen Analysesituation Biograph/Biographierter ergibt sich eine problematische Offenheit für Subjektivität, Fehleinschätzungen und detektivischen Übereifer des Biographen. Eine Biographik im Sinne Eisslers, welche eine zu starke Trennung von psychologischer und historischer Betrachtung vornimmt, wird von Ellmann ebenfalls abgelehnt: »The difficulty with psychohistory is that instead of representing history as an influence upon the individual, it makes history a kind of Greek chorus confirming what is already assumed to be there.«340 Schließlich wendet er sich ausdrücklich gegen jede vorurteilsbildende Typologie dessen, was ein Literat zu sein habe. So habe sich ein Bild vom Literaten herausgebildet, welches Schwäche, kränkliche Veranlagung, psychosomatische Störungen geradezu als Voraussetzung der besonderen Begabung postulieren: »Our model for the artist is not Chaucer but Kafka: that scrawny, furtive face, which might belong to one of his own animal characters, seems the only appropriate physiognomy for genius.«341 Während Ellmann so auf die biographischen Fiktionalisierungstendenzen aufmerksam macht, welche durch den Gebrauch spezifischer narrativer Muster (Lebenslaufmodelle) oder typologischer Metaphern (Typologie) entstehen, favorisert er eine stärker am einzelnen Gegenstand orientierte Vorgehensweise. In größerem Maße als bei seinen literaturpsychologischen Vorgängern psychologischer Prägung ist dem literarhistorisch arbeitenden Ellmann sowohl die Historizität der jeweiligen psychologischen Erklärungsmodelle bewußt, als auch der durch ihren Gebrauch entstehende fortwährende Hypothesencharakter der Biographik: »Whatever the method, it can give only incomplete satisfaction.«342 Besonders in seinen letzten Lebensjahren hat Ellmann sich selbst der Biographik verschrieben. Vier Vorträge, in denen er sich 1982–85 an der Library of Congress mit Oscar Wilde, W. B. Yeats, James Joyce und Samuel Beckett auseinandersetzte, fanden als Four Dubliners (1987)343 ebenso wie seine Biographie Oscar Wilde (1987)344 weite Verbreitung. Diese Bemerkungen mögen als Ausblick auf biographische Tendenzen, die sich jenseits des Untersuchungszeitraumes der vorliegenden Studie ———————— 340 341 342 343
344
Ellmann, Literary Biography, S. 10. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Richard Ellmann, Four Dubliners. Wilde, Yeats, Joyce, and Beckett. London: Hamish Hamilton 1987 (zuvor in Einzelpublikationen; dt.: Vier Dubliner. Wilde, Yeats, Joyce und Beckett. Aus dem Englischen von Wolfgang Held. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996). Richard Ellmann, Oscar Wilde. London: Hamish Hamilton 1987.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
entwickeln, genügen. Festzustellen ist allerdings, daß die Rezeption psychoanalytischer Theoriebildung und Methodik erst mit deutlicher Verspätung in der Biographik eine breitere Wirksamkeit entfaltete. In der deutschsprachigen Biographik ist dies – wie schon die verspätete Rezeption Eisslers zeigt – erst in den späten 70er Jahren der Fall, den Schwerpunkt bildet die Biographik der 80er Jahre. Dabei wird die Rezeption der psychoanalytischen Biographik bereits mit einer fundamentalen Biographiekritik aus psychoanalytischer Sicht verschränkt, denn zunehmend wird die Frage nach dem Biographen selbst virulent, nach seinen Beziehung zur biographierten Person im Sinne der Forderung einer kritischen ‘Gegenübertragungsanalyse’. Robert Gittings hat in dieser ‘Selbstanalyse’ des Biographen und seiner Beweggründe für die Biographisierung einer bestimmten Person den entscheidenden Fortschritt gesehen, den Psychologie und Psychoanalyse für die nicht spezifisch psychologische Biographik erbracht hätten: »This self-analysis has made us, if not better biographers, certainly more honest ones.«345 Mit kritischer Distanz beurteilt Gittings dagegen die psychoanalytische Psychobiographik und insbesondere den tiefenpsychologischen Biographismus in den Literaturwissenschaften, wobei er besonders auf entsprechende tiefenpsychologische Fehllektüren der Verse von Keats hinweist. Thomas Anz hat die Forderung nach einer Gegenübertragungsanalyse im Blick auf Eisslers Goethe als unverzichtbares Korrektiv der psychoanalytischen Arbeit betont :346 Was hat er [Eissler] an eigenen Konflikten in die Analyse hineingetragen? Wieweit macht der Biograph, wie Freud verallgemeinerte, seinen Helden zu einer Vaterfigur, die er zugleich idealisiert und erniedrigt? Was hat Eissler dazu motiviert, eine derart gigantische Schrift vorzulegen, die nicht nur eine Autorität deutscher Kultur weit besser zu verstehen beansprucht, als diese sich selbst, sondern gleichzeitig auch noch die Goethe-Studien des Vaters der Psychoanalyse in den Schatten stellt? Und wie schließlich erklärt sich die latente Sexualfeindlichkeit, die sich hinter Eisslers so offener Sprache über Sexualität verbirgt?
Für die psychobiographische Analyse biographischer Werke und Autoren gehört die Analyse der Psychologie der Beziehung Biograph/Biographierter zu den unverzichtbaren Bestandteilen – so etwa in Alan C. Elms’ ———————— 345
346
Robert Gittings, The Nature of Biography, S. 42. Das Problem liegt für Gittings weniger in den psychologischen Fragestellungen selbst als in der disziplinären Einseitigkeit, mit der die Biographie in das »procrustean bed of one or another of the main psycho-analytical systems« eingepaßt würde (S. 47). Er fordert dagegen eine multiple Perspektivierung der Biographie im Licht nicht nur psychologischer sondern auch medizinischer, ökonomischer, politischer, geographischer und theologischer Konzepte (S. 63). Anz, Autoren auf der Couch?, S. 105. – Eine psychologische Reflexion der eigenen biographischen Arbeit gibt etwa: Wolfgang Hildesheimer, Die Subjektivität des Biographen. In: Ders., Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 123–138.
3.3. Psychiatrische und psychologische Konzepte
273
zitierter Studie über Freud-Leonardo347 oder in den freilich wenig erhellenden Ausführungen von Joachim Cremerius oder Thomas Haenel über Zweig-Freud.348 Diese Entwicklung zu Psychobiographen und Metapsychobiographen, welche die historischen Persönlichkeiten zu sich auf die Couch zitieren und zum Objekt der eigenen Methode machen, hat gewiß ihren Anteil an einer zunehmenden Reserviertheit der Biographen gegenüber psychoanalytischen Methoden und Schlußverfahren. Die Zurückhaltung ist dadurch begründet, daß die kritische Überprüfung der psychobiographischen Verfahren teils zu einer grundsätzlichen Kritik und Ablehnung der zu subjektiven psychohistorischen Betrachtungsweise, teils aber auch zu fundierten, für die biographische Praxis jedoch selten einlösbaren neuen psychologischen Fragestellungen und Aufgaben der Biographik geführt hat.349 Entsprechend zeichnet sich inzwischen nicht nur eine Krise sondern eher eine Abwendung von der Psychobiographik ab – zumindest, was die Wirkung psychobiographischer Darstellungsweisen außerhalb des Fachs betrifft. In der Biographik um 2000 jedenfalls macht sich eine Entwicklung nachdrücklich bemerkbar, welche durch den Verzicht auf psychologische Schlußbildungen und eine stärkere kultur-, sozial- und diskursgeschichtliche Betrachtungsweise gekennzeichnet ist. Damit geht auch ein Abrücken vom Modell des psychologischen Detektivromans einher, der durch die methodengeleitete Suche nach verborgenen psychischen ‘Wahrheiten’ gekennzeichnet ist, zugunsten einer sich als Version ausgebenden Narration historisch-biographischer Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeitsfelder.
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Elms, Freud as Leonardo. Cremerius, Stefan Zweigs Beziehung; Haenel, Stefan Zweig, S. 211f. Zusammenfassend: McAdams, The Person, S. 703ff. – Vgl. zur Weiterentwicklung psychobiographischer Verfahren auch: Angela Schorr, Biographische Forschung und Biographie in der Geschichte der Psychologie. In: Dies. u. Ernst G. Wehner (Hgg.), Psychologiegeschichte heute. Göttingen, Toronto u. Zürich: Vlg. für Psychologie 1990, S. 56–60; Runyan, Progress.
4. Vermenschlichung und Heroisierung – zwei widerläufige biographische Strategien der Moderne 4.1. Die ‘moderne Biographik’ ‘New biography’ bzw. ‘moderne Biographie’ sind Sammelbegriffe zur Bezeichnung unterschiedlicher biographischer Tendenzen des 20. Jahrhunderts, welche wegen der Heterogenität der unter ihnen gefaßten Werke und Autoren nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Die in den poetologischen Selbstauskünften etwa von André Maurois (1885–1967) oder Emil Ludwig (1881–1948) – und auch in der sich eng an diese Auskünfte anlehnenden Standortbestimmung der modernen Biographik von Jan Romein – genannten Schlagworte lassen sich nicht ohne weiteres auf sämtliche biographische Neuerungstendenzen ausdehnen und bedürfen einer jeweiligen Überprüfung an den konkreten Texten. Die zentralen Schlagworte verstehen sich zudem meist als Abgrenzungsbegriffe gegen andere biographische oder historiographische Tendenzen: Unbefangenheit des Biographen, psychologisches Einfühlungsvermögen, komplexere Anlage des seelischen Bildes, Verknappung statt Monumentalität, Entgötterung der Helden, Abkehr von der ethischen Betrachtungsweise, Verbindung von Historie und Dichtung. Wahrscheinlich gibt es kaum ein biographisches Werk, welches alle diese Merkmale auf sich vereinen würde, und einige Aspekte wie die Entgötterung der Helden und die Abkehr von einer ethischen Perspektive gehören eher zum ‘Mythos’ der modernen Biographik als zu deren zentralen Merkmalen. Schwierigkeiten ergeben sich bereits aus der Frage, welche Biographien eigentlich unter dem Schlagwort der modernen Biographik zu verhandeln sind. Die Zuordnung der biographischen Werke von Emil Ludwig und Stefan Zweig bereitet dabei keine Probleme – wie aber etwa das Werk Walter von Molos (1880–1958) einzuordnen ist, wird schnell zum Problem, da über die Jahre der deutschen Diktatur von Molos Werk aus dem Bereich der (emigrierten) modernen Biographik ausgegrenzt wurde, zu welchem es noch in den 30er Jahren gezählt hatte. Der Literatursoziologe Leo Löwenthal (1900–1993), der eine eingehende kritische Analyse der publikationsstarken und erfolgreichen ‘biographischen Mode’ vornahm, legte noch seinen Ausführungen aus dem Jahr 1955 37 biographische Titel zugrunde, unter denen selbstverständlich auch von Molo vertreten war. Fast zwei Drittel der Titel entfielen auf
4.1. Die ‘moderne Biographik’
275
Emil Ludwig (12) und Stefan Zweig (11).1 Die Verfasser der weiteren Werke waren Heinrich Bauer (Oliver Cromwell, 1937), Ludwig Bauer (Leopold der Ungeliebte, 1934), Franz Blei (Talleyrand, 1932), Martin Gumpert (Dunant, 1938), Wilhelm Herzog (Barthou, 1938), Hermann Kesser (Beethoven der Europäer, 1937), Hermann Kesten (Ferdinand und Isabella, 1936), Erich Kuttner (Hans von Marées, 1937), Klaus Mann (Symphonie Pathétique, 1935), Valeriu Marcu (Das große Kommando Scharnhorsts, 1928; Machiavelli, 1937), Walter von Molo (Eugenio von Savoy, 1936), Alfred Neumann (Königin Christine von Schweden, 1936) und Franz Werfel (Verdi, 1924). Manche der Autoren sind hier mit ihrem Werk zwar aufgenommen, aber gleichwohl unterrepräsentiert – wie etwa Walter von Molo –, andere könnten leicht hinzugefügt werden. So sind etwa Otto Flakes Ulrich von Hutten (1929), Jakob Wassermanns Christoph Columbus (1929) und Bula Matari (1932) auf ihr Verhältnis zu den Tendenzen der ‘modernen Biographik’ hin zu überprüfen. Und bedenkt man die Reihe weiterer biographischer Autoren der 20er und 30er Jahre, so zeichnet sich für manche künftige Studie noch ein ergiebiges Arbeitsfeld ab: Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Heinrich Mann, Ludwig Marcuse, Wilhelm Schäfer, Arno Schirokauer, Reinhold Schneider, Paul Wiegler, Ernst Wichert usw. Auch Werke, welche den biographischen Rahmen verlassen, wie Werner Hegemanns Lesegespräche über die Rezeption historischer Persönlichkeiten wie Napoleon oder Friedrich der Große gehören noch zum Umfeld dieser Entwicklung.2 Die Variationsbreite der neubiographischen Werke und Ansätze weist eher eine ‘Familienähnlichkeit’ auf, als daß von einer genau umschriebenen Gattung ‘moderner Biographik’ gesprochen werden könnte. Schon für Emil Ludwig, den Freud-Kritiker, und Stefan Zweig, den FreudVerehrer, lassen sich eher biographisch-poetologische Differenzen als Gemeinsamkeiten finden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf wenige Autoren, deren jeweilige moderne biographische Schreibweise vor dem Hintergrund der Diskussion von Strategien der Heroisierung und Idealisierung einerseits und der ‘Vermenschlichung’ andererseits beleuchtet wird. Mit Wassermann, Flake, Zweig und Ludwig werden dabei einerseits zentrale und auch repräsentative Biographen ausgewählt, ———————— 1
2
Leo Löwenthal, Die biographische Mode. In: Ders., Schriften. Hg. von Helmut Dubiel. Band 1: Literatur und Massenkultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 231–257. In fiktionalen Gesprächen zwischen dem Verfasser, seinem Pseudonym und illustren Persönlichkeiten (wie u.a. Georg Brandes, Thomas Mann, Lytton Strachey) über die Gestalt Friedrichs des Großen wird etwa von Werner Hegemann in »Friedrich oder das Königsopfer« (1925) dem Führerkult in Gestalt der Fridericusverehrung durch eine Entlarvung der Friedrich-Legenden begegnet. Vgl.: Werner Hegemann, Fridericus oder das Königsopfer. Hellerau: Hegner 1925; ders., Napoleon oder »Kniefall vor dem Heros«. Hellerau: Hegner 1927.
276
4. Vermenschlichung und Heroisierung
andererseits ist es gleichwohl symptomatisch für die Familienähnlichkeit moderner Biographik, wenn neben Gemeinsamkeiten insbesondere singuläre Lösungswege biographischer Probleme und individuelle Kontexte biographischen Schreibens zu profilieren sind. Die Biographik Walter von Molos und Wilhelm Schäfers, die das Spektrum biographischer Möglichkeiten nochmals erweitert, wird im Kontext der nationalisierenden Biographik (Kap. 5) behandelt. 4.1.1. Grundzüge der modernen Biographik Die moderne Biographik stellt vom Beginn an ein internationales Phänomen dar, welches in verschiedenen Literaturen – wenngleich wohl zuerst in Deutschland einsetzende – parallele Entwicklungen aufweist. Die gegenseitige internationale Rezeption der Werke beschränkt sich nicht nur auf einen engeren Literatenzirkel, in welchem andere Literaturen zur Kenntnis genommen worden wären, sondern die Werke erreichen eine internationale Leserschaft und rufen nationenübergreifende Debatten hervor. In Deutschland und wohl auch darüber hinaus wirkten als Wegbereiter etwa der dänische Literaturkritiker und Biograph Georg Brandes (1842–1927) und der Wilhelminismus-Kritiker, Journalist und Essayist Maximilian Harden (1861–1927). Wichtige Einflüsse für die Entwicklungen im deutschen Sprachraum kamen, als sich bereits eigenständige Entwicklungen abzeichneten, aus England und Frankreich. Einer der bedeutendsten Vorreiter der biographischen Entwicklungen im Kontext einer ‘new biography’ oder ‘modernen Biographik’ war der englische Bloomsbury-Literat Lytton Strachey (1880–1932), der sich im Vorwort zu seiner Porträtgalerie der Eminent Victorians (1918) von den voluminösen Monumentalwerken der Vorgänger absetzte und ihnen einen Mangel an »selection», »detachment« (Unbefangenheit) und »design« vorwarf.3 Weder Vollständigkeit der bloßen Fakten noch die Ausfaltung eines epochalen Gemäldes fanden sein Interesse. Gegen die Monumentalität setzte Strachey – wie Ulrich Raulff treffend bemerkt – den Versuch, die Epoche in einer Szene zu erfassen, und gegen das Verschweigen der Schattenseiten »gezielte[ ] Indiskretionen«.4 Strachey interessierte sich mehr für den jeweiligen Menschen in seiner psychischen und physischen Totalität als für die Epoche. Er wendet sich dagegen, das Leben der ein———————— 3 4
Lytton Strachey, Eminent Victorians. London: Chatto & Windus 1918. Raulff, Wäre ich Schriftsteller und tot …, S. 192f. – Vgl. u. a.: Laura Marcus, Auto/biographical discourses. Criticism, theory, practice. Manchester u. New York: Manchester Univ. Press 1994, S. 90–134 (Kap. 3: »Bringing the corpse to life: Woolf, Strachey and the discourse of the ‘new biography’«).
4.1. Die ‘moderne Biographik’
277
zelnen geschichtlichen Persönlichkeit nur als Repräsentation einer Epoche aufzufassen. Sie müsse vielmehr unabhängig von historischen Prozessen wahrgenommen werden. Neben Strachey prägte insbesondere Virginia Woolf (1882–1941) die neuen biographischen Entwicklungen in den angelsächsischen Literaturen. Woolf setzte sich in mehreren Essays mit den Möglichkeiten einer ‘new biography’ gegenüber der alten viktorianischen Monumental- und Verehrungsbiographik auseinander.5 In der deutschsprachigen Diskussion der 20er und 30er Jahre hat Woolf allerdings keine besondere Bedeutung gehabt, während Strachey als Beispiel für den biographischen Aufbruch immer wieder Erwähnung findet.6 Bedeutend für die Entwicklungen in den Literaturen deutscher Sprache war auch das Vorbild von André Maurois (1885–1967), dessen Biographien in den allerdings erst seit 1928 erschienenen deutschen Übersetzungen populär wurden: Benjamin Disraeli (Berlin 1928 u.ö.), Ariel oder Das Leben Shelleys (Leipzig 1928 u.ö.), Byron (München 1930), Eduard VII und seine Zeit (Berlin 1933 u.ö.), Träumer und Denker (über Rudyard Kipling, George Bernard Shaw, G. K. Chesterton, Joseph Conrad, Lytton Strachey, Katherine Mansfield und D. H. Lawrence; Zürich u. Leipzig ca. 1938). Maurois’ theoretische Überlegungen zur Biographik wurden in Deutschland zudem durch einen Beitrag in der Neuen Rundschau bekannt: Die Biographie als Kunstwerk (1929). In seinen Ausführungen streift Maurois Probleme, die auch für die deutschsprachige moderne Biographik grundlegend sind. Er fordert insbesondere dazu auf, die Biographie von der Verpflichtung auf Faktenfülle und Vollständigkeit zu befreien. Die ‘Kunst’ der Biographie liege gerade in der Auswahl charakteristischer Details, in der Reduktion der historischen Gestalt auf die wesentlichen Grundzüge des Charakters, auf die »geheime Einheit«7 des fremden Lebens und in der Präferenz der Charakterentwicklung und geistigen Biographie vor der Geschichte. Dabei fordert er dazu auf, die mit der Plutarch-Rezeption identifizierte Trennung von historischen Tatsachen und Charakterporträt zugunsten einer Charakterentwicklungsbiographie aufzugeben. Die Einheit des Individuums soll als Entwicklungsgeschichte, als Chronologie der Bildung und des Wandels des Charakters vorgeführt werden. Die Chronologie sei sogar unbedingt einzuhalten; es dürften Lebensereignisse und -leistungen nicht antizipiert werden. Vielmehr sei ———————— 5 6
7
Vgl.: Virginia Woolf, The New Biography. [1927.], In: Dies., Collected Essays. Bd. 4. London: Hogarth 1967, S. 229–235; dies., The Art of Biography. In: Ebd., S. 221–228. Als Hauptrepräsentant der »Biographie, die sich ‘wie ein Roman liest’«, wird Strachey etwa genannt in: Paul Lang, Die Kunst der Biographie. In: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur 9 (1929/30), S. 490f. – Lang vergleicht Stracheys Deutung weiblicher Gestalten mit Shakespeare und seine Geschichtsdarstellung mit Jacob Burckhardt. Maurois, Die Biographie als Kunstwerk. Übers. von Lissy Rademacher. In: Neue Rundschau 40/1 (1929), S. 232–248, hier S. 237.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
chronologisch »alles durch den Helden zu sehen«8 und in der Folge seiner Entwicklung darzustellen. Diese Verpflichtung auf die Chronologie der Charakterentwicklung wird von den modernen Biographen zumeist eingehalten. Die Biographie nähert sich hier an Darstellungsweisen des historischen Romans an, wie sie etwa bei Conrad Ferdinand Meyer (1825– 1898) erprobt worden waren. Mit dieser deutlichen Tendenz zum Roman, zur fortlaufenden Narration, bleibt die moderne Biographik allerdings hinter Forderungen zurück, wie sie bereits 1916 etwa von dem gerade erst in München promovierten Germanisten Martin Sommerfeld (1894–1939) für die Biographik aufgestellt worden waren, der von einer ‘theoretischen Biographie’ der geistigen Persönlichkeit forderte, die geistige Entwicklung thematisch zu gliedern, das Nacheinander der Ereignisse durch die Analyse und Systematik des Geistigen zu ersetzen.9 Vielleicht bietet gerade Ludwig Marcuses früher ‘biographischer’ Versuch Strindberg. Das Leben der tragischen Seele (Berlin 1922) im Sinn von Sommerfeld einen interessanten Gegenentwurf zum Konzept der modernen biographischen Narration, denn Marcuse verfaßt eine ‘philosophische Biographie’, in welcher die »drei Gestalten der Seele« Strindbergs und »Strindbergs Individualität« im Geistigen verfolgt werden – ohne irgendeinen Bezug zum Ereignislebenslauf. Die moderne Biographik, der sich Ludwig Marcuse später ebenfalls zugewendet hat, zeichnet sich demgegenüber zunächst – nicht insgesamt, aber mehrheitlich – durch eine Rückwendung an traditionelle Erzählmodelle aus. Auch aus anderer Perspektive erfüllte die neue Biographik Erwartungen an eine Erneuerung der Gattung nicht. So wurden die biographische Grundannahme der Einheit des Individuums und die Konzentration auf individuelle statt historisch-politische und soziale Aspekte insbesondere aus soziologischer und sozialhistorischer Perspektive schon zeitgenössisch kritisiert – nicht nur von Kracauer und Löwenthal (s. u.). Gerade in der Rezeption der Tiefenpsychologie sahen moderne Biographen wie etwa Stefan Zweig die Chance, »das Nichtgattungmäßige jedes Menschen, die einmalige Einheit jeder Persönlichkeit wieder in den Vordergrund der Betrachtung zu drängen«.10 Mit Blick auf Emil Ludwig fragt sich dagegen 1929 Artur Seehof (1892–1953) in einer Rezension biographischer Literatur in der Neuen Bücherschau: »Nicht Einzelne machen Geschichte, im ———————— 8 9
10
Ebd., S. 241. Martin Sommerfeld, Biographik. Eine methodologische Erwägung. In: Das literarische Echo 19 (1916/17), Sp. 137–143: »Die wissenschaftliche Biographie aber ist durchaus nicht die Darstellung eines ereignismäßigen Verlaufs, sondern geistigen, also nicht unbedingt zeitlich gebundenen Wesens; es kann ihr zur Pflicht werden, das Nacheinander in ein Nebeneinander, das Nebeneinander in ein Nacheinander umzusetzen.« (Sp. 138.) Zweig, Die Heilung durch den Geist, S. 24.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
279
Gegenteil, Einzelne werden von der Geschichte gemacht. Wann werden das die Ludwig und Eulenberg endlich begreifen?«11 Dabei – und hierin wurde zeitgenössisch die größte Brisanz der Werke gesehen – erhielt die Biographie in der öffentlichen Wahrnehmung eine Stellung zwischen der Geschichtswissenschaft und dem Roman. »Biography is a branch of history«, so hielt André Maurois noch 1953 fest.12 Obwohl für die Biographie jetzt der Anspruch gestellt wurde, Historiographie zu sein,13 fügte sich der moderne biographische Diskurs nicht den disziplinären Forderungen der Geschichte wie etwa der Verpflichtung auf historiographische Arbeitsweisen, sondern behauptete Eigenständigkeit durch die Entwicklung eigener Erarbeitungs-14 und Darbietungsformen sowie durch ein neues Interesse an der Menschlichkeit des Individuums. Trotz dieser Abweichung von den historiographischen Standards betonten biographische Autoren wie Emil Ludwig und Stefan Zweig gern, daß sie ihre Arbeit sowohl als literarisch als auch als historiographisch verstünden – vor allem aber über psychologische Erkenntniswege verfügten, die in der Geschichtswissenschaft ausgeklammert würden. (An die Stelle der antipsychologischen Ablehnung des Biographischen durch Droysens Historik trat – so ließe sich zugespitzt formulieren – nun der Anspruch einer ‘besseren’ Geschichtsschreibung einer weitläufig psychologisierenden Biographik.) Wenn es einen deutlichen Einfluß der Psychologie auf die Biographik der modernen Biographen gab, so ist dieser darin zu erkennen, daß die Biographen die scheinbar Wahrheit garantierende Macht der Fakten und Faktenfülle durch die Deutung ausgewählter Ereignisse und ihrer ‘inneren’ Zusammenhänge zu ersetzen bemüht waren. Der Wahrheitsanspruch ihrer Werke leitete sich aus den analytischen Fähigkeiten des Autors15 und aus der psychologischen Wahrscheinlichkeit ———————— 11
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15
Artur Seehof, Biografien und Memoiren. In: Die neue Bücherschau 7 (1929), S. 614–618, hier S. 614. Als Gegenmodell verweist Seehof auf die Werke von Hegemann, welche die Demontage der Heldenverherrlichung (und nicht so sehr der Helden selbst) betreiben: »Hier wird endlich einmal die Legende von dem ‘großen’ Menschen zerfetzt […]« (S. 615). A[ndré] M[aurois], Biography. In: Cassell’s Encyclopedia of Literature. Hg. von S. H. Steinberg. 2 Bde. London: Cassell 1953, Bd. 1, S. 58–65, zit. S. 58. Vgl. zum Streit zwischen Historiographen und ‘historischen Belletristen’: Scheuer, Biographie, S. 158ff.; ders., Kunst und Wissenschaft. Die moderne literarische Biographie. In: Grete Klingenstein, Heinrich Lutz u. Gerald Stourzh (Hgg.), Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis biographischer Arbeit. München: Oldenbourg 1979 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit. Bd. 6), S. 81-110; Christoph Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien der Weimarer Republik. Frankfurt/M. u. New York: Campus 1993 (Historische Studien. Bd. 10). Deren wichtigste ist vielleicht in der ‘Kürzung’ des Materials zu sehen, denn die Quellenarbeit und der Umfang der Studien änderte sich zumindest bei Biographen wie Stefan Zweig kaum. »[…]: das unbefangene Urteil über die Vergangenheit auf Grund von Selbsterkenntnis – das ist in Wahrheit historische Wissenschaft.« Romein, Die Biographie, S. 79.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
der Figur her, nicht aus der Wiedergabe äußerer Ereignisse.16 Die Aufgabe des Biographen bestand nicht darin, die Realien auszubreiten, sondern durch geschickte Auswahl und durch erzählerische Gestaltung ein zutreffendes Bild vom Charakter des Biographierten zu schaffen. André Maurois forderte: »Der biographische Künstler muß an erster Stelle seinen Leser von unnötigem Material befreien.«17 Das Quellenstudium und die bloße Verkettung der Realien, wie sie in zahlreichen philologischen Brief-und-Werk-Collagen des 19. Jahrhunderts vorlag, galten als unzulänglicher Weg zur historischen Wahrheit. Die Biographen beriefen sich vielmehr auf Menschenkenntnis und psychologisches Gespür, wodurch sie das Verständnis der Biographie nachhaltig prägten.18 Sie nahmen für sich in Anspruch, was Stefan Zweig in einem nicht gehaltenen Vortrag Die Geschichte als Dichterin (1939) auch generell vom Historiker fordert: »wer Geschichte verstehen will, muß Psychologe sein, er muß eine besondere Art des Lauschens, des sich tiefin-das-Geschehnis-Hineinhorchens besitzen und eine gewisse Fähigkeit der Unterscheidung der historischen Wahrheiten.«19 Das Bewußtsein, daß allein auf der Basis positiver Fakten keine Wahrheit zu haben sei, erlaubt unter der Voraussetzung des fast intuitiven Geschichtsverständnisses des Verfassers den freieren Umgang mit den Quellen. Nicht deren penibles Studium sondern die innere Verwandtschaft und Ähnlichkeit des Biographen mit dem Biographierten wird zur Voraussetzung für eine wahrheits———————— 16
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So heißt es bei Maurois, daß selbst bei einer Biographie Napoleons der historische Hintergrund nur soweit berücksichtigt werden dürfe, wie dies notwendig sei, um seine »sentimentale und geistige Entwicklung« zu zeigen. Maurois, Die Biographie als Kunstwerk, S. 242. – Ebenso äußert sich a.: Emil Ludwig, Historie und Dichtung. In: Neue Rundschau 40/I (1929), S. 358–381. Maurois, Die Biographie als Kunstwerk, S. 243. Der Cäsar-Biograph Christian Meier hat diesen ‘modernen’ Aspekt der biographischen Arbeit 1989 erneut betont, als er feststellte, der Biograph brauche »eine gewisse psychologische Erfahrung«, denn auch das Leben Cäsars »stellt zugleich die besondere Form sehr allgemeiner menschlicher Möglichkeiten dar«: »man kann die Bedingungen des Feldes auf dem einer arbeitet, nicht wegdenken. Aber man sollte in seiner Tätigkeit doch die besonderen Ausformungen allgemeiner personaler Möglichkeiten sehen. Letztlich ist Cäsars Leben gerade in seiner Außerordentlichkeit, indem er sich so sehr an den Grenzen der Möglichkeiten bewegte, ein Exemplum menschlichen Lebens überhaupt.« (S. 105.) Auf diese Weise trage die Biographie auch zur Erkenntnis des Menschlichen und zur Selbsterkenntnis bei (S. 106). Die von den modernen Biographen vertretene weitergehende Auffassung, die psychologische Menschenkenntnis könne auch die Lücken des Faktischen schließen oder gar die Fakten in Frage stellen, wird durch den Historiker Meier nicht thematisiert und wohl auch nicht geteilt. Christian Meier, Die Faszination des Biographischen. In: Frank Niess (Hg.), Interesse und Geschichte. Frankfurt/M.: Campus 1989, S. 100–111. Stefan Zweig, Die Geschichte als Dichterin. In: Ders., Gesammelte Aufsätze und Vorträge 1904–1940. Hg. von Richard Friedenthal. Stockholm: Bermann-Fischer 1946, S. 337–360, hier S. 353.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
281
nahe Darstellung erklärt.20 Der Historiker müsse sich von einer »Vision« leiten lassen, um das Material zum Sprechen zu bringen: »es gibt vielleicht überhaupt keine Geschichte an sich, sondern erst durch die Kunst des Erzählens, durch die Vision des Darstellers wird das bloße Faktum Geschichte.«21 Ein rhetorisch meisterhaft durchgeführtes Beispiel für die biographische Argumentationstechnik zwischen Geschichte und dichterischer Legende hat Stefan Zweig 1926 in seinem Essay Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci gestaltet. Gegenstand seiner Ausführungen ist eine Märtyrerlegende, welche auf die menschliche Wahrheit zurückgeführt werden soll. Die Faktizität der Geschichte erscheint zunächst »als rohe Substanz«, aus welcher erst die Dichtung wieder eine bleibende und lebendige Form zu schaffen vermag:22 Durch Dichtung wird das Vergangene zum dauernd Lebendigen erneuert, Erfindung bindet mit kühner Argumentation das zufällige Nebeneinander der Wirklichkeit, und nach einiger Zeit begibt sich das Sonderbare, daß die Legende die Wirklichkeit verschattet und ihr zu Dank Gestalten in unserem Gedächtnis so fortleben, wie sie nie in Wahrheit gelebt haben und wie erst der Dichter sie ins Leben weckte.
Solche Legendendichtungen seien etwa die historischen Dramen Schillers, aber auch die romantisierenden Darstellungen der Beatrice Cenci durch Stendhal oder Shelley. Vergleiche man jedoch die Legenden um die historischen Gestalten mit der Wirklichkeit der überlieferten Dokumente, so erscheine einem schließlich die »wahrhafte Gestalt wieder wahrhaftiger […] als die übernommene der Dichtung«: »Die Akten Wallensteins, der Prozeß der Jeanne d’Arc stellen höhere Anforderungen an die mitschaffende Psychologie als die allzu geglätteten und kausal gebundenen Formen der Schillerschen Dramen.«23 Dieser einleitend benannten Argumentationsbewegung folgt auch die anschließende Richtigstellung der Legende von der jungfräulichen Märtyrerin Beatrice Cenci durch das Bild einer berechnenden Vatermörderin, welches Zweig nach aktuelleren Darstellungen24 zusammenfaßt. Tatsächlich habe die Cenci nach Auskunft der Akten einen Mörder durch Liebesgaben gedungen, der dann zum Vollstrecker der von ihr erwünschten Tat am tyrannischen Vater geworden sei. ———————— 20
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»Das Moment der seelischen Verwandtschaft« betont etwa Jan Romein in seiner Abhandlung der Biographie, die sich durchaus als eine Poetik der modernen Biographie lesen läßt. Romein, Die Biographie, hier S. 75. – Vgl. zur »‘Affinitäts’- bzw. ‘Einfühlungs’theorie« der modernen Biographen a.: Scheuer, Biographie, S. 168ff. Zweig, Geschichte als Dichterin, S. 355. Stefan Zweig, Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci. 1926. In: Zweig, Zeit und Welt, S. 113–126, hier S. 115. Ebd., S. 115. Zweig bezieht sich auf: Corrado Ricci, Die Geschichte der Beatrice Cenci. Stuttgart: Hoffmann 1927.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Die Wirklichkeit der Dokumente »zeigt die Renaissance, wie sie in Wahrheit gewesen: brutal und blutgierig, skrupellos und grausam«.25 Dies ist freilich nur der erste Schritt der historischen Erkenntnis: Keineswegs beschränkt sich die Aufgabe des modernen biographischen Essayisten auf die Überprüfung der Legende durch die Faktizität der Dokumente. Das Ziel von Stefan Zweigs biographischem Argumentationsgang beruht vielmehr darin, auch die Aussagen der Dokumente zu hinterfragen und so auch das Verschwiegene in den überlieferten Zeugnissen zum Sprechen zu bringen. Aus dem Testament der Beatrice Cenci, kurz vor der Hinrichtung verfaßt, entnimmt Zweig einen Passus, in welchem diese einem nicht namentlich erwähnten Kind einen größeren Betrag samt Zinsen mit Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres vermacht. Was in den Akten nicht steht, offenbart sich – »sichtbar für die Sehenden« – dem einfühlenden Blick des Biographen: Der gedungene Mörder Olympio müsse der Vater des Kindes sein, der Plan, den Vater Beatrice Cencis zu beseitigen, müsse »schließlich auch in der Furcht vor Entdekkung ihrer Mutterschaft begründet« gewesen sein: »Damit stürzt und fällt freilich ein wesentlicher Teil der Legende [die angenommene jungfräuliche Unschuld], aber um so menschlicher, klarer und eindringlicher eröffnet sich die innere Tragödie, die jenes Schloß der Petrella jahrhundertelang verborgen.«26 Mythenkritik – Überprüfung an den Quellen – psychologische Quellenlektüre: Dies ist für Zweig der Dreischritt der biographischen Erkenntnis. Wird so einerseits einer idealisierenden ‘Wahrheit’ in der Auffassung der Renaissance die positive ‘Wahrheit’ der besseren Quellenkenntnis gegenübergestellt, so erscheint die psychologische Wahrheit des Biographen als Vervollkommnung des Quellenstudiums durch psychische Analyse oder schlicht Menschenkenntnis. Dieser psychologischen Wahrheit aber ist die Faktizität der Quellen untergeordnet und die Idealität des Geschichtlichen im Sinn Schillers oder die idealistische Wahrheit Hegels fragwürdig. Am Ende seines Essays formuliert Stefan Zweig freilich die ernüchternde Einsicht, daß die Tradition der Legende durch die Wahrheit und Deutung der Dokumente wohl nicht mehr korrigiert werden könne. Ist diese Erkenntnis der Ausgangspunkt für die Tendenz der eigenen biographischen Arbeiten zur dichterischen Umsetzung der biographischen Erkenntnis, zur populären romanhaften Biographie und zur erzählerisch zugespitzten historischen Miniatur? Zumindest erreicht die moderne Biographik Zweigs und Ludwigs als historische Popularform diejenigen Leser, die sich nicht auf den akademischen Stil der Historiker einlassen, und sie tragen so zur Bildung neuer – in ihren Augen freilich historisch abgesicherterer – Legenden bei. ———————— 25 26
Zweig, Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci, S. 117. Ebd., S. 125.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
283
Die im engeren Sinne ‘modernen’ Biographen, die eine neue Verbindung von historischer und charakterologisch-psychologischer, biologisch-vitalistischer oder national-völkischer, jedenfalls die besondere Gestalt ‘vermenschlichender’ Darstellung suchten, knüpften dabei durchaus an die historischen Schriftsteller Carlyle und Burckhardt sowie an historische Erzählwerke – und insbesondere den Jürg Jenatsch – eines C. F. Meyer an.27 Jakob Wassermann etwa bekannte sich in einer knappen, aber hym———————— 27
Gerade Meyer beschäftigte sich – im Gegensatz zu bekannten zeitgenössischen Autoren historischer Romane und Novellen wie Theodor Fontane oder Wilhelm Raabe – mit der historischen Einzelgestalt. Typisch für den historischen Roman in der Nachfolge Walter Scotts ist die Ausweitung auf die Raumbeschreibung, die breitere Szenerie und die Wahl eines nicht heldenhaften Augenzeugen als Vermittler der Ereignisse. Besonders bei Fontane verbinden sich Elemente des Gesellschaftsromans mit dem historischen Thema (man denke nur an »Vor dem Sturm«). Hartmut Steinecke stellt hier fest: »Geschichte wird nicht mehr [oder noch nicht?] als das Wirken großer Individuen gesehen, sondern als wesentlich komplexerer Vorgang« (Hartmut Steinecke, Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann. Entwicklungen und Probleme der »demokratischen Kunstform« in Deutschland. München: Fink 1987, S. 85). So bleibt die romanhafte Heldenbiographie zunächst ein Randphänomen der historischen Romanliteratur. – Conrad F. Meyers Roman »Jürg Jenatsch« ist in der früheren Forschung durchaus auch auf die Geschichts- und besonders Heroenkonzeptionen bei Thomas Carlyle und Jakob Burckhardt bezogen worden. Der Roman kann nicht zuletzt als literarische Studie über die psychophysische Konstitution und historische Stellung des Heros gelesen werden. Schon Erich Everth vermutete, daß Meyer in seinem Roman genau dem Mangel an Heldenverehrung entgegenarbeitete, den Carlyle in seiner Zeit beklagte (Erich Everth, Conrad Ferdinand Meyer. Dichtung und Persönlichkeit. Dresden: Sibyllen-Verlag 1924, S. 120); und der Literaturkritiker Hans Mayer hat bemerkt, daß eben dieser biographische Roman als eine »Illustrierung zur Geschichtskonzeption Jacob Burckhardts« gelesen werden könne (Hans Mayer, Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch und Bismarck. In: Ders., Ansichten von Deutschland. Bürgerliches Heldenleben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 20–42). Jenatsch, auf dessen historische Erscheinung Meyer den Stoff mit dichterischer Freiheit zugeschnitten hat, ist äußerlich durch die Attribute klassisch-homerischer Heroen gekennzeichnet, sozial eher ein Außenseiter, der später deutlich asoziale Züge annimmt, aber zunächst überall Bewunderung, Erstaunen, Gefolgschaft (und zunehmend auch Haß) erregt. Meyer konstruiert den Heros durch eine polyperspektivische Beschreibung aus der Sicht von Nebenfiguren, die jeweils als Kontrastbilder spezifische Eigenschaften des Heros plastisch hervortreten lassen. Meyer zeichnet Jenatsch allerdings nicht als einen Volkshelden, der als verlängerter Arm und Repräsentant der Volkseigenschaften und -verwirklichungsziele auftritt. Von der geschichtsmächtigen Personalisierung des Volkes in dem einen Helden kann kaum die Rede sein (vgl. im Gegensatz zur älteren, ‘völkischen’ Meyer-Lektüre ähnlich: Andrea Jäger, Conrad Ferdinand Meyer zur Einführung. Hamburg: Junius 1998, Zur Einführung 179, S. 63f.; dies., Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert. Tübingen u. Basel: Francke 1998, S. 175–179). Die heroische Konstitution von Jenatsch bedeutet zugleich seine Isolation und Asozialität. Das historische Geschehen ist im »Jürg Jenatsch« auf den Helden reduziert, von dessen Kampf gegen alle Widerstände die Freiheit Bündens abhängt. Eine weitere historische Bewertung der Ereignisse, ein vorausweisender Ausblick auf die Geschichte der Schweiz, ein nationales oder liberales Freiheitspathos – all dies scheint für Meyer hinter der Frage nach Jenatsch als einem Prototyp des Heroischen zurückzutreten. Es ist das Faszinosum der Gewalt und Größe, welches Meyer jenseits moralischer Wertungskategorien vorführt. Die
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
nischen Würdigung zum Vorbild des Jürg Jenatsch, den er für »die weise Ökonomie der Beziehungen wie der Darstellung« schätze, einer »Ökonomie, die in jedem Fall nur das Ergebnis der Intuition oder, ganz zuletzt, der Liebe sein kann«.28 Dabei bilde der Roman auch »eine große und bewundernswerte Ausnahme« im Werk Meyers, der hier das Ideal des historischen Romans erreicht habe: »Monumentalität auf volkhaft mythischer Basis«.29 Die sich in Wassermanns Argumentation abzeichnende Spannung zwischen »Ökonomie« der Erzählung und Strukturierung einerseits und »Monumentalität« der Gestaltung andererseits wird für die heroisierende moderne Biographik, aber auch für die Konstruktion mythischer Schicksalsgestalten bei Wassermann und Stefan Zweig zu einem wichtigen Charakteristikum. Wassermanns Deutung von Meyers Roman und seine Wertschätzung des Jürg Jenatsch vor allen anderen Texten Meyers steht durchaus nicht isoliert da. In den Schweizerischen Monatsheften feierte etwa Hans Honegger (?–?) den ‘Politiker’ Conrad Ferdinand Meyer, der es im Gegensatz zum gegenwartsfernen Historismus in seinen Texten vorbildlich schaffe, der Geschichte »Gegenwartssinn und Gegenwartsdeutung« zu geben.30 Dabei betont Honegger einerseits die erzählerische Gestaltung der Stoffe und andererseits die Analyse der historischen Figuren, die zu Studien über den Typus des Helden, des Politikers, des Diplomaten und Staatsmannes würden. Zum einen sei »das Problem, strenge äußere Form mit einem lebensvollen Inhalt« zu verbinden, von Meyer vorbildlich gelöst worden – vorbildlich für Dichtung und Wissenschaft: »Dieser Leistung wegen kann C. F. Meyer nicht nur als ein leuchtendes Vorbild für die Dichtkunst, sondern für die Kunst überhaupt und auch für die Wissenschaft gelten. Die Wissenschaft kämpft nämlich nicht weniger hart mit diesem Problem als die Kunst!«31 Zum anderen wird der Roman Jürg Jenatsch in besonderer Weise hervorgehoben als »der bedeutendste politische Roman des deutschen Schrifttums überhaupt, genauer, der feinsinnigste und eindrucksvollste Roman, der über das Wesen der großen politischen ————————
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Freiheit der Gestaltung des Stoffes, die nahezu psychologische Perspektive auf den letztlich tragisch isolierten Heros, die Technik immanenter Charakterisierungen etc. sind von den ‘modernen Biographen’ wie Wassermann als vorbildlich aufgefaßt worden. Jakob Wassermann, Über den »Jürg Jenatsch«. In: Ders., Lebensdienst. Gesammelte Studien [,] Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten. Leipzig u. Zürich: Grethlein 1928, S. 290–293, zit. S. 292. Jakob Wassermann, Der historische Roman in Deutschland im Zusammenhang mit Eduard Stuckens »Weißen Göttern«. In: Wassermann, Lebensdienst, S. 296–302, zit. S. 299. Hans Honegger, Conrad Ferdinand Meyer und die Politik. In: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur 6 (1926/27), S. 22–37, zit. S. 22. Ebd., S. 23. – Die Gedanken zu Inhalt und Form lehnen sich explizit an die formästhetischen Überlegungen von Fritz Strich und wohl implizit auch von Oskar Walzel an.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
285
Persönlichkeit geschrieben worden ist«.32 Dabei betont Honegger, daß es Meyer – im Gegensatz zu Schiller – gelungen sei, die Ambivalenz des Heroischen darzustellen: »Indem Meyer zeigt, wie Jenatsch am Ende seiner Laufbahn der bestgehaßte Mann in seinem Volke wurde, hat Meyer die tiefste Tragik des wahren Helden viel richtiger erkannt, als etwa Schiller, der den ‘Volksbefreier’ Tell nach vollbrachter Tat vom Volke umjubeln läßt.«33 Honegger charakterisiert die Darstellung als politische Soziologie und Psychologie, ohne dies allerdings näher zu definieren. Die Argumentation legt nahe, daß als politische Psychologie das Psychogramm des Staatsmannes im Konflikt zwischen Individualität, Moralität und politisch-strategischen Zwängen zu verstehen ist. Als politische Soziologie wäre wohl das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und sozialen Zwängen sowie historischen Entwicklungen bezeichnet, wie es etwa in der Vereinzelung des Heros erkennbar wird. In dieser Auffassung des Individuums in der Geschichte, in der Skizzierung der Aufgaben einer politischen Geschichte, in der formalästhetischen Parallelisierung von Historie und Dichtung und in der erzählerischen Gestaltung sieht Honegger die Aspekte, die Meyer auch für die modernen Biographen unterschiedlicher ‘ideologischer’ Provenienz34 zum vorbildlichen Autor werden ließen. Auch Carlyle und Burckhardt sind gerade wegen ihrer bewußt stilisierenden Geschichtsdarstellungen und wegen ihrer Gestaltung der Individuen in der Geschichte stets präsente Vorbilder. Dies trifft für die erfolgreichsten Vertreter der Gattung, Emil Ludwig und Stefan Zweig, zu, aber auch für nationalkonservative Biographieautoren wie Walter von Molo. Von Molo gab Carlyles Essays über die Helden heraus,35 die auch Stefan Zweig dem Insel-Verleger Anton Kippenberg für die Reihe Bibliotheca mundi vorschlug.36 Emil Ludwig beruft sich in seinem Essay Historie und Dichtung auf Carlyle und Burckhardt, als er eine Geschichtsschreibung ———————— 32
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Ebd., S. 26. – »In Meyers ‘Jürg Jenatsch’ erleben wir, in selten packender Schilderung, den schier übermenschlichen Erfolg eines unerbitterlichen, zähen Politikers und zugleich das Trauerspiel seiner ‘Entmenschlichung’, um es so zu nennen.« (Ebd., S. 27.) Ebd., S. 29. Ob Honegger damit Schiller gerecht wird, mag man eher verneinen wollen. Tatsächlich entspricht aber Honeggers negative Sicht der Darstellung historischer Persönlichkeiten einer unter den modernen Biographen verbreiteten Abgrenzung gegenüber dem klassischen Dramatiker. Honegger betont Meyers ‘idealistische Geschichtsauffassung’, benennt aber beiläufig auch »ausgesprochen völkische Gedanken«, die im »Jürg Jenatsch« erkennbar würden. Ebd., S. 35. Thomas Carlyle, Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Hg. und eingeleitet von Walter von Molo. Berlin: R. v. Decker 31917. Zweig an Kippenberg. Brief v. 16.03.1919. In: Ders., Briefe. 1914–1919. Hg. von Knut Beck, Jeffrey B. Berlin und Natascha Weschenbach-Feggeler. Frankfurt/M.: Fischer 1998, S. 264–269, hier S. 268. – Der Vorschlag wurde nicht realisiert (siehe ebd. im Kommentar S. 573).
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
favorisiert, in welcher der Historiker sich leiten läßt von »Gefühl, Phantasie« sowie der »Kenntnis der Seele« und in welcher nicht »der Professor als Staatsanwalt« agiert,37 und in seiner Autobiographie Geschenke des Lebens (1931) zählt Ludwig Carlyle und Burckhardt (und als Leitbild Plutarch) zu den sehr wenigen historischen Schriftstellern, die er regelmäßig gelesen habe.38 Übernommen werden von den Vorbildern nicht allein spezifische Auffassungen von der historiographischen Schreibweise, sondern es werden auch Anleihen bei deren Konzeptionen des außerordentlichen Individuums gemacht. Der Unterschied liegt zum einen darin, daß die Heldenhaftigkeit zunehmend psychologisch-charakterologisch erklärbar wird. Zum anderen zeigt sie sich darin, daß die heroische Tat stärker in Abhängigkeit von individuellen Voraussetzungen wahrgenommen wird. Auf eine kurze Formel gebracht könnte man diese Entwicklung vereinfachen unter dem Schlagwort ‘vom Faktum der Taten zum Charakter der Tätigen’. Das geschichtsprägende Ereignis, aber auch die Dokumentation der Ereignisse, tritt gegenüber einem stärkeren Interesse an den Bedingungen und dem Wesen des Heroischen zurück. Conrad Ferdinand Meyer erweist sich in dieser Perspektive – und wohl zurecht – als ein Autor mit durchaus modernen Erzählinteressen, da er das Wesen des Heroischen an sich studiert, während sich umgekehrt die erfolgreichen modernen Biographen sich an erprobten traditionellen Erzählverfahren des historischen Romans orientieren. 4.1.2. »die Wahrheit im Herzen des Mannes« – Wassermanns historische Gestalten Die Reihe der Analyse einzelner Textbeispiele soll hier nicht der Chronologie der Werkdaten folgen. In dieser Hinsicht wäre Jakob Wassermann (1873–1934), der erst spät zur modernen biographischen Literatur fand, nicht an den Anfang zu stellen. Ich beginne statt dessen – auch um einer vorschnellen Festlegung des modernen biographischen Modells auf die Werke von Ludwig und Zweig, Zweig oder Ludwig vorzubeugen – die Reihe der exemplarischen Betrachtungen mit dem jahrgangsältesten und bisher von der biographiegeschichtlichen Forschung weitgehend vernachlässigten Autor, obwohl er sich als einer der wichtigsten und angesehen———————— 37
38
Vgl.: Ludwig, Historie und Dichtung, S. 362ff., hier S. 366 – Von Burckhardt stammt auch das Eingangsmotto zu Ludwigs Aufsatz. – Der Essay erschien als Vorwort zu der erweiterten Ausgabe von Ludwigs Band »Genie und Charakter« (Wien 1932) sowie in: Emil Ludwig, Die Kunst der Biographie. Paris: Phenix 1936 (Phœnix Bücher 32 a/b), S. 5–46. Emil Ludwig, Geschenke des Lebens. Ein Rückblick. Berlin: Rowohlt 1931, S. 735.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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sten deutschsprachigen Erzähler seiner Zeit auf die umstrittene Gattung einließ. Zudem lassen sich am Beispiel von Wassermanns Bucherfolg 39 Christoph Columbus: Der Don Quichote des Ozeans (1929) einige grundlegende Beobachtungen zur modernen Biographie anstellen. Wassermann, der die Gattung auch um eine Biographie über den Afrikareisenden Henry Morton Stanley (Bula Matari, 1932) bereicherte, zählt – wie Stefan Zweig – zu den bürgerlich-humanistisch geprägten Autoren der Gattung, in deren Werken die Frage nach der Einheit des Individuums, nach der Handlungsfreiheit des einzelnen und letztlich das Erbe eines liberalethischen Menschenbildes von zentraler Bedeutung sind. Sowohl Wassermann als auch Zweig haben sich mit diesen Fragen nicht nur in biographischen Texten, sondern in vielfältiger Weise auch in Reden, Aufsätzen und anderen Äußerungsformen beschäftigt – und je eigene Antworten gefunden. Zunächst aber zur Form der modernen Biographie bei Wassermann: Die Suche nach dem Charakter der historischen Gestalt, nach der von Maurois postulierten psychischen oder charakterlichen Einheit des Individuums jenseits seiner Geschichtlichkeit erfordert in den Augen der modernen Biographen einen neuen Typus des Biographen, der nicht mehr allein Fakten sichtet und sich nicht bescheiden hinter der Erzählung der Geschichte verbirgt, sondern sich offen als wertende, interpretierende Instanz zu erkennen gibt und zum Kritiker der jeweiligen Biographisierungsgeschichte wird. Wassermann schreibt in seinem biographischen Werk Christoph Columbus, nachdem er zuvor zum Eheleben des biographierten Entdeckers eine Darstellung aus dem 19. Jahrhundert zitiert hat: »Ein Idyll im Biedermeierstil. Gott Amor, nein, das ist zu rührend und zu neckisch. So kann es nicht gewesen sein, so ist es nicht gewesen.«40 Der moderne Biograph Wassermannscher Prägung berichtet nicht nüchtern von der Faktenlage, und er erzählt auch nicht in epischer Breite den Geschichtslauf, sondern er argumentiert mit suggestiver Rhetorik, sucht zu überzeugen, mitunter zu überreden. Wassermann schreibt: »Ich stelle mir vor, […]«, »ich sehe ihn, wie er […]«, »Ich weiß, daß er […]«, »ich glaube nicht, daß […]«, »ich bin überzeugt, daß […]« usw.41 Seine Vorstellungen, sein Wissen von Kolumbus bezieht der Biograph aus eigener Lebenserfahrung, aus historischem Wissen, aus Menschenkenntnis und aus psychologischem Gespür. Der Wahrheitsanspruch dieser Darstellungen wird zwar explizit reduziert auf den Versuch einer möglichen ‘Annä———————— 39
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Die Publikationsgeschichte wird knapp skizziert bei: Friedrich Niewöhner, »… Spanien und Franken, zum Lachen merkwürdig«. Der »Columbus«-Roman von Jakob Wassermann. In: ZfdPh 111 (1992), S. 594–607, hier S. 594f. Jakob Wassermann, Christoph Columbus. Der Don Quichote des Ozeans. Ein Porträt. Berlin: S. Fischer 1929, S. 33 (zuerst in: Neue Rundschau 40, 1929). Ebd., S. 33f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
herung’, aber nicht gebrochen. Wassermann präsentiert – dies ist der rhetorische Gestus – ‘historische Wahrheit’. Im schlichten Stil, im darstellenden Präsens wird Kolumbus geschildert: So und so ist es gewesen – auch wenn das Quellenmaterial hierzu nichts hergibt. Selbst gegen die scheinbare Faktenlage kann das psychologische Urteil sich behaupten:42 Ich glaube von allem kein Wort. Äußere Gründe mögen dafür sprechen, die innere Unwahrscheinlichkeit ist evident. Und selbst wenn es wahr wäre, d. h. wenn es das trügerische Zeugnis eines Vorgangs, eines Tages, einer Stunde für sich hätte, so wäre es doch menschlich und psychologisch unwahr. Es gibt forschungsmäßige Nachweise und Erhärtungen von rein destruktiver Natur, die immer dort Verwirrung hervorbringen, wo Bild und Anschauung fehlen.
Ähnliche Formulierungen finden sich auch in Wassermanns StanleyBiograpie. Wenngleich die Sicherheit des Biographen – ‘so und so ist es gewesen’ – hier weitgehend durch die Vermutungsform – ‘ich glaube’ – abgelöst wird, behauptet sich das Urteil des Biographen gegen die Äußerlichkeit der scheinbaren Belege der Geschichte. So reflektiert Wassermann in Bula Matari über David Livingstones Motiv, nicht nach Europa zurückzukehren, sondern auf einer verbissenen Suche nach den Quellen des Nils seine Expeditionen ständig zu verlängern, und widerspricht der durch ein Gelübde gegenüber dem Geologen Roderick Murchison untermauerten geologisch-heroischen Erklärung: »Auf Grund einer solchen Fabel entsteht höchstens Geschichtschreibung; aber sie hat nichts mit der Wahrheit des Lebens zu tun. Wir haben uns zu fragen, was jenes Andere, Verborgene gewesen sein mag.« Wassermann erkennt »jenes Andere« in der nur halb bewußten Sehnsucht Livingstones, einem »Märtyrerideal« nachzuleben.43 Und ebenso können auch über Kolumbus die Chroniken nur die Fakten, nicht die ‘menschliche Wahrheit’ seiner Existenz berichten: »Wir wollen die Wahrheit im Herzen des Mannes suchen.«44 Diese Formulierungen lesen sich als Nachhall jener Ausgrenzung des Anthropologischen aus der Geschichtswissenschaft, welcher die Biographik bereits im 19. Jahrhundert entgegenarbeitete, wenn sie nicht ‘Personalhistoriographie’ sein wollte. Mit dem neuen Interesse für psychologische Fragestellungen, mit der Positivismus- und Rationalismuskritik, mit der latenten Befürchtung einer Abwertung des Individuums in der modernen Gesellschaft gewinnt die Option für das Biographische eine neue Aktualität. Wie auch Stefan Zweig ist Jakob Wassermann in seinem Geschichtsbild geprägt vom Zweifel an der historischen Wahrheit. Geschichte wird als ein Netz sich verselbständigender Halbwahrheiten und Mythen gese———————— 42 43 44
Ebd., S. 84f. Jakob Wassermann, Bula Matari. Das Leben Stanleys. Berlin: S. Fischer 1932, S. 67, 71. Wassermann, Christoph Columbus, S. 150.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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hen.45 Die Rekonstruktionsarbeit erscheint als aussichtslos; gerade darum wird es wichtiger, die innere Wahrheit jenseits der Überlieferung zu erkennen. Immer wieder schiebt sich so das Ich des biographischen Erzählers vor die historischen Fakten, die ausgewählt und gewichtet, bestätigt oder verworfen werden. Sein Bemühen ist darauf abgestellt, den biographierten Kolumbus »aus dem Bezirk der Mutmaßung und Heroendichtung«46 zu befreien. Der Biograph wird zum Garanten der Annäherung an die historische Gestalt, der die Mythenbildung der Geschichte kritisch unterläuft, um letztlich – wie gezeigt werden soll – einen neuen Mythos zu entwerfen. Daraus folgt eine Auffassung von Geschichtsschreibung und Biographik, welche sich auch auf Burckhardt und Carlyle berufen darf, die ihrerseits durchaus bereit waren anzuerkennen, daß es eine Wahrheit der Geschichte jenseits der historischen Faktizität gebe.47 Voraussetzung ist allerdings das ernsthafte Bemühen des Biographen um die innere historische Wahrheit. Jakob Wassermann, dessen Kolumbus-Biographie etwa Hanns Johst in einer Rezension bescheinigt hat, sie stehe und bestehe »auf der Ebene exakter Forschung«,48 verweist auf eine über zwanzigjährige Beschäftigung mit dem Lebenslauf, dem Nachruhm und der historischen Wirkung des Entdeckers. Stefan Zweig hat mehr als einmal auf seine unermüdliche Quellenarbeit verwiesen. Trotz dieser betonten Seriosität der biographischen Arbeit, welche zunächst die Wahrscheinlichkeit der subjektiven Annäherung untermauert, ist es offensichtlich, daß hier ein biographisch-historischer Wahrheitsbegriff postuliert wird, der sich mit einer positivistisch-historischen Sichtweise nicht vermitteln läßt. Gleichzeitig wird dieser biographische Wahrheitsbegriff gegen die Heroisierungs- und Idealisierungsgeschichte gewendet. Unter der Hand wird allerdings ein neues Heldentum konzipiert, welches sich gerade in den Biographien von Wassermann und Zweig zeigt. Dabei werden zwei Tendenzen erkennbar: zum einen die schonungslose Offenlegung der psychischen und physischen, der menschlichen und irrationalen Bedingtheit des Heroischen, zum anderen die erzählerische Gestaltung anderer ———————— 45 46 47
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Vgl.: Ebd., S. 156. Ebd., S. 31. Und diese Situierung des Textes als »eine richtige historische Monographie«, welche »eine andere Wahrheit gibt als die dokumentarisch oder experimentell zu belegende«, wird durch die Kritik auch bestätigt. Viktor Zuckerkandl, Christoph Columbus, der Don Quichote des Ozeans. In: Die Neue Rundschau 41 (1930), Bd. 1, S. 574f. Hanns Johst, Neues vom Büchertisch. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 44 (1929/30), H. 4 (Dez. 1929), S. 458–461, zu Wassermann S. 460f., zit. S. 461. – Johst beschreibt die Konzentration auf die innere Wahrheit der geschichtlichen Gestalt in Wassermanns Roman: »Die Werte der Konventionen, der Individuen, der Gesellschaft verblassen, und der Rausch der ewigen Sterne verklärt menschliche Züge, die unter der Hand ihres Dichters die zufälligen und notwendigen Merkmale des Christoph Kolumbus annehmen.« (Ebd.)
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Heroentypen. Mit der Wahl von Kolumbus zum Gegenstand begibt sich Wassermann in seiner Biographie ohnehin in ein Grenzgebiet des Heroischen. Der Gegenstand seiner Darstellung ist ein tragischer Heros, in dem der Biograph zudem das mythische Urbild und Symbol des irrenden Ritters, Don Quijote, wiederzuerkennen vermeint.49 Neben bürgerlich-heroischen Eigenschaften wie Unbeirrbakeit, Durchsetzungsvermögen, Zielgerichtetheit, Willensstärke, die noch erkennbar sind, dominieren aber vor allem Religiosität und Besessenheit, ja, eine träumerische Blindheit und Verweigerung gegenüber der Realität50 im Charakter des Kolumbus. Wassermanns Kolumbus erinnert so einerseits an die Helden Stefan Zweigs, ohne allerdings dessen ethische Betrachtungsweise anzuwenden. Andererseits könnten seine im Erzählgewand der modernen Biographie dargestellten Personen als Verwandte der besessenen Träumergestalten aufgefaßt werden, wie sie – freilich mit weit ‘modernerer’ Erzähltechnik in Szene gesetzt – etwa im expressionistischen Roman eines Klabund existieren (Pjotr, Mohammed, Rasputin),51 dessen pseudohistorische Figuren von glühendem Verlangen getrieben und der Realität völlig entfremdet sich zu blutigsten Untaten hinreißen lassen. Gerade der alternde Kolumbus entfernt sich immer deutlicher von den Realitäten der Welt und flüchtet in Wahnvorstellungen und mystische Traumwelten, während sich um ihn herum – und durch seine Handlungsohnmacht befördert – die Paradiessuche in eine Geschichte der Greueltaten verwandelt.52 Wassermann spart nicht mit negativen Urteilen. Er klagt Kolumbus der Selbstüberhebung an, doch ist dieser noch eher ein tragischer Held als ein ‘Anti-Held’.53 Der historische Vorfahr und erzählte Nachfahr Don Quijotes ist kein klassischer Willensheros, sondern ein schwächlicher Träumer, der dem Widerstand der Realität mit der Flucht in immer aberwitzigere Phantasiewelten ———————— 49
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Damit steht Wassermann nicht allein. Er selbst verweist in einer Nachbemerkung auf die parallele Erkenntnis, die der Wiener Schriftsteller Emil Lucka in seinem Buch »Inbrunst und Düsternis« (1927) dargelegt habe (Wassermann, Christoph Columbus, S. 265). In ähnlicher Richtung wie Wassermann argumentiert auch Ernst Bloch, wenn er feststellt, Kolumbus sei noch mehr eine Gestalt des Ritterromans als des Unternehmertums (Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 2, S. 904). – Vgl. für die Geschichte der Kolumbus-Don Quijote Parallele: Niewöhner, »… Spanien und Franken, zum Lachen merkwürdig«. Auf eine »aberwitzige Formel« läßt sich Columbus einen Eid leisten, daß Kuba das gesuchte Festland ist. »Eine donquichotischere Vergewaltigung der Wirklichkeit läßt sich kaum ersinnen, […].« Wassermann, Christoph Columbus, S. 163. Klabund, Romane der Leidenschaft. Moreau – Pjotr – Rasputin – Mohammed. Hg. von Christian v. Zimmermann. Heidelberg: Elfenbein 1999 (Werke in acht Bänden 3). Vgl. bes. Wassermann, Christoph Columbus, S. 152ff. Als einen »Anti-Helden« sieht den Kolumbus Wassermanns: Martin Neubauer, Meerfahrt mit Don Quijote. Zu Jacob Wassermanns »Columbus«-Biographie. In: Margit Raders u. Maria Luisa Schilling (Hgg.), Deutsch-spanische Literatur- und Kulturbeziehungen. Rezeptionsgeschichte / Relaciones Hispano-Alemanas en la literatura y la cultura. Historia de la recepción. Madrid: Ediciones del Orto 1995, S. 193–204, hier S. 198.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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begegnet. Während er über seine Zeit hinausträumt, bleibt Kolumbus hinter der Realität zurück:54 Er war ein phantastischer Schwärmer und sollte ein Gebieter, ein Herr, ein Verwalter sein. Er war ein Mensch der Traum- und Wahnwelt, vielleicht hatte er sogar die Gabe der Versenkung, sicher die der Selbststeigerung, und war an einen Platz gestellt (für den er sich auch selbst auserwählt glaubte), wo er eine harte, gefahrvolle, nüchterne Wirklichkeit hätte meistern sollen.
In dieser Blindheit gegenüber der Welt verstrickt Kolumbus sich immer mehr in Schuld: »Er wußte niemals, im Guten und Bösen nicht, was er tat.«55 Insbesondere in der Verstrickung in Diplomatie und Politik, die dem realitätsfernen Don Quijote-Kolumbus fern liegen muß, zeige sich »die Entartung […], der ein ursprünglich lauterer Charakter auf den lasterhaften Wegen der Politik ausgesetzt ist«.56 Die Leistung (»eine Großtat«) wird nicht entwertet, auch nicht der heroische Traum (»ein Märtyrer«).57 Dennoch gehört es – deutlicher als bei Stefan Zweig – zu Wassermanns Darstellungsstrategie, den Helden von seinem Sockel zu heben. Neben dem Vorwurf, er sei zu sehr »von seinem Bestimmungsdünkel« und »von seinem Einzigkeitswahn« beherrscht gewesen,58 habe mit Phantasien »seinen Auserwähltheits- und Gottesbotenwahn« genährt,59 und neben der deutlich aufgezeigten Schuldverstrickung fällt vor allem die ernüchternde psychologische Erklärung des Heroischen auf, die sich übrigens eher an älteren Modellen der reizphysiologischen Psychologie als an tiefenpsychologischen Neuerungen orientiert:60 Allein bei alledem ist es nichts Sagbares und Rationales, was diesen Menschen von Aufbruch zu Aufbruch hetzte. Es ist sein Verhängnis und sein Gesetz. […] Obschon er einerseits die Epoche nicht wie eine lebende Person, sondern fast wie ein Paradigma verkörpert, haftet andererseits seinem Wesen etwas Chaotisches an, und das Chaotische verursacht, daß in ihm […] alle die nach ihm kamen charakterologisch und motorisch gleichsam schon enthalten sind, alle jene […], denen es auf eine verzweifelte oder heroische Weise gelungen ist, ihren Namen auf die Tafel der Unsterblichkeit zu schreiben, meist mit blutigem Griffel: die Alonzo de Ojeda, Pedro Niño, Sebastian Cabot, Fernando Cortez, Nuñez Bilbao [!], Fernando Magalhães, Francisco Pizarro: es ist nur eine kleine Auslese derer, die das Leben von Menschen nicht höher achteten als das von Käfern und ihr eigenes dazu. Überall hausten sie wie leibliche Teufel. Nicht um jene Ziele zu erreichen, die sie erreicht haben und für die sie dann in den Geschichtsbüchern gepriesen werden, sondern um ihre elementare Energiespannung zu entladen. Ohne die Entdeckung des Columbus wären sie wahrscheinlich an Raummangel er———————— 54 55 56 57 58 59 60
Wassermann, Christoph Columbus, S. 157. Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd., S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 215. Ebd., S. 176.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
stickt oder hätten in ihrer Willensraserei alles Bestehende in Trümmer geschlagen.
Kolumbus erscheint in Wassermanns biographischem Versuch nicht als ein vernunftgesteuerter Tätiger, der die Geschichte nach seinem Willen verändert oder nur sein Handeln in Erkenntnis der Geschichte nach dieser ausrichtet. Auch einem bürgerlich-ethischen Verständnis vom pflichterfüllenden Menschen, der durch die Leistung seiner Arbeit und die Festigkeit seines Charakters geprägt ist (etwa im Sinn der Smiles-Tradition),61 entspricht dieser Kolumbus nicht. Er ist auf geheimnisvolle Weise gesteuert, ohne in einer Realität heimisch werden zu können, der gegenüber er als Träumer, Wanderer, Sucher erscheint. Gemahnt er literarisch-typologisch in seiner Unrast und Weltflucht deutlich an den Geist des Ewigen Juden,62 so wird dieser Aspekt allerdings nur gleichsam am Rande mitgeführt. Die Erklärung seines Charakters erfolgt nicht durch Konzeptionen des Jüdischen.63 Die Erklärung seines Handelns basiert völkerpsychologisch vor allem auf der allenfalls italienisch lokalisierten energetischen Konstitution des Biographierten. Tatheldentum wird hier in Übereinstimmung mit Wilhelm Wundts physiologischer Bestimmung ———————— 61
62
63
Vgl. Samuel Smiles, Pflicht, erläutert durch Beispiele des Muts, der Geduld und Ausdauer. Deutsch von F. Dobbert. Halle/s.: Hendel o.J. [nach 1886]. – Smiles nennt Kolumbus als Beispiel märtyrerhafter Hingabe an ein Lebensziel; Kolumbus sei »nicht nur ein geistvoller, sondern auch ein praktischer Mann« (S. 102) gewesen, der »die Fähigkeit [besaß], Leiden mit Geduld und Sanftmut zu ertragen« (S. 107), um sein Ziel zu erreichen. Eine Irrtumstheorie, wie sie Wassermann entwickelt (s. u.), hat bei Smiles ebenso wenig Platz wie ein differenziertes und gar widersprüchliches Charakterbild. »Der Kern seines Wesens ist Unrast. Er ist ewig auf der Flucht, bis zu seinem Tode. Unablässig wandert er durch die Länder, zieht er durch die Meere, eine der friedlosesten Gestalten, von denen die Geschichte weiß.« (Wassermann, Christoph Columbus, S. 42). »Er ist ein Heimatloser, ein Wanderer, er ist nie seßhaft, er kehrt nur ein, er faßt nicht Wurzel, er läßt sich nur nieder.« (Ebd., S. 64). Wassermann diskutiert die Frage der jüdischen Abkunft auf der Basis einer stereotyp gefaßten Merkmalsgruppe und betont, daß diese Vermutung einige Aspekte der Persönlichkeit beleuchten könne: etwa die Haltung des Neuchristen, der seine Umwelt über die wahre Abkunft hinwegtäuscht, oder Kolumbus’ Sentimentalität. »Aber was nicht jüdisch an ihm ist, das ist sein auffallender Mangel an Intelligenz und praktischer Fähigkeit, und vor allem liegt jede Form von Don Quijotismus, der Selbstbezauberung mittels einer vergewaltigten Realität, dem jüdischen Wesen so fern wie möglich.« (Wassermann, Christoph Columbus, S. 148.) – Zur Frage nach einer möglichen jüdischen Identifikation des Autors Wassermann mit Kolumbus (und dessen möglicher jüdischer Herkunft) vgl.: Niewöhner, »… Spanien und Franken, zum Lachen merkwürdig«. Dabei wäre allerdings zu beachten, daß die vermutete jüdische Abkunft des Seefahrers bei Wassermann im Blick auf andere Kolumbus-Darstellungen eher kritisch betrachtet wird – wie nicht zuletzt der Vergleich mit weiteren Kolumbus-Darstellungen in der Weltliteratur deutlich macht; vgl. hierzu: Juan José Barrientos, Colón, personaje novelesco. In: Cuadernos Hispanoamericanos (1986), H. 437, S. 45–62. – Allgemein zu Kolumbus-Darstellungen in der Literatur vgl. a. die Beiträge in: Titus Heydenreich (Hg.), Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. 2 Bde. Frankfurt/M.: Vervuert 1992 (Lateinamerika-Studien 30/1,2).
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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des Wollens als Spannungsgefühl durch einen Energieüberschuß erklärt, der jede Form und Richtung annehmen, den Horizont der Welt erweitern oder zerstören kann. Die charakterliche Disposition des Heroen wird entsprechend nicht in den unzulänglich erscheinenden Kategorien der Moral gemessen. (Dies unterscheidet Wassermann deutlich von Stefan Zweig.) Rekapituliert man vor diesem Hintergrund zunächst die im Eingang zu diesem Kapitel genannten Schlagworte moderner Biographik, so lassen sich diese nun zusammenfassend mit spezifischen Definitionen, Argumentationstendenzen und Erzählelementen bei Wassermann erläutern. 1.) Die Unbefangenheit des Biographen beruht bei Wassermann auf dem Versuch, sich des überlieferungsgeschichtlichen Wissens zu entledigen. Das »außerordentliche Schicksal« von Kolumbus könne man nur verstehen, »wenn man den inneren Blick von allem Gewußten reinigt, auch von allen schematischen Prägungen, den Verfälschungen der Ideen und Zusammenhänge«.64 Dazu sei es idealerweise erforderlich, alles zwar aus der zusammenschließenden Distanz, aber aus dem Blick der »Epoche« wahrzunehmen. Dies deckt sich mit der Forderung von Maurois nach einer strengen Chronologie des Lebens- und Geschichtsverlaufs, denn es bedeutet etwa, den ‘Irrtum’ der Entdeckung ‘Indiens’ in seiner Leistung für das von Wassermann skizzierte Weltbild der Zeit zu erkennen. Dabei sucht Wassermann – wie Vespucci in der Biographie –, Kolumbus aus seinen Motiven und Zwecken zu verstehen und nicht allein aus den Resultaten, die erst den Irrtum erkennbar werden lassen. 2.) Das vom modernen Biographen geforderte ‘psychologische Einfühlungsvermögen’ läßt sich für Wassermann am besten als die Forderung beschreiben, eine innere, psychische Wahrscheinlichkeit des Charakters gegenüber der scheinbaren Wahrheit der historischen Fakten zu bevorzugen – und dadurch auch die historischen und psychischen Möglichkeiten des Handelnden gegenüber den gesamthistorischen Wertungen zu betonen. 3.) Eine ‘komplexere Anlage des seelischen Bildes’ und zugleich eine nicht ethisch geleitete Betrachtungsweise ergeben sich bei Wassermann daraus, daß die Einheit des Charakters nicht durch die Glättung von Widersprüchen und Spannungen gewonnen wird, sondern daß gerade in den inneren Widersprüchen auch ein Teil des tragischen Charakters und der ‘Menschlichkeit’ des Biographierten erkannt wird.65 4.) Dies schließt zugleich die Entgötterung des Helden ein: »Hier soll kein Postament errichtet, sondern ein Mensch gezeigt werden, dessen ———————— 64 65
Wassermann, Christoph Columbus, S. 11. Vgl. ebd., S. 61–63.
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eigentümliche, mit Finsterkeit vermengte Größe erst hinter der traditionellen Historie erkennbar wird.«66 Die psychische, tätige Realität des Menschen wird unter den oberflächlichen Glättungen, Verkürzungen und Wertungen seiner Historisierung zur geschichtlichen Persönlichkeit freigelegt, um etwa von einer Geschichte der Entdeckungen, der Ideen zu einer Geschichte menschlicher Schicksale vorzudringen. Würde die historische Gestalt von ihren moralischen Anfechtungen, ihren Widersprüchen gereinigt, »so hätte die Figur damit ihren tragischen Glanz und ihre ergreifende Problematik eingebüßt«.67 Damit zielt die Biographie gegen die Denkmalsmonumentalität des Heroischen. Aber auch der Gefahr der Monumentalität der eigenen Darstellungsweise begegnet der Biograph durch die Reduktion auf typische Details, durch die Beschränkung auf das für ihn Wesentliche des Charakters. Solche Tendenzen der Verknappung, der Zuspitzung auf aussagekräftige Details sind dem historischen Roman entlehnt, während gleichzeitig ein rhetorisch-argumentativer Erzählgestus – entlastet von akademischen Zitier- und Nachweisformen wie von einer das bildungsbürgerliche Maß übersteigenden Terminologie – der Biographie einen Zug popularwissenschaftlicher Rede, ja, Mündlichkeit verleiht. Die sprachliche Gestaltung, das Primat der inneren Wahrscheinlichkeit des Charakters, die intertextuellen Bezüge zu literarischen Texten (Don Quijote), vereinzelte fiktive Elemente (wie ein Gespräch zwischen Vespucci und Kolumbus) und die gradlinige Konzeption des Buches auf die Entwicklung eines zentralen Charakters hin, sind zudem Elemente, welche die Biographie dem Bereich der Dichtung zuordnen sollen, ohne daß damit der Anspruch auf historische Seriosität und Geltung gänzlich aufgegeben würde. Eine Heroisierung des Entdeckers im Sinn der idealisierenden Darstellung der Leistung einzelner rational und moralisch handelnder und handlungsmächtiger Helden in der Geschichte der Erfolge und Entdeckungen wird durch die Strategien der modernen Biographik vermieden. Dennoch: Mit Kolumbus bleibt eine historische Leistung verbunden, und obwohl Wassermann manchen Schleier der Legendenbildung zerstört, so stellt doch auch bei ihm die Entdeckung durch Kolumbus ein wesentliches Antriebsrad der weiteren Geschichte dar. Der schonungslose Blick auf den Menschen Kolumbus nimmt diesem auch nicht die Würde. Am Ende der Biographie trifft Vespucci auf Kolumbus. Wassermann imaginiert einen nicht überlieferten Streit zwischen beiden. Doch Vespucci lenkt ein und widerspricht der überholten Weltsicht des alternden Seefahrers aus »Ehrfurcht« und »Bewunderung« nicht: »er achtet seinen Irrtum, der etwas ———————— 66 67
Ebd., S. 39. Ebd., S. 40.
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Großartiges und Erschütterndes hat. Vielleicht muß man in solchem Irrtum sterben, wenn man wahr gelebt hat.«68 Wassermann weicht an dieser Stelle von der erzählerischen Präsentation der Deutungsebene durch einen in seinen Kommentaren erkennbaren Biographen ab, und er verlegt eine zentrale Deutung seines Buches in die Sicht einer Figur. Die Biographie soll nicht die Entscheidung vorgeben, ob Kolumbus eher ein tragischer Held oder ein tragischer Komödiant gewesen ist: Don Quijote steht wohl auch für die tragische Gestalt in der Mitte zwischen Heros und Narr. Wassermanns Biographie ist ein Akt der Dekonstruktion von Überlieferungen, aber auch der Konstruktion eines eigenen, quijotesken Kolumbus: »Sein Ruhm ist Scherbenwerk; man setzt es mühselig zusammen, und plötzlich entschwebt ihm ein Geist, der uns brüderlich grüßt.«69 – Über diesen Geist läßt sich nur spekulieren. Kolumbus wird zum Symbol für den in seinen Traumwelten befangenen, sich in Schuld verstrickenden Menschen, der Realitäten nur durch die Schleier seiner Imagination wahrnimmt und ewig auf der Suche in seiner Einsamkeit und Individualität befangen bleibt, »störrisch gegen die augenscheinliche Existenz jenes Amerika«. Imagination und Traum bleiben dabei freilich wichtige Instrumentarien zur Bewältigung des Lebens, welches an der Realität scheitern könnte. Sie sind zugleich Ausweis für ein ‘wahr’ gelebtes Leben, verdienen Respekt und Achtung durch Vespucci, durch den Biographen, durch den Leser. Diese Sicht auf den Menschen offenbart zugleich Wassermanns Geschichtsverständnis; die Biographie ist auch Bekenntnis zu einer nicht rational organisierten und dem Menschen gegenüber willkürlichen Geschichte. Der Irrtum – Ausweis des ‘wahren Lebens’ – treibt voran; Erkenntnis lähmt: »Erkenntnis macht feig, der Wille kann nur in einem gewissen Zwielicht unaufhaltsam vorwärts treiben.«70 Kolumbus ist durch die Kraft seines Irrtums nicht persönlich, aber historisch erfolgreich. Diese Umwertung des Irrtums in der Geschichte von dem persönlichen Fehler zur treibenden Kraft – wie sie übrigens auch Stefan Zweig in seinem Magellan thematisiert – führt auch zu einer ganz anderen Bewertung des handelnden Menschen. Für Ernst Kretschmer etwa galt Kolumbus als Beispiel »ganz unberechtigter persönlicher Berühmtheit« eines bloßen ———————— 68 69 70
Ebd., S. 259. Ebd., S. 263. Ebd., S. 26. – Auch an dieser Stelle zeigt sich, daß Wassermanns psychologischer Hintergrund für die Kolumbus-Biographie sich durchaus im ‘mainstream’ der Theorien bewegt. Zum Zweifel im Kontext von Handlungsmotivierung und Wollen vgl. etwa: Wilhelm Wundt, Grundriss der Psychologie. Leipzig: Kröner 121914, S. 226f. – Mit etwas anderer Akzentuierung und den Selbstbetrug als Mittel zur Beruhigung des Zweifels zulassend vgl. a.: Theodor Lipps, Grundthatsachen des Seelenlebens. Anastatischer Nachdruck. Bonn: Friedrich Cohen 1912, S. 385.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Tatgenies, welchem der Zufall »einseitiger soziologischer Konjunkturentwicklung« zu dauerhaftem Nachruhm verholfen habe: »Fälle wie Kolumbus, wo ein unwissender problematischer Abenteurer durch große Glücksfälle eine große Sache findet, die nach dem Kenntnisstand der Zeit über kurz oder lang auch ohne ihn sicher gefunden worden wäre«, seien bloße Hegelsche Vollstrecker der Geschichte, aber keine tatsächlich genialischen Menschen.71 Genialität beruht für Kretschmer sowohl auf Geschichtswirksamkeit als auch auf der individuellen Wertschöpfungskraft durch die psychische Konstitution. Wassermanns Konzeption des Kolumbus basiert demgegenüber auf einer Andersbewertung der Handlungsmotive und der Rolle des Irrtums, wie sich gerade im Hinblick auf die von Kretschmer erwähnte Hegelsche Konzeption zeigen läßt. Anders als Kretschmer und in manchen Aspekten durchaus an Wassermann erinnernd anerkennt Ernst Bloch in seinem philosophischen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung die persönliche Leistung der Entdekkungsreisenden, die »Besessenheit« und Zielwünsche des Kolumbus, »des kühnsten Fahrers und Träumers in einem«.72 Für Bloch, der sich hierfür eben auch auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte berufen könnte, sind sowohl die geschichtlichen Bedingungen und ökonomischen Interessen als auch der Traum und Irrtum des Handelnden entscheidend:73 So gewiß ohne ökonomischen Auftrag dahinter auch ein homo religiosus wie Kolumbus nie ein Schiff nach seinem Eden hätte finden können, so gewiß wäre dieser Auftrag ohne die mystische Zielbesessenheit des Fahrers nicht erfüllbar gewesen. Beides eben: Eldorado in Eden, Eden in Eldorado, traf hier einzigartig zusammen […].
Für Bloch wird so der handlungstreibende Irrtum zu einem entscheidenden Motiv für die historische Leistung,74 und weder die Enthüllung des Irrtums durch die Realität der Entdeckung noch die Folgen der Tat mindern in Blochs Sicht – anders als für Kretschmer – die »Würde« der Intention.75 Die Basis für diese Rechtfertigung des Irrtums findet sich in der Geschichtsphilosophie Hegels, denn der Irrtum beruht auf dem historisch begrenzten Blick des historisch gebundenen Individuums: Er ist eine historisch relative Wahrheit, welche erst im Nachhinein zum Irrtum wird. Kolumbus’ Irrtum resultiert aus seinem »Glauben ans irdische Paradies« (Bloch):76 »Auch dieser Fortschritt ist noch innerhalb der Kirche gesche———————— 71 72 73 74 75 76
Kretschmer, Geniale Menschen, S. 4f. Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 904f. Ebd., S. 905. Vgl. ebd., S. 906. Ebd., S. 909. Ebd., S. 906.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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hen« (Hegel).77 Hegels und Blochs Erklärungen der Voraussetzungen zur geschichtlichen Leistung, die für den Handelnden nicht erkennbar sein muß, um sich dem Gang der Geschichte einzufügen, erfolgen konsequent aus dem Kirchen- und »Rittergeist«78 der Epoche. Für Hegel und für Bloch stellt der Irrtum so eine relative historische Wahrheit dar, die aus dem Denken der Epoche resultiert und besonders bei Bloch zur Basis für ein leidenschaftliches Handeln wird. Wassermanns der Rittergeist-Argumentation Hegels oberflächlich verwandte Don Quijote-Kolumbus Parallelisierung allerdings zielt nicht auf eine historische Gebundenheit des Denkens, die freilich ebenfalls betont wird, sondern besteht gerade in den über die geschichtliche Gebundenheit hinausgehenden anthropologischen Qualitäten. Der Irrtum erweist sich als ein Grundzug des Menschlichen,79 zeugt von Eigensinn und Individualität, ja, der Irrtum als zeugende Kraft in der Geschichte ist für Wassermann zugleich Ausdruck der gesteigerten Individualität des außerordentlichen Menschen und der Würde des Individuums, einer Würde, die Vespucci in Wassermanns Biographie auch anzuerkennen bereit ist. Für diese anthropologische Irrtumstheorie ist ein zweiter Diskurskontext aufschlußreich, auf den auch Bloch in seinen Bemerkungen zu einer Theorie des Irrtums zurückgreift: Wilhelm Wundt. In seinem Werk Experimentum Mundi diskutiert Bloch die Mittel-Zweck-Folge-Relationen und verweist dazu auf Wundts ‘Heterogonie der Zwecke’,80 das heißt die Abweichung der Resultate von den ursprünglichen Zwecken der Handlung: »Die seltenere heterogene Überbietung des ursprünglich gemeinten und verfolgten Zwecks […] erscheint besonders großartig, wenn Kolumbus statt des gesuchten neuen Seewegs nach Indien einen neuen Erdteil ent———————— 77 78 79
80
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 490. Ebd., S. 490. »Wir von heute glauben natürlich, daß wir diesen Zustand kindlicher Unentwickeltheit hinter uns haben; wir wissen nicht, wie die Menschen in fünfhundert Jahren darüber urteilen werden.« Wassermann, Christoph Columbus, S. 232. »[…]: das Prinzip der Heterogonie der Zwecke. Mit diesem Namen wollen wir die allgemeine Erfahrung bezeichnen, daß in dem gesamten Umfang menschlicher Willensvorgänge die Wirkungen der Handlungen mehr oder weniger weit über die ursprünglichen Willensmotive hinausreichen, so daß hierdurch für künftige Handlungen neue Motive entstehen, die abermals neue Wirkungen hervorbringen, an denen sich dann der gleiche Prozeß der Umwandlung von Erfolg in Motiv wiederholen kann. Der Zusammenhang einer Zweckreihe besteht demnach nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven der Handlungen, die schließlich zu ihm geführt haben, als Vorstellung enthalten sein muß, ja nicht einmal darin, daß die zuerst vorhandenen Motive die zuletzt wirksamen selbständig hervorbringen, sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß infolge nie fehlender Nebeneinflüsse der Effekt einer Handlung mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt.« Wundt, Ethik, Bd. 1, S. 284f.; vgl. a.: Wundt, Grundriss der Psychologie, S. 404f.
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deckt« (Bloch).81 Dies unterscheidet Kolumbus für Bloch auch von Magellan: Während Kolumbus Traum und Irrtum benötigt habe, um seine Fahrt zu unternehmen und so über seinen Traum hinauszukommen, sei Magellan zwar wagemutig, aber nur ein Abenteurer, kein Träumer gewesen.82 Der Irrtum wäre hier nicht mit Mißverständnissen, logischen Schlußfehlern zu verwechseln, sondern die Konsequenz eines Denkens, das über sich selbst hinausführt.83 Für Wilhelm Wundt ist die Überbietung der ursprünglichen Motive und Zwecke im Prozeß der Durchführung die Basis für die Entstehung der modernen Gesellschaften und der Sittlichkeit; nur so könne das Hervortreten von Sittlichkeit aus den primitiven ‘sinnlichen’ Gesellschaften erklärt werden. Gleichzeitig stärkt Wundt gegenüber Hegel84 die Bedeutung des individuellen Handelns – auch führender Einzelpersönlichkeiten – in diesem Prozeß der produktiven Irrtumshandlungen, welche nicht mehr lediglich in der Rolle relativer historischer Wahrheiten einem vernünftigen Geist der Geschichte zum Durchbruch verhelfen. Vielmehr kann das Individuum die unmittelbaren Zwecke seines Handelns überbieten, ohne damit zum bloßen ‘Handlanger der Geschichte’ zu werden. Gerade in seinem Wollen scheidet sich der einzelne von den nur universalen Bedingungen seines Denkens und Handelns. Der Irrtum, so ließe sich hieran mit Wassermann anknüpfen, wird geradezu zum Ausweis der Individualität in der Geschichte. (Wassermann sieht allerdings hierin nicht zwangsläufig eine Basis für den Fortschritt zu einer sittlicheren Gesellschaft; eher spielt er mit dem Gedanken einer Wiederkehr des Immergleichen, einer Wiederkehr der Greuel, eines beständigen Aufgang und Niedergang des Humanismus.) Der Irrtum prägt die Geschichte nach Wassermann jedoch auch in einem anderen Sinn. Weitergehend sind es die Irrtümer der Überlieferung, der Nachwelt, die den Mythos von Kolumbus bilden, der durch Weiterdichtung oder Neuinterpretation als »zeugendes Element« auf die Gegenwart wirkt: »Jede Überlieferung erhält sich durch die Summe der mit ihr verknüpften Irrtümer, anders kann und soll es auch nicht sein, denn der Irrtum ist ein zeugendes Element, aus ihm entsteht das Bild, der Mythos und immer erneutes Leben.«85 ———————— 81 82 83
84
85
Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 118. Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 904; s. a. unten zur Magellan-Biographik. Dadurch wird der Irrtum auch zu einem Ausweis der Phantasie und der Dichtkunst. Der irrende Kolumbus erscheint als ein Dichter fiktionaler Welten. Vgl.: Wassermann, Christoph Columbus, S. 190. Vgl. die Auseinandersetzung mit Hegel: Wundt, Ethik, Bd. 2, S. 194ff. – Gegen Hegels Überbetonung der ‘objektiven Sittlichkeit’ hebt Wundt Christian Friedrich Krauses »energische Betonung des sittlichen Werts der Einzelpersönlichkeit« hervor (S. 201). Wassermann, Christoph Columbus, S. 9f.
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Die Biographie stellt sich so der Frage nach dem Anthropologischen, nach der Humanität der Geschichte, und die Antwort wird eigenwillig in irrationalen Faktoren gesucht: Der Irrtum ist das Menschliche in der Geschichte. Die biographische Wahrheit muß sich schon darum von der historischen der äußeren Fakten unterscheiden: Ihr Interesse ist anthropologisch, nicht im traditionellen Sinn historisch. Wassermann bleibt der klassischen Frage nach dem Anteil des Menschen, des Individuums an der Geschichte und nach der Erkennbarkeit des Individuellen im Geschichtsverlauf verpflichtet. Neben dem ‘Irrtum’ ist es die Kategorie der ‘Gestalt’, die Wassermann in diesem Kontext einführt. Wassermann versucht, in seiner Biographie Christoph Columbus zwischen der Freilegung der historischen und psychologischen Wahrheit des Individuums auf der einen Seite und seiner allgemeinen Bedeutung auf der anderen Seite zu vermitteln. Dabei erweist sich die Einheit der historischen Persönlichkeit als Konstruktion der Wahrnehmung: als Gestalt. Die Einheit des historischen Individuums Kolumbus, welche die offenen inneren Widersprüche vereint, ergibt sich zunächst aus der Zielgerichtetheit seines Wollens: »Sicherlich war sein Geist von Anfang an auf den einzigen Zweck gerichtet und hat alles hierzu Dienliche mit manischer Gier aufgesogen.«86 Er selbst sei vom »Gefühl einer Sendung«87 getragen worden:88 Es ist ungemein fesselnd, von der weiten Entfernung aus, die der historisch abgeschlossene Verlauf erzeugt, zu beobachten, wie ein großer Mensch von seinem Stern wie durch eine nie aussetzende Kraft zu dem ihm bestimmten Ziel hingezogen wird; was er auch tut oder unterläßt, jeder Fehler, jedes Versäumnis, das verkehrt Scheinende sogar bringt ihn in Wirklichkeit um den jeweilig notwendigen Schritt der Erfüllung näher.
Dieses Streben, die Zielgerichtetheit des Charakters – erst kenntlich gemacht durch die Distanz der Geschichte –, erfüllt sich nicht in der Geschichte der Ereignisse, sondern bleibt – in der Würde des Irrtums – über den Tod hinweg als Eigenheit des Individuums bestehen, »als habe er noch im Grab sehnsüchtig hingestrebt nach Indien«.89 Dabei ist Kolumbus weit entfernt von einer richtigen Selbsteinschätzung seiner Person; er lebt in quijotesken Traumwelten und Phantasievorstellungen; sein Charakter und sein Erscheinen sind von grotesken Widersprüchen geprägt, die Wassermann in einem aus antithetischen Aussagen konstituierten Charakterporträt zusammenträgt:90 ———————— 86 87 88 89 90
Ebd., S. 21. Ebd., S. 23. Ebd., S. 42. Ebd., S. 263. Ebd., S. 62.
300
4. Vermenschlichung und Heroisierung
Er schien mir ungewöhnlich borniert, zugleich aber vorbestimmt, die begrifflichen Grenzen seiner Zeit in ungeahnter Weise zu erweitern und ihre Vorstellungswelt zu verändern. Er ist frommer Katholik und dabei von einem heidnischen Aberglauben in bezug auf alle Naturgesetze und Naturvorgänge erfüllt. Seiner Idee bis zum Paroxysmus, bis zur Selbstauslöschung hingegeben, beugt er sich jeder Gewalt von außen, gehorcht er jeder Einflüsterung, verfällt er jeder Täuschung. Praktisch, schlau und geschickt in der Anlage seiner Pläne, zeigt er sich bei der Ausführung dilettantisch, kurzsichtig und eigensinnig. Er ist finster wie ein Mönch, verschlagen wie ein Bauer, hat keinen Schimmer von Humor, nicht der leiseste Strahl von Heiterkeit liegt über seinem Wesen, alles an ihm ist Seufzen, Klage, Bedrücktheit, Dumpfheit, dennoch sind seine Leidensfähigkeit und seine Geduld im Ertragen des Leidens außerordentlich und haben etwas Rührendes wie Züge aus einem Heiligenleben. [etc.]
Das Ergebnis ist das Bild eines »komplizierten Charakters«, wie ihn die Überlieferungsgeschichte mit ihren Glättungen, Stilisierungen nicht zulasse. Dennoch interessiert sich der Biograph nicht für das bloß Individuelle: Den komplizierten Charakter zugleich von der Überlieferung freizulegen und ihn als menschlichen ‘Typus’ zu etablieren, ist ein Ziel der Biographie.91 Der gefundene Typus – von Wassermann aus noch darzulegenden Gründen differenzierend als ‘Gestalt’ bezeichnet – hat jedoch trotz der spanisch-nationalen Züge des Vorbilds, die auf den Italiener Kolumbus nicht übertragbar seien, einen literarischen Namen: Don Quijote. Wie wenig es Wassermann hier um eine bloß vordergründige Assoziation geht, macht der argumentative Aufwand deutlich, mit dem er die ‘wesenhafte’ Übereinstimmung im Typus behauptet: »Die Assoziation ist weder willkürlich, noch entspringt sie einer literarischen Marotte.«92 Es seien vielmehr »im weitesten Ausmaß Richtung und Anlage seines Geistes, alle dessen Behelfe, Berufungen, Urteile, Schutzwaffen, Verklausulierungen und Kundgebungen«,93 »der Bestimmungshochmut, Bestimmungsdünkel, unleugbar eine Kraft, eine sehr einsam machende Kraft«,94 welche die typologische Verwandtschaft herstellten. Der erzählende Biograph bekundet, es sei unmöglich, einen solchen quijotesken Kolumbus als Mitmenschen zu verstehen oder zu lieben; erst eine die Mitmenschlichkeit überwindende Distanz zeige, »was für ein ewiges Inbild des Menschentums, menschlicher Torheit, Verwirrung und Größe« Don Quijote und mit ihm Kolumbus darstellten.95 Der Biograph verschließt sich trotz des individualisierenden Anspruchs gegen das – in der mitmenschlichen ———————— 91
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Offensichtlich ist es diese ‘Typisierung’ der menschlichen Erscheinungsformen, welche Wassermann mit der Hagiographie verbindet, deren ‘rührende’ Wirkung wohl auch von der eigenen Biographie ausgehen soll. Wassermann, Christoph Columbus, S. 61. Ebd., S. 61. Ebd., S. 64. Ebd., S. 64.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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Nähe dominierende – bloß Individuelle. Einer bloß Individuelles, das heißt für die Gegenwart Irrelevantes, akzentuierenden Fassung und ebenso einer verkürzenden Typologisierung begegnet er durch die Gestaltung zum Mythos: zur ‘Gestalt’.96 Kolumbus ist weder irgendein Entdecker mit typischen Eigenschaften des Entdeckers (Typologie), sondern er ist Kolumbus mit dessen Charakteristik, noch ist er in der Biographie ein mitmenschlich wahrgenommenes Individuum, sondern er ist dessen für die Nachwelt (und von ihr) überzeichnete, ‘wahre’ Ausdruckform. Die Christoph Columbus-Biographie vollzieht exemplarisch die Gestaltwerdung, die in Jakob Wassermanns Rede über die Gestalt auch theoretisch betrachtet wird.97 Die Gestalt, so führt Wassermann dort aus, sei einerseits »geradezu die Trägerin der Widersprüche«98 des Lebendigen, andererseits sei sie das Ergebnis eines Kristallisationsprozesses. Nicht der lebende Mitmensch, sondern der aus der Distanz betrachtete, zum Symbol gewordene Mensch könne als Gestalt wahrgenommen werden:99 Nicht einmal die sind noch Gestalt, deren Taten sich vor unseren Augen zu einer sichtbaren Einheit sammeln, politische Führer, Feldherren, Könige, die geistigen Häupter der Nation. Ich möchte etwas paradox sagen: gerade durch die leibliche Sichtbarkeit werden sie verhindert, als Gestalt zu erscheinen, […]. Gestalt können sie erst werden, zur Gestalt können sie sich erst kristallisieren von einem ganz bestimmten Gesichtspunkt aus gesehen, einem sehr erhöhten und sehr entfernten, unter einer ganz bestimmten Betrachtung, die ihre typischen Eigenschaften teils verwischt, teils verklärt und ihre individuellen zum Maßstab und Vergleichsfaktor für eine große Zahl anderer soziologisch und psychologisch verwandter Existenzen macht. Mit einem Wort: sie müssen aus der bedingten Sphäre in die unbedingte emporsteigen.
Diese Sätze lesen sich durchaus wie eine poetologische Erklärung zur Biographie, und jene wiederum könnte als narrative Explikation der theoretischen Ausführungen erscheinen. Immer wieder betont Wassermann, daß sich die Einheit des Charakters Kolumbus nur aus der distanzierten Wahrnehmung ergebe. Dabei wird die Gestalt als wahrnehmungspsychologisch konstituierte Abstraktion zum Gegenbegriff des Typus und des empirisch Singulären. Es sind freilich die individuellen Eigenheiten, die ———————— 96
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Lektüren von Wassermanns Biographie, die nur eine Demontage von Kolumbus erkennen, aber diese Aspekte der Gestaltung unberücksichtigt lassen, erfassen nur den ersten Schritt der Neukonzeption; so etwa: Gérard Laudin, Der sinnreiche Seefahrer, oder »den vorgebildeten Don Quichote in Columbus sehen, das hieß: ihn sehen«. Zu Jakob Wassermanns biographischem Roman. In: Heydenreich, Columbus, Bd. 2, S. 707–723. Auf die Aspekte Irrtum und Gestalt hat bereits Anne-Liese Sell in ihrer – in ihrem Bemühen um eine Darstellung auch der psychischen Persönlichkeit Wassermanns problematischen – Dissertation mit anregenden Ausführungen hingewiesen: A.-L. Sell, Das metaphysisch-realistische Weltbild Jakob Wassermanns. Bern: Haupt 1932 (Sprache und Dichtung 51). Jakob Wassermann, Rede über die Gestalt. In: Ders., Lebensdienst, S. 347–382, hier S. 347. Ebd., S. 349.
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zur ‘menschenähnlichen’ Gestalt extrapoliert werden, aus der ein überzeitliches Charakter- und Schicksalssymbol entsteht, das die Phantasie sowohl in der konkreten historischen Person wie auch in der figuralen Imagination erkennen und erschaffen kann: als Kolumbus und als Don Quijote.100 Die Gestalt entsteht, »sobald ein Vorgang oder eine Person in den umwandelnden Strom des Mythos gerät«.101 Wassermann betont dabei die ‘menschenähnliche’ Gestaltung der Gestalt – auch in der dichterischen Phantasie oder der eines Volkes. Die Gestalt hat ihre Bedeutung als imaginäres Gegenüber zur Besinnung des Einzelnen wie ganzer Volksgemeinschaften, aber sie lebt nicht von ihrer historischen Existenz (Individuum) oder Idealisierung (Typus, aber auch Legende), sondern von ihrer menschlichen (und nicht bloß individuellen) Widersprüchlichkeit, wenn etwa in der dichterischen Gestaltung »das Niedrige mit grandioser Kühnheit ins Hohe verwoben wird«.102 (Auch hier wird u. a. Meyers Jürg Jenatsch als ein Beispiel genannt.) Der Widerspruch bleibe als »Charakterfarbe wie als Schicksalszug unvergänglich«;103 auch die große heroische Gestalt werde durch die niederen Seiten stärker im Gedächtnis bewahrt als durch die großen Taten. Auf die Biographik übertragen bedeutet dies, daß biographische Gestaltungen in traditionellen Funktionen gesehen werden, wenn sie leitend auf die Gegenwart einwirken sollen oder Symbole für menschliches Sein darstellen. Auf der anderen Seite legitimiert sich die neue Biographik mit ihrem Blick hinter die Kulissen der historischen Überlieferung dadurch, daß sie sich weder in der Tradition idealisierender Exempel bewegt, noch auf den bloßen Heldensturz beschränkt, sondern adäquatere Mythen erschafft – und damit auf die Bedürfnisse der Gegenwart zu antworten versucht. Denn die Gestalt wird von Wassermann gegen die Einsamkeit ———————— 100
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Dabei erschafft die figurale Imagination nur ein literarisches Symbol für die von ihr unabhängige Gestalt, welche nach einer Literarisierung verlangt: »Man darf nicht glauben, daß ein Genius solchen Ranges [Cervantes] seine welthistorische Gestalt sozusagen in einer privaten Dichterlaune zeugte. An einer so großen Vision hat das Volk, die Nation keinen geringeren Anteil als der unmittelbare Erschaffer, der sie zur Sichtbarkeit bringt. Die Jahrhunderte arbeiten schweigend daran, bis der Auserwählte ihr die gültige Form gibt.« Wassermann, Christoph Columbus, S. 61. Wassermann, Rede über die Gestalt, S. 362. – In ähnlicher Weise hat Wassermann schon 1915 den Begriff ‘Stil’ erläutert: »Stil ist die Weglassung des Unwesentlichen. Es ist dieselbe Prozedur, die von der Geschichte, der Überlieferung in den meisten Fällen so gesetzmäßig und methodisch besorgt wird, wie von einem breiten Strom, der alles trübe Gemengsel und unreinen Stoffe alsbald an die Ufer schwemmt oder auf den Grund sinken läßt.« Jakob Wassermann, Vorwort. In: Ders. (Hg.), Deutsche Charaktere und Begebenheiten. Berlin: Fischer 1915, S. 9–22, hier S. 10. – Diese Kriegsschrift Wassermanns versammelt durch den Herausgeber bearbeitete Kurztexte, in denen jeweils »deutscher Charakter«, »deutsches Schicksal« etc. exemplarisch kenntlich werden sollen. Wassermann, Rede über die Gestalt, S. 367. Ebd., S. 367.
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des Menschen in einer von Meinungen und Gesinnungen geprägten Gegenwart gestellt. Im Schauen der durchaus nicht idealisierten Gestalt, welche die lebendigen Widersprüche des Menschlichen symbolisiert, aber »jenseits von Gut und Böse« angesiedelt ist,104 überwindet der einzelne die Einsamkeit unter seinen Mitmenschen,105 findet er ein ‘Heilmittel’ gegen die Gegenwart, wenn er die Fähigkeit zu ‘Hingabe’ und ‘Schau’ nicht verloren hat: »Die Mechanisierung des praktischen Lebens und die Politisierung des Geistigen haben die Augen unfähig gemacht, Gestalt zu schauen.«106 Die Gestalt des quijotesken Kolumbus wird so als Heilmittel gegen die Quijotisierung der Gegenwart beansprucht – als ein irriterendes Heilmittel freilich. Damit enthüllen sich zumindest einige Facetten des Begriffs ‘Gestalt’. Auf die historische Gestalt bezogen nimmt dieser Begriff bei Wassermann eine Mittelstellung zwischen Individuum und Typus ein, indem er eine Gegenposition zum abstrakteren – vom Leben abstrahierenden und Widersprüchlichkeit glättenden – Begriff des ‘Typus’ bezeichnet,107 ohne das bloß Individuelle zu fassen. Gleichzeitig jedoch bleibt die Bedeutung des Begriffs im Sinn von künstlerischer, erzählerischer Gestaltung erhalten. Neben dem Modus der Wahrnehmung des historischen Menschen als Gestalt tritt der Modus ästhetischer Repräsentation. Hier meint Gestalt den Gegenbegriff zur begrifflichen Zergliederung, zum begrifflichen Wort, aber auch zu Meinungen und Gesinnungen. Gestalt repräsentiert die sinnliche Einheit, an welcher die Anschauung an Stelle der Erklärung als Erkenntnisinstrument erprobt wird. Dies erinnert an Gedanken, die Oskar Walzel in seinem Grundlagenwerk Gehalt und Gestalt im Kunst-
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Ebd., S. 372. – Sell zieht aus dieser Bemerkung zur Konzeption der Gestalt »jenseits von Gut und Böse« ihre Kritik an der moralischen Indifferenz Wassermanns gegenüber der Geschichte; die Umformung des ‘sachlichen Entdeckertypus’ zur Gestalt des phantasiebegabten, schwärmerischen Menschen wird von ihr als »Ehrenrettung« aufgefaßt. Die Gestalt gewinnt jedoch ihre positive Wertschätzung aus der Form (anthropologisch relevantes Problem), nicht aus dem Inhalt (Moralität des individuellen Charakters): Gestaltwerdung birgt also nicht bereits eine moralische Aufwertung in sich, sondern bedeutet eine Wertschätzung lediglich durch die überindividuelle symbolische Bedeutsamkeit des Gestalteten. Die Gestalten dienen der Orientierung, nicht der (moralischen) imitatio. (Dadurch ändert sich auch das didaktische Konzept der Biographik erheblich.) Vgl.: Sell, Das metaphysisch-realistische Weltbild, S. 146–148. »Denn Gestalt ist die in Form gezauberte Zwiesprach, Zwiesprach mit dem Schicksal, mit der Menschheit, mit Gott und der Ewigkeit.« Wassermann, Rede über die Gestalt, S. 381. Wassermann, Rede über die Gestalt, S. 377. Dies erinnert an Diskussionen um die Gestalt als leibseelische Formung, in welcher eben auch der Lebensbezug und innere Spannungen gefaßt werden. Vgl. etwa den Begriff ‘Gestalt’ bei Hermann Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls. 2 Bde. Berlin: Cassirer 1912 (System der Philosophie 3), s. Reg.
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werk des Dichters (1923) dargelegt hat,108 der übrigens bereits in der Einleitung Wassermann als Kritiker einer lediglich an den Dichterindividuen orientierten Verurteilungsliteraturgeschichte erwähnt. Walzel betont in seiner Verteidigung der ästhetischen Gestalt gegenüber der Geschichtlichkeit der Werke, die zugleich eine Kritik des Positivismus und Historismus ist, ebenso wie Wassermann die Differenz zwischen Wort und Gestalt: »Will Dichtung wirklich reine Sprache der Kunst sprechen, so muß sie auf alles Begriffliche des Worts verzichten und darf nur durch Gestalt zu wirken versuchen.«109 Wassermann steigert diesen Gedanken zu einer Kritik der Gegenwartskultur: »Der größte, der hinterlistigste Feind der Gestalt ist das Wort. Und eben das Wort ist es, das in der gegenwärtigen Epoche übermächtig geworden ist […].«110 Die Verbindung zwischen beiden Aspekten des Begriffs Gestalt, die hier genannt wurden, ergibt sich, wenn Wassermann das Wort als »Gegenpol von Fleisch und Blut« bezeichnet: Dies dürfte nicht zuletzt gegen eine Geschichtsschreibung und Biographik gemünzt sein, die Geschichte und geschichtliche Lebensläufe nach systematischen Konzepten darstellt oder nach moralischen Wertmaßstäben beurteilt. An die Stelle einer historischen Rekonstruktion tritt in der Biographie bei Wassermann die erzählerische Gestaltung, an die Stelle des Urteils über die geschichtliche Persönlichkeit die Zusammenschau der in sich widersprüchlichen Gestalt. Der Begriff ‘Gestalt’ wird dabei für den Biographen auch zum Vermittlungsbegriff zwischen Individuum und Geschichte. Erreicht wird diese ‘Gestaltung’ der historischen Persönlichkeit in der Biographie durch eine Darstellungsweise, welche an Oskar Walzels Beschreibung des mittleren Typus der ästhetischen Gestaltung erinnert. In Abgrenzung von der begrifflichen Zergliederung, die in Wassermanns Sicht dem »Scherbenhaufen« der geschichtlichen Deutung des Kolumbus entsprechen würde, aber auch in Abgrenzung von einer pathetischen Darstellung, welcher eine aktualisierende Heroisierung des Entdeckers entsprechen würde, skizziert Walzel die ideale Gestaltung in den Worten:111 Das innere Leben wird erfaßt in dem Augenblick, in dem es an die Oberfläche tritt oder, wie [Georg] Simmel sagt, in seine Oberfläche hineinwächst. Notwendig ist dann, daß die Bewegtheit des Lebens auch der Gestalt organisch sich ein———————— 108
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Zu Walzel im Kontext der Gestalttheorien vgl. a.: Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 2001 (Kölner Germanistische Studien N. F. 2). Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin-Neubabelsberg: Athenaion 1923, S. 178. – Vgl. a.: Ders., Das Wesen der Dichtung. Leipzig: Quelle & Meyer 1928 (Deutschkundliche Bücherei). Dort wird die Begrifflichkeit des Wortes als Problem für die Dichtung als Kunst angesprochen: »Dichtkunst kann mithin nur so weit Kunst sein, als sie die Begriffsprache überwindet« (S. 14) – wodurch sie Gestalt werden kann. Wassermann, Rede über die Gestalt, S. 374. – Vgl. dort auch die anschließende Polemik. Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 391.
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prägt. Wird an erster Stelle [im abstrahierenden Typus] durch die Abstraktion vom Leben etwas Dauerndes, aller Bewegung Entrücktes, etwas Ewiges, ein ruhendes Sein gewonnen, so herrscht hier Bewegtheit des Lebens. Die klaren Umrisse des ersten Typus verschwinden. An ihre Stelle treten die Eindrücke des Lebens in ihrem unendlichen Flusse. Einmaliges, nicht ein für alle mal Bestehendes offenbart sich im Gehalt wie in der Gestalt. Ein Werden drückt sich aus, auch wenn nur ein einziger Augenblick erfaßt wird. […]
Hier werden die Bezugspunkte für Wassermanns moderne Biographie deutlich: In einer Abwendung vom Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts,112 aber auch in einer Abwendung vom lebensphilosophischen Biographismus Diltheys, dem andere moderne Biographen wie Emil Ludwig Anregungen verdanken. An deren Stelle tritt eine ästhetisch gefaßte, in gewissem Sinne ahistorische Schau der Gestalten – eben auch der geschichtlichen Gestalten. Dabei zeigt sich zugleich, daß hier mit dem Begriff der ‘Gestalt’ in der Ästhetik wie in der erzählten Geschichte ein Rückzugsraum gewonnen wird gegen die Atomisierung der Einheiten113 (der gewachsenen Formen), in der Biographik gegen die Atomisierung der Einheit des Einzelmenschen durch die das Individuum unterlaufenden Theorien etwa der Psychopathologie und Vererbungslehre114 oder gegen die scheinbare Entwertung des Menschen in der Geschichte und durch die Soziologie – besonders aber gegen die die gewachsene Form bedrohenden Entwicklungen der Zersetzungsprozesse der Gegenwart. Die Biographik Wassermanns, welche um die Frage nach dem Anteil des Menschen an und nach seinen Existenzbedingungen in der Geschichte kreist, ist lesbar als Reaktion auf Modernitätserfahrungen, auf die Brüchigkeit des Individuums und drückt die Sehnsucht nach einer Einheit des Individuums, nach seinem Menschsein jenseits widriger Lebenserfahrungen aus, aber sie weist ihm auch den Raum seiner Verantwortlichkeit zu, der allzu gern durch den Hinweis auf unvermeidliche Schicksalsmächte getilgt werde. Nicht zuletzt darum werden die historischen Gestalten jenseits ihrer bloß individuellen geschichtlichen Existenz, jenseits der historischen Ereignisse und Fakten, jenseits auch ihrer historischen Leistungen betrachtet, denn obwohl auch die »großen Momente, die tragischen Verwicklungen, die heroischen Leistungen, die weitgreifenden Katastrophen [sind] ein Ergebnis kleiner und kleinster Umstände und Eigenschaften«,115 welche das Schicksal eines jeden Menschen bestimmen, ———————— 112 113 114 115
Vgl. die Kritik der positivistischen Geschichtsauffassung oder ‘Milieutherie’ in Walzels Einleitung: Ebd., S. 3f. Vgl. a.: Simonis, Gestalttheorie, S. 119ff. Gegen die Vererbungstheorien wendet Walzel sich ausdrücklich. Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 5; gegen den ‘Psychologismus’ in der Kunstbetrachtung vgl. S. 9ff. Jakob Wassermann, Rede über Humanität. In: Wassermann, Lebensdienst, S. 383–421, hier S. 384.
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heben diese nicht den Bereich seiner Freiheit und Humanität auf. Zwar ist der einzelne Mensch nicht frei, nicht isoliert von der Geschichte, sondern in das Werden einer Geschichte eingebunden, deren Resultate und Leistungen in ‘gewachsenen Formen’ fortdauern, welche den einzelnen ebenso begrenzen wie ermöglichen.116 Aber er übernimmt die Verantwortung für diese gewachsenen Formen in seiner Gegenwart. Kolumbus als Gestalt erweist sich in seinem als Leiden erfahrenen Widerspruch zur Welt, durch sein Ungenügen gegenüber der Realität und in seinem Irrtum, in welchem er zwar auch seine Größe und Würde behauptet, nicht zuletzt als Symbol für die »Kurzsichtigkeit und Kurzfühligkeit« des Gegenwartsmenschen: »so sind wir Leute, die sich blind stellen und den Strom nicht spüren wollen, in dem sie fließen«117 – eben Leute wie Kolumbus: »und plötzlich entschwebt ihm ein Geist, der uns brüderlich grüßt«. Wassermanns Position trägt auch deutliche Züge konservativer Kulturkritik, Züge einer Kritik am Zerfall gewachsener Kultur in der Moderne: besonders an einem Zerfall der literarischen Form in den modernistischen Literaturrichtungen,118 der für ihn zum Symptom einer falsch verstandenen Freiheit, einer bloß zersetzenden Revolte gegen das ‘Bürgerliche’ und das ‘Althergebrachte’ wird. Die Gegenwart gegen die auch die Kolumbus-Biographie geschrieben ist, beschreibt Wassermann in einem Essay über die Auflösung der Form als »eine Gemeinschaft, deren Vitalität und geistige Zielgebung vornehmlich darin besteht, daß Formen zerstört werden, die nichts zurücklassen als Zersetzungsstoffe, das heißt Aufruhrkeime, wo also unverhehlter Raubbau an überliefertem Besitz getrieben wird«.119 Die moderne Biographie in Wassermanns Prägung ist ‘debunking’ nur, insofern sie gegen eine Geschichte objektiver Fortschritte die humanen und anthropologischen Bedingungen der Geschichte (Irrationales, Irrtum) ausspielt, aber sie ist eine – sich durchaus als ‘politisch’ verstehende – 120 historische Gestaltung der Humanität und der positiv oder negativ zur Schau gestellten Symbole der Verantwortlichkeit des Menschen im Rahmen konservativer Kulturkritik: Die Biographie wendet ———————— 116 117 118
119 120
Vgl. hierzu a.: Jakob Wassermann, Die Auflösung der Form. In: Wassermann, Lebensdienst, S. 203–209. Wassermann, Rede über Humanität, S. 385. Vgl. etwa zur Fabel als umfassendem Formprinzip der Epik und ihrer Auflösung im zeitgenössischen Roman: Jakob Wassermann, Kolportage und Entfabelung. In: Wassermann, Lebensdienst, S. 231–239. Wassermann, Auflösung der Form, S. 206. – Dieser Essay ist zugleich eine Verteidigung des Bürgerlichen gegen die überzogene ‘Freiheit’ der Gegenwartsmenschen. Jakob Wassermann, Teilnahme des Dichters an der Politik. In: Wassermann, Lebensdienst, S. 328–330. – Als Beispiele politischer Arbeit der Autoren nennt er etwa: Hugo v. Hofmannsthals »Turm«, Thomas Manns »Der Zauberberg« und seinen eigenen Roman »Der Fall Maurizius«.
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sich gegen ein ‘debunking’ des Menschlichen in Geschichte und Gesellschaft. Abschließend und erweiternd ist hier in knappen Zügen auch Wassermanns Stanley-Biographie Bula Matari zu streifen. Wassermann eröffnet seine Erzählung über das Leben des Afrikareisenden und Journalisten Stanley mit einer Rechtfertigung, »Warum ich dieses Buch geschrieben habe«, in welcher der Biograph die Kritik einiger Freunde an seinem Arbeitsprojekt reflektiert. Die Einwände der Freunde lassen sich als personalisiertes traditionelles Gattungsverständnis von den Aufgaben der Biographie zusammenfassen, denn sie zielen vor allem darauf, daß die Wahl einer Persönlichkeit für die biographische Darstellung sich durch den bleibenden Wert ihrer Tat in Geschichte oder Gegenwart legitimieren muß oder aber durch die Exemplarizität von Person oder Werk.121 Die bloße Faszination des Biographen für seinen Gegenstand (»ein hobby von dir«) sei dagegen ebensowenig ausreichend wie eine nur geschichtlichvergängliche Bedeutung (»der Heros einer ganzen Generation«), wenn die Bedeutung der Tat in der Gegenwart »verklungen« sei.122 Der Biograph reagiert darauf mit einer zunächst eher vagen, erst durch die Darstellung selbst deutlichere Kontur gewinnenden Antwort, welche die überindividuelle Bedeutung der Gestalt Stanleys und seine symbolische Bedeutung für die Gegenwart betont. Im Zentrum steht die Frage nach der Psychologie der Tat und des Tatmenschen. Selbst das äußerlich pragmatische, zielgerichtete, erfolgreiche Handeln erhalte in seiner übersteigerten Form phantastische Züge, und das »Leben der Tat« erweise sich im Lebenslauf als selbstzerstörerisches Werk, wenn der Tat »kein inneres Gegengewicht« entspreche.123 Vor allem sind es zwei Aspekte, die Wassermann in seiner Biographie vorführt: Zum einen der irrationale Grund geschichtlichen Handelns, zum anderen die Tragik des modernen Menschen, der »Tun und Sein« nicht in Einklang zu bringen vermag: »Worum es mir geht, ist der Ausgleich zwischen Tun und Sein, vielmehr die Unmöglichkeit dieses Ausgleichs in der modernen Welt, und in diesem Sinn ist mir die Gestalt Stanleys zum Symbol geworden.«124 Der irrationale Grund geschichtlichen Handelns: Gleich Kolumbus, der in der Stanley-Biographie auch als Vergleichsfigur angeführt wird, ist Stanley ein Getriebener, der aus dem Zwang zur Tat aus einer »geheime[n] Sehnsucht«125 handelt, nicht aus den äußerlich genannten Motiven ———————— 121 122 123 124 125
Wassermann, Bula Matari, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 100.
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für seine Reisen: Abenteuer- und Expeditionslust folgen dem inneren Zwang zur Tat; seine Lebensgeschichte wird zum Symbol für die »Tragik des maßlosen Tuns«.126 Eine letzte Erklärung für diesen leidenschaftlichen Tatendrang gibt Wassermann in seiner Biographie nicht; er beschränkt sich auf die Andeutung psychologischer Gesetzmäßigkeiten bei Stanley und ähnlichen Tat- und Führermenschen (wie etwa Kolumbus) und den Hinweis:127 In seiner Brust lebte ein Heldenideal, für dessen Verwirklichung er auf seine Weise genau so zum Opfer bereit war wie Livingstone auf seine priesterliche, zum Einsatz des Lebens. Und genau wie Livingstone, nur auf seine Weise eben, eine ichsüchtigere, stürmischere, gehörte er zu jenen Einsamen und Abseitigen, die zu der Welt, in der sie geboren sind, keine Beziehung gewinnen und daher lieblos, freundlos und unbefriedigt dahinleben müßten, wenn sie der Stern ihres Schicksals nicht auf eine Bahn zöge, wo sie sich erfüllen können. Selbstverständlich wollte Stanley das Geheimnis des Lualaba enthüllen, aber ebenso klar ist, daß es sich dabei nicht weniger um Selbstfindung, Selbstentdeckung und Selbstbestätigung handelte, ein Prozeß, der infolge der leidenschaftlichen Spannungen seiner Natur zu den heftigsten äußern Entladungen führte.
Wiederum wird eine energetische Erklärung mit der Entfremdung von der Realität verbunden. Die Leidenschaftlichkeit des Tuns entsteht aus dem Gefühl der Fremdheit in der eigenen Lebenswelt, die Stanley aus der westlichen Zivilisation in die letzten weißen Flecken der Landkarte treibt. Nur in seltenen Momenten gesteht der Biograph Stanley eine Einsicht in die geheimen Triebkräfte seines Tatendrangs zu. Zumeist ist Stanley, den Smiles als Exempel eines idealen Arbeitsethos genannt hatte, in Wassermanns Darstellung nun ein selbstblinder Phantast: »und da erzählt man uns immer wieder die alten Märchen von der Nüchternheit und Verstandesschärfe der Praktischen, der kühnen Klarheit der Tatmenschen!«128 Wassermann geht es jedoch nicht darum, die Taten selbst herabzuwürdigen, sondern es geht ihm um eine psychologische Betrachtungsweise des heroischen Menschen, dessen Taten eben mit einer rationalistischen Weltsicht nicht vermittelbar sind. Das hat eine für die moderne Biographik gewichtige, bei Wassermann ebenfalls angedeutete Konsequenz: Der Held und Heros wird nicht durch das Kalkül, die Leistung, den Erfolg zum Heros, sondern durch seine ihm selbst nicht einsichtige ‘heroische’ Tragik, die ihn zur Tat treibt. Der Entschluß, nicht das Gelingen ist heroisch: Das Gelingen »krönt ihn [den Entschluß] und befestigt ihn in ———————— 126 127 128
Ebd., S. 15. Ebd., S. 104f. Ebd., S. 141. – Vgl. Samuel Smiles, Der Charakter. Deutsche, autorisierte Ausgabe von Fr. Steger. Leipzig: Weber 1884, S. 143. Wassermann dagegen zeigt die Tätigkeitssucht in einer fast krankhaften Übersteigerung.
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unserm historischen Bewußtsein, aber es hat keinen Bezug auf seine Bedeutung als heroischer Akt«.129 Die geheimen Triebkräfte für Stanley liegen jedoch in seiner Heimatlosigkeit in der modernen, westlichen und zivilisierten Welt: »Sein Leben könnte den Titel führen: Leben eines Fremdlings.«130 Die archaische Welt Afrikas wird ihm zum Gegenpol der Zivilisation, gewinnt für ihn Bedeutung als ein Fluchtpunkt,131 als eine ihm zugehörige Welt, die er nicht mehr missen konnte, die in seinem Gemüt und Bewußtsein die Welt Europa-Amerika verdrängte, ihm bis zum Schmerz, bis zur prophetischen Erkenntnis die Hohlheit, Verlogenheit und Verfallsreife dessen zeigte, was ihm zu Anfang seiner Laufbahn das edelste Ideal geschienen hatte, Zivilisation, und damit seine ganze Existenz einem verhängnisvollen Zwiespalt überlieferte, dessen er nur Herr werden konnte durch das heraufzehrende Tun.
Zugleich wird Stanley hierdurch zum Symbol für die Tragik des modernen Menschen, der ebenso das Ungleichgewicht von Tun und Sein, die Entfremdung der Tat von der Welt, in der der Tätige lebt, erfährt: »Und wissen wir nicht, daß etwa ein Kaufmann, ein Fabrikant, ein Beamter, wenn sie jahrzehntelang in der gleichen Richtung tätig gewesen sind, unerklärlicherweise zusammenbrechen, sobald diese Tätigkeit eines Tages plötzlich aufhört?«132 Mit diesen Worten deutet Wassermann den Zusammenhang in seiner Eingangsrechtfertigung an. Am Ende der Erzählung hält er fest: »Neunzehn Zwanzigstel aller Menschen […] befinden sich in einem gewissen Punkt der Existenz in der nämlichen Lage. Es ist das Leiden des gestörten Gleichgewichts, die Wucherung des Willens über das Maß der Persönlichkeit hinaus.«133 Stanleys Fremdheit in der zivilisierten wie in der archaischen Welt entspricht der Fremdheit des Menschen in der modernen Welt, die ihm versagt, Sein und Tun in Einklang zu bringen, eine seiner Willensfreiheit entsprechende Seinsform zu finden – eine konservative Formulierung moderner Entfremdungserfahrung. Am Ende dieser Biographie steht anders als noch in der Kolumbus-Biographie nicht mehr der verbindende brüderliche Geist zwischen geschichtlicher Gestalt und Gegenwartsmenschen, sondern die letzte Antwort auf ein in tragischer Tätigkeit geführtes, entfremdetes Leben: »Und dann, als letztes Wort: ‘Genug.’«134 – In dieser Tragik einer Verweigerung der wie auch immer quijotesken Würde am Ende seiner widersprüchlichen Existenz wird auch Stanley als ein heroisches Symbol, als eine den Biographen ———————— 129 130 131 132 133 134
Wassermann, Bula Matari, S. 118. Ebd., S. 272. Ebd., S. 272. Ebd., S. 13. Ebd., S. 269. Ebd., S. 272.
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faszinierende und den Leser anregende Gestalt vorgeführt, die zum Erinnerungszeichen und zur Reflexionsfolie für die entfremdende Existenz des Menschen in der modernen zivilisierten Welt werden kann. 4.1.3. Zweigs moderne Biographik zwischen Psychologisierung und Heroisierung Die Biographik, so schreibt Lutz Weltmann in einer größeren Besprechung von Stefan Zweigs Die Heilung durch den Geist, sei Reaktion und Zeugnis »der Verwirrung unseres Daseins«. Als ihre Aufgabe bestimmt er: »noch einmal zu sammeln, zu ordnen, neu zu werten, was unverlierbarer Besitz ist oder wert, über die Krise der ersten Jahrhunderthälfte hinaus gerettet zu werden«.135 Es liegt gewiß nahe, die Breite und den Umfang der biographischen Produktivität der modernen Biographen in ihrer Gesamtheit auch als umfassendes Programm einer Revision der Geschichte und der Ahnengalerien für die Gegenwart zu deuten. Obwohl sich in der biographischen Publikationsflut durchaus eine Neubewertung einzelner Gestalten abzeichnet, gerade Wassermann und Zweig den Kanon nationaler Persönlichkeiten durch Personen anderer Kulturkreise ersetzen, der tradierte Kanon bestätigt oder aber geändert und verworfen wird, erscheint nicht die Neubildung einer Ahnengalerie als zentrales Merkmal dieser Biographien, sondern die Gestaltung historischer Lebensläufe, welche die Gefährdungen des Menschen der Gegenwart symbolisch vorführen. Gerade die Lektüre von Wassermanns Biographien zeigte bereits, daß diese nicht in erster Linie auf eine – freilich unter der Hand mitlaufende – neue Geschichtssicht hin konzipiert sind, sondern auf eine Gegenwartskritik mit zivilisationskritischem Impuls. Der Blick auf Stefan Zweigs weit umfangreichere biographische Produktion bestätigt und ergänzt diese Beobachtung, denn Zweig verhandelt in seinen Biographien nicht zuletzt die äußerliche Ohnmacht des Einzelmenschen in schicksalhaft wirkenden Konstellationen von Geschichte und Gesellschaft. Er zeigt immer wieder die charakterliche Reifung und Größe einzelner Menschen in ihrem Kampf gegen die Schicksalsmächte, wobei sich die Größe und der Charakter gegen die Bewertungsfrage von Erfolg und Scheitern behaupten. Die Biographien Wassermanns und Zweigs könnten so als Krisenzeichen für das Selbstgefühl eines liberalen Bürgertums interpretiert werden, als Krisenzeichen bestimmter bürgerlich-liberaler Wertordnungen, welche auf Vorstellungen einer Erfolgs- und Leistungsethik, einer rational verlaufenden Geschichte, einer individuellen Willensfreiheit und Vernunfttugend beruhten und die nicht zuerst, aber in besonderem Maß durch die ———————— 135
Wertmann, Heilung durch den Geist, S. 432.
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desaströsen Entwicklungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch existentiell in Frage gestellt schienen.136 Im Kontext einer Verunsicherung gerade bürgerlicher Leserkreise durch die Kette von als Krisen erfahrenen Ereignissen, unter denen Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise nur die herausstechendsten sind, mag der biographischen Literatur auch eine Trostfunktion zukommen, welche darin bestünde, die altliberale Humanitätsidee gegen die Krise der Grundwerte zu behaupten (wie dies in den Biographien gerade von Wassermann und Zweig erkennbar ist). Helmut Scheuer betont in seiner Gattungsstudie (zu einseitig), »daß die Biographien nach dem 1. Weltkrieg als Stabilisatoren für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Bürgertum fungierten«.137 In einer Studie über die Dichterbiographik hat Friedrich Sengle dagegen die Verunsicherung einer rationalen Welt- und Geschichtssicht und die Stabilisierungsaufgabe der Biographen in einer Weise beschrieben, wie sie gerade von humanistisch geprägten Biographen wie Wassermann und Zweig in vielen Punkten wohl hätte anerkannt werden können:138 Unser furchtbares Jahrhundert hat uns einen unheimlichen Scharfblick für das Tierische im Menschen gegeben oder wiedergegeben. Wir können den Bereich des Gebärens und Sterbens, der Libido, der Generations- und Klassenkonflikte, der Existenz- und Machtkämpfe nicht mehr so harmlos sehen und darstellen wie die Biographen des 19. Jahrhunderts und wissen, daß auch der edelste Mensch an diesem dunkeln Untergrunde der Welt bewußt oder unbewußt Anteil hat und hatte. Diesem Bereiche vollkommen gerecht zu werden und gleichwohl die immer neu sich bewährende sittliche und schöpferische Kraft des menschlichen Geistes wirksam zu zeigen, ist die schwierige, viel Takt erfordernde, aber reizvolle Aufgabe des ernsten modernen Biographen.
Das sich aus irrationalen Kräften in Gesellschaft und Geschichte einerseits und einem humanistischen Denken andererseits speisende Spannungsverhältnis wird freilich von den Biographen kaum mit der hier geforderten Zuversicht gelöst. Gerade bei Zweig konstatiert Scheuer eine zunehmend pessimistische Haltung, die sich auch in den biographischen Texten bemerkbar mache.139 Stefan Zweigs und Jakob Wassermanns biographische Arbeiten stehen übrigens in einer deutlichen Nähe, die sich bereits aus der Wahl der Gegenstände für die biographischen Werke ergibt. Wassermann schrieb über Kolumbus und Stanley, Zweig, dessen biographisches Arbeitsfeld freilich ———————— 136
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In dieser Weise hat Jan Romein spezifische Krisenerfahrungen in der Moderne als einen wichtigen Impuls zur neuen biographischen Entwicklung gedeutet. Romein, Die Biographie, S. 61. Scheuer, Biographie, S. 155. Friedrich Sengle, Zum Problem der modernen Dichterbiographie. In: DVjs 26 (1952), S. 100–111, hier S. 110. Scheuer, Biographie, S. 207f.
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so breit gesteckt war wie das kaum eines anderen Biographieautors,140 arbeitete u. a. über Amerigo Vespucci, Magellan oder den Südpolforschungsreisenden Scott. Doch die Parallelen reichen bis in die sprachliche Gestaltung und die konzeptionellen Eigenheiten der Biographien, die in einigen Passagen durchaus als austauschbar erscheinen könnten. Im Kontext der vorliegenden Studie kann nicht das gesamte biographische Werk Stefan Zweigs Beachtung finden. Ich beschränke mich auf die für das Leitthema der Vermenschlichung und Heroisierung wichtigsten Werke: die Biographien über Erasmus und Magellan, über Marie Antoinette und Sigmund Freud sowie die historisch-biographischen Erzählungen aus den Sternstunden der Menschheit. Besonders geeignet, um Stefan Zweigs Beitrag zur modernen Biographik näher zu betrachten, erscheint seine Biographie Marie Antoinette (1932), in welcher eine Gestalt im Zentrum steht, die erst im Lauf der biographischen Darstellung Qualitäten erringt, welche sie unter dem Leitthema der Vermenschlichung und Heroisierung bedeutsam werden lassen. In einer Rezension des Romans faßt Carl Friedrich Wilhelm Behl (1889–1968) das Darstellungsanliegen in dem Satz zusammen: »Das Thema dieser dichterischen Biographie ist die Heroisierung eines an sich mittleren Charakters durch das Schicksal.«141 Gerade in dieser Biographie, in welcher eine historische Person dargestellt wird, die nicht durch besondere geschichtswirksame Taten hervorgetreten ist, wird die Tendenz zur Darstellung eines charakterlichen, seelischen Heldentums und somit der von Sengle (freilich erst 1952) geforderten sittlichen Kraft des Menschen deutlich, denn erst angesichts des unausweichlichen Unterganges und Scheiterns erlangt die französische Königin in Zweigs Biographie die sittliche Reife und charakterliche Größe. Dabei gibt Zweig deutliche Hinweise für eine Parallelisierung von Geschichte und Gegenwart, vom Schicksal des ‘Jedermannsmenschen’ Marie Antoinette zum Menschen in den Krisen der Gegenwart – »die Sturzflut, die seit 1914 uns unablässig aufwühlt«.142 Marie Antoinette erscheint als eine Nebenfigur auf der Bühne der von Zweig gerne in Theatermetaphorik geschilderten Geschichte. Sie ist eine Nebenfigur, die durch die geschichtliche Situation erst in eine besondere Stellung gerückt wird: als Hauptperson einer geschichtlichen und menschlichen Tragödie, deren an sich unbedeutendes Leben erst durch ———————— 140
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Eine umfassende Bibliographie, der Werke, Übersetzungen sowie der kritischen und literaturwissenschaftlichen Studien zu Zweig gibt: Stefan Zweig. An International Bibliography. Hg. von Randolph J. Klawitter. Riverside, Calif.: Ariadne Press 1991. C[arl] F[riedrich] W[ilhelm] Behl, Marie Antoinette. [Rezension.] In: Die Literatur 35 (1932/33), S. 240. Stefan Zweig, Nachbemerkung. In: Ders., Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters. O. O.: Bertelsmann-Lesering 1955, S. 505.
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das »Leiden« schließlich zum »Beispiel für die Nachwelt« wird.143 Die exemplarische Bedeutung liegt dabei auch in einer grundsätzlich pessimistischen Deutung des menschlichen Lebenslaufs als Schicksalstragödie, deren Tragik nur dadurch eingeschränkt wird, daß dem menschlichen Scheitern ein vager Sinn zugesprochen wird: »Jeden erreicht immer nur das Schicksal, dessen er nicht Herr zu werden versteht – in allem Unterliegen ist ein Sinn und eine Schuld.«144 Sinn im und Schuld des einzelnen an seinem Lebenslauf zeigen die Rudimente der Individualität, der individuellen Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen, der sein Schicksal nicht bestimmen, in diesem aber adäquat oder inadäquat zu agieren vermag. Zweigs Biographie böte vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Analyse. An dieser Stelle sollen indes nur wenige allgemeine Aspekte der modernen Biographie an ihrem Beispiel betrachtet werden. Die drei immer wieder genannten Merkmale der modernen Biographie: 1.) Unbefangenheit und Wahrheitssuche, 2.) psychologisches Einfühlungsvermögen, 3.) Kompliziertheit des seelischen Bildes, lassen sich auch anhand dieser Biographie explizieren. Die unbefangene Annäherung an die geschichtliche Gestalt bedeutet zunächst für Stefan Zweig, der Legendenwirkung der Idealisierung oder Verleumdung entgegenzuwirken, welcher Marie Antoinette in der je tendenziös gefärbten Geschichtsschreibung und Propaganda ausgesetzt gewesen sei. Zweig beteuert, er habe sich in seiner Biographie von den Unwahrheiten der Überlieferungsgeschichte freizuhalten gesucht, um einen neuen Blick auf die historische Persönlichkeit zu werfen, um die »seelische Wahrheit«145 hinter der scheinbaren der historischen Daten und Meinungen zu finden. Der Rezensent Behl faßt zusammen: »Er sichtete kritisch aus einem Wust von Dokumenten, Briefen und sonstigen Zeugnissen, was ihm unzweifelhaft echt erschien, spürte noch dies und jenes Unverwertete auf und verließ sich im übrigen auf das Gefühl, das ‘von einem Menschen immer mehr weiß als alle Dokumente’.«146 Zweig selbst betont das ausgiebige Quellenstudium und reflektiert kritisch den Wert der Zeugnisse, die jedoch die Wahrheitsprobe vor allem vor der kritischen Instanz der ‘psychischen Wahrscheinlichkeit’ zu bestehen haben. Besonders deutlich wird dieser Arbeitsprozeß, den Behl mit der Arbeit »eines alle Indizien abwägenden Untersuchungsrichters« vergleicht, bei Zweigs Behandlung der Frage, ob der Schwede Hans Axel von Fersen, den die biographische Literatur bis dahin weitgehend als un———————— 143 144 145 146
Zweig, Marie Antoinette, S. 9. Ebd., S. 99. Ebd., S. 5. Behl, Marie Antoinette, S. 240; für das Zweig-Zitat: Zweig, Marie Antoinette, S. 258.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
eigennützigen Kavalier bezeichnet hat,147 der Geliebte und besonders der körperliche Liebhaber der Königin gewesen ist, in dem Kapitel: »War er es, war er es nicht?« Die überlieferten Dokumente, etwa eine bereinigte Edition der Briefe von Marie Antoinette an Fersen, erlaubten bis dahin keine Auskunft:148 Forse che si, forse che no, vielleicht, vielleicht auch nicht, sagte, solange noch die letzten Beweise fehlten, die historische Wissenschaft im Falle Fersen und klappte das Aktenbündel zu mit dem Seufzer: Wir haben nichts Geschriebenes, nichts Gedrucktes, also nicht den einzig in unserer Sphäre endgültigen Beweis. Wo aber die an den Augenschein streng gebundene Forschung endet, beginnt die freie und beschwingte Kunst der Seelenschau; wo die Paläographie versagt, muß die Psychologie sich bewähren, deren logisch eroberte Wahrscheinlichkeiten oft wahrer sind als die nackte Wahrheit der Akten und Fakten.
Die Befangenheit der bisherigen Marie Antoinette-Darstellungen erscheint so einerseits durch moralische Vorbehalte, andererseits aber durch die positivistische Arbeit der Historiographie gekennzeichnet. Die ‘psychologische’ Methode des modernen Biographen Zweig wendet sich gegen beide Formen der Befangenheit. Gegen die Moral des Verschweigens und gegen die Grenzen positiven Wissens setzt er die von ihm unterstellte innere, psychische Wahrscheinlichkeit, daß die aus der Ehe körperlich und seelisch frustrierte Frau sich einen Liebhaber nahm: »Jedem aber, der einen Charakter nur als Einheit zu begreifen vermag, ist es völlig unbezweifelbar, daß Marie Antoinette, wie mit ihrer ganzen enttäuschten Seele, auch mit ihrem lange mißbrauchten und enttäuschten Leib die Geliebte Hans Axel von Fersens gewesen ist.«149 Noch deutlicher ist diese Tendenz in der Behandlung der königlichen Ehe selbst. In drastischer Weise beschreibt Zweig sowohl die Frustrationen Marie Antoinettes über die während sieben Jahren nicht vollzogene Ehe – »zweitausend Nächte, in denen Marie Antoinette als Frau und Gattin die äußerste Erniedrigung ihres Geschlechts erlitten hat« –,150 aber auch die psychische Wirkung des Eheproblems auf das politische Handeln Ludwigs XVI. bzw. seine Unfähigkeit zu handeln: »Weil er im Schlafgemach nicht den Mann, versteht er vor den anderen nicht den König zu spielen.«151 Ausdrücklich gegen die ———————— 147
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Ca. 40 Jahre vor Zweig schrieb die norwegische Erfolgsbiographin Clara Tschudi über Fersen: »Er hatte für Marie Antoinette eine jener seltenen uninteressierten und warmen Freundschaften bewahrt, welche an der Grenze zwischen Liebe und Verehrung liegen.« Clara Tschudi, Marie Antoinette und die Revolution. Aus dem Norweg. von Heinrich v. Lenk. Leipzig: Reclam o.J., S. 120. – Zu Tschudis Biographie vgl.: Nina v. Zimmermann, Clara Tschudi (1856–1945) und ihre Biographien über Frauen aus den europäischen Fürstenhäusern. In: v. Zimmermann u. v. Zimmermann, Frauenbiographik, S. 65–78. Zweig, Marie Antoinette, S. 258. Ebd., S. 264f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 33, vgl. S. 87.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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»Sexualprüderie« des 19. Jahrhunderts, die »ein Nolimetangere aus jeder unbefangenen Erörterung physiologischer Verhältnisse gemacht« habe, 152 besteht Zweig auf einer medizinisch genauen Beschreibung des Sexualproblems, wobei der Rhetoriker der Enthüllung und der Leser(ver)führung die präziseste Darstellung der Phimose des Königs einer spanischen Quelle entnimmt, die er zeilenlang zitiert, aber nicht übersetzt …153 Ähnlich verfielen die ‘prüderen’ frühen Sexualforscher ins Latein, um dem Sexuellen die Last des Anstößigen durch den hygienischeren Schein der Wissenschaftssprache zu nehmen. Die psychologische Ausdeutung des physischen Problems wird von Zweig zu einer kausalen Grundlegung und zentralen Erklärung für den Lebenslauf der Königin und die Entwicklung der Hofpolitik ausgebaut. Dies entspricht der Forderung der psychopathologischen Lebenslaufforschung. Doch brauchte Stefan Zweig hier nicht auf die Tiefenpsychologie zurückzugreifen, denn die Bedeutung der Sexualität für das Sozialleben, die Beschreibung der Folgen physischer Geschlechtsstörungen (wie der Phimose) für das Selbstempfinden des Mannes und für sein soziales Handeln werden auch von Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) in der Psychopathia sexualis (seit 1886 in zahlreichen Aufl.) beschrieben.154 Gerade die kausale Rückführung des sozialen Verhaltens des französischen Königs auf ein physisches Sexualproblem und somit die rationale Erklärung für scheinbar Irrationales erinnert an von Krafft-Ebing, während sich für die Betonung der frühkindlichen Erfahrungen für die Sexualität und die psychische Entwicklung des Erwachsenen oder für komplexere Wirkungen des Sexualproblems, wie sie die Tiefenpsychologie Freuds betont, in Zweigs Biographie kaum Beispiele aufzeigen lassen. Immerhin weicht Zweigs Biographie durch die Ausdeutung der weiblichen Sexualität im Lebenslauf Marie Antoinettes von der traditionellen Vernachlässigung weiblicher Sexualität (auch durch den Sexualforscher von Krafft-Ebing) ab.155 ———————— 152
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Ebd., S. 31. – Auch hier ist übrigens eine Parallele zu Wassermann zu erkennen. Gegen Stanleys eigenes Verschweigen des Erotischen und Sexuellen betont Wassermann: »wir, wir Neugierigen und Schonungslosen einer neuen Ära, wir wollen sehen, greifen, wissen, das Außen und das Innen« (Wassermann, Bula Matari, S. 229). Zweig, Marie Antoinette, S. 29. Ein Faksimilenachdruck der 14. Aufl. von 1902 liegt vor in: Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. Mit Beiträgen von Georges Batailles, Werner Brede, […]. München: Matthes & Seitz 1997, vgl. bes. die Einleitung (»Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens«) sowie etwa die Beispiele zur Heilung von Sexualstörungen (zu denen bei v. Krafft-Ebing noch die homosexuelle Betätigung gehört) durch Beseitigung der Phimose, S. 345f. Zur Problematik sexueller Frustration der Frau in der Ehe durch »sexuelle Unfähigkeit oder mangelndes sexuelles Interesse des Ehepartners« ergeben sich Parallelen zu: Kronfeld, Lehrbuch der Charakterkunde. Berlin: Julius Springer 1932, S. 330–332.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Das psychologische Einfühlungsvermögen des Biographen beruht dabei auf einem laienpsychologischen Wissen; mit rhetorischem Geschick versteht es Zweig, die charakterliche Deutung wahrscheinlich zu machen. Die sogenannte Kompliziertheit des seelischen Bildes der biographierten Person ergibt sich wesentlich daraus, daß Erklärungsebenen für die Biographie herangezogen werden, welche in der traditionellen Biographik kaum eine tragende Bedeutung für die Darstellung erreichten. Marie Antoinette erscheint so zunächst als ein Opfer einer zu strengen Hofetikette und einer wenig pragmatisch ausgerichteten Erziehung am Wiener Hof; wesentlich bestimmt wird sie durch ihre – teils angeborenen – Charaktereigenschaften wie »Leichtfertigkeit, Verspieltheit, Zerfahrenheit«,156 welche durch die unerfülle Sexualität noch verstärkt werden. Erst in der allmählichen Überwindung der Erziehungslasten und im Prozeß der sexuellen und psychisch-charakterlichen Reifung werden – angestoßen durch die äußeren schicksalhaften Ereignisse der Geschichte – die negativen Eigenschaften überwunden. Marie Antoinette reift im eigenen Untergang zu einer Heroin des Charakters. Mit dieser Darstellung der Reifung im Leiden steht Zweig noch ganz in der Tradition der moraldidaktischen Schriften von Smiles, der in seinem Werk Charakter die erziehende Wirkung von Niederlage und Leid betont: »Wäre das Leiden nicht, so würde bei vielen Menschen der beste Teil ihrer Natur in einem tiefen Schlafe liegen.«157 Dabei erweist sich das Bemühen um die Kompliziertheit des seelischen Bildes vor allem als eine Konzentration auf den Einzelmenschen, ein Absehen von den weitläufigeren sozialen, historischen Einflüssen, die von Zweig auch eher als illustrative Ausschmückung in die Biographie der Marie Antoinette eingeführt werden. Geschichte erscheint so als ein Naturkatastrophen ähnliches Schicksal, nicht als von politischen, ökonomischen und sozialen Faktoren bestimmtes Ereignisgefüge.158 Schiller (Jakob Saul) Marmorek (1880–1943), der Zweigs Biographie für die Wiener sozialdemokratische Monatsschrift Der Kampf rezensierte, warf dem Biographen entsprechend vor, diese Konzentration auf den Charakter habe Zweig »in ein gegenrevolutionäres Fahrwasser« geführt: »Auch ein Dichter müßte, so meint man, heutigen Tages einen Hauch materialistischer Geschichtserfassung in sich aufgenommen haben, um nicht die Französische Revolution hauptsächlich von den männlichen Fähigkeiten des Kö———————— 156 157 158
Zweig, Marie Antoinette, S. 18. Smiles, Der Charakter, dt. 1884, S. 505. So bereits: Hans Dahlke, Geschichtsroman und Literaturkritik im Exil. Berlin u. Weimar: Aufbau 1976, S. 175–177 (Dahlke sieht hier eine Verbindung zu Carlyle); Scheuer, Biographie, S. 198; Kurt Böttcher u. Jewgenij I. Netscheporuk, Stefan Zweig. In: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Einzeldarstellungen Hg. von Horst Haase u. Antal Mádl. Berlin: Volk und Wissen 1988, S. 164–187, 792–797, hier S. 172f.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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nigs Ludwig XVI. abhängig zu machen.«159 Zweig wirft er vor, daß er von der Biographierten zu sehr fasziniert gewesen sei und darum die historische Betrachtung vernachlässigt habe, aber auch, daß er einem an erotischen Details interessierten bürgerlichen Publikum zugeschrieben habe:160 Statistische Daten, und wären sie auch nur den veralteten Ausführungen Taines und Alexis de Tocquevilles entnommen, hätten vielleicht die Masse mittlerer Charaktere, die in den überaus lebendigen, pikanten, psychologischen Erörterungen Stephan Zweigs Belehrung und Genuß findet, in der gespannten Lektüre aufgehalten, sie hätten aber viel zum gerechteren Verständnis des geschichtlichen Dramas beigetragen.
Beiden Kritikpunkten, Konzentration auf das Einzelschicksal und Deutung der Einzelpersönlichkeit von der charakterlichen Disposition bei weitgehender Rücknahme des Historischen einerseits und eine am Publikumserfolg orientierte Rhetorik161 andererseits, ist kaum zu widersprechen. Gerade in der Auffassung vom Heroischen erweist sich diese biographische Tendenz und zeigt sich deren rhetorisch-erzählerische Gestaltung. Stefan Zweigs Biographie Marie Antoinette widmet sich nicht einer im traditionellen Verständnis heroischen Gestalt; der Eindruck, Zweig habe ———————— 159
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Schiller Marmorek, Zwei Bücher über die Französische Revolution. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 26 (1933), S. 418–421, hier S. 420a. – Schiller Marmorek nimmt hier die Kritik von Georg Lukács an der ‘biographischen Belletristik’ vorweg. Vgl. G. Lukács, Der historische Roman. Berlin: Aufbau 1955 (verfaßt 1936/37), hier S. 333f.; Lukács beschäftigt sich in seiner Studie unter Zweigs Biographien nur mit »Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam«. Marmorek, Zwei Bücher, S. 420a. – Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Böttcher u. Netscheporuk (Stefan Zweig, S. 174): »Gerade diese unverbundene Mischung aus auf geschichtlichen Verallgemeinerung zielenden Versatzstücken und psychologischer Sezierkunst kam jenen breiten Schichten des kultur- und bildungsbeflissenen liberalen Bürgertums entgegen, denen es weniger um wirkliche Geschichtserkenntnis und Gegenwartsbewältigung ging, sondern angesichts der eigenen verunsicherten sozialen Existenz weit mehr um genußvoll zu lesende Modelle möglicher moralischer Identifikation oder Distanzierung, Bestätigung oder Verdrängung eigener Machtlosigkeit und Ausgeliefertseins.« – Tatsächlich stellt sich die Frage, inwieweit Zweigs Biographien, wenn sie tatsächlich auf die Krisenerfahrungen bzw. das Krisengefühl bürgerlicher Schichten reagieren, in der Lage sind, diesen gegenüber eine Stabilisierungs- und Trostfunktion zu erfüllen. Gerade im Blick auf Zweigs »Marie Antoinette« liegt es nahe, diese Trostfunktion in dem moralischen Triumph des Individuums zu sehen, der jedoch stets durch die Tragik und das unausweichliche Scheitern Marie Antoinettes in Frage gestellt ist, wodurch letztlich eine eher pessimistische Sicht Zweigs erkennbar wird, welche dann allerdings die Stabilisierungsfunktion selbst beeinträchtigt. Gerhart Wolff betont, einige sprachlich-stilistische Besonderheiten in Zweigs Stil gehörten zum Stil der Autoren in »Gartenlaube« und »Daheim« und erfüllten so ein ‘mittleres bildungsbürgerliches Anspruchsniveau’. Vgl.: Gerhart Wolff: Metaphorischer Sprachgebrauch in Stefan Zweigs historischen Biographien. In: Wörter. Schätze, Fugen und Fächer des Wissens. Festgabe für Theodor Lewandowski zum 60.Geburtstag. Hg. von Hugo Aust. Tübingen: Narr 1987 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 316), S.207–220, hier S.216f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
mit der Wahl der französischen Königin explizit der populären Biographik alternative Wege zur Heroisierung geschichtlicher Einzelpersönlichkeiten gewiesen, wäre jedoch falsch. Im Gegenteil, trägt schon die französische Königin in ihrem Scheitern tragisch-heroische Züge, so zeigt sich bereits ex negativo durch das explizite Fehlen des Heros in der geschichtlich so bedeutsamen Situation der Französischen Revolution, daß Zweig in seiner theatralischen Geschichtssicht den Heros als Akteur durchaus zuläßt. Angesichts der Handlungsunfähigkeit des französischen Königs skizziert Zweig das Gegenbild des Heros: »nur der seherische Augenblick des Genies kann in der Gegenwart das Rettende und Richtige erkennen, nur heroisch vorstoßende Tat kann die wilden und verworren andrängenden Kräfte des Elementaren bändigen.«162 Noch 1936 vertrat Zweig in einer Besprechung des Romans Eté 1914 von Roger Martin du Gard die Auffassung, der I. Weltkrieg hätte durch das pazifistische Engagement heroischer Einzelpersönlichkeiten verhindert werden können: »[…] wären in den einzelnen Ländern fünfzig Menschen von der Entschlossenheit, wie sie Roger Martin du Gard in seinem Helden Jaques Thibault darstellt, aufgestanden, so hätten diese heroischen Einzelnen diese Weltkatastrophe vielleicht unmöglich gemacht.«163 Es zeigt sich, daß die als ein für den Menschen unabwendbares Schicksal gestaltete Geschichte, welche zu einer pessimistischen Sicht auf die Handlungsmöglichkeiten des Individuums führt, bei Zweig – wie bei anderen modernen Biographen auch – durch einen nahezu grotesk anmutenden Glauben an die Handlungsmächtigkeit heroischer Einzelpersönlichkeiten kompensiert wird. In einigen seiner biographischen Texte wird die Orientierung an klassischen Heldenmustern und die Bewunderung für Tatmenschen, die Zweig mit einer eigenen Rhetorik des Heroischen erzählerisch gestaltet, deutlich formuliert. In seinen historischen Miniaturen Sternstunden der Menschheit (1927) wird durchaus nicht nur der historische Kulminationspunkt, die Dramatik der Ereignisse vergegenwärtigt, sondern teilweise auch die herausragende Persönlichkeit. Zu denken wäre etwa an die kurze biographische Erzählung Der Kampf um den Südpol,164 in welcher das Scheitern des Kapitäns ———————— 162 163 164
Zweig, Marie Antoinette, S. 235. Stefan Zweig, 1914 und heute. Anläßlich des Romans von Roger Martin du Gard »Eté 1914«. 1936. In: Zweig, Zeit und Welt, S. 353–362, hier S. 359. Stefan Zweig, Der Kampf um den Südpol. In: Zweig: Sternstunden, S. 221–241. – Die ursprüngliche Ausgabe der »Sternstunden« von 1927 enthielt nur fünf historische Miniaturen; erst 1943 wurden diese um sieben weitere zu einer neuen und in dieser Form seither publizierten Ausgabe ergänzt. Die ursprgl. Ausgabe enthielt: »Die Weltminute von Waterloo«, »Die Marienbader Elegie«, »Die Entdeckung Eldorados«, »Heroischer Augenblick« sowie die hier behandelte Miniatur »Der Kampf um den Südpol«, zu welcher eine Vorfassung aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg existiert.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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Scott dargestellt wird. Zweig zeichnet zunächst das Bild der für ihn gegenwärtigen Welt. Die Zeit der großen Reiseabenteuer und geographischen Entdeckungen ist vorbei. Er erinnert an den langen Weg, den der Mensch bis zur Eroberung des gesamten Erdballs – vorgestellt als Körper einer Jungfrau – und selbst der Pole – »das Rückgrat ihres Leibs« – zurückgelegt hat, und er gedenkt der letzten Abenteuer, die noch zu bestehen sind: der Luftfahrt und der Erkundung der Tiefsee. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts seien die Pole noch unerforscht gewesen, behütet durch »Barren von Eis«. Bereits in der Beschreibung dieser verschlossenen Natur kündigt sich die heroische Tat an, denn Zweig nähert seine Prosa dem Rhythmus des Heldenepos in Hexametern an: »Flüchtig nur darf selbst die Sonne diese verschlossene Sphäre schauen, und niemals ein Menschenblick.«165 Nachdem die heroische Situation einführend gezeichnet ist, wechselt Zweig die Perspektive und die Sprache. Jetzt wird Scott in den Mittelpunkt gerückt. Erzählt wird im Stil der Reportage: knapp und unmittelbar. Nicht selten ist die Ellipse des Prädikats etwa in den Beschreibungen von Scott oder des Expeditionsschiffs. Die Satzkonstruktionen sind schlicht; häufig werden Parallelismen gesetzt. Scott wird in kürzester Form, fast tabellarisch skizziert. Die Erscheinung des Helden ist geradezu unheroisch: »Keine sonderliche Conduite deutet den Helden an, den Heros.«166 Die staunenswerte Tat geschieht hier-und-jetzt. Berichtet wird im Präsens,167 Epitheta werden sparsam und effektvoll eingesetzt, Kommen———————— 165 166 167
Zweig, Der Kampf um den Südpol, S. 223. Ebd., S. 224. Auf die Bedeutung des Präsens zur Eröffnung eines Möglichkeitshorizontes in einem Geschehen, dessen Verlauf und Ziel dem Leser bereits bekannt ist, verweist David Turner: »Zweig’s consistent use of the present tense in his historical miniatures is calculated to dupe his readers into believing they are not dealing with the established, unalterable past (‘die geschehene Geschichte’ [vgl.: Cornelius in Th. Manns »Unordnung und frühes Leid«]), which is dead as well as safe, but with history as it happens, history which is unpredictable and alive with possibilities.« David Turner, History as Popular Story. On the Rhetoric of Stefan Zweig’s »Sternstunden der Menschheit«. In: The Modern Language Review 84 (1989), S. 393–405, hier S. 397. Turner gibt zahlreiche Hinweise zur erzählerischen Rhetorik Zweigs. – Kritik am Präsensgebrauch in Stefan Zweigs Biographie »Joseph Fouché« vor dem Hintergrund der Vergegenwärtigung des Vergangenen hat Ernst Weiß in einer Rezension geäußert: »Das Heute ist ein anderes. Das Heute, der September 1929, ist so ganz anders geartet, daß man das Präsens in diesem Buch nicht gern erträgt.« Ernst Weiß, Ein Buch über Napoleons Polizeiminister. Stefan Zweig, »Joseph Fouché«. [1929.] In: Ders., Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 365–372, hier S. 372. – In der Narratologie ist dem Präsens als Erzähltempus wenig Beachtung geschenkt worden. Petersen weist darauf hin, daß seit der Wende zum 20. Jh. vor allem in Mischformen das Präsens häufiger gebraucht wurde. Klabunds Roman »Rasputin« (1929) hält Petersen für den ersten reinen Präsensroman. Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart u. Weimar: Beck 1993, S. 24.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
tierungen sind selten und unterstützen den Schein der Unmittelbarkeit: »man spürt«,168 »spürt man«.169 Diese Formulierung »man spürt« erhält ihre authentische Wirkung durch die suggerierte physische Präsenz des Biographierten, die unmittelbarer auf den Biographen und den Leser der Biographie einwirken soll, als es die Mittelbarkeit historischer Dokumente sonst erlaubte. Auch Jakob Wassermann, der in vielen Details des Zweigschen Stils wiederzuerkennen ist, benutzt die Formulierung, etwa um die psychologische Wahrheit der Figurencharakterisierung zu erhärten: »Man spürt einen Menschen, der im Gefühl einer Sendung geradezu verbrennt, aber er weiß noch nicht die Richtung und sieht noch keinen Weg.«170 Die physische Gegenwart, die Erzähler und Leser ‘spüren’, unterstreicht den Eindruck der Offenheit des Geschehnisverlaufs, an welchem der Erzähler und mit ihm der Leser fast greifbar: fast mit der Möglichkeit einzugreifen, teilhat. Der von national-konservativen Kritikern als modisch bemängelte Reportagestil171 Zweigs wird in dieser historischen Miniatur zudem durch die unmittelbare emotionale Reaktion unterstrichen: »aber Verhängnis!«172 In diversen Wendungen wird die Dramatik des Augenblicks in einer rhetorischen »Gipfeltechnik«173 herausgestrichen: »mit einem Male weiß nun Scott«,174 »nun fährt die Angst bis in die Worte hinein«,175 »plötzlich erhebt sich Oates«.176 Überraschende, adversative Wendungen verstärken diese Wirkung noch und spiegeln Hoffnung oder Enttäuschung: »aber dann plötzlich ein neuer sieghafter Ton!«,177 »aber nein!«178 Der Held wird zum Helden durch die heroische Situation und nicht durch seine eigene äußere Erscheinung. Scott ist ein Durchschnittsengländer, sein Lebenslauf ist »identisch mit der Rangliste«,179 seine Physio———————— 168 169 170 171
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Zweig, Der Kampf um den Südpol, S. 225, 236. Ebd., S. 225. Wassermann, Christoph Columbus, S. 23. Reportagestil: Martinez u. Scheffel vergleichen den ‘Typus des gleichzeitigen Erzählens’ mit der »Erzählung eines Radioreporters«, freilich ohne sich der Tradition dieses Erzählens in der Biographik und Erzählung bewußt zu sein, die keineswegs auf eine Erfindung des ‘nouveau roman’ zurückzuführen ist. Martinez u. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 70f. – Kritik: Wolf Bierotte spricht in einer kritischen Besprechung von Zweigs »Drei Dichter ihres Lebens« (1928) von der »Sprache der Flug- und Rennplätze«. Wolf Bierotte, »Drei Dichter ihres Lebens«. Anmerkungen über die Sprache. In: Die schöne Literatur 29 (1928), S. 520–523. Zweig, Der Kampf um den Südpol, S. 236. Vgl.: Wolff, Metaphorischer Sprachgebrauch, S. 213. Zweig, Der Kampf um den Südpol, S. 228. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237. Ebd., S. 232. Ebd., S. 240. Ebd., S. 224.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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gnomie drückt Pflichterfüllung aus. Er ist ein »Fanatiker der Sachlichkeit«.180 Den besonderen Zug enthüllt erst die genaue Beobachtung des Charakters: »Stahlhart dieser Wille, das spürt man schon vor der Tat.« 181 Wichtiger als die Tat ist also der heroische Charakter. Der Held ist ein Held, weil er dem Typus des Heroen angehört. Das Kennzeichen der Helden Stefan Zweigs ist genau dies: ihr heroischer Charakter, der sich in einer heroischen Situation erweist. Dies gilt für Scott: Die verschlossene Eiswelt stellt die heroische Umgebung dar, in welcher der Wettlauf zwischen Amundsen und Scott sich zuspitzt. Der heroische Charakter von Scott erweist sich in der Verkörperung heroischer Tugenden: in seiner Willensstärke und in der Fähigkeit über das eigene Schicksal hinauszudenken.182 Erfolg oder Scheitern sind für die heroische Qualität bedeutungslos. In beiden Situationen muß sich der Held erweisen. Entsprechend lenkt Zweig in seiner historischen Miniatur die Aufmerksamkeit des Lesers – dem die Ereignisse vertraut sind – nicht auf den Wettlauf mit Amundsen. Dieser ist im Bewußtsein des Lesers immer gegenwärtig, aber er wird in Scotts Tagebüchern, denen der Erzählgang streckenweise folgt, nur »ein einziges Mal« erwähnt.183 Zweig stellt den menschlichen Heroismus in das Zentrum der Erzählung, nicht den historischen Sieg. Er schildert nicht Amundsens Erfolg, sondern die schreckliche Stunde, da Scott als zweiter den Pol erreicht, und den Rückweg von dort, den Scott nicht überlebt. Dennoch ist Scott ein Held, der einen »heroischen Tod[ ]« stirbt.184 Auf diese Weise zeigt sich erneut ein wichtiger Aspekt des Heroischen in der modernen Biographik. Nicht eine physische Konstitution, nicht ein geheimes Auserwähltsein, nicht einmal Erfolg und geschichtliche Wirkung bilden die Kriterien für die Bestimmung des Heroischen, sondern die menschliche Größe des Charakters in einer heroisierenden Schicksalssituation, mitunter einer Schicksalsstunde. Gleichwohl bleibt – in Übereinstimmung mit den auch bei Zweig regelmäßig erkennbaren Kerngedanken der Ethik von Smiles – der Held der allein handlungsmächtige, auf der Basis seiner heroischen Charakterqualitäten erfolgreich oder erfolglos gegen das Schicksal ankämpfende außerordentliche Mensch: »Jedes erhabene Streben ist – wenn es auch nicht sein Ziel erreicht – ein Markstein der menschlichen Energie.«185 ———————— 180 181 182
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Ebd., S. 225. Ebd., S. 225. »Allein im eisigsten Schweigen, das noch nie die Stimme eines Menschen durchatmet, wird ihm die Brüderschaft zu seiner Nation, zur ganzen Menschheit heroisch bewußt.« Ebd., S. 238. Ebd., S. 228. Ebd., S. 241. Smiles, Pflicht, S. VIII.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Scott ist nur einer unter vielen weiteren heroischen Gestalten in Zweigs historisch-biographischem Werk, welches charakterlichen Heroismus ebenso kennt wie traditionelles oder geistiges Tatheldentum. So zeigt sich, daß Freuds Begründung der Psychoanalyse und besonders Freuds Thematisierung der Sexualität in Zweigs Essay Sigmund Freud als eine der geschichtsbewegenden heroischen Taten gefeiert wird. Doch diese Taten werden erst heroisch als Taten heroischer Charaktere, und in diesem Sinne wird Freud zum Helden stilisiert. Auch er verkörpert das Ideal heroischer Tugenden, welches Zweig an seinen heroischen Gestalten interessiert. Der Psychologe wird dargestellt als »ein Mann mit schöpferischem Blick«,186 seine Leistung wird als »herrliche Tat eines einzelnen Menschen« gewürdigt.187 Das Gewicht liegt auf einigen zentralen Charakterzügen des Heroischen oder auf Tugenden, die das Heroische ausmachen sollen: Mut, Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit, vor allem rücksichtslose Entschlossenheit.188 Wo es im Geistigen Recht und Rechthaben gilt, kennt Freud keine Rücksicht, keinen Rückhalt, kein Paktieren und keinen Pardon: wie Jahve verzeiht er einem lauen Zweifler noch weniger als einem Abtrünnigen. Halbwahrscheinlichkeiten sind ihm wertlos, ihn lockt nur die reine, die hundertprozentige Wahrheit.
Stefan Zweigs Held Freud taugt zum klassischen Heroen, den nur die Kraft des Willens forttreibt und der sich nahezu gewalttätig gegen die bestehende Ordnung stemmt, um Neues zu schaffen: »Freud, der Unhold und allen Halbheiten abholde«.189 Zweig greift zur Beschreibung Freuds auf charakterologische und physiognomische Populärvorstellungen zurück; »das harte Kinn«, »eine bittere Mißtrauensfalte« und der »Pfeilschützenblick« enthüllen die Konstitution des Tatmenschen.190 In dieser biographischen Darstellung wird der kulturgeschichtliche Wandel – die veränderte Ansicht von der psychischen Konstitution des Menschen – zur Einzeltat des großen Individuums Freud, welches den Schleier der Prüderie »wie ein Nordwind scharf und schneidend«191 in Stücke reißt. In diesem scheinbaren Widerspruch zwischen heroischer Physiognomie und geistesgeschichtlicher Leistung liegt die erzählerische Aufgabe, die sich Zweig hier gestellt hat: die Parallelisierung und Identifizierung der heroischen Charaktere, seien sie nun solche der übermenschlichen physischen Leistung oder der geistigen Revolte. In beiden Fällen wird der Heroismus – das »Heldische […] in einer einzelnen menschlichen See———————— 186 187 188 189 190 191
Zweig, Sigmund Freud, S. 287. Ebd., S. 288. Ebd., S. 295. Ebd., S. 349. Ebd., S. 294f. Ebd., S. 289.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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le«192 – zu einem psychologischen Phänomen jenseits der konkreten Ziele und Erfolge des Handelns. 4.1.4. Charaktertypologie gegen Geschichtlichkeit – Zweigs »Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam« Als eines der zentralen Probleme der modernen Biographik hat Helmut Scheuer das Verhältnis von Individualität und Typik beschrieben. Entgegen einer »‘Seelenkunde’, der es doch gerade um das Individuelle gehen sollte,« zeige sich in den Texten eine Tendenz zur »Entindividualisierung« der dargestellten Personen.193 Auch wenn der von Scheuer postulierte Widerspruch sich schließlich nur als ein scheinbarer erweist, da weder die psychologische noch die moderne Biographik in letzter Konsequenz auf die Beschreibung des Individuums und die Darstellung der Individualität zielen, ist damit eine wichtige Beobachtung gerade zur modernen Biographik verbunden. Denn gerade die modernen Biographen sehen ihre Aufgabe darin, gegenwartsrelevante, symbolische Muster, Typen oder Gestalten menschlicher Lebensläufe, Verhaltensweisen und Charaktere aufzustellen. Wassermanns Ausführungen zur ‘Gestalt’ belegen dies ebenso wie die wiederkehrenden typologisierenden Beschreibungen in Stefan Zweigs Biographien. Da die Qualitäten der heroischen Charaktere letztlich als ahistorisch und typologisch verstanden werden, liegt auch eine Übertragbarkeit in die Gegenwart des Biographen nahe. Dies zeigte sich schon bei der Biographie Marie Antoinette, in welcher das Schicksal der Biographierten in der Französischen Revolution mit dem Schicksal des Menschen in den Krisenzeiten der Gegenwart des Biographen parallelisiert wird. Im extremen Fall der parallelisierenden Biographik kann die gesamte historische Darstellung sich einer aktualisierenden Lektüre öffnen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür bietet Stefan Zweigs kurze Biographie Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934),194 in welcher er Erasmus zwar als Symbol und Ideal des Humanismus vorführt, aber zugleich Fährten für eine Übertragbarkeit in die eigene Zeit legt. Als Zweig sein Werk im Sommer 1934 erstmals publizierte, erschien es in einer verhältnismäßig geringen, limitierten Auflage von 700 Exem———————— 192
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Stefan Zweig, Geschichtsschreibung von morgen. Vortrag. Amerika. Vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges. In: Zweig, Zeit und Welt, S. 297–322, hier S. 320. (Auch gedruckt in: Ders., Die Monotonisierung der Welt. Aufsätze und Vorträge. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, Bibliothek Suhrkamp 493, S. 16–36.) Scheuer, Biographie, S. 176–182, hier S. 176. Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Frankfurt/M.: Fischer 1981.
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plaren. Bald folgte eine weitere Auflage, und noch im Erscheinungsjahr wurden zwei englische, eine dänische, eine holländische und eine ungarische Übersetzung gedruckt. Ein Jahr darauf folgten die französische, italienische, rumänische, schwedische und spanische Ausgabe.195 In zahlreichen Rezensionen fand Zweigs Werk weitere, weltweite Beachtung.196 Anders als in den heroischen Biographien Zweigs (vgl. unten zu Magellan) eignet sich Erasmus kaum zur biographisch effektvollen Stilisierung zum Tatmenschen, denn »ein Mensch der Stille und der unablässigen Arbeit erschafft sich selten eine sinnliche Biographie«.197 Die Beschreibung des Gelehrten entspricht dem vollkommen. Wiederum greift Zweig dabei auf typologische, physiognomische und charakterologische – nicht aber auf eigentliche psychologische – Kategorien zurück. Erasmus erscheint als »der subtilste Typus des Literaten«198 und als Symbol und Ideal des Humanismus.199 Er hat »das Antlitz eines Menschen, der nicht im Leben lebt, sondern im Denken«,200 dessen Wege und charakteristischen Züge sich in den Eigenarten des Gesichtes spiegeln: »Das Denken tritt damit geradezu körperlich in Erscheinung.«201 Dieser Geistmensch erscheint als schwächliche, hinfällige Gestalt. Er besitzt geradezu ein »Nicht-Temperament«.202 Einen hervorstechenden negativen Charakterzug benennt Zweig ebenfalls, die entscheidungslose »Unparteilichkeit«. 203 So entsteht das Bild eines Menschen, der »ein schwächlicher Hypochondricus« im Leben ist, aber doch »ein Riese der Arbeit«.204 Dieser Erasmus von Rotterdam symbolisiert einen ‘humanistischen Optimismus’, der der neuhumanistischen, altliberalen Haltung entspricht, wie sie Zweig selbst vertrat. Erasmus wird zum »Europäer« und »Friedensfreund« sowie als »Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals« stilisiert.205 Schulung der Vernunft und moralische Erziehung der Menschheit seien die Ziele des historischen, durch die Entwicklung der Gegenwart widerlegten Humanismus gewesen: »der schöne, tragische Irrtum« von der sittlichen Bildung der Menschen.206 ———————— 195 196
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Vgl. Klawitter, Stefan Zweig. An International Bibliography, S. 281–287. Vgl.: Klaus Heydemann, Das Beispiel des Erasmus. Stefan Zweigs Einstellung zur Politik. In: Literatur und Kritik 17 (1982), Heft 169/170, S. 24–39; Stefan Zweig. An International Bibliography, S. 768f. Zweig, Triumph und Tragik, S. 9. Ebd., S. 41. Ebd., S. 9, 81ff. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 9. Ebd., S. 13.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
325
Erasmus, der dieses Ideal symbolisiert habe, sei zum Führer seiner Generation und zur treibenden Gestalt seiner Zeit geworden: »zum erstenmal – rühmen wir diese Tat! – seit dem Einsturz der römischen Zivilisation war durch die Gelehrtenrepublik des Erasmus [nota bene!] wieder eine europäische Kultur im Werden […].«207 Auch in dieser biographischen Studie wird wieder die Einzelpersönlichkeit herausgestellt. Auch dem Geistmenschen Erasmus haftet der Charakter des Heroischen an.208 Allerdings bleibt der moralische »Triumph« der Gelehrtenrepublik an die realpolitische »Tragik« ihrer Unerreichbarkeit geknüpft. Diese ‘Tragik’ vollzieht sich in der antagonistischen Grundstruktur des Textes. Wiederum hat Zweig den geschichtlichen Hintergrund der Biographie wie in einem Drama auf wenige Handlungsträger reduziert. Die dramatische Gestaltungskraft der Geschichte selbst – so erläutert Zweig an anderem Ort – treibe die großen Augenblicke hervor, in denen der historisch bedeutende einzelne auf seinen »großen Gegenspieler« treffe.209 Die historische Tragödie vom Scheitern des Humanismus wird in die Konstellation Erasmus und Luther gebannt. Bereits auf den ersten Seiten wird der Konflikt angedeutet. Nach der eingehenden Charakterisierung des Erasmus wird antithetisch »der große Gegner« beschrieben: »selten hat das Weltschicksal zwei Menschen charakterologisch und körperlich so sehr zu vollkommenem Kontrast herausgearbeitet wie Erasmus und Luther.«210 – Was in der Geschichte selten sein mag, ist es in der Biographik freilich nicht. Denn die Technik der antithetischen Charakterbestimmung in der Biographie durch Kontrastierung mit einer ausgearbeiteten Nebenfigur gehört zu den wichtigsten Charakterisierungstechniken der modernen Biographie. Jakob Wassermann nutzt sie in Bula Matari zur Verdeutlichung von Stanleys Charakter, dem er Livingstone gegenüberstellt; Stefan Zweig setzt das nämliche Verfahren in Marie Antoinette ein, um durch den Kontrast zwischen den königlichen Eheleuten den Charakter der Königin zu profilieren. Erasmus ist gekennzeichnet durch seine »Konzilianz«, Luther durch seinen »Fanatismus«. Erasmus wird von der »Vernunft« geleitet, Luther von der »Leidenschaft« beherrscht. Erasmus vertritt die kultivierte Welt, Luther die »Urkraft«. In den Kontrahenten stehen sich »Weltbürgertum« und »Nationalismus«, »Evolution« und »Revolution« gegenüber.211 Dem ———————— 207 208
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Ebd., S. 14. Hermann Hesse teilte diese Auffassung und bezeichnete Erasmus in seiner Rezension von Zweigs Buch als eine »vorbildliche Gestalt eines geistigen Helden«. Hermann Hesse, Schriften zur Literatur. Bd. 2: Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 476f, hier S. 477. Zweig, Geschichte als Dichterin, S. 343. Zweig, Triumph und Tragik, S. 103. Ebd., S. 103.
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humanistischen »Geistmenschen« begegnet ein tatkräftiger »Erdenkloß«.212 Sucht Erasmus und »alles Erasmische« nach »Ruhe und Befriedung« so liebt Luther und »alles Lutherische« »Hochspannung und Erschütterung«.213 Dem »‘Skeptikus’« steht der »‘Pater extaticus’« gegenüber,214 dem Humanen als höchstem Wert das Religiöse.215 Zweig greift einerseits auf ein bekanntes Negativbild Luthers zurück und benutzt es ohne jede kritische Distanzierung.216 Andererseits zeigt sich, daß Zweig gerade die in der positiven Luthereinschätzung anderer Autoren nicht ungewöhnliche Abgrenzung des Tatmenschen Luther vom vermittelnden Erasmus übernimmt. So heißt es bei dem Freiburger Historiker Gerhard Ritter (1888–1967), dessen Luther-Biographik unten eingehender betrachtet wird: »Seine Methode war einmal die des Kampfes, nicht der ‘erasmische’ Weg der Vermittlung, des Kompromisses […].«217 – Zweig ändert gegenüber dieser Position nur die Vorzeichen ihrer Bewertung. Gerade die Reduktion des historischen Kontextes auf eine antithetische Figurenkonstellation und die klischeehafte Überzeichnung des Gegensatzes mit deutlich manichäischer Struktur, gerade also dieser fast zeitlose Konflikt zwischen Humanität und Fanatismus gewährt die Übertragbarkeit des historischen Stoffes auf die Gegenwart des Biographen. 218 Erasmus wendet sich gegen jeden Fanatismus: gegen »das Erbübel unserer Zeit«.219 Stefan Zweig läßt es an Deutlichkeit nicht fehlen: »Immer aber, wenn sich das Nationale mit dem Sozialen in der Glut religiöser Extase bindet, entstehen jene gewaltigen Erdstöße, die das Weltall erschüttern […].«220 Die Übertragungsleistung des Lesers, für deren Aktivierung es solcher Signale kaum mehr bedarf, wird in Zweigs Biographie selbst vorgeführt, indem er auf die verschlüsselte Zeitkritik hinweist, die Erasmus in seinem »Lob der Torheit« gegeben habe. Dies ist fraglos als »eine verschlüsselte Leseanweisung für sein eigenes Buch« zu lesen,221 denn ebensowenig wie die Reden der Dummheit töricht sind, ist das Erzählen des ———————— 212 213 214 215 216
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Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. Ebd., S. 114. Vgl. auch: Ferdinand van Ingen, Die Erasmus-Luther-Konstellation bei Stefan Zweig und Thomas Mann. In: Ders. u. Gerd Labroisse (Hgg.), Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Symposion an der Freien Universität Amsterdam. Amsterdam: Rodopi 1984 (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 19), S. 91–117, hier 100. Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Symbol. München: F. Bruckmann 1925, S. 97. So bereits: Heydemann, Das Beispiel des Erasmus, S. 28; Helmut Koopmann, Humanist unter Waffen. Über Stefan Zweigs »Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam« (1935). In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Romane von gestern – heute gelesen. Bd. 3: 1933– 1945. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 76–82, hier 79. Zweig, Triumph und Tragik, S. 10. Meine Hervorhebung. Ebd., S. 124. Heydemann, Das Beispiel des Erasmus, S. 28.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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Biographen hier noch historisch. Zweig bedient sich vielmehr einer literarischen Analogiebildung, die im Blick auf die Lutherfeiern im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ihr Vorbild fand:222 In Erasmus’ Gegenspieler Luther waren und sind für den Leser unschwer – wenn auch »ohne eigentliches Fingerzeigen« (Rudolf Binding) – 223 Züge des Nationalsozialisten Hitler auszumachen. Die grundsätzlich zutreffende Feststellung Kurt Alands, Zweig habe »es sich beim Studium Luthers […] zu leicht gemacht«, verfehlt freilich die Zielrichtung des Romans.224 Gerade der Gegenwartsbezug mußte der historischen Detailgenauigkeit Grenzen setzen. Zweigs Luther stellt eine Gegenwartsmetapher dar, und Zweigs Werk ist kein Versuch, die theologischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts darzustellen. Zweigs Zeitgenossen haben nicht nur diese Übertragungsleistung vollzogen; sie erkannten darüber hinaus in der pazifistischen Neutralität des Humanisten Erasmus ein Bekenntnis des Autors zum eigenen Rückzug aus der politischen Parteinahme.225 Wenngleich die Neutralität des Erasmus durchaus kritisch gezeichnet ist, da sie die Handlungsunfähigkeit des Geistmenschen nach sich zieht, wird die humane Haltung als ein Ideal im Wartesaal der Geschichte beschrieben, welches sich temporär im Rückzug befindet, aber nicht dauerhaft besiegt ist. Klaus Mann erkannte: »Oft sehr deutliche Rechtfertigungsversuche der eigenen schwankenden Haltung – durch Verklärung (kritische, dezente Verklärung) des Erasmus.«226 Mit besonderer Schärfe hat Ludwig Marcuse, selbst Biograph moderner Prägung, auf Zweigs Buch mit einer Rezension unter dem Titel Erasmus von Wien (1934) reagiert.227 Ausdrücklich lobt der Kritiker zwar die Konstruktion des Textes, in dem eine »Episode von stärkster Dramatik« geschildert werde, die Zweig »vorzüglich herausgearbeitet« habe.228 Es ist also nicht das Konzept des biographischen Textes, welches der Schriftstellerkollege moniert. Vielmehr entzündet sich seine Kritik an Zweigs Be———————— 222 223 224 225
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Im Jahr 1933 wurde der 450. Geburtstag des Reformators nicht ohne Versuche der Vereinnahmung begangen. Vgl.: v. Ingen, Die Erasmus-Luther-Konstellation, S. 102. Rudolf G. Binding, Brief an Stefan Zweig vom 03.08.1935. In: Ders., Die Briefe. Hg. von Ludwig F. Barthel. Hamburg 1957, S. 297f. Vgl. Kurt Aland, Martin Luther in der modernen Literatur. Ein kritischer Dokumentarbericht. Witten u. Berlin: Eckart Vlg. 1973, S. 430–446, hier S. 443. Vgl. zusammenfassend zu den Reaktionen a.: Joseph Strelka, Stefan Zweig. Freier Geist der Menschlichkeit. Wien: Österr. Bundesverlag 1981, S. 80–94. – Strelka selbst sieht in der Erasmus-Gestalt »bis in Details ein Selbstbildnis Zweigs« (S. 80). Klaus Mann, Tagebucheintrag vom 25.07.1934. In: Ders., Tagebücher 1934–1935. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995 (rororo 13237), S. 43f. Ludwig Marcuse, Erasmus von Wien. In: Weinzierl, Triumph und Tragik, S. 104–107. Marcuse, Erasmus von Wien, S. 104.
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kenntnis. Neutralität sei damals wie heute zu kritisieren, in der Gegenwart stelle sie keine mögliche Position mehr dar: »Die Humanisten, die sich nicht einmischen, werden heute also eingemischt.«229 Noch deutlicher hat Georg Lukács – bei aller Bewunderung für den aufrechten Altliberalen Zweig – dessen Erasmus-Idealisierung kritisiert. Stefan Zweigs Werk, in welchem die Gestalt des großen Humanisten die Vernunftideale gegen den irrationalen Fanatismus vertrete, entspreche einem veralteten Humanismus der »Geistesaristokratie«, dessen problematischer Kern sich als »eine Unkenntnis des Volkes, ein Mißtrauen dem Volk gegenüber« zeige. Zweigs liberale Anschauungen »erhalten aber eine außerordentliche politische und weltanschauliche Bedeutung dadurch, daß sie von einem führenden deutschen antifaschistischen Humanisten zur Zeit der Hitlerdiktatur in Deutschland, zur Zeit des heroischen Befreiungskampfes des spanischen Volkes ausgesprochen werden«.230 Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Zweig auch in diesem Werk Geschichte auf die Handlung von Individuen begrenzt: Erasmus ist die letzte Stütze der Gelehrtenrepublik und Luther die Triebkraft der Reformation. Alle anderen Figuren werden als Nebenfiguren gehandelt; selbst Ulrich von Hutten und Philipp Melanchthon erscheinen nur als bedingungslose Helfer des Reformators. Dennoch steht letztlich nicht die individuelle historische Gestalt im Zentrum des Textes, sondern eine überindividuelle moralische Haltung, welche den identifikatorischen Akt der Selbstdarstellung Zweigs im Symbol des ‘Erasmus-Menschen’231 ermöglicht. Diese Verklammerung von Geschichte und Gegenwart über die Analogie darf jedoch nicht als eine Geschichtsauffassung mißverstanden werden, die auf Wiederkehr immer desgleichen angelegt ist.232 Dies wäre zu weit gegriffen, und Stefan Zweig hat sich selbst einer solchen Ge———————— 229 230
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Ebd., S. 106 Vgl. Lukács, Der historische Roman, S. 287ff., hier S. 290. – Vgl. auch: Ders., Der Kampf zwischen Liberalismus und Demokratie im Spiegel des historischen Romans der deutschen Antifaschisten. [1938.] In: Ders., Probleme des Realismus. Berlin: Aufbau 1955, 184–210, hier S. 187f., S. 196. Der Typus des ‘Erasmus-Menschen’ dient in sehr enger – aber nicht genannter – Anlehnung an Zweigs Erasmus-Bild noch Ralf Dahrendorf (*1929) als Identifikationsfigur. Dahrendorf abstrahiert eine spezifische Merkmalskonstellation und das Symbol der parteilosen Vernunft. In Lebensläufen von Raymond Aron, Isaiah Berlin oder Karl Popper zeige sich nicht nur eine erasmische Immunität gegen politischen Extremismus (Sozialismus, Nationalsozialismus), sondern auch die Hinwendung zu erasmischen Lebensräumen, die den Typus geographisch-politisch bezeichnen. »London hat offenkundig einen besonderen Ort im Leben und Denken der Erasmus-Menschen, angefangen bei ihrem Namenspatron.« (S. 1067.) Autoprojektion und Stilisierung zum Typus sind wie bei Zweig zu erkennen, wobei Dahrendorf besonders auf die – allerdings nicht kritiklos formulierte – Identifikation mit einem für den Erasmus-Menschen als typisch angesehenen Liberalismus zielt. Ralf Dahrendorf, Erasmus-Menschen. In: Merkur 53 (1999), S. 1063–1071. So: van Ingen, Die Erasmus-Luther Konstellation, S. 103.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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schichtsauffassung entgegengestellt: »sie wiederholt sich niemals«.233 Nicht die Wiederkehr der Geschichte, sondern charakterologische Konstanten und das unwandelbare Ideal geistiger Humanität ermöglichen die Analogie: Der Mensch in seiner psychischen und physischen Konstitution wird hier als ahistorisch gedacht, während sich die historischen Konstellationen fortwährend wandeln. Nirgends wie in seinem Erasmus hat Stefan Zweig – auch wenn er ohnehin »zu einem gewissen, gern auch rhetorisch überhöhten Schematismus neigt und eher Typen denn Individuen profiliert« (Koch) – 234 so deutlich die Reduktion des Historischen zugunsten der Darstellung einer überzeitlichen charakterlichen Disposition betrieben. Doch auch in den stärker geschichtlich ausgerichteten biographischen Studien wie den im vorhergehenden Kapitel behandelten Werken über Marie Antoinette und Scott oder auch in seiner späten heroischen Biographie Magellan bleibt die Betonung des einzelnen vor der Geschichte und die Betonung des Charakters vor dem äußeren Wirken stets präsent. Die heroische Beharrlichkeit eines Magellan oder Scott, aber auch eines Sigmund Freud und eines Erasmus sind nun – anders als bei C. F. Meyer – auch wichtiger als das letztliche Resultat ihres Handelns, welches nicht selten gerade im Scheitern besteht. Zweig beobachtet die heroische Haltung seiner biographierten Gestalten in einer geschichtlichen Situation, die sich letztlich dem menschlichen Einfluß entzieht. Zwei entgegengesetzte Interessen bestimmen also die moderne Biographik: das Interesse am dramatischen geschichtlichen Augenblick, dem die einzelne – heroische oder belanglose – Gestalt unterworfen ist, und das ahistorische Interesse am »Ewig-Menschliche[n]« (Emil Ludwig) bzw. am »Ewig-Lebendige[n]« (Elster über von Molo)235 und an der psychischen und charakterlichen Disposition der großen Gestalten.236 Bereits der Literatursoziologe Leo Löwenthal hat diesen inneren Konflikt der modernen Biographie in seinem Essay Die biographische Mode hervorgehoben. Er stellt fest:237 Neben einer Gesinnung, die sich einer absoluten Notwendigkeit, einem radikalen Determinismus kosmisch-geschichtlicher Gesetze und soziologischer Regeln ———————— 233 234
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Zweig, Geschichte als Dichterin, S. 346. Hans-Albrecht Koch, Ästhetischer Widerstand oder politischer Eskapismus? Vom »Erasmus«-Buch zur »Schachnovelle«. In: Thomas Eicher (Hg.), Stefan Zweig im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts. Oberhausen: Athena 2003 (Übergänge – Grenzfälle 8), S. 43–58, zit. S. 51. Hanns Martin Elster, Walter von Molo und sein Schaffen. München: Albert Langen 1920, S. 175. Ludwig, Historie und Dichtung, S. 365. Löwenthal, Die biographische Mode, hier S. 245.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
zu unterwerfen scheint, steht in glatter, unauffälliger Unvereinbarkeit der Hymnus der Individualität.
4.1.5. Vergleichende Betrachtung zweier Magellan-Biographien des Jahres 1938 (Baumgardt und Zweig) Der wohl wichtigste biographische Text von Stefan Zweig, der die Konzeption des Heroischen zeigt, liegt in seiner späten Biographie Magellan – Der Mann und seine Tat (1937/38) vor.238 Seine Auseinandersetzung mit dem Seefahrer erschien nahezu gleichzeitig mit einer weiteren MagellanBiographie,239 mit der Lebensbeschreibung Fernando Magallan – Die Geschichte der ersten Weltumseglung (1938) des Juristen, Nationalökonomen und erfolgreichen Biographen Rudolf Baumgardt (1896–1955).240 Die jeweilige erzählerische Handschrift, der Umgang mit der heroischen Gestalt und das Geschichtsverständnis sollen hier im Vergleich beider Werke beschrieben werden. Beide Biographen gehen unterschiedliche Wege, anhand derer sich ein Ausschnitt aus der Spannweite der populärbiographischen Darstellungs- und Stilisierungsmöglichkeiten in synchroner Perspektive zeigen läßt. In einer vorläufigen Charakterisierung ließe sich diese Differenz zwischen beiden Texten als Differenz zwischen einer rhetorisch-heroisierenden Konzeption bei Zweig, die etwa Erörterungen über die Aussagekraft historischer Quellen einschließt, und einer eher ereignisorientierten, epischen, stärker der Tradition des Abenteuerromans verpflichteten Schreibweise bei Baumgardt 241 fassen. Beiden Biographien gemeinsam ist allerdings die Technik der Vergegenwärtigung des historischen Geschehens durch die Wahl des Präsens als dominierendem Er———————— 238 239
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Stefan Zweig, Magellan. Der Mann und seine Tat. Hg. von Knut Beck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. – Die auf 1938 datierte Erstausgabe erschien wohl bereits im Vorjahr. Vgl. zur Magellan-Biographie der Zeit: Martin Torodashi, Magellan Historiography. In: The Hispanic American Historical Review 51 (1971), S. 313–335. Über Zweigs Biographie – »the one most available in second-hand book stores« (S. 329) geht Torodashi allerdings rasch hinweg, denn die Biographie »does not contribute anything of importance to historical knowledge« (S. 330) – was wohl auch nicht ihre Aufgabe ist. Rudolf Baumgardt, Fernando Magallan[!]. Die Geschichte der ersten Weltumseglung. Berlin: Rowohlt 1938 (zahlreiche weitere Auflagen bis 1953, Neuausgabe 1964). – Baumgardt verfaßte außerdem u.a. Biographien über »Karl XII.« (1938), »Carl Schurz« (1939) und »Mazarin« (1943). Allerdings wäre auch für Baumgardts Buch nicht die Gattungsbezeichnung ‘historischer Roman’, sondern eher ‘moderne Biographie’ zu wählen. Der Rezensent Erich R. Keilpflug bezeichnete das Werk als ein »Buch, das die Mitte hält zwischen Tatsachenbericht und dem heute so beliebten historischen Roman«, das die Verpflichtung auf die »Quellen« mit der »licentia poetica des Autors« vereint. Erich R. Keilpflug, Fernando Magallan. Die Geschichte der ersten Weltumseglung. Von Rudolf Baumgardt. In: Die Literatur 41 (1938/39), S. 381f.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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zähltempus. (Die bisherigen Theorien zum Tempusgebrauch, denen zufolge der Präsensroman zuerst in hochliterarischen Texten des ‘nouveau roman’ oder bei Autoren wie Max Frisch und Wolfgang Hildesheimer erprobt wurde und erst dann den Weg in die Unterhaltungsliteratur gefunden habe,242 erweisen sich damit als falsch. Möglicherweise ist die Radioreportage für die schnelle Aufnahme des Präsens als spannungsbildendem Erzähltempus in populären Erzählformen von Bedeutung gewesen;243 als rhetorische Vergegenwärtigungsstrategie ist dieses Mittel indes seit jeher bekannt.) Bereits die Kapitelüberschriften weisen in Zweigs Biographie auf die Konzeption einer heroischen Biographie, besonders: »Magellan macht sich frei«, »Ein Wille gegen tausend Widerstände«, und in der »Einleitung« wird die Weltumsegelung in die Geschichte der »großen Heldentaten der Menschheit« eingeordnet,244 deren eine Zweig anläßlich seiner eigenen ersten Südamerikareise vom August 1936 aufgegriffen hat. Baumgardt, dessen Biographie hier zunächst eingehender behandelt werden soll, teilt seine Lebensbeschreibung hingegen in vier Bücher unter Titeln wie »Die Brandung«, »Die Küste«, »Der Ozean« und »Die Gezeiten«, welche zugleich die mit der Seefahrt verbundenen Stationen des Lebenslaufs und die den historischen Ereignissen zugrundeliegenden Naturphänomene und -gewalten bezeichnen. Die Geschichte, so legt die Biographie nahe, wird einerseits von einem vielfältigen Netz wirtschaftlicher, politischer, auch nationaler Einflüsse und Interessen bewegt, andererseits wird sie bestimmt durch ihr innewohnende Gesetze, die als Vorbestimmung und Schicksal erfahren werden und gleich Naturkräften wirken. So werden einerseits der Konflikt zwischen den Nationen Portugal und Spanien, aber auch die innenpolitisch wirkenden Interessengruppen aufgezeigt, und die massiven ökonomischen Interessen einer sich gesamteuropäisch konstituierenden Kaufmannschaft werden sowohl in der Ermöglichung der Expedition als auch in der negativen Seite der Übervorteilung und Gewinnorientiertheit bestimmt. Andererseits erscheint das Schicksal jedoch geleitet von natürlichen Kräften der Geschichte. Die Bahnen der Lebensläufe erscheinen als »rätselhafte und geheimnisvolle Abbilder der unerklärbaren, ewig gültigen Wirkungen der Natur«;245 die Personifikation der Zeit zeigt ebenfalls die für den einzelnen undurchschaubaren und sich seinem Einfluß entziehenden Kräfte: »die Absicht des nächsten Jahres [wird] sein […], ihn zu demütigen«.246 Auch der Ver———————— 242 243 244 245 246
Petersen, Erzählsysteme, S. 25. Vgl. auch oben zu Zweigs »Sternstunden der Menschheit«. Zweig, Magellan, S. 11. Vgl. etwa Baumgardt, Magallan, S. 60. Ebd., S. 61.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
gleich mit Stefan Zweigs Magellan liefert deutliche Beispiele für diese Tendenz bei Baumgardt. Als Magellan am portugiesischen Hof mit seinen Plänen zu einer Expedition gescheitert ist und sich nach Spanien wendet, trifft er dort einen anderen Portugiesen, der in einflußreicher Stellung steht und den Magellan aus gemeinsamen Zeiten in Indien kennt. Während Stefan Zweig betont, Magellan habe bereits aus Portugal Kontakte zu Diego Barbosa geknüpft, schildert Baumgardt dieses Zusammentreffen als einen Zufall:247 Damit haben die Parzen einen der Fäden geknüpft, mit denen sie das Dasein der Irdischen lenken. An diesem, nur für den Verstockten zufälligen Beispiel, das sich dem Aufgeschlossenen als ein unvermuteter Einblick in den sonst stets verhüllten Mechanismus der Vorherbestimmtheit bieten muß, erweist sich ein immer gültiges Exempel: daß der Wille zu einer großen Tat die Voraussetzungen zu ihr aus sich selber gebärt.
Die Ziele des einzelnen werden gefördert oder gehemmt durch ‘verhüllte’ Schicksalsmächte. Der einzelne wird dabei auf eine archaisch anmutende Rolle des Kämpfers reduziert, der mit den Naturgewalten ringt und in diesem Ringen Erfüllung findet. Gerade der Jugend – wie dem jungen Magellan – erscheint bei Baumgardt die Frage gemäß: »Wird nicht allein aus diesen Kämpfen Erfüllung des Lebens?«248 Doch nicht nur der Lebenslauf erscheint als ein Kampf des einzelnen mit seinem Schicksal, auch insgesamt verweilt die Erzählung der Ereignisse bei ausführlichen, szenisch zugespitzten Kampfesbeschreibungen – freilich ohne die Greuel der Konquistadoren zu beschönigen. Der außerordentliche Mensch zeichnet sich hier vor anderen als »heldenhaft« dadurch aus, daß er diese Mühen und Kämpfe nicht für einen absehbaren Profit auf sich nimmt, sondern aus selbstlosem »Elan« im Einsatz für die »Größe einer Nation«.249 So beschreibt Baumgardt das Schicksal der vielen Seeleute, welche für die ‘Krämer’ in Lissabon über die Weltmeere fahren, als heroische Aufopferung für das Ideal einer Nation, deren Realität er als erstarrte, von höfischem und ökonomischem Kalkül bestimmte Gesellschaft der Etikette und der höfischen Zwänge sieht. Die Hinwendung zum Ideal erscheint heroisch; die Orientierung an der ökonomischen Realität ist es nicht. Magellans eigene Weltumseglung ist noch höher anzurechnen, da sie letztlich nicht einer Nation dient, sondern dem Wissensfortschritt eines ganzen Kontinents.250 Baumgardt betont entsprechend, Magellan habe keine ökonomischen Interessen mit der Fahrt verbunden und etwa das Einhan———————— 247 248 249 250
Ebd., S. 101. Ebd., S. 40. Ebd., S. 45. Explizit wird Magellans Expedition und Leistung in europäischen Kategorien beschrieben (wobei dann auch die theoretischen Leistungen Deutscher für die iberische Welterkundung betont werden kann …). Vgl.: Ebd., S. 98.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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deln von Gold bei Todesstrafe verboten. Dies hebe ihn über das Maß der Mitmenschen hinaus:251 Das nämlich verändert ihn gegen Balboa und Cortez, das wird ihn von Pizarro trennen, daß ihm reine Macht und Gunst und Wohlstand gar nichts gelten, daß er eine Aufgabe zu erfüllen trachtet, die keinen irdischen Genuß erstrebt, weil sie aus der Region des Geistigen in die Materie stößt. Er ist der Fanatiker einer Idee und nicht ihr Nutznießer.
Magellan erscheint in dieser Konzeption trotz seiner Außerordentlichkeit als ein mit dem Schicksal ringender und seines eigenen Schicksals nicht mächtiger Held, nicht aber als ein klassischer Heros: »Er hat weder Glück noch Genie.«252 Eine Ausnahmegestalt im Kontext der in der Biographie skizzierten Personenkonstellationen ist Magellan zunächst nicht durch eine klassisch-heroische Konstitution oder aristokratische Erscheinung, sondern durch sein fast bäuerliches Auftreten, das nicht in das Korsett höfischer Konventionen und karrieretaktischer Überlegungen zu pressen ist:253 Vierschrötig, mittelgroß, kräftig, eine Gestalt, bei der alles vom Willen diktiert zu sein scheint und nichts von den Nerven. Stierartig, wie aus gelblichem Stein gehauen, sitzt der massige Kopf auf dem gedrungenen Nacken, der schwarzbraune, strähnige, rundgeschnittene Bart bedeckt ein eckiges Kinn; aus dem breiten Gesicht wölbt sich der Mund, dick, genußfreudig, mit fleischiger Unterlippe. Man mag sich barbarische Krieger so denken, Landsknechte, brutale Kapitäne oder Konquistatoren, die nur nach Gold, Beute und Weibern begierig sind. In dieser Figur prägt sich nichts aus, das den Abbildern gleicht, die man gemeinhin gewohnt ist, von den Heroen zu entwerfen.
Deutlich tritt der Unterschied zu einem klassisch-ästhetischen Heroenbild hervor, wie es Conrad Ferdinand Meyer in seinem Jürg Jenatsch nachschuf. Magellan ist in seinem Erscheinungsbild von eher grobschlächtiger Gestalt, unaristokratisch,254 frei von zivilisatorischer Verfeinerung. Er entspricht auf den ersten Blick nach der schlichten Konstitutionstypenlehre von Claude Sigaud u. a. dem »Typus muscularis«, der als bei Arbeitern und Bauern vorherrschender Typus angesehen wurde:255 ein Bauer, ein Mann des Volkes.256 Eine solche Volkhaftigkeit des Helden verrät die Verwandt———————— 251 252 253 254 255
256
Ebd., S. 260. Ebd., S. 86. Ebd., S. 97. »[…] er hat die Finessen der glatten Höflingsrezepte niemals erfaßt.« Ebd., S. 65. Vgl. im Überblick: Kronfeld, Lehrbuch der Charakterkunde, S. 272–277, hier S. 273f. (In Kretschmers Terminologie wäre Magellan bei Baumgardt ehestens dem athletischen Typ zuzuordnen, vgl. ebd.) Vgl. etwa: Baumgardt, Magallan, S. 14: »Er ist häßlich. Ein kleiner, vierschrötiger Bauer, das Kind einer armen Familie aus Traz-os-Montes […].« – Ebd., S. 114: »wie ein Naturbursche«; noch im Moment, da die Erde ihre Kugelgestalt der Empirie offenbart hat und Magellan sich am Ziel sehen muß sieht ihn der Leser aus der Sicht des Biographen Baumgardt als »einen Bauern aus Sabrosa« (S. 252).
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
schaft zu völkischen Konzeptionen, die den Heros als einen idealtypischen Vertreter des im Volk am reinsten verkörperten Nationalcharakters vorstellen (s. u.); gleichwohl enthält sich Baumgardt einer nationalen Typisierung der äußeren Erscheinung und des Charakters. Außerdem wird die Konfrontation der Nationen negativ dargestellt, und die Entdeckungsaufgabe und -leistung wird europäisiert als übernationales, kontinentales Zusammenspiel. Magellan wird ohne jede Intellektualität geschildert; er ist von seinem Gemüt gesteuert, wirkt alles durch seinen urwüchsigen, bäurischen Willen, der durch seine Unabhängigkeit von den Nerven als scheinbar frei geschildert wird, seine Grenzen aber in der bäuerlichen Konstitution hat. In der Physiognomie seines Gesichts, die Baumgardt an den zitierten ersten Eindruck zur genaueren Differenzierung anfügt, zeigen sich gegenüber der ersten klaren Typuszugehörigkeit verrätselnde Züge, welche Magellan als Mischtypus erkennbar werden lassen, denn er weist auch Merkmale des »Typus cerebralis«, des intelligenten Menschen auf. Dieser Mischkonzeption entsprechend erweist sich die von Baumgardt Magellan zugeschriebene »bedachtsame Bauerngewohnheit«, geistige Schwerfälligkeit gegenüber den »leichtblütigen Gefährten« als Vorteil, als subtile Form der Geduld, des genauen Beobachtens, einer Ruhe, die zu Umsicht und Überlegenheit wird 257 und ihm so auch ohne »Amt« natürliche »Autorität« verleiht.258 Obgleich Magellan in Baumgardts Sicht von der heroischen Idee bestimmt wird und er von manchen Zeitgenossen auch als Held gesehen wird, verläuft sein Unternehmen ohne heroische Erfolge und Glücksfälle. Immer wieder kritisiert Baumgardt Magellans Handlungen – wie seine missionarische Tätigkeit. Sein letztlicher Untergang und Tod bei einem Scharmützel wird fast als Verfehlung gesehen, denn die Tragödie des Untergangs resultiert aus der Selbstüberhebung des einzelnen über seine selbstlos erfüllte geschichtliche Aufgabe. Wenn Magellan schließlich als »begeisterndes Exempel eines wahrhaft heroischen Lebens unsterblich« ist, so nicht durch seinen Charakter und nicht durch sein Streben, sondern durch die Vollendung seiner menschlichen Existenz in der geschichtlichen Fortschrittsleistung, zu deren Symbol er geworden ist. Nicht aber ihr Held, sondern »die Tat ist ewig«.259 Der einzelne wird geradezu zum Werkzeug der Geschichte, der er sich selbstlos ausliefern muß. Seine »Eignung« besteht darin:260 ———————— 257 258 259 260
Ebd., S. 56. Ebd., S. 61. Ebd., S. 354. Ebd., S. 104.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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Daß man sich völlig des eigenen Ichs wird entäußern müssen. Daß man nur Pfeil sein darf, der, einmal von der Sehne geschwirrt, in das Wesenlose gerichtet bleibt. […] Daß man sich nur gewinnt, wenn man sich aufgibt, nur zum Ziele gelangt, wenn man sich und alles, wenn man sich in das All verliert.
Von einer bloßen Übereinstimmung des egoistischen mit dem allgemeinen Interesse kann hier nicht die Rede sein: Der einzelne ist der Geschichte vollständig untergeordnet. Baumgardt vertritt hier eine fatalistische Auffassung vom Individuum, das weder völkische – wie bei Wilhelm Schäfer (s. u.) – noch marxistische Züge trägt. Allerdings zeigt der Erfolg des Buches in den Jahren der deutschen Diktatur mit mehreren Nachauflagen in den 40er Jahren, daß diese Konzeption des Einzelmenschen nicht außerhalb der konjunkturell begünstigten Darstellungsformen des geschichtlichen Helden lag. Der bei Baumgardt breit entfaltete, dabei stets an die Handlung zurückgebundene historische Hintergrund weist darauf hin, daß diese Tat in einem spezifischen geschichtlichen Prozeß steht, der die Weltumsegelung notwendig machte. Damit nähert sich Baumgardt einer populär-hegelianischen Geschichtsauffassung, wie sie etwa in jüngerer Zeit der Historiker Kurt Kayser in der Einführung zu einem populärwissenschaftlichen Werk Die berühmten Entdecker und Erforscher der Erde (ca. 1963) benennt:261 Es bedurfte offenbar besonderer Triebkräfte und Zeitströmungen, um den Weg für Entdeckungen größeren Ausmaßes freizumachen. Dann fanden sich auch immer die nötigen Männer dafür. Einzelgänger und vereinzelte Vorstöße in unbekanntes Gebiet gab es natürlich auch vorher. Aber vor ‘ihrer’ Zeit gemachte Entdeckungen verfielen meist völliger Vergessenheit oder lebten nur in Sagen fort […]
Hier steht der allgemeine Gang der geschichtlichen Entwicklung im Vordergrund. Kayser weist ferner auf die Verschiedenheit der Entdeckerpersönlichkeiten hin, die jeweils »vom Geist der Zeit« geprägt seien.262 Allerdings gibt er auch einige allgemeine Charakteristiken: Willensstärke, Selbstvertrauen und Aktivitätsdrang. Diese Doppelung von einerseits subjektiver Willenskraft und individueller Leidenschaft und andererseits geschichtlicher Bedingtheit ist durchaus hegelianisch, denn erst das Zusammenfallen von Selbstsucht und Gang der Geschichte macht den einzelnen zum Vollstrecker des Weltgeistes. So betont Hegel nicht allein die Bedingtheit der Leistung durch den Gang der Geschichte, sondern äußert auch, »daß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht wor-
———————— 261
262
Kurt Kayser, Einführung. In: André Leroi-Gouhan u. Kurt Kayser (Hgg.), Die berühmten Entdecker und Erforscher der Erde. [überarb. und verm. Aufl.] Köln: Aulis Vlg. Deubner o.J. (ca. 1963), S. 7–9, hier S. 7. Ebd., S. 8.
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den ist«.263 Für Baumgardt freilich wird nicht Egoismus, sondern leidenschaftliche Selbstaufgabe zur Voraussetzung der Leistung. Die Abhängigkeit der Tat vom historischen Moment wird in der Biographie dadurch deutlich, daß die Lebensgeschichte Magellans sich in einem weitläufigen Beziehungsgeflecht entwickelt, an dem vielfältige Einzelpersönlichkeiten, vor allem aber allgemeine ökonomische und politische Entwicklungen ihren Anteil haben. Die politischen Strukturen am portugiesischen Hof, die soziale Situation der Entdecker und Abenteurer, die ökonomischen Interessen des Gewürzhandels, die Veränderungen im Weltbild des 16. Jahrhunderts, die Konkurrenz zwischen Spanien und Portugal bilden ein breites Netzwerk der Geschichte, in welches der einzelne Lebenslauf vielfältig eingebunden ist. Dabei ergibt sich ein Spannungsverhältnis daraus, daß Magellan einerseits von diesem Netzwerk abhängig ist, da er anders seine historische Tat nicht durchzusetzen vermag, daß er aber andererseits diese Tat gerade jenseits der ihn behindernden sozialen Sphäre in der Flucht in das Ideal einer nicht konkreten materiellen Zielen unterworfenen Erkenntnisleistung erreicht. Der heldenhafte Kapitän wird zu einem »Exempel eines wahrhaft heroischen Lebens«, 264 weil er sich ‘opfert’, weil er seine ‘Pflicht’ erfüllt und sich tätig in die Geschichte einfügt,265 aber diese Selbstaufgabe ist nicht an die Zwecke einer Nation gebunden, sondern an den Gang der Geschichte. (Entsprechend erscheint seine Tat nicht nur als individuelle Leistung, sondern vor allem als Erfüllung einer Aufgabe.)266 Durch diese tätige Aufgabe und Aufopferung seines individuellen Seins gelingt es ihm, sein Dasein zu vollenden und in eine höhere Sinnhaftigkeit zu erheben. Dadurch wird er vom Individuum zum Symbol und Typus – in jedem Seefahrer ist heute noch der ‘Geist des Magellan’ erhalten: »Irgendwo auf irgendeiner Brücke steht immer ‘der große Kapitän’.«267 Der einzelne, den die »Vorsehung« zur geschichlichen Tat »bestellte«,268 bleibt in gewisser Weise ein individueller Heros, der gegen Widerstände kämpft und die Mitstreiter führt, doch besteht diese Individualität des Helden gerade darin, sein Selbst aufzugeben. Denn letztlich gilt nur die Tat. Der direkte Vergleich mit Stefan Zweigs Biographie vermag das Vorgehen beider Biographen noch deutlicher zu charakterisieren. Ein Beispiel für die unterschiedliche Profilierung der biographierten Gestalt durch Baum———————— 263 264 265 266 267 268
Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, S. 38. Baumgardt, Magallan, S. 354. Vgl. ebd., S. 251f. Ebd., S. 186: »Er hat sich eine Aufgabe gesucht, sie hat ihn in ihren Bann gerissen, er wird sie vollenden!« Ebd., S. 353. Ebd., S. 252.
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gardt (linke Spalte) und Zweig (rechte Spalte) findet sich in der Beschreibung der Rettung von Magellans Freund Serrão aus einem Hinterhalt, in welchen die portugiesische Flotte im Hafen von Malacca gerät.269 Magellan sieht nur eins: er erkennt Serrao; der Freund hat sich durchgeschlagen, nun gewinnt er das Ufer, erreicht dort eine Jolle, ein paar seiner Leute hinter ihm her, sie stoßen ab, sie rudern. Barmherziger Himmel, gleich müssen sie inmitten der fanatisch erbitterten Prauen sein! Ein Boot, Sankt Salvador zu Sabrosa beschirme uns; schneller doch, Henrique, noch rascher, ein Boot! Sie hasten von der Reling hinunter, sie packen die Riemen, gleich einem gehärteten Keil fliegen sie in die schwankenden, knisternden, kenternden Prauen hinein. Serrao wehrt sich verzweifelt, die Jolle ist geentert, er selbst am Kopf, an den Händen verwundet, er schlägt, beißt, ficht um sich wie ein Berserker. In der äußersten Minute dringt Magalhaes zu ihm hin, sie rasen in die Malaien, spellen eine Furt ringsum sich auf; durch sie gelangen sie zur Fregatte zurück. Da sich die Freunde umarmen, wissen sie, mag sie das Leben auch trennen, sie bleiben aus einem Blute wie Brüder. Wenn auch ihre Pfade den eigenen Kurven folgen, rätselhafte und geheimnisvolle Abbilder der unerklärbaren, ewig gültigen Wirkungen der Natur, irgendwo führt sie der ähnliche Weg immer und aus der Notwenigkeit ihrer Bestimmung zum gleichen Ziel.
[…] Die meisten Portugiesen werden sofort niedergeschlachtet, nur wenigen gelingt es, bis zum Strand hinzuflüchten. Jedoch zu spät schon: die Malaien haben sich bereits der Boote bemächtigt und damit den Rückzug auf die Schiffe unmöglich gemacht; einer nach dem andern von den Portugiesen erliegt der Übermacht. Nur ein einziger, der Tapferste von allen, wehrt sich noch, Magellans nächster und brüderlichster Freund, Francisco Serrão. Schon ist er umringt, verwundet, schon scheint er verloren. Aber da ist Magellan in seinem kleinen Boot mit einem zweiten Soldaten bereits herangerudert, unerschrocken sein Leben wagend für den Freund. Mit ein paar wuchtigen Hieben schlägt er den von zehnfacher Übermacht Umringten heraus, reißt ihn in die kleine Zille und rettet ihm damit das Leben. Die portugiesische Flotte hat bei diesem vernichtenden Überfall ihre Boote und mehr als ein Drittel ihrer Mannschaft verloren, Magellan aber einen Blutsbruder gewonnen, dessen Freundschaft und Vertrauen entscheidend sein wird für seine künftige Tat.
Dieses Zitat aus Baumgardts Schilderung ist nur ein Ausschnitt aus dem ausführlicher als von Zweig dargestellten Verlauf der Kämpfe. Sein dramatisierender Stil demonstriert durch Zuspitzung der Ereignisse in knappen Sätzen und Halbsätzen, einfachen syntaktischen Fügungen das Hierund-Jetzt des Geschehens, wobei die Rettungsaktion in szenischer Darstellung anschaulich wird. Die fiktive Rede Magellans bringt durch die ———————— 269
Baumgardt, Magallan, S. 60; Zweig, Magellan, S.49f.
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suggerierte Unmittelbarkeit der Darstellung zusätzliche Dramatik in die Erzählung; zudem sind die ersten beiden Absätze ganz aus der Sicht und dem Erleben Magellans geschilder. Trotz einer vorherrschenden Nullfokalisierung, wie sie für die Biographik typisch erscheint, tendiert hier die Erzählung zur internen Fokalisierung, zur Mitsicht mit dem Helden, und der kommentierende Biograph tritt zurück. Zweig rafft das Geschehen dagegen sehr viel stärker und konzentriert dadurch den Blick des beobachtenden Lesers auf ein einziges, dann unmittelbarer erzähltes Ereignis: die Rettung. Viel deutlicher tritt hier der biographische Erzähler in den Vordergrund, der die Handlung vermittelt und bewertet. Durch den Wechsel von kommentierenden, raffenden, szenischen Sätzen wird eine größere Erzähldynamik als bei Baumgardt erreicht; diese wird zusätzlich durch rhetorische Steigerungsformen auch inhaltlich unterstützt. Serrão ist nicht nur »der Freund« (Baumgardt), sondern »Magellans nächster und brüderlichster Freund« (Zweig); die gegnerischen Malaien werden wiederholt als »Übermacht« bezeichnet, und Serrãos gefährliche Lage wird durch die Wiederholung ‘umringt’/‘Umringter’ zugespitzt, wodurch die Tat als Heldentat noch größeres Gewicht erhält. Auch daß Magellan sein Leben wagt und dem Freund das Leben rettet, wird durch den biographischen Erzähler bei Zweig explizit herausgestellt. In dieser rhetorischen Konzentration auf die Leistung Magellans, in welcher der vermittelnde Erzähler deutlicher Kontur erhält, ist eine grundsätzliche Differenz zu Baumgardts am Geschehen orientierter Erzählweise zu erkennen: von der spannungsreichen Situation wird der Akzent bei Zweig auf die Leistung des Helden verschoben. Die abschließende Bewertung der nachfolgenden Veränderung der Freundschaft und der weiteren Entwicklung beider Lebensläufe fällt ebenfalls unterschiedlich aus. In beiden Texten wird die Freundschaft gestärkt, doch Baumgardt sieht die Lebensläufe als von geheimen Kräften der Natur bestimmt an; die Einzelschicksale lassen sich so nicht von denen der Gemeinschaft trennen. Zweig unterstreicht den persönlichen Erfolg, der antithetisch gegen das Allgemeinschicksal gesetzt wird. An die Stelle der »Bestimmung« (Baumgardt) tritt bei Zweig individuelle Leistung. Gerade dieser Differenzaspekt wird erneut in der gänzlich anderen Bewertung des weiteren Lebenslaufes des geretteten Serrão deutlich. Serrão, der nach einer unglücklichen Strandung in die Lage versetzt ist, in unbekannte Regionen der Gewürzinseln vorzudringen, und dort sein weiteres Leben verbringt, wird von Baumgardt als Entdecker der Produktionsstätten der Gewürze vorgestellt. Der abwesende Serrão wird in Lissabon zum Helden des Tages, da er durch den direkten Zugang zu den Gewürzen Hoffnung auf höhere Handelsgewinne macht.270 Magellan ist ———————— 270
Baumgardt, Magallan, S. 74–76.
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trotz aller Freundschaft neidisch auf den Erfolg des anderen. Für Zweig dagegen stellt sich Serrãos Verbleiben in der Inselwelt als eine »romantische Weltflucht« dar,271 ein Entweichen vor den ökonomischen Interessen des Gewürzhandels. Seine überschwenglichen Briefe an Magellan wecken bei diesem zudem nicht Neid, sondern den Wunsch, Serrão wiederzusehen und somit den Gedanken an die Weltumsegelung.272 Wiederum bleibt der einzelne also bei Baumgardt Teil übergeordneter Prozesse und Interessen (die auch bei Freunden Konkurrenzgedanken erwecken), während der einzelne bei Zweig sich in seinem Bemühen um den Erhalt der Individualität und Integrität gegen die Gesellschaft stellt, persönliche Erfahrungen und Beziehungen im Konkurrenzverhältnis zu gesellschaftlichen Interessen stehen. Der Unterschied zwischen beiden Darstellungen zeigt sich ferner bei der Schilderung von Magellans Rückkehr nach Lissabon. Wiederum wird deutlich, daß Baumgardt (linke Spalte) Magellan eher als einen von widrigen Umständen Getrieben ansieht, während Stefan Zweig (rechte Spalte) das konfliktive Verhältnis zwischen Charakter und individueller Leistung auf der einen und der Gemeinschaft, der Nation, der Gesellschaft auf der anderen Seite herausstreicht. Ebenso wie der einzelne einen Sieg erringen kann, während die Gemeinschaft Verluste erleidet, kann dem einzelnen auch in einer prosperierenden Gesellschaft der Lohn für die Mühen vorenthalten bleiben.273 Wie sieht Lissabon nach sieben Jahren Indien und Afrika aus? Wie ein kribbelnder Ameisenhaufen. Schlimmer! Wie eine ungelüftete Stube. Nein, noch drückender! Wie ein Verlies. Was soll man hier, wo man sich schon als Kind an allen Ecken gestoßen hat? Ist man inzwischen abgeschliffener geworden? Das Parkett im Schloß ist glatt, über die Planken kann man wandern, hier strauchelt jeder Schritt, es riecht nach Parfüms statt nach Sonne und Salz. Der königliche Flitter ist lächer-
[…] Ein sonderbares, vielleicht ein unwilliges Erstaunen muß es für den abgekämpften Soldaten gewesen sein, da er, 1512 endlich wieder landend, ein ganz anderes Lissabon, ein ganz anderes Portugal erblickt, als er vor sieben Jahren verlassen. Schon bei der Einfahrt in Belem staunt er auf. Statt des alten niederen Kirchleins […] erhebt sich, endlich vollendet, die mächtige, prächtige Kathedrale, erstes sichtliches Zeichen des riesigen Reichtums, der mit dem indischen Gewürz seinem Vaterlande zugefallen. Jeder Blick zeigt rings
———————— 271 272
273
Zweig, Magellan, S. 54–57, zit. S. 56. Zweig unterläuft an dieser Stelle allerdings ein logischer Fehler in der Darstellung, wenn er einerseits die Briefe von Serrão an Magellan in Lissabon als Anregung zur Reise bewertet, dann aber ausführt ‘diesen Gedanken’ an die Weltumsegelung habe Magellan von seiner ersten siebenjährigen Abwesenheit nach Lissabon mitgebracht. Zweig, Magellan, S. 56f. – Baumgardt erwähnt die Freundschaft als ein Motiv zur Weltumseglung eher beiläufig. Baumgardt, Magallan, S. 101. Baumgardt, Magallan, S. 71; Zweig, Magellan, S. 57f.
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lich. Muffig. Vermottet. Welch ein Getuschel, Wichtigtun, Schwänzeln von Schranzen! […] Was will man eigentlich in dieser Umgebung, von der man gewußt hat, daß sie beengt, und nie hoffen konnte, sie werde erträglich sein? Er ist abgedankt. Er bekommt »Wartegeld« […].
Veränderung. […] – dank der Ausbeutung Indiens ist Lissabon innerhalb eines Jahrzehnts aus einer Kleinstadt eine Weltstadt, eine Luxusstadt geworden. In offenen Karossen zeigen die Frauen des Adels ihre indischen Perlen, prächtig gewandet scharwenzelt ein riesiger Troß von Höflingen im Schloß, und der Heimgekehrte erkennt: sein und seiner Kameraden in Indien vergossenes Blut hat sich dank geheimnisvoller Chemie hier in Gold verwandelt. Während sie unter der unerbittlichen Sonne des Südens gekämpft, gelitten, entbehrt und geblutet haben, wurde Lissabon durch ihre Tat die Erbin Alexandrias und Venedigs […]. Alles ist daheim anders geworden, alles lebt in der alten Welt reicher, üppiger, genießerischer, verschwenderischer, als hätte das eroberte Gewürz, das erhandelte Gold die Sinne beschwingt – nur er kehrt wieder als derselbe, als der »unbekannte Soldat«, von niemandem erwartet, von niemandem bedankt, von niemandem begrüßt. Wie in eine Fremde kehrt nach sieben Jahren der portugiesische Soldat Fernão de Magelhaes in seine Heimat zurück.
Beide Autoren zeigen die Fremdheit Magellans in der Heimat. Für Baumgardt ist dies die Fortsetzung der immer schon bestehenden Differenz zwischen dem bäuerischen Menschen und der Welt des Hofes, der Etikette, die Magellan als Enge empfindet: »Das Zimmer im Nebenflügel des Schlosses ist größer als eine Koje und doch enger als sie.« Die Etikette »ist noch förmlicher, präziser, verschnörkelter geworden«; die höfische Welt erscheint als eine Welt der »Marionetten«.274 Zweig dagegen zeigt nicht die fortgesetzte Fremdheit, sondern die Verfremdung der Heimat durch den Luxus, das Fremdwerden und die Vereinzelung dessen, der an den Entwicklungen in der Heimat keinen Anteil mehr hat, dort nicht mehr heimisch werden kann. Dabei betont Zweig den »Undank« des portugiesischen Hofes gegenüber den namhaften und »namenlosen Helden« ———————— 274
Baumgardt, Magallan, S. 73.
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der Entdeckungsreisen.275 Insbesondere wird es allerdings für Zweigs Magellan zum Problem, sich mit einem zwar ehrenhaften, niedrigen, aber eben nicht an Aufgaben geknüpften Wartegeld abfinden zu lassen: »Ein Mann von Ehre und Ambition wird nun selbst Nichtstun sich nicht mit einem solchen verächtlichen Bettelgehalt auf die Dauer bezahlen lassen.«276 Zweig paraphrasiert hier einen Grundgedanken einer Arbeitsethik, derzufolge Hingabe zur Arbeit und Pflichterfüllung als anthropologische Faktoren ausgegeben werden – wie etwa bei Smiles formuliert wird:277 Müßig und unnütz zu sein, ist weder eine Ehre noch ein Vorrecht, und wennauch gemeine Naturen damit zufrieden sein können, bloß zu verzehren, so werden doch Männer von normaler Begabung, männlicher Gesinnung und ehrlichem Streben fühlen, daß ein solcher Zustand mit wahrer Ehre und echter Würde unverträglich ist.
Dieser bürgerlichen Entfremdung und Unzufriedenheit steht die grundsätzlichere Fremdheit bei Baumgardt gegenüber. Baumgardts Magellan wird explizit durch seine Herkunft als ein bäurischer Mensch vorgeführt, in welchem ein grundsätzlich dem aristokratischen Charakter des Hofes widersprechender Typus sein Recht einfordert und durch welchen die Fremdheit am Hof bedingt ist:278 In diesem Menschen, der in dem Kern seiner Schweigsamkeit die Gefühle verbirgt, die gleich der wallenden Dünung gegen das Ufer, welches hier aufsässige Gegenwart ist, schellen müßten, falls man nur eins ihrer Ventile lockerte, pulst die Leidenschaftlichkeit von Bauern, die niemals gutwillig hergeben werden, was sie besaßen. Er ist zäh wie sie. Er kann sich nicht ducken. Unter die Menschen nicht. Unter das Schicksal noch weniger.
Nicht nur die Metaphorik weist hier auf die Naturbeschaffenheit des Typus hin, die gesamte Konzeption der Biographie beruht auf dieser bodenständigen Leidenschaftlichkeit des Menschen, der im Kontrast zur Zivilisation und Kultur seiner Zeit steht. Baumgardt muß darum Magellan auch nicht positiv zeichnen. Nicht der bürgerliche, vernünftige Charakter steht hier im Spannungsverhältnis zur Gesellschaft, sondern die bäuerliche Natur und Leidenschaft zur dekadenten Kultur. Diese Leidenschaftlichkeit eben kann auch Fehler provozieren und produzieren, wie die Erzählung einer Affäre zeigt, in welche Magellan bei einer militärischen Aktion in Afrika verwickelt wird. Magellan versucht in Baumgardts Darstellung eine Strafaktion gegen die Mauren durch eine List zu erzwingen. Die maurischen Händler der bedrohten Stadt Azamor jedoch können Magellan überführen und bei seinen Vorgesetzten verdächtig machen: »Was als List geplant war, endet als Verbrechen, der Leichtsinn war ———————— 275 276 277 278
Zweig, Magellan, S. 59. Ebd., S. 60. Smiles, Der Charakter, dt. 1884, S. 143. Baumgardt, Magallan, S. 80.
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Dummheit […].«279 Magellan wird dabei durch seinen Biographen Baumgardt ins Unrecht gesetzt. Bei Zweig ist von dieser List nichts zu lesen; er erwähnt lediglich die Affäre, die bei ihm in dem ungerechtfertigten Vorwurf der Veruntreuung einer Kriegsbeute und nicht in der versuchten Provokation einer ersehnten Strafaktion besteht. Doch Zweig macht diese Anschuldigung – nicht zuletzt durch einen Vergleich mit Camões, dem ähnliches widerfahren sei – unwahrscheinlich.280 Der von der Gesellschaft ungerecht behandelte, ehrenhafte Individualheld Magellan wird erneut ausgegrenzt. Ähnlich verhält es sich bei der Erwähnung einer Schrift, die Magellan dem spanischen König überreicht. Baumgardt nennt dies eine ‘literarische Hochstapelei’, denn Magellan habe das Reisewerk seines Schwagers unter eigenem Namen vorgelegt, um einen Nachweis seiner Kenntnis und Eignung zu erbringen. Der moralische Verstoß erscheint gleichwohl akzeptabel: »Der Erfolg gibt ihm recht.«281 Zweig dagegen erwähnt zwar das Reisebuch als ein anerkanntes Werk des Schwagers, aber nicht, daß es Magellan unter eigenem Namen für seine Zwecke verwendete.282 Anders als Baumgardt legt Zweig in seinem Magellan wie in anderen ‘heroischen’ Lebenserzählungen das besondere Augenmerk auf den Charakter des Individuums, welcher ein stärkeres Gewicht erhält als eine einzelne hervorstechende Tat. Für Magellan wie für Scott gilt, daß der letztliche Nutzen der Tat recht gering ist. Während Baumgardt Magellans Tat in ihrer historischen Bedeutung auch als Resultat feiert, verringert Zweig die Leistung, da er einen Heroismus des Charakters darstellen will und nicht einen des Erfolges. So bleibt auch letztlich die Frage nach dem unmittelbaren Nutzen gegenüber der ethischen Konzeption des heroischen Charakters hier sekundär: »Aber niemals bestimmt in der Geschichte die praktische Nützlichkeit den moralischen Wert einer Leistung.«283 Wichtiger als die einzelne Tat, das einzelne Datum in der Geschichte wird für den neuhumanistischen Biographen die weitergehende Leistung, die der einzelne für die Selbsterkenntnis und die moralische Bildung der Menschheit erbringt.284 Zweig steht hier wiederum deutlich in der liberalen ethischen Tradition eines Samuel Smiles. Schon Smiles konzipiert – wie bereits betont – den Charakter, das Arbeitsethos, die Überwindung von Widerständen unabhängig von der Frage nach dem unmittelbaren Nutzen oder Erfolg: »Die Wirksamkeit eines Mannes hängt nicht davon ab, ob seine ———————— 279 280 281 282 283 284
Ebd., S. 78. Zweig, Magellan, S. 61f. Baumgardt, Magallan, S. 113. Zweig, Magellan, S. 85. Ebd., S. 280. Vgl. ebd.
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Anstrengungen unmittelbar gelungen oder gescheitert sind.«285 Zu dieser bürgerlichen Fassung des Entdeckungsreisenden paßt auch, daß die Herkunft Magellans nicht wie bei Baumgardt eindeutig auf einfache Verhältnisse und bäuerliche Abstammung festgelegt wird, sondern weitgehend im Dunkeln bleibt. Magellan erscheint allerdings als Mann des niederen Adels und rückt so auch sozial eher in die Position eines Mittelschichtsangehörigen. Damit ergibt sich für Zweigs Magellan-Darstellung auch ein wesentlicher Unterschied zur Magellan-Deutung von Ernst Bloch, wie sie bereits im Kontext von Wassermanns Kolumbus-Biographie erwähnt wurde. Für Bloch wird der über sich hinausweisende und führende Traum des Kolumbus als zentrales Element der Leistung betrachet. Gegenüber dem Träumer Kolumbus, dessen Irrtum »die Werke der Schöpfung verdoppelt« hat,286 erscheint Magellan bei Bloch als bloßer Abenteurer:287 Magellan hatte nur ‘el passo’ im Sinn, die Durchfahrt durch Amerika ins Pazifische Meer, […]. Und trotz seiner wilden Zähigkeit, trotz des Wagnisses der ersten Weltumseglung, die er vollführt hat, war […] Magellan mehr ein Abenteurer als ein Träumer; er brauchte nicht über sein Ziel hinauszuschießen, um es zu treffen.
Zweig dagegen betont – auch im Seitenblick auf Jakob Wassermanns Kolumbus-Biographie – den Charakter, das Arbeitsethos, die Willenskraft Magellans, der sich in widriger Umwelt durch die Festigkeit seines Charakters und sein ‘aus eigener Kraft’ und Überlegung geschöpftes Handeln auszeichnet:288 Während sein Rivale im Weltruhm, Columbus, dieser ‘Don Quichotte der Meere’, dieser naive und weltfremde Phantast, alle praktischen Dinge der Vorbereitung lieber den Pinzons und andern Piloten überließ, erweist sich Magellan – hierin Napoleon ähnlich – ebenso verwegen in der Gesamtkonzeption wie präzis und pedantisch in der Durchdenkung, in der Durchrechnung jedes Details.
In der Biographie wird nicht der geschichtliche Hintergrund, sondern der Charakter mit seinen heroischen Tugenden betont. Häufig werde, so heißt es kritisch am Beginn des fünften Kapitels, die komplexe Leistung der Helden vereinfacht. Man erkenne nur »die dramatischen, die pittoresken Augenblicke« und vergesse darüber die jahrelangen Mühen, die dem triumphalen Augenblick vorausgegangen seien: Mühen, die nur der Held zu bewältigen vermag, da sie »einer herkulischen Aufgabe« gleichkommen289 und in denen sich die heroischen Tugenden deutlicher erweisen als im Erfolg oder Scheitern der Tat. Typische Merkmale des Heroischen ———————— 285 286 287 288 289
Smiles, Der Charakter, dt. 1884, S. 500f. Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 906. Ebd., S. 904. Zweig, Magellan, S. 102. Ebd., S. 101.
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werden von Zweig eingefügt: Der Held hat »etwas völlig Neues und Vorbildloses« zu leisten, und er kann auf keinen anderen Menschen bauen. Zweig verstärkt diese Züge durch die unzweideutige sprachliche Gestaltung – hier anaphorisch:290 Niemand kann Magellan bei seinem Unterfangen beraten, denn niemand kennt die unbetretenen Zonen, die undurchfahrenen Meere, in die er sich als erster wagen will. Niemand kann ihm auch nur annähernd sagen, wie lange die Reise um den noch ungemessenen Erdball dauern […] wird.
Wenige Sätze darauf bemüht der Autor mit fast brachialer Gewalt die Wiederholung des Präfixes ‘er-’, um die Leistung des Helden in der Sprache physisch gegenwärtig zu machen: »[…] und dies kaum Errechenbare muß er selbst allein errechnen, erkämpfen, erzwingen und dazu noch gegen die unerwartetsten Widerstände.«291 Was hier auf der Mikroebene der sprachlichen Umsetzung deutlich wird, setzt sich auf der Makroebene der Erzählung fort. Die Vereinzelung des selbsttätigen Helden wird in jeder Beziehung zu anderen Figuren des Romans durchgeführt. Sie besteht bereits in der portugiesischen Heimat, doch wird sie noch verstärkt im Schicksal des portugiesischen Seefahrers, der sein Glück in Spanien sucht. (Dadurch ist dem Roman auch das aktuelle Emigrantenproblem eingeschrieben, weder in der Heimat noch in der Fremde heimisch werden zu können.) Vom portugiesischen König über dessen Botschafter in Spanien, vom Konsul in Cádiz bis hin zur Stadtverwaltung, dem Hafenkapitän und dem einfachen Hafenvolk, von der »Casa de Contratación« bis zu den spanischen Kapitänen, die mit ihm die Fahrt unternehmen, steht jeder einzelne gegen Magellan. Selbst die Haltung des spanischen Königs ist zweideutig. Einerseits unterstützt er auf eigenen Vorteil bedacht den fremden portugiesischen Kapitän, andererseits wurden die spanischen Kapitäne wohl mit geheimen Aufträgen versehen. Magellan muß so die »ungeheure Aufgabe eines einzelnen Mannes« vollbringen.292 Gerade diese unentschiedene Haltung des spanischen Königs gegenüber Magellan als dem einzigen Mann, dem eine solche Tat zugetraut wird, liefert Hinweise darauf, daß im Fall dieser Biographie Zweigs eine weitere tiefergehende Konstellation zu beachten ist. In die Welt der Entdeckungsreisen im 16. Jahrhundert transportiert Zweig den Nationalismus der jüngeren Neuzeit. (Und keineswegs handelt es sich bei Zweigs Biographie um einen bloßen »‘Lebensroman’ ohne politische Akzentuie———————— 290
291 292
Ebd., S. 101. – Ein weiteres Beispiel bietet sich im Moment des Triumphs: »Alles hat sich erfüllt. Er hat das Wort eingelöst, das er dem Kaiser gegeben. Er hat wahrgemacht, er, der erste und einzige, was Tausende vor ihm nur träumten; er hat den Weg in das andere Meer gefunden.« (Ebd., S. 197.) Ebd., S. 102. Ebd., S. 102; vgl. S. 103: »heroischer Kampf eines einzelnen Mannes«.
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rung«, wie Knut Beck im Nachwort zur Taschenbuchausgabe bemerkt.)293 Als Portugiese stößt Magellan an die Grenzen des spanischen Nationalgefühls. Allein seine Herkunft aus Portugal, dem Land, dem er enttäuscht den Rücken kehren mußte, bewirkt das Mißtrauen. Magellan wird in seiner Freiheit, die Besatzungsmitglieder selbst auszusuchen, dahingehend beschränkt, daß die Zahl der Portugiesen nicht zu hoch sein darf. Die spanischen Kapitäne erhalten – so der im Roman nie zerstreute Verdacht – Ordre, den portugiesischen Admiral zu kontrollieren. Während die portugiesischen Gegner Magellans handfestere Interessen des eigenen Landes zu verteidigen suchen, sind es besonders die spanischen Gegner in Sevilla, die von national-patriotischen Emotionen beherrscht werden. Deutliches Indiz hierfür ist, daß sich der Aufstand des Hafenvolkes gerade daran entzündet, daß eine portugiesische Flagge gehißt wurde. Zweig läßt keinen Zweifel daran, daß er Nationalismus zunächst als eine emotionale Haltung begreift, die besonders den ‘Pöbel’, der in einer Antonomasie als »die in ihrer [nationalen] Ehre Gekränkten« bezeichnet wird, in unkontrollierbare Wallungen bringt: »Nun ist Nationalismus erfahrungsgemäß eine Saite, welche auch die plumpste Hand ohne viel Mühe ins Schwingen bringen kann […].«294 Die einmal aufgeheizte »Volksmasse« wird (»immer«) nur schwer wieder beruhigt.295 Daß Zweig hier unmittelbar und mit gerechter Verbitterung auf seine eigene Gegenwart zielte, bedarf kaum des näheren Hinweises. Magellan gerät in das Spannungsfeld zwischen den Nationen. Er befindet sich in einer klassischen Situation. Wie Coriolan, der sich aus enttäuschter Hoffnung an die Feinde Roms wendet, wird Magellan, der Portugal und den portugiesischen Hof gekränkt verließ, von seinen neuen Verbündeten mit Mißtrauen behandelt. Coriolans Tod schwebt als Damoklesschwert über dem Magellan des Romans.296 Auch Rudolf Baumgardt reflektiert die angeblichen nationalen Vorbehalte gegen Magellan, doch erhält der nationalistische Zwiespalt nicht die gleiche Bedeutung wie in Zweigs Werk. Baumgardt ist eher daran gelegen, die Entdeckungsfahrt, an der neben Portugiesen auch Franzosen, Engländer und ein Deutscher teilhaben, als europäische Leistung darzustellen. Gerade der Anteil der Deutschen an der theoretischen Vorberei———————— 293 294 295 296
Knut Beck, Nachbemerkung des Herausgebers. In: Zweig, Magellan, S. 301–316, hier S. 306. Zweig, Magellan, S. 106. Ebd., S. 108. Zweigs Hinweis auf »die Tragödie Coriolans« ist zugleich eine Vorausdeutung auf die kommende Gefahr, etwa auf den Aufstand der spanischen Kapitäne. (Zweig, Magellan, S. 115.). – Der Stoff erfuhr zahlreiche Bearbeitungen seit der Antike. Vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 7., verbess. und erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 1988, S. 132–134.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
tung der Welterkundungen wird nachdrücklich betont. Entsprechend wird etwa die Bedeutung des Kartographen Martin Behaim aus Nürnberg herausgestellt. Tatsächlich erhält Magellan bei Baumgardt hier auch heroische Züge, wenn der »Überläufer« als einsam um seine Sache Ringender dargestellt wird,297 aber er ist nie so wie bei Zweig der einzelne, der sich dem nationalistischen Wüten der Anderen entgegenzustemmen hat. Zweig konstruiert einen höchst fragwürdigen Heroismus, der aus dieser Situation der Heimatlosigkeit entsteht. Nur als Modellfall über die Frage, wie sehr selbst der heroische einzelne dem Kampf der Nationalismen ausgesetzt ist, bleibt der Magellan des biographischen Romans noch als Figur nachvollziehbar. Als positiver Held verstanden, also als heroischer einzelner im Widerstand gegen diese als pöbelhaft und sinnfrei gezeichnete Volksemotion, wirkt Zweigs Magellan (1938!) dagegen geradezu absurd weltfremd.298 Dennoch sprechen manche Merkmale dafür, daß Zweig gerade einen solchen Heroismus vor Augen hatte. Magellan erscheint zwischen den Nationen, Höfen, Geheimdiplomatien und Volksemotionen als »der kleine Mann Magellan«.299 Gegen die unbezwingbaren Mächte hat Magellan nur seinen heroischen Charakter, den unbeirrbaren Willen zu setzen. Aufgeheizten und verstandeslosen Volksmassen steht »Magellans nervenlose Ruhe« gegenüber.300 Wie andere Helden Zweigs muß er »heroische Beharrlichkeit«301 und »zähe, schwere, beharrliche Geduld«302 beweisen, obwohl er »alles Unheil« bereits »vorausgewußt« hat: »Aber Held sein heißt: auch gegen ein übermächtiges Schicksal kämpfen.«303 Und: »Wer heldisch denkt, muß notwendigerweise widervernünftig handeln.«304 Magellans Idee ist und bleibt »sein eigener Gedanke und seine eigenste Tat. Auf ihn fällt jetzt alles, Last und Mühe, Rechenschaft und Gefahr, aber auch das höchste geistige Glück einer schöpferischen Natur: nur sich selber verantwortlich, die selbst erwählte Lebenstat zu vollenden.«305 Diese Worte schrieb Zweig im Bewußtsein des wütenden Nationalismus seiner Zeit, der einer freien Entfaltung des Individuums – und vor allem des nun als jüdisch von der Nation abgespaltenen Individuums – kaum noch Spielraum ließ. Das heroische Ideal des tätigen Menschen, des schöpferi———————— 297 298
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Vgl. Baumgardt, Magallan, S. 137. Einen Hinweis auf die positive Zeichnung Magellans im Gegensatz zu einer feindlichen Umwelt birgt etwa die Betonung der relativ fortschrittlichen »Humanität« Magellans. (Zweig, Magellan, S. 227.) Ebd., S. 104. Ebd., S. 109. Ebd., S. 192. Ebd., S. 215. Ebd., S. 115. Ebd., S. 195. Ebd., S. 117.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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schen Individuums und des triumphierenden ‘Diktators’ (!)306 war von der Realität bereits eingeholt worden. Stefan Zweigs trotziger Optimismus, der Glaube an die Individualität in der Zeit der Massenhysterie, mag Selbstschutz sein; er ist aber vor allem die Konsequenz seines eigenen biographischen Schreibens und eines Geschichtsbildes, welches die historische Entwicklung als Zusammenspiel tatmächtiger Einzelpersonen ansieht. In einer Rezension zu Zweigs Biographie hat Ernst Weiß dessen optimistische Darstellung der Kraft des individuellen Geistes und Willens in widriger Zeit ausdrücklich unterstützt: »Es ist ein Buch für Männer, es ist ein Werk für junge Menschen, die von einer Zeit wie der unseren fast erdrückt werden, das Zweig hier geschaffen hat. Es gibt Mut. Und was brauchen wir heute mehr als Mut?«307 – Es liegt nahe, in diesem Sinn in Stefan Zweigs Magellan auch eine zumindest partielle Zurücknahme seiner Selbstbekenntnisbiographie über Erasmus zu lesen. Zweigs Biographik hatte ein wesentliches Ziel in der Bildung eines neuen Geschichtsverständnisses, das nicht mehr von den Darstellungen der Kriege und Schlachten beherrscht werden sollte und nicht von der Teleologie der nationalen Staaten und Bewegungen. Unter dem Titel Geschichtsschreibung von morgen hat Zweig 1939 seine Ansichten in den Vereinigten Staaten in einem Vortrag dargelegt. Den einzigen Ausweg aus einer Geschichte der Kriegshelden und Schlachten, die etwa seine eigene Schulzeit geprägt habe,308 sehe er in der vorbildlichen Darstellung neuer, anderer Helden:309 Ist es nicht vielmehr unsere Pflicht, gerade weil wir die Gefährlichkeit dieser Neigung zum Sensationellen kennen, statt des brutalen Heroismus jenen anderen darzustellen, den wir innerlich für den höheren halten – die großartigen Gestalten der Gelehrten, die aufopferungsvoll in ihren Laboratorien arbeiten, verzehrt von Einsamkeit, arm und unbekannt? Die Staatsmänner, die Fürsten, die Präsidenten, die nie einen Krieg führten und ihre ganze Kraft einsetzten, um im Sinne der Verantwortung, der Versöhnlichkeit und der Humanität zu wirken? Ist es nicht unsere Pflicht, eine Umstellung der Heldenverehrung vorzunehmen und diejenigen der Menschheit als Beispiel zu stellen, die sich töten ließen für eine ———————— 306 307 308
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Ebd., S. 193. Ernst Weiß, Liebesbriefe an das Schicksal. Zu Stefan Zweigs »Magellan«. [1938.] In: Weiß, Die Kunst des Erzählens, S. 428–434, hier S. 434. »Nur Hannibal, Scipio, Attila, Napoleon waren wichtig, nur Männer, die Kriege geführt, wurden uns als Helden dargestellt, und so von Anfang an unseren fügsamen Gehirnen der Gnade mit immer wiederholtem Hammerschlag eingehämmert, das Wichtigste unserer Welt sei der Krieg und die wesentlichste Leistung eines Menschen, eines Volkes der Sieg.« Zweig, Geschichtsschreibung von morgen, S. 305. – Ganz in diesem Sinn äußert sich Friderike Zweig über die Magellan-Biographie ihres Mannes: »Rückblickend wollte der Biograph zeigen, daß die Tat dieses ersten, rechtschaffenen Helden größer war als die der blutbefleckten Konquistadoren.« (Friderike Zweig, Stefan Zweig. Wie ich ihn erlebte. Berlin-Grunewald: F. A. Herbig 1948, S. 171.) Zweig, Geschichtsschreibung von morgen, S. 318.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Idee – statt jener anderen, die Tausende und Millionen in den Tod trieben für den egoistischen Gedanken eigener oder nationaler Macht?
Stefan Zweigs Forderung, eine »Umstellung der Heldenverehrung« auf andere Heroen vorzunehmen, ist in einer besonderen historischen Situation, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, formuliert worden. Sie kann als eine Summe seiner späten biographischen Arbeiten angesehen werden. Aber schon zuvor hat Zweig auch die Heroisierung anderer Persönlichkeiten betrieben. Er war sich sichtlich der Macht des Sensationellen bewußt, das er mit rhetorischem Geschick in seinen biographischen Arbeiten herausarbeitete. Er verstand seine Arbeit dabei nicht als bloßes Geschäft eines Erfolgsautors, sondern nahm offensichtlich die erzieherische Position und die größere Verantwortung des Verfassers populärer Biographien ernst: sei es, um Freud gegen eine vermeintlich negative Presse zu rechtfertigen oder um moralische Helden an die Stelle der nationalen zu heben. Zweigs Helden zeichnen sich – wie am Beispiel Scotts, Freuds und Magellans gezeigt wurde – durch ihren beharrlichen Charakter und ihre Willensstärke aus, besonders aber durch ihre Moralität, ihr selbstverantwortliches und selbstaufopferndes Handeln. Zweig betont die Position des einzelnen gegenüber geschichtlichen Prozessen, nationalen Bewegungen und der Ohnmacht im Angesicht moderner Vermassungs- und Technisierungsprozesse. Immer wieder wird die Vereinzelung, ja fast eine Asozialität des Helden herausgestellt, der sich gegen Gruppen und Gruppeninteressen (Freud, Scott, Magellan und auch Erasmus) oder gar gegen emotionale Nationalismen durchsetzen muß (Magellan und Erasmus). Die Beharrlichkeit des einzelnen kann noch zur Durchsetzung der Idee führen (Magellan, Freud). Dabei ist es besonders wichtig, daß der individuelle Einsatz einen Selbstwert jenseits des persönlichen Scheiterns (Erasmus, Magellan, Scott, auch Marie Antoinette) hat. Der moralisch-heroische Charakter ist über den historischen Nutzen seiner Tat erhaben. Als Handlungsantrieb bleibt freilich die Möglichkeit und die Hoffnung auf Erfolg bestehen, denn Magellans Beispiel zeigt, »daß immer wieder ein einziger Mensch mit seinem kleinen vergänglichen Leben, was hunderten Geschlechtern bloßer Wunschtraum gewesen, zu einer Wirklichkeit und unvergänglichen Wahrheit umzuschaffen vermag«.310
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Zweig, Magellan, S. 280.
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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4.1.6. Würde des Menschen – Flake über Ulrich von Huttens Denken und Sinnlichkeit Im Werk des Erzählers und Essayisten Otto Flake (1880–1963), der sich vom Anhänger der Dadaisten bis zum literarischen Biographen, vom ‘guten Europäer’ zum Unterzeichner der berüchtigten Ergebenheitsadresse der 88 Autoren gegenüber Hitler (1933) wandelte, vereinen sich liberale und konservative Traditionen und Ideale, in deren Dienst Flake sein Schreiben stellte. Literatur, insbesondere Publizistik, werde von Flake, so stellt es Sabine Graf in ihrer Flake-Dissertation dar, als Erziehungsmedium im Rahmen der »Vervollkommnung des Individuums zu einem humanistisch geprägten Weltbürger« aufgefaßt; freilich wird das Ideal der Autonomie des Subjekts auch von Flake zunehmend in einer Flucht in die biographische Vergangenheit gesucht und schließlich vor dem Hintergrund der hingenommenen realpolitischen Entwicklungen seit 1933 gänzlich gegenüber einem Geschichtsfatalismus zurückgestellt.311 Flake verfaßte mehrere ‘vies romancées’ oder literarische Biographien, die er u.a. Ulrich von Hutten (1929), dem Marquis de Sade (1930), dem Türkenlouis (1937) widmete. Ulrich von Hutten und Marquis de Sade waren Auftragsarbeiten des Fischer-Verlages, mit welchen Fischer gegen den beneideten Erfolg, den der Konkurrent Rowohlt mit den Ludwig-Biographien erzielte, einen hauseigenen Biographen etablieren wollte. Der ersehnte Erfolg blieb allerdings aus. Die Hutten-Biographie erreichte eine Auflage von 7’000 Exemplaren und war damit zwar nicht eben erfolglos, lag aber im einstelligen Prozentbereich gegenüber den weltweiten Spitzenauflagen der Ludwig-Biographien. Die Sade-Biographie konnte sich mit einer Startauflage von 4’000 Exemplaren nicht den Verlagserwartungen gemäß durchsetzen.312 Neben den biographischen Monographien erschienen aus Flakes Feder zahlreiche biographische Kurzporträts.313 An dieser Stelle soll lediglich die im Kontext des Spannungsfeldes von Heroisierung und Vermenschlichung interessierende Arbeit über Ulrich von Hutten betrachtet werden.314 Hutten zählte zum Kanon der Leitbilder in deutschnationalen Geschichtsentwürfen, und die Hutten-Biographen ———————— 311
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Sabine Graf, »Als Schriftsteller leben«. Das publizistische Werk Otto Flakes der Jahre 1900 bis 1933 zwischen Selbstverständigung und Selbstinszenierung. St. Ingbert: Röhrig 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 37), S. 2f., 287ff. Peter de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt/M.: Fischer 1970, S. 1131f. Vgl. etwa die Sammlungen: Otto Flake, Die Verurteilung des Sokrates. Biographische Essays aus sechs Jahrzehnten. Hg. von Fredy Gröbli-Schaub u. Rolf Hochhuth. Heidelberg: Lambert Schneider 1970; ders., Freiheitsbaum und Guillotine. 57 Essays aus sechs Jahrzehnten. Hg. von Rolf Hochhuth u. Peter Härtling. Frankfurt/M.: Fischer 1976 (Otto Flake Werke 5). Otto Flake, Ulrich von Hutten. Berlin: S. Fischer 1929.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
verbanden nicht selten nationalpolitische Interessen mit der Idealisierung ihres Gegenstandes, wenn sie ihn nicht kritisch als syphilitischen Landstreicher zu enttarnen suchten.315 In Flakes Biographie zeigt sich ein ambivalentes Vorgehen Flakes, das teils in die moderne psychologisierende Biographik teils in eine nationalisierende Lebensbeschreibung führt. Weder handelt es sich um eine individualistisch-moralisierende Darstellung, wie bei Stefan Zweig, noch wird allein ein prophetisch-nationalistisches Vorgängertum beschrieben, wie es unten anhand der Romane von Walter von Molo gezeigt wird. Otto Flakes Biographie Ulrich von Hutten bietet Annäherungen an beide biographischen Darbietungsstrategien. Erzählerisch und im Umgang mit dem historischen Material bleibt der Text weitgehend traditionell: In geradliniger Erzählung folgt Flake der Chronologie des Lebens; dabei unterstreicht er durch die Diskussion älterer Darstellungen und einzelne Quellenbewertungen den ‘Wahrheitsgehalt’ seiner Lebensbeschreibung. Noch im Sinn einer traditionellen Popularbiographie (und nicht erst im Sinn der psychologischen Überlegenheit über die Quellen in einer modernen Biographik) erscheint dabei der weitgehende Verzicht auf Quellennachweise durchaus legitimiert, wenn an deren Stelle in der Lebensbeschreibung Huttens Faktualisierungsstrategien treten, welche eine solche Quellenverwendung auch ohne gezielte Nachweise suggerieren. Das grundlegende Moment moderner Biographik, die Vermenschlichung der Helden, die auch aus ihren psychologischen, historischen oder nationalen Bedingungen verstanden werden, findet sich allerdings auch in Flakes Lebensbeschreibung. Die Darstellung des Charakters des Biographierten wird nicht nach abstrakten Moral- und Bildungsbegriffen gemessen, sondern an die psychophysische Existenz des Menschen Ulrich von Hutten gebunden. Auf diese Weise strebt auch Flake eine ‘ganzheitliche Sicht’ der Persönlichkeit an. Dabei setzt er sich mit den HuttenBildern der Rezeptionsgeschichte und explizit mit anderen HuttenDarstellungen auseinander: Gegenüber dem Hutten-Biographen David Friedrich Strauß (1808–1874),316 dessen in zwei Bearbeitungen zuerst ———————— 315
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Zur Hutten-Biographik vgl.: Wilhelm Kreutz, Die Deutschen und Ulrich von Hutten. Rezeption von Autor und Werk seit dem 16. Jahrhundert. München: Fink 1984 (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim 8). – Kreutz geht allerdings in seiner ansonsten gründlichen und anregenden Studie auf die Geschichte der Interpretation von Huttens Krankheit und ‘Vagantenexistenz’ nicht ein und benimmt sich dadurch auch der Möglichkeit, anthropologische, psychologische und pathologische Grundlagen der Biographik für seine Darstellung auszuwerten. Hier herangezogen: David Friedrich Strauß, Ulrich von Hutten. Bonn: Emil Strauß 4–6 1895 [1871]. – Strauß hatte seinen Hutten als deutschen Helden 1858/60 »einer bösen Zeit« als Leitbild vorführen wollen: »Damals rief ich: ist denn kein Hutten da? und weil unter den Lebenden keiner war, unternahm ich es, das Bild des Verstorbenen zu erneuern
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1858/60 als Denkmal in schwerer Zeit dann 1871 als Denkmal zur Feier der Nation erschienenes Werk Flake als »sachlich wie psychologisch an vielen Stellen veraltet« bezeichnet,317 erklärt er die Syphilis-Erkrankung seines Helden nicht allein als schweren, unter den historischen Bedingungen entschuldbaren Schicksalsschlag, sondern zeigt die Verbindung der lebenslangen Krankheit mit der Lebensleistung Huttens. Während Strauß umständlich den moralischen ‘Jugendfehler’ durch den Hinweis auf die differenten historischen Umstände zu mildern versucht und betont, Hutten habe erstens Mitleid für die außerordentliche Härte der Strafe der lebenslangen Krankheit und zweitens Bewunderung dafür verdient, daß er trotz dieses Leidens Werke geschrieben habe, »an denen nichts matt, alles Gesundheit, Frische und Leben ist«, argumentiert Flake, erst durch die persönlichen und sozialen Nöte der Krankheit sei Hutten, »in eine tiefere Region des Fühlens und Denkens versetzt« worden.318 Die Krankheit, die Flake übrigens symbolisch als Rache der kolonialisierten Welt am europäischen Imperialismus deutet,319 wird so zu einem ‘wesentlichen’ Faktor in Huttens Charakterentwicklung. Ein nationalistischer Hutten-Biograph, Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925), der in seinem Hutten-Porträt auf sämtliche ‘moralischen’ Bewertungen verzichtete, löste das Problem, Hutten trotz seiner körperlichen Schwäche dennoch als einen ‘führenden Deutschen’ zu kanonisieren, dadurch, daß er den kranken, anfechtbaren Menschen grundsätzlich vom Träger des Geistes der Nation trennte: den ‘besiegten Menschen’ vom ‘siegenden Geist’.320 Freilich gab es vor und nach Flake Autoren, welche nahelegten, daß Hutten gerade durch den asozialen Charakter seiner Krankheit der nationalen Bestimmung habe folgen können, da die Krankheit die nationale Menschennatur von der zivilisierten Fremdherrschaft befreie.321 Gegenüber dem Breslauer Reformationshistoriker und kritischen Hutten-Biographen Paul Kalkoff (1858–1928)322 verwehrt sich auch Flake ———————— 317 318 319 320
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und dem deutschen Volke vor Augen zu stellen.« (Vorwort des Verfassers [1871], ebd., zit. S. VIIf.) Flake, Ulrich von Hutten, S. 12. Ebd., S. 67. Ebd., S. 62. Arthur Moeller van den Bruck, Führende Deutsche. Ulrich von Hutten. Martin Luther. Der Große Kurfürst. Friedrich Schiller. Otto von Bismarck. Friedrich Nietzsche. Minden: J. C. C. Bruns’ Verlag o. J. [1906] (Die Deutschen 2). Vgl. hierzu demnächst: Christian von Zimmermann, Ulrich von Hutten. Der Vagabund als Identifikationstypus in nationalerzieherischen biographischen Entwürfen. In: Hans Richard Brittnacher u. Markus Klaue (Hgg.), Unterwegs. Poetik des Vagabunden. Köln u. Weimar: Böhlau ersch. ca. 2007. Zu Kalkoff vgl.: Irmgard Höß, Paul Kalkoff. In: NDB 11 (1977), S. 63f. – Flake verweist auf: Paul Kalkoff, Ulrich von Hutten und die Reformation. Eine kritische Geschichte seiner wichtigsten Lebenszeit und der Entscheidungsjahre der Reformation (1517–1523). Leipzig: Haupt 1920 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 4); ders., Ul-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
gegen eine moralische Beurteilung der Krankheit; diese müsse aus den psychischen und historischen Umständen verstanden werden, denen sich der Biograph auch ausführlich widmet. Kalkoff wirft er »das alte Unverständnis des im Milieu lebenden Menschen für den unbekümmerten [vor], der im besten Fall die Ordnungssysteme der Gesellschaft kraft seiner Intelligenz neu entdeckt«.323 Die Auseinandersetzung mit Kalkoffs Hutten-Studien deckt zugleich eine spezifische Tendenz der Biographie Flakes auf: Während Kalkoff gegen die Legendenbildung seit Goethe und Herder, besonders gegen die »romantisch-quellenferne Auffassung« von Strauß324 den Sturz der »Bannerträger[ ] des nationalen Gedenkens«325 – Sickingen und Hutten – betreibt, rehabilitiert Flake Hutten gerade durch die Betonung seiner menschlich erklärbaren Konstitution: Vermenschlichung und Heldensturz bilden auch hier keine zwangsläufige Einheit. Den eigentlichen Heldensturz dagegen betreibt Kalkoff, der sich sowohl gegen die romantische Idealisierung eines idealen Rittertums bei Hutten als auch gegen eine Aufwertung Huttens wendet, die darauf beruhe, diesem hinter den äußeren Fakten eine Sehnsucht nach humanistischen Idealen als Handlungsmotiv zuzuschreiben. Dabei argumentiert Kalkoff einerseits rezeptionshistorisch, wenn er kirchenpolitische und standesgeschichtliche Gründe für eine frühzeitige Hutten-Idealisierung anführt, andererseits methodenkritisch, wenn er sich gegen die »psychologischliterarhistorische Forschung« der Gegenwart wendet, welche »unter Ausschaltung der historischen Zeugnisse« den Adligen mit Raubrittervergangenheit von der Last des ‘Nur-Historischen’ reinwasche.326 Für Kalkoff bleibt Hutten auch in seiner letzten Hutten-Studie »der grossprecherische Vagant«, der »sein Leben in Lastern vergeudet und weggeworfen« hat.327 Flake freilich hält sich in seiner Darstellung ebenso auf Distanz zur moralischen Verurteilung als auch zur Rehabilitierung eines eigentlichen, von den historischen Äußerlichkeiten zu befreienden Hutten. Er sucht weder die psychologische Rekonstruktion einer verborgenen Idealität, ————————
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rich von Huttens Vagantenzeit und Untergang. Der geschichtliche Ulrich von Hutten und seine Umwelt. Weimar: Böhlau 1925. – Zur Diskussion um Kalkoffs Hutten-Bild vgl. bes. Kreutz, Die Deutschen und Ulrich von Hutten, S. 207ff., sowie die Literaturberichte von Newald: Richard Newald, Humanismus und Reformation. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 6 (1930), S. 43–53, bes. S. 49f.; ders., Vom Mittelalter zum Humanismus. Ein Literaturbericht. In: Ebd. 8 (1932), S. 394–400, bes. S. 397. – Flakes Biographie findet bei Newald freilich keine Erwähnung. Flake, Ulrich von Hutten, S. 11. Paul Kalkoff, Hutten als Humanist. Ein Nachtrag zur Huttenlegende. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 42 (1929), S. 3–67, hier S. 42. Kalkhoff, Huttens Vagabundenzeit, Vorwort. Vgl. Kalkoff, Hutten als Humanist, zit. S. 11. – Kalkoff setzt sich hier mit Arbeiten von W. Kaegi u.a. auseinander und reagiert auf die Kritik der Historiker an seinem Heldensturz. Ebd., S. 64.
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noch läßt er sich lediglich von den historischen Quellen leiten. Eher wird hier die Suche nach einem ‘ganzheitlichen’ Bild des historischen Menschen erkennbar, der in der Versöhnung von »Sinnlichkeit und Denken«,328 in der Einheit seiner physischen, psychischen, rationalen und historischen Bedingtheit und Konstitution, und wohl auch im bewußten Gegensatz zur psychologischen ‘Indiskretion’ Stefan Zweigs329 nicht in der analytischen Aufspaltung in einzelne Kräfte und Kausalitäten erkannt werden soll. Diese Einheit äußert sich letztlich in der Selbständigkeit, aber auch in der Einfachheit des historischen Individuums, womit Flakes aus der Synthese gewonnene Schlichtheit des Charakters – »ein klarer, faßbarer, einfacher, konsequenter Charakter« – 330 wohl bewußt von der für die moderne Biographie geforderten ‘Kompliziertheit des seelischen Bildes’ abweicht.331 Der behutsame Rückgriff auf die physische, psychische, sexuelle Konstitution des Biographierten zielt nicht auf eine Entlarvung eigentlicher Antriebskräfte der Persönlichkeit, sondern auf die Vollständigkeit des Persönlichkeitsbildes. Dadurch vermeidet Flake eine lediglich auf die historische Wirkung, einen idealisierten Charakter oder eine Geschichte der Leistungen abzielende Monumentalisierung traditioneller Prägung, und er zeigt den historischen Menschen auch in seiner physischen Menschlichkeit. Die Vermenschlichung zielt dabei nicht auf einen Heldensturz, sondern auf eine Befreiung von abstrakten Moralbegriffen: Gerade bei Flake, der an deutlichen Urteilen über die geschichtliche Be———————— 328
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So: Gottfried Stein, Über das Werk Otto Flakes. In: Die schöne Literatur 30 (1929), S. 110–118, hier S. 113. – Otto Flake fand für dieses Ringen um einen Ausgleich zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen ‘Geist’ und ‘Leben’ (zugunsten des Lebens) die Sympathien auch in Will Vespers Zeitschrift »Die schöne Literatur«, in welcher Stefan Zweigs Erfolgsromane aufgrund ihres Reportagestils oder aufgrund der ‘Rassenzugehörigkeit’ ihres Verfassers abgelehnt wurden. So läßt sich kaum die kritische Distanz in dem sehr ambivalenten Lob Flakes für Stefan Zweig überhören, dem er in einer Sammelrezension über »Sieben Biographien« bescheinigt: »in der psychologischen Verve Zweigs verbirgt sich eine männliche Gewalttätigkeit, die auch an seinen Erzählungen auffällt. Er verbeißt sich in den Stoff wie ein Terrier in die Beute; deutlich fühlt man die Wiederholungen im Ansetzen der Sonde, die jedesmal ein Stück tiefer geht.« Otto Flake, Sieben Biographien. In: Die Neue Rundschau 42 (1931), Bd. 1, S. 834–845. – Über Zweigs »Fouché« äußert sich Flake an anderem Ort ähnlich: »Der tiefste Trieb Zweigs ist Neugier; er wittert eine Fährte, er spürt ihr nach, er wendet die Beute zehnmal, er gibt keine Ruhe, bis er ihr Innerstes nach außen gedreht hat. Er steigert sich während der Arbeit selbst und weiß sicher um die Dämonie der Indiskretion, womit ich nur sagen will, daß er um die Problematik des Handwerks weiß, vom Bürgerlichen her gesehen: Laß dich zur Strecke bringen, damit ich Halali rufen kann.« Otto Flake, Ein Tisch mit Büchern. In: Die Neue Rundschau 40 (1929), Bd. 2, S. 819–831, zit. S. 829. Flake, Ulrich von Hutten, S. 13. Vgl. auch Flakes Kritik an der Psychoanalyse, die den Charakter nicht als Synthese zu begreifen vermöge, oder seine Kritik an der mechanistischen Individualitätserklärung der Behavioristen in: Otto Flake, Seelenfeindschaft. Zum Thema Behaviorismus. In: Die Neue Rundschau 41 (1930), Bd. 2, S. 120–131.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
deutung des ‘ersten Nationalisten’ nicht spart, wird der vermenschlichte Heros nicht zum Antihelden, sondern zum menschlich wahrscheinlicheren Helden mit Mängeln, welche die Bedeutung des (national)geschichtlich bedeutenden Menschen gerade durch die Vermenschlichung betonen. Flake selbst schwankt bei seinem Urteil über Huttens Sexualleben und seine venerische Krankheit zwischen zwei Beurteilungsmöglichkeiten – einer eher psychologischen und einer traditionell-heroisierenden. Generell übertragen auf eine nicht nur heroisierende Biographik wäre von dem Versuch zu sprechen, einen traditionellen liberalen Individualismus mit einem eher vitalistischen, psychologisch oder biologisch determinierten Menschenbild zu verbinden,332 was Flake in einer etwas groben Situierung seiner Biographik einen Platz zwischen Stefan Zweig und Wilhelm Schäfer sichern würde (von denen ihn freilich eine traditonellere Auffassung von der Dokumentation des Faktischen und eine traditionellere Darstellungsweise unterscheidet). Einerseits führt er in seiner Hutten-Biographie allgemein-menschliche Argumente zur Rechtfertigung Huttens an: »Wie einer, und nun gar ein junger unverheirateter Mensch, seine sexuellen Bedrängnisse regelt und was ihm dabei passiert, das untersteht überhaupt keinem moralischen Gerichtshof.«333 Andererseits verweist Flake nach der traditionellen Auffassung vom Helden auf den größeren moralischen Spielraum des außerordentlichen Individuums, wodurch der ‘Vermenschlichung’ Grenzen gesetzt werden. Denn die Exzeptionalität des Heroen bedeutet ja gerade seine Abgehobenheit von einer allgemeinmenschlichen Konstitution. Bereits der gegen Kalkoff erhobene Vorwurf, dieser wende sein gesellschaftliches Denken zu unrecht auf jemanden an, der über die gesellschaftliche Normalität und Moralität erhaben sei, zeigt dies. An anderen Stellen der Biographie äußert sich Flake im Blick auf moralische Vorbehalte ironisch: »Man kann sich nicht musterhaft genug aufführen, wenn man Anspruch auf Unsterblichkeit erhebt.«334 Ulrich von Hutten erscheint Flake ganz im traditionellen Gewand des Heroen als willensstarker und leidenschaftlicher Mensch, der immer wieder einsam gegen Widerstände ankämpfen muß. Dennoch vermeidet Flake das Wort ‘Held’, welches überhaupt nur eingesetzt wird, wenn von der protestantischen ———————— 332
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Paradigmatisch hierfür könnte der Essay »Wilibald Pirkheimer« (1930) angeführt werden, in welchem zum einen die italienische Renaissance nicht nur als Geburtsstunde des modernen Individualdenkens, sondern zugleich als südländische Einheit von Gelehrsamkeit und Sinnlichkeit erscheint und zum anderen Pirkheimers gelehrter Humanismus mit handfester Körperlichkeit verbunden wird: »Der Humanismus hinderte ihn wenigstens nicht, vollsaftig bis zur Derbheit zu sein.« Otto Flake, Wilibald Pirkheimer. In: Flake, Die Verurteilung des Sokrates, S. 38–41, hier S. 40. Flake, Ulrich von Hutten, S. 66. Ebd., S. 229. – An anderer Stelle heißt es unzweideutig: »Die Kulturgeschichte eignet sich nicht als Lesebuch für den Damenvortrag.« (Ebd., S. 65.)
4.1. Die ‘moderne Biographik’
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Legendenbildung oder dem Huttenbild bei Strauß die Rede ist. Die Begründung dafür ist wohl darin zu erkennen, daß Flake die Wirkung des als vorbildhaft inszenierten Charakters nicht durch eine zu große Distanz zwischen Leser und ‘Helden’ gefährden möchte. Seine Konzeption des Heroischen soll nicht aristokratischer Natur sein, sondern in gewisser Weise demokratischer, indem er den vermenschlichten Helden zwar nicht gänzlich seiner Exzeptionalität beraubt, ihn aber gleichwohl im menschlichen Maß als Vorbild erreichbarer macht. Dabei wird – wie zu betonen ist – nicht ein ‘mittlerer Held’ im Sinn Stefan Zweigs geschaffen, sondern ein lebensnäherer. Flake bemüht sich sichtlich um eine Lehrwirkung seiner Darstellung. Der lehrhafte Vorbildcharakter wird durch eine Moral am Schluß der Hutten-Biographie unterstrichen, die zwar zunächst den Biographierten charakterisieren soll, aber so allgemein formuliert ist, daß sie die vorbildliche Handlungsweise dem Leser vor Augen führt. »In der ‘Entschüldigung’ steht seine Moral: Eine nützliche oder notwendige Sache zu Ende zu führen, auch wenn man dabei allein stehn sollte.«335 Bleibt schließlich die Frage, warum Flake gerade Hutten zum Gegenstand einer Biographie macht. Hutten ist aus doppeltem Grund für den Biographen Flake interessant: Einerseits hält er die charakterliche Disposition Huttens für zeitlos und fast aktuell, andererseits wird Ulrich von Hutten eine Initialstellung für eine gegenwartsrelevante Entwicklung zugesprochen. Der Biograph rechtfertigt zum einen seine literarische Tätigkeit durch die Behandlung einer zeitgemäßen Persönlichkeit, die Flake in Hutten erkennt, den »man sich ohne weiteres als modernen Publizisten denken« könne, »weiterentwickelt zum Individuum nietzschescher Prägung«.336 Dabei konstruiert Flake letztlich einen Charakter, der von seiner Geschichtlichkeit zwar geprägt wird, aber in dieser nicht aufgeht; ja, Huttens Bedeutung ergibt sich für den Biographen gerade aus diesem ahistorischen Mehrwert des Typus. Auf der anderen Seite wird die Wahl Huttens dadurch gegenwartsrelevant, daß dieser – durchaus in heroischem Sinn – zum Vorreiter des Nationalgedankens stilisiert werden kann: »Aus dem deutschen Humanismus zog Hutten die Idee der Nation«.337 Es zeigt sich, daß Otto Flake nicht nur zwischen Psychologisierung und Heroisierung, sondern auch zwischen Individualität und Nationalität zu vermitteln sucht. Dabei legt Flake nicht eine ‘volkhafte’ oder gar völkische Anschauung zugrunde, dergemäß Huttens Persönlichkeit und Leistung als Konkretisation eines überindividuellen Nationalcharakters zu ———————— 335 336 337
Ebd., S. 362. Ebd., S. 233. Im Gegensatz zu Luther, der nur in seiner Zeit denkbar ist. Ebd., S. 360.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
interpretieren wäre, sondern denkt umgekehrt in einer symbolischen Übertragung der Tugenden Huttens auf die Nation an einen eher individualistischen Nation-Begriff: »Der Begriff der Würde ist es, der durch Hutten bewußt wird. Der einzelne hat eine Würde, und die Nation hat sie.«338 Die Nation erscheint hier als Kollektivindividualität, das heißt als eine Gemeinschaft, der als gedachter Einheit typische Merkmale eines bürgerlich-individualistischen Denkens – wie Tugendkonzepte und Charaktereigenschaften – zugeschrieben werden. Das bürgerliche Ideal des souveränen Subjekts, dem die ‘demokratische’ Heroisierung Huttens zuarbeitet, wird auf die Ebene der Nation übertragen, ohne daß hier eine Konkurrenz zwischen Individuum und Nation in den Blick gerät. Flake erweist sich dadurch als Repräsentant eines konservativen Patriotismus, der den bürgerlichen Individualitätsbegriff mit den Interessen der Nation zu verbinden sucht. Die historische Folie wird dahingehend stilisiert, daß Hutten, der sich zur bürgerlichen wie nationalen Befreiung gegen Rom gerichtet habe, als Symbol dieser Verbindung auftritt. Während Luther als Vertreter eines fast zur Asozialität (oder zum ‘Absolutismus’) neigenden Individualismus vorgestellt wird,339 vertritt Hutten am Ende seiner Entwicklung die Position persönlicher und nationaler Würde. Der Begriff ‘Würde’, der dabei zum Bindeglied individueller und nationaler Interessen wird, ist nach außen Ausdruck der Selbstbestimmungsrechte, der Selbstverantwortung und somit der Autonomie des einzelnen wie der Nation, nach innen freilich verdeckt der Begriff die Objekte psychischer und tiefenpsychologischer Analyse durch einen Einheitsbegriff, der Hutten (und die Nation?) moralisch unangreifbar macht. Der entindividualisierenden Kraft der Kollektive, der weithin diskutierten und befürchteten Gegenwartserscheinungen, die Flake etwa als »Banalität des Fortschritts«, als »Demokratismus ohne aristokratische Zielsetzung« bezeichnet,340 setzt er eine Geburtstunde bürgerlicher und nationaler Individualität als rückwärtsgewandte Utopie einer bürgerlichen Aussöhnung von Einheit und Einzelheit entgegen.
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Ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 250–252, 267. Otto Flake, Zur geistigen Lage. In: Die Neue Rundschau 40 (1929), Bd. 2, S. 117–128, hier S. 121. – Vgl. dort auch die zahlreichen Aussöhnungsformeln als Anforderung an die Gegenwart: Aussöhnung zwischen Geist und Leben, zwischen Selbstbestimmung und Hingabe etc.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig) »Auch heute hätte ich nichts gegen Heldenverehrung; es fehlen mir nur die Helden.« (Emil Ludwig, Credo. Privatdruck ca. 1939)
Die monumentalisierten Heroen sollten von ihrem Sockel auf irdische Füße gestellt – und nur selten umgestürzt – werden. Diese Tendenz gilt häufig als ein Grundzug der modernen Biographik. Der Sozialpsychologe und liberale Politiker Willy Hugo Hellpach, der die Goethe-Biographien von Friedrich Gundolf und Emil Ludwig für Das Tagebuch (1922) rezensierte, gab Ludwigs »Menschenbuch über Goethe« eindeutig den Vorzug.341 Obwohl Goethe von Ludwig als Mensch und gar als Kleinbürger dargestellt werde, erscheint er Hellpach in der biographischen Darstellung als »menschgewordene Gottheit, Inkarnation«.342 Gundolfs Goethe (1916)343 dagegen wird als gedankliches Ringen ohne Realitätsbezug abgelehnt. Emil Ludwig, der seine Biographie gewiß auch gegen die entpersönlichende Monumentalisierung des Klassikers der deutschen Literatur durch Gundolf schrieb, folgt dabei in seinem Goethe (1920), dem er den Untertitel »Geschichte eines Menschen« beifügte, einer wohl auch von Hellpach geteilten Sicht auf den Menschen Goethe, wie Ludwig sie bei seinem Mentor Richard Dehmel (1863–1920) hätte nachlesen können: »Kurz gesagt: es heißt Goethe verkleinern, wenn man ihn als Olympier anspricht.«344 Nicht der weisheiten- und sentenzen-gesättigte Goethe als lebensferner deutscher Klassiker, sondern »sein ruhelos ringendes Doppelwesen«, die Spannungen in seinem Menschsein machen für Dehmel, Ludwig und Hellpach den Wert Goethes für die Gegenwart aus.345 Auch ———————— 341 342 343 344
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Willy Hellpach, Goethe der Mensch. In: Das Tagebuch (1922), S. 129-137, hier S. 136. Ebd., S. 131. Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin: Bondi 1916. Richard Dehmel, Der Olympier Goethe. Ein Protest. In: Ders., Gesammelte Werke. 3 Bde. Berlin: Fischer 22.–24. Tsd.1913, S. 137–141, hier S. 139. – In ähnlicher Weise wird Goethe auch von Chamberlain gesehen: Houston Stewart Chamberlain, Goethe. München: Bruckmann 1912, S. 82: »Im entschiedensten Gegensatz zu den Göttern des hellenischen Olymps, wo jede einzelne Gestalt einen einzigen Zug des menschlichen Wesens verkörpert und dadurch jene grosse innere Ruhe eines, wenn auch bewegten, so doch eindeutigen Daseins gewinnt, bildet den Mittelpunkt der intellektuellen und moralischen Persönlichkeit Goethe’s eine zwiespältige Anlage, eine Anlage, aus welcher mit Notwendigkeit, wenn nicht gerade logische Widersprüche, so doch einander widerstreitende Gegensätze überall hervorgehen – im Fühlen, im Denken, im Handeln, im künstlerischen Schaffen.« Am Rand könnte auch darauf hingewiesen werden, daß die Kritik an Gundolfs »Goethe« in dieser Weise bereits vor dem Erscheinen von Ludwigs ‘Menschenbuch’ formuliert wird. So rezensierte Werner Mahrholz Gundolfs Buch trotz deutlicher Bewunderung letztlich
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Stefan Zweig hat Ludwigs Goethe, noch bevor er selbst als Biograph bekannt wurde, unter die für ihn bedeutsamen Werke gezählt, da Ludwig »dies Mosaik, dies bunte aber starre Mosaik des Philologen wieder zum plastischen Lebensbilde formte«.346 Noch deutlicher fiel das Lob des von Ludwig verehrten Walther Rathenau aus, der in einem Privatbrief an den Goethe-Biographen festhielt, dieser habe sich die Sichtweise der ‘französischen Psychologie’ zu eigen gemacht, den Genius menschlich zu sehen, ohne ihn zugleich zu entthronen. »Ihr Buch ist ein französisches. Sie haben den Menschen gesucht und brauchten nicht zu fürchten, der Heros möchte vergessen werden, denn der Heros liegt Ihnen und uns tief im Blute.«347 Die bisherige Arbeit der (deutschen) »Pfaffen der Kirche« und der »Pfaffen der Germanistik« dagegen wäre der Maxime gefolgt: »Theologie statt Lebenserkenntnis«, und hätte aus Goethe »einen kanonisierten Überpfaffen und Übergermanisten« geschaffen. Ludwigs Buch erscheint Rathenau vor diesem Hintergrund als eine kulturgeschichtlich bedeutsame Leistung. Hellpach unterstreicht noch 1952 in seiner eigenen psychologischen Studie Universelle Psychologie eines Genius – Goethe:348 ————————
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negativ, da Gundolf den Menschen Goethe vergesse und ihn nur als ästhetisches, überzeitliches Phänomen werte. Diese Tendenz der Entfernung von der Lebenswirklichkeit und der Stilisierung zum absoluten Künstler führe freilich dazu, daß »Allgemeingültiges als gerade nur für Goethe gültiges« ausgegeben werde. Für Mahrholz erwächst die Bedeutung Goethes dagegen gerade daraus, daß seine Dichtung zuerst Persönlichkeitsausdruck sei; das Künstlermonument Goethe, wie es Gundolf gefaßt habe, habe darin seine engen Grenzen. Werner Mahrholz, Gundolfs »Goethe«. In: März. Eine Wochenschrift 1 (1917), Bd. 3, S. 705–708. Stefan Zweig, Sichtung aus der Bücherwelt. [Aus einer Rundfrage von Stefan Grossmann.] In: Das Tagebuch 2 (1921), S. 1506f. – Auch Hermann Bahr nannte Ludwigs Buch. Walther Rathenau, Brief an Emil Ludwig vom 25. Apri 1921. In: Ders., Briefe. 2 Bde. Dresden: Reissner 1926, Bd. 2, Nr. 706, S. 304–306, zit. S. 305. – Freilich gab es auch Fachwissenschaftler, die Ludwigs Buch wohlwollend aufnahmen. So gab der Berner Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur, Harry Maync, Ludwigs Buch den Vorzug gegenüber den Popularbiographien von Eduard Engels und Wilhelm Bode oder gegenüber den Goethe-Werken von Friedrich Gundolf und Georg Simmel, denn Ludwig sei es gelungen, aus ästhetischem Formwillen und psychologischer Methode ein zeitgemäßes, ‘organisches Ganzes’ zu schaffen: »eine sehr gehaltvolle Synthese, ein biographischer Roman großen Stils, reich an Seelenaufschlüssen von selbständigem Wert und glücklichen Formulierungen« (S. 172). An die Stelle biographischer Glättungen, die Genialität und Lebensglück in den Vordergrund rückten, trete bei Ludwig »die so oft verkannte Tragik in Goethes Dasein« (ebd.). Harry Maync, Drei neue Goethe-Biographien. In: Der kleine Bund 2 (1921), Nr. 22 vom 5. Juni 1922, S. 171f. – Maync hat kontinuierlich die Goethe-Biographik besprochen; vgl. im Zshg. etwa die kritische Auseinandersetzung mit Chamberlain: Ders., Chamberlain und die Wissenschaft. In: GRM 5 (1913), S. 646–659, sowie mit Chamberlain und Simmel: Ders., Neuere Goethe-Literatur. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 31 (1913), S. 674–685, bes. S. 674–677. Willy Hellpach, Universelle Psychologie eines Genius – Goethe. Der Mensch und Mitmensch – Das Geschöpf im Schöpfer. Meisenheim u. Wien: Westkulturverlag 1952 (Psychologia Universalis 1), S. 10.
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Goethes Leben als Mensch (und das heisst ja grossenteils zugleich als Mitmensch) ist schier unerschöpflich aufschlussreich für Menschentum schlechthin, für dessen Höhen und Tiefen, Lichter und Schatten, Gluten und Fröste, Vollkommenheiten und Fehler, für sein Soll und Haben. Selbst wenn sämtliche Dichtungen Goethes verloren gegangen wären, so bliebe sein persönliches Leben noch immer überaus anziehend, ja spannend, und vor allen Dingen in höchstem Masse menschentümlich.
Die Vermenschlichung der Biographierten muß – dies macht gerade das Beispiel der Goethe-Biographien nochmals deutlich – zunächst als wertneutrale neue Darstellungsweise gesehen werden, und sie betrifft auch die verschiedensten positiv oder negativ bewerteten Gestalten. Sie ist also nicht gleichzusetzen mit der durchaus vorhandenen – mitunter politisch motivierten – ‘Diffamierung’ heroischer Gestalten, der Kritik an Führerideologien und Personenverherrlichung. Eher ist das Gegenteil der Fall: Emil Ludwig etwa, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach anfänglichen (mäßigen) Erfolgen als Autor von dramatischen und erzählenden Texten349 sich neben Kriegsreportagen350 auch der psychologischen Biographik zugewendet hat, hat seine biographische Arbeit stets mit dem »Glauben an die entscheidende Kraft weniger einzelner Männer« verbunden.351 Deutlicher und kompromißloser als andere moderne Biographen bekennt sich Ludwig zu einer Geschichtsauffassung, derzufolge nicht die materiellen Bedingungen, nicht die sozialen Zustände und nicht die Ideen die Geschichte bewegen, sondern die psycho-physische Konstitution ein———————— 349
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Eine Werkbibliographie bietet: [Emil Ludwig,] Books by Emil Ludwig. Moscia 1945 (einschließlich der Raubdrucke und Raubübersetzungen, gekennzeichnet als: ‘stolen by …’). Ludwig hatte bis zum Erscheinen seiner ersten Biographie (1911) bereits die Beachtung der literarischen Presse gefunden. Vgl. etwa die Würdigung der Jugendschriften: Hans Franck, Emil Ludwig. In: Das literarische Echo 14 (1911/12), Sp. 453–457. – Zu Ludwigs Lebenslauf vgl. a.: Franklin C. West, Nachwort. In: Emil Ludwig, Für die Weimarer Republik und Europa. Ausgewählte Zeitungs- und Zeitschriftenartikel 1919–1932. Hg. von Franklin C. West. Frankfurt/M.: Lang 1991 (Trouvaillen 2), S. 243–259; Helmut Kreuzer, Von Bülow zu Bevin. Briefe aus dem Nachlass Emil Ludwigs. In: Ders., Aufklärung über Literatur. Autoren und Texte. Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2. Hg. von Wolfgang Drost und Christian W. Thomsen. Heidelberg: Winter 1993 (Reihe Siegen 116), S. 157– 172. – Der umfangreiche Emil Ludwig-Nachlaß befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv Bern (SLA). Neben zahlreichen (!) unpublizierten Arbeiten, einer umfangreichen Korrespondenz – deren wichtigste Teile freilich durch die Erben an unterschiedlichen Orten versteigert wurden –, zahlreichen biographisch relevanten Zeugnissen werden Ton- und Bilddokumente, Privatdrucke und Tagebücher aufbewahrt. Emil Ludwigs Kriegsreportagen waren auf dem Buchmarkt außerordentlich erfolgreich und beeindruckten durch packende, geschehnisnahe Schilderungen und die Zurückhaltung des Kriegsreporters, der die geschilderten Personen selbst zu Wort kommen läßt. Emil Ludwig, Die Fahrten der Emden und der Ayesha. Berlin: Fischer 1915 (Sammlung von Schriften zur Zeitgeschichte); ders., Die Fahrten der Goeben und der Breslau. Berlin: Fischer 1916 (Sammlung von Schriften zur Zeitgeschichte). Emil Ludwig, Vorwort. In: Ders., Geschichte der Deutschen. Studien über Geist und Staat. 2 Bde. Zürich: Posen 1945 [zuerst: 1941], Bd. 1, S. 9–12, hier S. 11.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
zelner geschichtsmächtiger Gestalten: »Daß diese die Ideen nur aus der Zeit nehmen können, ist kein Einwand, es ist eine Banalität.«352 4.2.1. Menschliche Helden: zur ‘psycho-biologischen’ Konstitution des ‘homo activus’ bei Ludwig Lange vor Jakob Wassermann, Stefan Zweig, Otto Flake und anderen modernen Biographen fand Emil Ludwig bereits vor dem ersten Weltkrieg zur biographischen Gattung und entwickelte dabei eine wenngleich nicht voraussetzungslose, so doch in dieser Art neue biographische Form: eine psychologische, vergleichsweise knappe Form der Lebensbeschreibung, welche ihre Ordnungskategorien nicht in der äußeren Geschichte oder »den großen Kategorien«,353 sondern in den psychophysischen – Ludwig selbst spricht zunächst von ‘physiognomischen’, später von »psycho-biologischen« –354 Aspekten der Persönlichkeit und deren Entwicklung findet. 1911 erschien Emil Ludwigs Biographie Bismarck: Ein psychologischer Versuch – die erste von vier literarischen Auseinandersetzungen Ludwigs mit Bismarck.355 In einer drei Jahre darauf publizierten EssaySammlung Der Künstler (1914) werden bereits die Grundzüge seiner Biographik reflektiert, etwa die Betonung der Körperlichkeit des Genies gegenüber rationalistischen und vernunftethischen Positionen (im Essay Genialität des Körpers) oder die Bevorzugung psychologisch-biographischer Aspekte der Persönlichkeit vor Charakter- und Milieustudien (Charaktere und Biographien).356 Die bisherigen Studien zu Emil Ludwig und seiner Biographik erwähnen den frühen Versuch über Bismarck allenfalls beiläufig 357 und beschränken sich nach einem obligatorischen Hinweis auf ———————— 352 353
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Ebd. So stellt etwa Georg Simmel in einer von Ludwig geschätzten Studie Goethe dar, indem er »das Verhältnis von Goethes Daseinsart und Äußerungen zu den großen Kategorien von Kunst und Intellekt, von Praxis und Metaphysik, von Natur und Seele« untersucht. Vgl.: Georg Simmel, Goethe. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1913, S. V. Emil Ludwig, Geschenke des Lebens. Ein Rückblick. Berlin: Rowohlt 1931, S. 732. Emil Ludwig, Bismarck. Ein psychologischer Versuch. Berlin: Fischer 71913. Das Werk ist wohl zum Jahreswechsel 1911/12 erschienen; als Vorabdruck erschien am 30. November 1911: Emil Ludwig, Bismarck und die Künste. In: Die Schaubühne 7 (1911), Bd. 2, S. 507–510. – Ludwig hat sich später in einem Drama, einem Essay und schließlich in einer umfangreichen zweiten Biographie mit Bismarck beschäftigt. Emil Ludwig, Der Künstler. Essays. Berlin: Fischer 1914. Scheuer, Biographie, S. 153 (mit falschem Ersterscheinungsjahr: 1913 statt 1911); Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 40. – Weitgehende Unkenntnis von Emil Ludwigs Werk offenbart der Artikel im Literaturlexikon von Killy: Vgl.: Walther Kummerow, Emil Ludwig. In: Killy Literatur Lexikon 7 (1990), S. 365–367. – Johanna Roden konstruiert eine biographische Parallele zwischen Stefan Zweig und Emil Ludwig dadurch, daß die frühen biographischen Arbeiten von Ludwig übergangen werden. So kann Roden ausführen,
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die Goethe-Biographie weitgehend auf die drei biographischen ‘Hauptwerke’ aus der Mitte der 20er Jahre: Napoleon (1924), Wilhelm der Zweite (1925), Bismarck (1926). – Auch in der vorliegenden Arbeit kann keine vollständige Behandlung der vielzähligen Biographien Emil Ludwigs erfolgen, dennoch erscheint mir gerade der Hinweis auf Ludwigs ersten Bismarck und damit auf die frühe Geschichte der modernen Biographik deutscher Sprache wichtig, welche erstens die Zäsur 1914/18 für die Gattungsgeschichte der Biographie erheblich nivelliert, zweitens die Annahme als abwegig erscheinen läßt, die moderne Biographie sei im deutschen Sprachraum ein Import aus dem Angelsächsischen.358 Jan Romein geht in seiner Krisentheorie zur Gattungsgeschichte davon aus, »dass nämlich Krisenzeiten durch ihre autoritätsauflösende Wirkung den Individualismus begünstigen und dass dieser Umstand wiederum die Biographie befruchtet«. Für die moderne Biographik sei die durch den Weltkrieg provozierte Krise im Sinn einer Auflösung der den Individualismus umgrenzenden Autoritätsstrukturen grundlegend gewesen, wenn auch zuvor die Anzeichen für eine Krise bereits eine »latente Tatsache« gewesen seien. 359 Eine Vorgeschichte der Biographie habe es jedoch seit 1907/10 allenfalls in England gegeben; der allgemeine Strom der modernen Biographik setze dagegen erst nach 1918 mit Lytton Stracheys Eminent Victorians (1918), Emil Ludwigs Goethe (1919/20), Stefan Zweigs Drei Meister (1923) und André Maurois’ Ariel ou la vie de Shelley (1923) ein. Ludwigs Vorkriegsarbeiten – neben Bismarck etwa auch: Wagner oder die Entzauberten (1913) oder Richard Dehmel (1913) werden dabei ignoriert.360 Ludwig bezeichnet sich im übrigen bereits 1914 in einer Standortbestimmung selbst als ‘modernen Biographen’.361 Romeins Krisentheorie zur Gattungsgeschichte ist auch Helmut Scheuer gefolgt, der – freilich bei veränderter Akzentsetzung – konstatiert, »daß die Biographien nach dem 1. Weltkrieg als Stabilisatoren für ein aus ————————
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die beiden aus jüdischen Familien entstammenden, 1881 geborenen Autoren hätten jeweils nach dem ersten Weltkrieg eine Wende vom neuromantischen Ästhetizismus der Anfänge zum biographischen Schreiben vollzogen: Johanna Roden, Stefan Zweig and Emil Ludwig. In: Marion Sonnenfeld (Hg.), Stefan Zweig. The World of Yesterday’s Humanist Today. Albany: State of New York Press 1983, S. 236–245, hier S. 238. – Die typisierende Parallele stimmt weder für Zweig, der nach dem Weltkrieg seine ästhetizistischen Interessen zunächst wieder aufnahm, noch für Ludwig, der bereits vor 1914 biographische Arbeiten geschrieben und sich dem Journalismus zugewandt hatte. Vgl. a.: Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 40f. Auch der familiäre und ‘jüdische’ Kontext der Biographen läßt sich kaum vergleichen. So etwa: de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, S. 1129. Romein, Biographie, S. 61f. Nicht zuletzt wäre für die deutsche Biographik wohl auch auf Maximilian Harden hinzuweisen, dessen Essayistik zur Vorgeschichte der modernen Biographie gehört. Vgl. Maximilian Harden, Köpfe. 4 Bände. Berlin: E. Reiss 1910/11/13/24. Emil Ludwig, Charaktere und Biographien. In: Ludwig, Künstler, S. 204–213, hier S. 208.
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dem Gleichgewicht geratenes Bürgertum fungierten«.362 Gewiß hat die Zäsur von 1914/18 zu einer Beschleunigung von Entwicklungen geführt, welche das Bewußtsein befördert haben, in einer Krisenzeit zu leben. Doch wäre es zu kurz gegriffen, wenn man die Modernitätserfahrungen allein auf diesen ereignisgeschichtlichen Hintergrund reduzieren wollte. Gerade die Geschichte der Biographik zeigt mit ihren wichtigen Wandlungen seit Ende des 19. Jahrhunderts (spätestens seit Möbius), daß die Gefährdung des bürgerlichen Individuums nicht nur im Sinn einer realen Krisenerfahrung zu verstehen ist. Zunächst und vor allem zeigt sich im Spannungsfeld zwischen Individualitätsdenken (Freiheit des Individuums) und Kollektivdenken (Integration in soziale, nationale, biologische, rassische Gruppen) durch die Problematisierung der Individualität und der dieser zugrunde liegenden Anthropologie des Bürgers eine Verunsicherung des bürgerlichen Selbstbildes. Was in der Biographie zur Debatte steht ist das Menschenbild, welches das Fundament des konservativ gewordenen liberalen Individualismus bildet und in der Beschreibung individueller Lebensläufe zu bestätigen, zu modifizieren oder zu verwerfen wäre. Bezeichnenderweise ist es ja besonders die Generation der 1880er Jahre und nicht die Kriegsjugend, nicht die europäische ‘lost generation’,363 welche die Biographik zum Medium der Auseinandersetzung mit dem Menschenbild am Beispiel historischer Individuen wählt. Als Krisenphänomen der Zwischenkriegszeit könnte die Biographie insofern verstanden werden, als die politischen Auseinandersetzungen, die Debatten über Zeitgeschichte und Gegenwartsprobleme in einem bis dahin unbekannten Maß über instrumentalisierte biographische Entwürfe und biographische Argumentationen geführt werden. Sehr deutlich reicht die Geschichte der modernen Biographie in die Vorkriegszeit zurück, und wenn Scheuer betont, daß Emil Ludwigs Vorkriegsbiographien »noch durchaus auf der konservativen Linie« liegen, 364 so gilt dies lediglich für die historisch-politische Haltung des Biographen, der gleichwohl auch in späteren Arbeiten über Bismarck wie schon 1911 zum (nun kritischen) Bismarck-Verehrer geneigt war.365 Gattungsgeschichtlich und problemgeschichtlich werden bereits 1911 und nicht erst ———————— 362 363
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Scheuer, Biographie, S. 155. Vgl. hierzu die skandinavistische Dissertation von Nina v. Zimmermann, die auch auf die allgemeinen Fragen nach einer europäischen ‘lost generation’ eingeht: Nina v. Zimmermann, Geschichten aus der Jazz-Zeit. Die ‘verlorene Generation’ in der dänischen Literatur. Diss. masch. Wien 2003. – Ausführlich diskutiert werden die Generationsfragen auch in Essays von Klaus Mann und Kurt Tucholsky (vgl. ebd.). Scheuer, Biographie, S. 153. Könnte nicht gerade die Bismarck-Verehrung 1911 durchaus auch als eine kritische Haltung gegenüber Wilhelm II. zu verstehen sein? Darauf weist jedenfalls die Beziehung Ludwigs zu Maximilian Harden hin.
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nach der Erfahrung des Weltkrieges neue Wege beschritten, und zumindest dem Rezensenten in der Berliner Zeitung Der Tag – vermutlich der Psychologe Willy Hellpach –,366 der in den Verlagsanzeigen der 7. Auflage zitiert wird, ist dies auch bewußt gewesen:367 Ludwigs Buch ist ein geistesgeschichtliches Ereignis – als Ganzes, unbeschadet aller Einzelheiten, die der Kritiker hier wie immer sich anders wünschen kann; es bringt über Bismarck nichts wesentlich Neues, aber das Ganze ist eine (praktisch) völlig neue Art, die Persönlichkeit zu untersuchen. Mit ihm hebt in seiner Art ebenso eine Reihe von Literatur an, wie etwa einstens mit dem Rousseau von Moebius als der ersten wirklichen Pathographie.
In ähnlicher Weise – wenn auch aus dem Blick des Literaturkritikers und nicht des Psychologen – feiert Hans Franck (1879–1964)368 prophetisch in der Halbmonatsschrift Das literarische Echo Ludwigs Bismarck als »meisterhafte Analyse der Struktur einer großen Seele«, welche in ihrer Form »als die Fata Morgana einer der Zukunft vorbehaltenen Dichtung« erscheine; es sei dies das »Buch eines dichterischen Analytikers, des Nachfahrs der Memoirenschreiber und Biographen, des glühenden Verkünders eines Kommenden, ein Merkstein«.369 – Auch Gerhart Hauptmann bezeichnete die Biographie in einem Brief an den Verleger Samuel Fischer als »im höchsten Grade respektabel«: »knappe Sachlichkeit und Anschaulichkeit! guter, kultivierter Vortrag!«370 Worin besteht nun Ludwigs Vorgehensweise? In einem eigentümlichen Vorwort, welches die Position des Verfassers nur erahnen läßt, stellt Ludwig seine Arbeit in das Spannungsfeld dreier Umgangsweisen mit der historischen Persönlichkeit: »Um jeden Helden sind drei Männer bemüht: der Dramatiker, der Biograph, der Analytiker.«371 Als Dramatiker hatte sich Emil Ludwig in historischen Stoffen bereits versucht, und sein Studium der Bismarck-Briefe führte ihn, wie es im Rückblick der Autobiographie heißt, später auch zu dem Wunsch, Bismarck »in dramatischer Prosa ———————— 366
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Willy Hellpach bezieht sich in einer späteren Rezension auf die Besprechung, die »genau am Reichsgründungstag 1912 im Berliner roten ‘Tag’ erschien«. Willy Hellpach, Emil Ludwigs viertes Bismarck-Bild. In: Neue Zürcher Zeitung vom Samstag, d. 1. Januar 1927, Neujahrsausgabe Nr. 2, Blatt 2. Verlagsanzeige in: Ludwig, Bismarck 71913, S. [278]f. Zu Hans Franck, der später selbst als Verfasser biographischer Texte – darunter eines ‘Volks- und Kinderbuches’ »Adolf Hitler« (1933) – hervortrat, vgl.: Helmut Bender, Hans Franck. In: Deutsches Literatur-Lexikon 5 (1978), Sp. 399–401 mit umfassenden bibliographischen Angaben. Hans Franck, Bismarck. Ein psychologischer Versuch. Von Emil Ludwig. In: Das literarische Echo 14 (1911/12), Sp. 1091f. Gerhart Hauptmann an S. Fischer, Brief vom 15.12.1911. In: Samuel Fischer u. Hedwig Fischer, Briefwechsel mit Autoren. Hg. von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler. Frankfurt/M.: Fischer 1990, S. 224. Ludwig, Bismarck 71913 S. 9.
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darzustellen«.372 Weder er noch seine Zeit seien freilich damals, so schreibt Ludwig 1931, reif gewesen, »Zeitgeschichte zu dramatisieren«, und so habe er sich einen anderen Zugang zum Stoff suchen müssen. In der autobiographischen Selbstinszenierung ist Emil Ludwig bemüht, sich den Anstrich des Autodidakten zu geben (seine Autobiographie ist auch eine Kritik der öffentlichen Bildungseinrichtungen), wenn er betont, er sei damals mit jeder Theorie der Menschenanalyse unvertraut gewesen:373 […] also beschloß ich, unbekannt mit Sainte Beuve oder anderen Franzosen, auf eigene Faust einen Charakter zu analysieren, und nun schleppten wir, meine Frau und ich, aus der Erkenntnis der Menschen, denen wir begegnet waren, die Begriffe von Idealen, Leidenschaften, Rassen herbei, wie Fafner und Fasolt die Blöcke in Wagners Urwald. Psychologische Analyse gab es um 1910 in Deutschland kaum, oder ich hatte sie nicht gesehen; mir blieb nur übrig, unsere beginnende Kenntnis des menschlichen Herzens rein intuitiv auf eine historische Figur anzuwenden.
Wenngleich Ludwig eher einen Ausgleich zwischen den genannten Umgangsweisen des Dramatikers, Biographen und Analytikers anzustreben scheint, sah er wohl 1911 seine Aufgabe gegenüber dem traditionellen Biographen vor allem in der ‘psychologischen Analyse’ der historischen Gestalten – freilich weder im Rahmen der psychographischen Praxis der Zeit374 noch in der jüngeren einer Psychoanalyse. In der Tat bleiben die mit Freud identifizierten Elemente der Biographik: Betonung der Kindheit, Bedeutung des Trieblebens oder gar die Traumanalyse, unberührt. Die Biographie setzt überhaupt erst mit dem 16jährigen Bismarck ein; als prägende Phase der Charakterentwicklung wird die Lebenszeit Bismarcks bis zum Alter von 32 Jahren bezeichnet: »Die psychische Analyse des 32jährigen gleicht der des Greises.«375 Die Rolle der Sexualität wird herun———————— 372 373 374
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Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 312. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 312. Auf Sainte Beuve als Vorbild der modernen Biographik verweist im französischen Kontext auch: Madelénat, La biographie, S. 71 u. Reg. Willy Hellpach, der in der Studie Ludwigs den Versuch erkennt, die dramatischen und analytischen Aspekte zu vereinen, verweist auch darauf, daß sich Ludwig von der psychographischen Topik der Zeit freigehalten habe. Hellpach, Emil Ludwigs viertes BismarckBild. Ludwig, Bismarck 71913 S. 30. – Ähnlich hält Ludwig auch 1920 im Vorwort zum »Goethe« fest. »Die Kindheit, für die es an echten inneren Dokumenten fehlt und deren Einfluß weit schmaler war, als die Legende will, wird im Zusammenhang nicht erzählt.« Emil Ludwig, Goethe. Geschichte eines Menschen. 3 Bde. Stuttgart u. Berlin: Cotta 1920, Bd. 1, S. X. – Erst in den jüngeren Biographien wie etwa im zweiten Versuch einer BismarckBiographie wird dagegen die Kindheit stärker berücksichtigt. Hier betont Ludwig, die Kränkungen des Knaben Bismarck seien »von den schwersten Folgen« für sein späteres Leben gewesen (Emil Ludwig, Bismarck. Geschichte eines Kämpfers. Berlin: Rowohlt 45– 54.Tsd. 1928 [zuerst 1926], S. 18).
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tergespielt: »Bismarck war kein Erotiker.«376 Wobei Ludwig freilich tiefenpsychologisch relevante Probleme streift, ohne diese jedoch tiefenpsychologisch zu erklären: »Man ist versucht zu sagen: seine Erotik erschöpfte sich im Willen zu Macht und Werk, in Zorn und wilden Fahrten auf der einen, auf der anderen Seite in Sehnsucht nach Einsamkeit, nach dem Lande, nach Schweigen, in romantischen Einfällen und Wünschen, in der Betrachtung seltener Träume.«377 – Abgrenzungsversuche gegenüber Freud, dem Ludwig insbesondere monomanische Überbetonung der Sexualität, Konstruktion angeblich realer Kindheitserfahrungen aus den neurotischen Zuständen Erwachsener, suggestive Traumdeutung im therapeutischen Gespräch sowie generell die Beurteilung der gesunden Psyche aus der Erfahrung der abnormen vorhält, finden sich zudem immer wieder in Emil Ludwigs Autobiographie und treten deutlich im AntiFreud-Pamphlet Der entzauberte Freud (1946) zutage. In einem Interview, welches der Ludwig-Kritiker George Sylvester Viereck (1884–1962) mit Emil Ludwig führte und das von diesem für den Abdruck authorisiert worden ist, betont Ludwig ebenfalls:378 »Permit me to repeat that I had no acquaintance with the doctrine of psychoanalysis before writing my books. After their publication I met Freud once and had it out with him. We talked for three hours. I respect his age and his achievements, but he is the very antithesis of the things for which I stand.«
Gleichgültig, ob sich Ludwig bewußt zum Autodidakten stilisiert hat oder ob er sich selbst als Autodidakten sah, stellt sich die Frage nach dem unmittelbaren und weiteren Kontext, in welchem Ludwig seine Begrifflichkeiten und sein spezifisches psychologisches Interesse entwickelt. Einen gewissen Einfluß auf die literarische Wende in Ludwigs Werk zu psychologischen Studien könnte die Kritik Richard Dehmels an seinen dramatischen Versuchen gehabt haben. In Briefen an Ludwig weist Dehmel, der dem jungen Autor den Weg zu seinen eigentlichen Fähigkeiten anzeigen möchte, immer wieder recht deutlich auf das besondere psychologische Gespür und Einfühlungs- und Darstellungsvermögen in einzelnen Werken Ludwigs hin, während er nicht minder deutlich die pathetischen Dramen ablehnt.379 Nicht zuletzt wäre auch auf ein mögliches Vorbild für ———————— 376 377 378
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Ludwig, Bismarck 71913, S. 216. Ebd., S. 216f. George Sylvester Viereck, Emil Ludwig: A Duel. In: Ders., Glimpses of the Great. London: Duckworth 1930, S. 294–303, zit. S. 299. – Die Differenzen zwischen Viereck und Ludwig bezogen sich vor allem auf die unterschiedliche Haltung gegenüber Wilhelm II. Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin: S. Fischer 1923, vgl. bes. Nrn. 553 u. 555 aus dem Jahr 1909, s. a. Reg. der Briefempfänger. – In der nur in spanischer und portugiesischer Übersetzung publizierten Fortsetzung seiner Autobiographie schreibt Ludwig in dankbarer Erinnerung: »Richard Dehmel ist der einzige Dichter gewesen, der mich stützte. Bis [zum Alter von] 25 [Jahren] bildete und kämpfte ich gänzlich allein oder verachtet.« Emil Ludwig, Geschenke des Alters oder Vor Sonnenuntergang.
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Emil Ludwig hinzuweisen: auf Maximilian Hardens Essayistik. Ohne Hardens politisch motivierte essayistische Biographik als Vorläufer wäre die Entwicklung moderner Biographik Ludwigscher Prägung wohl kaum denkbar. Ludwig und Harden waren persönlich miteinander bekannt.380 Maximilian Harden hatte aus Anlaß von Bismarcks Tod einen Essay über den ‘Fürsten’ geschrieben, in welchem er – nach einem zwar pathetischen aber glänzend formulierten und in der Stilhöhe dem Gegenstand angemessenen Prolog – die Gattung einer öffentlichen Trostschrift mit einem biographischen Essay verbindet. Geschickt grenzt sich Harden von der in seinen Augen fragwürdigen Nachrufrhetorik ab, indem er die eigentliche Biographie als bereits angefertigte, ‘aufrechte’ Skizze ausgibt, die nur aus Anlaß des Todes eingerückt werde. Von Hardens rhetorischstilistischem Geschick, von der Sicherheit, mit der er das den jeweiligen Gegenstand angemessen charakterisierende Stilregister wählt, konnten biographische Autoren gewiß vielfach profitieren. Interessant ist freilich Hardens Kritik an der Biographik seiner Zeit, die er im Bismarck-Essay formuliert. Folgt man Hardens Sicht, so pflegten diese entweder das ‘hohle Pathos’ laudativer Grabreden oder aber den kleinlichen Stil von Kammerdienerkritikern:381 Unsere demokratische Zeit erträgt große Männer nicht gern; sie erträgt sie eben, spürt aber stets nach den kleinlichen Malen der Menschlichkeit und ist entzückt, wenn sie an den unbequemen Großen Etwas von der gemeinen Art des zweizinkigen Gabeltiers entdecken kann. Daher die unersättliche Gier nach Kammerdiener-Indiskretionen, […].
Dabei richtet sich Hardens Kritik gegen das Fehlen einer biographischen Psychologie, welche das Handeln des Menschen nicht aus seinen unmittelbaren Wirkungen, sondern aus seinen ‘Beweggründen’ und seiner Innerlichkeit zu verstehen habe: »Er hatte unzählige détracteurs und manchen Béranger gefunden, aber noch keinen Taine, der diesen Riesen uns klinisch erklärte.«382 Harden fordert also gerade eine Biographie auf der Basis einer psychologischen Methode, und er fordert dies nicht als Bismarck-Kritiker, sondern als einer, der spät zum Bismarck-Verehrer reifte. Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß sich Ludwig gerade diese Ausführungen zum Vorwurf seiner Arbeit machte; zumindest aber zeigen ———————— 380
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Memoiren. 3 Teile. Typoscript SLA Bern (Nachlaß Ludwig E35–E37), Teil 1, S. 7. – Im Archiv finden sich mehrere abweichende Fassungen mit anderer Paginierung. Ludwig, Geschenke des Lebens, s. Reg. Vgl. a.: B. Uwe Weller, Maximilian Harden und die »Zukunft«. Bremen: Schünemann 1970 (Studien zur Publizistik 13), s. Reg.; Harry F. Young, Maximilian Harden. Censor germaniae. Ein Publizist im Widerstreit von 1892 bis 1927. Münster: Regensberg 1971, s. Reg. Maximilian Harden, Bismarck. In: Ders., Köpfe. Erster Band. Berlin: Erich Reiss 42[Tsd.] 1910, S. 19–60, S. 37f. Ebd., S. 40.
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Hardens Essayistik, in der sich die psychologische Charakterisierungskunst eher als Rhetorik und Stil denn als Methode zeigt, und sein Wunsch nach einer psychologischen Biographie Ludwigs Gespür für die aktuelle literarische Herausforderung, denn Ludwig kann hier an Harden anknüpfen und zugleich dessen Wunsch eigenwillig erfüllen. Ein weiteres Vorbild benennt Ludwig 1922 in einer Dankesrede an den Jubilar »von Plutarchs nie ganz verloschenem Stamme«, an Georg Brandes: »Ihnen vor Allen gebührt der grosse Dank unserer Generation, die wir Ihre Enkel sind und, allzurasch zu neuen Ufern hingelockt, den Bahnbrecher vergessen könnten, ohne den wir neue Formen der Lebensbeschreibung nicht erkämpfen könnten.«383 Ludwigs Biographik entwickelt sich so – um eine genetische Hypothese zu versuchen – einerseits aus dem Ungenügen der dramatischen Form (Tragödie) für eine zeitgemäße Bearbeitung historischer Stoffe (ein Weg, den viele Autoren in dieser Zeit durchlaufen), andererseits aus einer Hinwendung zur psychologischen Figurengestaltung. Seine spezifische Lebensbeschreibungspsychologie partizipiert dabei an den zeitgenössischen Entwicklungen der Psychologie – freilich nicht der Tiefenpsychologie – und eines durch eine spezifische Nietzsche-Rezeption geprägten Menschenbildes.384 Gerade der erste psychologische Versuch von Ludwig, sein früher Bismarck, läßt sich teils auch als Umsetzung von Nietzsches Gedanken zu einer »Entwicklungslehre des Willens zur Macht« aus Jenseits von Gut und Böse lesen; dort polemisierte Nietzsche:385 Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift: sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistige, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen – und, wie sich von selbst versteht, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat »das ———————— 383 384
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Emil Ludwig, An Georg Brandes. Manuskript der ÖNB, Kopie im SLA, von fremder Hand datiert auf Ende Dez. 1922, S. 2. In seinem frühen Essay »Charaktere und Biographien« (1914) gibt Ludwig eine wissenschaftshistorische und geistesgeschichtliche Erklärung für die moderne Biographik, welche sich von den Umwelttheorien abwende und sich den psychischen Spannungen in der Persönlichkeit widme. Dabei betont Ludwig das Vorbild der Psychologie, Psychiatrie und Dichtung für die Biographik, während der Historiker an Bedeutung verliere: »Der fesselndste unter den Biographen ist heute nicht der Historiker.« Ludwig, Charaktere und Biographien, zit. S. 208. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1980, S. 9–243, hier Nr. 23, S. 38.
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Herz« gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der »guten« und »schlimmen« Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, – der leidet an einer solchen Richtung des Urtheils wie an einer Seekrankheit. […]
Ein ‘physio-psychologisches’ Menschenbild – wie es in der hier zitierten Passage formuliert wird – war für die Nietzsche-Rezipienten Richard Dehmel und auch Wilhelm Wundt ohne Einschränkung teilbar, obwohl beide und mit ihnen wohl zunächst auch Emil Ludwig bestimmte ‘Übertreibungen’ Nietzsches ablehnten. Gegen »Nietzsches Ideal des Übermenschen«, welches etwa Wilhelm Wundt lediglich als Gegenideal zur eigenen psychopathologischen Konstitution Nietzsches interpretiert, betont Wundt in seiner »Ethik« zustimmend »zwei moralische Grundmotive«, die Nietzsches Menschenbild geprägt hätten und einen gewissen Konsens zwischen diesen drei Nietzsche-Rezipienten bezeichnen dürften:386 Das eine besteht in der energischen Betonung des Wertes der Einzelpersönlichkeit gegenüber dem alles nivellierenden Kollektivismus; das andere in der Geltendmachung jener menschlichen Eigenschaften, die schon Spinoza als die aktiven Tugenden gepriesen hatte, der Energie des Charakters, des Mutes, der Wahrhaftigkeit, kurz aller der Eigenschaften, die im Dienste der ‘Selbsterhaltung’ in der höheren Bedeutung dieses Wortes und der Vervollkommnung des eigenen Wesens bestehen, im Gegensatze zu den Tugenden der Demut und der Selbstaufopferung, welche die christliche Ethik als die vornehmsten schätzt.
Der moralisch unbefangene Blick auf die Psyche Bismarcks führt bei Ludwig zu einer Aufwertung der Leidenschaften »Haß und Verachtung, Hingabe und Rücksichtslosigkeit, Gewaltsamkeit und Zorn«.387 Sie – und besonders der »Wille zur Macht« – sind für Ludwig charakteristische Leidenschaften der großen Männer, der ‘starken Genies’. In ihrer Verbindung ergeben diese Leidenschaften ein Leidenschaftsprofil des bedeutenden Menschen. Für Ludwig beruhen die Leistung Bismarcks, sein Werk, und seine Persönlichkeit auf einer spezifischen psychophysischen Konstitution, in welcher gerade die ‘schlimmen Triebe’ und Leidenschaften die Basis für das bewunderte Werk geben und die Persönlichkeit durch das Zusammenwirken von Physis und Psyche bestimmt wird:388 Wenn je, so hat in Bismarck sich jener wunderbare Parallelismus von Körper und Seele bewährt, der die Motive aus dem Körper erklärbar macht, der aber auch bei ———————— 386 387 388
Wundt, Ethik, Bd. 2, S. 253. (Bereits enthalten in der dritten Aufl. von 1903.) Ludwig, Bismarck 71913, S. 63. Ebd., S. 78.
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jeder inneren Erschütterung anormale Reaktionen des ganzen Baus bewirkt. Seine physischen Grundelemente, Riesenstärke und äußerste Nervosität, erzeugen Gewaltsamkeit und Zornausbrüche.
Charakteristisch für die ‘psychologische Methode’ von Ludwig ist freilich nicht allein die Neubewertung der einzelnen, teils negativen Persönlichkeitskonstituenten für die Gesamtpersönlichkeit und die Berücksichtigung der bislang vernachlässigten negativen Konstituenten. Charakteristisch ist besonders auch die Konstruktion von Spannungsmomenten, die Gegenüberstellung widerläufiger Einflüssen unterschiedlicher Elemente der Persönlichkeit. Auch wenn Ludwig hier – freilich mit Vorbehalten – von einem psychophysischen Parallelismus spricht, so ist zu berücksichtigen, daß diese psychophysische Beziehung nur einen Teil des komplexen Zusammenspiels erklärt. Wichtiger als die Klärung bestimmter Verhaltenseigenheiten aus dem Körper ist Ludwig die Spannung zwischen den Elementen der Persönlichkeit; ihre Relation ist persönlichkeitswirksam, während die einzelnen Konstituenten selbst im Gefüge der Relationen bedeutungslos werden.389 Die »Struktur des Mannes« wird bestimmt durch spezifische widerläufige Konstitutionsfaktoren, die nicht unmittelbar persönlichkeitsbildend sind, sondern deren Spannungen die psychophysische Gestalt prägen. Aus den einzelnen Persönlichkeitsfaktoren ‘Rasse’ (hier im Sinne ererbten Standesdenkens), ‘Leidenschaft’ und ‘Ideal’ – gedacht als die Trias von Vorstellen, Fühlen und Wollen? – werden unterschiedliche Aspekte bestimmt. Diese treten in widerstreitende Beziehung zueinander und bilden so das Profil der individuellen »Problematik«: »das Gewissen als Korrektiv des Willens zur Macht, Skepsis gegen Gewaltsamkeit, Pflichtgefühl gegen Haß, Fatalismus gegen Christentum«.390 Was dabei mitschwingt, ist freilich auch eine Aufhebung der Wertehierarchie der zugrundeliegenden Faktoren: Die unter den Kategorien Leidenschaften, Ideale und ererbter Stand gefaßten Aspekte sind gleichwertige Faktoren, die in ihrem Zusammenhang (auch in der wechselhaften ‘problematischen Natur’ und nicht nur in der ausgeglichenen) erst die bedeutende Persönlichkeit bilden. Dahinter steht wohl ein Gedanke, der Wilhelm Wundts später von anderen psychologischen Richtungen radikalisierter Einsicht ähnelt, daß das Ganze der Psyche sich nicht als Addition der psychophysischen Einheiten auffassen läßt, sondern einen Mehrwert erzeugt (auch und gerade gegen die Zielrichtung der Teile wie das oben bereits genannte ‘Gesetz der Heterogonie der Zwecke’, aber grundlegen-
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Hier zeigen sich gestalttheoretische Elemente, die Ludwig später in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse weiter profiliert hat. Ludwig, Bismarck 71913, S. 124.
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der auch das ‘Prinzip der psychischen Resultanten’ deutlich macht). 391 Wundt weist ferner auf die Bedeutung der Gegensätze für die Entwicklung und Konstitution der Persönlichkeit hin. Solche Ansichten, in denen Wundt nicht zuletzt Grenzen der von ihm selbst führend vertretenen physiologischen Psychologie zieht, wurden insbesondere durch die sich entwickelnden Richtungen der Gestaltpsychologie, der verstehenden Psychologie und später der Persönlichkeitspsychologie aufgegriffen und führten zu einer (partiellen) Überwindung der von Wundt geprägten Psychologie. Für Ludwigs psychologische Biographik ergibt der Blick auf die Entwicklungen der psychologischen Theoriebildung neben Wundt auch eine gegenläufige Anschlußmöglichkeit, auf welche Willy Hellpach in einer rückblickenden Rezension hingewiesen hat. Hellpach stellt Ludwigs psychologischen Versuch in eine »Atmosphäre, die ganz von dem Bemühen Wilhelm Diltheys gesättigt war, eine neue Art der psychologischen Erkenntnis zu begründen«.392 Er betont, daß dabei gerade nicht die gewählten (teils an Nietzsche anknüpfenden) Überschriften für ihn den ‘epochalen’ Wert dieses Werkes ausmachten, sondern die grundsätzliche Vorgehensweise:393 Zum erstenmal, Dilthey selber nicht ausgenommen, fand ich Diltheys Absichten in einer praktischen Annäherung verwirklicht. »Letzte Elemente der Seele« waren freilich nicht erreicht, aber hätte dies nicht gerade Diltheys Idee zerstört? Hier schien ein Weg gebahnt, zu den Eigenkräften der Persönlichkeit, spontanen wie umweltbedingten, vorzudringen, nicht bis zu jenen Elementen, die den Zerfall der Persönlichkeit bedeuten.
In Ludwigs Hinwendung zur Analyse werden deutlich Diltheys Überlegungen zu einer ‘beschreibenden Psychologie’ erkennbar; doch erscheint mir sein Vorgehen eher eklektisch angelegt, und vielleicht ist er gerade am Ziel der beschreibenden Psychologie Diltheys letztlich gescheitert. Jedenfalls ist der Horizont wissensgeschichtlicher Traditionen, vor deren Hintergrund Nietzsche und Dilthey,394 aber durchaus auch Wilhelm Wundt selbst, gegen dessen physiologische Psychologie sich die neuen Bewegun———————— 391
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Wundt, Grundriss 141914, S. 398f.: »Das Prinzip der psychischen Resultanten findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen werden können, aber gleichwohl keineswegs als die bloße Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind.« In diesem Sinn ist auch Ludwigs Urteil zu verstehen, daß eine letzte Erkenntnis der Genialität des Genies nicht auf der Basis der Analyse seiner Seelenstruktur möglich sei; es bleibe ein unergründlicher Rest. Hellpach, Emil Ludwigs viertes Bismarck-Bild. Ebd. Vgl. hierzu etwa das Kap. »Diltheys ‘Menschennatur’ und Nietzsches ‘Physiologie’« in: Helmut Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion. Stuttgart: Metzler 1985, S. 77–82.
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gen jeweils abgrenzten,395 neue Antworten suchen, auch der Horizont, vor dem sich die Biographik Ludwigs als neuer Weg zur Erkenntnis und Analyse historischer Individuen zu profilieren sucht. Ja, wenn der Persönlichkeitspsychologe Gordon W. Allport (1897–1967) die in dieser Zeit diskutierten psychologischen Richtungen etwa der differentiellen Psychologie, der Typenlehre, der Gestalttheorie, der verstehenden Psychologie, auch der Tiefenpsychologie usw. als Versuche auffaßt, die mangelnde Berücksichtigung des Individuums in der Psychologie zu überwinden,396 so ist Ludwigs ‘Versuch’ als eine teils eigenständige, teils eklektisch an diese Modelle anschließende Position in eben diesem problemgeschichtlichen Kontext und in jedem Fall als deren literarische Entsprechung aufzufassen. Gegenüber elaborierteren theoretischen Ansätzen werden im Versuch des Literaten gewiß Defizite erkennbar,397 aber auch Umsetzungsversuche: Zunächst kann das Ziel einer Analyse im Zeichen der beschreibenden Psychologie Diltheys durchaus als Programm für Ludwigs Analyse verstanden werden. Denn im Gegensatz zur erklärenden Psychologie naturwissenschaftlicher Methodik, welche auf die Erkenntnis der kleinsten Elemente des Seelenlebens und letztlich die psychophysischen Ursachen ziele, gehe – so Dilthey – die beschreibende Psychologie jeweils von dem Gesamtbild aus:398 An der lebendigen Totalität des Bewußtseins, an dem Zusammenhang seiner Funktionen, an der durch Abstraktion gefundenen Einsicht von den allgemein———————— 395
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Freilich darf – um dies nochmals zu betonen – Wilhelm Wundt nicht einseitig auf eine physiologische Psychologie reduziert werden, denn er selbst gab nicht selten noch die Anregungen, an die sich die späteren ‘Überwinder’ der naturwissenschaftlichen Psychologie anschlossen. (Wilhelm Dilthey, Eduard Spranger oder Gordon W. Allport haben dies trotz aller Abgrenzung durchaus gesehen.) Gordon W. Allport, Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart. Übertragen und hg. von Helmut v. Bracken. Stuttgart: Klett 1949 (Originalausgabe New York 1937), S. 8–20. – Allport hatte in den 20er Jahren in Deutschland studiert und leistete manches für die Integration der deutschen psychologischen Schulen in den Vereinigten Staaten sowie für deren Reimport nach Deutschland in der Nachkriegszeit. – Bereits 1911 hatte William Stern in ähnlicher Weise eine idiographische, individuelle Form der Lebensbeschreibung gefordert. Stern, Die Differentielle Psychologie, S. 318. Sebastian Ullrich verkennt etwa den hermeneutischen Hintergrund für Ludwigs Biographik, da er wohl annimmt, dieser könne nur dort legitim festgestellt werden, wo sich ein Rezipient ‘philosophisch’ und nicht wie an der von Ullrich zitierten Stelle auch alltagsweltlich zum Thema äußert. Hellpach und Löwenthal (s. u.) haben dagegen aus je eigener Perspektive auf den hermeneutischen und lebensphilosophischen Hintergrund explizit hingewiesen. Sebastian Ullrich, Im Dienste der Republik von Weimar. Emil Ludwig als Historiker und Publizist. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 119–140, hier S. 126. Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. (1894.) In: Ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlgeung der Geisteswissenschaften. 5., unveränderte Aufl. Stuttgart u. Göttingen: Teubner u. Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 139–240, hier S. 174f.
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gültigen Formen und Verbindungen dieses Zusammenhangs besitzt die Analysis den Hintergrund aller ihrer Operationen. Jedes Problem, das sich stellt, und jeder Begriff, den sie bildet, ist durch den Zusammenhang bedingt und empfängt in ihm eine Stelle. Die Analysis vollzieht sich also hier, indem die Prozesse der Zergliederung, durch welche ein einzelnes Glied des seelischen Zusammenhangs aufgeklärt werden soll, auf diesen ganzen Zusammenhang bezogen werden.
In seiner von der Persönlichkeit ausgehenden Analyse der einzelnen Persönlichkeitsfaktoren erfüllt Ludwigs Studie gewiß eine methodische Anforderung von Diltheys Grundlegung einer ‘geisteswissenschaftlichen’ Psychologie. Ludwig selbst sah freilich rückblickend das Ziel der psychologischen Analyse (im Sinne Diltheys) im Gegensatz zu Hellpach als nicht erfüllt an: »Hier war also die Hälfte der chemischen Arbeit geleistet: eine natürliche Verbindung war in ihre Elemente aufgelöst, nur keine neue hergestellt. Es war die Skizze zu einem Drama, aber keine Gestalt.«399 Noch in seiner Freud-Kritik Der entzauberte Freud wird gegen die Betonung kausaler Beziehungen zwischen Kindheitserfahrungen und psychischer Konstitution des Erwachsenen und gegen die Einseitigkeit sexualisierender Erklärungsmuster von Ludwig ein harmonisierendes Konzept vertreten, welches auf die gestalttheoretischen Grundlagen zurückverweist. Der frühe biographische Versuch sollte nach der Vorstellung Ludwigs die Prämissen psychologischer Arbeit teilen, und dies bedeutete als letztliches Ziel auch eine wertneutrale Haltung des Biographen, der weder verherrlichen noch diffamieren soll. Im Lebensrückblick nimmt Ludwig das angestrebte Ideal der Neutralität freilich zu sehr für sich in Anspruch, wenn er dadurch seinen Erfolg auch bei konservativen Lesern rechtfertigt. In Ludwigs Bismarck stellt gerade die scheinbare psychologische Objektivität, mit welcher die Größe Bismarcks belegt wird, die Basis einer nur noch deutlicheren Idealisierung dar, die sich nun nicht mehr allein auf das Werk und den Charakter, sondern auch auf die Physis und Psyche des Idealisierten bezieht. Ludwigs Bismarck-Studie – nach Meinung des Rezensenten Georg Hallmann »von echter, ungebrochener Ergriffenheit für die tragische Größe seines Helden« getragen« –400 wurde so für konservative Leser nicht nur akzeptabel, sondern steht selbst noch im nationalkonservativen Vorkriegsmilieu. Erst später ist Ludwig auf eine kritischere Distanz zum wohl dennoch verehrten Genie Bismarck gegangen. Die Bedeutung von Ludwigs Werk liegt darin, daß Ludwig die Krise der bürgerlichen Anthropologie mit den aktuellen psychologischen Entwicklungen zu einem Versuch verbindet, der wegweisend für die moderne ———————— 399 400
Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 313. Georg Hallmann, Emil Ludwig: Bismarck. […]. In: Die schöne Literatur 28 (1927), S. 471f. – Hallmann vergleicht Ludwigs Bismarck-Biographie von 1926, in der sich größere Skepsis gegenüber Bismarck zeige, mit der früheren Arbeit.
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deutschsprachige Biographik der Zwischenkriegszeit wird. Denn Ludwigs Arbeit ist auch der Versuch, die Einheit der Einzelpersönlichkeit, das Individuum, als Kernelement liberalistischer Anschauungen, gegen seine Zergliederung in soziale, historische oder allgemeinmenschliche psychophysische Prozesse (vielleicht auch schon gegen die Tiefenpsychologie) zu behaupten. In diesem Sinn empfand Ludwig seinen ersten biographischen Versuch als nicht gelungen. In Emil Ludwigs Bismarck von 1911 sind somit alle Charakteristiken und Problemstellungen der modernen Biographik der 20er und 30er Jahre schon vorhanden, aber die Probleme werden hier – wenngleich nur als ‘Versuch’ – noch weitgehend ohne Konzessionen an den Geschmack des breiten Publikums mit einer Radikalität biographisch-analytisch durchgeführt, welche sich in keiner Biographie der Wassermann, Zweig oder Flake mehr findet – und auch nicht in den späteren Biographien Ludwigs. Trotz mancher Entwicklung in Ludwigs biographischen Werken seit dem Erstling, läßt sich auch eine gewisse Kontinuität in deren Grundlagen und Ansprüchen feststellen. Die Verbindung von Emil Ludwigs Ansatz zu Wilhelm Diltheys beschreibender Psychologie zeigt sich nicht allein in der frühen Phase der biographischen Tätigkeit; sie wird vielmehr beständig erweitert und kulminiert schließlich in der die theoretische Grundlegung teils nachholenden Darstellung »Aus meiner Werkstatt« in Ludwigs Autobiographie Geschenke des Lebens.401 Ludwig betont dort die empirische Seelenkunde, die eigene Erfahrung in der Beobachtung und Imagination anderer Menschen und ihrer Handlungen als Grundlage der psychologischen Analyse. Ebenso wie Dilthey auf das Individuum bezogen die Selbstkenntnis und literargeschichtlich die Autobiographie als Propädeutikum zum Studium und zur Beschreibung fremder Personen in Gegenwart und Geschichte erklärt, betont auch Ludwig die eigene Erfahrung seelischer Grundzustände des Menschen als Basis der Fremdbeschreibung. Zu den Voraussetzungen für eine beschreibende Psychologie zählt Dilthey die innere Wahrnehmung eigener innerer Vorgänge und Zustände, welche es erlaube, per »Analogie« auf das fremde Seelenleben zu schließen.402 Die Voraussetzung für diese Art der Persönlichkeitserfassung stellt die Annahme dar, daß sich das Seelenleben der Individuen nicht qualitativ, sondern quantitativ und relational voneinander unterscheide, daß es also einen begrenzten Vorrat von Vorgängen und Zuständen im Seelenleben gebe, der allgemein-menschlich sowie kultur- und zeitüber———————— 401 402
In leicht veränderter Form hat Ludwig dieses Kapitel der Autobiographie in eine spätere Programmschrift aufgenommen: Ludwig, Die Kunst der Biographie, S. 47–92. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 197–199.
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greifend sei.403 Gerade diese Auffassung wird von Ludwig in lebensanschaulicher Perspektive geteilt:404 […] so habe ich von Jugend auf Geschichte als Erzählung von Menschen empfunden, die so waren wie wir. Oder sollte das menschliche Herz sich mit den Epochen, Sprachen, Völkern ändern? War nicht der Blick, den mir der nackte Neger zuwarf, weil er Geld wollte, den Blicken eines Bettlers im Zentrum von Berlin ganz gleich? Hatte ich nicht über den Lippen meines Onkels, wenn er von seinem Konkurrenten sprach, denselben spöttischen Ausdruck gesehen, den der Kardinal Gasparri zeigte, als er von Wilson sprach, dem Konkurrenten im Friedenswerk? […] Jeder, ob er Dramen oder Geschichte schreibt, kann nur das suggestiv gestalten, was er innerlich erlebt hat. Man muß Sohn und Vater, Feind und Liebhaber, Reisender, Dichter, Politiker, Land- und Stadtmensch in irgendeinem noch so kleinen Maße, jedoch mit starken Gefühlen gewesen sein, um solchen Stimmungen an einem historischen Menschen innig zu folgen.
Ausdrücklich formuliert Ludwig seine Selbsteinschätzung und Standortbestimmung: Er sei eben nicht an Geschichte interessiert, kein Historiker und lese die Werke der Historiker (von Burckhardt und Carlyle, von Plutarch und wenigen anderen abgesehen) nicht: »Alles, was ich historisch darstelle, schöpfe ich aus der Gegenwart: ich habe nie Geschichte studiert, aber immer den Menschen.«405 (Dilthey formuliert ganz ähnlich, daß die erklärenden Psychologen unter den Historikeren: Grote, Buckle und Taine, gescheitert seien, und folgert, »daß die Objektivität des Historikers besser gewahrt bleibt, wenn er sich seinem Gefühl des Lebens überläßt«.)406 Dahinter steht eine Geschichtsauffassung, derzufolge sich allein der Mensch in seiner individuellen Erlebnisfähigkeit in einer wechselhaften Geschichte nicht ändert. Die Biographie behauptet das Individuum gegen die Geschichte, gegen ihren angenommenen überindividuellen Verlauf, und sie setzt das Kontinuum der ‘Menschlichkeit’ tendenziell gegen eine teleologische Geschichte, welche den einzelnen zum bloßen ‘Handlanger der Geschichte’ werden läßt. Zumindest aber wird das Individuum als feste Größe außerhalb des Geschichtsverlaufs interpretiert. Die wechselhafte äußere Geschichte ist für die Menschen der Gegenwart auch gar nicht relevant:407 Die Staaten, die ein großer Mann der Tat begründet, sind längst in Trümmer gegangen […]. Nur wie er dazu kam, was er erstrebte, warum ihm dieses gelungen, ———————— 403 404
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Ebd., S. 229. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 731f. – Auch die Grenzen der Analogiebildung, die Dilthey für die beschreibende Psychologie festhält, bleiben bei Ludwig erkennbar. So betont Dilthey, daß die Kindheit des anderen Menschen der inneren Erfahrung des Betrachters fremd und dadurch unzugänglich bleibe. Auch bei Ludwig zeigt sich zumindest anfangs eine deutliche Zurückhaltung in der Beschreibung der frühen Kindheit. Ebd., S. 729. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 191. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 747.
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jenes zersprungen, das dritte von ihm wieder errungen worden ist, was er fühlte, als er es plante, was, als er’s vollendete: nur dies bleibt bedeutsam, denn es hängt nicht an Ort und Zeit.
Nicht die historische Leistung, sondern die menschliche wird vom Biographen fokussiert; der historische Mensch wird nach Jedermannskriterien gemessen.408 Dadurch dringt letztlich die Individualbiographie gerade nicht zur Beschreibung der historischen Individualität, der Persönlichkeit des Biographierten vor. (Auch sie partizipiert an den Problemen auf dem Weg zur Entwicklung einer anvisierten Psychologie der Einzelpersönlichkeit.) Gerade diese letztlich nicht individuelle Qualität des Biographierten wahrt aber auch die Aussagemöglichkeit und das Wirkungspotential der Biographen, die eben auf der Ähnlichkeit beruhen. Die Ähnlichkeiten des Biographen mit dem Biographierten, aber auch die Ähnlichkeit des Biographierten mit dem Leser sind die Voraussetzungen für die Legitimation der psychologischen Biographik und für deren – an der bürgerlichen Dramentheorie geschulte – Wirkabsicht. Diese Ähnlickeit erst erlaubt die Identifikation, und »aus dieser Identifikation des Lesers mit dem Dargestellten entsteht Mitleid und Furcht, entsteht jeder innere Anteil des Zuschauers oder Lesers«.409 Aus der Analogie der Seelenvorgänge und Zustände, die zur Identifikation des Biographen mit dem Biographierten führt, folgt schließlich die Innenperspektive der biographischen Darstellung: Der Biograph muß (und kann!) sich in den Biographierten hineinversetzen; er kann »‘als Bismarck’ in die Schranken der Geschichte« treten.410 Auf dem Weg zur psycholgischen Erkenntnis der fremden Persönlichkeit sind einige Hürden zu überwinden, die wiederum Dilthey und Ludwig ganz ähnlich formulieren. Die von Dilthey geforderte philologische Arbeit an den autobiographisch und darum psychisch relevanten Quellen wird von Ludwig unterstrichen. Nicht Bismarcks politische Reden, sondern seine Briefe erscheinen ihm relevant, und ähnlich werden jeweils die individuell und psychisch aussagekräftigen Zeugnisse vor jenen bevorzugt, die eher historisch-politisch bedeutsam sind.411 Wenn Ludwig ———————— 408
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So bereits: Michael Kienzle, Biographie als Ritual. Am Fall Emil Ludwig. In: Annamaria Rucktäschel u. Hans-Dieter Zimmermann (Hgg.), Trivialliteratur. München: Fink 1976 (UTB 637), S. 230–248, hier S. 233. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 731. Ebd., S. 756. – Das Kapitel »Aus meiner Werkstatt« sollte auch in Ludwigs Memoiren »Geschenke des Alters« aufgenommen werden. Ludwig tilgte hier an vielen Stellen noch im Typoscript den Namen Bismarck und ersetzte ihn durch »Bolivar« oder »Roosevelt«, so tritt er nun »sozusagen ‘als Roosevelt’ in die Schranken der Geschichte«. Ludwig, Geschenke des Alters, Teil 3, S. 55. Dabei analysiert Ludwig auch solche Zeugnisse psychisch, welche nicht im weiteren Sinne autobiographisch sind. Er folgt vielmehr Diltheys Auffassung, daß »[wir] in allen ge-
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im Vorwort zu seinem Goethe formuliert: »Aufgabe: die innere Welt eines Menschenlebens aus allen Symptomen zu erneuern. Mittel: alle von der Philologie anerkannten Quellen, vornehmlich autobiographische«,412 so ist in dieser Formulierung unschwer Diltheys Konzept zu erkennen. Einen zentralen Stellenwert nehmen bei der Erkenntnis des anderen Menschen die symbolischen Repräsentationen des Seelenlebens und bei der Biographie die Anekdoten ein. Dilthey stellt unter Bezugnahme auf Schleiermacher fest: »Einen […] wichtigen Zug [im Seelenleben] bildet der beständige Umsatz unserer Gefühlszustände in vorstellungsmäßige Symbole und in Ausdrucksbewegungen.«413 In ähnlicher Weise ist Emil Ludwigs Betonung der biographischen Charakterisierung in ‘symbolischen Szenen’ zu verstehen. In der symbolischen Szene – »gewisse Gesten, Worte, Blicke, Stimmungen, die alle nur minutenlang zu dauern brauchen« –414 offenbaren sich der Charakter und das Seelenleben eines Menschen ähnlich der Charakterisierung der Bühnengestalten im Drama: »das Drama ist immer die Vorschule des Epikers«.415 Auch die von Ludwig betonte ‘psycho-biologische’ Betrachtungsweise, welche das Seelenleben immer in Bezug setzt zum körperlichen Erscheinungsbild, findet ihre Parallele bei Dilthey. Dilthey betont nachdrücklich, wenn auch in der konkreten Beschreibung der Abhängigkeit sehr zurückhaltend, daß das Seelenleben »in irgendeinem Verhältnis von Bedingtsein oder Korrespondenz zu der Entwicklung des Körpers« stehe.416 Und Ludwig unterstreicht sein heuristisches Vorgehen in eben diesem Sinne: »Was ich vom Körper des Mannes erfahren kann, ist mir genau so erheblich wie sein Seelenleben […].«417 Noch gegen Freud wendet Ludwig sehr konkret ein, daß dieser es vermeide, seinen Patienten beim analytischen Gespräch ins Gesicht zu sehen, und sich dadurch einer wichtigen Zugangsmöglichkeit zur Psyche des Gegenüber ‘beraube’:418 der von Ludwig ausgiebig genutzten Physiognomik. Eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten zwischen Ludwig und Dilthey betrifft schließlich das Verhältnis von Individuum und Typus. Die Erkenntnis der konkreten anderen Person bliebe – trotz der Ähnlichkeit in den seelischen Grundzuständen und -vorgängen zu allen anderen Men————————
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schichtlichen Leistungen […] gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns [haben]: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten« (Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 199f.). Ludwig, Goethe, Bd. 1, S. VIII. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 187. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 738. Ebd. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 214. Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 748. Ludwig, Der entzauberte Freud, S. 195, 202f.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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schen – letztlich ohne Bedeutung für die Gegenwart und müßte gegenüber der Selbsterkenntnis einen geringeren Stellenwert einnehmen, wenn nicht im Individuum, im Strukturzusammenhang und in der Entwicklung seines Seelenlebens, sich immer zugleich auch der übergeschichtliche Typus zeige. (Diese Ebene bleibt der Selbstbespiegelung der Autobiographie vorenthalten.) Der Typus hat eine typische Entwicklung und Struktur des Seelenlebens:419 […] zugleich suchte ich überall das Allgemeine. In Napoleons Leben suchte ich zugleich das typische Leben jedes vom Macht- und Ordnungswillen besessenen Usurpators, in Rembrandt die Tragödie jedes weltsüchtigen, doch der Welt unterlegenen Künstlers darzustellen, in Bismarck das Drama jedes von Königen abhängigen Genius, in Lincoln das Trauerspiel des Volksfreundes, im Menschensohn das des Propheten, in Wilhelm dem Zweiten das Verhängnis der unkontrollierten Erbschaft.
Als letzte Abstraktion dieser Typenreihe der großen tätigen Männer erscheint der Typus des ‘homo activus’. Sämtliche Biographien versteht Ludwig letztlich auch als Beiträge zur Erkundung dieses Typus, und dabei beschränkt er sich nicht auf die Geschichte, sondern dehnt sein Beobachtungsfeld auf die Gegenwart aus: »Seit 25 Jahren hatte ich den homo activus umkreist und dramatisch, historisch, psychologisch vorzustellen unternommen. Jetzt saß er mir gegenüber.«420 Mit diesen Worten aus der Einleitung zu seinen Inteview-Protokollen Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig (1932) schließt Ludwig auch die Arbeit des Journalisten mit der des Biographen zusammen. Die Arbeit des Biographen an der Vergangenheit korrespondiert mit der journalistischen Arbeit an der Gegenwart: »Die Unkenntnis der Welt über Bismarcks innere Welt hatte das falsche Bild von dem Reiteroffizier geschaffen, das ich durch ein neues zu ersetzen strebte. Im Fall Mussolinis versuche ich es schon heute, um durch ein anderes Bild Anschauungen und [ungerechtfertigte] Befürchtungen der Mitwelt zu verwandeln.«421 Nicht nur die typologische Ähn———————— 419 420 421
Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 742. Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig. Berlin, Wien u. Leipzig: Zsolnay 1932, S. 31. Ebd., S. 25. Die Auseinandersetzungen um den italienischen Faschismus hatten in Deutschland und Österreich stark personenzentrierte Züge und konzentrierten sich auf die Person Mussolinis, dessen Charakter letztlich wichtiger erschien als die Beurteilung der Bewegung. Während Autoren wie auch Emil Ludwig an der Legende des großen Mannes webten, versuchte etwa Adolf Saager Mussolini in einer popularen und psychologischen ‘modernen’ Biographie u. a. auf der Basis von Jungs Typenlehre zu analysiseren, und auch Wilhelm Ellenbogen führte in der sozialdemokratischen Zeitschrift »Der Kampf« umständliche Beweise über die persönlichen Defizite Mussolinis – den er mit Wilhelm II. parallelisierte –, um dadurch erst die Bedeutung der ‘Konjunktur’ und des Umfelds gegenüber der Legende vom großen Mann zu betonen. Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus blieb in diesen Arbeiten aus. Vgl.: Adolf Saager, Mussolini ohne Mythos. Vom Rebellen zum Despoten. Wien u. Leipzig: Hess 1931, bes. S. 113–115; Wilhelm Ellenbogen, Die Legende vom großen Mussolini. In: Der Kampf 24 (1931), S. 156–162.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
lichkeit zwischen Bismarck und Mussolini, also zwischen ‘idealen’ diktatorischen Staatsmännern, wird betont, sondern vor allem die zwischen Dichtern und Staatsmännern, wie sie für Ludwig in Goethe personifiziert zum Ausdruck kommt. Im Fall Mussolinis führt dies Verfahren der Typenbildung, welche die Einzelerscheinung relativiert, freilich auch dazu, daß der italienische Faschist durch beständige Vergleiche mit Goethe und Bismarck einem bildungsbürgerlichen Publikum in Deutschland akzeptabel gemacht werden soll.422 Die typologische Verwandtschaft dient dabei zur gegenseitigen Erhellung der Einzelcharaktere, und sie läßt sich in der Kette Goethe – Rathenau – Mussolini ganz schreibpraktisch durch spezifische Zitierverfahren nutzen: Als Motto der Gespräche muß ein GoetheZitat herhalten – dasselbe Zitat, welches Ludwig 1921 zur Ernennung seines Freundes Walther Rathenau zum Wiederaufbauminister als dessen Lebensmotto bezeichnet hatte:423 »Handeln ist leicht, denken schwer, nach dem Gedachten handeln unbequem.«424 Ludwig erhebt unter diesem Motto zum typologischen Ideal, was er als Heilmittel für das Grundproblem der deutschen Geschichte ansah: die Überwindung der Trennung von Geist und Staat. Dieses Ideal der Überwindung prägt auch seine Reihe herausragender Vertreter des Typus ‘homo activus’, die man sich trotz aller Brüche letztlich als in einer typologischen Reihe stehend vorzustellen hat: Goethe,425 Bismarck, Walther Rathenau,426 Masaryk,427 Mussolini u. a. ———————— 422
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Nur eines von vielen Beispielen ist Ludwigs Kommentar zu Mussolinis Äußerungen über seine Arbeitsweise: »‘Das ist Goethische Technik, die Sie entwickeln’, warf ich ein.« Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig, S. 107. Emil Ludwig, Zur Ernennung Rathenaus. In: Ludwig, Für die Weimarer Republik, S. 33– 35 (zuerst NZZ 1.06.1921). Der Aufsatz endet mit dem Bekenntnis Ludwigs: »Großer Ernst fordert ernste Führer.« Die typologische Reihung wird so auch durch eine Rhetorik der Wiederholung von Biographie-fremden Bestandteilen (Vergleichsgrößen, Fremdzitate etc.) gewonnen. – Das Zitat findet sich in: Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. In: Ders., Sämtliche Werke – Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1. Bd. 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann. Frankfurt/M.: Dt. Klassiker Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 82), S. 355-992, S. 874,24. Vgl. Emil Ludwig, Goethe als Demokrat. In: Ludwig, Für die Weimarer Republik, S. 53– 63. – Es ist in der Ambivalenz der vertretenen Anschauungen bezeichnend, was der vorgeblich radikale Verfechter der Weimarer Republik etwa in diesem Aufsatz von 1922 schreibt: Goethe wird als aufgeklärter Antikonstitutionalist (S. 60) vorgeführt, dessen Zukunftsvisionen »Demokratie im Innern, Völkerbund nach außen« (S. 61) seien. Die Zukunftsvision freilich ist nicht mit Parlamentarismus zu verwechseln. Eher wäre sie als aristokratische Herrschaft der ‘großen Männer’ (»Auswahl und Herrschaft der Besten aus dem Volke«, S. 63) zu verstehen. Emil Ludwig, Rathenaus Schicksal. In: Ludwig, Für die Weimarer Republik, S. 65–68 (zuerst NZZ, 27.06.1922). – Rathenau, dessen wichtigste Eigenschaften »Geistigkeit« und »Wille zur Macht« gewesen seien (S. 65) wird von Ludwig als einer »der wenigen Männer« in Deutschland bezeichnet, »die zugleich handeln und denken konnten« (S. 66). 1928 stellte Ludwig in der »Vossischen Zeitung« die Frage: »Gibt es heute große Männer?« Er beantwortete diese im Hinblick auf die Staatsmänner: »Sollte ich aber den Lebenden
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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Mit den methodisch-theoretischen Voraussetzungen der Diltheyschen beschreibenden Psychologie übernimmt Ludwig auch deren – aus heutiger Sicht problematische – Lebenslaufkonzeption. Wenn Dilthey der Nivellierung der Individuen durch äußere geschichtliche und soziale Entwicklungen oder konstitutionelle anthropologische Annahmen durch die Betonung der ‘Selbigkeit’ des Ichgefühls (des subjektiven Identitätsgefühls im Lebenslauf) im Individuum begegnet, so ist dieses Kontinuitätsgefühl des Ich auch die Voraussetzung für die Konstruktion des Zusammenhangs im Lebenslauf der Biographik. Die Vollkommenheit der seelischen Gestalt, die nicht von der erklärenden Psychologie seziert werden soll, sondern in welcher die Analyse stets den Geist des Zusammenhalts, die Gestalt, zu berücksichtigen hat, findet ihren Widerhall in Ludwigs biographischer Disposition und Arbeitsweise. Einerseits werden die Kapitel des Buches der Biographie als »psychologische Kapitel«428 verstanden, andererseits folgt die Gesamtkonzeption – wie Ludwig betont – jeweils der drei- bzw. fünf-Akt-Gliederung des Dramas.429 (Interessanterweise wird in Ludwigs Verständnis, wie nebenbei zu bemerken ist, die Harmonisierung des Lebenslaufs zum Ganzen der Biographie nicht durch die Narration geleistet, sondern durch die Nähe zum strengeren Strukturprinzipien unterliegenden Drama.) Schon in den Inhaltsverzeichnissen, die für Ludwigs Schreibprozeß nach eigener Auskunft von zentraler Bedeutung waren,430 läßt sich dieser Wille zur ‘Gestalt’ung deutlich ablesen. Dabei ist neben der spezifischen ‘Dramaturgie’ der Biographien Ludwigs immer deutlicher die Tendenz zur geschlossenen Narration zu erkennen. An die Stelle der im ersten Bismarck von 1911 entgegen dem eigenen Anspruch noch deutlichen analytischen ‘Zergliederung’ tritt in der vollständig neu gefaßten zweiten Bismarck-Biographie – Bismarck: Geschichte eines Kämpfers (1926) – die zusammenhängende Erzählung des Lebenslaufes, welche in jedem Lebensabschnitt die gesamte ‘Struktur des Seelenlebens’ berücksichtigt. Die im früheren Versuch leitenden analytischen Aspekte treten dabei als Ordungskriterien für den biographischen Stoff zurück und bilden in————————
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nennen, dem der erste Platz gehört, so ist es […] Massaryk, der Tscheche.« (S. 107) Auch Mussolini wird von Ludwig hier in Betracht gezogen, aber dieser stehe noch im dritten Akt seiner Leistungen und könne noch nicht gültig beurteilt werden. – Emil Ludwig, Gibt es heute große Männer? In: Ludwig, Für die Weimarer Republik, S. 105–110 (zuerst 1.1.1928). Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 758. Ebd., S. 749f. Ebd., S. 750: »[Ich schreibe] mir Titel und Inhalt immer wieder in schönen Buchstaben auf immer neue Seiten, lasse sie mir auch drucken, starre sie jeden Morgen bei Beginn meiner Arbeit an, wie der Baumeister den Plan zu seinem Turm, bevor er hinaufklettert und im fünften Stockwerk, Westseite, rechte Ecke oben dort fortfährt, wo er gestern aufgehört hat […].«
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
nerhalb der nun stärker in den Vordergrund gerückten Ereignis- und Quellennarration eine begleitende Kommentarebene, auf welcher etwa der psychologisch bedeutsame Gehalt eines Briefzeugnisses ausgedeutet wird. Noch häufiger freilich verlieren sich die Partikel einer vorgängigen Analyse im Plauderton des Erzählverlaufs. Nun etwa ist es nicht mehr der Biograph, der die ‘problematische Natur’ Bismarcks erst erkunden muß, sondern ein Gespräch zwischen der Freundin Marie von Thadden und der späteren Braut Johanna von Puttkammer, in welchem ‘Marie’ »die problematische Natur in ihm getroffen« hat.431 Das Gewicht der Ergebnisse einer vorgängigen Analyse wird durch die Verteilung auf mehrere Beobachter – den Biographen und die von ihm eingesetzten Nebengestalten – erhöht. Immer wieder flicht Ludwig auch Sätze ein, die aus einer ‘symbolischen Szene’ die Summe der ‘Struktur des Seelenlebens’ ziehen – so etwa anläßlich Bismarcks Eintreten für die Krone im März 1848:432 Hier ist die erste und zugleich eine der stärksten Szenen, in denen Bismarck ohne jedes Interesse nur aus Gefühl für seinen König kämpft […]. Diese Gefühle, gemischt aus Mut und Haß gegen die Menge, der man nicht weichen darf, aus Stolz des Ritters und langererbter Haltung, aus einer sogar romantischen Vorstellung des Paladins, überschwemmen in solch kritischen Momenten die Kälte seines Verstandes; […].
Wiederum werden die schon aus der ersten Bismarck-Studie bekannten Aspekte der ‘Rasse’ (Standesdenken etc.) und Leidenschaften (Mut und Haß) hervorgehoben, aber sie werden stärker in ein Spannungsverhältnis zwischen Fühlen und Denken integriert. Weder Charakter und idealische Zielvorstellungen allein bestimmen das Handeln, noch etwa die historischen Umstände, das Milieu, die Erfordernisse in bestimmten Konstellationen. Die Handlung Bismarcks, sein Wollen basiert nur zum Teil auf einer rationalen Grundlage, besonders aber eben auch auf einer individuellen und komplexen psychischen, letztlich psychobiologischen. Die ‘Psychologie’ Emil Ludwigs hat sich zwischen 1911 und 1926 in ihren Grundlagen nicht gewandelt. Die literarische Behandlung der analytischen Ergebnisse freilich führte auch zum Vorwurf des Rezensenten Georg Hallmann, der ‘problematische Charakter’ Bismarcks werde im jüngeren Werk »simplifizierend gegenüber dem ‘psychologischen Versuch’« vorgenommen.433 Der historische Mensch als subjektiver Erlebniszusammenhang, als individuelle psychobiologische Einheit, als Gestalt, bildet das Zentrum der Geschichte, die letztlich auf dem Zusammenwirken personeller Konstellationen und persönlicher Konstitutionen der geschichtsmächtigen Gestal———————— 431 432 433
Ludwig, Bismarck 45.–54.Tsd.1928, S. 61. Ebd., S. 100. Hallmann, Emil Ludwig: Bismarck, S. 471.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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ten beruht. Die historische ‘Gestalt’ ist das Mittel des Biographen, eine Antwort auf die Frage nach dem ahistorischen Humanum der Individualität zu suchen. Ludwigs Biographien zeigen so immer auch, daß es zwischen dem Egoismus einer freien Individualität und der Auflösung der Individualität in der breiten Masse einen Mittelweg gibt – einen Mittelweg, der zwar die physiobiologische Natur des Menschen einschließt, dieser aber im komplexen psychophysischen Gefüge nicht die Herrschaft über den Menschen einräumt. In Ludwigs Beharren auf der subjektiven Intention als psychologischem Erkenntnisinstrument, in der Reduktion der Geschichte auf die psychophysische Konstitution der ‘großen Männer’ kann auch »eine Verweigerung moderner Komplexitätserfahrungen« 434 erkannt werden; dabei darf aber nicht übersehen werden, daß es sich vor allem um den Versuch handelt, das Individuum jenseits deterministischer Kategorien in seinem Selbstsein zu bewahren. 4.2.2. Vermenschlichung und Kritik – Ludwig über Wilhelm II. Die Vermenschlichung schließt nicht per se den Sturz der Helden ein. Gleichwohl stand den psychologisierenden Biographen nun auch eine breite Palette zur Beschreibung psychischer Deformationen zur Verfügung, um sich nach ihrem Urteil zweifelhaften Personen beschreibend zu nähern oder selbst öffentlich angesehenen Persönlichkeiten fragwürdige Züge einzuschreiben. Gerade in der Anwendung der psychologisierenden Verfahren auf abgelehnte Persönlichkeiten wird die Instrumentalisierung der Psychologeme für eine rhetorische Strategie deutlich, welche die ‘Psychologie’ zur Wahrscheinlichkeitsstiftung in Verfahren der fictio personae, der Evokation historischer Individuen nutzt, um letztlich überindividuelle soziale, politische etc. Phänomene zu treffen. (Wobei sich immer auch die Gefahr ergibt, zwar Beiträge zur Idealisierung oder Diffamierung der Einzelpersönlichkeit zu leisten, aber hinter dem Vordergrund dieser Individualisierung das weiter reichende strategische Ziel zu verfehlen, ja, durch die Betonung des einzelnen zu verstellen.) Bereits in seinem zweiten biographischen Versuch setzt Ludwig die psychologischen Verfahren dazu ein, einen willentlichen Heldensturz zu betreiben. In Wagner oder die Entzauberten (1913) gibt sich Ludwig das Ansehen eines ‘entzauberten’ Wagner-Bewunderers, der insbesondere die diagnostizierte schwüle, verklemmte Erotik Wagners an den Pranger stellen möchte.435 Das Buch sollte provozieren, und diese Absicht wurde auch erreicht. Als makellosen Helden wollten Richard Wagner nicht einmal die ———————— 434 435
Ullrich, Im Dienste der Republik von Weimar, S. 124. Emil Ludwig, Wagner oder die Entzauberten. Berlin: F. Lehmann 21913.
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eigenen Verehrer feiern; nicht akzeptiert wurde dagegen die Verbindung von scheinbar psychologischem Urteil – an vielen Stellen eher moralischer Verurteilung – mit einem Urteil über die Leistungen Wagners. Max Meyerfeld etwa erklärte in seiner Rezension: »Ludwig hätte rundheraus erklären dürfen: als Mensch war Wagner ein Ekel, wenn er auf jeder Seite betont hätte, er war eben ein Genie – ein Genie – ein Genie.«436 Immerhin sollte berücksichtigt werden, daß in bestimmten Kontexten nach der Genie-Wahnsinns-Debatte und den Degenerationstheorien eine etwas angeschmuddelte Betonung der verdrängten Sinnlichkeit Wagners kaum mehr ernstliche Empörung hervorrufen konnte, sondern gerade als Ausweis der Genialität gelten durfte. Zu deutlich werden darum versteckte moralische Urteile und offene Diffamierungsabsichten als bloße psychologisierende biographische Rhetorik erkannt. Emil Ludwig selbst bekannte 1946 im Vorwort zu seinem gegen Sigmund Freud geschriebenen Buch Der entzauberte Freud, er habe in seinen Biographien bis auf drei Ausnahmen stets eine positive, verehrende Tendenz verfolgt: »Nur zweimal habe ich diese Richtung verlassen: in den Büchern über Wilhelm den Zweiten und Wagner habe ich Dekadenz, Hysterie und Verirrungen des Affektlebens angegriffen. Sigmund Freud ist der dritte Fall.«437 Emil Ludwigs zweite offene Denkmalsturzbiographie erschien wenige Jahre nach dem katastrophalen Ende des Kaiserreichs: die Biographie Wilhelm der Zweite (1925/26), in welcher der abgedankte Kaiser vor dem Hintergrund einer verfehlten Jugend und zu frühen Machtübernahme dargestellt wird. Das Buch war mit einer deutschen Gesamtauflage von 200’000 Exemplaren bis 1930 Ludwigs im deutschsprachigen Raum erfolgreichstes Werk. (International war die Biographie Napoleon die auflagenstärkste Arbeit Ludwigs).438 Dem Verfasser der Biographie geht es nicht allein um das individuelle Schicksal des Kaisers; der konkrete Lebenslauf wird auch zum Fall einer allgemeinen psychologischen Erwägung, der auf die psychische Struktur eines Typus hochgerechnet werden kann. So schreibt Ludwig in der Vorrede: »Man möge erkennen, was aus einem geistig begabten, körperlich geschwächten, vom besten Willen beseelten Jüngling werden kann, wenn er aus harten Erfahrungen der Jugend plötzlich zur Macht gelangt und niemand findet, der ihm die Wahrheit sagt.«439 Während die Beschreibung der Einzelpersönlichkeit in übergreifenden allgemeinmenschlichen psychologischen ———————— 436 437 438 439
Max Meyerfeld, Ludwigs Wagner-Buch. In: Das literarische Echo 15 (1912/13), Sp. 1036– 1038, hier Sp. 1036f. Emil Ludwig, Der entzauberte Freud. Zürich: C. Posen 1946, S. 9. Vgl.: Die Werke Emil Ludwigs in 25 fremden Sprachen (1926–30). In: Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 867–871. Emil Ludwig, Wilhelm der Zweite. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1926 [CopyrightVermerk 1925], S. 10.
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Mustern440 über das Prinzip der Ähnlichkeit einerseits Objektivität suggeriert und andererseits einer Diffamierung entgegenstehen müßte, verfolgt Emil Ludwig dennoch deutlich das Ziel, einer Mythenbildung um den Kaiser vorzubeugen. Ja, die Diffamierung Wilhelms II. bezieht sich dabei gerade auf den sich bildenden Mythos, nicht auf die psychologisch objektivierend und nicht wertend vorgeführte historisch-menschliche Gestalt, für deren Analyse Ludwig auch von Rezensenten wiederholt Achtung gezollt wird.441 Ludwig wählt für seine Argumentation seine Quellen zudem geschickt aus bzw. erhöht den Wert seiner Ausführungen dadurch, daß nur solche Zeugnisse als Quellen herangezogen werden, die nicht von vornherein eine negative Haltung gegenüber dem Kaiser zum Ausdruck bringen. Es sind vielmehr Zeugnisse aus dessen engstem Umkreis, die Ludwig nicht zuletzt durch geschickte Auswahl und Einbettung seiner Strategie nutzbar macht. Durch die psychologische Rhetorik der Biographie wird glaubhaft der Anspruch vertreten, den Biographierten nicht zu beschmutzen, aber umgekehrt wird gerade durch die Vermenschlichung Wilhelms II. eine psychische Disposition freigelegt, die ihn für eine Regierungsaufgabe unfähig erscheinen läßt – und entsprechend für einen Wilhelm-Mythos. In konsequenter Folge kamen die frühen heftigen Gegenreaktionen aus dem monarchistischen Lager.442 Der hoch betagte Generaloberst a. D. Hans von Plessen ließ sich in einer Stellungnahme in der Neuen preußischen Kreuzzeitung (9. 11. 1925) zu einer viel belachten und wegen des Hinweises auf Ludwigs mangelnde Satisfaktionsfähigkeit auch nur halbherzigen Duellforderung hinreißen.443 Ludwig weiß besondere Lebensmomente symbolisch zu überhöhen und nutzbar zu machen: Die Biographie Wilhelms II. beginnt mit einer ———————— 440
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Auch hier gibt es eine gewisse Spannung zwischen Individuum und Allgemeinem. Trotz der überindividuellen psychischen Mosaiksteine (Jedermannspsychologie), die Ludwig benennt, ist es letztlich das Ziel, das spezifische »Bildnis« (Ludwig, Wilhelm der Zweite, S. 9), die individuelle »Gestalt« (ebd., S. 100) zu erfassen: »alle Elemente seines Wesens zusammen verschmolzen zum einzigartigen, wilhelminischen Amalgam« (ebd., S. 246). Freilich nicht allein Achtung, denn von mehreren Seiten hagelte es heftige Kritik. Interessant ist allerdings, daß man sich unter den Rezensenten durchaus nicht einig war, ob Ludwig Wilhelm II. nun eher zu positiv oder zu negativ sah. Christian Geheeb (Ps. ?) jedenfalls reagierte im »Tage-Buch« auf die gegen Ludwig erhobenen Vorwürfe, Wilhelm II, sei zu negativ dargestellt worden, mit dem Hinweis, daß gerade die Beziehung des Prinzen Wilhelm zu seinen Eltern sehr zugunsten des Prinzen verfälscht worden sei. Christian Geheeb, Wilhelm II und seine Mutter. In: Das Tage-Buch 7 (1926), S. 492–497. Zu den Reaktionen auf Ludwigs Buch vgl. a. Gradmann, der in systematischer Durchsicht ausgewählter Zeitschriften zahlreiche Rezensionen erfaßt hat. Gradmann, Historische Belletristik 1993, Literaturverzeichnis, S. 232–243. Gleichwohl fehlen etwa die unten genannten wichtigen Besprechungen von Paul Alverdes und Max Herrmann-Neiße. Andere Rezensionen werden von Gradmann in abweichender Weise gelesen; so wird m. E. das kritische Potential der unten genannten Rezension von Paul Levi nicht erkannt, vgl. u. Vgl.: Ludwig, Geschenke des Lebens, S. 569.
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Geburtsszene, in welcher der neue Erdenbürger, von den Strapazen der Geburt arg mitgenommen, die Bühne der Erzählung betritt. Der Knabe scheint zunächst tot, erweist sich dann aber als lebendig. Durchaus mit erzählerischem Geschick wird in der Biographie der spätere Kaiser durch diesen – im Hinweis auf die angeborene Schwäche noch gesteigerten – Rückgriff auf das Allgemeinmenschliche in seiner menschlichen Existenz vorgeführt.444 Für Ludwig ist diese Szene auch aus einem anderen Grund wichtig, da das Neugeborene körperliche Defekte – insbesondere der linken Körperseite – aufweist, die nach Ansicht des Biographen sein weiteres Leben beeinflußten: »Diesen körperlich benachteiligten Knaben, Friedrich Wilhelm Victor Albert genannt […], schien die Natur zu einem zurückgezogenen Leben zu bestimmen, […].«445 Als ein musischer Mensch mit einiger Begabung wächst der Prinz heran, doch wird er im engen Korsett der Erziehung auf ein anderes Leben getrimmt, einer Erziehung, die das Ziel hat, die angeborene Schwäche des linken Armes zu überwinden: »Nur wer diesen lebenslangen Kampf gegen die angeborene Schwäche nachfühlt, wird ihm gerecht, wenn er den späteren Kaiser seine Nervenkraft überspannen oder verlieren sieht.«446 Doch wird der Prinz durch eine weitere ‘Störung’ in seiner natürlichen Entwicklung gehemmt, denn dem Knaben fehlt die Zuneigung der eigenen Mutter, und schon früh »wurde durch Schuld der Mutter das Herz des Knaben verbittert«.447 (Wie ähnlich auch in der ein Jahr darauf publizierten Biographie Bismarck. Geschichte eines Kämpfers gewinnt hier und generell in Ludwigs Lebensbeschreibungen seit Mitte der 20er Jahre die Kindheit an biographischer Bedeutung; auch für Bismarck wird nun – dem hier eingeführten Erklärungsmuster folgend – auf den Ehrgeiz und die Lieblosigkeit der Mutter als Ursache späterer Fehlentwicklungen hingewiesen.) Die weitere Entwicklung wird zu einem großen Teil von dieser Anlage, der doppelten Belastung, des Knaben getragen. Mit einfachen Sentenzen, die komplexere psychologische Erklärungen in der Biographie ersetzen müssen, treibt Ludwig die Handlung auf die bekannte Katastrophe zu: »Der Schwache sucht die Stärke zu betonen […].«448 Dabei bleibt kein Zweifel daran, daß die schlechte Beziehung zur Mutter der Grund für die lebenslange ambivalente – etwa als ‘Haßliebe’ bezeichnete – Haltung zu Großbritannien blieb.449 Gleichzeitig stellt sich Ludwig gegen die Vermu———————— 444 445 446 447 448 449
Dieser biographische Kunstgriff kann bis heute wirkungsvoll eingesetzt werden. Vgl.: Anja Höfer, Johann Wolfgang von Goethe. München: dtv 1999 (dtv portrait), S. 7. Ludwig, Wilhelm der Zweite, S.13. Ebd., S. 38, vgl. a. S. 14, 77. Ebd., S. 16, vgl. a. S. 49. Er erbt auch ihre »Herrschsucht«, vgl. S. 62. Ebd., S. 38. Vgl. etwa: Ebd., S. 178.
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tung, der Kaiser sei geisteskrank gewesen.450 Letztlich scheint sich Ludwig, den der Rezensent Ernst Weiß nun gar als »Freud-Schüler« bezeichnete, 451 in seiner Biographie Wilhelm der Zweite durchaus tiefenpsychologischen Fragestellungen zu nähern, indem er den Zustand des Erwachsenen, seine Handlungsweisen und Zielvorstellungen von Kindheitserfahrungen abhängig macht. Die zentrale Frage, ob diese Kindheitserfahrungen und andere ursächliche Faktoren wie die körperliche Schwäche die Persönlichkeit erklären (eher tiefenpsychologisch), oder ob die Gestalt eine Eigendynamik hat, deren Struktur diese Verbindungen zu den ursprünglichen Erfahrungen überwunden hat (eher gestalt- und persönlichkeitspsychologisch), wird von Ludwig weder gestellt noch beantwortet. Auf dem Weg zur Erfassung historischer Persönlichkeiten sind Ludwig jedenfalls nahezu alle Forschungsrichtungen einer Psychologie der Persönlichkeit und populare Beschreibungssysteme recht. So werden zeitgemäße Anleihen bei Physiognomie, Charakterologie, Graphologie, Astrologie etc. in die Personendarstellung einbezogen.452 Dennoch sollte nicht der Eindruck entstehen, es handle sich um ein plumpes Psychogramm. Ludwig versteht es außerordentlich geschickt, die psychische Entwicklung des Prinzen mit einer Charakteristik der ihn umgebenden Hofleute zu verknüpfen, die ebenfalls in ihrer seelischen Konstitution charakterisiert werden,453 und aus der personellen und interpsychischen Konstellation einen in manchen Abschnitten sich fast zwangsläufig entwickelnden Geschichtsverlauf abzuleiten. Ludwig vermag durch die familiale Gefühlsrhetorik, welche Machtstrukturen als interpersonale Beziehungen darstellt, die These von der Politik und Geschichte als Wechselspiel der Einzelcharaktere in bestechender Weise abzusichern. Zudem dokumentieren die zahlreichen Quellen, daß Ludwig erzählerisches Geschick durchaus mit dem Anspruch einer gründlichen Recherche verband. Insgesamt entstand so eine Lebensbeschreibung, die zumindest zunächst über manche politische Parteiungen hinweg akzeptiert wurde. Sogar der nationalkonservative Paul Alverdes (1897–1979), der später mit völkisch-nationalen Kriegsnovellen hervortrat, äußerte, die Lektüre der Biographie »sei jedem Deutschen dringend zu raten«. Alverdes konnte der Tendenz des Buches beipflichten:454 ———————— 450 451 452 453 454
Ebd., S. 107. Ernst Weiß, Zwei Stimmen zu Emil Ludwigs »Wilhelm der Zweite«. Der Dichter Ernst Weiß. In: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 5 vom 6.11.1925, S. 4. Vgl. etwa die Charakterisierung Bismarcks in: Ludwig, Bismarck 45.–54.Tsd.1928, S. 669ff. Vgl. etwa die Beschreibung des Barons Holstein, der als Produkt schwerer Jugenderfahrungen und »gewisse[r] Perversionen« vorgestellt wird (S. 129ff.). Paul Alverdes, Emil Ludwig: Wilhelm der Zweite […]. In: Die schöne Literatur 27 (1926), S. 473f., hier S. 473. – Zu den wichtigsten Gründen, warum Ludwig auch Zustimmung etwa von Alverdes erhalten konnte, ist wohl seine Behandlung der Kriegsfolgen zu zählen:
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
[…] an psychologischer Charakterisierung, an sicherem Umreißen von Gesichtern und Larven, von Figuren und Figuranten gelingt Ludwig […] das Erstaunlichste. Diese Holstein, Eulenburg, Waldersee, Kinderlen, Bülow und wie sie alle heißen, sind unheimlich gut getroffen, ohne daß, wie es vielleicht nahe gelegen hätte, ihre Bilder zu Karikaturen gediehen wären. Auch das Bildnis Wilhelms II. scheint nicht verzerrt; […].
So entsteht eine düstere Atmosphäre teils homoerotisch motivierter Männerfreundschaften, die in einem Netz von gegenseitigem Mißtrauen und Abhängigkeiten455 um einen für Schmeicheleien456 und Liebesbeweise ringenden Kaiser einzig auf die Möglichkeit zum gemeinsamen Untergang zu warten scheinen. Bevor die Katastrophe ihren Lauf nimmt, faßt Ludwig nochmals die »Charakteristik« des Kaisers zusammen. Er sei ein »nervöser Charakter«, der jedoch nicht als geisteskrank bezeichnet werden könne:457 Wilhelm den Zweiten als Bürger in irgendeinem Strafprozeß, würde kein sachverständiger Arzt als unzurechnungsfähig bezeichnen. Freilich sind begabte und komplizierte Charaktere wie dieser niemals normal, liegen immer im Grenzgebiet, und wenn es den Psychiater reizt, den Fall als den eines Neurotikers zu beschreiben, so sucht der Psychologe diese Flucht ins Kranke gerade zu vermeiden und die Erscheinung natürlich und einfach zu erklären, wie sie Vererbung und Milieu, Mangel an Hemmnissen und an Widerspruch entwickeln mußte.
Ludwig faßt die positiven und negativen Aspekte des nervösen Charakters zusammen, und er kommt zu dem Ergebnis, daß der labile und ‘feminine’ Charakter des Kaisers auf seine Haltung zur Sexualität zurückzuführen sei. Er weist auf ein mangelndes Interesse am anderen Geschlecht hin und folgert im Zusammenhang mit den Charakteranlagen, daß der Kaiser homoerotische Neigungen hätte haben müssen, doch stelle man »das zweifellose Fehlen jeder perversen Haltung fest«, was auf seinen seit Kindesbeinen ausgeprägten »Unruhpunkt[]« weise: »Schwächen zu verbergen«.458 ———————— 455
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»Von Taten, Leiden und Opfern des wie kaum eines vor ihm heimgesuchten Volkes spricht er nicht anders, als wie es sich ziemt: mit dem letzten Respekt.« (Ebd., S. 474.) Vgl. etwa die Beschreibung der Beziehungen zwischen Holstein und Eulenburg (S. 186– 190), die in den Satz mündet: »In solchen Zerrungen zweier Neurastheniker wurde damals die auswärtige Politik des Deutschen Reiches hin und her gerissen« (S. 190); oder die Beschreibung des Verhältnisses von Eulenburg, »dessen weibliche Natur immer einen Mann zum Bewundern brauchte«, zu Bülow (S. 218). Der Kaiser, so Ludwig, sei durch Schmeicheleien regelrecht ‘verdorben’ worden. Vgl. Ludwig, Wilhelm der Zweite, S. 53. Ebd., S. 286. Ebd., S. 297. »Sein steter Wunsch nach Schneid und Männlichkeit schützte ihn vor jeder erotischen Akzentuierung seiner ins Frauenhafte reichenden, sprunghaft-geschwätzigen Natur, die Ringe, Armbänder, Orden und jeden Schmuck suchte; […]« (S. 298). – Verdrängte Homosexualität ist ein häufig gebrauchtes Motiv für die Herleitung charakterlichen Fehlverhaltens und seelischer Deformationen; zu diesem Thema schrieb Stefan Zweig seine Erzählung »Verwirrung der Gefühle«, s.o.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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Zur Charakteristik des Kaisers gehöre ferner die kalte Organisiertheit bei unwichtigen Gelegenheiten und die Nachlässigkeit in wichtigen Angelegenheiten. Politisch sei der Kaiser vor allem von Unstetigkeit und »Faulheit« gekennzeichnet gewesen.459 Sein Umfeld habe ihn überdies von allen Problemen ferngehalten und ihn durch teils geschickte Inszenierungen in seiner Selbstherrlichkeit bestätigt. Einige Beispiele, die zeigen, daß der Kaiser durchaus lenkbar gewesen wäre, beweisen zudem in Ludwigs Augen, daß eine Mitverantwortung bei seinen Ratgebern liege, die sich ihm hätten widersetzen müssen: »Das aber war letzten Endes nicht nur die Aufgabe von zwanzig Menschen. Es war die Pflicht der Nation.« 460 Was danach folgt, ist die Auswicklung der verknüpften Tragödie. Ludwig stellt die Biographie auch hier in einer dramatischen Struktur und als ein tragisches Drama vor. Die Biographie folgt einer dreiaktigen Anlage in den Schritten »Berufung«, »Macht« und »Vergeltung«, wobei bereits in den Titelbezeichnungen der klassische dramatische Dreischritt erkennbar wird. Der Held allerdings flieht am Ende in einem bequemen Wagen nach Holland, während sein Volk die Last seiner Politik zu tragen hat:461 Das Chaos stürzt zusammen über deinem Lande, und während Millionen der Not und Sklaverei entgegenstarren, schwingt sich der Einzige, der sie vertritt, in seinen elastischen Wagen und fährt davon, um drüben den Wohlstand eines friedlichen Landes zu genießen! Endlich! Grüßend tritt der Offizier in den Raum: »Die Herren dürfen passieren.« Mit einem Herzen wie von Blei steigt der Kaiser ein; heut vergißt er sogar, den kurzen Arm unter der Pelerine zu verstecken.
So führt das Ende der Biographie zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Ludwig inszeniert das Leben des Kaisers in einer in sich geschlossenen Erzählung respektive in einem geschlossenen dramatischen Verlauf, der auf wenige durchgängige Grundmotive reduziert ist. Die Geschlossenheit der Darstellung wird in der narrativen Gestaltung des Lebenslaufes durch die einheitstiftende Konzeption eines Erzählers erreicht, der den lückenlosen Überblick über das gesamte Quellenmaterial suggeriert. Sein psychologisches Urteil hat im Rahmen der Erzählung unhinterfragbare Autorität. Diese wird durch das Zitieren von im Text genannten und zunächst unverdächtigen Quellen sowie das Objektivität suggerierende Abwägen unterschiedlicher Urteile noch bekräftigt. Dabei bemüht sich Ludwig stärker als in älteren biographischen Versuchen um eine Steigerung des Eindrucks authentischer Schilderungen. Dazu gehören etwa die freimütig eingeräumte Umsetzung indirekter Gesprächswiedergaben der Quellen in fiktive Dialoge in der biographi———————— 459 460 461
Ebd., S. 307. Ebd., S. 325. Ebd., S. 481.
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schen Darstellung und auch die rhetorische Nahführung der Leser an das Geschehen, durch welche der Leser etwa einem vertrauten Kaminkreis lauscht: »staunend hören wir zu«.462 Insbesondere suggeriert die charakterologisch-psychologische Vorgehensweise eine scheinbare Objektivität der Darstellung, die wohl durch die ‘schlichten Wahrheiten’ Ludwigscher Sentenzpsychologie noch gestärkt wird. In rhetorisch geschickter Weise überläßt es Ludwig immer wieder auch dem Leser, die nahegelegten psychologischen Schlüsse aus den quellennahen Schilderungen zu ziehen, wodurch sich der Leser selbst deutlicher mit der dargelegten Argumentation identifizieren kann. Dadurch wird auch das strategische Ziel der Biographie gestützt. Die auf diesem Weg erreichte ‘Vermenschlichung’ des Kaisers hat Konsequenzen, denn die Differenz zwischen dem von Wilhelm II. idealisierten Gottesgnadentum und der psychischen Disposition des einzelnen erscheint so gravierend, daß sie eine politische Aussage impliziert: Im unfähigen Kaiser wird nicht das Individuum allein vorgeführt, sondern vor allem das monarchische System, welches die Leistungspositionen durch Erbfolge und nicht durch Eignung besetzt. So konnte von einem Rezensenten kritisch geargwöhnt werden, daß Ludwig »den Beweis von der Unmöglichkeit der erblichen Monarchie als Staatsform von vorneherein an der problematischen Figur des Kaisers zu erbringen bestrebt ist«.463 Der Biograph nutzt seine rhetorisch-erzählerisch und psychologisch-objektivierend konstituierte Autorität, um eine über den konkreten Zusammenhang hinausweisende Aussage zu treffen. Der Argumentation von Ludwig folgte auch Otto Flake in einer eher referierenden essayistischen Rezension in der Neuen Rundschau. Flake setzt freilich etwas andere Akzente als Ludwig, denn deutlicher als dieser äußert er, die Biographie zeige, daß die Zeit der ‘heroischen’, das heißt individualen, Regierungsform zu Ende sei. Wilhelm II. habe die zeitgemäße Option einer »Verbürgerlichung« der Herrschaft nicht wahrgenommen: »Der Mensch verträgt die Macht nicht, wenn sie in seiner Hand liegt. Die Macht ist etwas so furchtbares, daß sie nur von allen gemeinsam verwaltet werden kann.«464 Dieser demokratisch———————— 462
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Ebd., S. 28. – In seiner ansonsten überschwänglich lobenden Rezension bemerkt Ernst Weiß gegen Ludwigs »Wilhelm der Zweite«: »Wenn etwas daran auszusetzen ist, so wären es die seltenen Stellen, wo den Historiographen die Ruhe verläßt, wo er sich direkt an den Kaiser, unvermittelt an den Leser wendet (S. 480, 216).« Weiß, Zwei Stimmen. E. Frauenholz, E. Ludwig, Wilhelm II. […]. In: Historisches Jahrbuch 45 (1925), S. 617– 619, hier S. 619. – Die Quellenauswahl Ludwigs wird von Frauenholz mit dem Hinweis kritisiert, daß gerade in der nächsten Umgebung die größten Feinde Wilhelms II. gewesen wären – dann solle Ludwig lieber ausländische Urteile heranziehen. Otto Flake, Schreibende Welt. In: Die Neue Rundschau 36 (1925), S. 1319–1330, zu Ludwig S. 1325–1328, zit. S. 1328. – Hymnisch gefeiert als längst überfällige breitenwirksame Aufklärungsschrift wurde Ludwigs Biographie von Kurt Tucholsky: Ignaz Wrobel, Das Buch vom Kaiser. In: Die Weltbühne 21 (1925), S. 980–982.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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bürgerliche Gedanke freilich geht über Ludwigs Angriff auf die ErbfolgeMonarchie hinaus, welcher an der psychologischen Darstellung die ungenügende Selektion der Fähigen verdeutlicht. Als Konsequenz der psychologischen Zielrichtung Ludwigs, welche den Menschen verstehbar macht und vor allem das System belastet, welches ihn beförderte, liegt der Vorwurf einer Entschuldigung des Individuums nahe. Die psychologische Darstellung könnte auch den Eindruck vermitteln, das dargestellte Individuum werde durch die betonte psychische Determiniertheit auch eines Teils seiner Verantwortung enthoben. Max Herrmann-Neiße (1886–1941), der das Buch im Stachelschwein sehr kritisch rezensierte, wies in diesem Sinn kritisch darauf hin, daß »Hohenzollern-Anhänger« in der Biographie eine »Entschuldigung des armen Wilhelms, eine Rehabilitation des Märtyrers von Doorn« sehen könnten, »weil das Buch mit dem beliebten psychologischen Dreh geschrieben ist, wird alles verstanden und alles verziehen«.465 Die Rezensenten gar, die das Buch als antimonarchistische Stellungnahme (und als Ausweis republikanischer Gesinnung) gefeiert hätten, hätten lediglich ihren eigenen Standpunkt in ein Werk hineingelesen, welches gerade in seinem Bemühen um Objektivität gefährlich sei.466 Dagegen hält Herrmann-Neiße fest: »der einzig mögliche Standpunkt der verhängnisvollen Erscheinung Wilhelms des Zweiten gegenüber könnte, erst recht im Stadium erhöhter monarchistischer Propaganda, nur die eindeutigste Ablehnung, Verurteilung, ja Verächtlichmachung sein«.467 Ludwigs »meisterhaft aufgebaute Lebensgeschichte«, die sich »wie ein Roman« lese, werde letztlich zu einem »Denkmal«, zu einer »Art Vorbereitung der Wiederkehr des kaiserlichen Flüchtlings«.468 Damit greift nun der Rezensent fraglos zu weit. Das Anliegen Emil Ludwigs bleibt in der Biographie trotz psychologisierender und objektivierender Tendenz und trotz der rhetorisch erstellten Offenheit für die Identifikation der Lesermeinung mit der Textstrategie nicht ———————— 465
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Max Herrmann-Neiße, Emil Ludwig entschuldigt Wilhelm II. In: Ders., Die neue Entscheidung. Aufsätze und Kritiken. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1988, S. 85–88, hier S. 86 (zuerst in: Das Stachelschwein 1 [1926]). Die bisherige Forschungsliteratur hat diese bereits von Hermann-Neiße bemängelte Tendenz der Rezensenten ungeprüft übernommen. Bei Gradmann liest man etwas hilflos angesichts fehlender eindeutiger Belege für die demokratische Einstellung Ludwigs: »Resultat war ein deutliches, wenn auch implizites Plädoyer für eine Demokratie westlichen Zuschnitts mit ihren Prinzipien demokratischer Kontrolle der Staatsorgane, Verantwortlichkeit des Herrschenden und der Rationalität politischen Handelns« (Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 50f.). – Dies wäre wohl zu belegen. Die antimonarchistische Tendenz liegt – »für jedermann nachvollziehbar« (ebd., S. 51) – auf der Hand; das Bekenntnis zur Demokratie (»westlichen Zuschnitts«) ist wohl weniger eindeutig, als dies bei den Rezensenten damals und den Literarhistorikern heute betont wird. Herrmann-Neiße, Emil Ludwig, S. 87. Ebd., S. 86, 87, 88.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
verborgen. Doch zeigt Herrmann-Neiße deutlich die Problematik einer psychologischen Individualitätskonzeption auf, welche mit der Handlungsfreiheit des einzelnen auch dessen Verantwortlichkeit für sein Tun beschränkt und dadurch das rationalistisch-liberale Individualitätsdenken in Frage stellen muß. Dabei sucht Ludwig wiederum einen dritten Weg zwischen einer Individualität, deren Basis die freie, rationale Willensentscheidung und deren Konsequenz die vollkommene moralische Verantwortlichkeit ist, und einer materialistischen Auffassung, welche den einzelnen zum Ausführenden und Träger sozialer und historischer Prozesse oder zum Resultat des Milieus macht. Der einzelne ist nicht in vollem Umfang frei, aber seine Freiheit wird nicht begrenzt durch anonyme äußere Kräfte, sondern durch analysierbare psychische Strukturen. Deutlich zeigt Ludwig, daß es einen Sieg des Geistes über den Körper, des Willens über die schwache Konstitution Wilhelms II. nicht geben kann, denn die Folge eines solchen Versuchs sind dauerhafte seelische Deformationen, welche im ständigen Widerstreit mit dem Denken die Persönlichkeit bilden.469 Auch diese Perspektive auf die Person Wilhelms II. im Zentrum der Geschichte – und die damit einhergehende Abwertung überpersönlicher Kräfte in der Geschichte – vermochten nicht alle Rezensenten zu teilen. Der (U)SPD-Politiker Paul Levi (1883–1930) etwa argumentierte in der Literarischen Welt, der Mensch Wilhelm II. trete aus Ludwigs Biographie zwar klar hervor, aber erst das Milieu habe diesen geschichtswirksam gemacht, und zu diesem Milieu gehöre eben auch das deutsche Volk: »erst dieses Milieu hat den Kaiser ganz zu dem gemacht was er ward: von diesem hat er Farbe, Form und Funktion bekommen. Dieser Kaiser und dieses Volk: sie waren einander wert: drum war es ihnen auch so gar nicht recht, daß sie voneinander scheiden mußten«.470 Auch wenn diese Kritik an der Lebensbeschreibung nicht gänzlich berechtigt ist, denn es gibt durchaus Hinweise auf das ‘Milieu’ in Ludwigs Biographie, so zeigt sich doch ein deutlicher Unterschied der Einschätzung Wilhelms II. als Systemfehler zu der späteren, sehr strengen Auffassung Ludwigs, das deutsche Volk trage seine Mitschuld an Adolf Hitler. Hier – im Falle eines ‘demokratischen Systems’, welches der Diktatur zur Macht verholfen hatte – war Ludwig der Überzeugung, daß die Wahl und Unterstützung Hitlers mit dem Charakter der Deutschen korrespondiert habe. Entsprechend drastisch fielen seine – nicht nur bei anderen Emigranten – umstrittenen Umerziehungsforderungen für die Zeit nach dem Sieg über Deutschland ———————— 469 470
Vgl.: Ludwig, Wilhelm der Zweite, S. 18f. Paul Levi, Zwei Stimmen zu Emil Ludwigs »Wilhelm der Zweite«. Der Politiker Paul Levi. In: Die Literarische Welt 1 (1925), Nr. 5 vom 6.11.1925, S. 4. – Gradmann (Historische Belletristik 1993, S. 53) überliest Levis Einwand gegen Ludwig in der Rezension.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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aus,471 die er auch als ‘Berater’ des Präsidenten Franklin D. Roosevelt formulierte. 4.2.3. Der Fall Emil Ludwig: eine Relektüre des Streits um die historische Belletristik »Von Ihren ungeheuren Erfolgen in Amerika habe ich mit Freude gehört. Sie wissen genau so wie ich selbst, daß Sie diesen Erfolg mit einem Widerstand daheim zu bezahlen haben werden, ja, daß man Ihnen die Verantwortlichkeit für die widerliche Flut der Biographies romancées zuzuschreiben beginnt.« (Stefan Zweig, Brief an Emil Ludwig vom 2. Mai 1928)
Die bisherige Forschung zu Emil Ludwig hat sich – neben einigen Studien zu Ludwigs strenger Haltung gegenüber Deutschland und den Deutschen in der Exilzeit – vor allem mit der Auseinandersetzung um Ludwigs Biographien beschäftigt, die unter dem selbst im Brockhaus 1931 verzeichneten Schlagwort ‘Historische Belletristik’472 von Fachhistorikern gegen den Popularautor initiiert wurde. Die wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte stammen aus den Jahren 1928 bis 1931, doch geht die Diskussion zumindest zurück auf die Reaktionen im Zusammenhang mit der Diskussion um Ludwigs Wilhelm der Zweite.473 Schon 1926 meldete sich Ludwig mit einer Antikritik gegen die Historiker unter den Rezensenten zu Wort. An diese erste Auseinandersetzung knüpfte der 1928 provozierte Streit an: So wurde etwa die kritische Rezension der Biographie des letzten Kaisers aus der Feder des bekannten aufgeklärt-konservativen Historikers Hans Delbrück (1848–1929) in einem Zentralblatt der Geschichtswissenschaft, der Historischen Zeitung, im Kontext des jüngeren Streits 1928 nachgedruckt. – Die folgenden Bemerkungen stellen – auf eine kritische Sichtung der Forschung aufbauend – eine Relektüre der wichtigsten zeitge———————— 471
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Ludwig ging dabei von dem Gedanken aus: »Nur wenn das deutsche Volk als ein Ganzes begreift, das es mit recht geschlagen und seiner Freiheit beraubt worden ist, kann es sich wandeln.« Ludwig, Geschichte der Deutschen, Bd. 2, S. 297f. (Epilog zur dt. Ausg., 1945). Historische Belletristik. In: Der große Brockhaus 8 (1931), S. 539. – Hinweis nach: Eberhard Kolb, »Die Historiker sind ernstlich böse«. Der Streit um die »Historische Belletristik« in Weimar-Deutschland. In: Liberalitas. Festschrift für Erich Angermann zum 65. Geburtstag. Hg. von Norbert Finzsch u. Hermann Wellenreuther. Stuttgart: Steiner 1992 (Transatlantische Historische Studien 1), S. 67–86, hier S. 67. Emil Ludwig, Antikritik. In: Das Tagebuch 7 (1926), bd. 1, S. 201–209.
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nössischen Stellungnahmen zum Streit um die historische Belletristik dar und führen zu einer Neubewertung der Positionen. Bereits 1976 erschien eine Darstellung dieser Debatte von Michael Kienzle,474 der die entsprechenden Passagen zum Streit zwischen ‘legitimer’ und ‘illegitimer’ Geschichtsschreibung in Helmut Scheuers Habilitationsschrift (1979)475 folgten. In jüngerer Zeit haben insbesondere Eberhard Kolb (1992),476 Hans-Jürgen Perry (1992),477 Christoph Gradmann (1990, 1993)478 und Sebastian Ullrich (2001)479 das Thema erneut aufgegriffen. Auf der Anklagebank der Fachhistoriker im Streit um die ‘Historische Belletristik’ saßen neben Emil Ludwig vor allem Herbert Eulenberg (1876–1949), Werner Hegemann (1881–1930) und Paul Wiegler (1878– 1949). Die wichtigsten Biographien von Wassermann und Zweig erschienen erst später und konnten schon deshalb nicht in die Diskussion einbezogen werden. Auf der Seite der Ankläger standen vor allem Rezensenten der Historischen Zeitschrift, deren gesammelte Buchbesprechungen historischer Popularwerke als Literaturbericht unter dem despektierlich verstandenen Titel Historische Belletristik (1928) gesondert publiziert wurden. 480 Als Rezensenten figurierten neben Wilhelm Schüßler (1888–1965), der auch für die Einleitung des Literaturberichts verantwortlich zeichnete und Eulenbergs Die Hohenzollern (1928) rezensierte, Heinrich Ritter von S&rbik (1878–1951) mit einer Doppelbesprechung von Ludwigs Napoleon (1925 u.ö.) und Hegemanns Napoleon oder Kniefall vor dem Heros (1927), Ernst Posner (1892–1980) mit einer Rezension zu Hegemanns Fridericus oder das Königsopfer (veränd. Ausgabe 1926), Wilhelm Mommsen (1892–1966) mit einer kritischen Betrachtung über Ludwigs Bismarck (1926) und Fritz ———————— 474 475 476 477
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Kienzle, Biographie als Ritual. Scheuer, Biographie 1979, S. 151–166; Scheuer, Kunst und Wissenschaft. Kolb, »Die Historiker sind ernstlich böse«. Hans-Jürgen Perry, Der »Fall Emil Ludwig« – Ein Bericht über eine historiographische Kontroverse der ausgehenden Weimarer Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 169–181. – Perrys Beitrag gibt eher einen Überblick über den Streitgegenstand als eine Analyse des Streits selbst. Gradmann, Historische Belletristik 1993; ders., »Historische Belletristik«. Die historischen Biographien Werner Hegemanns und Emil Ludwigs in der Weimarer Republik. In: Bios 3 (1990), Heft 1, S. 95–112. Ullrich, Im Dienste der Republik von Weimar. Ullrichs Studie gibt einen Überblick über Ludwigs Arbeiten und Vorstellungen; die Ausführungen zum Streit tragen wenig zu einer genaueren Analyse der Positionen bei. Historische Belletristik. Ein kritischer Literaturbericht. Hg. von der Schriftleitung der Historischen Zeitschrift. München u. Berlin: Oldenbourg 1928. – Auch unter den Historikern gab es gemäßigtere Stimmen zu Ludwigs Publikationen. Veit Valentin signalisierte in der »Weltbühne« sogar partielle Zustimmung, aber das »dokumentierte Feuilleton in Buchform« und damit auch popularisierende Publikationsformen in der eigenen Zunft lehnte er ab. Veit Valentin, Wilhelm II. In: Die Weltbühne 21 (1925), Bd. 2, S. 947f.
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Hartung (1883–1967) mit einer Besprechung über Wieglers Wilhelm I. (1927). Der bereits genannte, hier erneut gedruckte Beitrag von Hans Delbrück war 1926 zuerst erschienen. Später wurde die Diskussion unter anderen von Wilhelm Mommsen in einem Aufsatz für die Zeitwende weitergeführt, der ebenfalls als Separatum verbreitet wurde: »Legitime« und »illegitime« Geschichtsschreibung (1930),481 und antibürgerlich-völkisch radikalisiert durch Otto Westphal (1891–1950), der gegen Ludwig in seinem Buch Feinde Bismarcks (1930) Stellung bezog.482 Auch ein – ebenfalls völkisch orientierter – Laie, Niels Hansen, schloß sich mit einer deutlich antisemtisch geprägten Anti-Ludwig-Schrift dieser Diskussion an: Der Fall Emil Ludwig (1930).483 Michael Kienzle, der die Reaktionen der Historiker vor allem als politisch und nicht so sehr als fachlich motiviert begreift, macht in seiner Studie zugleich deutlich, daß es dabei nicht um eine Differenz zwischen demokratischen Biographen einerseits und antidemokratischen Historikern gehe, denn gerade bei Ludwig zeige der Kult der Persönlichkeit – wie etwa die Verehrung für Mussolini – auch demokratiekritische Züge. 484 Kienzle betont dagegen – einer Auffassung Ludwig Marcuses folgend – 485 ———————— 481
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Wilhelm Mommsen, »Legitime« und »illegitime« Geschichtsschreibung. Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig. München u. Berlin: Oldenbourg 1930 (zuerst in: Zeitwende 5, 1929, S. 302–314). Otto Westphal, Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der Deutschen Opposition 1848– 1918. München u. Berlin: Oldenbourg 1930. – Vgl. dazu auch: Klemens Hying, Das Geschichtsdenken Otto Westphals und Christoph Stedings. Ein Beitrag zur Analyse der Nationalsozialistischen Geschichtsschreibung. Diss. masch. Berlin 1964, bes. S. 18–23: »Es ist eine Hauptthese Westphals, daß entsprechend der Liberalisierung des deutschen Geistes in steigendem Maße ästhetisierende Tendenzen die Strenge der Wissenschaft untergraben haben und E. Ludwig nur der äußerste Exponent einer Bewegung sei, die mit Hebbel begann, durch Richard Wagners Schrift ‘Die Kunst und die Revolution’ den Bund mit der Linken schloß, in der biographischen Manier der Jahrhundertwende sich austobte und in der (doch wohl völlig mißverstandenen) Forderung Meineckes, daß die Geschichsschreibung sich wieder der künstlerischen Form zu bedienen habe, auch legitimen Eingang in die Zunft gefunden habe.« (S. 22.) Emil Ludwig bot so für Westphal einen Angriffspunkt, an welchem er die Symptome des bürgerlichen Verfalls Deutschlands, des Scheiterns der liberalen Ideen von 1848 zu demonstrieren versuchte. Niels Hansen, Der Fall Emil Ludwig. Oldenburg in O.: Stalling 1930. – Vgl. Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 180–183. Erst in der Emigration in die Schweiz habe Ludwig in der Überarbeitung seines Interviews mit Mussolini die Bewunderung für Mussolini mit ‘demokratischer’ Distanz kaschiert. Kienzle, Biographie als Ritual, S. 237. Kienzle vergleicht »Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig« mit: Emil Ludwig, Führer Europas. Nach der Natur gezeichnet. Amsterdam: Querido 1934 (Kap. über Mussolini). – Vgl. aber Klaus Mann, der über den MussoliniEssay im jüngeren Band sehr kritisch urteilt: Klaus Mann, Neue Bücher [1934]. In: Ders., Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936. Hg. von Uwe Naumann u. Michael Töteberg. Hamburg: Rowohlt 1993 (rororo 12742), S. 242–253, zu Ludwig S. 244– 247. Kienzle bezieht sich auf: Ludwig Marcuse, Die Emil-Ludwig-Front. In: Das Tage-Buch 12 (1931), S. 141–143.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
die Gemeinsamkeiten der streitenden Positionen, welche nur einen jeweils unterschiedlich schattierten liberalen Individualismus verträten. Emil Ludwig nannte sich selbst – in Abgrenzung zu Mussolini – »einen leidenschaftlichen Individualisten«.486 Die psychologische Sicht auf die psychophysische Einheit des Individuums bei Ludwig führt allerdings – deutlicher als Kienzle dies ausführt – zu einem Konflikt mit dem bürgerlich-rationalistischen Individualbegriff nach traditioneller liberalistischer Auffassung. Hier schlagen sich wohl auch unterschiedliche anthropologische Positionen in den Diskussionen um die Biographien Ludwigs nieder. Gegen den übergreifenden Individualismus, den Kienzle noch in der Fundamentalkritik Westphals an den bürgerlichen Traditionen erkennt, setzt er selbst eine materialistische Sicht, die noch Kracauers ideologiekritischer Wertung der modernen Biographie (s. u.) verpflichtet ist. Insbesondere die »personalisierte Trivialisierung sachlicher Verhältnisse durch den Biographen«487 verdecke den Blick auf die materiale Wirklichkeit und die Interessen an der Zudeckung ihrer realen Verhältnisse. Auch Scheuer betont in diesem Sinn, daß die Historiker letztlich nicht Kritik an der Biographie als Methode der Historiographie üben, sondern »das Fehlen der historisch-politischen Komponenten« in den psychologisierenden Studien bemängeln. Das »Fehlen sozialhistorischer oder ökonomischer Einordnungen« werde dagegen nicht gerügt.488 Kienzles Einschätzung, die tatsächlichen Verhältnisse würden durch die Personalisierung der Geschichte in den Biographien, also durch die bloße Hintergrundfunktion der Geschichte in den psychologisierenden Studien, trivialisiert, ist aus seiner Perspektive gewiß schlüssig. Die weitergehende Einschätzung, Ludwigs Texte seien deswegen selbst Trivialliteratur, erscheint mir dagegen zu weit gegriffen, denn sie wird weder dem eigenen Anspruch Ludwigs noch der breiten Aufnahme der Texte durch die Zeitgenossen gerecht. (Es wäre dabei durchaus interessant, einmal zu untersuchen, welche Biographien dieser Zeit aus zeitgenössischer Sicht tatsächlich unter die Trivialliteratur-Grenze fielen und in den angesehenen literatur- und kulturkritischen Zeitschriften nicht mehr gewürdigt wurden.) Stärker als Kienzle betont Scheuer in seiner Untersuchung des Konflikts auch die unmittelbare »Konkurrenz« der Popularautoren zu den Fachwissenschaftlern, denen »ein Teil ihrer Klientel verlorenging« – und zwar nicht zuletzt, gerade weil die populären Biographen dem historischen auch ein politisches Anliegen hinzugefügt hätten, »in dem sie sich als Vertreter der Demokratie und Streiter für die neue Republik gegen die konservative und meist noch monarchistisch gesinnten Historiker wand———————— 486 487 488
Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig, S. 127. Kienzle, Biographie als Ritual, S. 245. Scheuer, Biographie, S. 160.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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ten«.489 Für Scheuer (und noch deutlicher für Gradmann)490 geht es so letztlich nicht um die vordergründig geführte Debatte Kunst/Wissenschaft, sondern – wie für Kienzle – »auch um handfeste politische Positionen«.491 Die angenommenen Parteiungen sind meines Erachtens allerdings nicht so eindeutig auszumachen, denn für Ludwig wäre wohl einschränkend festzuhalten, daß dieser zwar eine antimonarchistisch-republikanische, aber nicht uneingeschränkt auch eine demokratische Position vertrat. Ludwig zeigt, wie schon Kienzle betont hat (aber etwa Ullrich vollständig ignoriert), durchaus nicht nur Sympathien für Führerpersönlichkeiten (wie Mussolini), sondern auch für autoritäre Machtstrukturen (so in der Exilzeit in seinen Überlegungen zur Behandlung der Deutschen nach dem Sieg), und er hegt ein Mißtrauen in die demokratischen Strukturen, welche dazu tendierten, eine Herrschaft des Mittelmaßes zu produzieren. Im Vorbericht des Buches Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig betont Ludwig selbst, daß sich seit fünf Jahren seine Einstellung zur Demokratie geändert habe; in der Weimarer Republik diagnostiziert er das Fehlen ‘bedeutender Männer’ wohl als Begleiterscheinung der parlamentarischen Demokratie.492 Dagegen betont Ludwig die gemeinsame weltanschauliche Wurzel Nietzsche, die Mussolinis und seine eigenen Anschauungen verbinde.493 Schiller Marmorek hat in Der Kampf über Ludwigs Verhältnis zu Mussolini vermutet, Ludwig sehe im Diktator eine Alternative zur eigenen enttäuschten Demokratiehoffnung. Er reihe »Psychologie auf Psychologie […] bis der Mussolini, Vorbild für Beschäftigung suchende Bildhauer, dasteht, wie er für die Weltreklame benötigt wird«. 494 – Für die von Perry vertretene Auffassung, daß »Ludwig durch geschickte Gesprächsführung den Diktator dazu bringt, sich als faschistischen Cäsar ———————— 489 490 491
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Ebd., S. 158. Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 101f. Scheuer, Biographie, S. 158. – An anderem Ort vertieft Scheuer die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, relativiert freilich die Geschichte ihrer Trennung durch den richtigen Hinweis: »Für die Geschichtsschreibung und vor allem für die Biographie wird das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft allerdings nicht so sehr durch Konfrontation, sondern durch den wechselnden Anspruch von Wissenschaftlern und Künstlern betont, jeweils in ihren Werken beides zum harmonischen Ausgleich gebracht zu haben.« Scheuer, Kunst und Wissenschaft, S. 83. – Scheuer verweist in diesem Zusammenhang auch auf Dilthey, der die Verbindung von Kunst und Wissenschaft durch die Erkenntnisinstrumentarien Einfühlung und Intuition betont habe. Mussolinis Gespräche, S. 14, 163f. Vgl. u. a.: Ebd., S. 90f. Schiller Marmorek, Der Fall Emil Ludwig, von links betrachtet. In: Der Kampf 25 (1932), S. 483–488, hier S. 484. – Ähnlich scharf äußert sich auch Oskar Maria Graf über Ludwigs Buch; Graf attestiert Ludwig zudem eine Veranlagung zur Heroenverehrung. Oskar Maria Graf, Das deutsche Volk und Hitlers Krieg. In: Ders., Reden und Aufsätze aus dem Exil. Hg. von Helmut F. Pfanner. München: Süddeutscher Verlag 1989, S.200–235, hier S.204.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
zu präsentieren« und den damit implizit dem Buch unterstellten kritischen Impuls lassen sich dagegen keine Hinweise finden.495 Ludwigs Position zur Demokratie dürfte der seines französischen Kollegen André Maurois ähnlich gewesen sein, der in einem Aufsatz festhielt: »Es gibt keine an sich vollkommene Verfassung, die von Zeit und Raum unabhängig wäre.« Gerade in Krisenzeiten hielt auch Maurois die Diktatur eines einzigen Führers für den Zusammenhalt der Nation von Nutzen. Die Demokratie sei eher in »Zeiten des Glücks und Friedens« die geeignete Staatsform: »trotz ihrer Eifersüchteleien und ihres langsameren Tempos«.496 Ludwig verteidigte 1928 sogar die Diktaturen von Moskau und Rom mit dem Hinweis darauf, daß diese gar nicht im Widerspruch zu einer Volksherrschaft stünden, da durch die ‘guten’ Diktatoren eben das Volk – ohne die Reibungsverluste in einem repräsentativen System – selbst herrsche: »Demokratie und Diktatur heißt nicht mehr: Volksherrschaft und Gewalt; beide sind Erscheinungsformen eines Geistes geworden, den der vernünftige Mann auf der Straße, der unpolitische, machtlose Dilettant stärker bestimmt als Minister, Deputierter und Journalist.«497 Und noch in seinen hinterlassenen Memoiren Geschenke des Alters hält Ludwig unzweideutig fest:498 Da ich die Demokratie nicht als All-Heilmittel acceptiere, sondern nur unter gewissen Umständen für gewisse Völker und mit gewissen Cautelen; da ich erkannt habe, wie die ernstesten Demokraten gelegentlich Autokraten werden und zwar zuletzt aus Verzweiflung am sogenannten Fortschritt, wie Cromwell oder Bolivar, so habe ich auch nie applaudiert, wenn zum Beispiel der grosse Burckhardt sagte, die Macht ist an und für sich böse. Sie war und ist es nur in den meisten Händen.
In einem Punkt freilich war die Front zwischen Ludwig und den konservativen Historikern unüberwindlich. Ludwig lehnte jegliche Adelsprivilegien und Erbvorrechte ab: Als ‘große Männer’ kamen letztlich nur Vertreter bürgerlicher Schichten und als Größe kam nur ein Ideal bürgerlicher Tugenden in Frage.499 ———————— 495
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Perry, Der »Fall Emil Ludwig«, S. 176; Ullrich, der Ludwig als Publizisten »im Dienste der Weimarer Republik« bezeichnet, hat die Mussolini-Verehrung gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Ullrich, Im Dienste der Weimarer Republik. André Maurois, Die Diktatur und das Problem des Großen Mannes. In: Nord und Süd 52 (1929), S. 766–771, hier S. 766. Womit Ludwig sogar nahelegt, daß unter diesen Umständen eine Einschränkung der Pressefreiheit toleriert werden kann. Emil Ludwig, Der Eisbrecher. In: Ludwig, Für die Weimarer Republik, S. 119–121, zit. S. 120. Vgl. ähnlich zum »Diktator als Vollstrecker des Volkswillens« a.: Ders., Besuch bei Mustafa Kemal. Die neue Türkei. In: Ebd., S. 181–192, bes. S. 185, 191 (zuerst 1930). Ludwig, Geschenke des Alters, Teil 1, S. 22. Vgl. auch das Interwies: Viereck, Emil Ludwig.
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Die Position Ludwigs geht also nicht in den angenommenen Parteiungen auf. Auch auf der Gegenseite standen zwar konservative Historiker wie Hans Delbrück, die aber wohl nicht ohne weiteres als monarchistische Reaktionäre bezeichnet werden können. Bei der Beurteilung des Konfliktes zwischen Fachhistorikern und Literaten sollten überzeichnende politische Polarisierungen vermieden werden. Auch Scheuer muß einräumen, daß trotz der von ihm betonten Sympathien der Belletristen für die neue Republik der »‘Aufstand’ [gegen die Geschichtswissenschaft] z. B. nicht konsequent genug war« und viele ‘Altlasten’ des konservativ geprägten Geschichtsdiskurses fortgeführt habe.500 Zu einer differenzierteren Analyse des Streits kann man gewiß nur gelangen, wenn man auch die heterogene Zusammensetzung der beiden zu sehr als Einheit aufgefaßten Gruppen berücksichtigt. Sehr erhellende Details hat Eberhard Kolb der Diskussion um den Streit hinzufügen können, da er sich eingehend mit der Entstehungsgeschichte des Literaturberichts beschäftigt und etwa auch den Briefwechsel zwischen der Schriftleitung der Historischen Zeitung und dem Oldenbourg-Verlag berücksichtigt. Kolb, der zunächst auch die direkte Konkurrenz zwischen Fachhistorikern und Popularautoren als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung benennt, da der Erfolg der ‘Belletristen’ eine Fachwissenschaft bedrängt habe, »die das Monopol der Vergangenheitsbewältigung für sich beanspruchte«,501 sieht neben fachlichen Kritikpunkten ebenfalls die politische Zielrichtung der Publikation Historische Belletristik. Er kommt dabei allerdings zu einem weit differenzierteren Blick auf die Fachhistoriker als noch Kienzle und Scheuer. Er vermag nicht nur den für die Rezensionen zuständigen Redakteur in der Schriftleitung der Historischen Zeitung, Walther Kienast, als verantwortlichen Herausgeber zu benennen, sondern zeigt auch, wie Kienast gemeinsam mit dem antidemokratisch eingestellten Wilhelm Schüßler versuchte, den Sonderdruck als politische Schrift zu instrumentalisieren. Die Entscheidung Kienasts einerseits, den politisch extremsten Beiträger Schüßler als Verfasser der Einleitung zu bestimmen, und die Korrespondenz mit dem Oldenbourg-Verlag 502 andererseits zeigen dies ebenso wie die distanzierenden Reaktionen seitens des eher liberalen Historikers Wilhelm ———————— 500 501
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Scheuer, Biographie, S. 162f. Kolb, »Die Historiker sind ernstlich böse«, S. 72. – Diesem Anspruch steht – nach Perry, der hier einen Vorwurf Carl v. Ossietzkys aufgreift – »das auffällige Unvermögen der etablierten Geschichtswissenschaft [gegenüber], eine öffentlichkeitswirksame Vergangenheitsbewältigung zu leisten«. Perry, Der »Fall Emil Ludwig«, S. 169; Carl v. Ossietzky, Die Historiker sind ernstlich böse. In: Die Weltbühne 24 (1928), Bd. 2, S. 877–879. Kienast betont in einem Brief an den Verlag vom 18. Mai 1928, daß die politische Aufklärung des breiten Publikums gegenüber der Fachauseinandersetzung im Vordergrund stehe. Vgl.: Kolb, »Die Historiker sind ernstlich böse«, S. 73.
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Mommsen und des Schriftleiters der Historischen Zeitung, Friedrich von Meinecke. Meinecke lehnte es nicht nur ab, selbst ein Vorwort zu verfassen, sondern forderte für weitere Auflagen dazu auf, Schüßlers Politisierung der Fachkritik einzudämmen.503 Besonders unglücklich zeigte sich Mommsen, der seine Rezension durch den Sonderdruck politisch instrumentalisiert sah.504 In der Tendenz erreichten jedoch Kienast und Schüßler ihr Ansinnen: Die weiteren Auseinandersetzungen um die historischen Belletristen geriet mit Westphal und Hansen in ein Fahrwasser antiliberaler und antisemitischer Argumentationen, die – wie wohl zu ergänzen wäre – weit mehr den Stempel der kommenden Auseinandersetzungen trugen, als den einer monarchistischen Reaktion. Gradmann hat in seiner ansonsten ausführlich besonders die zeitgenössischen Stellungnahmen sichtenden Dissertation die differenzierenden Äußerungen von Kolb, die seine eigene eher an die ältere Forschung anschließende Polarisierung relativieren müßte, leider nicht genügend zur Kenntnis genommen.505 Problematisch erscheint dabei zusätzlich, daß die angenommene mehrheitlich konservative Gegenposition zu den liberalen Popularautoren durch Argumente gewonnen wird, die Vertreter beider Gruppen miteinander teilen. Der mangelnden »Auseinandersetzung mit den Arbeiten Max Webers« seitens der Historiker506 steht gewiß ein ähnlicher Mangel auf der Seite (einiger) der Popularautoren gegenüber. Zuzustimmen ist dagegen Gradmanns zentraler These, daß es sich bei dem Streit vor allem um eine Domänenabgrenzung zwischen akademischer Geschichte und politischer Biographik handelt. Gradmann sieht in der politischen Arbeit der Popularautoren eine alternative und legitime Arbeit der Geschichtsdeutung, die von der Geschichtsforschung zu trennen sei. Gerade die Historiker reklamierten für sich freilich beide Domänen. Ebenso wie Kolb sieht folglich auch Gradmann die Konkurrenz zwischen Historikern und Popularautoren auf dem Gebiet der Interpretation und Bewältigung der Vergangenheit. Gerade das Stichwort der ‘Geschichtsrevision’, welches Gradmann als zeitgenössischen Leitbegriff für die Arbeit der Popularautoren unterstreicht,507 macht den Bruch zwischen ———————— 503 504
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Vgl.: Ebd., S. 76f. In einem Brief an Friedrich Thimme (13.01.1929) äußert sich Mommsen sehr unglücklich darüber, für die politischen Zwecke Schüßlers instrumentalisiert worden zu sein. Ebd., S. 76, Fn. 26. Kolbs Studie wird im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt und in die Darstellung auch nicht einbezogen. Allerdings belegt Gradmann die Auflagenhöhe des Literaturberichts »Historische Belletristik« nach »Kolb 1992«. Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 82, Anm. 3. – Besonders die Studie von Ullrich leidet darunter, daß Kolbs Beitrag übersehen wurde. So vermag Ullrich bloß die inzwischen widerlegte strenge Polarisierung zwischen den Fachhistorikern und Ludwig zu wiederholen. Ullrich, Im Dienste der Republik. Gradmann, Historische Belletristik 1993, S. 85. Vgl. etwa: Ebd., S. 87ff., 225.
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Geschichtsforschung (Kontinuität) und Geschichtsdeutung (Revision) deutlich, der durch die literarisch-ästhetische Debatte um Kunst und Wissenschaft nur bemäntelt wird, denn im Zentrum steht nicht die künstlerische Qualität der Texte, sondern die Person des Literaten, der seine Bekanntheit und seine Fähigkeiten als ‘Belletrist’ oder Journalist im Sinne eines intellektuellen Flaneurs in die Waagschale wirft. In seinem die wissenschaftsgeschichtliche Forschung zusammenfassenden Überblick über die Neuzeitliche Geschichtsschreibung (2003) betont Michael Maurer als Grundtendenz der Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik:508 Die beunruhigenden Ereignisse und Entwicklungen, die zu einer nationalen Gegenwart geführt hatten, welche von vielen Zeitgenossen als schmachvoll begriffen wurde, galt es nun aufzuarbeiten und in ihren Kontinuitäten deutlich zu machen. Ein Großteil der Historiker der Weimarer Republik beschäftigte sich mit Fragen des Kaiserreichs, und zwar insbesondere politischen Fragen, der Außenpolitik Bismarcks und seiner Nachfolger.
Bernd Faulenbach hat in diesem Sinn die Politisierung des Faches in der Weimarer Repubik betont, die sich in der Hinwendung zur Zeitgeschichte erweise, die als »vornehmlich politische Geschichte« und »durchaus in politischer Absicht« betrieben worden sei.509 Auch Maurer spricht in diesem Zusammenhang von einer Deutungskonkurrenz zwischen Wissenschaft und Politik,510 wie sie etwa auch bei Paul Levi in der bereits zitierten Rezension zu Ludwigs Wilhelm der Zweite erkennbar wird. Levi bemängelt an Ludwigs Biographie, daß zwar der Mensch dargestellt, aber die Frage nicht beantwortet werde, warum dieser Mensch diesen Schaden habe anrichten können – etwa die Frage nach einer Mitschuld des deutschen Volkes. Er betont allerdings, daß die Darstellung dieser Sachverhalte »wohl nicht so sehr jetzt Sache des Geschichtsschreibers [wie Emil Ludwig!] als Sache des Politikers ist«.511 Levi, der hier als »Politiker« rezensiert, verteidigt zugleich die Geschichtsdeutungskompetenz des eige———————— 508 509
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Michael Maurer, Neuzeitliche Geschichtswissenschaft, S. 456. Bernd Faulenbach, Nach der Niederlage. Zeitgeschichtliche Fragen und apologetische Tendenz in der Historiographie der Weimarer Zeit. In: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 1918–1945. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 (stw 1333), S. 31–51, zit. S. 45. Die Konkurrenz zwischen Historikern und ‘Außerzünftigen’ bestand freilich nicht erst in der Weimarer Republik; und die Historiker, die ihrem Anspruch, »die weltanschaulichen Bedürfnisse des lesenden Publikums« zu befriedigen, gerecht werden wollten, suchten ihrerseits die politische Öffentlichkeit in Denkmals- und Kriegsreden (1914!). So auch: Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion. In: Geschichtsdiskurs in fünf Bänden. Hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin. Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrung und Innovationen 1880–1945. Frankfurt/M.: Fischer 1997, S. 165– 188, hier S. 168. Levi, Zwei Stimmen.
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nen Standes gegen die Historiker und die später von diesen als politische Journalisten und historische Belletristen geächteten Literaten. Im Streit um die historische Belletristik wird gerade dieser Widerstreit zwischen Wissenschaft und Politik im Sinn eines Streites zwischen fachhistorischer und politischer Geschichtsdeutung wiederholt. Die Biographik war dabei das auch für ‘innerzünftige’ Auseinandersetzungen bevorzugte Mittel der Positionsbestimmung.512 Gerade diese Präferenz für die biographische Gattung seitens der Historiker513 – vor allem seit dem ‘Methodenstreit’ der 1890er Jahre – 514 verbunden mit ihrem eigenen Geschichtsdeutungs- und Politikanspruch mußte angesichts des erfolgreichen Versuchs der historischen Journalisten Anstoß und Konkurrenzgefühle wecken. Es ging also um die intellektuelle Position und Kompetenzbehauptung der institutionalisierten Geschichte im demokratischen Staat.515 In der Vorrede zum Literaturbericht formuliert Wilhelm Schüßler die beiden Probleme, vor die sich in seinen Augen die Geschichtswissenschaft gestellt sehen sollte: zum einen die Konkurrenz um die Deutungsmacht zwischen Historikern und anderen auf dem Gebiet der »historisch-politische[n] Literatur«,516 zum anderen der Legitimationsdruck auf die Geschichtswissenschaft selbst, welche – falls sie an den Traditionen der preußischen Geschichtsschreibung festhalten wolle – angesichts eines politisch-historischen Bruchs mit der Tradition des preußischen Staats im November 1918 in der Öffentlichkeit vor die Frage gestellt werde, ob sie überhaupt noch Deutungskompetenz für sich beanspruchen könne. Schüßler macht dabei deutlich, daß es sich für ihn nicht so sehr um eine Frage der wissenschaftlichen Tradition (im Sinn der ‘Wissenschaftlich———————— 512
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Maurer, Neuzeitliche Geschichtsschreibung, S. 460: »Probleme, die man später eher theoretisch und grundsätzlich aufgegriffen hätte, wurden damals im Spiegel der Auseinandersetzungen um Bismarck, den Freiherrn von Stein usw. ausgetragen.« Maurer verweist dabei auf »die kontroversen Stein-Biographien von Gerhard Ritter und Franz Schnabel« (ebd., Anm. 163). Nach einer richtungsweisenden Position Friedrich Meineckes war die Persönlichkeit gerade das Ziel der Geschichtsschreibung. Wenngleich der Anteil der Persönlichkeit an der Geschichte – im Gegensatz zum älteren vernunftethischen Denken der Aufklärung – und besonders der Anteil an der Geschichte kultureller Errungenschaften auf das ganze gerechnet gering erscheinen könne, so sei gerade dieser Anteil der Persönlichkeiten der wesentliche Kern der Geschichte. Vgl. Friedrich Meinecke, Persönlichkeit und geschichtliche Welt. [Vortrag 1918.] In: Ders., Staat und Persönlichkeit. Studien. Berlin: Mittler 1933, S. 1–27. Zu diesem Ergebnis kommt: Hähner, Historische Biographik, S. 187–198. Vgl. a. die Bemerkungen von Andrews, der in diesem Zusammenhang auf die »changing social role of historians« und insbesondere den Verlust der »educational function« hinweist. Herbert D. Andrews, Bismarck’s Foreign Policy and German Historiography 1919–1945. In: The Journal of Modern History 37 (1965), S. 345–356, hier S. 354ff. Wilhelm Schüßler, Zur Einleitung. In: Historische Belletristik, S. 5–8, hier S. 5.
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keit’), sondern um Probleme auf der politischen Ebene handelt. Es geht zunächst um die Position des Historikers als eines Intellektuellen in der Gesellschaft. Da der Intellektuelle auf seinem (wissenschaftlichen) Gebiet Kompetenz nachweisen muß, um auf dem Gebiet allgemeiner politischer Fragen in der Öffentlichkeit Gewicht zu erhalten, gewinnt freilich auch die von den Literaten behauptete Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit an Bedeutung. Insofern besteht die Konkurrenz auch in der jeweiligen öffentlichen Kompetenzsicherung.517 Zum Problem wird dabei für die Fachhistoriker, daß sich die Belletristen in Selbstauskünften ebenfalls durch die Arbeit und Kompetenz des Historikers zu qualifizieren suchen. Emil Ludwig bezeichnet sich in Wilhelm der Zweite in der Tat als »Historiker«,518 gleichzeitig betont er allerdings den methodischen Unterschied in seinem Vorgehen zu dem des Historikers. Diesen Umstand schätzt etwa Heinrich Ritter von S&rbik falsch ein, der sich dabei in offensichtliche Widersprüche verfängt, wenn er Ludwig unterstellt, er wolle seine biographischen Studien nicht nur auf historischer Basis (Quellenstudium), sondern auch mit historischen Methoden durchführen.519 Sämtliche Rezensenten versuchen ihre überlegene Geschichtsdeutungskompetenz durch ihren Status als Fachhistoriker zu behaupten – freilich mehrheitlich ohne sich mit den Methoden der Belletristen fundiert auseinanderzusetzen.520 Der letzte Grund für Schüßlers Kritik liegt auch nicht in der Selbsteinschätzung Ludwigs, sondern im Erfolg seiner Werke selbst in Kreisen, die Schüßler wohl als eigene Klientel aufzufassen scheint: »Und alle diese Bücher werden nicht nur massen———————— 517
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Die Geschichtsdeutungskompetenz der Historiker verteidigt besonders Posner in seiner Rezension zu Hegemanns Denkmalsturz »Fridericus oder das Königsopfer«. Dabei greift Posner auch überhaupt die politische Instrumentalisierung der geschichtlichen Gestalten an: »Wenn die politischen Parteien Bundesgenossen und Eideshelfer aus der Vergangenheit hervorzuholen suchen und dabei Stein zum Demokraten stempeln, Friedrich d. Gr. deutschnationale Politik treiben lassen, so ist weder die deutsche Geschichtswissenschaft dafür verantwortlich zu machen, noch sind solche Bestrebungen dadurch zu treffen, daß man ihnen den Gegenstand ihrer Verehrung zu verekeln sucht.« (S. 29). Posner räumt zwar ein, daß die Geschichtswissenschaft »in den Zeiten der werdenden und vollendeten Reichseinheit« (S. 30) daran mitgewirkt habe, Friedrich II. zu idealisieren, doch sei sie nun aufgefordert die ‘Historia Friderici’ richtig zu schreiben. Damit ist aber eben nicht ein Rückzug aus der politischen Geschichtsdeutung gemeint, sondern die alleinige Kompetenz der Fachhistoriker für die Deutung behauptet. E. Posner, Fridericus oder das Königsopfer. Von Werner Hegemann […]. In: Historische Belletristik, S. 20–30. Ludwig, Wilhelm der Zweite, S. 10. Heinrich Ritter von S&rbik, Napoleon. Von Emil Ludwig […] Napoleon oder Kniefall vor dem Heros. Von Werner Hegemann. In: Historische Belletristik, S. 9–19, hier S. 10. Daß eine Methodenauseinandersetzung mit Ludwig nicht geführt wird, könnte seinen Grund auch darin haben, daß sich die Geschichtswissenschaftler selbst kaum über ein methodisches Vorgehen einig sind. So erbittet Schüßler im anbiedernden Schlußabsatz seiner Einleitung von Meinecke eine neue ‘Historik’, um inhaltliche Differenzen künftig auch methodisch einwandfrei klären zu können.
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haft gekauft, sondern auch wirklich gelesen. Alte Generäle am Stammtisch, Literaten im Café, Kränzchenfreundinnen jedes Alters, Geschäftsleute und Akademiker sind begeistert.«521 Erst der Erfolg der Belletristen stellt die Fachhistoriker vor einen Kompetenznachweisdruck. Schüßlers Einleitung zielt gewiß nicht darauf, etwaige ‘Gegner’ zu überzeugen, sondern sie bedient (zumindest der rhetorischen Strategie nach) einen Adressatenkreis, der Schüßlers Ansichten gewogen scheint. Er muß mit Lesern rechnen, welche Schlagworte wie ‘preußische Tradition’ positiv werten und welche die Abneigung gegen jede ‘demokratischsozialistische Tendenz’ und der gegenwartskritische Ansatz (Nivellierung, Kritiklosigkeit, gesunkenes Kulturniveau etc.) verbindet. Eine argumentative Auseinandersetzung mit Ludwig und anderen ‘historischen Belletristen’ über die Geschichtsrevision wird dagegen kaum gesucht. – Auch ist der Vorwurf, die Biographen seien sämtlich Sozialisten und Demokraten, wie bereits gezeigt und den Rezensenten teilweise sehr wohl bekannt, nur als Diffamierungspolemik Schüßlers zu verstehen. S&rbik dagegen differenziert etwa zwischen Emil Ludwig und Werner Hegemann. Ludwig wird politisch nicht als Demokrat, sondern als Antimonarchist getadelt. In Ludwigs Biographie Napoleon zeige sich besonders deutlich eine monarchiefeindliche Haltung: »der Irrtum Napoleons ist für Ludwig eigentlich nur seine ‘Kaiserei’, die Dynastiepolitik, die Heirat mit der Habsburgerin, die Wiedereinführung des Adels, der Titel, der ganze Flitter der Kaiserkrone.«522 Ludwig erweise sich sonst – im Gegensatz zum ‘zersetzenden’ Hegemann – als Heldenverehrer, und insbesondere Napoleons Europaidee unter »der Herrschaft seiner Person«523 werde zustimmend behandelt.524 Schüßler, der solche Differenzierungen nicht vornimmt, begibt sich auf das Gebiet kontroversrhetorischer Polariserung zur Stärkung der Position der vermuteten eigenen Anhängerschaft. Wie sehr die politische Situation in Deutschland und wie wenig die eigentliche Sachdebatte aus der Sicht Außenstehender die Diskussion bestimmte, zeigt sich etwa im Blick eines Schweizer Rezensenten auf den Literaturbericht. Eugen Müller stellt in der Zeitschrift für Schweizerische Geschichte zu dieser Frage klar: »Erwähnt wird stets die politische Tendenz der links stehenden Verfasser, doch behauptet, daß dies bei der Beurteilung keine Rolle spiele; dennoch hat man bei mehr als einer Bemer———————— 521 522 523 524
Schüßler, Zur Einleitung, S. 6. S&rbik, Napoleon, S. 14f. Ebd., S. 15. Auch Fritz Hartung kritisiert in seiner Rezension zu Paul Wieglers »Wilhelm I.« nicht Wieglers demokratische Haltung, sondern seine antimonarchische Bismarckverehrung, die ihn dem Kreis um Maximilan von Harden nahe stellten (S. 43). Fritz Hartung, Wilhelm der Erste, sein Leben und seine Zeit. Von Paul Wiegler […]. In: Historische Belletristik, S. 43–48.
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kung den Eindruck, daß dies eine Selbsttäuschung ist, und am Schluß wirbt Schüßler ganz offen für eine geistige Rechte.«525 Zusätzlich seien die Rezensionen, soweit sie sich tatsächlich auf den Mangel an historischer »Akribie« bei den historischen Belletristen bezögen, selbst ungenau: »dabei fehlt es aber auch in einzelnen Kritiken nicht an unvollständigen und irreführenden Zitaten«. Auffällig an den Rezensionen ist zudem, daß sich die Rezensenten auf Ludwigs populare, psychologisierende ‘Methode’ nicht einlassen. Vielmehr wird das von Ludwig selbst eingeräumte Fehlen weitläufiger historisch-politischer Ausführungen umständlich dokumentiert. Hans Delbrück erkennt in der Rezension von Ludwigs Wilhelm der Zweite zumindest, daß sich bedingt durch seine biographische Perspektive Ludwig aus den fachhistorischen Streitpunkten weitgehend heraushält.526 In der Kardinalfrage, ob die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland oder die Ablehnung eines Englandbündnisses für die kommende Entwicklung entscheidend gewesen sei, weicht Ludwig aus. Nicht die politischen Entscheidungen werden für die Biographie zentral gewichtet, sondern die interpersonellen Hintergründe dieser Entscheidungen. Dabei ist Ludwig durchaus der Ansicht, daß nicht diese interpersonellen Beziehungen, sondern der mehrstufige Zusammenbruch der deutschen Außenpolitik den Krieg mitverursacht hat. Die politischen Handlungen der Akteure haben persönliche Abneigungen und Sympathien zur Grundlage, aber daraus wird noch keine Schuld der handelnden Personen konstruiert. In einer Rezension, die Hans Delbrück ebenfalls über Ludwigs Wilhelm der Zweite in der Monatsschrift der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen Die Kriegsschuldfrage publizierte, gesteht Delbrück Ludwig durchaus zu, im besten Willen und ohne tendenziöse Absicht die Biographie geschrieben zu haben, aber die Beschränkung auf die Psychologie des Kaisers könne nicht von dem historisch-politischen Umfeld getrennt werden. Insbesondere verwandle sich das »Verdammungsurteil über den Kaiser« eben in ein nicht nur die Person betreffendes Urteil:527 […] die ganze ungeheure Weltkrisis entspringt bei ihm zwar nicht, wie in der Versailler Schuldthese einem deutschen Kriegswillen, aber fast ebenso schlimm, dem gleichzeitig renommistischen und schwächlichen Politisieren eines Kaisers, dem das deutsche Volk sich widerstandslos anvertraute und dessen amtliche Be———————— 525
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Eugen Müller, Historische Belletristik […]. In: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 9 (1929), S. 348–350, hier S. 349. – Müller betont, daß die Werke von Emil Ludwig und Herbert Eulenberg auch in der Schweiz viel gelesen würden; die Werke eines »Werner Stegemann [!]« – gemeint ist Hegemann – seien dagegen in der Schweiz unbekannt. Hans Delbrück, Wilhelm der Zweite. Von Emil Ludwig […]. In: Historische Belletristik, S. 37–43, hier S. 42. Hans Delbrück, Emil Ludwig und die Kriegsschuldfrage. In: Die Kriegsschuldfrage. Monatsschrift für internationale Aufklärung 3 (1925), S. 826–829, S. 828.
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rater gewissenlos genug waren, sich als bloße Werkzeuge der kaiserlichen Laune zu betrachten.
Die psychologische Beschränkung auf die biographische Zentralgestalt wird so von Delbrück als Gefahr erkannt, da dadurch eine differenzierte Beurteilungen der Personen im Umfeld des Kaisers, die Ehrenrettung einzelner Politiker und schließlich die Verbindung zu den preußischen Traditionen verunmöglicht werde. Auch Mommsen macht in seiner Rezension von Ludwigs Bismarck deutlich, daß Ludwig in den fachhistorisch relevanten Fragen der Bismarckschen Außenpolitik weitgehend unentschieden bleibt und gerade nicht Stellung bezieht. Auch hier steht also die Reduktion der Biographie auf das Individuum und die Vernachlässigung der historisch-politischen Ebene im Zentrum. Mommsen ist freilich der einzige unter den Rezensenten, der darin nicht nur eine politische Tendenz, sondern allgemeiner ein mögliches Anzeichen für ein generelles Schwinden des Interesses an den fachgeschichtlichen Fragestellungen in der Öffentlichkeit erkennt und dafür eine literatursoziologische und mediengeschichtliche Begründung sucht:528 In dem rastlosen Getriebe unserer Tage findet auch der bildungshungrige Laie Erholung nur in Büchern, die nicht anstrengen, sondern die ihm leicht faßbare Nahrung bieten. Wie das Kino das Theater verdrängt, so die Literatur à la L. die ernsthafte populäre Darstellung von Fachhistorikern.
Mommsen benutzt diese Erklärung freilich nicht im Sinn von Schüßler für eine generelle Kritik der Gegenwartskultur, sondern er sieht in den gleichwohl kritisch beurteilten veränderten Lesegewohnheiten und -interessen, die Ludwig besser bediene als die Historiker, eine Aufgabe für die Fachwissenschaft, geeignete Formen der popularen Wissensvermittlung zu erproben: »nachdenken soll man darüber, nicht nur tadeln«.529 Eine Debatte, die auch theoretische Probleme der Gattung wie der popularen Wissensvermittlung einbezöge, ist fast ausschließlich von Mommsen und Emil Ludwig selbst geführt worden, und auch diese Ansätze wurden letztlich durch den zunehmenden politischen Druck in den Hintergrund gedrängt. So ist es schließlich die von Schüßler betonte politische Stoßrichtung gewesen, welche die deutlichste Wirkung hinterlassen hat. Mehrere Rezensenten des Literaturberichts weisen entsprechend deutlich darauf hin, daß die Geschichtsschreibung stärker ihre politische Funktion in der Öffentlichkeit wahrzunehmen habe. »Rückschau«, »Selbstbesinnung« und »Revision« seien, so schrieb etwa Heinrich Otto Meisner in einer Sammelbesprechung in den Preußischen Jahrbüchern, die ———————— 528 529
Wilhelm Mommsen, Bismarck. Geschichte eines Kämpfers. Von Emil Ludwig […]. In: Historische Belletristik, S. 30–37, hier S. 36. Ebd., S. 37.
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Aufgabe der Gegenwart, welche die historischen Belletristen für sich in Anspruch nähmen. Die Geschichtswissenschaft freilich würde ihnen dieses Feld zu sehr überlassen, da man sich häufig scheue, »das heiße Eisen der Zeitgeschichte anzufassen«.530 Dazu freilich sei sowohl eine gewissenhafte inhaltliche Arbeit als besonders auch eine öffentlichkeitswirksame Wissensvermittlung, wie sie Meisner bei Erich Marcks als vorbildlich erkennt, notwendig. Ganz ähnlich sieht dies D. Gerhard im Literaturbericht Jahresberichte für Deutsche Geschichte. In den Bemerkungen zu der Rezensionssammlung Historische Belletristik weist er bei grundsätzlicher Zustimmung zur Kritik an den historischen Belletristen darauf hin, daß die alte Form der »historisch-politischen Biographie« nicht mehr aktuell sei. Als biographische »Darstellungsform« einer »besonneneren und besinnlicheren Welt des späten, noch humanistisch unterbauten Liberalismus« könne sie den Gegenwartsanforderungen nicht gerecht werden. Er fordert dazu auf, »an die Aufgabe großer Darstellungen« wieder heranzugehen und zu einer »politischen, weltgeschichtlich gerichteten Geschichtsschreibung« zu finden: »Anzeichen dafür, Anzeichen vor allem zu einer Renaissance der politischen Geschichtsschreibung sind da.«531 In diesen Äußerungen wird wie in Schüßlers Einleitung zur Historischen Belletristik deutlich, daß es in der Kritik an den popularen Biographen vor allem auch um eine politische und inhaltliche Orientierungsdebatte innerhalb der Geschichtswissenschaft geht, die besonders von Schüßler auch in unzweifelhafter politischer Orientierung geführt wird. Emil Ludwig hat auf die Angriffe der Fachhistoriker mit einem Essay Historie und Dichtung reagiert, in welchem er, ohne die Rezensenten seiner Werke namentlich zu erwähnen, detailliert und bis in metaphorische Details hinein auf die Anwürfe reagiert.532 Dabei handelt es sich um eine umfassende Positionsbestimmung, weniger um eine Darlegung der eigenen Arbeitsweise, wie er sie in seiner Autobiographie Geschenke des Lebens versucht hat. Die Strategie der Entgegnung beruht zunächst darauf, den politischen Kern der Kritik zu marginalisieren und demgegenüber die ———————— 530
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Heinrich Otto Meisner, Historische Belletristik. Der »Revisionismus« – Die »neue Schule« – Geschichtswissenschaft und Gegenwart – Biographien. In: Preußische Jahrbücher 218 (Okt.–Dez. 1929), S. 380–390. – Vgl. a.: Ders., Weihnachtsrundschau VI. Geschichte. In: Ebd. 210 (Okt.–Dez. 1927), S. 434–447. Jahresberichte für deutsche Geschichte 4 (1928 [1930]), S. 97 (D. Gerhard). Nur ein Beispiel sei genannt: Mommsens Vergleich zwischen neuer Biographie und Kinosehgewohnheiten wird von Ludwig aufgegriffen und positiv gewendet, indem er bedauert, daß es keine Filmporträts der historischen Persönlichkeiten gebe, aus denen man den Charakter noch direkter erschließen könne. Die Kinosehgewohnheiten werden so gerade zum Symbol der Gegenwartsorientierung der modernen Biographen gewendet, da sie sich durch Photographie (Physiognomik) und Kino (Psychologie) als wesentliche materielle und methodische Neuerung anregen lassen. Ludwig, Historie und Dichtung, S. 370.
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gattungstheoretische Positionsbestimmung in den Vordergrund zu stellen. Es gelingt ihm dadurch, die Rezensenten genau an dem Punkt zu treffen, wo sich Schwächen ihrer Argumentation oder gar Eingeständnisse des eigenen Ungenügens zeigen. Gegen die Detailkritik der Rezensenten betont Ludwig das psychologische, verstehende Vorgehen, welches den einzelnen Menschen in den Vordergrund rückt und geschichtliche Fakten wie Schlachtordnungen oder Einzelereignisse abwertet. Von sich selbst in dritter Person sprechend, verteidigt er den Autor der Biographie Napoleon gegen ihren Rezensenten: »Vielleicht hatte der Autor erkannt, daß das Ewig-Menschliche fesselnder und zugleich belehrender ist als das Zeitlich-Gewandelte, daß die Geschichte eines großen Herzens bedeutungsvoller ist als die Veränderung einer Spezialkarte zwischen 1790 und 1810.«533 Die leitende Frage der Biographie müsse vor allem das Gegenwartsinteresse an der historischen Persönlichkeit bilden. Dieses freilich beziehe sich – wie auch namhafte Historiker wie etwa Burckhardt oder Carlyle betont hätten – nicht auf für die Gegenwart belanglose Details, sondern auf die menschliche Dimension der Geschichte und letztlich auf den im Einzelfall repräsentierten Typus. Gerade die menschliche Dimension der Geschichte jedoch könne man aus den Seminaren der Geschichtswissenschaft nicht, sondern nur durch Lebenserfahrung lernen: »Welch ein Pech, daß die schwierigste Sache in der Welt, die Erkenntnis des menschlichen Herzens, durch ein Mißverständnis gerade solchen Männern aufgebürdet wird, die ihr Leben zwischen Akten verbringen müssen!«534 Die Voraussetzungen für den neuen Biographen werden entsprechend der hermeneutischen Überlegungen Diltheys formuliert. Auch der Historiker könne eine Wahrscheinlichkeitsprüfung der Quellen nur dadurch leisten, daß er der Glaubwürdigkeit der historischen Zeugen nachspüre: Zu diesem Schlusse gibt es vor allem zwei Wege. Auf dem einen reist man an den Ort der Tat, prüft alle Umstände, erkundet auch die Glaubwürdigkeit der Zeugen und fällt dann das Urteil: der Professor als Staatsanwalt. Auf dem anderen versetzt man sich im Geiste nicht nur an den Ort, zugleich auch in die Seele aller fraglichen Personen und läßt Gefühl, Phantasie, läßt die Kenntnis der Seele entscheiden: Burckhardt und Carlyle.
Auch die Auswahl der vom Biographen zu berücksichtigenden Quellen, die Ludwig vorschlägt, zeigt deutlich die Parallelen zu Dilthey: Sämtliche Zeugnisse werden autobiographisch gelesen – auch die politischhistorischen. Photographien, generell Bildnisse, Gespräche, Briefe, Tagebücher sind die wichtigsten Quellen; ein zwischen Akten verlorener Notizzettel könne wichtiger werden für die psychologisierende Biographie als ———————— 533 534
Ebd., S. 365. Ebd., S. 366.
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die Akten selbst. Die kritische Überprüfung aller Zeugnisse – »Was wird verschwiegen und warum?« – 535 soll nach dem psychologischen Vorverständnis des Biographen erfolgen. Aus diesem Grund verbieten sich moralische Vorurteile und weitläufige Aufreihungen äußerer Fakten: »Was ein großer Mann in Tat und Werk geleistet hat, steht im Lexikon; wie er es machte, warum er es so und nicht anders machte, was er wollte und doch nicht machte, das steht in der Biographie.«536 Ludwig stellt so die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Fachhistorie und biographischer Dichtung heraus, über die freilich auch in seinen Biographien kein Zweifel bestehen konnte. Dadurch macht er sich den Rezensenten gegenüber unangreifbar, welche die methodische Auseinandersetzung scheuen und ihrerseits durch das Dokumentieren der fehlenden oder falschen historisch-politischen Fakten auch nur die Differenz nachzuzeichnen vermögen. Mit feiner Ironie kann Ludwig den Historikern zudem den selbst eingestandenen Mangel an öffentlicher Wirksamkeit vorhalten, der gerade in der Abwehr seiner Methode bestehe: »Wie, wenn die alte Schule die Wendung der gesamten Kulturwelt zur Seelenkunde hin doch ein wenig verschlafen hätte?«537 Die an der Oberfläche marginalisierte politische Ebene freilich wird als Subtext des Essays jeweils im Sinne einer Differenzierung zwischen den methodischen, politischen und kulturellen Neuerern und den Gestrigen mitgeführt. Nicht umsonst erwidert Ludwig, dessen fachhistorische Rezensenten die preußischen Traditionen der Geschichtsschreibung betonten, mit einer europäischen Dimension neuerer Geschichtsschreibung. Auf den ersten Seiten sind es besonders englische Beispiele, die Ludwig anführt. Psychologische Gegenwartsinteressen werden so an eine Geschichtstradition gebunden, welche von Shakespeare bis Macaulay, von Goethe bis Wells reicht. Hinweise auf Photographie und Kino, auf die psychologische Geschichtsrevision als Paradigma der Gegenwart dokumentieren zusätzlich den ‘modernen’ Charakter der eigenen Position. Die historisch-politische Kritik der Fachhistoriker wird dagegen in einem Nebengedanken als bloße Maske für politische Anwürfe gekennzeichnet. Die Vorwürfe selbst werden von Ludwig polemisch als belanglose Detailverliebtheit zurückgeweisen:538 Schwieriger werden solche Differenzen, wenn Interessen oder selbst Ideale sich verletzt fühlen. Wer etwa das alte Deutschland wieder errichten möchte, empört sich gegen die kritische Darstellung von Fürsten, die doch das Beste gewollt hätten, während die, denen Ruf und Zukunft des deutschen Volkes wichtiger vorkommen als die der deutschen Fürsten, nichts verheimlichen werden, was die ———————— 535 536 537 538
Ebd., S. 371. Ebd., S. 379. Ebd., S. 377. Ebd., S. 369.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Dokumente gegen diese sagen. Nur schade, daß die alte Schule die Grundstimmung ihrer Seele als Agens ihrer Darstellung leugnet, während die neue laut erklärt, daß Dokumente meist nur das belegen, was man im Herzen vorgefühlt hat.
Sollte man Ludwigs Antwort strategisch charakterisieren, so wäre wohl darauf hinzuweisen, daß Ludwig die offene Flanke, welche ihm die Rezensenten und namentlich der Autor der Einleitung boten, geschickt für seine Zwecke genutzt hat. Der Legitimationsdruck für die Geschichtswissenschaft, die ihre Deutungskompetenz zugleich mit der Wahrung der preußischen Traditionen behaupten wollte, ist zunächst von diesen selbst in die Diskussion eingebracht worden. Es verwundert kaum, daß auf Ludwigs Replik gerade derjenige Rezensent antwortete, der die politische Instrumentalisierung seiner Rezension durch Schüßler als unglücklich empfand: Wilhelm Mommsen. Mommsen griff die von Ludwig in seinem Essay gebildete Dichotomie zwischen ‘legitimer’ und ‘illegitimer’ Geschichtsschreibung auf und publizierte in der Zeitschrift Zeitwende eine Antwort: »Legitime« und «illegitime« Geschichtsschreibung. Sehr deutlich distanziert sich Mommsen, der die ‘offene Flanke’ der Streitschrift Historische Belletristik ebenfalls erkannte, dabei von Wilhelm Schüßler, dessen »Einleitung ich nicht für übermäßig glücklich halte«.539 Besonderes Unbehagen bereitet Mommsen auch die von Ludwig aus der Historischen Belletristik gezogene politische Differenzierung zwischen neuer und alter ‘Schule’: »Emil Ludwig wird nicht wissen, daß eine große Reihe angesehener Vertreter der Geschichte an den deutschen Universitäten nicht der politischen Rechten angehört und dem neuen Staat durchaus positiv gegenübersteht.«540 Es liegt nahe, daß Mommsen vor allem auch das durch Schüßler in seinen Augen beschädigte Ansehen des eigenen Fachs in der Öffentlichkeit zurechtzurükken versucht. (Oder sollte angesichts der Zustimmung, die Schüßler von manchen Rezensenten erhalten hatte, in Mommsens Beitrag in erster Linie eine fachinterne Polemik verdeckt sein?) Gegenüber den Illegitimen jedenfalls wird von Mommsen die Einheit einer politisch verantwortlichen Geschichtswissenschaft betont, welche sich nicht auf eine politische Richtung reduzieren läßt: »Mit Politik hat, trotz der Polemik der Tagespresse, die Frage nichts zu tun; Emil Ludwig findet ja auch unter ausgesprochen rechtsstehenden Leuten begeisterte Leser.«541 Mommsen erkennt dabei durchaus auch Ludwigs eigene politisch ambivalente Haltung. Der demokratische Historiker wendet sich hier gegen den aristokratischen Europäer Ludwig, der »das in einseitiger Formulierung einer veralteten Schule angehörende Wort ‘Männer machen Geschichte’ bejahe, das schon ———————— 539 540 541
Mommsen, »Legitime« und »illegitime« Geschichtsschreibung, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11.
4.2. Zwischen Geschichtsrevision und Verehrung der großen Männer (Ludwig)
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Treitschke, der es prägte, in seiner eigenen Geschichtssschreibung nicht beachtete«,542 und zudem nie aktiv Stellung für den »demokratischrepublikanischen Staat« beziehe: »im ganzen wirken seine Bücher [durch Diskreditierung der Gegner] höchstens negativ, nie werbend«.543 Mommsens Essay endet in einem eindringlichen Plädoyer, welches zwei Aspekte des Verhältnisses von Geschichte und Gegenwart, ja, von Geschichtswissenschaft und Politik betrifft. Eindringlich warnt Mommsen vor der Vorstellung, man könne zu einer Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zurückkehren, innerhalb welcher sich einzelne Historiker zu nationalen und politischen Leitgrößen entwickeln konnten:544 Das Wiederentstehen einer politisierenden Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit zur Waffe im politischen Kampf macht, ist keineswegs zu wünschen, zumal das, was bei Treitschkes Genialität groß war, bei Kleineren unerträglich wäre, und wo man derartige Versuche heute wieder gemacht hat, unerträglich ist.
Gleichwohl habe sich die Geschichtswissenschaft der fachhistorischen Verantwortung in der Gegenwart zu stellen und durch eine fachgerechte »‘Revision’« der Geschichte und insbesondere der Zeitgeschichte einen aktiven Anteil an den Gegenwartsaufgaben zu leisten. Dabei trägt gerade aus demokratischer Perspektive der Nachweis der Kontinuität in der Tradition des deutschen Staates nach 1918 dazu bei, die neue Republik zu sichern:545 Nur auf einen Unterschied zu Emil Ludwigs »neuer« Schule sei auch hier hingewiesen. Wenn diese im Grunde die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit erweitert, sieht es die Fachwissenschaft als ihre national-politische Aufgabe an, die unlösbare Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zu zeigen. Sie wird stets Tendenzen ablehnen, die zwischen dem Heute und dem Gestern einen Trennungsstrich ziehen, sei es um die neue Zeit auf Kosten der alten zu preisen, oder durch Schilderung des »Glanzes« der »guten alten Zeit« die Gegenwart schlecht zu machen. […] Auch der heutige Staat kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er sich der starken historischen Kräfte bewußt ist, auf denen er aufbaut.
Wenngleich Mommsen in seiner Replik auf Ludwigs psychologische Methode kaum eingeht, so deckt er doch zugleich die Probleme der neuen wie der nach politischem Einfluß strebenden alten Schule auf: ihren jeweiligen Mangel an demokratischem Bewußtsein. ———————— 542 543 544 545
Ebd., S. 15. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. – Auch bei Ludwig finden sich Tendenzen zur Behauptung einer Kontinuität der deutschen Geschichte. In einem Essay über Bismarck etwa wird dieser als Anknüpfungspunkt für eine geschichtliche Traditionslinie aktualisiert, die an Wilhelm II. vorbeiführt: »War Bismarck wirklich die alte Zeit?« (S. 121). Emil Ludwig, Bismarck. In: Ders., Genie und Charakter. Sammlung männlicher Bildnisse. Berlin, Wien u. Leipzig: Zsolnay 1932 (Ungekürzte Sonderausgabe), S. 109–123.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Mommsens eigene engagierte Stellungnahme rückt dabei gerade den Kernpunkt der Auseinandersetzung, den er von der politischen Instrumentalisierung zu reinigen versucht, wieder ins Zentrum: die Kompetenz für eine Deutung und Revision der Geschichte im demokratischen Staat. Während so die von der Forschung in unterschiedlicher Gewichtung bislang angenommene Parteiung der Legitimen und Illegitimen in ein monarchistisches und ein demokratisches Lager einer differenzierteren Prüfung nicht standzuhalten vermag, zeigt sich freilich, daß sich eine neue Opposition zwischen einer antibürgerlich national-völkischen Option und einer im weiteren Sinne liberal oder konservativ orientierten bürgerlichen Option auftut. In dieser Gegenüberstellung sind auf der unterlegenen Seite jüdische Biographen und demokratische Historiker vereint, ohne daß hier noch die Fragen biographischer Schreibweisen oder der Aufgaben der Geschichtsrevision bedeutsam wären. Der Option der Kienast, Schüßler, Westphal oder Hansen für eine politische Instrumentalisierung des Streites konnten weder demokratisch gesinnte Fachhistoriker noch Erfolgsbiographen etwas entgegensetzen. In Hansens Pamphlet wird jeder Geschichtsrevision eine Absage erteilt. Die Kritik der Fachhistoriker sei nützlich gewesen, doch letztlich für die kommende Zeit irrelevant: »Was die Presse, was die Historiker dazu beigetragen haben, ist meist entwertet durch Empfindlichkeit.«546 Letztlich entscheidend sei die Frage, ob der »Jugend« der Gegenwart Ludwigs Schriften dienlich sein können: »Bringt uns seine Arbeit vorwärts oder rückwärts?«547 Der von Mommsen befürchtete radikale Bruch mit der Geschichte seitens der Republikgegner, das Desinteresse an einer Geschichtsrevision zeigt sich unzweideutig in Hansens radikaler Jugend- und Aufbruchsmetaphorik: »Wehren muß sich unsere Jugend […]. Die Jugend, die an der Vergangenheit und der vorhergehenden Generation gerade das Negative, Niederzerrende verdammt, die einen Anfang will – kein Ende« (… und entsprechend auch keine Tradition wahren möchte). Am »Fall Ludwig« wird gegen das Spektrum liberaler Weltanschauungen polemisiert, welches Ludwig und Mommsen letztlich vereint.
———————— 546 547
Hansen, Der Fall Emil Ludwig, S. 10. Ebd., S. 11.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft 4.3.1. Antiindividualismus, Soziologie und Sozialbiographik Leo N. Tolstoi (1828–1910), der sich anläßlich seines Romans Krieg und Frieden mit der Frage nach der Bedeutung des Individuums in der Geschichte in einem Essay auseinandergesetzt hat, gehört zu den weltliterarischen Repräsentanten einer antiindividualistischen Geschichtsauffassung. Tolstoi liefert hier eine Betrachtung über die ihn zentral bewegende und das Konzept seines Romans fundamental bestimmende geringe Bedeutung der »sogenannten ‘großen Männer’ im Zusammenhang mit dem historischen Geschehen«.548 Die im Roman behandelte Geschichte um das Jahr 1812 stellt Tolstoi vor die Frage: »Aber wie haben denn Millionen von Menschen angefangen, einander zu morden?«549 Keine der Thesen der Historiker und vor allem nicht der individualisierende Hinweis auf einen ‘Eroberergeist’ Napoleons oder die ‘patriotische Unerschütterlichkeit’ Alexanders I. könnten hierauf eine Erklärung geben. Immer bleibe die zentrale Frage unbeantwortet, für die Tolstoi selbst eine antiindividualistische Antwort gibt:550 Warum sind Millionen von Menschen darauf aus gewesen, einander zu töten, und warum haben sie einander getötet, während es doch seit der Erschaffung der Welt bekannt ist, daß dies sowohl physisch wie moralisch vom Übel ist? Darum, weil dies unvermeidlich nötig war, weil, indem die Menschen dies taten, sie dadurch das zoologische Gesetz erfüllten, das auch die Bienen erfüllen, wenn sie sich gegenseitig vernichten und nach welchem sich die Männchen bei manchen Tiergattungen gegenseitig vertilgen. Eine andere Antwort auf diese schreckliche Frage gibt es nicht.
Diese These stellt das Problem der freien Willensentscheidung, dem sich Tolstoi sehr konsequent widmet. Er gibt die deutliche Antwort, die Freiheit des Wollens sei nur ein Trugschluß des Menschen, der seine geringfügige Entscheidungsfreiheit in unbedeutenden Alltagsgeschäften auf eine generelle Freiheit hochrechne. Die Vernunftgründe, die der einzelne selbst für seine Handlung angebe, seien zudem nichts weiter als ‘retrospektive’ Projektionen, in denen unfreie Handlungen als freie ausgewiesen würden. Der Widerspruch zwischen dem individuellen Freiheitsge———————— 548
549 550
Leo N. Tolstoi, Die Legendenbildung. Über das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Psychologie. In: Psyche 1 (1947), S. 161–166, hier S.164. – Auszug aus: Einige Worte über »Krieg und Frieden«. Nach der Ausgabe Jena 1925. Tolstoi, Die Legendenbildung, S. 164. Ebd., S. 164.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
fühl und der tatsächlichen Gebundenheit der Handlungen »entsteht nur dadurch, daß ich das Bewußtsein der Freiheit, das normalerweise jede Handlung begleitet, das zu meinem Ich, zur höchsten Abstraktion meiner Existenz gehört, unrechtmäßig auf Handlungen übertrage, die in Gemeinschaft mit anderen Menschen begangen werden und die abhängig sind von dem Zusammentreffen anderer freier Willen mit dem meinen«. 551 Tolstoi leugnet nicht den Rest einer individuellen Freiheit, aber gerade im Verhältnis von Individuum und Geschichte zeige sie sich nicht: »je mehr unsere Tätigkeit mit der anderer Menschen verbunden ist, umso unfreier ist sie.«552 Hier nun handelt es sich nicht mehr allein um ein ‘zoologisches Gesetz’, nicht allein um massenpsychologische und biologische Faktoren, welche das Handeln mitbestimmen, sondern vor allem um die soziale Gebundenheit des einzelnen an die Gemeinschaft. Das für die individualisierende, biographische Geschichtsschreibung der ‘großen Männer’ in Anspruch genommene Postulat einer besonderen Freiheit, welche eben die Tatgenies von der Masse unterscheide, wird von Tolstoi deutlich zurückgewiesen: »Die stärkste, unzerreißliche, zwangsmäßige, ständige Verbindung mit anderen Menschen ist die sogenannte Macht über die Menschen, die in Wirklichkeit die allergrößte Abhängigkeit von ihnen ist.«553 Als Thema des Romans Krieg und Frieden bezeichnet Tolstoi gerade die »Illustrierung jenes Gesetzes der Vorbestimmtheit« durch ein Personal des Romans, welches unfrei zu handeln gezwungen ist und sich retrospektiven Täuschungen hingibt, frei gewesen zu sein. Für einen vehementen Kritiker der belletristischen Biographik wie Georg Lukács wurde die ‘antibiographische Gestaltungsweise’ im historischen Roman zu einer gewichtigen Alternative, denn Autoren wie Tolstoi zeigten zwar auch welthistorische Individuen wie Kutusow in Krieg und Frieden, aber diese seien stets an die Ziele und Bewegungen des Volkes (und der Geschichte) gebunden:554 Ebenso sind Cromwell oder Burley bei Scott nicht nur mit den revolutionären Tendenzen der Puritaner, sondern auch mit deren Beschränktheiten verbunden, ebenso bei Puschkin Pugatschow mit den aufständischen Bauern, bei Tolstoi Kutusow mit dem patriotischen Geist der gegen Napoleon kämpfenden russischen Armee. ———————— 551 552 553 554
Ebd., S. 166. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166. Lukács, Der historische Roman, S. 341–343, zit. S. 341. – Tolstoi ist für Lukács sehr nahe am Ideal eines antiindividualistischen historischen Erzählens; er vermißt lediglich die Formulierung progressiver Antworten, die aktive Hingabe an die geschichtliche Bewegung.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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Mit Lukács, vor allem aber mit Biographiekritikern wie Schiller Marmorek, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal u. a.,555 formiert sich gegen die Popularität der biographischen Mode in Literatur und Fachhistorie eine sozialhistorisch motivierte Gegenposition. Hatten Historiker im ‘Methodenstreit’ der 1890er Jahre gegen die Milieutheorien und die Sozialgeschichte den Rest der Persönlichkeit im geschichtlichen Verlauf als dessen Kern zunächst behaupten können,556 und hatten Biographen wie Stefan Zweig sich bemüht, ein Zentrum privater Freiheit, undpsychischer Individualität gegen den geschichtlichen Verlauf und gegen die Frage nach Erfolg und Scheitern individueller Handlungen in der Geschichte abzusichern, so wurden diese unterschiedlichen Versionen einer Verteidigung der individualisierenden, liberalistischen Geschichte aus soziologischer Perspektive grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei handelt es sich freilich um eine Minderheitenposition, die gerade auch in der Geschichtswissenschaft selbst nicht Fuß fassen konnte. Wenngleich der Meinecke-Schüler Eckart Kehr (1902–1933) in einem Beitrag zum Streit um die historische Belletristik auf die »Hilflosigkeit des Individuums«557 gegenüber einer technisierten Welt und ökonomischen ———————— 555
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Zu diesen anderen wäre etwa der bereits oben erwähnte Arthur Seehof zu rechnen. Seehof propagierte – obwohl auch hier ein historisch-materialistischer Ansatz fehle – die Werke von Werner Hegemann als Alternative zur Ludwig-Biographik: »hier wird endlich einmal die Legende von dem ‘großen Menschen’ zerfetzt und Wirklichkeit, geschichtliches und menschliches Werden gegeben.« Seehof, Biographien und Memoiren, S. 615. – Auch Max Horkheimer ist in diesem Kontext zu nennen, in dessen Schriften sich seit den 30er Jahren wiederholt kritische Bemerkungen zur Popularbiographie und ihrer anthropologischen Grundlage der Einheit des Individuums finden. Während dabei anfangs der Aspekt im Vordergrund steht, die bedrohten Individuen delegierten ihre Aufstiegshoffnungen an die biographierten Helden, legt Horkheimer später das Gewicht auf die biographische Rhetorik des Individuums, welche in der Vermarktung der romantischen Idee, jeder könne ein ‘self-made-man’ sein, gerade die Individualität wieder aufhebe. Vgl. etwa: Max Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie. (1935.) In: Ders., Gesammelte Schriften. Band 3: Schriften 1931–1936. Hg. von Alfred Schmidt. Frankfurt/M.: Fischer 1988, S. 249–276; ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. [1946]. Übers. von Alfred Schmidt. In: Ders., Gesammelte Schriften Band 6: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«. Hg. von Alfred Schmidt. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 19–186, bes. Kap. 4: Aufstieg und Niedergang des Individuums. Aus dem Methodenstreit ging – wie Olaf Hähner dargelegt hat – die individualistische Geschichtsschreibung und mit ihr die historische Biographik gestärkt gegenüber den positivistisch-sozialgeschichtlichen Ansätzen besonders Karl Lamprechts hervor. Friedrich Meinecke als einer der zentralen Vertreter der ‘Zunft’ nach 1918 steht deutlich in dieser Tradition der individualistischen Geschichtssicht. Vgl.: Hähner, Historische Biographik, S. 187ff.; Meinecke, Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Eckart Kehr, Der neue Plutarch. Die »historische Belletristik«, die Universität und die Demokratie. In: Ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußischdeutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Hans-Ulrich Wehler. 2., durchges. Aufl. Berlin: de Gruyter 1970 (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der freien Universität Berlin 19), S. 269–278, hier S. 270.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Krisen als Basis für die Flucht zur intakten Individualität historischer Symbolfiguren hinweist und als soziologische Erklärung anbietet, bleibt diese Stimme im Kontext der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen unbedeutend. Kehrs Fazit, daß die Biographik in der Gegenwart bereits zu den überwundenen Formen der Geschichtswissenschaft zähle, hat eher den Charakter einer Wunschvorstellung. Dennoch stößt seine Kritik in das Zentrum der soziologischen Debatte um die Biographik vor: »Die historische Belletristik steht nicht am Anfang einer neuen Zeit – sie ist der letzte Ausläufer des bürgerlichen Individualismus […].«558 Vor dem Hintergrund einer krisenhaften unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart, welche den einzelnen zum bloßen »Automaten der individuellen Selbsterhaltung« (Max Horkheimer) degradiert559 und seine dem liberalistischen Verständnis entsprechenden Aufstiegs- und Verwirklichungswünsche in Frage stellt, wird die biographische Erzählform als Anachronismus begriffen. In diesem Zusammenhang wird die grundsätzliche Frage wieder aktuell, ob der einzelne je diesen Status individueller Freiheit für sich in Anspruch nehmen konnte, und gerade Lukács formuliert dagegen die Sicht des historischen Materialismus, der zufolge die ‘objektiven Notwendigkeiten’ den Gang der politischen und intellektuellen Geschichte und der Kulturgeschichte bewirken:560 […] die biographische Belletristik unserer Zeit schwelgt nun darin, an die Stelle der großen objektiven gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihrer objektiven Widerspiegelungen in Wissenschaft und Kunst die pseudokünstlerische, psychologisch »vertiefte« Darstellung des jeweiligen auslösenden Anlasses zu setzen. Demgegenüber muß nun in aller Schärfe die Notwendigkeit der Darstellung der großen objektiven Zusammenhänge gestellt werden. Es muß gesagt werden: es führt kein Weg von den faulen Äpfeln Schillers zum »Wallenstein«, von dem schwarzen Kaffee, der Napoleonsbüste, der Mönchskutte und dem Spazierstock Balzacs zur »Comédie humaine« usw.
Der sozialdemokratische Redakteur Schiller Marmorek hatte bereits 1929 in der Wiener Monatsschrift Der Kampf in einem Essay die Popularbiographik als Ausdruck einer »Flucht vor den marxistischen Theorien« und deren »das Heldische im Leben der Völker« abwertende Tendenz bezeichnet. In dieser Tendenz sah er auch die historischen Belletristen mit ihren fachhistorischen Kritikern vereint. Freilich bot Marmorek im Gegensatz zu anderen Biographiekritikern weder eine andere Darstellungsform noch eine tragfähige soziologische Erklärung für »die große Mode«
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Ebd., S. 278. Max Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie (1934). In: Horkheimer, Gesammelte Schriften 3, S. 169–220, hier S. 208. Lukács, Der historische Roman, S. 333.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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der Biographie an.561 Während Lukács dagegen poetologisch den historischen Roman gegen den biographischen ausspielt, Kehr eine Geschichtsschreibung der Machtinteressen und kollektiven Mechanismen gegen die intellektualistische Sicht der aus dem Methodenstreit hervorgegangenen Schule etablieren wollte, haben vor allem Kracauer und Löwenthal den Akzent ihrer ideologiekritischen Biographieablehnung auf (literatur) soziologische Analysen des Erfolgs der in ihren Augen anachronistischen Gattung gelegt. »Als neubürgerliche Kunstform« bezeichnete der Schriftsteller, Kultursoziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer (1889–1966) in einem bekannten Essay die Gattung,562 da in ihr den kollektiven Gesellschaftsbewegungen der Gegenwart das Ideal eines unveränderlichen Individualismus entgegengestellt werde. Kracauer beschäftigte sich in einer Reihe von Essays mit kultur- und besonders auch literatursoziologischen Problemstellungen. Er war an den Bedingungen interessiert, die dem Publikumserfolg eines Werkes zugrunde liegen, und er untersuchte in zwei Essays besonders die Frage, warum ein Buch zum Bestseller wird. Der publizistische Markterfolg einiger Werke von Stefan Zweig, Frank Thieß, Erich Maria Remarque u. a. sei – so heißt es in der kleinen Untersuchung Über Erfolgsbücher und ihr Publikum (1931) – »das Zeichen eines geglückten soziologischen Experiments«, da der Autor den Geschmack des breiten Publikums getroffen habe.563 In irgendeiner Weise müsse das Werk in seinen Strukturen – und nicht dem literarischen ‘Gehalt’ nach – mit den »sozialen Verhältnissen der Konsumenten« korrespondieren.564 Kracauer dreht nun die Perspektive um und fragt nach den Rezipienten der Erfolgsbücher und erkennt in ihnen das »Bürgertum«. Die von Kracauer in marxistischer Sicht unterstellten gesellschaftlichen Prozesse hätten jedoch dazu geführt, daß dieses Bürgertum nicht mehr als Klasse mit festen Merkmalen erscheine, sondern als soziale Schicht im Übergangs- und Wandlungsbereich zwischen »Großbourgoisie« und »Proletariat«.565 Besonders den kleinbürgerlichen ‘Angestellten’ – »einst […] Träger der bür———————— 561
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Schiller Marmorek, Die Biographie. In: Der Kampf 22 (1929), S. 388–390, zit. S. 388. – Als ‘soziologische Erklärung’ gibt Marmorek lediglich vage Hinweise auf die Nachkriegsmemoirenliteratur, welche den Boden für eine breite Auseinandersetzung mit der (Zeit)Geschichte bereitet hätte. Zudem seien Geschichtskenntnisse in Nachkriegskonversationen von Bedeutung gewesen. Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders., Aufsätze 1927–1931. Hg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990 (Schriften 5/2), S. 195–199. Siegfried Kracauer, Über Erfolgsbücher und ihr Publikum. In: Kracauer, Aufsätze 1927– 1931, S. 334–342, zit. 336. Ebd., S. 337. Ebd., S. 337.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
gerlichen Kultur« – seien von der »Proletarisierung« bedroht.566 Spezifische bürgerliche Bewußtseinsgehalte – wie das ‘Standesbewußtsein der Beamten und Angestellten’ oder eine ‘individualistische Haltung’ – seien in der Alltagswelt bereits weithin aufgegeben worden, würden jedoch von den Angehörigen dieser Schicht immernoch in »Kunst, Wissenschaft, Politik usw.« als Ideal aufrecht erhalten.567 Erfolgsbücher unterstützen – so Kracauer – diese konservative Neigung, und besonders ein »kräftiger Individualismus verbürgt beträchtliche Chancen«.568 Der einzelne als ideologisches Ziel der Darstellung trägt seine Individualität ungebrochen selbst über den tragischen Untergang hinweg. Gerade Zweigs Helden, deren heroische Konstitution vom Erfolg oder Mißerfolg unabhängig ist, liefern Beispiele für Kracauers Argumentation, die Erfolgsliteratur sei Zeichen eines bürgerlichen Untergangsprozesses. In seinem ein Jahr zuvor publizierten Essay Die Biographie als neubürgerliche Kunstform führt Kracauer diese Gedanken weiter aus. Gerade die Autoren der modernen Biographien bedienten die Problemerwartungen und Sehnsüchte eines bedrohten Bürgertums, welches in der Lektüre einen Fluchtpunkt vor den sozialen Kräften und Problemen der Gegenwart finde. In der Biographie werde eine Ersatzindividualität geschaffen, da durch die Erfahrung der Technisierung der Welt sowie des Ersten Weltkrieges jede unverletzliche Individualität suspekt geworden sei: »Allzu nachhaltig hat in der jüngsten Vergangenheit jeder Mensch seine Nichtigkeit und die der anderen erfahren müssen, um noch an die Vollzugsgewalt des beliebigen Einzelnen zu glauben.«569 Gegen die Auflösung der Individualität in der krisenhaften Wirklichkeit und gegen fragwürdig gewordene Muster der Literatur wie den Roman setzen die neubürgerlichen Biographen die Verbindlichkeit der geschichtlichen Gestalt. Während eine fiktionale Individualität im Roman kaum mehr unbegründet vertreten werden könne (Krise des Romans), liefere die scheinbare Faktizität der historischen Gestalt eine verbürgte Individualität als Gegenstand der Biographien. So werde diese zum Fluchtpunkt vor den entindividualisierenden Gesellschaftsentwicklungen der Gegenwart, zur Weigerung, sich »dem Anprall der unteren Massen« zu stellen.570 ———————— 566 567
568 569 570
Ebd., S. 337. – Kracauer verweist an dieser Stelle auf sein Werk »Die Angestellten«. Kracauer, Über Erfolgsbücher, S. 338. – Ähnlich argumentiert auch Horkheimer, der feststellt, die in ihrer Individualität bedrohten einzelnen würden die Merkmale ihrer individualistischen Ideologie den Kollektiven, besonders der Politik delegieren. Horkheimer, Zum Rationalismusstreit, S. 209. Kracauer, Über Erfolgsbücher, S. 339. Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, S. 195. Ebd., S. 197.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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Die Biographie stellt für Kracauer ein Grenzphänomen da. Einerseits ist sie die Antwort auf den Verlust der Individualität in einer krisenhaft erfahrenen Wirklichkeit, andererseits bleibt sie die Antwort schuldig, da sie literarisch »Ausflucht« nimmt zu einer historischen Ersatzindividualität: Die Biographen »haben den suspekten Individualismus zur Hintertür hinausgeworfen und geleiten offiziell abgestempelte Individuen durch den Haupteingang von neuem ins bürgerliche Haus«.571 In der breiten und wahllosen Masse der biographischen Literatur errichtet sich das Bürgertum »einen Bildersaal« im »Museum« der eigenen Schicht: »der Glanz des Abschieds ruht auf ihrer Gemeinschaft«.572 Einen genaueren analytischen Blick auf die Werke der Popularbiographie selbst hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg Leo Löwenthal in einem Festschrift-Beitrag für Max Horkheimer unter dem Titel Die biographische Mode (1955) unternommen. Löwenthal wollte durch eine Analyse der biographischen Mode der Zwischenkriegszeit einen »Beitrag zur Kritik der geistigen Kultur des späten Liberalismus« liefern.573 Er polemisiert insbesondere gegen den »Hymnus der Individualität«,574 der sich mit einem widersprüchlich dagegen gesetzten Geschichtspessimismus, einem realpolitischem Fatalismus paare. Die Geschichte werde so zum Schicksalsspiel ästhetisiert, vor dem sich die Lebensläufe in tragischer Schönheit darstellten. Löwenthal wendet sich damit zugleich gegen einen Relativismus in der historischen Betrachtung, welcher die wechselhafte Geschichte als ewigen Hintergrund zeige, vor dem sich die ewige Humanität und Individualität mythisch als konstantes Element beweise.575 Den ‘geistesgeschichtlichen Ursprung’ dieser Anschauungen erkennt Löwenthal in der »Lebensphilosophie, welche mit ihrer radikalen Abkehr von den strengen ———————— 571 572 573
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Ebd., S. 198. Ebd., S. 198. Löwenthal, Die biographische Mode, S. 232. – Vgl. hierzu neben den übergreifenden Darstellungen zur Biographiegeschichte a.: Franklin C. West, »World Historical Chatter«. Leo Löwenthal’s Critique of German Popular Biography. In: LiLi 27 (1997), Heft 105, S. 159–168. Löwenthal, Die biographische Mode, S. 245. Den Relativismusvorwurf – mit einem Seitenhieb auf die hermeneutischen Grundlagen (Dilthey) – hatte bereits Max Horkheimer formuliert; er warf Ludwig bei der Behandlung seiner Helden die gleichmachende Haltung eines Totengräbers vor: »Es gibt in unseren Tagen einen zu historischen Einsichten ganz unfähigen Vielschreiber, der mit komischer Geschäftigkeit Bücher bequemen Formats über Bismarck und Napoleon Bonaparte, Wilhelm II. und Jesus von Nazareth schreibt und sich einbildet, alle besser zu verstehen als sie sich selbst. Er behält über sie die Oberhand wie der Totengräber am Ende über die Menschen. […]In den Büchern jenes Schriftstellers wird auf den verschiedenen Sinn des Lebens der von ihm behandelten Personen nicht mehr viel Wert gelegt.« M. Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland. [1934]. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932. Hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/M.: Fischer 1987, S. 309–452, hier »Kategorien der Bestattung«, S. 326–329, zit. S. 328f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Regeln des philosophischen Systemdenkens und in ihrer ebenso entschiedenen Gegenstellung gegen jede Kritik der politischen Ökonomie den brutalen Vitalismus der autoritären Praxis hat vorbereiten helfen«.576 Während Löwenthal freilich seine Beobachtungen an einer breiten Auswahl popularbiographischer Werke zwischen 1921 und 1938 und vor allem anhand der Biographien von Ludwig und Zweig scheinbar zwanglos belegen kann,577 fehlt abgesehen von dem allgemein bleibenden Hinweis auf den Niedergang der bürgerlichen Kultur letztlich eine Erklärung für die biographische Mode gerade in dieser Zeit. Auch für Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Werken und Autoren hat Löwenthal keinen Blick, da er die Popularbiographik letztlich als uniforme Massenware ansieht. Die soziologische Kritik an der Popularbiographie führt konsequent zu der von Lukács und Kehr gestellten Frage, welche Alternative es zu der als anachronistisch abgestempelten Gattung geben kann. Individualisierende Konzepte wie die anthropologische Auffassung von der Einheit des Individuums oder ein psychologischer Ansatz mußten sich dabei zwangsläufig verbieten. Horkheimer etwa betont Anfang der 30er Jahre in einer Notiz Zur Charakterologie:578 Die Beurteilung eines Menschen nach psychologischen Kategorien betrifft […] nur eine – wenn es sich um Geschichte handelt, meist belanglose – Seite seiner Existenz, und die gegenwärtige Unsitte, historische Persönlichkeiten lediglich unter Begriffe, welche der Psychologie, Biologie oder Pathologie entstammen, zu befassen, beweist die gewollte Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung der historischen Persönlichkeit für die Entwicklung der Menschheit.
Horkheimer läßt dabei durchaus psychologische Fragestellungen zu; er wendet aber ein, daß die Typologie psychologischer Grunderfahrungen, welche geschichtliche Differenzen negiert, und die Aufstellung ahistorischer psychologischer Persönlichkeitstypen an der geschichtlichen Bedeutung der historischen Situationen und jeweiligen Kollektivitäten, in welche das Individuum gestellt sei, vorbeigehen: »Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung ist verkehrt.« ———————— 576 577
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Löwenthal, Die biographische Mode, S. 242f. Für problematisch hält Franklin C. West die Auswahl aus der biographischen Produktion. So würden etwa Stefan Zweigs »Sternstunden der Menschheit«, Emil Ludwigs »Wilhelm II.«, Walter v. Molos bekanntere Werke u.a.m. nicht berücksichtigt. Dadurch würden gerade besonders erfolgreiche Bücher aus der Analyse der Erfolgsgattung ausgespart. West, »World Historical Chatter«, S. 164. – West bemängelt außerdem die Zitierweise bei Löwenthal, welcher den seriellen Charakter des biographischen Stils durch selektive und gegenüber den Werken ungerechte Beispielwahl belege. Horkheimer, Dämmerung, Notiz »Zur Charakterologie«, S. 367f., zit. S. 368.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
419
Tatsächliche Versuche einer soziologischen Antwort auf die Popularbiographik sind freilich selten. Siegfried Kracauer allerdings beließ es nicht bei einer theoretischen Auseinandersetzung mit den biographischen Belletristen und überhaupt der biographischen Gattung, sondern versuchte auch literarisch eine neue Position zu etablieren. Als einen Gegenentwurf konzipierte er eine eigene Biographie über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937), in welcher das dargestellte Leben Teil eines umfassenden Gesellschaftsportraits wird und die persönliche und künstlerische Leistung Offenbachs als Ausdruck seiner Zeit und nicht so sehr als Ausdruck seiner Individualität betrachtet werden soll. Die neue Form setzt er von der modernen »Privatbiographie« ab, bei der gleich »photographischen Porträts« der Hintergrund ungenau verschwimme. Den eigenen Gattungstyp bezeichnet er hingegen als »Gesellschaftsbiographie«:579 Eine Gesellschaftsbiographie in dem Sinne, daß es mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft erstehen läßt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt.
Der soziologische Aspekt rückt ins Zentrum des Darstellungsinteresses. Zugunsten des Bildes vom gesellschaftlichen Treiben im Paris besonders des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III. verzichtet Kracauer etwa auf eine detailliertere Kritik der Kompositionen Offenbachs. Die Operettenwelt und die satirische Qualität der Libretti rücken in den Vordergrund. Offenbach stehe, so führt Kracauer in seinem Vorwort aus, in der »Mitte seiner Zeit« und sei »von einer übergroßen Empfindlichkeit gegen die Struktur der Gesellschaft« gewesen.580 Kracauer sieht einen bedeutenden Zusammenhang zwischen der Gesellschaftsentwicklung und dem Aufkommen der Operette. In diese zwei Entwicklungen wird Offenbach als Kristallisationspunkt gestellt: »His rise and fame coincides with the emergence of the preconditions of the production of operettas.«581 In der Einleitung weist Kracauer darauf hin, daß er Offenbachs Leben als einen »Schulfall« darstellen wolle, der »die Abhängigkeit jeder Kunstgattung von bestimmten sozialen Bedingungen« beweisen solle.582 Diese Vorgabe hat Kracauer allerdings nicht überzeugend eingelöst, und Theodor W. Ador———————— 579
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Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (st 2301), S. 9. – Einen gewissen Vorläufer sah Kracauer in dem Versuch des Sozialdemokraten Hermann Wendel, eine ‘Umweltbiographie’ über »Danton« (Berlin 1930) zu schreiben. Zu Wendel vgl. Scheuer, Biographie 1979, s. Reg.; Gradmann, Historische Belletristik 1993, s. Reg. Kracauer, Jacques Offenbach, S. 10. David Frisby, Fragments of Modernity. Theories of Modernity in the Work of Simmel, Kracauer and Benjamin. Cambridge: Polity Press 1985, S. 176. Kracauer, Jacques Offenbach, S. 10.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
no hat nicht zu unrecht kritisiert, daß es Kracauer nicht gelinge, sich von der »Privatbiographie« tatsächlich zu befreien: 583 Der Offenbach zählt, mit Kracauerschem Augenblinzeln, zu jener Romanbiographik, deren rücksichtsloses Röntgenbild er präsentiert hatte; zugleich möchte er über die Pseudo-Individualisierung von derlei Produkten sich erheben durch die Idee einer ‘Gesellschaftsbiographie’.
Als Musiksoziologe vermißte Adorno des weiteren eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk Offenbachs, welches Kracauer zu sehr vernachlässigt habe. Schließlich wäre wohl zu erwarten gewesen, daß sich in einer Gesellschaftsbiographie ein stärkerer analytischer Zugriff auf die sozialen Verhältnisse bemerkbar macht. Kracauer beschränkt sich jedoch weitgehend darauf, deren äußere Erscheinung zu beschreiben.584 Vor dem Hintergrund der Vorrede hat es den Anschein, als habe Kracauer fast wider seinen eigenen Willen im Laufe des Werkes eine immer stärkere »Sympathie für den Außenseiter und den verkannten Künstler« entwickelt.585 So beschreibt Kracauer eindringlich die Lebenssituation Offenbachs in der fremden Metropole und seine Erinnerungen an die Heimat. Hierin wird man mit einigem Recht auch eine Reflexion auf die eigene Exilzeit des Biographen in Paris sehen dürfen. Gerade aber die Konzentration auf das Individuum, das Festhalten an der Künstlerbiographie als Leitfaden für das Gesellschaftsporträt einerseits und die durch die Perspektive bedingte Ausblendung anderer künstlerischer Reaktionen auf die geschilderten sozialen Verhältnisse und Entwicklungen andererseits bringt – wie auch Gertrud Koch betont hat – 586 eine gattungstypische Einseitigkeit mit sich. Trotz dieser Einschränkungen liegt mit Kracauers Gesellschaftsbiographie ein Versuch einer sozialbiographischen Darstellung vor, der als solcher schon Beachtung verdient. Neben Kracauer bemühte sich Walter Benjamin mit einer Studie über Baudelaire um eine Neufassung der biographischen Literatur.587 Einen überzeugenden Ausweg aus den Problemen der biographischen Gattung stellt dieses Festhalten an der historischen Leitstruktur der Einzelpersönlichkeit letztlich nicht dar. ———————— 583
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Theodor W. Adorno, Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders., Gesammelte Schriften. Band II: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 388– 408, hier S. 406. Vgl.: Frisby, Fragments of Modernity, S. 182f. So bereits: Kari Grimstad, Jacques Offenbach. Reflex und Reflexion eines Phänomens bei Karl Kraus und Siegfried Kracauer. In: Michael Kessler u. Thomas Y. Levin (Hgg.), Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen: Stauffenberg 1990, S. 59–76, S. 64, 73. Vgl.: Gertrud Koch, Kracauer zur Einführung. Hamburg: Junius 1996, S. 86–97. Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [1939]. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 509–690.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
421
Die soziologische Wende gegen die Popularbiographik hat kaum Einfluß auf die Entwicklung der Gattung gehabt. Zwar wird in der Nachkriegsbiographik wiederholt die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der sozialen Umwelt gestellt, aber weder hat die radikale Forderung nach einer Ablösung des biographischen Modells noch haben die Versuche einer Sozialbiographik letztlich den breiten Strom biographischer Publikationen beeinflußt. Gerade in der psychoanalytischen Biographik seit den 50er Jahren ist eher eine Gegenbewegung zur soziologischen Kritik zu erkennen. So kann der Blick auf diese Seitenentwicklung eher das Bewußtsein für die Grenzen der Biographik schärfen und vor allem das Bewußtsein dafür, daß die Wahl der biographischen Gattung im Rahmen einer rhetorisch-strategischen Gattungswahl bereits eine ‘ideologische’ Vorentscheidung impliziert. 4.3.2. »mit den Waffen des Biographikers« – Exkurs über Führer und Helden der Arbeiterbewegung »Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.« (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)
Die Darlegungen zur soziologischen Kritik der Biographik eröffnen zugleich eine Perspektive auf die marxistische Fortführung hegelscher Geschichtsphilosophie und die marxistische Antwort auf die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Es zeigt sich, daß sich innerhalb marxistischer Theoriebildungen keine einheitliche Haltung zur Individualbiographik, geschweige denn zum besonderen Individuum und zum Heroismus, herausbildet. In einem sehr knapp gefaßten, exemplarischen Exkurs sollen die diesbezüglichen Problemstellungen der Biographik abschließend angedeutet werden. Der dialektische Geschichtsprozeß wird nicht dem Wirken einzelner Heroen unterstellt, sondern ist als gesamtgesellschaftlicher Umformungsprozeß gedacht. Der einzelne Arbeiterführer, Revolutionär oder Vorden-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
ker darf aus diesem Grunde nicht dem Konzept eines asozialen, geschichtswirkenden Heroen entsprechen. Dennoch kennt bereits der Marxismus des Manifests der Kommunistischen Partei (1848)588 wie besonders der Marxismus-Leninismus die Position des Vordenkers und Führers. Die biographischen Darstellungen spiegeln diese doppelte Sichtweise des Individuellen als Teil der geschichtlichen Entwicklung oder aber als Wegbereiter, wenn sie zwischen Gesellschaftsbiographik und Verehrungsbiographik schwanken. An dieser Stelle sollen nur wenige Beispiele diesen Umstand in seiner Entwicklung belegen. Einer der wichtigsten frühen marxistischen Biographen war der Historiker Franz Mehring (1846–1919), der nach anderen biographischen und historischen Arbeiten ein Jahr vor seinem Tod noch eine umfassende Biographie über Karl Marx (1918) beenden konnte.589 Die mehrfach aufgelegte Schrift avancierte zur Standardbiographie, obwohl sie manchen herrschenden Parteidoktrinen (etwa bzgl. der Haltung gegenüber Lassalle und Bakunin) nicht entsprach. Mehring macht keinen Hehl daraus, daß es ihm darum geht, die »unvergleichliche Größe von Marx«590 in Erinnerung zu rufen. Sein Interesse gilt nicht der geistigen oder psychischen Entwicklung des politischen Philosophen, sondern dem Begründer des Marxismus. Die Kindheit füllt gerade vier Seiten in der über 500seitigen Neuedition. Der Charakter scheint vom ersten Tage an geprägt; eine psychologisierende Darstellung des Biographierten findet sich nicht. Die wenigen Ausführungen gelten besonders der Familiengeschichte und jüdischen Abstammung, dem bildungsbürgerlichen Horizont und also letztlich den Verhältnissen, die – um ein von Mehring zitiertes Marxwort zu paraphrasieren – das Lebensgeschick schon bestimmen, bevor es begonnen hat. Obwohl der Biograph manche Anekdote aus der Studienzeit des Junghegelianers zu berichten weiß, liegt der Schwerpunkt der Schilderung auf dem philosophischen Standpunkt, der historischen Herleitung einzelner Thesen der Junghegelianer, dem Personengeflecht. Selten wird das Privatleben berührt, fast ausschließlich steht die öffentliche Existenz im Vordergrund, nebst breiten Exkursen zu allgemeinen historischen Entwicklungen und Zeitgenossen. Selbst Kritik an Marx bleibt nicht aus, etwa wenn Mehring sein Unverständnis über die Ablehnung Lassalles und die Gegnerschaft zu Bakunin äußert. Eine Tendenz zur Verehrungsbiographik läßt sich hier kaum feststellen. Eine gewisse Heroisierung zeichnet sich ab, wenn Mehring vom aufopfernden Arbeitsethos des revolutionären ———————— 588
589 590
Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies., Manifest der Kommunistischen Partei / Grundsätze des Kommunismus. Hg. von Iring Fetcher. Stuttgart: Reclam 1969 u.ö., S. 23–60, bes. Kap. II »Proletarier und Kommunisten«. Ich zitiere nach: Franz Mehring, Karl Marx. Geschichte seines Lebens. Hg. von Thomas Höhle. 3., durchges. Aufl. Berlin: Dietz 1976 (Gesammelte Werke 3) [1. Aufl. 1960]. Ebd., S. 9.
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Denkers spricht: »Leben hieß ihm immer Arbeiten, und Arbeiten hieß ihm immer kämpfen.«591 Weder wird das Modell eines makellosen Helden entworfen, noch wird dem Heroen eine Lizenz zum Sittenbruch zugestanden. Im Gegenteil: Mehring bemüht sich – soweit ihn dies überhaupt interessiert – den Biographierten als menschlichen Vordenker darzustellen:592 Wäre Marx in der Tat der langweilige Musterknabe gewesen, den die Marxpfaffen in ihm bewundern, so hätte es mich nie gereizt, seine Biographie zu schreiben. Meine Bewunderung wie meine Kritik – und zu einer guten Biographie gehört die eine wie die andere in gleichem Maße – gilt dem großen Menschen, der nichts häufiger und nichts lieber von sich bekannte, als daß ihm nichts Menschliches fremd sei. Ihn in seiner mächtig-rauhen Größe nachzuschaffen, war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte.
Dieser Gedanke der Vermenschlichung eines durch Verehrung verfälschten Lebenslaufes deutet bereits auf die moderne Entwicklung der Biographik voraus. Deutlicher ist in der Lebensdarstellung allerdings die Vorwegnahme einer Sozialbiographik, wie sie fast zwanzig Jahre nach Mehring Siegfried Kracauer und Walter Benjamin begründen wollten. Zwar löst auch Mehring das Problem der Sozialbiographik nicht, den einzelnen aus dem dialektischen Geschichtsprozeß herleiten zu müssen, doch folgt er – selbst bei einer von ihm bewunderten Gestalt der Geschichte – seiner bereits 1885 gegen den national-biographischen Denkmalskult eines Heinrich von Treitschke geäußerten Kritik an der Heroisierung von Einzelpersönlichkeiten. Für Mehring, der sich gegen die – freilich Treitschkes Position verkürzende – Auffassung ‘Männer machen Geschichte’593 wandte, existiert ein deutlicher Schnitt zwischen persönlicher und allgemeiner Geschichte, und die besondere historische Bedeutung, die dem Individuum in der Geschichte zuwachsen könne, sei nicht deren individuelles ———————— 591
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Ebd., S. 41. – In ähnlichem Zshg. fällt auch ein Satz, der auf eine Romantisierung des Marx-Bildes weisen könnte und der tatsächlich als Motto viele ‘Arbeiterführer’-Biographien charakterisieren könnte: »Wie sein Lebensschiff auf hoher See kreuzte, im Sturm und Wetter und im ewigen Kugelregen der Feinde, so hat seine Fahne immer hoch am Mast geflattert, aber ein behagliches Leben an Bord ist es nicht gewesen, weder für den Kapitän noch für die Mannschaft.« (Ebd., S. 24.) Ebd., S. 8f. Treitschke macht deutlich, daß gerade die heroischen Tatmenschen die Geschichte bewegen – und er macht, ‘radikaler’ als Burckhardt oder Carlyle, kein Hehl daraus, daß er dabei bes. an die Tatmenschen der militärischen Aktion und der Gewaltherrschaft denkt: »Nach dem übereinstimmenden Gefühle aller Völker, wogegen keine Doktrin aufkommt, sind die Männer der Tat die eigentlich historischen Helden; denn durch sie werden die großen Machtkämpfe der Geschichte entschieden, während sich von den Gewaltigen der Kunst und der Wissenschaft doch immer nur sagen läßt, daß die neuen Gebilde des Völkerlebens nicht ohne sie möglich geworden sind.« Heinrich v. Treitschke, Die Aufgabe des Geschichtschreibers. Vorbemerkung bei Übernahme der Redaktion der Historischen Zeitschrift. [1895.]. In: Treitschke, Aufsätze, Bd. 4, S. 787–790, hier S. 788.
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Verdienst, sondern beruhe auf der Übereinstimmung mit dem Gang der Geschichte:594 Die Sache liegt vielmehr so, daß, wenn die geschichtliche Entwicklung für eine große Entscheidung reif geworden ist, sich immer ein Mensch finden wird, einfach weil er sich finden muß, der das innerlich längst vollendete auch äußerlich vollzieht. Ist es dieser nicht, so ist es eben ein anderer.
Besonders in zwei Aufsätzen gegen die nationale Luther- und GustavAdolf-Verehrung, zu welcher Treitschke mit Reden und Essays Beiträge geleistet hatte,595 setzte sich Mehring direkt mit den heroisierenden Reden der Gedenkjahre (1887 und 1894) und besonders mit Treitschkes Beiträgen auseinander. Im März 1885 schrieb er einen, – 1887 erneut gedruckten – Essay Etwas über »große Männer« (am Beispiel Martin Luthers) 596 und 1894, überarbeitet 1908, erschien seine Studie Gustav Adolf. Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter.597 Mehring wendet sich dabei weniger gegen die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten für den Gang der Geschichte als gegen die Heldenverehrung und die Personifikation der geschichtlichen Entwicklungen. Gemäß der hegelianischen Anschauung, nach welcher der einzelne zufällig zum Träger der historischen Veränderungen werden kann, stellt Mehring fest, »daß, wenn die geschichtliche Entwicklung für eine große Entscheidung reif geworden ist, sich immer ein Mensch finden wird, einfach weil er sich finden muß, der das innerlich längst Vollendete auch äußerlich vollzieht«.598 Die Bedeutung der sogenannten großen Männer liege darin, »daß ihr Geist für eine gewöhnlich nur kurze Spanne Zeit der objektive Brennpunkt des allgemeinen Geistes gewesen ist«.599 In doppelter Zielrichtung versucht Mehring zu zeigen, wie aus der revolutionären Bewegung der Reformation, welche als Wortführerin im berechtigten deutschen Unabhängigkeitskampf gegen Rom angetreten sei, in den Händen von Luther und später Gustav Adolf eine Herrschaftsideologie geworden sei, welche den ———————— 594
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Hier nach der Edition des Zweitdruckes in der Berliner »Volks-Zeitung« vom Februar 1887: Franz Mehring, Etwas über »große Männer«. Februar 1887. In: Ders., Zur deutschen Geschichte bis zur Zeit der Französischen Revolution I. Hg. von Joachim Streisand. Berlin: Dietz 41977 (Gesammelte Schriften 5), S. 249–254, hier S. 249. Heinrich v. Treitschke, Luther und die deutsche Nation. In: Ders., Aufsätze, Reden und Briefe. Hg. von Karl Martin Schiller. 5 Bde. Meersburg: Hendel 1929, Bd. 1, S. 233–249; ders., Gustav Adolf und Deutschlands Freiheit. In: Ebd., Bd. 1, S. 275–286. Franz Mehring, Etwas über »große Männer«. Februar 1887. In: Ders., Zur deutschen Geschichte bis zur Zeit der Französischen Revolution 1789. Hg. von Joachim Streisand. Berlin: Dietz 1977 (Gesammelte Schriften 5), S. 249–254. Franz Mehring, Gustav Adolf. Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter. 1908. In: Ders., Zur deutschen Geschichte bis zur Zeit der Französischen Revolution 1789. Hg. von Joachim Streisand. Berlin: Dietz 1977 (Gesammelte Schriften 5), S. 299–360. Mehring, Etwas über »große Männer«, S. 249. Ebd., S. 254.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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historischen Interessen der unteren Schichten gerade entgegengestanden hätte. Luthers »weltgeschichtliche Rolle« sei etwa durch die Sicherung der Reformen auf dem Reichstag in Worms abgeschlossen gewesen, danach habe er sich als »ein rechter Fürstenknecht« und »der erfolgreichste Vorkämpfer sowohl des Absolutismus wie des Partikularismus« erwiesen, der etwa die berechtigten Interessen der Bauern verraten habe.600 Die Bedeutung der historischen Personen Luther und Gustav Adolf wird so auf einzelne historische Momente reduziert, die im Geschichtsprozeß als ‘fortschrittlich’ zu deklarieren seien. Die »historische Stellung« der ‘Helden’ werde bestimmt durch die »historischen Umstände«,601 die sogar aus einem »Draufgänger und Dreinschlager«602 wie Gustav Adolf vorübergehend eine geschichtswirksame Gestalt machen. Mehrings Kritik an dem Prinzip der ‘großen Männern’ (und dem biographischen Denkmalskult) wird vor allem auf drei Ebenen geführt: Zum einen versucht er zu zeigen, daß es die allgemeinen geschichtlichen Bewegungen sind, zu deren ‘Trägern’ die großen Männer vorübergehend werden. Zum anderen übt er eine Kritik an den historischen Gestalten selbst, die sich im Moment der Vollendung ihrer ‘objektiv’ geschichtlichen Aufgabe erst als große Männer positioniert hätten, um nun jedoch durch die Kraft ihres erworbenen Ansehens gerade die geschichtlichen Entwicklungen zu hemmen: »sobald die anfangen, sich auf ihre subjektive Unfehlbarkeit hinauszuspielen, wirken sie nur noch gemeinschädlich«.603 Und drittens übt Mehring eine Ideologiekritik an der Installation der Heldenbilder selbst. Genau in der Zielrichtung mancher Lutherverehrer, welche die nationale Ahnenreihe von Martin Luther ohne Umstände bis zu Bismarck verlängerten, kritisiert Mehring etwa Luthers »Sozialistengesetz« gegen die Forderungen der Bauern.604 In Gustav Adolf schließlich werde willkürlich eine moralisch wie historisch zweifelhafte Gestalt zum Herrschaftsidol und nationalen Helden der »Bourgeoisie« gemacht. Allerdings vermag Mehring zwar das Gustav Adolf-Bild zu demontieren, jedoch gelingt es ihm nicht, dessen Funktion für den Bestand der nationalen Mythen zu erfassen. So bleibt seine Kritik letztlich polemisch:605 Mag die englische Bourgeoisie die Königin Elisabeth, die französische Bourgeoisie den Kardinal Richelieu, die schwedische Bourgeoisie den König Gustav Adolf verherrlichen: Diese Schuster bleiben wenigstens bei ihren Leisten. Aber die deutsche Bourgeoisie beweist mit ihrem Gustav-Adolf-Kultus von neuem die altbekannte Tatsache, daß sie die bornierteste Bourgeoisie des Jahrhunderts ist. ———————— 600 601 602 603 604 605
Ebd., S. 252f. Mehring, Gustav Adolf, S. 351. Ebd., S. 352. Mehring, Etwas über »große Männer«, S. 254. Ebd., S. 253. Mehring, Gustav Adolf, S. 359.
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Die bornierteste und deshalb in ihrer Art auch wieder die perfideste. Dieselben liberalen Blätter, die am inbrünstigsten die Gustav-Adolf-Hymnen singen, lärmen am lautesten gegen die arbeitenden Klassen. Sie haben ihrem Heros glücklich abgesehen, wie er sich räusperte und spuckte: Es gilt, die Rettung der angeblich heiligsten Interessen zum Deckmantel zu nehmen, um die Massen bis aufs nackte Leben zu plündern.
Hier zeigt sich die eigentliche Zielrichtung von Franz Mehrings Kritik der Heroengeschichte: Er entlarvt die nationale Identitätsstiftung als Herrschaftsideologie des Kaiserreichs und zielt auf die Dekonstruktion dieser Mythenbildungen »zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter«. Deren Klasseninteressen stehe gerade die nationale Einigungspropaganda eines Treitschke entgegen. Mehring gehört dabei zu den wenigen Historikern, die in der Kritik der heroisierenden Biographik auch selbst die Idealisierungsfalle zu vermeiden suchten: In seiner eigenen Biographie Karl Marx wird kein alternativer Heros etabliert – allerdings verschieben sich schon in der Rezeption von Mehrings Biographie deutlich die Akzente. Ist bei Mehring selbst eine Heroisierung von Karl Marx nicht zu finden, so wird diese im Vorwort des Herausgebers der Marx-Biographie in der DDR-Mehring-Edition, Thomas Höhle, in den Text hineininterpretiert.606 Für Höhle sind »die großen Führer und Vorkämpfer der internationalen Arbeiterbewegung« geradezu der ideale Stoff für eine biographische Darstellung. »Biographische Arbeiten über die Führer der internationalen Arbeiterbewegung sind von großer politischer und theoretischer Wichtigkeit.« Der Zweck der Darstellung wird von ihm eindeutig als agitatorisch und didaktisch bestimmt, denn Biographien vermögen es nicht nur, »das Leben des großen Vorkämpfers wachzurufen«, sondern vor allem, »das unmittelbar Beispielhafte und Vorbildliche dem Leser nahezubringen«.607 Höhle betont in seinem Vorwort nicht zu Unrecht, Mehring sei nicht der Gefahr erlegen, die »zu beschreibende Persönlichkeit isoliert von den gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten«. Höhles Spagat zwischen dem Lob einer sachlich-objektiven Darstellung und der agitatorischen Verehrungsbiographik (»Liebe zum Gegenstand«, »Bewunderung«)608 mit dem Ziel, »die Leser ganz für die Sache zu begeistern«,609 ist dagegen kaum mit dem Text in Einklang zu bringen. Der Historiker Franz Mehring wird so selbst zum Vorbildrevolutionär stilisiert, der »mit den Waffen des Biographikers und Historikers […] gegen den Imperialismus, […] gegen den Verrat der Revisionisten und Reformisten in der Arbeiterbewegung« gekämpft habe.610 ———————— 606 607 608 609 610
Thomas Höhle, Vorwort des Herausgebers. In: Mehring, Karl Marx, S. 1*–11*. Ebd., S. 1*. Ebd., S. 2* u.ö. Ebd., S. 3*. Ebd., S. 2*.
4.3. Das soziologische Konzept – Rückbindung der Individuen an die Gesellschaft
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Begreiflich werden Höhles Fehlurteile bzw. Verfälschungen allein vor dem Hintergrund der Populärbiographik, wie sie sich in der DDR nach sowjetischem Vorbild entwickelt hatte. Diese Biographien gelten entweder vorbildlichen Arbeiterführern und Widerstandskämpfern, die sich idealiter durch ihre proletarische Herkunft auszeichnen, oder den Parteigründern und Ideologen, vor allem Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht und Wladimir Iljitsch Lenin, denen eine eindeutige Führungsposition zukommt. Eine ganze Reihe biographischer und memorialer Bücher über die Anhänger der Kommunistischen Partei im Widerstand erschien im Berliner Dietz-Verlag, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. In diesen Schriften, wie etwa in Wolfgang Kießlings Werk Ernst Schneller – Lebensbild eines Revolutionärs (zuerst 1960),611 stehen deutlich agitatorische Gesichtspunkte, wie sie Höhle Mehring unterstellt, im Vordergrund. Der Biograph betont die aufopferungsbereite Hingabe, mit welcher der vorbildliche »Arbeiterführer« »sein ganzes Leben in den Dienst der Befreiung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen stellte«.612 Der vorbildliche KP-Lehrer Ernst Schneller erscheint als makelloser Vorzeigekommunist, dem – wie nach einem vorgefertigten Katalog – alle systemkonformen Charaktermerkmale und Handlungsweisen in idealer Weise zugesprochen werden: »Große Verdienste erwarb er sich bei der Entlarvung des deutschen Imperialismus und Militarismus, […]«;613 »Ernst Schneller war ein deutscher Patriot, ein leidenschaftlicher proletarischer Internationalist und ein unbeirrbarer Freund der Sowjetunion«;614 oder:615 Ernst Schneller war seit 1920 der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei in Treue ergeben. Das war für ihn die Verpflichtung zu einem bewußten und aktiven Leben, zu einem ständigen Streben nach Wissen, Erkennen und Anwenden. Er war mutig, ausdauernd, hilfs- und opferbereit, frei von Illusionen, aber voller Optimismus und Lebensfreude.
Die stilisierte Vorbildlichkeit des Biographierten führt letztlich zu einer vollkommenen Entindividualisierung, da differenzierende Charaktereigenschaften keinen Platz mehr haben. Die Lebensgeschichte des kommunistischen Agitators und Lehrers wird teilweise sehr detailliert beschrieben. Der Biograph nutzt jedoch jede Informationslücke, um entweder allgemeine ideologisierende Sätze oder aber statt individueller typisieren———————— 611 612 613 614 615
Wolfgang Kießling, Ernst Schneller. Lebensbild eines Revolutionärs. 2., überarb. und veränd. Aufl. Berlin: Dietz Verlag 1972. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7.
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de Beschreibungen einzufügen. Eine Quelle etwa zur folgenden Schilderung des proletarischen Milieus scheint Kießling nicht zu haben:616 Der Junge kannte sie alle, die zum Bild seiner Straße gehörten. Da war die Magd Lina von Hahns Gut, die jeden Morgen mit dem vom Hofhund gezogenen Milchwagen vorüberfuhr. Da war der Schienenräumer Fischer, der eine ausgediente Soldatenmütze mit rotem Paspel trug und mit der Rillenschaufel in der Hand am Schienenstrang der Pferdebahn entlangging. Da waren die Arbeiter, die abends müde aus dem Fabriktor traten.
Bis zu seiner Verhaftung, seiner Gefangenschaft und dem Tod im Konzentrationslager bleibt Schneller der immer gleiche vorbildliche Funktionär, der noch in den letzten Wochen zum Weitermachen und Durchhalten auffordert und dabei nicht eine Sekunde zweifelt. Der vorbildliche Held, der als Identifikationsfigur aufgebaut wird, bleibt so letztlich farblos. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in der reinen Agitationsschrift W. I. Lenin – Kurzer biographischer Abriß, die in einer bearbeiteten Übersetzung aus dem Russischen zunächst beim Dietz Verlag, dann auch beim Verlag Marxistische Blätter in Westdeutschland erschienen ist.617 In dieser von einer Redaktion bearbeiteten Agitationsbiographie wird bereits in einem vorangestellten Denkmalspruch der Führerkult deutlich:618 Führer und Lehrmeister der Werktätigen der ganzen Welt, genialer Fortsetzer der revolutionären Lehre von Marx und Engels, Organisator der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Genius der sozialistischen Revolution, Begründer des Sowjetstaates, hervorragender Wissenschaftler und zugleich ein einfacher und wahrhaft herzensguter Mensch – so kennt die Welt Lenin.
Lenin wird ebenfalls zu einem makellosen Führer stilisiert; von früher Kindheit und Jugendzeit an zeigen sich sein Charakter und seine »revolutionäre Einstellung«.619 Wie auch bei Kießling (und Mehring) wird vollkommen auf eine Psychologisierung der Figur verzichtet, eine charakterliche Individualität wird dabei auch nicht erkennbar. Die BiographieRedaktion meidet das Wort Held zwar, da der Begriff »Heroismus« ent———————— 616 617 618 619
Ebd., S. 14. W. I. Lenin. Kurzer biographischer Abriß. Übers. von Sepp Göbert, ergänzt von Inge Bandoly. Frankfurt/M.: Verlag Marxistische Blätter 1970 (Lizenzausgabe). Ebd., S. 5. Ebd., S. 11.
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weder in einem negativen Sinne für die blinde Selbstaufopferung anarchischer Gruppierungen oder positiv als »Heldentum« der Gemeinschaft des »Sowjetvolkes«620 verwendet wird, aber die geschichtswirkende Leistung einer Führerpersönlichkeit wird beständig herausgestellt. Stets ist es in der Biographie Lenin, der die Partei auf dem erfolgversprechenden Kurs hält und so die Geschicke und die Geschichte bestimmt. Ihn zeichnen »sein tiefgründiges Wissen, seine Überzeugungskraft und die Fähigkeit, Anhänger zu gewinnen«,621 »seine feste Überzeugung von der Unbesiegbarkeit der Arbeitersache und seine hervorragenden organisatorischen Fähigkeiten«622 sowie »sein unbeugsamer Wille«623 aus – all dies Eigenschaften, wie sie auch einen Carlyleschen Helden prägen. Seine Umgebung spaltet sich in unerbittliche Gegner und vor allem verehrende und rückhaltlose Anhänger, die das »flammende und wahre Wort Lenins« begeistert aufnehmen.624 In der Populärbiographie wird Lenin schließlich zum Propheten der weiteren Entwicklung der Sowjetunion sowie überhaupt zu einem monumentalen Denkmal und »Symbol der proletarischen Revolutionen, des Sozialismus und des Fortschritts, zum Symbol der kommunistischen Umgestaltung der Welt« erklärt.625 Lenin wird geradezu zur Verkörperung des Weltgeistes stilisiert: »Die unsterblichen Leninschen Ideen haben einen immer größeren Einfluß auf den gesamten Verlauf der Weltgeschichte.«626 – Daß angesichts einer solchen Heroisierung und Verehrungsbiographik kaum Platz für die Schilderung privater Lebensgeschichte bleibt oder für die geistige, charakterliche oder psychische Entwicklung, braucht kaum eigens betont zu werden. Diese Form der Biographik trägt eher hagiographische als biographische Züge. Insgesamt läßt sich erkennen, daß die marxistische Biographik den Entwicklungen des Marxismus(-Leninismus) durchaus entspricht. Während für Mehring die Kritik der Heroisierungstendenzen im Vordergrund stand als Kritik an einem preußisch-nationalistischen Dispositiv, welches dadurch zu korrigieren war, daß ihm die sozialen Entstehungsbedingungen der Individuen und der Werke vor dem Hintergrund einer marxistischen Geschichtskonzeption entgegengestellt werden sollten, zeigt sich in der späteren Biographik die Wirkung einer leninistischen Forderung nach ‘Parteilichkeit’ mit der Konsequenz a) einer bewußten Stilisierung der ———————— 620 621 622 623 624 625 626
Ebd., S. 239. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23. Ebd., S. 224. Ebd., S. 147. Ebd., S. 248. Ebd., S. 248.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Biographien im Sinne der ideologischen Konzeption und b) einer Instrumentalisierung als Mittel zur Identitätsstiftung und Frontbildung.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik Die Geschichte der deutschen Exilbiographik ist ein noch weitgehend unbearbeitetes Feld in der Geschichte der biographischen Gattungen. Ein systematischer Zugang zu der Vielzahl biographischer Werke, die deutschsprachige Exilautoren verfaßten, fehlt. Auch in den größeren Gattungsstudien von Jan Romein und Helmut Scheuer wird die Exilbiographik fast vollständig ignoriert, und die Namen wichtiger Exilbiographen wie Ludwig Bauer (1876–1935),627 Konrad Heiden (1901–1966),628 Josef Kastein (Ps. für Julius Katzenstein, 1890–1946),629 Hermann Kesten (1900–1996),630 Rudolf Olden (1885–1940)631 oder Otto Zarek (1898– 1958)632 fehlen in ihren Studien ebenso wie Hinweise auf Emil Ludwigs exilbiographische Tätigkeit.633 Diese beachtliche Lücke in der Literatur zur Biographiegeschichte verwundert besonders, da es eine breite Forschung zur Entwicklung des historischen Romans in der Exilzeit gibt, in welcher die verschiedenen Möglichkeiten der Flucht in die Geschichte, der Geschichte als Gleichnis für die Gegenwart – »die Unterscheidung von Flucht- und Aktualitätscharakter des historischen Romans« –634 aus———————— 627 628 629
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Ludwig Bauer, Leopold der Unbeliebte. Amsterdam: Querido 1934. Konrad Heiden, Adolf Hitler. Eine Biographie. 2 Bde. Zürich: Europavlg. 1936/37. Josef Kastein, Süßkind von Trimberg oder Die Tragödie der Heimatlosigkeit. Jerusalem: The Palestine Publ. Comp. 1934. – Zu dem heute nahezu vergessenen Autor, der seit 1927 in Ascona und später in Palästina lebte, vgl. bes.: Armin A. Wallas, Josef Kastein. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000, S. 295–297; Dietrich Gerhardt, Süßkind von Trimberg. Berichtigungen zu einer Erinnerung. Bern etc.: Lang 1997, S. 96–107. Hermann Kesten, König Philipp der Zweite. Amsterdam: de Lange 1938. Rudolf Olden, Hitler. Amsterdam: Querido 1935 (Reprint mit einem biographischen Vorwort von Werner Bertold Hildesheim 1981). – Bei Romein wird Olden beiläufig erwähnt. Romein, Die Biographie, s. Reg. Otto Zarek, Moses Mendelssohn. Ein jüdisches Schicksal in Deutschland. Amsterdam: Querido 1936. Besonders: Emil Ludwig, Hindenburg und die Sage von der deutschen Republik. Amsterdam: Querido 1935. – Romein nennt Ludwigs »Hindenburg« als einen Höhepunkt seiner biographischen Tätigkeit, ohne das Werk weiter zu charakterisieren. Romein, Die Biographie, S. 101. Elke Nyssen, Geschichtsbewußtsein und Emigration. Der historische Roman der deutschen Antifaschisten 1933–1945. München: Fink 1974, S. 20; vgl. a. Renate Werner, Transparente Kommentare. Überlegungen zu historischen Romanen deutscher Exilautoren. In: Poetica 9 (1977), S. 324–351. – Für Literaturhinweise etc. vgl.: Hugo Aust, Der historische Roman. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1994 (SM 278), S. 138–147.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
431
giebig diskutiert werden. Gerade die Biographik, die seit jeher eine besondere Affinität zum Politischen aufweist, wäre – auch in Abgrenzung zu dieser Diskussion um den historischen Roman – darauf zu prüfen, ob sie ein geeignetes Instrumentarium der literarischen Gegenwartsbewältigung zur Verfügung stellt. Zunächst aber ist überhaupt die Frage zu stellen, ob es eigentlich gattungsgeschichtlich relevante Entwicklungen in der Biographik der Exilautoren gibt. Handelt es sich also bei den Biographien der Exilzeit ‘bloß’ um ein ‘Weiterschreiben’ an den bereits zuvor bestehenden Entwicklungen, oder werden eigenständige Formen und Themen der Biographik gefunden? Nicht wenige Biographien, die seit den ersten Emigrationswellen bis zum Ende des neuerlichen Weltkrieges publiziert wurden, erweisen sich als von der Exilthematik beeinflußt. Kracauers Offenbach-Biographie, Stefan Zweigs Magellan und besonders Hermann Kestens König Philipp der Zweite mit der Figur des ‘Emigranten’ Wilhelm von Oranien wären Beispiele für viele Werke der Exilzeit, in denen eine unterschiedlich ausgeprägte und akzentuierte Auseinandersetzung mit (eigenen) Exilerfahrungen erfolgt, ohne daß diese freilich die Biographie in der Konzeption grundlegend beeinflussen würde. Historisch-biographische Romane wie Heinrich Manns ‘Henri Quatre’-Romane (1935/38) wahren weitgehend die Historizität des Stoffes, ohne dabei auf die Tendenz zum Gleichnis als Aktualisierungsmöglichkeit zu verzichten. Eine konzeptuelle Neuentwicklung stellt diese Transparenz gegenüber der Gegenwart freilich nicht dar – eher eine Fortführung des historischen Romans der Weimarer Republik. In einer kontinuierlichen Reihe zur Biographik der 20er Jahre stehen auch Biographien, in denen die Exilthematik nicht explizit aufgegriffen wird und keine aus der Exilerfahrung bedingte Neukonzeption erfolgt. Als Beispiel sei auf Klaus Manns Symphonie Pathétique – ein Tschaikowsky-Roman (1935, überarb. amerikan. Ausg. 1948) verwiesen.635 Gleichwohl lassen sich auch biographische Tendenzen aufzeigen, in denen die Exilproblematik bzw. die historisch-politischen Bedingungen der Emigration zu spezifischen konzeptuellen und stofflichen Neuorientierungen führen. Nach einer kursorischen Durchsicht biographischer Werke der Exilzeit für die Erarbeitung des hier vorliegenden Ausblicks, der vor allem Anregung zu einem Forschungsthema geben soll, erscheinen mir drei thematische Komplexe für die Exilbiographik relevant, in denen der Begriff nicht allein als ein historischer Ordnungsbegriff für die Bezeichnung ———————— 635
Nyssen sieht entsprechend in Klaus Manns Romanbiographie neben Joseph Roths »Die Hundert Tage« (…) und Robert Neumanns »Struensee. Doktor, Diktator, Favorit und armer Sünder« (Amsterdam 1935) ein Beispiel für den historischen Roman als »Ausdruck einer Flucht in die Vergangenheit«. Nyssen, Geschichtsbewußtsein und Emigration, S. 91f.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
einer zeitlich und räumlich bestimmten biographischen Produktion, sondern als diskurskennzeichnender typologischer Begriff Verwendung finden könnte. Dabei vermischen sich Ebenen der Funktion der Texte mit rhetorisch-strategischen Merkmalen: 1.) Neuerliche Geschichtsrevision vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen in Deutschland. 2.) Kritik der politischen Führungspersönlichkeiten in Deutschland. 3.) Verarbeitung der Exilsituation selbst. Diese drei unterschiedlichen Tendenzen sollen im folgenden anhand weniger Beispiele skizziert werden. 4.4.1. Neuerliche Geschichtsrevision (Ludwig) Bereits 1932 war Emil Ludwig Schweizer Staatsbürger geworden. Als popularer Erfolgsbiograph, der sowohl von konservativer Seite als auch von der neuen Rechten zum symbolischen Angriffspunkt der Polemik geworden war und sich dabei von Anfang an auch antisemitischen Anwürfen ausgesetzt sah, hatte er frühzeitig Deutschland verlassen. Schon nach der Ermordung Rathenaus kehrte Ludwig, der früher zum christlichen Glauben protestantischer Konfession konvertiert war, zum jüdischen Glauben zurück. Seine Trennung von Deutschland und den Deutschen wurde in der Emigartion deutlicher als bei anderen Exilautoren vollzogen; vom eigenwilligen, liberalistischen Kritiker in Deutschland wurde er in der ersten Exilzeit bereits zu einem Kritiker der Deutschen. Diese gewandelte Einstellung zeigt sich besonders deutlich in seiner Biographie über den Weltkriegsoffizier und späteren Reichspräsidenten Hindenburg sowie in der zweibändigen Geschichte der Deutschen (1941; dt. EA 1945). Ein Jahr nach Hindenburgs Tod erschien im Amsterdamer Exilverlag Querido seine Biographie Hindenburg und die Sage von der deutschen Republik (1935), die er zum Anlaß nahm, seine bisherigen Darstellungen zur deutschen Geschichte vor dem und im Ersten Weltkrieg – Bismarck, Wilhelm der Zweite und Juli 1914 – um eine Kritik der Deutschen, einen »Beitrag zur Psychologie der Deutschen«636 zu erweitern. So wenig die Biographie aus der Feder des psychologisch-popularen Biographen die psychologische Charakterisierung des Biographierten unternimmt, so sehr weist sie auf ein in den Augen des Biographen fatales ———————— 636
Ludwig, Hindenburg, S. 9. – In seiner späteren Warnung vor dem aufziehenden Krieg »Die neue Heilige Allianz« hat Ludwig diesen Gedanken zugespitzt, indem er betont, der Volkscharakter sei für die historisch-politische Entwicklug entscheidender als Wirtschaftszahlen. Emil Ludwig, Die neue Heilige Allianz. Über Gründe und Abwehr des drohenden Krieges. Strassburg: Sebastian Brandt [1938].
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
433
Zusammenwirken von unverdienter Legendenbildung um den ‘Volkshelden’ Hindenburg einerseits und mangelnder Emanzipation des deutschen Volkes andererseits hin. Ludwig vermeidet es, Hindenburg in irgendeiner Weise als einen bedeutenden Menschen in der Geschichte aufzubauen oder ihm, wie es Ludwig bei Bismarck tat, einen auszeichnenden problematischen Charakter zuzuschreiben. Gleichfalls wird auch die menschliche Konstitution nicht gegen die geschichtliche Stellung ausgespielt, so wie Ludwig etwa Wilhelm II. als einen im Grunde vielfach begabten Menschen in der ihm nicht entsprechenden Machtstellung dargestellt hatte.637 Hindenburg ist dagegen durch zwei Faktoren wesentlich charakterisiert: durch seine Herkunft aus dem ostpreußischen Junkertum und seine soldatische Haltung. Ihn zeichnen vor allem negative Eigenschaften aus, wie eine für die Herkunft typische Phantasielosigkeit, geringer Ehrgeiz, übergroßes Standesgefühl, eine vollständig einseitige, ungeistige soldatische Bildung. Die wenigen Hinweise auf die Konstitution des Menschen beschränken sich auf die über die gesamte Biographie beständig wiederkehrenden Hinweise auf seine riesenhafte, blockartige und Respekt einflößende Gestalt, seine physische Gesundheit und die vollkommene Nervenruhe in allen Lebenslagen. Herkunft, Haltung und Konstitution lassen neben den soldatischen Fähigkeiten als adäquaten Wirkungsort Hindenburgs soldatische Führungspositionen erscheinen; für höhere Stellungen und insbesondere politische Aufgaben, wie sie Hindenburg bereits in der Obersten Heeresleitung zugefallen seien, erscheint er dagegen ungeeignet: »Um aber 10 Millionen zu befehlen und 65 zu lenken, brauchte es Weltverstand und Kenntnis Europas, Dinge, die außerhalb des Generalstabes erworben werden; oberhalb von Dienst und Pflicht brauchte es überdies einige nur dem Genius angeborene Gaben: Einfall, Feuer, Phantasie.«638 Ohne durch eigene Qualifikationen dazu befähigt zu sein, allein aufgrund des ihm persönlich zugeschriebenen Sieges bei Tannenberg, sei Hindenburg als lebendes Symbol frühzeitig zur Legende geworden. In den militärischen Fragen wird von Ludwig immer wieder Ludendorff als der Fähigere dargestellt, während Hindenburg mit der Verantwortung vor allem der Ruhm zugefallen sei. Ludwig weist so auf die irrationale, durch die tatsächliche Geschichte nicht begründete Basis für die Legendenbildung um die geschichtsmächtig erscheinenden Gestalten hin, die er im ———————— 637
638
Es finden sich allerdings noch Rudimente dieser für Ludwig charakteristischen Argumentation, wenn der schlichte, wahrheitsliebende und eidtreue Hindenburg gerade durch diese Charaktereigenschaften gegen seine späteren Verteidiger in Schutz genommen wird, um seine Verantwortung am Weltkriegsgeschehen nicht zu mindern: »es hieße Hindenburgs Charakter verdunkeln, wollte man irgend einen jener Entschlüsse, die dann das deutsche Schicksal entscheiden, Ludendorff allein zuschreiben« (Ludwig, Hindenburg, S. 77). Ebd., S. 74.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
Charakter der Deutschen erkennt. Hindenburg »vereinte […] alles, was der Deutsche braucht, um zu verehren: Autorität und Ruhe, die sichtbare Wucht des befehlenden Menschen und das unsichtbar Rührende des Gatten und Vaters«.639 Das »Soldatenvolk«640 habe in Hindenburg sein Symbol gefunden und aus Untertanengehorsam nicht gegen den Krieg die Stimme erhoben: »die meisten waren auch leichter geneigt, fürs Vaterland zu sterben als dafür zu denken«.641 Ludwig bemüht sich gleichzeitig in kritischer Wendung und deutlich aufklärerischer Absicht gegen den unterstellten Obrigkeitsgehorsam der Deutschen immer wieder, die Distanz zwischen Heeresleitung und einfachen Soldaten deutlich zu machen, indem er das ruhige, von der Welt und den Problemen der Deutschen im Krieg abgeschiedene Leben der Heeresleitung dem Leiden der Frontsoldaten gegenüberstellt, deren Idealismus (und Leben) im Weltkrieg verheizt worden sei. Von besonderer Bedeutung ist schließlich zum einen die Darlegung der faktischen Diktatur Hindenburgs und Ludendorffs in den letzten Kriegsjahren, denen – und besonders Hindenburg – die Verantwortung für den Kriegsverlauf und die schlechten Friedensbedingungen gegeben wird, zum anderen die Geburt der deutschen Republik aus den Händen der Heeresleitung, die sich – wiederum besonders Hindenburg – vor der Verantwortung gedrückt habe, die Friedensverhandlungen selbst zu führen. So habe die Republik von Anfang an unter dem Makel ungünstiger Friedensverhandlungen stehen müssen. Daß trotzdem in Deutschland keine bedeutenderen Proteste sich erhoben hätten, daß Hindenburg als »Volksheld« gefeiert und nicht zur Rechenschaft gezogen worden sei und seinen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstages in einen Triumph verwandeln konnte, ja, daß Hindenburg schließlich zum Reichspräsidenten gewählt werden konnte und als vergreiste Legende endlich die Macht den Nationalsozialisten in die Hände gegeben habe, wird von Ludwig als ein vollständiges – bereits aus ihrem Ursprung erklärbares – Versagen der Republik gewertet, welcher zweierlei gefehlt habe: Führungspersönlichkeiten und ein zur Demokratie reifes Volk. 642 Die Schuld für diese Entwicklungen am Beginn der Weimarer Republik liegt für Emil Ludwig bei denen, die die politischen Entscheidungen hätten tragen sollen, sich aber vor der Verantwortung gedrückt hätten: bei der ———————— 639 640 641 642
Ebd., S. 79. Ebd., S. 79. Ebd., S. 116. Die Deutschen wären mehr von individuellem Ehrgeiz besessen, selbst die beneideten Vorteile der oberen Schichten zu genießen, als sich als Solidargemeinschaft zu behaupten. Forderungen nach gesellschaftlicher Umstrukturierung scheiterten so jeweils am Hierarchiedenken und egoistischen Aufstiegsdenken. Auf diesem Boden habe keine neue gesellschaftliche Ordnung entstehen können. Vgl. ebd., S. 226.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
435
Heeresleitung und beim deutschen Adel. So sei der allmähliche Übergang in eine konstitutionelle Staatsform verpaßt worden. In diesem Blick auf die »Republik, für die sie [die Deutschen] nicht reif waren«,643 kündigt sich das zentrale Exilthema Emil Ludwigs bereits an, welches er in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gegen die Kritik vieler Emigranten in den Vereinigten Staaten in die Politik einbringen wollte: die Forderung nach einer Besetzung Deutschlands mit langjähriger Umerziehungsarbeit.644 Für die grundlegende Kritik an den Deutschen muß sich eine individualbiographische Darstellung wie in Ludwigs Hindenburg letztlich als ungeeignet erweisen. So erscheint es rhetorisch-strategisch in der Gattungswahl konsequent, wenn Ludwig dieses Thema in einer breiter angelegten Geschichte der Deutschen fortführt, die freilich wiederum einem biographischen Ansatz verpflichtet bleibt. In der Verkettung der biographischen Abschnitte, die etwa zu Hindenburg passagenweise die ältere Biographie zitieren, wird dennoch ein Grundproblem des Charakters der Deutschen sichtbar: die von Ludwig konstatierte Unvereinbarkeit von Geist und Staat in der deutschen Geschichte. Die Exilbiographie Hindenburg weist auf einen deutlichen Wandel im biographischen Schreiben Ludwigs: Die psychologische Betrachtung des Einzelmenschen mit ihrer Tendenz zur Feier des Individuums wird zu einer Kritik der Legendenbildung und ihrer Ursachen im Charakter der Deutschen umgeformt. In der grundlegenden Tendenz, die Legendenbildungen um historische Gestalten zu demaskieren, wird dabei eine Entwicklung der modernen Biographik fortgeschrieben. In dieser Entlarvung der Konstruktion und fatalen Geschichtswirksamkeit heroischer Legenden als Gegenstand der Exilbiographik wird von Ludwig nun nicht mehr nur der Gegensatz zwischen Legende und historisch-menschlicher Existenz aufgezeigt, sondern deutlicher auch die Rolle der Masse, des Volkes, für die Legendenbildung herausgearbeitet. In ganz anderer Weise hat sich Bertolt Brecht mit einer Heroendemaskierung beschäftigt, indem er in seinem Fragment gebliebenen Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (bearb. 1939/40) den Versuch einer historisch-materialistisch basierten Revision und Aktualisierung des Cäsar-Bildes unternommen hat.645 Der unvollendete Roman schreibt durch ———————— 643 644
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Ebd., S. 197. Vgl. hierzu bes.: The German People. Testimony of mr. Emil Ludwig before the Commitee on Foreign Affairs. House of Representatives. Seventy-Eighth Congress. First Session on The German People. Friday, March 26, 1943. Washington: Government Printing Office 1943 – SLA Bern, Nachlaß Ludwig D 4). Bertolt Brecht, Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar. In: Ders., Prosa 2. Romanfragmente und Romanentwürfe. Bearb. von Wolfgang Jeske. Berlin, Weimar u. Frankfurt/M.: Aufbau, Suhrkamp 1989 (Werke 17), S. 163–390. – Vgl. vor allem: Hugo Aust, Leben des Caesar. Brechts Rettung des Epischen im Umkreis verwandter biographischer Projekte. In: Hans-
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
die Betonung überindividueller sozialer und ökonomischer Faktoren die Geschichte der Sozialbiographie fort, gibt aber zugleich durch die Nomenklatur der geschichtsrelevanten Faktoren wie der Wirtschaftsentwicklung eine verfremdende und dadurch aktualisierende Interpretationsebene an die Hand, die auch für die Kritik der Gegenwart nutzbar gemacht werden kann. Dabei zeigt die Kritik der Legende als biographische Tendenz durchaus eine Verbindung zwischen den so unterschiedlich basierten Arbeiten von Brecht und Ludwig. Ludwig zieht aus der Erkenntnis der Funktionsmechanismen der Legende Konsequenzen für den moralischen Neuanfang der Deutschen nach dem Kriegsende: Erziehung zu Toleranz und Schöpfung neuer Symbole, um die alten Legenden zu vertreiben. »Von entscheidender Bedeutung für die Erziehung der Erwachsenen wie der Kinder sind die Symbole einer Nation; die Deutschen als ein Volk mit Phantasie hängen noch mehr daran als manche andere Völker.«646 Ludwig nennt insbesondere die Umbenennung von Straßen und Plätzen nach den Namen der Kriegsopfer, die Neubestimmung nationaler Feiertage (Goethes und Beethovens Geburtstage) und die Erhebung von Beethovens ‘Lied an die Freude’ zur Nationalhymne. Zuvor schon hatte Ludwig auf die Bedeutung eines neuen Kanons geistiger und nicht soldatischer Leitbilder hingewiesen. Im Sinne von Kenneth Burkes eingangs erwähnter Bestimmung der identitätsstiftenden Funktion von Symbolfiguren wird auch von Ludwig nicht die rhetorische Struktur, sondern die ideologische Grundlage der Legenden der Kritik unterzogen, während positive Symbole und Mythen als Erziehungsinstrumente nach wie vor legitim erscheinen. (Hier berührt sich die Legendenkritik mit dem in manchen historischen Romanen der Exilzeit erkennbaren Versuch, humanistische Werte in historischer Gestalt zu popularisieren.) 4.4.2. Frühe Hitler-Biographik (Olden und Heiden) Ebenso wie in der neuerlichen Geschichtsrevision Emil Ludwigs bildet auch in der Hitler-Biographik die Überprüfung der Legende das zentrale Anliegen, dabei stellt die biographische Demaskierung lebender Personen als Instrument der Politik keine neue Entwicklung der Biographik der Exilzeit dar. Vorläufer wie Maximilan Harden, Emil Ludwig oder Adolf
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Jörg Knobloch u. Helmut Koopmann (Hgg.), Hundert Jahre Brecht – Brechts Jahrhundert. Tübingen: Stauffenberg 1998 (Stauffenberg-Colloquium 50), S. 135–153. Ludwig, Geschichte der Deutschen, Bd. 2, S. 300 (Epilog 1945).
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
437
Saager (Mussolini ohne Mythos, 1931)647 und unmittelbare Vorgänger wie Ernst Niekisch mit seinem Buch Hitler – ein deutsches Verhängnis (Berlin 1932) sind hier zu nennen. In der Auseinandersetzung mit dem Führer der NSDAP und besonders in der frühen Exilzeit gewinnt diese politische Demaskierung eine neue kritische Qualität, wenn Biographen wie Konrad Heiden sich dem Führerprinzip der Hitlerdiktatur in der Wahl ihrer kritischer Strategie anpassen: »‘Adolf Hitler ist Deutschland’, wurde von heute maßgebender Stelle verkündet; nun, so versuche ich, in Adolf Hitler dies heutige Deutschland zu erklären.«648 Rudolf Olden und Konrad Heiden gehen in ihren frühen Versuchen einer kritischen Hitler-Biographik eher traditionelle Wege nach dem Muster chronologisch linearer Lebenslauferzählung und konventioneller Objektivierungskriterien. Die Wahl einer konventionellen Darstellung für einen Lebenslaufs, der den ethischen Ansprüchen an eine biographische Gestaltung nach traditioneller Auffassung nicht genügt, ist dabei Teil der politischen und rhetorischen Strategie. Denn nur in der Wendung gegen Polemik und Satire erhoffen sich die Autoren, die reale Bedeutung und Gefährlichkeit Hitlers einer Weltöffentlichkeit vor Augen führen zu können.649 Die der Forderung nach »Ob———————— 647
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Adolf Saager war Verfasser zahlreicher Popularbiographien insbesondere über Persönlichkeiten, deren Leben geeignet erschien, die Verwirklichung technischer, wissenschaftlicher Pioniertaten oder geistiger Leistungen ‘aus eigener Kraft’ im Sinne der Biographik im liberal-ethischen Diskurs erkennbar werden zu lassen. Neben wohl zahlreichen Kurzbiographien in regionalhistorisch relevanten Publikationsreihen und -zeitschriften verfaßte er popular erzählte Biographien etwa über Henry Ford, Mosé Bertoni und Giuseppe Mazzini. Letzteren stilisierte Saager 1935 wohl bewußt zum heroischen Demokraten und geistigen Führer als ein Gegenideal zum Machtpolitiker Mussolini. Züge einer modernen Biographik finden sich in Saagers Lebensbeschreibungen kaum; eher knüpfen seine Arbeiten an die Tradition der ‘Männer aus eigener Kraft’ an. Dies zeigt sich bereits in einer frühen Arbeit über Zeppelin, die eigentlich eine Anekdotensammlung ist, welche Saager nach eigener Auskunft zusammenstellte, um Zeppelin 1915 als Vorbild und Symbol der Tüchtigkeit und Beharrlichkeit der Deutschen zu etablieren – auch und gerade in der Kriegszeit. – Saagers Studie über Mussolini stellt gewiß seine engagierteste und interessanteste Arbeit dar; sie ist eine politische Aufklärungsschrift und getragen von dem Willen, die Legendenbildung um Mussolini durch biographisch-historische Kritik zu zerstören. – Vgl.: Adolf Saager (Hg.), Zeppelin. Der Mensch – Der Kämpfer – Der Sieger. Bunte Bilder von gestern und heute. Stuttgart: Lutz [1915] (Anekdoten-Bibliothek 19); ders., Henry Ford. Werden – Wirken. Bern: Hallwag 1924; Saager, Mussolini; ders., Giuseppe Mazzini. Die Tragödie eines Idealisten. Zürich: Europa-Vlg. 1935; Mosé Bertoni. Ein Tessiner Forscher und Pionier im südamerikanischen Urwald. Basel 1941 (Gute Schriften 210). Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 6. Sowohl Heidens als auch Oldens Biographie waren publizistisch erfolgreich. Heiden freilich erhielt mit der deutschsprachigen Ausgabe breitere Aufmerksamkeit. Oldens Biographie wurde rasch ins Englische übersetzt und erschien 1936 sowohl in London als auch in New York. Von Heidens Biographie sind englische, französische und spanische Übersetzungen erschienen.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
jektivität« (Heiden)650 und »philologischer Akribie« (Olden)651 verpflichtete und um Authentizität des Dargestellten bemühte biographische Darstellung soll gerade den Gefahren entgegentreten, die aus polemischer Einseitigkeit und satirischer Unterschätzung des Gegenstandes für die Überzeugung einer Weltöffentlichkeit entstehen: »Wahrheit ist auf die Dauer die schärfste Waffe, und das Erz, aus dem sie geschmiedet wird, heißt Tatsache« (Heiden).652 Die Würde des Konventionellen, die nicht zuletzt die Kritiker vom Demagogen Hitler unterscheiden soll, wird als wichtiges Instrument in der politischen Rhetorik verstanden. Auf die Biographien trifft so ebenfalls zu, was Klaus Mann in einer Sammelbesprechung über Konrad Heidens frühere Chronik Die Geburt des Dritten Reiches (Zürich 1934) betonte. Die unterrichtete »Gelassenheit« und Objektivität des »Geschichtsschreibers« wird als wirkungsvolles Instrument aufgefaßt, vor einer Unterschätzung des Nationalsozialismus zu warnen: »Der historische Stil wird zum Kampfmittel, die Gerechtigkeit zur sichersten Waffe.« 653 Nicht zuletzt dürfte dabei für die Wahl der Darstellungsweise die Leseradressierung von Bedeutung gewesen sein: Olden und Heiden hofften wohl auch, konservative Leser in Deutschland zu gewinnen.654 Der liberale Demokrat, Strafverteidiger im Weltbühne-Prozeß und Journalist Olden, der 1933 emigrierte, hatte bereits eine erste Broschüre Hitler der Eroberer – die Entlarvung einer Legende (Prag 1933) anonym publiziert, bevor seine breiter angelegte Auseinandersetzung mit Hitler im Exilverlag Querido erschien. Die Biographie ist zunächst eine detaillierte Kritik der Selbststilisierung von Hitlers Jugendzeit in Mein Kampf. Hitler, so urteilt Olden, »habe sich seinen bürgerlichen Idealen gemäß« darum bemüht, in der Selbstdeutung die eigene unbedeutende Herkunft »sozial zu heben«.655 Olden zeichnet in der Kritik der autobiographischen Auskünfte nicht allein das Bild eines gescheiterten Schülers aus ärmlichen Verhältnissen, sondern vor allem das Bild eines Kleinbürgers, der sein eigenes Scheitern als Schüler und die ungemäße Herkunft aus Abscheu gegen die niederen Schichten656 kaschiert – und dabei nicht einmal die Phantasie besitzt, »gerade die Armseligkeit zur Vertiefung des Stoffs und ———————— 650
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Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 6. Heiden verwahrt sich zugleich gegen den Vorwurf, durch den Objektivitätsanspruch politisch indifferent zu sein: »Objektivität ist nicht Standpunktlosigkeit.« Olden, Adolf Hitler, S. 19. Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 5. Klaus Mann, Bücher des Kampfes und der Aufklärung [1934]. In: Mann, Zahnärzte und Künstler, S. 125f., hier S. 125. Im Vorwort des zweiten Bandes seiner Hitler-Darstellung äußert Heiden: »Möge dies Buch, wie meine früheren, durch die Sperren den Weg zu meinem Volke finden!« Heiden, Adolf Hitler, Bd. 2, S. 8. Olden, Adolf Hitler, S. 17. Ebd., S. 27.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
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zur eigenen Erhöhung zu benützen«.657 Die Kritik dieses Charakterzuges hat auch eine beglaubigende Funktion für die Gesamtdarstellung, denn gerade im Anfangsteil verzichtet Olden auf eine politische Argumentation und kann auf authentische dokumentarische Zeugnisse objektivierend zurückgreifen. Ob der biographische Ansatz überhaupt tragfähig sein konnte für eine Kritik der deutschen Diktatur, soll hier nicht abschließend beurteilt werden. Doch können Gefahren und Grenzen des Biographischen für die politische Auseinandersetzung deutlich gemacht werden. Problematisch ist es etwa, wenn Olden spezifische Ansichten Hitlers biographisch herleitet. So wird die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie vor allem aus der Abscheu Hitlers gegen die Arbeiter in Wien erklärt,658 der Antisemitismus aus dem neidischen Blick des ‘Deklassierten’ auf den Erfolg einiger jüdischer Intellektueller und Politiker sowie aus einem nach Hitlers eigener Erzählung vom ‘Kaftanjuden’ angedeuteten ‘Sexualneid’.659 Die biographische Darstellung tendiert entsprechend dazu, Gesinnungen, Positionen und Emotionen Hitlers aus biographischen Schlüsselerlebnissen und Wendepunkten herzuleiten. Erzählungen über die materielle Not Hitlers, die auf unsicherer Grundlage ruhten, oder auch symbolhaft erzählte Anekdoten, die aus Hitlers Mein Kampf übernommen und auf vermutete reale Erlebnisse zurückgeführt wurden – wie etwa die Erzählung vom sogenannten ‘Juden im Kaftan’ und der Prostitution –, haben sich in der HitlerBiographik zu ungeprüften Anekdoten verselbständigt, die beständig nacherzählt werden und zu festen Bestandteilen eines (negativen) HitlerMythos geworden sind.660 Weder die von Olden und Heiden angenommene Armut Hitlers 1909, noch die von Olden der Diagnose ‘Sexualantisemitismus’ zugrundegelegte Schlüsselszene aus Hitlers Mein Kampf haben späteren biographischen Nachforschungen standgehalten. Werner Maser hat gegen Olden und andere betont, daß Hitlers Antisemitismus sich nicht als eine durch ein Schlüsselerlebnis bewirkte biographische Wende erklären lasse, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt habe, der von Hitler selbst in der in Mein Kampf geschilderten Szene symbolisch zusammengefaßt worden sei. Die Ausführungen Oldens zu Hitlers Jugendzeit sind dort überzeugender, wo die biographische Argumentation tatsächlich auf eine Demas———————— 657 658 659 660
Ebd., S. 17. Ebd., S. 31. Olden spricht vom »Sexualantisemitismus« und »Geschlechtsneid« des bei Frauen Erfolgloseren und vermutet ein konkretes biographisches Ereignis. Ebd., S. 46f. Vgl.: Werner Maser, Adolf Hitler. Mein Kampf. Der Fahrplan eines Welteroberers. Geschichte – Auszüge – Kommentare. Esslingen: Bechtle 1974, S. 130, S. 169–171.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
kierung des in Hitlers Automythisierung 661 verdeckten Charakters zielt. Von einer überzeugenden ‘genetischen’ Ideologiekritik, welche die Entstehungsbedingungen und die Entwicklung der späteren Anschauungen kritisch aufarbeitete, ist sie dagegen weit entfernt. Gleichwohl unterstützt die biographische Herleitung der Ansichten Hitlers zugleich die Kritik Oldens, Hitler besitze eigentlich keine Weltanschauung, sondern nur ein demagogisches Temperament. Das weltanschauliche Material für seine Ansichten habe er letztlich aus »Zeitungsstudium« erworben, zu einer reflektierten Ausbildung einer eigenen Weltanschauung sei der ungebildete und bildungsunfähige Hitler nicht in der Lage gewesen. Obwohl sich Olden im weiteren Verlauf der Biographie vor allem um eine Kritik des Weges zur Macht und um eine politische Kritik der Umstände bemüht, die Hitler an die Macht geführt haben, das biographische Modell also zurücktritt, wird dennoch eine Charakterzeichnung gegeben. Wesentliche Komponenten des Charakters seien: der österreichische Nationalcharakter,662 kleinbürgerliche Ideale, Humorlosigkeit, asoziales Verhalten,663 ein »manisch-depressives Wesen«,664 Temperament statt Wille und Tatgeist. Obgleich Olden dabei nachdrücklich auf die psychische Labilität Hitlers hinweist und eine angebliche Kriegsverletzung als vorübergehende hysterische Erblindung darstellt, vermeidet er es, nach pathographischem Muster Hitlers psychische Gesundheit gänzlich in Frage zu stellen und nimmt ihn gegen diesbezügliche Vorwürfe in Schutz. 665 Die Absicht ist offensichtlich: Hitler soll ernst genommen werden. Nachdrücklich verweist Olden auf Hitlers Durchsetzungsfähigkeit gegen »viel Hemmung und Gegnerschaft« in der deutschen Arbeiterpartei,666 und er warnt vor Unterschätzung. Zwar sei Hitler eher ein Trieb- als ein Verstandesmensch, aber: »um wieviel gescheiter, als seine Feinde manchmal glauben möchten«.667 Dies zeige sich in seiner theoretischen und praktischen Kenntnis der Demagogie: »Wenn auf einem Gebiet, das an sich der niedrigen und unreinen Welt angehört, auf dem der Demagogie, Größe bestehen kann und anerkannt werden soll, so ist Hitler ein großer ———————— 661
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Bestandteile der Automythisierung sind für Olden: Abänderung biographischer Eckdaten, Beschönigung der Existenz des Deklassierten, Verschweigen und Andeuten, um die Biographie etwa als Folie für kriegsromantische Vorstellungen zu öffnen. Zugleich spricht er den Vorwurf aus, die Reichswehr habe durch bewußte Zurückhaltung der ‘authentischen’ Berichte über Hitlers Kriegsfreiwilligenzeit die kriegsromantische Selbstdarstellung in »Mein Kampf« geschützt. Olden, Adolf Hitler, S. 52f. Ebd., S. 48. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 62, 66, 317. Ebd., S. 72. Ebd., S. 77.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
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Mann.«668 In dieser ironischen Auskunft enthüllt sich zugleich, was Olden als Gefahr der Hitler-Biographie zu vermeiden sucht: die Idealisierung der biographierten Person allein schon durch eine individualbiographische Darstellung. Olden enthüllt entsprechend nicht einen auf Größe weisenden ‘problematischen Charakter’, sondern die kleinbürgerliche Existenz, und er vermeidet die allzu enge Sicht auf die Biographie Hitlers, um im weiteren Verlauf der Biographie die politischen, historischen und ökonomischen Bedingungen des Erfolgs sowie die Geschichte der Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik zu skizzieren. Das Privatleben Hitlers bleibt nach der Jugendzeit unberührt.669 Olden betreibt auf diese Weise die Zerstörung einer Legende, ohne durch eine Vermenschlichung Hitlers eine (unerträgliche) Nähe zum Biographierten zu schaffen.670 Die biographisch, politisch und rhetorisch-stilistisch geführte Kritik an Hitlers Mein Kampf erscheint als ein in diesem Sinn nützliches Instrument. So verwandelt sich die Biographie in eine Kritik des Weges und der Strategie zur Macht, in eine Entwicklungsgeschichte der Macht, welche die Biographie streckenweise in den Hintergrund rückt. Olden vermag dadurch deutlicher als dies bei einer rein biographisch argumentierenden Sicht möglich wäre, auf die überindividuellen Faktoren des Erfolgs hinzuweisen: Republikfeindlichkeit der Reichswehr, Aufrüstungswille der Schwerindustrie, Unmündigkeit der Deutschen zur Demokratie, Versagen der Reichsgerichtsbarkeit, Krise der Parteiendemokratie, die Politik der drei letzten Kabinette vor Hitler. Gerade die Politik des Kabinetts Brüning habe durch einen ökonomischen Nationalismus eine Krise erzeugt, welche die Wähler Hitler in die Hände getrieben habe.671 Zuletzt entscheidend habe aber nicht ein Wählervotum gewirkt, sondern – zu einem Zeitpunkt als der Stern Hitlers schon im Sinken begriffen war – die Machttaktiererei der Papen und Schleicher, die sich je anderer NSDAP-Flügel bedienen wollten. Dabei sei auch der Reichswehr eine Schlüsselrolle zugefallen. Papen habe zudem die Partei vor dem sicheren finanziellen Ruin gerettet. Die Gegenwart des Jahres 1935 stellt sich für Olden als die Herrschaft Hitlers dar, die dieser aus dem Zusammenbruch der politischen Weimarer Republik und mit Duldung der Reichswehr erhalten habe. In———————— 668 669
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Ebd., S. 77. So vermeidet Olden etwa auch eine Ausdeutung von Hitlers Sexualleben oder sexueller Veranlagung. Einzig auf die geringe Neigung zum anderen und die hohe Schätzung des eigenen Geschlechts wird verwiesen. Ebd., S. 162–164. Im Zusammenhang mit der Erwähnung von Görings Morphiumsucht äußert Olden: »das ist ein Beitrag zur Psychologie des politischen Führertums, aber kein politisches Argument«. Obgleich Olden selbst diese Zurückhaltung in psychologischen Fragen nicht durchhält, so zeigt sich doch in der hier formulierten Absicht auch eine Differenz zu Ludwigs Biographien vor der Emigration, der sich ja gerade die Psychologie des ‘homo activus’ zum Gegenstand gewählt hatte. Ebd., S. 272. Ebd., S. 239.
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mitten innerparteilicher Kämpfe sei er vollständig von der Reichswehr (seit 1935 ‘Wehrmacht’) abhängig: »Der Führer führt nicht.« Die Verantwortung dafür, ob Hitler nun an der Macht bleibe oder nicht, sieht Olden allein bei der Wehrmacht. An der Gefährlichkeit seines Verbleibens läßt Olden keinen Zweifel, auch nicht an der Wahrscheinlichkeit, daß Hitler sein Friedensversprechen brechen werde. An der Spitze Deutschlands stehe ein Mann, der persönlich durch seine unreife Triebhaftigkeit, seinen Infantilismus gekennzeichnet sei:672 Wer ists? Wir wissen genug von ihm, um die Antwort zu wagen. Ein Mensch, der im kindlichen, im Barbarischen der Kinderstube, stecken geblieben ist. Ein Kind, dem ein böser Gott Gestalt und Intellekt des Erwachsenen und dazu die Riesenkraft des Temperaments gegeben hat. Mit Bedacht sagen wir Temperament. Nicht: Wille. Nicht: Tatkraft […]. Denn zum Willen gehören Geist und Gemüt, die den Arm lenken. Zur äußeren Tat gehört die innere Kraft, damit ein harmonisch wirksames Ganzes entsteht. […] Der Frage, die heute auf Vieler Lippen brennt: »Was ist von ihm zu erwarten?« ist damit zugleich die Antwort gegeben: Alles.
Durch diese zusammenfassende Charakteristik am Ende der Biographie erweist sich, daß der biographische Ansatz, der streckenweise nur den roten Faden durch die politischen Konstellationen und Entwicklungen darstellte, letztlich dennoch einer deutlichen Personalisierung geschuldet ist: Alle Entwicklung hängt von Hitler ab, der freilich auf einem Fundament thront, das aus mißgünstigen Parteigängern und einer bloß tolerierenden Wehrmacht gebildet ist. Ebenso wie bei Olden erweist sich auch bei Konrad Heiden, der bereits frühzeitig die Genese des Nationalsozialismus zu beschreiben versuchte 673 und dessen Hitler-Biographie zahlreichen Nachfolgern als Grundlage gedient hat, das gewählte biographische Modell als Problem für die Darstellung, dem Heiden freilich noch deutlicher als Olden und überzeugender dadurch begegnet, daß er im Zug der Darlegungen den biographischen Faden mit sozialhistorischen und politischen Betrachtungen verknüpft. Für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Biographik und besonders der Hitler-Biographik im Kontext einer Kritik des Nationalsozialismus, erscheint es nicht überflüssig, dennoch auf eine Gefahr des biographischen Ansatzes hinzuweisen, der Heiden streckenweise erliegt, auf die er aber durch eine stärkere sozialhistorisch und ‘ideologiekritisch’674 orientierte Vorgehensweise reagiert. Die Gefahr: Heiden ———————— 672 673 674
Ebd., S. 362. U. a.: Konrad Heiden, Geschichte des Nationalsozialismus. Karriere einer Idee. Berlin: Rowohlt 1932. Eher handelt es sich um eine Kritik der Praktiken, obwohl sich Heiden eingehender als Olden auch mit den in »Mein Kampf« benannten Zielen und ‘Ideologemen’ auseinander-
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versucht, aus der autobiographischen Darstellung Hitlers, aus den Zeugnissen von Zeitzeugen und aus (biographischen) Schriften von Hitlers Anhängern durch kritische Lektüre die biographische Wahrheit zu rekonstruieren. Vor allem bei der Frage nach Hitlers Jugend und Kindheit oder nach seinem Charakter bleibt es allerdings bei polemischen Bemerkungen zu Zitaten aus Mein Kampf.675 Mitunter werden Deutungen von geschilderten Ereignissen wahrscheinlich gemacht, ohne daß dafür eine andere Beglaubigung erfolgt als die Behauptung des Biographen: so etwa bei der Behauptung, Hitler habe während der Räterepublik als »Spitzel und Henker seiner Kameraden« die »Roten«, mit denen er Kontakt hatte, an das zweite Infanterieregiment verraten.676 Diese Darstellungsprobleme resultieren allerdings nicht so sehr daraus, daß der Biograph etwa hinter der Objektivitätsbeteuerung des Vorworts eine polemische Absicht verbirgt, sondern aus dem Bemühen, den Lebenslauf möglichst vollständig einer kritischen Betrachtung zu unterziehen – ein Bemühen, welches zu diesem frühen Zeitpunkt gewiß außerordentlich verdienstvoll ist, dem aber durch die Exilsituation und dem aus dieser resultierenden erschwerten Zugang zu den Quellen enge Grenzen gesetzt sind. Die Gefahr, die daraus für die Glaubwürdigkeit der Biographie und das Darstellungsanliegen erwächst, hat Heiden durchaus selbst gesehen: »ich muß mich mit der Hoffnung zufrieden geben, daß die belegten Teile des Buches ausreichendes Vertrauen für die notgedrungener Weise nicht belegten erwecken ————————
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setzt. Trotz seiner Bemühungen um die Widerlegung der Behauptungen und Bloßstellung der Widersprüche in »Mein Kampf« (z. B.: Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 69–71, 77f.), betont Heiden allerdings, daß es letztlich nicht um den – leicht zu widerlegenden – Wahrheitsgehalt der Lehre gehe, sondern um die durch diese entfaltete politische Kraft. Die Gefahr des Biographischen erweist sich deutlich in den Schilderungen der Kindheit und Jugend Hitlers: »Ein so aus Hemmungen und starken Impulsen zusammengezwängter Charakter reizt natürlich dazu, nach möglichen Ursachen in der Kindheitsgeschichte zu forschen.« (Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 15.) Anders als Olden, der sich tatsächlich detailliert um eine Kritik der Automythisierung von Hitlers Kindheit und Jugend bemüht, beläßt es Heiden freilich eher bei polemischen Bemerkungen zu den Zitaten, um anzudeuten, was er in Hitlers Selbstdarstellung an realen Sachverhalten zu erkennen vermeint. Gerade im Vergleich zu Olden weisen diese Passagen deutliche Schwächen auf – wie auch manche Hinweise Heidens auf Charakter und psychische Konstitution des Biographierten, die sich anfangs auf eine wenig individuelle Aufzählung einzelner Eigenschaften beschränken: »Trägheit, Empfindlichkeit, Genügsamkeit und Beharrlichkeit«, »Reizbarkeit« (ebd., Bd. 1, S. 43). Erst am Beginn des dritten und letzten Teils im ersten Band, welcher die Biographie Hitlers umfaßt, versucht Heiden eine genauere Charakterisierung Hitlers zu geben.– Auch an anderen Stellen zeigt sich gegen den Objektivitätsanspruch des Biographen ein polemischer Stil: so etwa bei der ironischen Behandlung von Hitlers Selbstauskunft, er habe die marxistische Grundlagenliteratur eingehend studiert. Der Biograph gibt das Zitat von Hitler unterbrochen von ironischen Kommentaren wieder und folgert: »klappt das Buch spätestens auf Seite 50 wieder zu« (ebd., Bd. 1, S. 24). Dies mag einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entbehren, aber der an solchen Stellen gebrauchte Behauptungsstil erhöht nicht die Glaubwürdigkeit des Ausgeführten. Ebd., Bd. 1, S. 64.
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werden«.677 Gewiß: dies gilt letztlich für jede biographische Arbeit. Solange sich der Biograph die Aufgabe der geschlossenen und wahrscheinlichen Lebenslaufdarstellung stellt, ist er an die Rhetorik der Authentitizität gebunden, durch die Verkettung als faktisch ausgewiesener Details und authentischer Zeugnisse die Glaubwürdigkeit seiner biographischen Vision zu sichern. In einer Biographie, die – wie dies bei Oldens und Heidens Werken der Fall ist – auf akademische Nachweise verzichtet, wird dies durch Detailreichtum, Zitate, reale Namen und Orte, Daten, Ereignisnähe, Zeugen und die an öffentliche Bekanntheit oder rhetorische Strategien gebundene Glaubwürdigkeit des Biographen geleistet. Fragliche Passagen werden durch Erläuterungen beglaubigt, welche das Geschilderte – entweder durch stützende Überlegungen, Parallelfälle und methodisch gesicherte Schlußbildungen oder durch Widerlegung anderslautender Erklärungen – wahrscheinlich machen. Dies gelingt sowohl Olden als auch Heiden in den überwiegenden Passagen ihrer Lebenslaufschilderungen. Gerade in der Exilsituation, welche dieser Rhetorik der Authentizität durch den Mangel an verläßlichem Material Grenzen setzt, kann der Versuch, aus den stilisierenden Quellen eine historische ‘Wahrheit’ herauszufiltern, zum Problem für die Darstellungsintention werden, denn beide Autoren sind darauf angewiesen, ihre Kritik des Nationalsozialismus am Fall Hitler nicht durch eine unsichere Biographie zur Person Hitler zu gefährden. Heidens Ausführungen besonders zur Kindheit und Jugend Hitlers bleiben vor diesem Hintergrund problematisch. Heiden arbeitet dieser Gefahr für seine Darstellung dadurch entgegen, daß er die Hitler-Kritik nicht allein auf der Ebene einer Kritik der Persönlichkeit formuliert. Seine Biographie erfüllt durchaus Anforderungen, die an eine Sozialbiographie zu stellen wären. Gerade die anfängliche Entwicklung Hitlers wird regelmäßig in Bezug gestellt zu allgemeinen historischen Tendenzen678 oder sozialhistorischen Entwicklungen, welche die individuellen Haltungen und den individuellen Lebensgang als exemplarisch erscheinen lassen.679 In einer sozialhistorischen Radikalisierung der Thesen Julien Bendas (1867–1956) vom ‘Verrat der Intellektuellen’ zeigt Heiden das akademische Bürgertum, dessen Karrierehoffnungen und Versorgungswünsche der Staat in der Weimarer Republik nicht mehr habe erfüllen können, als Motor der katastrophalen sozialen und politischen Entwicklung. Mit diesen ‘modernen Intellektuellen’ sei dem Staat eine breite, enttäuschte und strikt an den eigenen Interessen orientierte neue ———————— 677 678
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Ebd., Bd. 1, S. 6. So etwa zur Genese von Antisemitismus und Antisozialismus, ausgehend von der Feststellung: »Ein wichtiges Motiv wird meist zu wenig beachtet: Sozialistenfeindschaft und Antisemitismus waren im damaligen Wien die Mode der herrschenden Schicht; guter Ton in den bürgerlichen Kreisen, in die Hitler hinaufstrebte.« Ebd., Bd. 1, S. 27. Vgl. etwa: Ebd., Bd. 1, S. 44ff.
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Schicht des Bürgertums als Opposition erwachsen, die ihren Kampf gegen den sozialen Abstieg als »Klassenkampf der Intellektuellen«680 führt. Eine umfassende Entfremdung derjenigen vom Staat, die vom Staat »für ihre qualifizierten fachlichen Leistungen eine praktisch gesicherte Existenz« erwarteten, habe letztlich zur Politikverweigerung und Verantwortungsflucht geführt.681 An die Stelle der enttäuschten Ansprüche und der Interessenwahrnehmung seien Illusionen, Leidenschaften und mystische Gemeinschaftsvorstellungen getreten.682 Gerade nach dem Scheitern der Revolution einerseits und der Integration der alten Mächte in den neuen Staat andererseits sei ein Vakuum entstanden, welches Hitler gleichsam als »Genie einer bürgerlichen Revolution«683 habe füllen können, indem er die verunsichernde Anonymität und »Kompliziertheit des Staates« als einen »Kniff der geheimen Mächte, der Juden und Freimaurer«,684 erklärt und gegen die Kompliziertheit der Demokratie die einheitsstiftenden Machtansprüche der eigenen Partei685 und die Hingabe an verbindende Illusionen propagiert habe.686 Heiden beschreibt die Genese der ‘Bewegung’ aus diversen zunächst unabhängigen Zirkeln, Gruppierungen und Einzelpersonen, die jeweils Mosaiksteine zu einem Programm beitragen, das in sich nicht konsistent ist. Erst die alles auf sich nach dem »Führerprinzip« vereinende Gestalt Adolf Hitlers, dessen Person auch das politische Programm ersetze, und besonders eine »auf Stumpfsinn ausgesuchte Gefolgschaft«687 hätten die Einheit geschaffen: »Die Bewegung ist durch die schöpferische Tat eines einzelnen entstanden«.688 So entsteht ein Doppelbild, welches zum einen den Erfolg Hitlers auf die persönliche Lei———————— 680 681
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Ebd., Bd. 1, S. 46 u.ö. Als einen Teil dieser Entfremdungsbewegung der Intellektuellen begreift Heiden auch den »Klassenkampf der Offiziere«, denen der Karriereweg durch »Verkleinerung der Reichswehr« und »Verstopfung der Offizierslaufbahn« versperrt ist. Auch hier sind es die enttäuschten individuellen Interessen und Aufstiegswünsche aus denen sich letztlich der Zulauf zu den Nationalsozialisten speise. Ebd., Bd. 1, S. 67. Heidens Analyse erinnert deutlich an Bendas Kritik der Intellektuellen, die Heiden allerdings nicht erwähnt. Für die hier beschriebene Entwicklung hatte Heiden den Begriff des »Bourgeoisismus« verwendet. Heiden weitet freilich gegenüber Benda den Begriff des Intellektuellen auf eine ganze Schicht aus, während Benda eher diejenigen darunter faßt, die sich diese Entwicklung der Gruppen zu ‘Leidenschaftsmassen’ zunutze machen. Vgl.: Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen. ‘La trahison des clercs’. München u. Wien 1978 [frz. Original zuerst 1927], zum Bourgeoisismus vgl. S. 93–95, 106. Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 46. Ebd., Bd. 1, S. 47. Besonders wichtig ist Heiden, daß eine in der Wahrnehmung ihrer individuellen Verantwortung überforderte Gefolgschaft die Verantwortlichkeit für ihr Tun einem ‘Führer’ delegiere, der selbst als absolute Macht im Staat nicht zur Verantwortung gezogen werde. Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 51ff. Ebd., Bd. 1, S. 105. Ebd., Bd. 1, S. 104.
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stung, zum anderen auf die genau beschriebene Gunst der Stunde zurückführt: »Genie ist Fleiß plus Glück.«689 Heiden betont dabei, daß Hitler zwar der Repräsentant eines neuen europäischen Typus und wie die gesamte Bewegung als eine sozialhistorische Erscheinung erklärbar sei, doch betont er zugleich, daß der Erfolg Hitlers und seiner Bewegung nicht auf einer »Naturkraft« beruhe, sondern auf der politischen und propagandistischen Leistung Hitlers. Die weltweiten ökonomischen Entwicklungen – »das Ende des Kapitalismus« – 690 haben Hitler begünstigt: »Die Deklassierten aller Klassen, repräsentiert in den sieben bis acht Millionen Erwerbslosen, sind sein Meer, und eine Handvoll unheimlicher Freibeuter die Besatzung seines Schiffes.«691 Eingehend beschäftigt sich Heiden auch mit der Finanzierung der Partei aus unterschiedlichen in- und ausländischen Geldquellen, doch baut er beständig der Ansicht vor, Hitlers Erfolg sei nur das Produkt dieser ökonomischen Entwicklungen und der steuernden Begünstigung durch Finanziers und betont die persönliche Leistung: Hitler sei als Propagandist und politischer Organisator »der größte Menschenerschütterer der Geschichte«.692 Wie schon Olden bemüht sich auch Heiden vor allem darum, Hitlers Verantwortung für die Entwicklung nicht zu mildern.693 Gerade in der politischen Auseinandersetzung wird für Heiden dementsprechend auch eine psychopathographische Erklärung Hitlers fragwürdig, da er in dieser die Tendenz zur Exkulpation der Einzelpersönlichkeit erkennen muß. Jede Zuschreibung pathologischer Erscheinungen wird von ihm abgelehnt. Nicht nur sei Hitlers Handlung und Wirkung »im normalen psychischen Wesen der Einzelpersönlichkeit und insbesondere der großen Massen begründet«,694 sondern die Frage nach der Psychopathologie Hitlers sei auch für die Frage nach seiner politischen Verantwortlichkeit irrelevant: »Ob und wie weit Hitler für die von ihm unternommene Handlungsweise verantwortlich ist, dies zu beurteilen, dürfte nicht Sache des ———————— 689 690 691 692 693
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Ebd., Bd. 1, S. 127. – Ähnlich wie bei Olden wird dabei die Propaganda als wichtigste Leistung Hitlers ins Zentrum gerückt. Ebd., Bd. 1, S. 236. Ebd., Bd. 1, S. 243. Ebd., Bd. 1, S. 325. Gerade Heiden erhielt hierfür den Zuspruch der Rezensenten. Vgl.: J. S. [Johann Scheuchzer?], Konrad Heiden. Ein Mann gegen Europa. In: Rote Revue 16 (1936/37), S. 419f.; Friedrich Otto, Der Fall Hitler. In: Der Kampf. Internationale Revue [N.F.] 3 (1936), S. 4– 20. – Kritik äußerten die Rezensenten an einer ungenügenden Erklärung der Fragen, warum die deutsche Sozialdemokratie versagt habe (Scheuchzer) und warum gerade in Deutschland der Nationalsozialismus erfolgreich sein konnte (Otto). Otto fordert dabei in Anknüpfung an Otto Bauer die Berücksichtigung des Nationalcharakters der Deutschen als »Niederschlag vergangener geschichtlicher Prozesse« (S. 19). Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 327.
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Arztes sein.«695 Allerdings versucht sich Heiden in einer Beschreibung der psychischen Konstitution Hitlers und kommt zu dem Ergebnis, dieser sei eine hysterische, aber willensbestimmte gespaltene Persönlichkeit. Dabei liegt auch hier der Akzent auf der Bestimmtheit durch das Wollen und folglich auf der Verantwortlichkeit Hitlers für sein Tun. Emil Ludwig, der Heidens Biographie für einen Essay über Hitler in Drei Diktatoren ausschrieb, legte gerade hier andere Akzente. Gleich zu Beginn wird Hitler als »ein pathologischer Mensch« bezeichnet, der als Exempel der Theorien über die »Verbindung von Genie und Wahnsinn« dienen könne. Es sei »sogar fraglich, ob ihn ernste Psychiater für verantwortlich erklären könnten«.696 Ludwig geht es freilich weniger um die Exkulpation Hitlers als um die Betonung der charakterlichen und historischen Bedingungen für Hitlers Erfolg im deutschen Volk.697 In ähnlicher Weise wie die psychische Konstitution wird von Heiden auch das Problem der Sexualität behandelt. Die Vermutung, Hitler habe eine homosexuelle Veranlagung, wird von Heiden, der Homosexualität im Zusammenhang mit den Berichten um Ernst Röhm als ‘Krankheit’ bezeichnet, deutlich zurückgewiesen. Obwohl Heiden vor allem eine ethische Beurteilung des Menschen Hitlers gegenüber der psychischen betont, zeigt sich der Einfluß von Fragestellungen, wie sie im Zuge der psychopathographischen und psychologischen Biographik entwickelt und von der modernen Biographik aufgegriffen worden sind. Bestimmte Bereiche des ‘privaten Lebens’ können in einer vollständigen Biographie kaum mehr übergangen werden – so heißt es etwa: »Ein Kapitel wie dieses [»Die Frauen«] gehört in jede Biographie; kein Mensch kann ohne sein Verhältnis zum anderen Geschlecht verstanden werden.«698 Die Ausführungen, die Heiden hier über »geschlechtliche Hörigkeit« gegenüber dem anderen Geschlecht und damit verbundene Brutalität im öffentlichen Auftreten gibt, bleiben allerdings auf wenige Anspielungen beschränkt und werden als Aufgabe des Sexualforschers bezeichnet. Eine Konsequenz für die eigene Darstellung ergibt sich daraus nicht. Eine Fragestellung, wie sie einem heutigen Versuch über Hitler zugrunde gelegt wurde und wie sie dem Anliegen moderner Biographen entspräche, verfolgt Hei———————— 695 696
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Ebd., Bd. 1, S. 327. Emil Ludwig, Drei Diktatoren. Typoskript dat. Dez. 1939. SLA Bern, darin »Hitler«, 39 S., separat paginiert, zit. S. 1f. – Das Typoskript, das bereits einen Abschnitt in englischer Sprache enthält, wurde von Ludwig wohl nicht für die Publikation in deutscher Sprache vorgesehen. Neben anderen engl. und franz. Ausgaben: Ders., Three Portraits. Hitler – Mussolini – Stalin. Shanghai: Esquire Book Comp. [1940] (Esquire library 2), dort S. 12. Hitlers Erfolg wird begründet durch die oratorische Verführbarkeit der an politische Redekunst nicht gewohnten Deutschen, ihre Leidenschaft für Ordnung und Gehorsamkeit, ihren Mangel an ‘Heiterkeit’, ihre Unvertrautheit mit Freiheit und durch den Erfolg der Lüge, Deutschland habe den I. Weltkrieg nicht verloren. Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 353.
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den nicht. Vergleichsweise könnte etwa Lothar Machtans Rechtfertigung seiner Studie über Hitlers Geheimnis (2001) herangezogen werden:699 Was mich dabei leitet, ist die Aussicht, verborgene Antriebskräfte des deutschen Diktators noch besser zum Vorschein zu bringen; zu dechiffrieren, was seine Emotionen besonders stark gebunden hat. Bei einer solchen Tiefenperspektive darf allerdings die Vorstellung nicht schrecken, in Nahaufnahmen von Hitlers Leben nicht ausschließlich den »intentionalen« Agenten einer bodenlosen Unmoral zu sehen, sondern auch den fatalen Ausdruck menschlichen Versagens, menschlicher Verfehlungen, menschlicher Not, deren missratene private Verarbeitung so katastrophale öffentliche Folgen zeitigte.
Diese Perspektive, die etwa Emil Ludwigs Wilhelm der Zweite in Erinnerung ruft, aber explizit auf Hitlers angebliche Homosexualität zielt, bezeichnet gerade den von Heiden vermiedenen Standpunkt. Genau wie Kritiker von Machtans Hitler-Buch sah auch Heiden die Gefahr einer solchen Darstellung in einer teilweisen Exkulpation Hitlers, der er gerade durch die Betonung der ‘intentionalen’ Aspekte entgegenwirkt. In einem Forschungsbericht Hitler – Interpretationen 1923–1983 (1984) hat Gerhard Schreiber sich grundsätzlich zur Frage der HitlerBiographik geäußert. Schreiber, der die Biographie vor allem als didaktisches Instrument der Wissensvermittlung positiv bewertet, bezeichnet es als Gefahr der Hitler-Biographien, daß diese »Gefangene ihres Ansatzes« werden können: »Historiographisch durchdrungen wird nämlich im Regelfall nur der ‘Held’, also Hitler.«700 Dagegen sei es jedoch geboten, »auf die besonderen darstellerischen Charakterisika des biographischen Ansatzes zu verzichten«,701 um die »Prämissen für den Aufstieg Hitlers«, »die sozialpsychologischen Voraussetzungen« und »die vorhandenen objektiven Krisenbedürfnisse« zu beleuchten.702 Diesem traditionellen Bedenken gegen die Biographik, das sich bei der Hitler-Biographik in besonderer Weise stellt, wenn diese zugleich eine Kritik des Nationalsozialismus sein möchte, haben Olden und besonders Heiden durch eine Ausweitung des Blicks auf politisch-historische, auf sozialhistorische und ‘ideologiekritische’ Gesichtspunkte vorgebeugt. Besonders Heidens Versuch genügt dabei nicht nur diesem Anspruch an die Gattung, sondern in einer für die Entstehungszeit beeindruckenden Weise auch dem der späteren HitlerForschung. Schreiber zählt Heidens Biographie neben den Arbeiten von ———————— 699
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Lothar Machtan, Was Hitlers Homosexualität bedeutet. Anmerkungen zu einer Tabugeschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 334–351, hier S. 340. – Machtan rechtfertigt sich gegenüber Rezensenten seines Buches: Ders., Hitlers Geheimnis. das Doppelleben eines Diktators. Berlin: Alexander Fest 2001. Gerard Schreiber, Hitler. Interpretationen 1923–1983. Ereignisse, Methoden und Probleme der Forschung. Darmstadt: WBG 1984, S. 305. Ebd., S. 304. Ebd., S. 305.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
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Alan Bullock und Joachim C. Fest noch 1984 zu den drei ‘Standardwerken’ der Hitler-Biographik, in denen »die erkenntnismäßigen Möglichkeiten der biographischen Methode im Rahmen der Hitler-Interpretation erschöpft sind«.703 Die Hitler-Biographik der Exilzeit schuf Muster, welche in der Nachkriegszeit in der Aufarbeitung der NS-Diktatur wegweisend wurden und so eine Kontinuität der Gattungsgeschichte herstellten. 4.4.3. Emigrantenschicksale und Heimatlosigkeit in Geschichte und Gegenwart Abschließend ist auf eine Form der Emigrantenbiographik hinzuweisen, die vor allem dazu dienen sollte, bei den Gastländern um Verständnis für die Exilsituaton zu werben. Diesem Ziel folgte etwa die Publikation des biographischen Sammelwerkes The Torch of Freedom (1943), in welchem Emil Ludwig und Henry B. Kranz (1895–1964) »Twenty Exiles of History« aus der Feder namhafter emigrierter Autorinnen und Autoren vorstellten.704 Der Band versammelt in ihrer jeweiligen Zielrichtung sehr heterogene Beiträge, welche in unterschiedlicher Weise die Themen der Emigration, der Heimatlosigkeit oder aber der patriotischen Feier des verlassenen Heimatlandes galten. Letztere Option findet sich – wie naheliegt – nicht so sehr in den biographischen Skizzen der deutschen Autoren, als vielmehr in den Studien der Norwegerin Sigrid Undset (1882–1949) über King Olav und der Dänin Karin Michaelis (1872–1950) über Tycho Brahe. Daß die Versuche der Parallelisierung der geschichtlichen und gegenwärtigen Exilerfahrung letztlich wenig überzeugend sind, liegt wohl an den Problemen, die sich aus den Darstellungsvorgaben einerseits und dem anvisierten Zielpublikum andererseits ergeben. Lion Feuchtwanger (1884– 1958) etwa bemüht sich darum, in seinem Essay Ovid den klassischen Heimatvertriebenen als Modell der Exilerfahrung aufzubauen. Dabei steht besonders die Exilsituation des aus seiner muttersprachlichen Umgebung vertriebenen und somit seines Publikums beraubten Schriftstellers ———————— 703 704
Ebd., S 316., zu Bullock und Fest s. das Reg. Emil Ludwig u. Henry B. Krantz (Hgg.), The Torch of Freedom. Twenty Exiles of History. New York u. Toronto. Farrar & Rinehart 1943. – Der Band enthält Essays von Lion Feuchtwanger zu Ovid, von Sigrid Undset zu Olav Haraldsson, von Karin Michaelis zu Tycho Brahe, von Yvan Goll zu Voltaire, von Joseph Wittlin zu Tadeusz Kosciusko, von J. Álvarez del Vayo zu Simon Bolivar, von André Maurois zu Byron, von Heinrich E. Jacob zu Heinrich Heine, von Robert de St. Jean zu Victor Hugo, von Hans Habe zu Lajos Kossuth, von Carlo Sforza zu Giuseppe Mazzini, von Costantino Panunzio zu Giuseppe Garibaldi, von Pierre Cot zu Karl Marx, von Alfred Neumann zu Feodor Dostojewski, von Emil Ludwig zu Carl Schurz, von Heinrich Mann zu Émile Zola, von Jan Masaryk zu Thomas Garrigue Masaryk, von Henry B. Kranz zu Sun Yat-sen, von Lydia Nadejena zu Lenin sowie von Raoul Auernheimer zu Stefan Zweig.
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4. Vermenschlichung und Heroisierung
im Vordergrund. Doch die Vertreibung Ovids aus dem antiken Kulturzentrum Rom in eine ‘barbarische’ Fremde läßt sich kaum als Parallele zur Gegenwart etablieren. Den Ausweg findet Feuchtwanger in der Betonung der Exildichtungen Ovids, in denen die menschlichen Erfahrungen der Exilanten zeitüberdauernd bewahrt wären. Das Exilerlebnis wird so zu einer ahistorischen menschlichen Erfahrung, welche von den konkreten Umständen in Zeit und Raum gelöst wird. Ähnlich wie Heinrich Eduard Jacob (1889–1967) in seinem Porträt Heinrich Heine betont Feuchtwanger dabei auch, daß die Exilsituation nicht auf politischem Dissidententum des Exilierten beruht. Unabhängig von der historischen Situation ist dies gewiß einer amerikanischen Öffentlichkeit geschuldet. Die Reduktion der biographischen Darstellung auf die Exilerfahrung ist kaum zu vermeiden, wenn die Autoren nicht dem Thema des Bandes ausweichen – wie Yvan Goll (1891–1950) in seinem Essay Voltaire, der kaum mehr mit dem Bandtitel zu verbinden ist. Die Stilisierung und Einvernahme der Biographierten als Symbole für Gegenwartszwecke erweist sich auch hier – wie häufig in der biographischen Essayistik – als recht willkürlicher Akt. Überzeugender ist dagegen ein thematisch verwandter Versuch, der allerdings nicht die Emigrantenerfahrung betrifft. Der zionistische Schriftsteller und Historiker Josef Kastein, der in seinen historischen Werken Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte wie Jeremias, Herodes, Uriel da Costa zu paradigmatischen Gestalten des jüdischen Schicksals umschuf, hat in einem ausführlichen Essay Süsskind von Trimberg oder Die Tragödie der Heimatlosigkeit (1934) die weitgehend legendarische und unbekannte Lebensgeschichte des von ihm eindeutig als jüdisch bestimmten Minnesängers zur Chiffre für die Heimatlosigkeit der Juden in einer christlichen Welt aufgebaut. Gerade das weitgehende Fehlen biographischer Daten wird von Kastein genutzt, um die »Konturen eines Juden, von seltsamer und doch ewiger Konstellation«, zur »Gestalt«(!) jüdischen Schicksals zu ‘verstärken’.705 Kastein baut Süsskind von Trimberg vor dem Hintergrund einer breiten und bedrückenden kulturgeschichtlichen Analyse zum Symbol der als unüberwindbar geschilderten Differenz zwischen Christen und Juden, zum Symbol des »tausendjährigen und niemals ausgeglichenen Widerspruch[s] zwischen dem Juden und dem Deutschen«,706 auf. Dabei argumentiert Kastein mit gewiß problematischen Verweisen auf stereotype Volkscharaktere, die es auch dem assimilationswilligen Juden unmöglich machen ‘müssen’, unter den germanisch-christlichen ‘Barbaren’ zu leben, ohne zwangsläufig das Opfer der unterschiedlichen Entwicklung der Völker zu werden. Süsskinds ———————— 705 706
Kastein, Süsskind, S. 5. Ebd., S. 12.
4.4. Ausblick in die Exilbiographik
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Scheitern als Jude in einer christlichen Welt, das Scheitern seiner Integration, wird zum Symbol für die Unmöglichkeit der Assimilation überhaupt. Das Buch endet mit der aus Jersusalem, wo der in der Schweiz lebende Autor Kastein das Buch noch vor seiner endgültigen Übersiedelung publizierte, gesprochenen Aufforderung an die jüdischen Leser, in sich den Süsskind von Trimberg mit seinen vergeblichen Assimilationshoffnungen zu erkennen: »Geh heim, Süsskind von Trimberg!«707 Das gemeinsame Judentum des Verfassers, des Biographierten und der Leserschaft sichert hier den Erfahrungszusammenhang, der es erlaubt, im Gegensatz zu den in der Auswahl und Stilisierung willkürlich erscheinenden Emigrantenessays den Symbolgehalt der Figur bewußt herauszustellen und ihn nicht aus einer biographischen Reduktion, sondern eben aus einer kulturgeschichtlichen Analyse herzuleiten und vor dem strategischen Ziel der zionistischen Werbung zu werten, wodurch der Name tatsächlich zum Symbol eines übergeordneten Zusammenhanges wird – eine bedrückende, aber in formaler Hinsicht gewiß auch interessante Alternative zu traditionellen und modernen biographischen Konzepten. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, daß es sich hier ebenso wie in deutschnationalen Biographien der Zeit um eine nationale Volkstumsideologie handelt, welche das Schicksal des einzelnen Menschen abhängig macht vom Schicksal der Gemeinschaft. Der individuelle Ausbruch aus dem Gemeinschaftsschicksal, die Selbstverwirklichung des Künstlers wird von Kastein als ein bloßer Opportunismus negativ gewertet und als ein schuldhaftes Versagen an der Gemeinschaft.708 Vor allem aus der Geschichte und den Traditionen, aber auch aus einem jüdischen Volkscharakter heraus, entstehen in Kasteins zionistischer Analyse des jüdisch-christlichen Widerspruchs die Fäden des gemeinschaftlichen Schicksals als »ein ungeformter Ruf deines Blutes« oder als spontanes Bekenntnis. Stimme des Blutes und Bekenntnis zum jüdischen Volk aus dem unkontrollierten Wesen des Menschen heraus bestimmen »im Instinkt und in der Erinnerung« das Handeln letztlich stärker »als dein Wille«.709 Kasteins Essay argumentiert anthropologisch mit der conditio des jüdischen Menschen, und Kasteins Essay ist eine didaktische Arbeit, welche darum ringt, den einzelnen Leser zum Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zu heben durch die Erkenntnis seiner Teilhabe an kultureller Differenz, seiner historisch ererbten Opferrolle und seiner eigenen Existenz in der Kette der Verfolgungen.
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Ebd., S. 186. Ebd., S. 180. Ebd., S. 173.
5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs 5.1. Nation als conditio humana »Der objektive Geist eines Volkes lebt durch jeden einzelnen Volksgenossen hindurch; der einzelne ist nur etwas am Leben seines Volkes, nicht ihm gegenüber.« (Eduard Spranger, Männliche Jugend 1932)
Die Verbindung einer heroisierenden Lebensbeschreibung mit einem nationalistischen Diskurs erhält im Lauf der 20er und besonders der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erneut Brisanz. Heinrich von Treitschkes nationalistische Heroenessays und -reden gehörten nach wie vor zu den populärsten historischen Werken; nationalbiographische Sammelwerke oder Kollektivbiographien wie Arthur Moeller van den Brucks Führende Deutsche (1906), Erich Marcks’ Männer und Zeiten (1911), die von Erich Brandenburg initiierte Reihe Die deutschen Führer (seit 1925) oder der von Peter Richard Rohden besorgte Band Gestalter Deutscher Vergangenheit (ca. 1937) und andere mehr bis hin zum biographischen Großprojekt von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz Die Großen Deutschen (1935–37) betonten in popularer Form die Verbindung von Einzelpersönlichkeit und Nationalgeschichte, um in Symbol- und Vorläufergestalten die unterstellten nationalen Interessen des deutschen Volkes zu propagieren – bis hin zu einem ‘dritten Reich’. So betonten Willy Andreas (1884–1967)und Wilhelm von Scholz (1863–1939) im Vorwort zu Die Großen Deutschen: »Im schlichten Adel volkstümlicher Anschaulichkeit sollen die großen Deutschen wiedererstehen, die in allen Bereichen menschlichen Schaffens als Führer voranschritten, in Wesen und Handeln unser Schicksal gestaltend.«1 Sie begriffen ausdrücklich die nationale Kollektivbiographie als ein Mitwirken am »schicksalsvollen Ernst«, am »heißen und stürmischen ———————— 1
Die Großen Deutschen. Neue Deutsche Biographie. Hg. von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz. 4 Bde. u. 1 Ergbd. Berlin: Propyläen 1935–37, zit. Bd. 1, S. 6. – Theodor Heuss, der an dieser Kollektivbiographie mitwirkte und 1956 das Nachfolgeprojekt mit betreute und bevorwortete, distanziert sich von der Aufgabe, nationale Vorläufer- und Symbolgestalten zu kreieren. In der Gegenwart diene die Erinnerung daran, daß es diese ‘großen Deutschen’ gegeben habe, vor allem zum Trost für die Deutschen. Theodor Heuss, Über Masstäbe geschichtlicher Würdigung. In: Die grossen Deutschen. Deutsche Biographie. Hg. von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg. 4 Bde. u. 1 Ergbd. Berlin: Ullstein 1956f., Bd. 1, S. 9–17.
5.1. Nation als conditio humana
453
Geschehen, das durch unsere Tage rauscht«.2 Die Tendenz des Werkes und der Herausgeber wird besonders deutlich etwa in den Biographien über Moeller van den Bruck von Paul Fechter und Horst Wessel von Wilfried Bade, aber keineswegs bei allen Autoren finden sich deutschnationale oder völkische Töne. Neben bürgerlich-individualistischen Konzeptionen der herausragenden Gestalt, die sich dem nationalen Diskurs annäherten (wie bei Otto Flake zu sehen), wird bei der Durchsicht der biographischen Literatur ein breites Spektrum von Darstellungsweisen im Horizont konservativer, patriotischer und nationaler Tendenzen sichtbar. Drei Autoren, die verschiedene Positionen in diesem Spektrum erkennbar werden lassen, sollen hier stellvertretend für eine breitere Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex nationaler Heldenbeschreibung untersucht werden: der Freiburger Universitätshistoriker Gerhard Ritter und die mit historischen Themen populären Schriftsteller Walter von Molo und Wilhelm Schäfer. Eine erkennbare Gemeinsamkeit weisen die Werke dieser Autoren in bezug auf ihre spezifische ‘Vermenschlichung’ der Biographierten auf, das heißt in der Konzeption der biographisch relevanten anthropologischen Grundvoraussetzung: Der Einzelmensch und auch die herausragende Persönlichkeit werden jeweils zu ihrer regionalen und nationalen Herkunft, ihrer Volkszugehörigkeit in Bezug gesetzt. In dieser hat der einzelne den Horizont seiner Möglichkeiten und die Grenzen seiner Individualfreiheit. Eduard Spranger (1882–1963), der durchaus im Kontext der genannten Autoren Bedeutung hat, formuliert diesen Grundgedanken national-konservativer bis völkischer Popularanthropologie 1932:3 Mit der volksmäßigen Vorgeformtheit und unter den Schicksalsbedingungen seines Volkes tritt jeder in das tätige Leben ein: Er webt nur eine kleine Masche an diesem gewaltigen Netz von Lebensbezügen. ———————— 2
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Ebd. – Zu den Autoren der fünfbändigen Sammlung zählten neben den Herausgebern: Friedrich Gogarten (über Martin Luther), Heinrich Bornkamm (über Jacob Böhme), Julius Petersen (über Grimmelshausen), Karl August Meißinger (über Paul Gerhardt und Immanuel Kant), Moeller van den Bruck (über Andreas Schlüter), Karl Holl (über Lessing), Josef Nadler (über Herder, Kleist, Klopstock), Paul Wiegler (über Friedrich Hölderlin), Will-Erich Peuckert (über die Gebr. Grimm), Hermann Oncken (über Leopold von Ranke), Theodor Heuss (über Friedrich List), Max Mell (über Adalbert Stifter), Erich Marcks (über Albrecht von Roon), der Technikbiograph Conrad Matschoß (über Werner von Siemens), Erich Rothacker (über Jakob Burckhardt), Walter von Molo (über Liliencron, Dehmel und Dauthendey), Gerhard Ritter (über Zwingli), Paul Alverdes (über Zinzendorf), Hans Franck (über Droste-Hülshoff), Wilhelm Schüßler (über Adolf Lüderitz), Hellmuth Langenbucher (über Paul Ernst), Paul Fechter (über Arthur Moeller van den Bruck) und Wilfried Bade (über Horst Wessel). Eduard Spranger, Männliche Jugend. In: Ders., Psychologie und Menschenbildung. Hg. von Walter Eisermann. Tübingen: Niemeyer 1974 (Gesammelte Schriften 4), S. 206–262, hier S. 231. – Spranger war mit v. Molo befreundet.
454
5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Dieser Gedanke einer nicht intellektuell oder psychisch individualistischen Bestimmung des einzelnen, sondern seiner Verankerung im ‘Leben’ und im ‘Seelischen’ des Volksganzen zeigt sich in unterschiedlichen, die Einzelgestalt nationalisierenden, biographischen Ansätzen und kulminiert schließlich in der völkischen Fassung.4 Für den biographischen Essayisten und völkischen Utopisten Moeller van den Bruck wird der einzelne Mensch zu einem ‘Zufall’ in der Geschichte, die letztlich vom bestimmenden Entwicklungsgang der Rasse zur Nation geprägt wird, in welcher der einzelne unbedeutend bleibt.5 Eine ähnliche Auffassung des rassisch gebundenen Individuums hat u. a. auch der deutsch schreibende Germanophile Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in seinem kulturgeschichtlichen Bestseller Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (zuerst 1898) dargelegt. Dabei übt Chamberlain Kritik an der Vorstellung, es gebe herausragende Einzelpersönlichkeiten (Heroen). Zwar beruhe die Personifikation der Geschichte und die ‘Heldenverehrung’ auf einem »gesunden Instinkt« des Menschen,6 und sie sei wesentlicher Bestandteil »germanischer Weltauffassung«.7 Doch letztlich müsse festgestellt werden, daß die Menschen kaum voneinander verschieden seien: »Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber sehr homogene Masse«, und die geschichtlichen Veränderungen würden entsprechend nicht so sehr von den bedeutenden Persönlichkeiten, sondern von einem »gemeinsamen, unpersönlichen Impuls« bewirkt.8 Helden seien dementsprechend nicht als extreme Erscheinungen der Individualität (und Asozialität) aufzufassen, sondern als »Quintessenz« der Rasse und Natur: »[Die] Individuen sind die tragenden Füsse, die bildenden Hände jedes Volkes […]. Hervorgebracht werden sie jedoch vom ganzen Körper; nur durch dessen Lebensthätigkeit können sie entstehen, nur an ihm und in ihm gewinnen sie Bedeutung.« 9 Chamberlain wendet sich gegen die materialistische Ansicht, dergemäß das Individuum lediglich als eine »logische Notwendigkeit« der geschicht———————— 4
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6 7 8 9
Vgl. hierzu auch die Hinweise zu einem Anschluß an Diltheys (besser Sprangers?) Lebensbegriff bei: Nobert Hopster, Literatur und »Leben« in der Ästhetik des Nationalsozialismus. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 99–115. »Der einzelne Mensch, ausgehend von den allgemeinen Verhältnissen, in die er hineingeboren, von der Lage der Welt, der Stellung der Völker und den Forderungen der Zeit, und nun seine eigenen Verhältnisse suchend, stürmt in sein Leben auf eigene Rechnung und eigene Gefahr, und wenn er untergeht, so trifft es nur ihn.« Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, S. 3. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Volksausgabe. 2. Bde. München: Bruckmann 91909, Bd. 1, S. 24 [23]. Ebd., S. 1069 [896]. Ebd., S. 24f. [23]. Ebd., S. 348 [294].
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 455
lichen Bedingungen erscheine.10 Das Individuum bleibt für ihn – parallel zu Moeller van den Brucks Begriff des ‘Zufalls’ – das »mysterium magnum des Daseins«.11 Als treibende Kraft der Nationalgeschichte wird auch von Moeller van den Bruck gar nicht mehr das handlungsmächtige Individuum angesehen, sondern »jene dunkle Macht, die aus dem einzelnen bedeutenden Menschen und Vertreter des Menschengeschlechts immer nur die Summe der verborgenen Triebe macht, aus denen sein Volk und seine Zeit, treibend im Unbewußten, sich zusammensetzt und mit denen es zum Bewußtsein drängend die Zukunft sucht«.12 Vor dem Hintergrund dieses nationalgeschichtlichen Bewußtseins versuchte sich Moeller van den Bruck als Seher eines kommenden ‘dritten Reichs’ (Das dritte Reich, 1923). In derselben Zielrichtung schrieb Wilhelm Schäfer gleichzeitig sein alttestamentarisch konzipiertes ‘Nationalepos’ Die dreizehn Bücher der deutschen Seele (1922), und ebenfalls im Banne dieses Denkens begrüßte Gottfried Benn die Machtübernahme der Nationalsozialisten als epochalen Sprung auf dem Weg zum neuen deutschen Menschen. Stets ist dies verbunden mit der Abwertung des Individuums und seiner Handlungsmächtigkeit zugunsten der Rasse und Nation. Wo das Individuum betont wird, ist dies Ausdruck der Rassenindividualität und Nation oder eines blinden, dem Menschen undurchschaubaren Wirkens des Schicksals: zugleich historischer Zufall und Ausdruck der völkischen Durchsetzungsund Veredelungsgeschichte. Einen Sonderfall gegenüber diesen nationalen, nationalistischen oder rassischen Instrumentalisierungen der historischen Persönlichkeiten stellt die soldatische Biographik auch zur Zeit des Zweiten Weltkrieges dar; in ihr dominieren nicht die Volksbezüge, sondern die soldatischen Tugenden, wie im abschließenden Abschnitt des Kapitels gezeigt wird.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 5.2.1. Luther, »der große Genius der Deutschen« (Ritter) Allein schon durch die mehrfache Bearbeitung, die das Werk im Lauf einer langjährigen Beschäftigung mit Luther und der veränderlichen Frage seiner Aktualität erfahren hat, verdient die Luther-Biographie Gerhard ———————— 10 11 12
Ebd., S. 226 [193]. Ebd., S. 226 [194]. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, S. 224.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Ritters in der Geschichte der historischen Biographik des 20. Jahrhunderts besondere Beachtung.13 Gleichwohl hat Ritters Biographie, die zwischen 1925 und 1981 in acht teils deutlich veränderten Auflagen publiziert und 1963 auch ins Englische übersetzt worden ist, bisher kaum das Interesse der Biographieforschung gefunden. Scheuer erwähnt Ritter, dessen Werke nicht genannt werden, lediglich als einen jener Historiker, die in der Zeit der Weimarer Republik »rechts bzw. gemäßigt rechts« standen.14 Zur Präzisierung dieser Einschätzung sei angemerkt: Ritter, zeitweilig Mitglied der DVP, dann des Deutschen Nationalvereins sah sich in der Weimarer Zeit als »zum rechten Flügel der Liberalen« gehörend. Er unterstützte aktiv die Wahl Hindenburgs und arbeitete an einer Sammlung der nationalen Rechten gegen die Hitleranhänger mit.15 Durchaus entsprechend seiner politischen Tätigkeit weist Ritters Biographik konservative und nationale Züge auf, die jedoch während seines Lebens bedeutenden Änderungen unterworfen sind. Die Luther-Biographie erschien zunächst als längerer biographischer Essay in der von Hans von Arnim (1859–1931) herausgegebenen Sammlung biographischer Essays über ‘Männer, die Geschichte machten’: Kämpfer. Großes Menschtum aller Zeiten (1923).16 Als eigenständige Buchpublikation veröffentlichte Ritter die knappe Lebensbeschreibung, die durchaus nicht das Gewand einer positivistischen Quellenstudie und historisch-realistischen Detailhäufung trägt, sondern auch in der Buchform den essayistischen Charakter wahrt, unter dem Titel: Luther. Gestalt und Symbol (1925). Die zweite, vermehrte und umgearbeitete Auflage erschien bereits drei Jahre später unter demselben Titel. Eine gewisse Anpassung an den Zeitgeschmack wird man in der Veränderung des Titels für die 1933 publizierte, in einigen Passagen deutlich bearbeitete ———————— 13
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Bislang hierzu nur Schwabes sorgfältige Einleitung zur Ausgabe der Briefe Ritters: Klaus Schwabe, Zur Einführung: Gerhard Ritter – Werk und Person. In: Gerhard Ritter, Ein politischer Historiker in seinen Briefen. Hg. von Klaus Schwabe u. Rolf Reichardt. Boppard am Rhein: H. Boldt Vlg. 1984 (Schriften des Bundesarchivs 33), S. 1–170. – Im Zusammenhang der nationalisierenden Biographik wäre ferner zu erwähnen: Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie. Berlin: DVA 1931. – Allgemein zu Ritter vgl. a.: Andreas Dorpalen, Historiography as History: The Work of Gerhard Ritter. In: The Journal of Modern History 34 (1962), S. 1–18. Scheuer, Biographie, S. 164. Aufschlußreich ist u.a. ein Brief an den DVP-Vorsitzenden Eduard Dingeldey vom 06.02.1933. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 42, S. 256–260. Gerhard Ritter, Martin Luther. In: Martin Luther. In: Hans v. Arnim (Hg.), Kämpfer. Großes Menschentum aller Zeiten. 4 Bde. Leipzig, Wien u. Berlin o. J. [1923], Bd. 2, S. 11108. Auch in der umfassenden Biographiensammlung von Peter Richard Rohden und Georg Ostrogorsky, »Menschen die Geschichte machten« (1931), war Ritter mit einem Luther-Essay vertreten. – Vgl.: Reinhard Hauf, Gerhard Ritter, Schriftenverzeichnis 1910– 1983. In: Ritter, Ein politischer Historiker, S. 775–805.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 457
preisgünstige ‘Volksausgabe’ erkennen dürfen: Luther der Deutsche.17 Noch in Kriegszeiten (1943) veröffentlichte Ritter, der in diesen Jahren Mitwirkender am Freiburger Konzil18 war und später in den Umkreis des 20. Juli gehörte, eine weitere, als dritte Auflage gezählte, erneut überarbeitete Ausgabe unter dem von nun an gültigen Titel: Luther. Gestalt und Tat.19 Wiederum bearbeitet erschien das Werk 1947, 1949, 1959 und in einer späten Wiederauflage noch 1981. Neben der sich über Jahrzehnte erstreckenden Beschäftigung mit Martin Luther in der Biographie publizierte der Historiker kleinere Studien, welche die intensive Beschäftigung mit der Gestalt und historischen Stellung des Reformators unterstreichen. Luther war nicht die einzige historische Persönlichkeit, der sich Ritter biographisch widmete. Eine ähnlich komplizierte Bearbeitungsgeschichte erlebte seine Biographie über den Freiherrn vom Stein (zuerst: Stein. Eine politische Biographie, 2 Bde. Stuttgart 1931). Weitere Gestalten, die sein Interesse fanden, waren etwa Friedrich der Große (Leipzig 1936 u.ö.)20 sowie in den 50er Jahren besonders Carl Goerdeler (Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954 u. ö.). Bereits die Wahl der Gegenstände, die in den Arbeiten der 20er und 30er Jahre eine nationalkonservativ kanonisierte Reihe historischer Persönlichkeiten wiedergibt, weist auf das Darstellungsinteresse des Historikers, der sein eigenes historisches Arbeiten stets auch als ein politisches Handeln begriffen hat. Die biographierten Persönlichkeiten werden in diesen Werken zu Symbolen einer nationalen Selbstfindung, deren Anfänge in der Reformationszeit aufgesucht werden. Gerhard Ritter, so heißt es in Dieter Riesenbergers Studie über die Biographie als historiographisches Problem, »geht es letztlich um das Bemühen einer Identitätsbegründung des ‘Deutschen Wesens’ bei Abgrenzung gegenüber anderen Völkern«.21 Ritter stand mit seinem Interesse an Luther nicht allein. Luther gehörte in der nationalen Geschichtsschreibung zum kanonisierten Bestand ———————— 17 18 19 20
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Gerhard Ritter, Luther der Deutsche. Ungekürzte billige Ausgabe. München: Bruckmann 1933. Konservativer Arbeitskreis, der seit 1938 über das Verhältnis von Kirche und Staat im totalitären Staat diskutierte. Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Tat. 3., neubearb. und verm. Aufl. München: Bruckmann 1943. Dabei handelt es sich nicht um eine Biographie, sondern um essayistisch umgearbeitete Vorträge, in denen Ritter Friedrich den Großen und den Siebenjährigen Krieg als Symbole »unseres nationalen Selbstbewußtseins« (S. 1) darstellt, um die Deutschen im Anschluß an Spengler, Hindenburg und an Hitlers Kranzlegung am Grab Friedrichs an ihre »Verpflichtung« auf die preußische Tradition zu erinnern. Gerhard Ritter, Friedrich der Große. Ein historisches Profil. Leipzig: Quelle & Meyer 1936. – In der bearbeiteten Nachkriegsausgabe hat Ritter diese problematische Tendenz seiner Schrift beschönigt und die Differenz zwischen friderizianischem Geist und falschem Nationalismus betont. Ders., Friedrich der Große. Ein historisches Profil. 3., überarb. Aufl. Heidelberg: Quelle &Meyer 1954. Riesenberger, Biographie, S. 35.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
derjenigen Persönlichkeiten, an denen man das Werden der Nation symbolisch darstellen zu können vermeinte. Die Lutherrezeption wurde zu einem nicht geringen Teil von diesem nationalen Interesse geprägt. Dies zeigt sich in den großen Lutherfeiern seit 1883 (besonders 1933) und in den diese begleitenden Reden und Essays (etwa von Heinrich von Treitschke, 1883) genauso wie in Luther-Debatten unter Historikern oder in den literarischen Darstellungen. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg gab es unter diesen Vorzeichen eine wahre ‘Luther-Renaissance’, die etwa durch die Arbeiten von Otto Scheel (1876–1954)22 und Karl Holl (1866– 1926)23 eingeleitet worden war, neben Ritters Biographie u. a. Heinrich Boehmers (1869–1927) Der junge Luther (1925) und selbst Lucien Febvres (1878–1956) Un destin: Martin Luther (1928) sowie literarische Bearbeitungen (etwa durch Walter von Molo, s. u.) einschloß.24 Dabei sind sowohl zahlreiche Arbeiten zur Fortsetzung der nationalen Luther-Interpretation erschienen als schließlich auch Neubewertungen Luthers durch katholische Reformationshistoriker.25 Wenngleich die ‘Luther-Renaissance’ aus leicht ersichtlichen Gründen hier nicht eingehender behandelt werden kann, sollte sich der Leser von Ritters Luther-Buch über diese allgemeinere Tendenz bewußt sein. Erst dann etwa wird Ritters bereits in der ersten Auflage formulierte Warnung verständlich, an Luther nur »mit einseitig nationaler Fragestellung« heranzugehen.26 Denn diese Warnung ist nicht als Ablehnung der nationalen Interpretation zu verstehen, sondern als Ergänzung der in seinen Augen legitimen nationalen Fragestellung um historische und religiöse Aspekte.27 Und eben diese nationale Interpretation ist es gewesen, die – wie Klaus Schwabe zu Recht feststellt – die günstige Aufnahme des Werkes in den Rezensionen bewirkte.28 ———————— 22 23 24
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Otto Scheel, Martin Luther. Tübingen 31921 (Vom Katholizismus zur Reformation 1). Karl Holl, Luther. Tübingen 1921 (23?) (Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte 1). Vgl. a.: Kurt-Victor Selge, Die Darstellung Luthers (bis zum Wormser Reichstag) in neueren Biographien und Reformationsgeschichten. In: Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen (Hgg.), Formen der Geschichtsschreibung. München: dtv 1982 (Beiträge zur Historik 4), S. 267– 289; ferner: Hartmut Laufhütte, Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Passau: Passavia Universitätsverlag 1984 (Passauer Universitätsreden 6). Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland. Erster Band. Voraussetzungen – Aufbruch – Erste Entscheidung. Freiburg im Br.: Herder 1939 (Bd. 2, 1940). Ritter, Luther 1925, S. 14. Dies zeigt insbesondere der Vergleich mit anderen, ebenfalls popularen biographischen Beiträgen zu Luther, welche eine Nationalisierung Luthers vermeiden. So hat Friedrich Gogarten in seinem Beitrag zur Kollektivbiographie »Die Großen Deutschen« jeden Hinweis auf eine nationalgeschichtliche Stellung Luthers ausgespart – und dies, obwohl die Herausgeber ausdrücklich eine Vergegenwärtigung nationaler Vorbildgestalten anstrebten: Friedrich Gogarten, Martin Luther. In: Andreas u. von Scholz, Die Großen Deutschen, Bd. 1 (1935), S. 419–433. Schwabe, Zur Einführung, S. 26f.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 459
Wie nun geht Ritter in seinem Luther-Buch vor? Welche Stellung bezieht er im Hinblick auf die Konzeption des ‘Helden’ Luther? Zunächst fällt die essayistische Konzeption des Buches ins Auge. Es fehlen Quellennachweise oder die Diskussion der Forschungsliteratur; es unterbleibt die biographische Faktenhäufung und die Darbietung der biographischen Details. Die Quellenarbeit des Historikers wird nicht explizit durchsichtig gemacht; sie ist gleichwohl implizit erkennbar in der Auswahl nicht kanonisierter Zitate besonders aus Luthers Briefen.29 Die Nacherzählung des Lebenslaufes wird von Ritter zurückgestellt. Vielmehr bildet die Chronologie des Lebenslaufes das lockere Gerüst 30 für den Versuch, die historische Bedeutung Luthers im Kontext seiner Zeit gültig zu bestimmen. Entsprechend herrscht ein argumentativer, auf erzählerische Elemente wie der Gesprächs- und Gedankenwiedergabe verzichtender Darbietungsgestus vor. Dabei bedient sich Ritter nicht selten rhetorischer Beglaubigungs- und Wahrheitsformeln, und er unterstreicht das Ergebnis seiner Lutherinterpretation mit Wendungen wie »in der Tat«, »in Wahrheit« oder »es ist wahr«.31 Getragen wird die Erzählrede der Biographie von der die Gegenwart umklammernden Wir-Rede des Historikers und Narrators. Allerdings entzieht sich Ritter der Gefahr, wie von Treitschke durch eine Überbetonung der Aktualität Luthers und seiner Funktion für die Gegenwart die Geschichtlichkeit des Gegenstandes zu verdecken.32 Ausdrücklich warnt er vor dem Versuch einer jeden mächtigen Gegenwart, der Geschichte ihren jeweiligen Stempel aufzudrücken. Aber auch eskapistischen Biographien, die in den Helden der Vergangenheit einen Trost für die unheroische Gegenwart suchen, erteilt er eine Absage: »Die Geschichte ist nicht dazu da, einem schwachen Geschlecht gleichsam als Ersatz zu dienen für mangelnde Schöpferkraft.«33 Obwohl sich hier die ———————— 29 30 31
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Hierauf weist Klaus Schwabe hin: Schwabe, Zur Einführung, S. 23. Entsprechend existieren keine Kapitelüberschriften, aber ein Inhaltsverzeichnis, welches Zeiträume und Ereignisse ausweist, nicht aber eine Persönlichkeitsentwicklung. Nur einige Stellennachweise: »in der Tat« (Ritter, Luther 1925, u.a. S. 14, 69, 75, 87, 127), »in Wahrheit« (ebd., S. 122), »es ist wahr« (ebd., S. 127). Diese Wendungen leiten etwa Hinweise auf die zwingende Notwendigkeit des zuvor Ausgeführten ein nach der Art: Schilderung eines Handelns oder einer Verhaltensweise, Fazit: In der Tat nur so kann sich ein Mensch in dieser Situation verhalten. Allerdings trifft sich Ritter mit v. Treitschke in dem Wunsch, durch die biographische Arbeit nationale Identifikationsfiguren über alle Grenzen hinweg zu schaffen. Dahinter steht der Glaube an die umfassende Bedeutung und Funktion des Nationalen als Einheit jenseits der politischen Differenzen etc. So schreibt Ritter über die mit seiner Biographie »Stein« verbundenen, allerdings enttäuschten Hoffnungen an den akademischen Lehrer Hermann Oncken: »[…] ich hätte gedacht, daß die Gestalt Steins nun endlich einmal eine nationale Gestalt hätte sein können, die wirklich allen Deutschen ohne Parteiunterschied gleich nahe gebracht werden könnte.« Gerhard Ritter, Brief an Hermann Oncken, 26.06.1931. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 31, S. 234–241, hier S. 235. Ritter, Luther 1925, S. 8.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Zurückhaltung des Historikers zeigt, der sich der historischen Distanz und der Gefahren der Idealisierung von Geschichte bewußt ist, läßt Ritter an der Gegenwartsrelevanz seiner eigenen Interpretation Luthers kaum Zweifel. Das Anliegen der Biographie ist es, in Luther »die Geschichte unseres Volkes und damit uns selber besser zu verstehen«,34 denn Luther wird zur Symbolgestalt des modernen deutschen Nationalcharakters;35 er ist der »Ahnherr deutschen Wesens«,36 der »Prophet der Deutschen«.37 Und: »Er ist wir selber: der ewige Deutsche.«38 Ritter entspricht seiner Absicht, Luther als symbolische Gestalt einem breiteren Publikum vorzuführen, indem er etwa von den biographischen Details zugunsten des Typischen absieht oder – in den Worten einer Rezensentin – »das äußere Erleben« zugunsten des »inneren« zurückstellt, in der Seele Luthers die ‘deutsche Seele’ sucht.39 Zusätzlich macht der Biograph deutlich, daß es sich bei dem Symbol Luther nicht um eine exemplarische Gestalt handelt, die stellvertretend für viele stünde, sondern um eine herausgehobene Persönlichkeit, um einen geschichtlichen Heros, der entsprechend von der Normalität des Seins geschieden ist. Mit einem beiläufigen Seitenhieb auf die modernen biographischen Konzeptionen weist Ritter in diesem Sinn etwa darauf hin, daß Luthers Handlungsantrieb weder im Sexualtrieb – Zölibatsbruch – noch in Seelenkämpfen zu suchen sei. Nicht die psychophysische Konstitution des geschichtlichen Individuums sei ausschlaggebend gewesen: »Das alles liegt tief unter ihm.« Vielmehr sei sein Handeln von einem vollkommenen Absehen vom eigenen Ich bestimmt und durch das »sittlich-religiöse Problem als solches« geleitet gewesen.40 Ritters Lutherbild weist traditionelle Züge des Heroischen auf. Luther wird geleitet durch »das Feuer der zentralen, ihn beseelenden Idee«.41 Er ist eine polarisierende Gestalt, ein ‘Kämpfer’ gegen fast unüberwindliche ———————— 34 35
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Ebd., S. 9 In ähnlicher Weise hat Gerhard Ritter Zwingli zum Symbol des Deutschen in der Schweiz stilisiert: »Unter den ‘Großen Deutschen’ hat Huldreich Zwingli seinen Platz als Inbegriff und höchste geschichtliche Steigerung alles dessen, was wir als kernig deutsche Stammesart an unserem deutschschweizerischen Brudervolk jenseits der Reichsgrenzen wiedererkennen und lieben« (S. 39). Ritter betont altdeutschen Freiheitssinn und die Rauflust der Reißläufer als besondere nationale Charaktermerkmale; Zwinglis militärische Kampfbereitschaft bis zum Präventivkrieg wird trotz einer sonst durchaus gemischten Sicht auf Zwingli positiv bewertet. Gerhard Ritter, Huldreich Zwingli. 1484–1531. In: Andreas u. von Scholz, Die Großen Deutschen, Bd. 5 (1937), S. 39–54. Ritter, Luther 1925, S. 15. Ebd., S. 92. Ebd., S. 151. Ermentrude v. Ranke-Kiel, Buchanzeigen. Ritters »Luther« und Brandis »Deutsche Reformation«. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 4 (1928), S. 103–105, hier S. 103. Ritter, Luther 1925, S. 22. Ebd., S. 63.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 461
Widerstände und rationale Vorbehalte. Luthers Charakter erinnert den Biographen »an das Bild der Recken unserer altdeutschen Sagen«;42 der Reformator erscheint in seinem Eifer maßlos, hitzköpfig und kraftvoll.43 Dadurch ist er von der Normalität geschieden, kann nicht mit der moralischen Elle gemessen werden, an der ein integrer Staatsmann zu messen wäre. Vielmehr wird dem glühenden Eiferer auch eine gewisse Einseitigkeit – besonders in den theologischen Streitfragen, deren Inhalt und Lösung dem Biographen letztlich nicht relevant erscheint – zugestanden:44 Nur die großen Einseitigen treiben den Gang der Weltgeschichte voran; trotz aller Einseitigkeit ist ihr Verständnis für den tiefsten Sinn der geistigen Mächte, in deren Umkreis ihr Leben sich auswirkt, doch weit kongenialer, als das des bloßen Intellektes.
Deutlich stellt hier der Heroismus auch eine Kritik der vernunftethischen Sicht auf das Individuum dar. Der Held ist geradezu die Verkörperung eines heroisch-antiindividualistischen Geschichtskonzeptes, da er seine Aufgabe nicht aus der vernünftigen Erwägung zieht, sondern aus der Übereinstimmung mit dem der vernünftigen Normalität unzugänglichen Gang der Geschichte. Entsprechend ist Luther charakterisiert nicht durch seine intellektuellen Fähigkeiten, sondern durch die »Genialität des Gemütes«,45 nicht durch seine theologische Überlegung, sondern durch seine Gläubigkeit. Dadurch kann er frei »von aller Lehrtradition«,46 »aus geheimnisvollen Tiefen ursprünglichen Menschtums«,47 die religiösen Inhalte neu schöpfen. Da er ‘unverbildet’ sei, sei er »imstande, die ewigursprünglichen Geheimnisse des Göttlichen auf ursprünglich-eigene Art neu zu erfassen«.48 Luthers ganzes Denken und Wollen stammt aus der »Kraft des Gemütes«:49 nicht eigentlich aus der Sphäre des Intellekts oder des moralischen Willens, sondern aus den tiefsten Abgründen menschlichen Bewußtseins überhaupt: aus jenen Bezirken des Geistes, in denen das endliche Individuum sich aufzulösen scheint im Unendlichen, in denen die Grenzen des Ich sich erweitern zum Absoluten.
Die Nähe Ritters zu einem nationalistischen, antirationalistischen und antiindividualistischen zivilisationskritischen Diskurs, wie er in den 20er Jahren nicht allein in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewann, ist unverkennbar. Die Kritik am Individuum, das sich in seiner Vereinzelung ———————— 42 43 44 45 46 47 48 49
Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32. Ebd., S. 24. Ebd., S. 32. Ebd., S. 24. Ebd., S. 147.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
und »Selbstsucht«50 von seiner natürlichen (und göttlichen) Anlage (und Bestimmung) entfremdet hat, gehörte zu den Schlagworten der zeitgenössischen Intellektuellendebatten. In der Konzeption des historischen Helden, der geschichtlichen Größe, zeigt sich dies darin, daß in spezifischer Weise die Verschmelzung von individuellem Handeln und allgemeiner Geschichtsentwicklung betont wird.51 (Ritter beruft sich hier in je verkürzter Interpretation eklektisch auf Hegel und Carlyle.)52 Das positive Gegenbild zur kritisierten Rationalität und Zivilisation bildet dabei das Bild der Nation. Der wichtigste Punkt in dieser Geschichtssicht ist, daß die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten und besonders der deutschen Nation nicht als eine Folge staatspolitischer Entscheidungen und Notwendigkeiten erscheint, sondern als Selbstverwirklichung eines weitgehend ahistorischen (letztlich neuzeitlichen) Nationalcharakters. Die Nation wird als eine natürliche Anlage zur Volksgemeinschaft aufgefaßt, die durch zivilisatorische Überformung und rationalistisch-individualistische Verdrängung unterdrückt worden sei, sich aber in einzelnen Phasen der Geschichte immer wieder Durchbruch verschaffe. Luther ist für Ritter das frühe, das erste greifbare Symbol der Entwicklung eines neuzeitlichen Nationalcharakters der Deutschen. Der Reformator habe für ‘seine’ Nation53 gehandelt und sei geleitet worden durch »nationales Empfinden«.54 Aus den Tiefen einer unverbildeten Verbundenheit mit dem Allgemeinen der Nation schöpfe der Heros die Nationalisierung etwa der Religion. Luther erscheint als der »Prophet der Deutschen«, der die ‘orientalischen’ Ursprünge des Christentums »mit […] Naivität und Kraft der Anschauung in deutsches Gewand zu kleiden, in deutsches Empfinden zu übersetzen versteht«.55 Ohne daß er die Konzeption des symbolischen Helden der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes aufgegeben hätte, setzt Ritter 1943 in seiner umgearbeiteten Luther-Biographie etwas andere Zeichen. ———————— 50
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»Denn was er [Luther] als Ur- und Erbsünde seiner Menschlichkeit empfand, war gar nichts Faßbares für das moralische Empfinden des Durchschnittsmenschen – es war im Grunde nichts anderes als die rein geistige Selbstbehauptung der Kreatur vor dem Allmächtigen, die er sich als ‘Selbstsucht’ ethisch zu deuten versuchte, war das verzweifelte Sichwehren des natürlichen Ich gegen das Untergehen im unendlichen Willen Gottes.« Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 69, 75. Vgl. ebd., S. 148ff. – Die Auseinandersetzung mit Carlyle, zu dem Ritter eine distanzierte Haltung einnahm, reicht in die Studentenzeiten zurück und war Gegenstand seiner Examensarbeit. Vgl.: Gerhard Ritter, Brief an Hermann Witte, 21.06.1912. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 4, S. 187–190, ferner: Gerhard Ritter, Die aristokratische Anschauung Thomas Carlyles von der Gesellschaft und vom Staate. In: Konservative Monatsschrift (1913), Nr. 70, S. 406–421. Vgl. u.a. Ritter, Luther 1925, S. 66. Ebd., S. 70. Ebd., S. 92f.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 463
Weiterhin sind es die »großen Männer«, in denen sich die Kräfte der Nation zeigen, aber Ritter geht noch deutlicher auf Distanz zu einer ideologischen Rationalismuskritik: »Denn was auch immer die geheimnisvolle Erbmasse des Blutes, der Rasse, der Stammesgemeinschaft, des Volkes an dumpf empfundenen Möglichkeiten in sich bergen mag: zur Tat, zur Geschichte wird es doch erst da, wo der Geist obsiegt«.56 Das ist bei Ritter kein vollständig neuer Aspekt, aber doch eine deutliche Akzentverschiebung, die auffällig ist. Eine völkische Lutherbiographie hat Ritter nie geschrieben – 1943 weniger denn zuvor. Die dennoch zunächst bestehende ideologische Nähe zu völkischen Konzepten in seiner nationalistischen Lutherbiographik wird bereits 1943 in manchen Andeutungen relativiert. Ritter hat sich erst spät ausdrücklich von der Überbetonung Luthers als eines nationalen Heros distanziert.57 Allerdings wird gerade bei der Durchsicht seines Briefwechsels mit Politikern und Gelehrten deutlich, daß er bereits Ende der 30er Jahre eine veränderte Haltung einnahm. Die wichtigste politische Erfahrung, die diesen Wandel verursachte, war die Erfahrung des aufkommenden ‘Hitlerismus’, von dem sich der nationalkonservative Historiker distanzierte. Leitfiguren seiner nationalen Gesinnung waren die Nationalliberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Bismarck, den er bereits in seiner Lutherbiographie zur Herstellung einer Reihe nationaler Ahnen hervorgehoben hatte. Dort hieß es 1925 bis 1943 im Anschluß an die geläufige Parallelisierung dieser beiden ‘großen Deutschen’ unverändert über den Reformator:58 Wer wahrhaft Großes erreichen will, muß sein Ohr verschließen können auch gegen berechtigte Bedenken der Neunmal-Klugen. Martin Luther besaß diese seltene Gabe des geschichtlichen Helden in einem Maße, wie sie in der deutschen Geschichte nur einmal noch ebenso deutlich erkennbar hervorgetreten ist: in Otto von Bismarcks ihm vielfach kongenialer Willensnatur.
Ritter verteidigte Bismarcks Politik und auch die sogenannte ‘kleindeutsche’ Lösung eines deutschen Nationalstaats ohne Österreich noch zu einer Zeit, da die völkische Agitation den nationalistischen Diskurs bereits auf die großdeutsche Ausweitung des Reiches einschwor. Deutlich wird dies etwa in der Auseinandersetzung mit dem österreichischen und westfälischen Historiker Heinrich von S&rbik (1878–1951), der Ritters Stein-
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Ritter, Luther 1943, S. 9. »Der ursprüngliche Entwurf des Buches, bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entstanden, hob Luthers Bedeutung als nationaler Heros, als zentrale Gestalt des deutschen Geisteslebens mit einer Energie hervor, die ich heute als Überbetonung empfinde.« Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Tat. 6., überarb. Aufl. München: Bruckmann 1959, S.277. Ritter, Luther 1925, S. 64, vgl. a.: S. 65, S. 127, S. 159.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Biographie in einer Rezension scharf kritisierte. In einem Brief an von S&rbik hielt Ritter fest:59 Ich teile […] nicht die Ansicht derer, die meinen, daß heute der Primat des Völkischen über die Staatsräson im Bismarckischen Sinne zu proklamieren sei. Ich sehe vielmehr in dieser Propaganda, die aus Österreich in der Form des Hitlerismus (der sich aus den Verhältnissen des Habsburgerstaates vor dem Kriege durchaus erklären und begreifen läßt) zu uns herübergekommen ist, eine ganz große Gefahr für unsere Zukunft, der ich mich mit allen Kräften, das heißt mit allen meinen Schriften, entgegenwerfe. Auch der Stein dient dieser politischen Predigt. In diesem Sinne, im Sinn der Verteidigung der Staatsräson gegen unklare Erweichungen der Nachkriegszeit, gegen völkischen Chauvinismus und Massendemokratie, halte ich an dem Erbe Bismarcks fest – aber nur in diesem Sinn.
Ritter markiert hier seine demokratiekritische nationalkonservativ-preußische Haltung, die er von einer völkischen Argumentation und großdeutschen Ideen abgrenzt. Für ihn existiert keine Einheit zwischen rassischer Abstammung und staatspolitischer Realität, und sein Nationalismus beruht entsprechend nicht auf einer völkischen Grundlage. Eine gewisse innere Spannung dieser Anschauung läßt sich nicht übersehen, wenn einerseits in der Heldenkonzeption ein irrational wirkender Nationalcharakter vorausgesetzt wird und andererseits Ritter einer pragmatischen Nationalstaatsidee des späten 19. Jahrhunderts das Wort redet. Die politische Realität führte dazu, daß sich Ritter immer stärker von der zunächst betonten Bedeutung des Nationalen in der Geschichte abwendete. Diese politischen Auseinandersetzungen erforderten gleichzeitig, daß Ritter seine Lutherdeutung gegen eine völkische Interpretierbarkeit stärker abgrenzte. Der völkisch lesbare nationale Heros der Frühfassungen wird zurückgedrängt zugunsten einer stärkeren Betonung der Gläubigkeit Luthers. Auch hier ist es die Auseinandersetzung mit einem Kollegen, die seine Stellungnahme erzwingt. Ritter sah sich bei dem 8. Internationalen Historikerkongreß in Zürich 1938 veranlaßt, die nationalistische Lutherinterpretation des Kirchenhistorikers Otto Scheel zu relativieren. Scheel hatte in seiner Sicht Luther völkisch zurechtgestutzt: »da wurde Luther so braun gemalt, daß es nicht auszuhalten war«.60 Luther wird demgegenüber von Ritter in zunehmendem Maß nicht mehr als nationaler Heros interpretiert. Gegenüber Scheel wehrt er sich gegen die Deutung des Reformators als eines »völkischen Revolutionärs«.61 Immer stärker wandelt sich Ritters Interesse an Luther von einer nationalen Fragestellung zu ———————— 59 60
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Gerhard Ritter, Brief an Heinrich von S&rbik, 25.09.1932. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 38, S. 249–252, hier S. 251. Vgl. hierzu die ausführliche Anmerkung der Herausgeber zu einem Brief an Hermann Witte vom 07.09.1938 in: Ritter, Ein politischer Historiker, S. 332f., (dort auch das nicht näher nachgewiesene Ritter-Zitat). Gerhard Ritter, Brief an Otto Scheel, 25.09.1938. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 83, S. 334–336, hier S. 335.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 465
einer religiösen als »Zeuge[n] der Wirklichkeit Gottes in einer Welt, die von der Gottesferne, vom nackten Nihilismus auf das schwerste bedroht ist«.62 Die Diskussion mit Scheel betraf allerdings vor allem eine Frage nach der historischen Größe überhaupt, nämlich die Frage, ob Luther »die großen politischen Helden als Träger der Weltgeschichte« ansehe.63 Ritter erkannte in einer solchen Interpretation wohl die Gefahr einer Rechtfertigung der rein politischen Macht und widersprach, indem er auf die göttlichen Wurzeln der »homines heroici« hinwies. Nach dem Kongreß schrieb Ritter an Scheel an die dortige Diskussion anschließend:64 Der ganze Sinn jener Stelle des Psalmenkommentars ist ja doch offenbar zu zeigen, daß die großen Dinge in der Welt nicht geschehen, erklügelt nach den ärmlichen Regeln menschlichen Verstandes, sondern durch große Eingebungen, die Gott den hominis heroici ins Herz senkt – freilich auch den heidnischen, die um diesen Ursprung nicht immer wissen und daher gar leicht zu übermütigen Tyrannen werden, ohne klares Bewußtsein von den Grenzen ihrer Macht.
Letztlich wird deutlich, daß Ritter, der hier in der Lutherdeutung die eigene lutherisch fundierte Geschichtssicht anklingen läßt, eine grundsätzlich konservative und vernunftskeptische Haltung bewahrt, daß er sie aber auf eine andere Grundlage stellt. Hat er zunächst das der Vernunft unzugängliche Wirken eines sich entwickelnden Nationalcharakters hervorgehoben, stand nun stärker das verborgene Wirken Gottes im Vordergrund. Es verändert sich jedoch nicht nur die hinter dem äußeren Erscheinungsbild verborgene Kraft der Geschichte, sondern das Geschichtsbild überhaupt. Ritter übernahm in den 20er Jahren noch – wenngleich nicht unkritisch – eine Geschichtsauffassung, die historistisch einerseits jede Erscheinung für sich gelten ließ und keine Teleologie zuließ, andererseits aber die Verwirklichung göttlichen Willens oder anderer vorgeschichtlicher Wirkungskräfte (etwa der Nation) in den verschiedensten historischen Augenblicken erkannte. Ende der 30er Jahre betonte Ritter dagegen zunehmend einerseits die Konstanz moralischer Werte und Normen, andererseits wuchs seine Skepsis gegenüber einer ‘harmonisierenden’ Geschichtssicht, die in jeder historischen Erscheinung letztlich das dunkle Wirken Gottes positiv bestätigen wollte. Ein weiteres Mal zeigt sich der ———————— 62 63 64
Gerhard Ritter, Brief an Roland Bainton, 15.06.1947. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 144, S. 427f., hier S. 428. Gerhard Ritter, Brief an Hermann Witte vom 07.09.1938. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 81, S. 332. Gerhard Ritter, Brief an Otto Scheel, 10.09.1938. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 82, S. 333f., hier S. 333. – Ritter markiert hier in einer erstaunlichen Offenheit einen Grundgedanken seiner lutherisch-protestantisch geprägten Geschichts- und Staatssicht, die ihn schließlich in die nationalkonservative, protestantische Opposition des Freiburger Kreises führte.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Wandel in der gelehrten Auseinandersetzung in seinem Briefwechsel mit dem Historismusverteidiger Friedrich Meinecke. Dessen ‘goethescher’ Geschichtsauffassung setzte er eine ‘lutherische’ entgegen:65 Sie halten sich an den Glauben Goethes und des deutschen Idealismus, daß das »Göttliche« und »Ewige« in den wirklich großen geschichtlichen Erscheinungen, »in jedem geisterfüllten Momente und jeder geisterfüllten Gestaltung des geschichtlichen Werdestromes« Wirklichkeit geworden sei und noch immer Wirklichkeit werden könne und daß so gerade »das Flüchtigste des Flüchtigen, der Augenblick zum Träger von Ewigkeitswerten« werden könne.
Während der Historismus Meineckes zwar auf der Relativität sämtlicher geschichtlicher Erscheinungen, selbst der moralischen und sozialen Normen ruhte, aber dahinter immer noch das Durchdringen der göttlichen Ordnung erkennen wollte, lehnte Ritter diese Harmonisierung vollständig ab. Für ihn mußte es in der Geschichte darum gehen, »das bloß Relative jeder historischen Erscheinung aufzudecken«: »Für mich gibt es im strengen und vollen Sinn des Wortes nichts Ewiges und Gottähnliches im Bereich des geschichtlichen Lebens, soweit dieses geschichtliche Leben sich dem Blick des kritischen Historikers darbietet.«66 Die Geschichte erscheint gegenüber der harmonisierenden Auffassung einer (letztlich göttlich) geordneten Welt als Schauplatz eines Kampfes dämonischer Mächte, als Bewährungsprobe für den einzelnen, der sich trotz allem und ohne den Schleier der Illusion zu bewähren hat:67 Wenn die geschichtliche Welt lutherisch gesprochen, wirklich ein beständiger Kampf ist zwischen Gott und dem Satan, ein Kampf, der nie ein Ende nimmt (und das ist sie nach meiner festen, täglich sich tiefer befestigenden Überzeugung), dann hat auch der Historiker auf seinem Platz diesen Kampf mitzukämpfen. […] – mit einem Wort: er sucht auch an seinem Teil den Machtbereich des Satans einzudämmen. Aber er hält sich frei von der Illusion, als gäbe es eine wirkliche letzte Zulänglichkeit, eine wirkliche »Gottähnlichkeit« und »Ewigkeit« im Bereich des Menschlichen […]
Diese Anschauung, die im Briefwechsel der Kriegsjahre sich immer weiter verfestigte, führt zwangsläufig zu einer gewandelten Sicht historischer Größe. Das noch in der Carlyle-Tradition stehende Bild von den historischen Helden, welche die verborgenen Kräfte der Nation, den verborgenen, ewigen Willen Gottes in der Geschichte immer erneut in Kraft setzen, ist hiermit nicht mehr vereinbar. Die Geschichte ist nicht mehr vorstellbar als »Galerie begeisternder Heldenbilder«, sondern erscheint als »ein unendlich tragisches Geschehen«, ein ewiger Kampf, in dem keine ———————— 65 66 67
Gerhard Ritter, Brief an Friedrich Meinecke, 01.01.1940. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 93, S. 345–349, hier S. 346. Ebd., S. 347. Ebd., S. 349. – Vgl. a.: Ders., Brief an Friedrich Meinecke, 18.02.1943. In: Ritter, Ein politischer Historiker, Nr. 115, S. 380f.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 467
absoluten Werte sich durchsetzen, sondern dem nur durch Pflichterfüllung und dauernde Anstrengung Momente der Ordnung abgerungen werden können. Geschichtliche Größe definiert Ritter im Januar 1943 in einem Brief an seinen Schüler Gottfried Daiber nun als68 das trotzige Dennoch des Mannes, der sich seiner Pflicht bewußt ist, dem großen Behemot, wie Luther sagt, zwischen die Zähne zu treten und dem Dämon trotz allem ein Stück vernünftiger Weltordnung abzuringen. Daß es immer wieder gelungen ist in der Geschichte, mitten im Chaos kämpfender Gewalten eine wenigstens zeitweise doch echte, vernünftige und wahrhaftige Rechts- und Friedensordnung herzustellen, das ist der ermutigende Eindruck, den die Betrachtung große Männer in der Geschichte doch auch immer wieder in dem Betrachter auszulösen vermag.
5.2.2. ‘Verbäuerlichung’ der Helden (von Molo über Schiller und Luther) Walter von Molo, Erzähler, Essayist, Biograph und Mitglied der preußischen Akademie, stand mit seiner Konzeption der Lebensbeschreibung herausragender geschichtlicher Gestalten im Schnittpunkt zweier unterschiedlicher Diskurse. Zum einen partizipierte er an der Diskussion um nationale Identifikationsfiguren; zum anderen aber gibt es weite Berührungspunkte zur modernen Biographik, die bereits in der zeitgenössischen Kritik hervorgehoben worden sind. Einer der Kritiker der modernen Biographik, Leo Löwenthal, zählte zu deren Autoren neben Stefan Zweig und Emil Ludwig auch die deutschnationalen Autoren wie Heinrich Bauer (1896–1975, Oliver Cromwell, 1937) oder Walter von Molo.69 Der wohl bekannteste Vertreter dieser Richtung moderner Biographik ist sicher von Molo, obgleich sein Werk heute als weitgehend vergessen zu gelten hat und sein Name allenfalls durch seinen Briefwechsel mit Thomas Mann geläufig ist. Helmut Scheuer erwähnt von Molo in seiner Habilitationsschrift Biographie nur beiläufig; eine literaturwissenschaftliche Erforschung des Werkes von Walter von Molo im Kontext der literarischen Entwicklungen der Weimarer Republik ist praktisch nicht existent.70 In den 20er Jahren war dies anders. Walter von Molo war eine der zentralen Gestalten der Preußischen Akademie der Künste und ein außerordentlich populärer Vielschreiber, dessen Erzählungen und Romane in zahlreichen Auflagen erschienen, dessen Person und Werk bereits früh zum ———————— 68 69 70
Gerhard Ritter, Brief an Gottfried Daiber, 08.01.1943. Ausführlich zitiert in: Ritter, Ein politischer Historiker, S. 380f. – Vgl. auch: Ritter, Luther 1943, S. 252f. Löwenthal, Die biographische Mode. Vgl. aber: Tadeusz Nomowicz, Zur Thematisierung der Führergestalt in den biographisch-historische Romanen Walter von Molos. In: Hubert Orl@owski u. Günter Hartung (Hgg.), Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Posen: UAM 1992 (Seria Filologia German@ska 36), S. 73–91.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Gegenstand monographischer Darstellungen wurde 71 und dessen Dichtungen selbst in Werkauswahlen Verbreitung fand.72 Unter den zahlreichen biographischen Werken sind besonders der frühe vierteilige Schiller-Roman (1912–16), der historische Roman Mensch Luther (1928) und die Romanbiographie über Friedrich List, Ein Deutscher ohne Deutschland (1931), erwähnenswert. Andere biographische Texte wie seine Romane über Friedrich und Luise von Preußen (Teil 1 und 2 der Trilogie Ein Volk wacht auf, 1918–21), über Kleist (Geschichte einer Seele, 1938) und Prinz Eugen (Eugenio v. Savoy, 1936) sollen hier nur dem Titel nach genannt sein. Von Molo steht deutlich noch in der Tradition historisch-realistischen Erzählens, der er freilich eigenwillige – teils expressionistisch anmutende – Stilelemente zufügt. Diese Stilexperimente, die ihn für Rezensenten als herausragenden Erzähler der ‘Moderne’ erscheinen ließen73 und die mehrfach betonte Nähe seiner Technik der szenischen Handlungszuspitzung zum Film,74 weichen in späteren Texten einem konservativ-realistischen Erzählen.75 Ein wichtiges Kennzeichen der modernen Biographie: die narrative Präsenz eines wertenden und analysierenden Biographen im Text, findet sich in von Molos Biographien nicht in gleicher Deutlichkeit. Sie sind stärker vom Muster des Romans geprägt, in welchem die Sachinformationen narrativ in die Handlungsverläufe oder aber in die Gespräche der Handelnden eingebettet sind. Die Elemente der modernen Biographik, die sich in seinen Romanen finden, sind vor allem die Vermenschlichung der außerordentlichen historischen Gestalt und eine gewisse Verweigerung gegenüber deren tradierter Idealisierung. Walter von Molos Schiller-Roman spielt in der germanistischen Forschung eine kaum mehr marginal zu nennende Rolle, und wer die vier Bände des zuerst zwischen 1912 und 1916 erschienenen Romans76 durchliest, wird ———————— 71 72 73 74
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Vgl.: Elster, Walter von Molo; Franz Camillo Munck, Walter von Molo. Der Dichter und sein Leben. Leipzig: M. Koch 1924 (Vom Herzschlag meines Volkes 2). Walter v. Molo, Der Mensch und das Werk. Ein Früchtekranz aus Molos Werken. Leipzig: Max Koch 1923 (Vom Herzschlag meines Volkes 1). Vgl.: Wolfgang Schumann, Ein Schillerroman. In: Das literarische Echo 15 (1912/13), S. 601–605. Wolfgang von Einsiedel, Molo, Walter von: Mensch Luther. In: Die schöne Literatur 30 (1929), S. 362; von »Kinotechnik« spricht noch: Leo Krell u. Leonhard Fiedler, Deutsche Literaturgeschichte. Bamberg: Buchners Verlag 161976, S. 342. Klaus Schröter etwa stellt v. Molos historische Werke in eine Linie mit Albert Eil Brachvogels Romanen. Klaus Schröter, Der historische Roman. Zur Kritik seiner spätbürgerlichen Erscheinung. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hgg.), Exil und Emigration. Third Wisconsin Workshop. Frankfurt/M.: Athenäum 1972 (Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft 17), S. 111–162, hier S. 116. Walter von Molo, Ums Menschentum. Ein Schiller-Roman. Erster Teil. Berlin u. Leipzig: Schuster & Loeffler 1912; ders., Im Titanenkampf. Ein Schiller-Roman. Zweiter Teil. Ber-
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 469
dieses Schicksal vielleicht auch nicht ungerecht finden. Dennoch könnten einige Gesichtspunkte durchaus das Interesse gerade für diesen biographischen Roman wecken. Zum einen handelt es sich um eine der populärsten Schiller-Darstellungen ihrer Zeit. Der Roman wurde rasch verkauft und erneut aufgelegt, erlebte nach der Erstausgabe eine sehr deutlich überarbeitete und wohl preisgünstigere Volksausgabe,77 wurde in der ebenfalls erfolgreichen frühen Ausgabe der Werke von Molos (1924)78 sowie in Buchgemeinschaftsausgaben nachgedruckt, 1932 erneut und nach dem Titelblatt »endgültig« bearbeitet und erschien zuletzt noch 1955.79 Die Auflagenhöhe läßt sich angesichts der vielfältigen Ausgaben kaum ermitteln. Bis 1920 weist eine Verlagsanzeige eine Gesamtauflage von 38’000 Exemplaren aus. Spätere Ausgaben weisen auf eine Gesamtauflage von wenigstens 125’000 Exemplaren bis 1942 hin,80 und insgesamt zeigt sich, daß es sich um einen Bestund Longseller im Verlagsgeschäft handelte. Zum anderen interessieren Bezüge zwischen Walter von Molos monumentalem Roman und Thomas Manns zuerst 1905 im Simplicissimus gedruckter Schiller-Erzählung Schwere Stunde, denn ebenso wie bei Thomas Mann wird auch bei Walter von Molo das Ringen mit dem Wallenstein-Stoff und dessen Bewältigung zum zentralen biographischen Kulminationspunkt, welchen beide Autoren als nächtliche Szene im Arbeitszimmer im inneren Monolog respektive als erlebte Rede gestalten.81 Thomas Mann zeigt in seiner historischen Miniatur, die durch die Auslassung von Schillers Namen zur exemplarischen Szene überhöht wird, die Überwindung narzißtischer Selbstüberhebung über den eigenen Körper und narzißtischer Selbstzweifel durch die künstlerische Arbeit: »Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden …«82 Erst ————————
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lin u. Leipzig: Schuster & Loeffler 1913; ders., Die Freiheit. Ein Schiller-Roman. Dritter Teil. Berlin u. Leipzig: Schuster & Loeffler 1914; ders., Den Sternen zu. Ein SchillerRoman. Letzter Teil. Berlin u. Leipzig: Schuster & Loeffler 1916. Walter von Molo, Der Schiller-Roman. Vom Dichter durchgesehene Volksausgabe. 2 Bde. München: Langen 1.–20. Tsd.1918. Walter von Molo, Gesammelte Werke in drei Bänden. München: Langen 1924. Walter von Molo, Der Schiller-Roman. Stuttgart: Verlag Deutscher Volksbücher 1955. Walter von Molo, Der Schiller-Roman. 120.-125. Tsd. Hamburg: J. P. Toth Verlag o. J. (ca. 1942/43). Ganz anders dagegen Johannes Scherr, der seine »kulturgeschichtliche Novelle« mit der von Molo ausgesparten Brautzeit enden läßt, seine Einblicke in Schillers Dualismus nicht zuletzt aus der Wahl zwischen den Lengefeld-Schwestern gewinnt und für den Wallenstein-Stoff nur magere Anmerkungen im »Nachspiel« gibt. Vgl.: Johannes Scherr, Schiller. Kulturgeschichtliche Novelle in sechs Büchern. 2 Bde. Hg. von Otto Haggenmacher. Leipzig o. J. (Novellenbuch 1 u. 2). Thomas Mann, Schwere Stunde. In: Ders., Frühe Erzählungen. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe), S. 376–384, hier S. 384.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
die Überwindung der egomanischen Ansprüche ermöglicht Thomas Manns namenlosem Schiller den Durchbruch der reineren klassischen Schöpfungskraft, die Mann in der Bibelallusion zum Abbild göttlichen Schöpfens macht: »Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut.«83 Walter von Molo gestaltet die Lösung des Wallenstein-Problems ganz ähnlich. Auch bei ihm ist der Akt der Bewältigung der Schaffenskrise verbunden mit der Vervollkommnung Schillers, der hier die Hybris des Künstlers überwindet, der glaubt, sich von seiner Natur lösen zu können. Die Lösung – und damit die entscheidende Differenz zu Thomas Mann – besteht nun freilich weniger darin, durch die Überwindung des eigenen Egoismus der ästhetischen Schöpfungskraft Durchbruch zu geben, sondern in der Erkenntnis, daß auch der künstlerisch schaffende Mensch sich nicht über sein ‘Menschtum’ erheben kann. Molos Schiller lernt sich in seinen Ansprüchen zu begrenzen: »Ich geb’ mit letzter Kraft das Beste, was ich kann! Ist das getan, dann darf ich von der Erde scheiden! Erst dann kommt die Erlösung! das ist Menschenwerk: es hat viel Licht und Schatten, ist gut und schlecht! Je, wie man es besieht.«84 Überspitzt könnte man formulieren, daß Thomas Mann das Problem individuell behandelt und einen eher traditionellen Widerspruch zwischen Egoismus und höherer Vernunft und Ästhetik gestaltet, während Walter von Molos Argumentation stärker anthropologisch bestimmt ist, da sich bei ihm die conditio humana eines jeden Menschen in seiner menschlichen und historischen Bedingtheit und Relativität in die Biographie einschreibt. Diese Argumentationsstruktur, der zufolge das allgemein-Menschliche auch die Persönlichkeit des herausragenden Menschen konstituiert, entspricht der bekannten Grundtendenz sowohl einiger Richtungen der historischen Pathographik als auch der modernen Biographik. Sie entwickelt sich nicht aus einer sogenannten Kammerherren-Perspektive, welche die Alltagsnichtigkeit der großen Persönlichkeiten anekdotisch zum Vorschein bringt, sondern vollzieht sich als die Konstruktion der biographierten Persönlichkeit auf der Basis allgemeiner anthropologischer, psychologischer, neurophysiologischer etc. Grundlagen, die in Walter von Molos biographischem Roman nicht in der Argumentation eines Biographen dem Lebensweg eingeschrieben, sondern als Selbsterkenntnisweg Schillers narrativ vermittelt werden. Schillers Lebensweg ist gestaltet als Weg zur ———————— 83 84
Ebd. Molo, Schiller-Roman 1918, Bd. 2, S. 346. – Gegenüber der Erstausgabe hat von Molo hier den inneren Monolog zur Profilierung der Selbsterkenntnis eingesetzt. In der Erstausgabe lautete die Passage: »Er gab mit letzter Kraft, das Beste, was er konnte. War das getan, dann durfte er von hinnen reisen! erst dann! Das war das Menschenwerk: es hatte Licht und Schatten, war gut und schlecht! Je wie man es besah.« Molo, Den Sternen zu, S. 201.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 471
Erkenntnis der eigenen menschlichen Konstitution. Drei Aspekte sind hier besonders zu nennen: 1.) Teil dieser Konstitution ist zum einen die Vorstellung vom menschlichen Leben als einem Energievorrat, der im Lauf des Lebens entweder haushälterisch langfristig oder aber verschwenderisch rasch verbraucht wird. Dieser Gedanke, der ja bereits die makrobiotische Diätetik Hufelands prägt, wurde – wie oben dargelegt – in der biographischen Literatur der Zeit etwa von dem Wissenschaftshistoriker Wilhelm Ostwald vertreten. Im Roman wird in Goethe und Schiller die Gegenüberstellung der – bei Ostwald als ‘klassisch’ und ‘romantisch’ bezeichneten – Energietypen sehr deutlich vor Augen geführt, wenn das abwechslungsreichere, aber von vielen Mußestunden geprägte Leben Goethes der schöpferischen Selbstaufopferung Schillers gegenübergestellt wird. 2.) Teil dieser Konstitution ist auch eine an Weininger erinnernde Behandlung des Verhältnisses der Geschlechter, welches nicht nur in Schillers Beziehungen zu Luise Vischer, Charlotte von Kalb, seiner Frau Lotte und zu Karoline von Wolzogen gestaltet, sondern in zahlreichen Nebenfiguren ausführlich geschildert wird. Selbstverständlich bietet der Widerstreit zwischen künstlerischem Schaffen und der die männlichen Kräfte erschöpfenden sexuellen Hingabe an die Frau, der im Schiller-Roman unmißverständlich gestaltet wird, nicht oder allenfalls im Kontext der Schiller-Biographik85 eine eigenständige anthropologische These von Molos. Wichtiger ist zunächst überhaupt die Feststellung, daß im biographischen Roman die historischen Personen und ihre Beziehungen auf der Basis anthropologischer Vorannahmen gestaltet werden. In Charlotte von Kalb erzählt von Molo letztlich die Fallgeschichte einer Frau, die als sexuelles Objekt des Mannes zum Weib geworden, nun den ‘Weibstatus’ dadurch erhält, daß sie den Mann – wie Weininger formuliert – »ganz zum Phallus« machen möchte: »Sie ist unfähig, ein Wesen anders denn als Mittel zum Zweck des Koitus zu gebrauchen […]. Und sie wäre tot in dem Augenblick, da der Mann seine Sexualität überwunden hätte.«86 Char———————— 85
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Die Schiller-Biographik der Zeit macht übrigens aus der sexuellen Attraktion kein Geheimnis, aber die Entsagung Schillers wird eher als ein Sieg der Moral interpretiert und nicht als Voraussetzung literarischer Schöpfungskraft. Karl Berger etwa schreibt: »er verzichtet auf Sinnenglück und Genuß, um das Gefühl seiner inneren Würde nicht zu verlieren.« Karl Berger, Schiller. Sein Leben und seine Werke. In zwei Bänden. 5., durchges. Auflage. München: Beck 1910, Bd. 1, S. 433. – Im »Schiller-Roman« sind solche moralischen Wertungen nicht vorhanden. Die anthropologische Perspektive dominiert die ethische, so daß recht offen über einen Zusammenhang von Internatserziehung und Homosexualität gesprochen und die sexuelle Triebnatur nicht notwendig in ehelichen Verhältnissen kanalisiert wird. Insgesamt zeigt sich ein gewisser antizivilisatorischer Zug auf anthropologischer Grundlage. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien u. Leipzig: Braumüller 91907, S. 406.
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lotte von Kalb entspricht diesem Muster, denn die scheinbar geistige Beziehung zu Schiller wird erzählerisch unzweideutig nur als Zweck zur sexuellen Erfüllung entlarvt. Schiller, der sich der sexuellen Begierde Charlotte von Kalbs entzieht, empfindet Mitleid mit ihr, da er ihr die Erfüllung ihrer Existenz verweigert. Offen spricht er auch mit Hölderlin, der ihm bei Charlotte von Kalb gefolgt ist, über die Notwendigkeit, der rein sexuellen Beziehung zu entsagen:87 »Frau von Kalb nähert sich gern jungen Dichtern und erschrickt, wenn sie erkennt, warum!“ Schillers Stimme war mild. »Hölderlin, es wird der Armen mit Herrn Richter nicht anders ergehen […]. »Wir sind Männer und Menschen, Hölderlin, das ist doppelte Schwachheit! Sie gehörte zu der Entwicklung meines Lebens, wie hoffen wir es, auch Sie die arme Frau benötigten, um sie jetzt – nimmer zu brauchen; sie ist schicksalbelastet.«
Es liegt nahe, dieses Schicksal als Schicksal der Geschlechtlichkeit im Sinn Weiningers zu deuten. Für Schiller wiederholt sich dies mit Karoline von Wolzogen, obwohl sich hier durch die sexuelle Entsagung zeitweise eine andere Beziehung zu entwickeln scheint. Einzig die Ehefrau Lotte gehorcht nicht diesem Modell. 3.) Teil der Konstitution ist neben diesem energetischen und geschlechtlichen Aspekt aber auch die Verbundenheit des Menschen mit gestaffelten Stufen der menschlichen Gemeinschaft von der Familie über die Stammesverwandtschaft und die Nation zum Allgemeinmenschlichen. Walter von Molo stilisiert Schiller nicht zum Genie, welches – wie etwa Goethe in Gundolfs Biographie – über alles Menschliche erhaben ist, sondern er betont – wie auch der Schiller-Biograph Karl Berger – 88 die Familienherkunft und das Schwäbische als wichtige Persönlichkeitskonstituenten. Insbesondere die Erzählung von Schillers Jugend gibt umfassend Einblick in das Milieu der Herkunft. Schiller, dessen Jugend als eine Flucht von der beengenden Familie und aus den beschränkten geistigen Verhältnissen seiner schwäbischen Heimat geschildert wird, muß auch diese Flucht als Hybris erkennen. Indem er sich am Ende seines Lebens von übersteigerten Individualisierungswünschen befreit, findet Schiller zurück zur Familie, zur Region und zur Nation. Von Bedeutung ist hierfür ein letztes Gespräch zwischen Goethe und Schiller im Roman, in dessen Verlauf es heißt:89
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Molo, Schiller-Roman 1918, Bd. 2, S. 288f. (gegenüber der Erstausgabe nahezu unverändert). »Aus den Tiefen deutscher Volkskraft in schwäbischer Artung hat Friedrich Schiller sein Wesen geschöpft.« Berger, Schiller, Bd. 1, S. 6. Molo, Schiller-Roman 1918, Bd. 2, S. 381 (gegenüber der Erstausgabe leicht gekürzt).
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 473
»Sie sprechen wie diese neumodisch-altchristlich-religiös-patriotische Kunst, die sich jetzt breitmacht,« drohte Goethe; die kranke Niere schmerzte ihn in der Tiefe der einsamen Stunde. »Sie sind in letzter Zeit erschrecklich deutsch!« »Einmal wird auch der Schwabe klug: Was ich nun weiß ist dieses: der Mensch steht auf der Erde, er kann nicht los von ihr und darf nie vermeinen, fliegen zu können, weil er den Himmel sieht. Doch er muß ihn sehn! Im ewigen, langsamen Entwicklungsgang der Welten, der ewig ist und uns hienieden drum nicht mehr bekümmert, als daß er ständig Hoffnung gibt, wird jeder Sprungversuch bestraft; drum müssen wir verantwortungsvolle Kinder unserer Zeit sein, das Fühlen unsres Volkes teilen; nur dann vermögen wir zu führen.«
Goethe ist im Roman ganz auf eine autonomieästhetische Position verpflichtet, welche den Lebenszusammenhang verleugnen will, aber – wie die schmerzende Niere zeigt – doch nur in der Selbsttäuschung verleugnen kann. Schillers Position dagegen wandelt sich – als Konsequenz seiner ‘Vermenschlichung’ – zur Erkenntnis von Zweck und Pflicht der Kunst. Diese Vermenschlichung des Genies, das seine Erfüllung in der Reintegration in den nationalen Zusammenhang findet und damit seine eigene Beschränktheit erkennt, gewinnt bei von Molo patriotische und nationalistische Züge, wenn Schiller im weiteren Gespräch das leidende Deutschland zum kommenden Führer der Menschheit erhebt. Nicht zuletzt zeigt sich, daß dem nationalanthropologischen Konzept noch eine andere Schreibintention eingeschrieben ist: Meint man im ersten, 1912 erschienenen Band noch das Echo eines liberalen Pazifismus erkennen zu können, so macht der 1916 publizierte Band nicht nur in den beständig wiederholten antifranzösischen Ausfällen an mehr als einer Stelle deutlich, daß von Molo den Weltkrieg als nationale Notwendigkeit zur Vervollkommnung der deutschen Nation begrüßt hat. (Am deutlichsten wird der Krieg im Gespräch zwischen Schiller und Fichte begrüßt; Fichte wird hier nicht als begrifflicher Denker gegen Schiller gesetzt, sondern als ‘homo politicus’ und Tatmensch gegen den ‘defizitären’ Ästheten.) Gleichzeitig aber ist der Weg zur deutschen Nation auch der Maßstab, an welchem gemessen weder die Persönlichkeit noch das Werk Schillers etwas anderes als Teil einer Entwicklung sein können. Schillers Werk erscheint bei von Molo gewiß als eine außerordentliche Leistung, aber nicht als überzeitliches, zeitunabhängiges Kunstwerk. Im Gespräch mit seiner Frau räumt Schiller im Text der Volksausgabe von 1918 selbst ein, sein dramatisches Werk sei unvollendet:90 »Ich tat das Meine! Wär’ Deutschland einig, so wär’ die Kunstform deutsch geraten; ich tat das was ich mußte, was ich vermochte in meiner Zeit, die griechische Tragödie war Notbehelf.« ———————— 90
Ebd., Bd. 2, S. 378. – In der Erstausgabe steht nur: »‘Ich tat das Meine’!«. Molo, Den Sternen zu, S. 254.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Die ältere Schiller-Literatur – und auch Johannes Scherr (1817–1886) in seinem Roman Schiller (1856) – hatte die Überwindung regionaler und nationaler Beengung in einem »modernen Griechentum« (Scherr)91 und im Weltbürgergedanken92 gefeiert. Nun sah nicht nur von Molo in der Hinwendung zur griechischen Antike die größte Distanz Schillers zur eigenen Gegenwart. In einer Schiller-Rede zum 100. Todesjahr betont etwa auch der Philologe Konrad Burdach (1859–1936), daß zum einen »seine und Goethes Theorie der Kunst von einem Idealbild der Antike ausging, das vor umfassenderer, eindringenderer geschichtlicher Einsicht in das hellenisch-römische Altertum zerrinnt« und zum anderen »die Zeichensprache aus antiker Mythologie und Heroensage, […] als ein starres Costüm […] den lebendigen Seelenausdruck erstickt«.93 Sein Fazit lautet: »Unser Leben, unsre politisch-socialen, unsre wissenschaftlichkünstlerischen Anschauungen haben uns weit von Schiller entfernt.«94 Die Schillerfeier hat ihre Berechtigung darin, Schiller als einen der ‘Erzieher der Deutschen’ anzuerkennen. Ähnlich wertet auch Moeller van den Bruck in seiner biographisch-essayistischen Geschichte der deutschen Nation, Führende Deutsche (1906), die klassizistische Orientierung als »wirklich verhängnisvoll«,95 und Eduard Spranger – mit von Molo befreundet – entschuldigte, was eigentlich als »ein unverzeihlicher geistiger Landesverrat« zu werten sei, mit der Feststellung, daß es sich bei Griechentum und Menschheitsgedanken letztlich nur um produktive Mißverständnisse auf dem Weg zu wahrer »Deutschheit« handle.96 Der SchillerRoman, in welchem diese Rezeption der griechischen Antike als bloß historisch und für die Gegenwart irrelevant erscheint, gibt eine aktualisierende Wertung Schillers, indem Schiller selbst die Kritik an der ungenügenden Form in den Mund gelegt wird. Die Dichterbiographie schafft also durch die anthropologische Anlage der Persönlichkeitskonzeption und die Integration Schillers in eine Geschichte der deutschen Nation eine Nähe, welche gerade über die Marginalisierung einiger Werkbestandteile, den Menschen Schiller und den Stammesverwandten ins Zentrum stellt.97 ———————— 91 92 93 94 95 96
97
Scherr, Schiller, Bd. 2, S. 195. Vgl. etwa bei Scherr ein Gespräch zwischen Hölderlin, Goethe und Schiller (ebd., Bd. 2, S. 258f.). Konrad Burdach, Schiller-Rede. Gehalten bei der Gedächtnisfeier in der Philharmonie zu Berlin am 8. Mai 1905. Berlin: Weidmann 1905, S. 9. Ebd. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, S. 166. Eduard Spranger, Der Anteil des Neuhumanismus an der Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins (1923). In: Ders., Volk – Staat – Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze. Leipzig 1932, S. 34–56, zit. S. 42. Dieser Gedanke bestimmt auch noch die Schiller-Rede im Freien Deutschen Hochstift (10.11.1929), in welcher gegen die Verehrung des Klassikers und der Werke polemisiert wird, um den Menschen Schiller als »ewigen Gegenwartsmenschen« (S. 78) zu betonen:
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 475
Die Freiheiten des biographischen Romans übersteigen dabei noch die ohnehin lockeren Grenzen einer Biographie. Ausgiebig nutzt von Molo Gesprächsfiktionen und insbesondere den inneren Monolog. Gleichzeitig erfüllt der biographische Roman aber durchaus Erwartungen an eine detaillierte Lebenslaufinformation. Dabei zeigt sich von Molo bemüht, die Erkenntnisse der Schillerforschung und auch aktuell diskutierte Themen in den Erzählfortgang einzubetten. In Gespräch und Monolog wird etwa das Problem des Widerstreits zwischen Natur und Kunst weitläufig behandelt oder die Frage nach dem Einfluß der Philosophie Kants auf Schillers Ästhetik erörtert. Anders als in traditionellen Biographiekonzepten verzichtet von Molo darauf, eine historische Distanz zu Schiller zu wahren. Nicht nur imaginiert er dessen Gespräche und Gedanken, sondern deutlicher noch als bei Thomas Mann wirkt ein pathetischer ‘Schiller-Stil’ in die Sprache des Romans ein, eine emphatische, durch Gesperrtschreibung noch eigenwillig betonte Redeweise, die mitunter nicht nur expressiv, sondern zumindest in Ansätzen expressionistisch wirkt.98 Intertextuelle Bezüge zwischen Schiller-Aussagen im Roman und Selbstäußerungen seines Autors deuten darauf, daß Walter von Molo ähnlich wie Thomas Mann in seiner Schiller-Erzählung nicht zuletzt auch ein Symbol seiner eigenen Auffassung des künstlerischen Schaffens geben wollte. In der Werkausgabe von 1924 sind die intertextuellen Bezüge im Werk von Molos sogar noch durch die direkte Nacheinanderordnung der bekenntnishaften Sprüche der Seele und des Schiller-Romans unterstrichen, welche das Credo des Romanautors mit dem Erkenntnisziel Schillers verbinden.99 ————————
98
99
»Er führte ähnliche Kämpfe wie wir.« (S. 79) Walter von Molo, Die Schiller-Rede in Frankfurt am Main. In: Ders., Zwischen Tag und Traum. Gesammelte Reden und Äußerungen. Durchges. Ausg. Berlin: C. Schmidt 11.–14.Tsd.1950, S. 76–102. In seiner Dissertation über Walter von Molo hat Karl Otto Vitense den »Schiller-Roman« »innerhalb der expressionistischen Empörungswelle« situiert und mit Reinhard Sorges Drama »Der Bettler«, das ebenfalls 1912 erschien, der Frühzeit des Expressionismus zugeordnet. K. O. Vitense, Walter von Molo. Das Wesen des Schriftstellers. Diss. Leipzig 1938, S. 32. Walter von Molo, Sprüche der Seele. In: Ders., Gesammelte Werke in drei Bänden. München: Langen 1924, Bd. 1, S. 7–28. – Vgl. etwa: »Der Mensch ist einsam | ist sich selber dunkel |er hat den Trieb zu wollen |und er muß |er ist voll Stolz |und sieht voll Schrecken ein |daß dieser Stolz |nicht |ihm gehört |daß dieser Stolz von Außen kommt in ihn |daß er ist stolz auf das |was nicht von ihm |was durch ihn gleitet | durch ihn spricht | und handelt |und dies Erkennen macht ihn klein |und still |braust ihn von neuem auf |weil er nur will | was dieses Große | außer ihm | gebietet. | Stolz wird zu Demut | die im Stolz | nach oben flammt | zu sein |weil man nicht ist | und dadurch ist | allein!« (Molo, op. cit., S. 26f.) – Einem Autonomie- und Freiheitsdiskurs, welcher sich auch an die Schilller-Rezeption bindet, widerspricht der Roman von Molos bereits bei der Schilderung von Schillers Geburt, welche als ‘ewig-menschliche’ Szene auf den Satz gebracht wird: »Ein Mensch mußte werden.« Molo, Schiller-Roman 1918, Bd. 1, S. 13.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
An Schiller wird verdeutlicht, daß jeder Dichter die Behandlung des Stoffes – hier des historischen Wallenstein-Stoffs – nur aus den Möglichkeiten seiner Zeit, nur in der Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionen, ästhetischen Theorien und im Einsatz seiner schöpferischen Kräfte und Phantasie zur neuen poetischen Schöpfung zu treiben vermag. Anders als Thomas Manns Schillerstilisierung steht von Molos Sichtweise in der Geschichte deutscher Literaturtheorien anfangs noch sehr viel näher an Konzepten Wilhelm Scherers als bei autonomieästhetischen Auffassungen der Literatur, wobei von Molo sich von den anfänglichen Milieustudien im Lauf der Arbeit allmählich ab- und stärker geistesgeschichtlichen Konzepten zuwendet. Schillers Erkenntnisweg besteht nun in einem – nach der Logik des Romans – tröstlichem Ausweg aus der zumindest tendenziell deterministischen Literaturauffassung und den Genieansprüchen des Dichters. Denn gerade dadurch, daß Schiller auch als eine historische Erscheinung in die Geschichte der deutschen Nationwerdung und der Entwicklung einer nationalen Literatur eingebunden ist, die ihn einerseits daran hindert das Höchste in der Kunst zu erreichen, kann er andererseits zum Symbol der Nation werden – oder präziser: zur Leitfigur der Bildung des Volksbewußtseins, wie es Eduard Spranger 1924 als Ziel nationaler Erziehung formuliert: »Nicht also zum Deutschsein müssen wir erziehen, sondern zum Bewußtsein dieser unentrinnbaren Deutschheit aller deutsch Geborenen.«100 Diese psychologische, anthropologische und als Erkenntnisweg gestaltete Einbindung Schillers in die Geschichte der Nation kann nicht zuletzt als Antwort auf Franz Mehrings Versuch einer materialistisch geprägten historischen Standortbestimmung Schillers gelesen werden, in welchem Mehring zwar Schillers Einordnung in »das wurzellose Weltbürgertum der bürgerlichen Aufklärung« bedauert, ihm aber aufgrund des historischen Entwicklungsstandes jede Vorwegnahme nationaler Einigungsbestrebungen absprechen muß.101 Für von Molo wird Schiller gerade aufgrund seiner eigenen Erkenntnis seiner ‘stammesgeschichtlich’ begründeten conditio humana wieder zum Teil der Nation. In seiner – für von Molo werbenden – Darstellung des Schiller-Romans hat Hanns Martin Elster diese Art der Vermenschlichung als eigene »Schillerpsychologie« von Molos bezeichnet, die darin bestehe, daß »hier zum ersten Male klar und sicher Schillers Lebensenergie und Widerstandskraft aus seiner Bau———————— 100 101
Eduard Spranger: Über Erziehung zum deutschen Volksbewußtsein. 1924. In: Spranger, Volk – Staat – Erziehung, S. 57–76, hier S. 58. Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Dritte Auflage. Leipzig 1923 [zuerst 1905, mit einem neuen Vorwort zur 2. Auflage], hier S. 118f.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 477
ernherkunft erklärt wurde«.102 Es verwundert nicht, daß diese Gemeinschaftsideologie, wie sie der Roman expliziert, von Molo im Ersten Weltkrieg zum kriegsbegeisterten deutschen Patrioten und später in die Nähe völkischer Überzeugungen geführt hat. Man wüßte freilich in diesem Zusammenhang gerne, wie der Roman gelesen worden ist, und ob der Publikumserfolg sich aus einer Trostfunktion des Textes herleiten ließe, die etwa darin bestünde, das vergebliche Streben der einzelnen im Blick auf die bloß individuellen Ziele dadurch zu ersetzen, daß ein jeder in der tätigen Ausschöpfung der eigenen Möglichkeiten einen Anteil an der nationalen Gemeinschaft hat. Wie verhält sich nun aber der Roman zur Entwicklung der modernen Biographie? Aufschlußreich ist zunächst, daß von Molos biographische Werke in der Weimarer Republik etwa von Löwenthal der modernen Biographik neben den Werken von Zweig, Wassermann, Ludwig oder Flake zugeordnet waren. Aufschlußreich ist ferner die Beurteilung des Schiller-Romans durch Hanns Martin Elster, der 1920 eine Monographie über Walter von Molo und sein Schaffen publizierte, in welcher er betont, weder die traditionelle Schiller-Biographik noch die Lektüre seiner Werke könnten Wesen, Charakter, Psychologie Schillers vermitteln. Ganz ähnlich wie dies etwa Emil Ludwig für seine frühen Biographien von Bismarck (1911) oder Goethe (1920) in Anspruch nahm, führt Elster aus, es müsse darum gehen, den Gegenstand der Biographie nicht zu idealisieren, sondern ihn in seinen eigenen Lebensbedingungen, in seiner Psychologie ungeschminkt zu begreifen. Die rationale Methode der »Sichtung, Sammlung, Erforschung, Zusammensetzung, stilistischen Bezwingung, wissenschaftlichen Ausnutzung der zahllosen Einzelheiten, Unterlagen, Zeugnisse, Notizen, Erkenntnisse«103 verhindere in den Biographien der »Minor, Berger, Kühnemann«104 zum eigentlichen Darstellungsziel, dem Erlebnis Schillers, vorzudringen: »Die intuitive Methode allein kann diesem Problem gerecht werden; jede Deduktion muß scheitern.«105 Das Darstellungsziel ist nicht mehr die chronologische Reihung positiver Fakten, die in ihrer Fülle ein Gesamtbild der Persönlichkeit zeichnen sollen, sondern – wie dies auch Ludwig, Zweig und Wassermann für sich in Anspruch nehmen – der intuitive Zugang zur Psyche respektive zur Menschlichkeit des Biographierten. Dabei ist die psychologische Wahrheit der Darstellung gewichtiger als die Verbürgtheit einzelner positiver Fakten. Im Schiller-Roman verbinden sich durchaus weitläufige Studien der Schiller-Literatur mit bedeutenden literarischen Freiheiten, die – was ———————— 102 103 104 105
Elster, Walter von Molo, S. 173f. Ebd., S.151. Ebd., S. 152. Ebd.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
nahe liegt – durch eine Aussage Schillers im vierten Buch des Romans legitimiert werden könnten: »Nur ein Einfaltspinsel erwartet von Poeten Geschichtstatsachen; angeblich Richtiges, statt des seelisch Richtigen, das allein der Künstler weiß!«.106 Entsprechend betont Elster die innere Verwandtschaft Schillers mit von Molo, die es letzterem ermögliche die Seinsproblematik Schillers zu erfassen. Wie in der modernen Biographie geht mit der unbefangenen psychologischen respektive anthropologischen Sicht auf den Biographierten eine Vermenschlichung der außerordentlichen Persönlichkeit einher, die aus der Perspektive einer conditio humana beschrieben wird. Milieustudien, psychologische Darstellungsweise und Vermenschlichung sind in von Molos Roman gleichfalls erkennbar, auch die Wahl des historischen Romans für die biographische Darstellung spricht nicht unbedingt gegen eine Zuordnung zur modernen Biographik. Was von Molos Text freilich sowohl von den Biographien eines Ludwig, Zweig oder Wassermann als auch von Johannes Scherrs Roman107 unterscheidet, ist das Fehlen eines personal im Text wahrnehmbaren Biographen, der als ein Psychologe das Zentrum der biographischen Argumentation bildet, oder zumindest eines argumentativen Zentrums. Walter von Molo setzt seine psychologische Betrachtung in Handlung, Gespräch und Gedankenrede Schillers um und verzichtet auch stilistisch auf eine distanzierte Haltung gegenüber Schiller. 108 Ja, er verstärkt diese Tendenz in der Volksausgabe von 1918 gegenüber dem Erstdruck durch Umarbeitung wichtiger Passagen in Innere Monologe, durch das Streichen von Inquitformeln und anderen narrativen Formeln der Mittelbarkeit. Dadurch nähert er sich denjenigen Autoren biographischer Romane, welche ———————— 106
107 108
Molo, Schiller-Roman, Bd. 2, S. 321. – Ähnlich heißt es wiederum in Berufung auf Schiller in einem offenen Brief von Molos an Stresemann: »Die Kunst hat innere Wahrheit und nicht historische Wahrheit zu geben. Sie bietet damit mehr historische Wahrheit durch inneren Blick als jede doch immer subjektive Geschichtsforschung oder -schreibung.« (S. 299) Walter von Molo, Die historische Wahrheit. Kunstbrief an Dr. Stesemann. In: Ders., Zwischen Tag und Traum, S. 296–303. Nur am Rand sei bemerkt, daß Johannes Scherr durchaus auch psychologisch und anthropologisch argumentiert. Ein Rezensent des ersten Bandes bemängelte das Fehlen eines übergreifenden und auch die Innenwelt des werdenden Dichters umfassenden Blicks (»Vorbereitung, Einstimmung, […] Erklärung«, Sp. 604), welches der strengen Schilderung aus der Außen- und Milieuperspektive geschuldet sei: »Dieser ganze Milieuwahn schränkt ihn [v. Molo] unerbittlich auf die Außenform, auf Geste, Benehmen und Worte der Gestalten ein; er kann nicht erzählen, was alles unausgesprochen lebt in seinem jungen Helden […].« (Wolfgang Schumann, Ein Schillerroman. In: Das literarische Echo 15, 1912/13, Sp. 601–605, zit. Sp. 603). – In den folgenden Bänden hat von Molo das Innenleben Schillers breit als Gedankenrede gestaltet, aber auf Kommentierungen weiterhin verzichtet. – Johannes Scherr verzichtet dagegen nicht auf die Distanz, die schon daraus resultiert, daß Schiller in seinem Roman beständig »der Dichter« genannt wird, während von Molo sich auch erzählerischstilistisch um die Sicht auf den Menschen Schiller bemüht.
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die Nation als Bindeglied zwischen den Biographierten und sich selbst aufbauen. Die beiden gemeinsame nationale Gebundenheit, die Teilhabe an beiden gemeinsamen stammesgeschichtlichen, rassischen und völkischen Aspekten des Menschen verbinden Subjekt und Objekt der biographischen Darstellung und führen zur Assimilation und zur Aufhebung der kritischen Distanz. In den Worten Elsters:109 Molo wurde im und durch den Schillerroman erst ganz und ausschließlich geistiger Mensch. Die Welt der Kunst, des individuellen Menschtums war ihm nun ganz zu eigen. Nun tat sich ihm der weitere Bezirk des Lebens auf, der vom Ich fortstrebt zur Gemeinschaft, zum Volk. Wie Schiller aus dem Egozentralismus seiner Jugendwerke zur nationalen Weite seiner Meisterdramen wuchs.
Diese Identität von Autor und Biographiertem, die letztlich die Frage provoziert, wer denn nun nach wessen Bild geformt wurde, überschreitet übrigens trotz allem nicht die Grenze zur völkischen Biographik, denn diese müßte in letzter Konsequenz die Identität von Biograph und Biographiertem auch auf den Leser ausdehnen. Einer solchen Identität steht freilich die trotz allem aristokratische oder elitäre Attitüde einer stilisierten Sprache sowie der philosophischen Dialoge ebenso entgegen wie die Entwicklung der Biographie als Ausnahmelebenslauf eines Literaten, welche insgesamt die Vermenschlichung des Biographierten unter den Bedingungen völkischer Konzeptionen verhindern. Der Schiller-Roman ist letztlich keine moderne Biographie, sondern zeigt in seinen ausgiebigen Milieu-Schilderungen die Fortführung realistischer Erzähltraditionen, während eine ‘innere’, von der Umwelt abgehobene Charakterisierung und Psychologisierung des Menschen kaum zu finden ist. Der Rezensent Wolfgang Schumann freilich ahnte an diesen Grenzen der Darstellung bei von Molo wohl bereits die Forderungen, welche im Zuge der psychologischen Neuansätze an eine veränderte Biographik zu stellen wären, als er feststellte, daß »die Psychologie […] erst langsam an die Aufgabe [geht], jenseits von Milieu- und Kampf-ums-DaseinTheorien ein Bild des Geistes zu entwerfen«.110 Insofern wäre auch von Molos Schiller-Roman in die (Vor-)Geschichte der modernen Biographik einzuordnen. Ein wichtiges Merkmal des modernen biographischen Erzählens fehlt von Molos Werken freilich ebenso wie anderen regional oder national vermenschlichenden biographischen Ansätzen: das argumentative Zentrum der Biographie. Der Biograph mit seiner Bildung und Erfahrung, der mitunter als ‘Ich’ deutlich profiliert hervortritt und für sich das Autoritätsargument in Anspruch nimmt, wird hier weitgehend zugunsten objek———————— 109 110
Elster, Walter von Molo, S. 175. Schumann, Ein Schillerroman, S. 605.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
tivierender, realistischer Erzählverfahren zurückgedrängt. Bei Ritter ist der argumentative Zug noch deutlich erkennbar, wenngleich im historiographischen und nicht im modernen Sinn; bei von Molo ist dieses Erzählverfahren als Tendenz zu beobachten; bei Wilhelm Schäfer wird es Teil einer Intellektualismus- und Bildungskritik, welche im Ideal einer Volksdichtung den Autor zum Sprachrohr seines Volkes macht und somit die traditionelle Rolle des moralisierenden Autors, des Predigers und des argumentativ auftretenden personalen Erzählers aufhebt. Diese Entpersonalisierung des Biographen entsprach durchaus den Ansprüchen der Kritik an die Gattung, wie sie etwa von Hans Niedermeier in der Zeitschrift Das Innere Reich formuliert wurden: »So wie der Dramatiker hinter seinen Gestalten schweigt […]: so hat der echte Biograph hinter seiner Gestalt zu verschwinden, ein namenloser Erzähler, ein Rhapsode.«111 Zeigt sich im Schiller-Roman neben der Vermenschlichung der großen Gestalt insbesondere die Milieu- und Lebenskampfschilderung sowie die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit dem Künstlertum, so wird für die Gestaltung der Lutherfigur im historischen Roman Mensch Luther die ‘Verbäuerlichung’ zum leitenden Prinzip. Es handelt sich bei dem Text nicht im eigentlichen Sinne um einen biographischen Roman. Selbst im Vergleich zu Conrad Ferdinand Meyers biographischem Roman Jürg Jenatsch, der konzeptionell als Vorbild für von Molos Roman gelten könnte, ist die Reduktion der Biographie augenfällig. Die Erzählung der historischen Ereignisse und der Biographie Luthers beschränkt sich vollständig auf den Wormser Reichstag. Die namengebende Figur, Martin Luther, tritt erst nach fünfzig Druckseiten mit dem Einzug in die Stadt als Person in Erscheinung. Vorher ist Luther bereits gegenwärtig als Gegenstand der Intrigen, die sich um den Reformator spinnen. Mit den bereits anwesenden Diplomaten in Worms wartet auch der Leser, welcher der durchaus geschickten erzählerischen Führung durch Ängste, Unruhe und Hoffnungen der in Worms versammelten Gruppen folgt, auf das Erscheinen eines umstrittenen, aber doch wohl herausragenden, außerordentlichen Menschen. Mit den zahlreichen Beobachtern sieht er dem bejubelten Einzug in die Stadt zu: »Das mußte der kühne Mönch sein.«112 Doch auch hier arbeitet von Molo der Idealisierung entgegen, um eine fast volkstümliche Gestalt zu schaffen:113 ———————— 111
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Hans Niedermeier, Biographie und Drama. In: Das Innere Reich 2/II (1935/36), S. 1149– 1154, zit. S. 1153. Beachtenswert ist die Nähe der Argumentation zu poetologischen Auskünften der liberalen Fraktion moderner Biographen. So wird – wie bei Elster – Psychologie der Person statt Ereignisdarstellung gefordert und die innere Verwandtschaft zwischen Biograph und Biographiertem sowie sein intuitives Erfassen des Biographierten betont. Walter v. Molo, Mensch Luther. Zürich: Paul Zsolnay 1928, S. 67. Ebd., S. 69.
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Sie waren enttäuscht. Sie hatten den Kämpfer für die Reinigung der göttlichen Lehre, für die Rettung Deutschlands ganz anders erwartet. Von ganz anderem Aussehen, in ganz anderer Stimmung. Das war ja ein bäurisches Mönchlein, das sich unbeholfen in Heiterkeit warf, weil es Angst und Beklommenheit hatte? Nichts Heldenhaftes, nichts Titanenhaftes war an diesem Mönch.
Auch weitere Beschreibungen Luthers zielen auf dieselbe Richtung. Der ersehnte oder erfürchtete Reformator zeigt sich »ungehobelt, bierseelig wie ein wüster Student, wie ein Bauer, der auf der Kirchweih lärmt«114 oder aber als »ein freundlich bescheidener Mönch«.115 Dem heldenhaften Reformator des Romans fehlt jedes heroische Erscheinungsbild. Als Luther gegenüber dem Hofnarren ausruft, er sei »kein Mann für irdische Politika«, kann dieser spöttisch entgegnen: »Das sehe ich; Ihr seid überhaupt kein Mann.«116 Dennoch bleibt Luther deutlich eine positive Gestalt. Sein Verhalten wird zwar als schlicht und ungeschliffen dargestellt, doch ohne Fehl. Das unterscheidet ihn von anderen Figuren des Romans, so vom päpstlichen Nuntius Aleander, der sich in derben Schimpfworten über andere ausläßt und dessen Verhalten allenthalben Empörung hervorruft:117 Aleander blieben die Worte weg. Er spie aus. Er spie mit häßlich gestellten Lippen vor Glapion und dem Großkanzler auf den Boden. »Du Lümmel,« schrie Gattinara […], »wenn du nicht weißt, wie man sich hier benimmt, so verlaß die kaiserliche Pfalz! Hier ist kein Stall wie vor euren Altären, vor denen ihr rülpst und speit, weil ihr dauernd zuviel sauft.«
Dem Sittenverfall einer von ausländischen Mächten beherrschten Hofwelt, in dessen Zentrum ein junger – allerdings sittenstrenger – ‘spanischer’ König ‘römischen’ Glaubens regiert,118 steht der schlichte Mensch Luther gegenüber. Dieser wird – dies die unverblümte und wenig kunstvoll gestaltete Aussage des Romans – stilisiert zum Vorkämpfer der deutschen Nation. Die unhöfische Gestalt des Reformators wird zum Symbol der unterdrückten urdeutschen »Seele«,119 die der Herrschaft fremder Mächte unterlegen war. Der Kampf, den der römische Nuntius gegen Luther durch geheime Vereinbarungen und Bünde austrägt, verläuft analog zur Machtpolitik Roms gegen den deutschen Reichstag. Die Reformation stellt sich in von Molos Augen dar als nationale Religion, als Gründung einer selbstbestimmten deutschen Kirche 120 und als erster Schritt zur ———————— 114 115 116 117 118 119 120
Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., S. 234. Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 208ff. Vgl. ebd., S. 47. »Der Ketzer will aber doch eine deutsche Kirche?« fragt Aleander Glapion. Ebd., S. 33.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Unabhängigkeit und Einheit der Nation. »Das mächtige Deutschland von einst war ein farbloses, dürres und machtloses Reich geworden; Roms Faust lag würgend an seiner Gurgel.«121 So stellt sich in der Erzählung die Lage Deutschlands aus der Perspektive des römischen Nuntius Aleander dar. Luther wird in diesem Kontext ohne heroische Stilisierung zum Helden: Er vertritt mit seiner Person als einzige geradlinige Gestalt die deutsche Kirche. Als »ein echter deutscher Bauernschädel« steht Luther vor dem Erzbischof von Trier.122 Sein eiserner Wille und seine heroische Beständigkeit machen ihn zum Helden. Seine eigenen Interessen stellt er zugunsten der allgemeinen Interessen vollkommen zurück, denn er will sich »dem Dienst nicht entziehen […], den mein Deutschland von mir fordert«;123 auch muß er sich in einem typischen Heldenschicksal bewähren, da er als einzelner gegen die Übermacht vielfältiger Feinde Widerstand leisten muß und vom Abfall einstiger Weggefährten bedroht ist. Doch in dieser Einsamkeit des Helden liegt zugleich seine Stärke. Fast mutwillig lehnt er äußere Hilfe ab, um nur das klare Ziel nicht zu verlieren: »Das war Luthers Art: Je mehr er ins Unglück geriet, je einsamer er wurde, je tiefer und verzweifelter alles um ihn sank, desto erbitterter stieß er jede Menschenhilfe von sich.«124 Auffällig an dieser Figurengestaltung ist weiterhin, daß das außerordentliche Individuum verblüffend passiv auftritt. Luther treibt die Ereignisse nicht voran, sondern bildet das ruhende Zentrum allen Geschehens, welches sich jedoch ihn zum beständigen Vorwurf nimmt.125 So wird der deutsche Bauer Luther zum symbolischen Kristallisationspunkt des Romans, in dem die waltende Geschichte erkennbar wird. Luther erweist sich als Vorbote einer deutschen Bewegung, die aus der ‘Nationalseele’ erwächst. Als besondere Leistung Luthers wird in diesem Sinne die Einigung der »Stämme« durch das deutsche Bibelwort betont.126 Anders als der Jürg Jenatsch von Meyer, der im Vergleich zu von Molos Luther weitgehend eine heroische Einzelgängergestalt bleibt, die den Konflikt zwischen Individualität und Allgemeinheit tragisch durchlebt, wird Luther tatsächlich zum Repräsentanten eines sich verwirklichenden Volkes, der sich gerade in der ursprünglichen und Hof-fernen (gar zivilisationskritischen) Figur zeigt. Diese Stilisierung des Reformators zur deutschen unverbildeten Bauernfigur als unmittelbarer Ausdruck der deutschen »Seele« kommt einer nationalsozialistischen Blut-und-Boden———————— 121 122 123 124 125 126
Ebd., S. 23. Ebd., S. 274. Ebd., S. 235. Ebd., S. 245. Vgl. a.: Laufhütte, Martin Luther in der deutschen Literatur, S. 28–30. Molo, Mensch Luther, S. 93.
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Ideologie recht nahe 127 und wird zudem durch simple Negativnationalstereotypen128 – aber nicht durch Antisemitismus – 129 unterstützt. Allerdings hat von Molo, der – wahrscheinlich gegen den eigenen Anpassungswunsch – 130 während des NS-Regimes zeitweise als ‘unerwünscht’ galt und später als Sprecher des nationalkonservativen Flügels der ‘Inneren Emigration’ hervortrat,131 keinen Nationalrevolutionär oder Volksführer geschaffen. Luther wird im Roman in einer entscheidenden Konfliktsituation dargestellt, im Gespräch mit den Bauern, die ihn bitten, die Führung ihrer Aufstände zu übernehmen. Seine Verweigerung wird durch den Hofnarren negativ skizziert, der ihm vorwirft, seine Aufgabe, »Deutschland groß, einig und stark« zu machen, nicht zu erfüllen.132 Luther hält dem entgegen, er wolle nicht die Reformation durch das Schwert durchsetzen, denn dieses gehöre allein in die Hand Gottes, dessen Reich nicht von dieser Welt sei. Gerade im Gegensatz zu Wilhelm Schäfer (s.u.) wird zudem deutlich, daß von Molo trotz der Verbäuerlichung seines Helden diese nicht zugleich zur ästhetisch-narrativen Grundlage seines Textes macht. Er entwickelt keine eigene Ästhetik des Volksbuchs, sondern integriert – trotz ———————— 127
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Dabei bewegte sich von Molo auf einem heiklen Grat zwischen einer völkischen Anthropologie und der Verkleinerung des Heroischen. Es sei hier nur angemerkt, daß v. Molos Kleist-Roman (1938) in der Kritik durchfiel, da der Verf. Kleist unheroisch und »als verbummelten Studenten« vorführe. Vgl. zur Rezeption v. Molos in der NS-Zeit: Gisela Berglund, Der Kampf um den Leser im Dritten Reich. Die Literaturpolitik der »Neuen Literatur« (Will Vesper) und der »Nationalsozialistischen Monatshefte«. Worms: Heintz 1980 (Deutsches Exil 11), hier S. 93. – Noch in seinem »Lebensbericht« verteidigt sich v. Molo gegen den Vorwurf, seine »‘Helden’ ‘zu menschlich’ dargestellt und dadurch verkleinert« zu haben; er wendet sich jedoch durchaus in konsequenter Fortführung seiner schriftstellerischen Arbeiten der 20er und 30er Jahre gegen einen »bronzenen Heroenkult« und »‘Siegesalleen’« und will die besondere Persönlichkeit in ihren (menschlichen) Konturen und inneren Spannungen sehen. Walter v. Molo, Zu neuem Tag. Ein Lebensbericht. Berlin, Bielefeld u. München: E. Schmidt 1950, S. 232. So leidet ein französischer Diplomat an der »Franzosenkrankheit«, was allenfalls ein geschmackloser Kalauer ist. Molo, Mensch Luther, S. 154. Bei Luther gehen diejenigen ein und aus, die nicht der intriganten Hofwelt angehören: »es waren alte und junge Männer, Bürger, Ritter, Geistliche und auch Juden mit dem sie ächtenden gelben Fleck auf der Schulter«. Ebd., S. 218. So wurde 1946 bekannt, daß v. Molo dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg seine Bücher »mit untertänigsten Widmungen« verehrt hatte. F. C. Weiskopf an Lion Feuchtwanger, Brief v. 14. Januar 1946. In: Lion Feuchtwanger, Briefwechsel mit Freunden. 1933–1958. Hg. von Harold vom Hofe und Sigrid Washburn. Berlin: Aufbau 1991, Bd. 2, S. 79. Vgl. Berglund, Der Kampf um den Leser im Dritten Reich, S. 91–93. – Die Germanisten, die mit nationalsozialistischen Pamphleten zur ‘volkhaften’ Literatur hervortraten, um einen neuen Kanon zu etablieren, vereinnahmen zwar manchen unverdächtigeren Autor wie Bergengruen oder v. Taube, der erfolgreiche Romanautor v. Molo wird jedoch übergangen. Vgl. Hellmuth Langenbacher, Volkhafte Dichtung der Zeit. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1933; Heinz Kindermann, Die deutsche Gegenwartsdichtung im Aufbau der Nation. Berlin: Junge Generation Vlg. [1934]. Molo, Mensch Luther, S. 234.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
auch einer überwiegend schlichten figurensprachlichen Gestaltung – in den narrativen Passagen literatursprachliche Elemente, die noch an expressionistisch anmutende Einsprengsel im Schiller-Roman erinnern:133 Der Kurfürst von Sachsen fand auch keinen Schlaf. Daran waren nicht nur die Stimmen der Betrunkenen schuld, die in den finsteren Straßen ununterbrochen johlend, wie benebelte Käfer, einhertaumelten, die immer wieder aneinandergerieten und sich in der Dunkelheit rempelten und schlugen, Inwendiges rumorte, beunruhigte und quälte, zwang den schweren Körper in der großen Bettlade dauernd von der einen Seite zur andern zu drehen.
Die komplexe Syntax ebenso wie die durch das gesuchte Bild der Käfer sprachlich domestizierte Derbheit der Trunkenheitsszene und die Häufung der vier – die inneren Tumulte nachbildenden – Verben, kurz: An der Stelle dieser literatursprachlichen Gestaltung aus von Molos biographischem Roman wird von dem konsequenter völkisch schreibenden Wilhelm Schäfer eine – letztlich freilich hoch artifizielle – Volksdichtungssprache erprobt. 5.2.3. Völkischer Zwingli (Schäfer) Die Ausführungen zu Walter von Molos Reformationsroman sind entsprechend durch eine Analyse der biographischen Auseinandersetzung Wilhelm Schäfers (1868–1952)134 mit dem Zürcher Reformator Huldreich Zwingli (1926) zu kontrastieren und zu ergänzen. Schäfer bezeichnet sein Werk im Untertitel nicht als einen Roman oder eine Biographie, sondern als »ein deutsches Volksbuch«,135 welches er dem Schriftstellerkollegen Emil Strauß zum 60. Geburtstag widmet.136 In einem »Vorwort« erläutert Schäfer sein Interesse an der Gestalt des Reformators und sein erzählerisches Vorgehen. Gleich zu Beginn stellt sich die Wahl Zwinglis zum Gegenstand einer Biographie dar als Entscheidung für einen »Staatsmann«, der seine Sache auch »mit dem Schwert« vertritt und dennoch »sein Reich« »auf sittlicher Grundlage« errichtet hat. Schäfer begründet diese Wahl durch eine Anti———————— 133 134
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Ebd., S. 117. Zu Schäfer vgl. den Aufsatz von Carsten Würmann, Vom Volksschullehrer zum »vaterländischen Erzieher«. Wilhelm Schäfer: Ein völkischer Schriftsteller zwischen sozialer Frage und deutscher Seele. In: Christiane Caemmerer u. Walter Delabar (Hgg.), Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945. Opladen: Westdt. Vlg. 1996, S. 151–168. Wilhelm Schäfer, Huldreich Zwingli. Ein deutsches Volksbuch. München: Georg Müller 1926. Beide Autoren verließen 1931 (gemeinsam mit Kolbenheyer) die in ihren Augen linkslastige Preußische Akademie der Künste und standen dem nationalsozialistischen Regime positiv gegenüber.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 485
these, für welche Luther herzuhalten hat. Luther ist das Gegenbild zu Zwingli. Schäfer stellt dem Mönch Luther einen kriegsgewandten und -gewohnten Eidgenossen entgegen.137 Luther repräsentiert die alte Feudalordnung und beschränkt sich auf die Kirche in dieser Ordnung, während Zwinglis reformatorische Tätigkeit zuerst eine staatspolitische der ‘Eidgenossenschaft’ ist.138 Dem historischen »Zwiespalt« im Abendmahlstreit von Marburg, der auch ein erzählerischer Knotenpunkt des Romans ist, entspricht – so Schäfer – »der Gegensatz ihrer Naturen«.139 Luther wird zum weltfernen ‘Christen’ stilisiert, »weil sein Reich geistig und nicht von dieser Welt war«, während Zwingli als »der konsequentere Protestant« erscheint, der besonders im Diesseits wirken möchte. »Der eine war durch die Mönchsschule des Augustinus, der andere durch den Humanismus ins Evangelium gegangen.«140 Mit dieser Hinwendung zu Gegenwarts- und Diesseitsaufgaben, die Schäfer in Zwingli verkörpert sieht, verbindet der Verfasser sein Darstellungsanliegen:141 […] der germanische Mensch wollte aus seinem Gewissen verantwortlicher Erdenbürger werden. Das hat Zwingli klarer als Luther gelehrt und getan, weshalb Dilthey von ihm sagt, daß kein Mensch des Reformationszeitalters das Christentum männlicher, gesünder und einfacher aufgefaßt habe. Darum und weil wir für unsere unmännliche, kranke und verzwickte Menschlichkeit wieder Gläubigkeit gewinnen müssen für eine Rechtfertigung unseres irdischen und bürgerlichen Daseins aus dem Gewissen: schrieb ich dem deutschen Volk dieses Buch.
Was bei Walter von Molo nur im Ansatz erkennbar wird, ist bei Schäfer vollends ausgefaltet: Auch hier waltet ein ursprünglicher Germanismus, dem außerdem die Eidgenossenschaft problemlos eingefügt wird. Deutlicher als von Molo grenzt der Verfasser des Volksbuches sein Vorgehen von charakterologischen oder psychologischen Vorgehensweisen ab. An deren Stelle tritt – nun genauso wie bei von Molo – die einfache Herkunft des Helden Zwingli, der über das ganze Buch und über seinen eigenen gesellschaftlichen Aufstieg hinweg immer »der Sohn eines Ammanns in Wildhaus«142 und also einer »von Toggenburg«143 bleibt. Das PsychologischMenschliche der Figurencharakterisierung in der modernen Biographik wird durch das Germanisch-Bodenständige ersetzt. In beiden Fällen wird jedoch eine Überzeichnung und Idealisierung der außerordentlichen Figur vermieden, um allgemeine Feststellungen machen zu können. ———————— 137 138 139 140 141 142 143
Schäfer, Huldreich Zwingli, S. XIII. Ebd., S. XI f. Ebd., S. XV. Ebd., S. XVI. Ebd., S. XVI f. Ebd., S. XIII. Ebd., zuerst S. 13.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Diese Gestaltung der Bodenständigkeit und Ursprünglichkeit wird von Schäfer bis in das Erscheinungsbild des Reformators fortgeschrieben. Seine noch an den klassischen Heros gemahnende Gestalt trägt nicht mehr den Charakter des Außerordentlichen, sondern ist das gewöhnliche Bild eines Toggenburgers, welcher der Welt einigen Widerstand entgegenzusetzen hat, »weil er von Toggenburg war und von langer Gestalt und seiner Fäuste gewiß«.144 Obgleich er eine herausragende Gestalt der Geschichte ist und eine treibende Kraft auch im Volksbuch, bleibt Zwingli ein Teil der regionalen oder nationalen Gemeinschaft. Damit löst Schäfer eine Forderung völkischer Geschichtsschreibung ein, die als »das unverkennbare Merkmal echten Führertums […] die tiefe Verbundenheit mit Volk und Raum« ansieht (Peter Richard Rohden).145 Zwingli erscheint als »wackerer Eidgenoß in seinem Priestergewand«.146 Auch in anderer Hinsicht wird Zwingli auf irdische Füße gestellt. Er ist zwar als Priester und Reformator ein besonders sittlicher Mensch, doch nicht im Sinn der katholischen Kirche ohne Fehl und Tadel. Zu einer wichtigen Szene des biographischen Buches wird der Bruch des Zölibats mit einer Prostituierten. Schäfer möchte zeigen, daß der Priester ein Mensch ist mit einer durchweg menschlichen Konstitution – und eben auch mit menschlichen Bedürfnissen, die »den Sinnengrund des Lebens« bilden.147 Zwinglis Zölibatsbruch ist zugleich eine Anklage gegen eine lebensferne kirchliche Ordnung wie eine Möglichkeit den aufrichtigen Charakter Zwinglis dadurch zu beweisen, daß sich dieser zur Tat offen und »mannhaft« bekennt.148 Seine schließliche Heirat wird so auch zum persönlichen Zeichen der Reformation. In der Konzeption Schäfers wird in dieser Weise die ‘sinnliche’ Existenzebene aufgewertet, und diese gewinnt im Kontext einer antirationalistischen Figurenkonzeption an Bedeutung: Nicht nur besiegt das Fleisch den Geist – es ist auch gut so, da die eigentlichen Kräfte des Volkes und des Menschen sich im unkontrollierbaren Sinnesbereich zeigen. Profil gewinnt die Figur Zwingli durch die Gegenüberstellung mit anderen Figuren. Dabei sind es weniger die offensichtlichen Gegner der Reformation, die – anders als bei von Molo, wo Luthers Gegner die ei———————— 144 145
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Ebd., S. 13. Peter Richard Rohden, Einleitung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.), Gestalter Deutscher Vergangenheit. Potsdam u. Berlin: Sanssouci Vlg. o. J. [ca. 1937], S. 11–26, S. 12. – Der Band enthält Kurzbiographien deutscher ‘Führer’ von Arminius bis Hindenburg und soll einen Beitrag leisten zu Rohdens Idee, »die Geschichte eines Volkes einmal ganz vom Gesichtspunkt des Führerproblems aus zu betrachten« (ebd., S. 11). In der Einleitung wird der Geschichtsverlauf reduziert auf die Erscheinung und das Wirken der im Band vorgestellten Gestalten, in denen sich das Werden des Volkes bündelt. Schäfer, Huldreich Zwingli, S. 45, vgl. auch S. 114. Ebd., S. 69. Ebd., S. 105.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 487
gentlich Handelnden sind – weitgehend im Hintergrund wirken. Profil gewinnt Zwingli vielmehr durch die Abgrenzung von Figuren aus dem eigenen Wirkungs- und Denkkreis. Die Gegensätze zwischen Zwingli und Luther werden bereits im Vorwort thematisiert, und sie bilden einen Schwerpunkt auch der Erzählung. Zwingli will nicht nur ein Kirchenreformer sein, sondern ein Staatsbegründer. Dies zeigt sich besonders bei der Frage, ob ein Priester Gewalt anwenden darf. Schäfers biographisches Volksbuch ist nicht zuletzt die Beschreibung eines Weges vom Kirchenmann zum schwertführenden Eidgenossen. Zwingli entscheidet an einer wichtigen Stelle des Buches, da ihm ein Lutherschüler aus Wittenberg den Vorwurf überbringt, zu diesseitig zu denken und zu handeln: »Da ich kein Mönch sondern ein Eidgenoß bin, und Eidgenossen hören mein Wort, wie kann ich mich da mönchisch verhalten?«149 Die Nacht nach dem Gespräch ringt Zwingli mit seiner Position und trennt sich innerlich vom strengen Priesteramt: »und war kein Priester mehr, als er die Sonne aufkommen sah im Widerschein auf den Dächern der Bürger von Zürich«.150 Dieser Weg führt – erzählerisch konsequent gestaltet – in den Krieg und in den gewaltsamen Tod auf dem Schlachtfeld. Durch einen zweiten Widerpart zeigt sich die Position von Zwingli. Schäfer arbeitet deutlich die Distanz zwischen seinem volksnahen Reformator und dem Humanisten Erasmus heraus, dem Zwingli begegnet. Lange vor Stefan Zweigs Erasmus-Luther-Konfrontation bietet Schäfer hier in antihumanistischer Version den Zwingli-Erasmus-Widerstreit. Der Hochmut des Gelehrten Erasmus führt zur Distanzierung Zwinglis vom Humanismus überhaupt:151 Sie wollen im freien Geist sein, sagte er bitter, und wollen hochmütig wohnen in ihrer behüteten Bildung, indessen das arme Volk keine Tür aus seiner Niedrigkeit findet. Ich will aber keiner Schrift und keiner Rede mehr froh sein, wenn sie für das Ohr des Volkes zu gelehrt ist.
Hier trifft sich die bäurische Figur Zwingli, die zum Wortführer des ‘germanischen Menschen’ stilisiert wird, mit Wilhelm Schäfers Kritik an neuhumanistischen Denkweisen und auch mit seinen poetologischen Vorstellungen: »Die Natur des Deutschen ist, volkstümlich zu sein, in ihm wächst das Rettende nicht nur wider die Gefahr der Humanisten.«152 Der Prediger in der Volkssprache wird zum Gegenstand eines Volksbuches. Schäfer wählt einen altertümlichen – teils biblischen – Erzählduktus und einen durch Anleihen aus dem schweizerdeutschen Wortschatz, durch ———————— 149 150 151 152
Ebd., S. 248. Ebd., S. 249. Ebd., S. 174. Vgl. Wilhelm Schäfer, Wider die Humanisten. Eine Rede. In: Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie 8 (1942), S. 169–185, zit. S. 185.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
eine artifizielle, anachronistische Umgangssprache und durch Ausdrücke aus älterer Volksliteratur geprägten Stil. Literatursprachliche Elemente sind hier durch naturalistische Beschreibungen und bildliche Bodenständigkeit erstetzt. Es zeigt sich ein eigenes poetologisches Konzept, welches sich nicht nur gegen den modernen Intellektualismus und besonders gegen die Rationalisierung der sinnlichen Existenzebene in der Psychologie und im psychologischen Roman wendet, sondern ein eigenes episches Vorgehen impliziert, eine eigene völkische Mythographie voraussetzt und ein eigenes Publikum avisiert. Wie Zwingli als Eidgenosse zu den einfachen Eidgenossen sprechen möchte, ist das Zielpublikum des ‘Volksdichters’ Schäfers nichts weniger als ‘das deutsche Volk’:153 Ich schrieb es als Volksbuch, d.h. ich verzichtete auf alles, was zur Literatur der heutigen Bildung gehört. Wie in der Legende erzählt wird, versuchte ich ohne Ausmalung der Situationen, ohne psychologische Zerlegungen, ohne Gedachtheiten nur das berichthaft zu sagen, was dem Leben Zwinglis die bedeutende Wendung gab. Das bedeutet ebensowohl einen Verzicht auf dichterische Mittel wie einen Zwang zur Einfachheit, […].
Schäfer wendet sich in seinem Vorwort ab von den (bildungsliterarischen) Gattungen der Biographie, des Romans und der historischen Erzählung. Erzählerisch will Schäfer gegen Individualismus und Humanismus, also gegen Vernunftethik, Bildungswissen und Willensfreiheit, den »Bodenund Volks-Zusammenhang zurückerobern« (Witkop).154 Sein Volksbuch sei als »ein epischer Versuch« zu verstehen.155 Hier zeigen sich bereits die Elemente, welche die linientreue Literaturtheorie Schäfers nicht erst in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmen. In einem Aufsatz über Das Wesen der epischen Dichtung (1939) versteigt sich Schäfer bis zur Behauptung, in der epischen Dichtung, die eine Chronik ohne jede Erfindung zu sein habe, treffe sich der Autor mit dem Leser im mythischen »Lebensboden« des Volkes.156 Die erzählerische Gestaltung bleibt schlicht, da der Autor als »Chronist« nur wiedergibt, »was geschah« und nicht »fabuliert«.157 Sie soll von ungekünstelter Einfachheit sein, denn in der Sprache finden sich Volk und Dichter im Volkstum: »nur das Volk spricht; und der Dichter ist sein Mund«.158 In der 1948 von Schäfer herausgegebenen, ———————— 153 154 155 156
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Schäfer, Huldreich Zwingli, S. XVII. Philipp Witkop, Wilhelm Schäfer. In: Die schöne Literatur 29 (1928), S. 1–12, zit. S. 1. Schäfer, Huldreich Zwingli, S. XVIII. – Eine zweite Ausgabe des Werkes in Versen (!) trug den Untertitel »Ein epischer Versuch« (Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1927). Wilhelm Schäfer, Das Wesen der epischen Dichtung. In: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie 5 (1939), S. 97–106, zit. S. 104; ein weitläufiger Auszug a. In: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880. Hg. von Eberhard Lämmert et al. Königstein/Ts.: Athenäum 21984 (Athenäum Taschenbücher. Bd. 2180), S. 220–224. Schäfer, Das Wesen der epischen Dichtung, S. 103. Ebd., S. 103.
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aber bereits 1943 verfaßten autobiographischen Schrift Rechenschaft äußert er sich weiterhin in ähnlicher Weise.159 Schäfer hebt wiederum auf die Gemeinschaft des Volkes ab, die er dem Individualismus des einzelnen entgegensetzt. Der Gedanke, daß die Gesellschaft die Gemeinschaft der Individuen sei, oder der Gedanke, daß die aus den Individuen erst gefügte Gesellschaft dann mehr beinhaltet als die Summe der Einzelindividuen, bleibt ihm fremd wie jeder Gedanke der Bildung einer Gesellschaft. Vielmehr ist das Volk als Volkscharakter, der seinen Ort in Raum und Sprache160 der Nation hat, in jedem ursprünglich einzelnen präsent.161 Schäfer ist sich mit einer völkischen Geschichtsschreibung einig, wenn er auf dem Primat des Volkes besteht und in seinem Roman konfessionelle und individuelle Aspekte verdrängt werden. So heißt es bei Harold Steinacker:162 Der Führer setzt das Volk in den Mittelpunkt, nicht etwa nur als ersten Wert unter vielen anderen, als primum inter pares, neben dem auch andere Werte – Staat, Partei, Klasse, Konfession, Wirtschaft, Individuum – ein, wenn auch geringeres eigenes Recht haben. Sondern als einzigen, alles andere umschließenden Wert, neben dem alle anderen nur gelten, soweit sie aus ihm abgeleitet sind und sich auf ihn beziehen.
Der Dichter wird von Schäfer zum »Träger und Erhalter des Volkes« stilisiert,163 zum »Hüter der Volksseele«,164 »Organ seines Volkes«165 und »Mund seines Volkes«.166 Diese Gedanken lassen rasch deutlich werden, warum Schäfer nach Hans Grimm und Erwin Guido Kolbenheyer zur literarischen Identifikationsfigur für die völkische Literaturkritik schon ———————— 159
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Wilhelm Schäfer, Rechenschaft. Kempen: Thomas-Verlag 1948. – Schäfer versucht mit diesem Band seine Ideen und Werke in die Nachkriegszeit zu retten, indem er über die Entstehung seiner Werke und seine schriftstellerischen Ziele Auskunft gibt. Eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime wird nicht, eine Auseinandersetzung mit dem II. Weltkrieg kaum geführt. Schäfer stilisiert sich selbst zum berufenen Volksdichter: »Ich bin als Menschensohn in die Welt geboren; aber als ich zu meinem Ich erwachte, war ich deutsch: die deutsche Sprache hat meinem Ich die Form seiner Gedanken gesetzt.« Ebd., S. 317. Ebd., S. 21, 319. Harold Steinacker, Weg und Ziel der deutschen Geschichtswissenschaft. Staatsgeschichte, Kulturgeschichte, Volksgeschichte. In: Ders., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Brünn, München u. Wien: Rudolf M. Rohrer 1943, S. 149–167, hier S. 162. Weiter heißt es: »Wir stellen als Urgrund und Endziel der deutschen Geschichte und aller Geschichte überhaupt das Volkstum, die Volksart auf, die Völker als letzten Gedanken Gottes in der Geschichte.« (S. 163). Um dieses Ziel zu verfolgen wird ausdrücklich eine subjektive Geschichtsschreibung propagiert (S. 161). Schäfer, Rechenschaft, S. 21. – Diese Funktion des Dichters für die ‘Volkswerdung’ wurde kulturpolitisch gefördert (Heinz Kindermann, Hans Friedrich Blunck, Baldur von Schirach). Vgl. Rolf Geissler, Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkisch-nationalsozialistische Literaturkritik. Stuttgart: DVA 1964 (Schriftenreihe der Vierteljahrschrift für Zeitgeschichte 9), S. 39–41. Schäfer, Rechenschaft, S. 267. Ebd., S. 275. Ebd., S. 294.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
Ende der 20er Jahre werden167 und als Galionsfigur des nach der Bücherverbrennung inthronisierten nationalsozialistischen Literaturkanons genannt werden konnte.168 Hellmuth Langenbucher, der neben Heinz Kindermann169 zu einem Vorreiter der nationalsozialistischen ‘Kulturrevolution’ avancierte, nannte den literarischen Lebensweg Schäfers »ein Suchen nach der wirklichen Gestalt seines Volkes, ein Weg hinein in das Volk«. 170 Und 1935 erschien ein Jubelbuch von Franz Stuckert, in welchem Wilhelm Schäfer als einer jener »im tiefsten Sinne ‘politische[n] Dichter’« gefeiert wird, denen »Dichtung mehr ist als Ausdruck eines individuellen Erlebnisses, nämlich Formung und Gestaltung eines völkischen Gesamtgehaltes«.171 Ihm gelinge es, die Bedingtheit Zwinglis zu zeigen und ihn gleichzeitig zu »monumentalisieren, d. h. […] aus dem empirischen Leben Zwinglis den Mythos zu formen«.172 Gleichwohl blieb Schäfer auch in der völkischen Reaktion auf seine Werke nicht unkritisiert. Der linientreue Literaturhistoriker Arno Mulot etwa kritisierte nicht nur die sprachlich-stilistische Gestaltung und fehlerhafte Argumentation von Schäfers Dreizehn Büchern der deutschen Seele, 173 sondern auch die zu moderne (!), für ein ‘Volksbuch’ immer noch zu gelehrte Zwingli-Darstellung:174 Es sollte – ohne psychologische Zergliederungen, ohne romanhafte Willkür und ohne nachträgliche Reflexion – ein Volksbuch sein im Stil des Heldenliedes und in der Sachlichkeit der Saga. Dies allerdings erfüllte sich dem Dichter nicht. Die überstrenge Schlichtheit wirkte künstlich, das Knochengerüst der Handlung trat stark hervor; der bildungsmäßigen Voraussetzungen aber waren es immer noch so viele, daß der Huldrich Zwingli mehr wie ein ausgeführtes Kapitel aus den Dreizehn Büchern der deutschen Seele, denn als dichterisches Volksbuch anmutet. ———————— 167 168 169
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Vgl. Witkop, Wilhelm Schäfer. Langenbucher, Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 9, vgl. die Bibliographie der nun kanonisierten Literatur im Anhang. Kindermann pries Schäfer, der »mit seiner zum Tatgeist erziehenden Heiligung des Volkserbes« einer der zentralen Autoren »volkhafte[r] Dichtung« sei, die nun das Erbe der (verbrannten) »rassisch vielfach überfremdeten« Literatur angetreten habe. Kindermann, Die deutsche Gegenwartsdichtung, S. 7. Langenbucher, Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 38. Franz Stuckert, Wilhelm Schäfer. Ein Volksdichter unserer Zeit. München: Langen, Müller 1935, S. 5. Ebd., S. 63. Arno Mulot, Die deutsche Dichtung unserer Zeit. 2., erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 1944, S. 230f. – Wilhelm Schäfer hatte sich bei seinem Versuch über ‘die deutsche Seele’ die Struktur der biblischen Bücher zum Vorbild genommen. Bereits die Titel der ‘Bücher’ seines Werkes – wie »das Buch der Könige« oder »Das Buch der Propheten« zeigen dies, aber auch der auf die Selbstverwirklichung des deutschen Volkes gegründete, dem messianischen Geist des AT nachgebildete Nationalismus. (Wilhelm Schäfer, Die dreizehn Bücher der deutschen Seele. München: G. Müller 1922.) Mulot, Die deutsche Dichtung, S. 516f. – Auch Stuckert bemerkte kritisch, daß die Sprache noch nicht volkstümlich genug sei.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 491
Diese Diskussion um die Konzeption von Schäfers Werk offenbart Grundzüge einer spezifisch völkischen Realismus-Konzeption. Monumentalisierung der Figur (Heldenlied) und Ereigniserzählung (Saga) werden von Mulot eingefordert.175 Die stilisierte historische Sprache in Schäfers Huldreich Zwingli dagegen wird als Künstelei enttarnt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Mulot und Schäfer die ideologischen Grundlagen und die Darstellungsziele teilten. Besonders Schäfers Anekdoten, die sich freilich einer politische Fraktionen übergreifenden und in Nachkriegsliteraturgeschichten unvermindert fortdauernden Beliebtheit erfreuten, werden von Mulot gelobt. Hier sei der Dichter erkennbar als »Künder des inneren Reiches des deutschen Volkes«.176 Diese Vorstellungen über die Gemeinschaft des Volkes verbinden sich bei Schäfer mit einer Absage an den »Ichmenschen aus dem 19. Jahrhundert«.177 Nicht der gebildete Einzelmensch des zivilisierten Zeitalters, dessen Untergang sich in einem grausamen aber notwendigen Ersten Weltkrieg geäußert habe,178 sei für die Beantwortung der ‘sozialen Frage’ geeignet.179 Dagegen stellt Schäfer den sich selbst aufgebenden Menschen, der die nationale Gemeinschaft in religiöser Weise verehrt, und in dem sich – wie in den ältlichen Liebhabern der Geschichtensammlung Altmännersommer – die »Überlegenheit der aus dem Instinkt, aus der Stimme des Blutes handelnden Menschen«180 zeigt. Er sieht sich damit in der Gedankenwelt des ‘deutschen Christentums’, das die nationale Brücke schlage zwischen Volk und Christentum.181 Als ein volksgemäßes Leitbild dieses Gedankens muß der Roman Huldreich Zwingli verstanden werden. An das Ende seiner Rechenschaft stellt der Schriftsteller die apokalyptische Offenbarung eines dritten Reichs aus seinem dreißig Jahre zuvor erschienenen Werk Die dreizehn Bücher der deutschen Seele, das der Germanist Heinz Kindermann 1934 als ein wegweisendes Werk für die nationalsozialistische Bewegung hoch gepriesen hatte.182 Auch das utopische Ziel der ———————— 175
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Eingelöst hätten dies eher andere Autoren wie der Schweizer Emanuel Stickelberger (»Zwingli«, 1925) oder Nikolaus Schwarzkopf in seinem Matthias-Grünewald-Roman »Der Barbar« (1929). Ein Vergleich dieser Werke mit Schäfers Roman im Spiegel von Mulots Kritik kann hier nur angeregt werden. Mulot, Die deutsche Dichtung, S. 232. Schäfer, Rechenschaft, S. 329. »Das Kriegsziel sei die Ausrottung der Zivilisten! sagte ich in die Diskussion der Kriegsziele hinein, und ich meinte den Zusammenbruch der Zivilisation mit all dem Hochmut des unseligen Menschengeistes.« Schäfer, Rechenschaft, S. 265. – Vgl. zu dieser These a.: Geissler, Dekadenz und Heroismus, S. 17f. Schon früher hat Schäfer gegen das Konzept der modernen Zivilisation und gegen »die Konzeption des Menschen als Individuum« die Volksgemeinschaft bemüht. Vgl. Würmann, Vom Volksschullehrer …, S. 154ff. Schäfer, Rechenschaft, S. 298. Ebd., S. 279f. Kindermann, Die deutsche Gegenwartsdichtung, S. 29f.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
nationalen unio mystica der Deutschen sollte über den Zusammenbruch des realexistierenden Nationalstaates hinweggerettet werden. Es ist diese mythisierende Volksdichterhaltung, die Schäfers Roman trotz mancher Nähe deutlich von Walter von Molos Lutherbuch trennt. 5.2.4. »Ein Deutscher ohne Deutschland« (von Molo über Friedrich List) Allerdings hat auch Walter von Molo deutlicher politisch Stellung bezogen. In seiner umfangreichen Darstellung des Lebens von Friedrich List, die unter dem Titel Ein Deutscher ohne Deutschland erschien, wählt von Molo eine Vorgehensweise, die sich in manchem von den genannten Romanen über Schiller und Luther unterscheidet. Es ist fast das einzige Werk von Molos, welches vor der nationalsozialistischen Kulturpresse Anerkennung fand.183 Der Verfasser schildert hier das Leben des nationalen Vordenkers Friedrich List von seiner schwäbischen Kindheit bis zum letztlichen Scheitern. Das Werk erschien in mehreren Auflagen, wurde sowohl szenisch bearbeitet als auch 1943 verfilmt. Bereits die Wahl der Gestalt Friedrich Lists, der auch von Historikern wie Wilhelm Treue als »eine der kräftigsten Stützen des Nationalismus im Kampf gegen den Internationalismus« vereinnahmt wurde,184 weist das Werk einem tagespolitischen Kontext zu. Auch in diesem Roman wird nicht ein Volksheld nach Schäferschem Muster kreiert, denn List muß sich gegen seine Zeit stemmen, um dem Gedanken an eine nationale Vereinigung Raum zu geben. Er ist insofern auch nur bedingt eine heroische Gestalt, als er nicht zu einem Vollender geschichtlicher Entwicklungen wird, aber er erscheint als prophetischer Künder des nationalen Gedankens und erfüllt damit als nationalistische Vates-Figur zumindest partiell die Erwartungen einer völkischen Literaturkritik. Das »Schicksal des deutschen Propheten«185 wird im Roman sehr viel konventioneller erzählt, als dies die frühen Lebensdarstellungen von Molos erwarten lassen. Die Kindheit und Jugend werden als schwierige Vorphase der eigentlichen Entwicklung zum politischen Denker gesehen. Dabei wird im Anschluß an Werke des 19. Jahrhunderts ein Bildungsweg – besonders ausführlich etwa die ‘Lehrjahre’ – beschrieben, der aus einer vermufft kleinbürgerlichen Sphäre hinausführt. Die Überwindung der schwäbischen Heimat, die emotionale Lösung von familiären Bindungen ———————— 183 184 185
Vgl. Berglund, Der Kampf um den Leser, S. 91. Wilhelm Treue, Friedrich List. In: Rohden, Gestalter, S. 424–440, hier S. 440. Zu diesem Schluß kommt Treue angeblich, nachdem er das Bild von Übertreibungen gereinigt hat. Walter v. Molo, Ein Deutscher ohne Deutschland. Ein Friedrich List-Roman. 16.–20. Tsd. Berlin: Holle & Co. o.J., S. 551.
5.2. Vom Helden Deutschlands zum germanischen Helden (Ritter, von Molo und Schäfer) 493
werden geradezu sinnbildlich für die Überwindung des Kleinstaatsgedankens durch einen deutschen Nationalismus gesetzt. Wenn List in diesem Zusammenhang als Vordenker präsentiert wird, »der diese geistige Revolution entfesselt hatte,«186 also in gewissem Rahmen als heroische Figur, so darf nicht übersehen werden, daß von Molo in diesem biographischen Roman nicht so sehr daran interessiert war, eine heroische Individuation vorzuführen, als vielmehr einen Beitrag zu einer aktuellen Diskussion zu leisten. Besonderes Gewicht liegt im Roman auf der Auseinandersetzung zwischen nationalen und menschheitlichen Gedanken. In verschiedenen Diskussionen, die List besonders in der Neuen Welt 187 und mit dem Revolutionär Lafayette 188 in Frankreich führt, wird der Nationalismus nicht nur als Überwinder der Kleinstaaterei propagiert – eine politische Frage des 19. Jahrhunderts –, sondern auch als Gegenbild zu einem liberalen Menschheitsgedanken:189 »In ihm rangen zwei Gewalten, Menschheit und Nation, miteinander.«190 Die Entscheidung zwischen diesen beiden Modellen und somit der Vorzug des nationalen vor dem einerseits liberalistischen andererseits pazifistischen Weltbürger-Gedanken wird am exemplarischen Bildungsweg Lists vorgeführt. List gewinnt Konturen als heroische Gestalt, da er sich beharrlich den herrschenden Vorstellungen widersetzt und den – nicht ganz zeitgemäß durch von Molo in die Biographie eingewobenen Gegenwartskonflikt – in prophetischer Weise vorgibt. List wird nicht – wie etwa in der Biographie von Friedrich Lenz (Friedrich List, 1936) – hegelianisch als Repräsentant einer »‘aufgehobenen’ Stufe der Geschichte« angesehen,191 der nur in seinem Kontext verstanden werden will und kaum in die Gegenwart weist. Bei von Molo wird die Figur vielmehr deutlich für die Probleme der Gegenwart aktualisiert. Die Funktion der Biographie wird in Lists utopischer Wendung zum Nationalismus als einem Allheilmittel gegen jedwede Zeitübel deutlich. Nicht nur die Kleinstaaterei, auch die Übermacht des Auslands und die ‘soziale Frage’ sollen durch die nationale Einheit aller Regionen und Stände erreicht ———————— 186 187 188
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Ebd., S. 407. Vgl. die Beschreibung des Banketts in Philadelphia: Ebd., S. 315ff., bes. S. 317. List distanziert sich im Laufe der Gespräche mit Lafayette von dessen Utopie: »Demokrat, liberal, Revolution; List suchte diese Worte zu verdauen, er mochte sie nicht; […].«; ebd., S. 236. Vgl. auch die gegen England gerichteten Ausführungen: Molo, Ein Deutscher ohne Deutschland, S. 414f. Während England überall einen freien Handel verlange, besteht List auf einer einigen und unabhängigen nationalen Wirtschaft. Lists Forderung nach einer »vom Auslande« unabhängigen Reichsbank wird vom Erzähler der Kommentar hinzugefügt: »(Wir haben Sie heute noch nicht.)« Molo, Ein Deutscher ohne Deutschland, S. 317. Friedrich Lenz, Friedrich List. Der Mann und das Werk. München und Berlin: R. Oldenbourg 1936, S. 418.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
werden.192 Ohne sich an der Gestaltung einer völkisch-nationalen Dichtung und Dichtungssprache wie Schäfer zu beteiligen, hat von Molo sich in diesem Werk deutlich um eine Annäherung an nationalsozialistische Positionen bemüht.193 Gleichzeitig kann die Differenz zu völkischen Konzeptionen in der Gestaltung der Hauptfigur nicht übersehen werden. Lists Überzeugungen sind Produkt einer lebenslangen intellektuellen, mitunter auch emotionalen Auseinandersetzung mit den virulenten Staatsentwürfen (etwa Liberalismus, Marxismus). Sie sind das Resultat eines Bildungsweges, der ihn der Normalität entfremdet. Eine zivilisationskritischvölkische Anschauung, der jede ‘Bildung’ als eine Verbildung der im einzelnen ursprünglich vorhandenen ‘Volksseele’ zu gelten hatte, ist hiermit letztlich nicht vereinbar. So schließt von Molo weder an eine völkische Biographik an, noch werden Grundzüge der modernen Biographik erkennbar; von Molo steht sprachlich-stilistisch eher in der Tradition des deutschen realistischen Romans und biographisch im alten Bildungsroman-Denken.
5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros »Die Kinder hegen in ihren kleinen Herzen den Mord. Sie sind vergiftet durch die Tradition des ‘Heldischen’.« (Klabund, Das Erwachen 1919/20)
Historische Persönlichkeiten wurden und werden für unterschiedliche übergreifende oder auch pragmatische politische Ziele instrumentalisiert. Unmittelbar pragmatischen Interessen folgt die Installation und Monumentalisierung militärischer Führergestalten in Kriegszeiten. Sowohl während des Ersten als auch während des Zweiten Weltkrieges wuchs der Bedarf an propagandistisch wirksamen Symbolgestalten. Ebenso wie etwa Martin Luther im Jubiläumsjahr der Reformation 1917 als Symbol der zu verteidigenden nationalen Werte gefeiert wurde, wurden historische mili———————— 192
193
Daß v. Molo andeutete, List habe das Ausland, gar ‘Europa’, gegen die deutsche Rückständigkeit aufbieten wollen, ging dem Rezensenten in Will Vespers »Die Neue Literatur« freilich zu weit: »[…] das klingt als ob es von heutigen Literaten stamme, die auch mit Vorliebe Europa gegen innerdeutsche Vorgänge aufrufen und ausspielen.« Wilhelm Westecker, Molo, Walter von: Ein Deutscher ohne Deutschland. In: Die Neue Literatur 32 (1931), S. 595f., hier S. 595. Eine Annäherung an außenpolitische Vorstellungen des Nationalsozialismus durch die Beschwörung einer gegen den Osten gerichteten deutscheuropäischen Einheit erkennt Klaus Schröter in v. Molos biographischem Roman »Eugenio von Savoy. Heimlicher Kaiser des Reichs« (1936). Vgl.: K. Schröter, Der historische Roman. Zur Kritik seiner spätbürgerlichen Erscheinung. In: Grimm u. Hermand, Exil und Emigration, S. 134f.
5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros
495
tärische Leistungen als Vorbild für Mut und Tatkraft des einzelnen im Krieg heroisiert. Als Beispiel soll hier der Blick auf die österreichische Prinz-Eugen-Literatur und im weiteren Sinne den Prinz-Eugen-Kult gerichtet werden, in welchem sich militärgeschichtliche Interessen mit der Suche nach gesamtdeutschen Identitätsgestalten in der Biographik um eine heroische Gestalt, die sich für eine völkische Darstellung kaum eignete, verbinden. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Hugo von Hofmannsthal in einer Rede Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen (1914) und in einem Kinderbuch Prinz Eugen der edle Ritter (1915) die historische Gestalt als ermutigendes Beispiel für die Gegenwart in pathetischen Worten gefeiert. Dabei geht Hofmannsthal von einer anthropologischen Funktion der Heldenverehrung (und Heldenbiographik) aus, denn gerade in Krisenzeiten müsse der Geist sich am Bild des großen Mannes aufrichten, um die Gewalt über das Gemüt zu behalten, das sich sonst in sich selbst verliere. Gleichzeitig sei eine solche Krisenzeit zur Erkenntnis der Größe besonders geschaffen. Erst eine Zeit, so heißt es in der Kriegsrede, die unter denselben – immer wiederkehrenden – Krisensituationen zu leiden habe wie die Lebenszeit des Prinzen, vermöge dessen Gestalt und Größe wieder zu erfassen: »Aber wenn sich die große Krise der Weltgeschichte erneuert […], so tritt die Gestalt dieses Heros aus dem ehrwürdigen Dunkel, und Staunen durchfährt uns: jedes Atom ist in ihr lebendig.«194 Es zeigt sich bereits in dieser Rede ein Grundzug der funktionalisierten militärgeschichtlichen Biographik: Der historische Hintergrund tritt häufig zurück zugunsten einer Feier der Tatkraft und des Tatvermögens einzelner. Trotz der Betonung der historisch gewachsenen Idee Österreich, welche durch die gewaltsame Tat des großen Mannes Gestalt gewonnen habe, ist auch die österreichische Haltung des Verfassers vergleichsweise zurückgenommen195 und erschöpft sich in Hinweisen wie jenem, daß Prinz Eugen »ein deutscher Nationalheld« geworden sei, ohne je »die deutsche Sprache« zu beherrschen.196 Der Fokus liegt freilich auf dem militärischen Heros, nicht auf der politischen Differenzierung zwischen österreichischen und deutschen Staatskonzepten. Immer wieder betont Hofmannsthal, daß es wesentlich die militärische Leistung und der Mut Prinz Eugens – »Welche Arbeit des Herkules!« – 197 gewesen seien, welche die Rettung Österreichs bewirkt hätten. Die peroratio seiner Rede zeigt die Ziel———————— 194
195 196 197
Hugo v. Hofmannsthal: Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen. Geschrieben im Dezember 1914. In: Ders., Prosa III. Frankfurt/M.: Fischer 1952 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 204–214, hier S. 206. Vgl. generell: Jacques Le Rider, Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Wien etc.: Böhlau 1997 (Nachbarschaften 6). Hofmannsthal, Worte zum Gedächtnis, S. 207. Ebd., S. 213.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
richtung, indem Hofmannsthal in ihr Zuversicht in Kriegszeiten und die Hoffnung auf das Erscheinen eines erneuten Prinz Eugen pathetisch beschwört:198 Lange waren die Herzen von dumpfen, stockenden Zeiten gequält, bis zum Verzagen, nun sind sie betäubt vom ungeheuerlichen Geschehen; aber unerschöpfliche Hoffnung geht ihnen allen aus von dieser einen Gestalt: Eugen. Dies Österreich ist ein Gebilde des Geistes, und immer wieder will eine neidische Gewalt es zurückreißen ins Chaos; unsäglich viel aber vermag ein Mann, und immer wieder, im gemessenen Abstand, ruft ja die Vorsehung den Mann herbei, von dem das Gewaltige verlangt wird und der dem Gewaltigen gewachsen ist.
Hugo von Hofmannsthal setzt bewußt auf die Symbolwirkung der Personifizierung von Historie. Über sein Kinderbuch äußert er, ohne die biographische »Legende« könne die »Liebe zum Vaterland« nicht bestehen. 199 In einer späteren Kritik zweier biographischer Neuerscheinungen greift er erneut den Gedanken auf, daß im fortwährenden Wiederholen der Geschichte »die großen Tendenzen« belanglos würden: »nur durch die Gestalt ergreift das Geschichtliche unser Gemüt«.200 An das Gemüt des Kindes und die Erziehung zum Patriotismus appelliert auch das Kinderbuch. Obwohl er »auf fremder Erde aus fremdem, fürstlichem Blute« geboren worden und »in fremder Denkart aufgezogen worden« sei, habe Prinz Eugen das Schicksal Österreichs zu seinem eigenen gemacht: »Niemand hat klarer als er unseren Weg erkannt und niemand uns um unserer Schickung willen tiefer geliebt, mit jener Liebe, die in Werken und nicht in Worten redet, als dieser Fremde, und darum führt er nach Gottes sichtbarem Willen den Namen des größten Österreichers.«201 Bewußt greift Hofmannsthal zu Stilisierungselementen der Legende und der Heroisierung, um Prinz Eugen als identifikatorische Gestalt zu beschwören: betont werden die Leistung des einzelnen, die Verehrung, die ihm entgegenwächst,202 und seine übermenschlich wirkenden Eigenschaften (ein alles durchdringender Blick). ———————— 198 199
200
201 202
Ebd., S. 214. Hugo v. Hofmanntsthal, Prinz Eugen der edle Ritter. In: Ders., Prosa III. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt/M.: Fischer 1952 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 291–319, S. 292. Hugo v. Hofmannsthal: Geschichtliche Gestalt. »Der Freiherr vom Stein«. Dargestellt von Ricarda Huch. »Maria Theresia«. Von Heinrich Kretschmayr. In: Ders., Prosa IV. Frankfurt/M.: Fischer 1955 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 291–301, hier S. 292. Hofmannsthal, Prinz Eugen, S. 293. Geradezu grotesk ist das Bild der Verehrung, welches Hofmannsthal ohne jede Ironie entwirft: »Wenn er etwas unternahm, so lachten sie im voraus, wie er es jetzt dem Feinde wieder zeige, und wenn er nichts unternahm, so lachten sie, wie er durch diese scheinbare Untätigkeit den Feind foppen wolle. Wenn er ihrer etliche eines Vergehens gegen die Kriegsgesetze begnadigte, so lachten sie, und wenn er etliche andere hängen ließ, so hatten sie auch ihren Spaß daran, denn er war allezeit der geliebte Feldherr.« Hofmannsthal, Prinz Eugen, S. 312.
5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros
497
Bei Hofmannsthal zeigt sich bereits ein Grundelement der hier zu charakterisierenden ‘soldatischen Biographik’. Soldatische Biographien stellen symbolische Handlungen in konkreten historischen Situationen dar. Ihre Autoren interpretieren die eigene Arbeit gerne als Kriegsbeteiligung mit dem Mittel des geschriebenen Wortes und deklarieren sie als Unterstützung der Rekrutierung beziehungsweise als moralische Stärkung der Kriegsteilnehmer. Der Unterschied zwischen der soldatischen Biographik und der biographischen Darstellung einer Offizierslaufbahn in anderen – etwa preußisch-nationalen – Kontexten besteht nicht zuletzt in der konkreten situativen Eingebundenheit der Publikation, welche zur Betonung spezifischer Aspekte des Soldatischen führt, die im Sinne ‘soldatischer Tugenden’ auf die konkrete Disziplinierung des Einzelmenschen im militärischen System zielen. Zivile Tugenden, mitunter sogar die nationalen Tugenden treten dagegen eher in den Hintergrund. Dies führt im Zweiten Weltkrieg etwa – wie zu zeigen ist – zu einer partiell nicht mehr im Sinn völkischer Weltbilder ideologisch geprägten soldatischen Wehrmachtsbiographik. Noch deutlicher wird in zwischen 1936 und 1941 erschienenen PrinzEugen-Biographien die Installation des militärischen Heros als Symbolfigur betrieben. Offener als in den folgenden Sätzen lassen sich diese Anliegen kaum als Programm festschreiben:203 Es war eine verdiente Anerkennung des großen Verdientes Eugens um das deutsche Volk, wenn der Führer Adolf Hitler bald nach dem Anschluß Österreichs im August 1938 einen Kreuzer nach dem Savoyer »Prinz Eugen« taufen ließ, während die hochmögenden Stimmführer der Dollfuß-Schuschnigg-Regierung, dieser neuen Auflage des Metternichschen Systems, den von der jesuitischen Hofkamarilla bis in den Tod verfolgten Prinzen wie zum Hohne als einen der großen Wegbereiter des neuen, durch den Diktatfrieden von 1919 verstümmelten, aber »unabhängigen« Klein-Österreichs zu feiern sich erdreisteten und damit Isidor Proschko recht gaben, der einst zur Würdigung Eugens feierlich verkündet hatte, dessen Andenken werde in den Herzen der Völker Österreichs – also nur dieser, nicht des deutschen – ewig fortleben.
Bereits dieser eine Satz aus dem »Geistiges Vermächtnis« überschriebenen Schlußkapitel der im Ersterscheinungsjahr in mindestens 25’000 Exemplaren gedruckten Biographie Prinz Eugen – Ein Heldenleben (1941) des Wiener Biographen Viktor Bibl (1870–1947) zeigt deutlich die Vergegenwärtigungstendenz seines Buches. Ziel des Werkes ist es, den geschichtlichen Heroismus als einen für die Gegenwart exemplarischen zu aktivie———————— 203
Viktor Bibl, Prinz Eugen. Ein Heldenleben. Wien u. Leipzig: Johannes Günther Vlg. 1941, S. 312. – Bereits seit Mitte des 19. Jh.s hatte es in der österreichischen Marine Schiffstaufen auf den Namen »Prinz Eugen« gegeben. Die am 23.08.1938 erfolgte Taufe des Kreuzers der Krupp-Germania-Werft in Kiel war ein Staatsakt von hohem Symbolwert.
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
ren: namentlich für die »unvergleichlichen Waffentaten des Dritten Reiches«.204 Prinz Eugen wird dabei sowohl für die militärische Tat als auch für die politische Idee vereinnahmt, denn in der Gegenwart habe »die Reichsidee, für die der Prinz gelitten und gestritten, im nationalsozialistischen Deutschland seine endliche Verwirklichung gefunden«.205 Mit diesem Werk wird hier auf einen wichtigen Punkt der propagandistischen Funktionalisierung populärer Helden eingegangen, wie sie sich in einer breit zu verstehenden Denkmalkultur zeigt. Heldendenkmäler, Benennungen von Kriegsschiffen und Bataillonen nach bekannten Gestalten der Geschichte, die zugleich mit gegenwartsrelevanten Interpretationen vereinnahmt werden, waren sowohl im wilhelminischen Deutschland als auch im Nationalsozialismus beliebte Träger eines zu schaffenden kulturellen Gedächtnisses im Sinn eigener imperialer oder ideologischer Vorstellungen. Der auch publizistisch beachtliche Kult um die Führungspersönlichkeiten (Wilhelm II., Bismarck, Adolf Hitler) bildete nur einen Teil umfassender Prozesse zur Installation opportuner Geschichtsbilder mittels manifester Geschichtszeugen, die eben zumeist keine historischen Zeugen waren, sondern Neuinstallationen einer zeitgemäß reformulierten Geschichte: Luther der Großdeutsche und Prinz Eugen der Wehrmachtsoffizier. In diesen umfassenden Prozeß reiht sich Bibl ein, wenn er seine Biographie nicht nur der Dedikation nach, sondern in jeder Zeile seiner Prinz Eugen-Stilisierung »der Wehrmacht des grossdeutschen Reiches« widmet.206 Obgleich sich Bibl in der Darstellung auf die historische Ebene beschränkt und nicht explizite Aktualisierungen seines Stoffes vornimmt – diese leistet dann das Schlußkapitel –, ist die Darstellung doch durchsichtig, wenn er seine Biographie mit dem ‘aufgezwungenen’ Westfälischen Frieden beginnt und so den Vergleich zum »Diktatfrieden von 1919« nahelegt. Bibl hält sich nicht lange mit der Kindheit und Jugend des Prinzen Eugen auf, dessen französisch-italienische Herkunft durch eine radikale Abwendung von Frankreich und die Flucht nach Deutschland ‘geheilt’ wird. Insgesamt bleibt die Charakterisierung Prinz Eugens ziemlich farblos. Eine detaillierte Biographie wird nicht vorgeführt. Vielmehr beschränkt sich die Darstellung weitgehend auf die Schilderung der Kriegsverläufe, wobei im Sinn der Vergegenwärtigung der Kampf gegen die Türken vor Wien zwar eine gewichtige Rolle einnimmt, das eigentliche
———————— 204 205 206
Ebd., S. 312. Ebd., S. 313. Ebd., S. [5].
5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros
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Feindbild aber gegen Frankreich aufgebaut wird.207 Profil gewinnt Prinz Eugen nur als militärische Größe, wobei die Einsamkeit und Willensstärke des Führers zu seinen Qualitäten gehören – ganz im Einklang mit dem Bild eines deutschen Offiziers.208 Er ist auf sich allein gestellt, »auf sein Feldherrngenie, auf den Heldengeist seiner Armee und deren blindes Vertrauen in seine Führung«.209 Nur selten kommen andere Elemente hinzu, etwa wenn der »unvergleichliche Schlachtenheld als Bücherliebhaber« entdeckt wird.210 Selbst in dem »Der Mensch« überschriebenen Kapitel wird keine Charakterisierung – erst recht keine Psychologisierung – der Gestalt formuliert, allein einige Zeitgenossen kommen zur Sprache, wobei Bibl – soweit es sich um Angehörige eines französischen Kulturkreises handelt wie etwa bei dem frankophonen Schweizer Rousseau – darum bemüht ist, ihnen einen Verrat an Prinz Eugen nachzuweisen. Viktor Bibl zeichnet das Bild eines militärischen Führers, der durch militärische Perfektion und nicht durch seine unverwechselbare Individualität gekennzeichnet ist. Selbst eine völkische Ideologisierung der historischen Gestalt im Sinn Wilhelm Schäfers – die sich bei dem Gegenstand zwar kaum anbietet, aber von anderen Autoren durchaus versucht wird, – tritt hier gegenüber der militärischen Darstellungsweise zurück. Darstellungsziel ist der Typus, der sich mit der Gegenwart parallelisieren läßt. Dabei dürften die fehlende Vermenschlichung der Führerpersönlichkeit und die geschilderte bedingungslose Gefolgschaft das zentrale Darstellungsziel am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Die dabei vorgenommene Geschichtsumdeutung tritt aufgrund der eindimensionalen Darstellung nicht deutlich hervor. Sie zeigt sich eher in anderen Werken Bibls, in denen der österreichischen Politik die Schuld an der Auflösung des Alten Reichs gegeben wird, u.a.: Metternich (1936), Die Tragödie Österreichs (1937), Kaiser Franz (1939).211 Zwei Themen, die auch sonst das Bild der Prinz Eugen-Biographik prägen, werden so bei Bibl miteinander verbunden: Zum einen gehört die Gestalt des militärischen Führers zum zentralen Bestand der Kriegsge———————— 207
208 209 210 211
Vgl. etwa ebd., S. 55, wo die Zerstörung des Heidelberger Schlosses als »Schandtat der sogenannten ‘Kulturnation’ « bezeichnet und die Besetzung der Pfalz explizit mit den »von den Tartarenhorden verübten Greueltaten« gleichgesetzt wird. Vgl.: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich u. Karin Wieland (Hgg.), Willensmenschen. Über deutsche Offiziere. Frankfurt/M.: Fischer 22000 (FischerTB 14438). Bibl, Prinz Eugen, S. 106. Ebd., S. 229. Viktor Bibl, Metternich. Der Dämon Österreichs. Wien u. Leipzig: J. Günther Vlg. 1936 (41941); ders., Tragödie Österreichs. Wien u. Leipzig: J. Günther Vlg. 1937; ders., Kaiser Franz. Der letzte Römisch-Deutsche Kaiser. Leipzig: J. Günther Vlg. 1939; ferner: Ders., Der Herzog von Reichstadt. Wien etc.: Stein 1925; Erzherzog Karl. Der beharrliche Kämpfer für Deutschlands Ehre. Wien u. Leipzig: J. Günther Vlg. 1942; Kaiser Josef II. Ein Vorkämpfer der Grossdeutschen Idee. Wien u. Leipzig: J. Günther Vlg. [1943].
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5. Heros und Anthropos im nationalen Diskurs
schichtsschreibung und militärischen Biographik. Zum anderen wird Prinz Eugen zu einer Symbolfigur stilisiert, die dem politischen Bedeutungsverlust Österreichs und der ‘Einseitigkeit’ einer an Preußen interessierten deutschen Nationalgeschichtsschreibung einen gesamtdeutschen Mythos entgegensetzt. Prinz-Eugen-Biographien wie besonders auch die bereits 1936 erschienene Lebensdarstellung Prinz Eugen: Ein Lebensbild des Militaria-Autors und Verfassers von Österreichromanen Alfons von Czibulka (1888– 1969)212 wurden im Zweiten Weltkrieg als Frontlektüre in Billigausgaben gedruckt und dienten als propagandistisches Material. Dabei geht es nicht unbedingt um eine nationalsozialistische Ideologiebildung, sondern vor allem um rein soldatische Aspekte, da etwa Czibulkas Werk die heroische Handlungsmächtigkeit des einzelnen soldatischen Entscheidungsträgers betonte. Besonders bei Czibulka ist das weitgehende Fehlen einer völkischen Ideologie beachtlich – an deren Stelle treten wie auch bei Bibl die Lesebedürfnisse eines Militaria-Publikums: Im Vordergrund stehen Schlachtbeschreibungen, soldatische Haltung und Tatkraft. Dabei bedient Czibulka Leseinteressen einer Leserschaft, die wohl weitgehend durch das Schlagwort der ‘Schande von Versailles’ geprägt war. Entsprechend in die Gegenwart verlängerte Frontlinien und Verherrlichungen eigener Kriegstaten bekunden die Aktualität des Dargestellten. Der französische Prinz mutiert bei Czibulka zum Italiener mit Spaniensympathien, und der biographische Erzähler ergeht sich in antifranzösischen Tiraden zur »ewigen Bedrohung Europas durch französische Machtgelüste«.213 Die Glorifizierung der ersten Kriegstage 1914, die Czibulka einzig kriegsgeschichtlich mit dem großen Türkenfeldzug vergleichbar scheinen, richtet sich an dieselbe Leserschaft: 214 Erst in den Sommertagen 1914, als sein [Österreichs] Heer wagemutig allein nach Polen stürmte, als es in ungeheuren Bluttropfen den deutschen Armeen, die im Westen den Sieg suchten, den Rücken deckte […] hat es diese seine deutsche Sendung vielleicht noch größer erfüllt.
Hauptadressat ist zweifelsohne ein österreichisches Publikum, das auf eine großdeutsche Lösung eingeschworen werden soll. Bereits in der Einleitung weist Czibulka darauf hin, daß er – in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Prinz-Eugen-Literaten seiner Zeit – besonders an dem ———————— 212
213 214
Alfons v. Czibulka, Prinz Eugen. Ein Lebensbild. München: Hugendubel 1936 u.ö. – Das von mir herangezogene Exemplar trägt die handschriftliche Widmung von fünf Kriegskameraden: »Herrn Oberstleutnant Köstlinger zum Kriegsgeburtstag 20.II.1943 Gewidmet von den Kameraden der Abt.« Ebd., S.48. Ebd., S. 31, vgl. a. S. 177 u.ö.
5.3. Prinz Eugen: soldatisches Leitbild und nationaler Heros
501
Prinzen als »Deutschlands Held« interessiert ist, der »heute wieder in den Herzen aller Deutschen lebt«.215 In seiner Darstellung verzichtet Czibulka seinem Anliegen gemäß auf eine episch breit angelegte Historie. Die Ausfaltung der geschichtlichen Ereignisse wird auf die kleine Bühne fast privater Intrigen und Händel reduziert bzw. als Schauplatz bürokratischer Behäbigkeit charakterisiert, von der sich allein die soldatische Disziplin und Handlungsmacht militärischer Führer geschichtsmächtig abzuheben weiß. Auch dieser Zwist zwischen Politik und Militär weist deutlich auf das adressierte Publikum und seine Leseinteressen. Biographische Techniken der individuellen Charakterisierung Eugens oder der psychologischen Herleitung seiner Persönlichkeit haben – wie auch bei Bibl – in Czibulkas Biographie keinen Ort. Die Gefühlswelt des Prinzen ist von schematischer Schlichtheit und wird ohne analytisches Bemühen gestaltet. Es fehlen hier sowohl die Kategorien, die eine genauere Charakterisierung ermöglichen könnten, als auch psychologisches Erzählgeschick, durch welches Charaktereigenschaften im Fortgang der Erzählung Profil gewinnen würden. Der Erzähler weicht auf allgemeine Begrifflichkeiten aus wie ‘Seele’ und ‘Herz’, die zu einer differenzierteren Figurengestaltung untauglich sind und die emotionale wie psychische Seite geradezu in einer ‘blackbox’ grob skizzierter Menschlichkeit verstekken. Dabei zeigt sich der Autor bemüht, jede aus der Begriffsverwendung ableitbare mögliche Schwäche seines Helden durch den Hinweis auf kommende Stärke und Härte zu tilgen:216 In die Seele des damals siebzehnjährigen Knaben mögen das Unglück seiner Mutter, die ungeheuerlichen Anschuldigungen, der allgemeine Haß gegen sie ihre tiefen Spuren hinterlassen haben. In diesen Wunden, die die Seele des Knaben damals empfing, ist ohne Zweifel die Ursache zu finden, daß das Herz Eugens […] sich plötzlich seinem Vaterlande abwandte. […] Als jüngster Sohn war Eugen dem geistlichen Stande bestimmt, Er erhielt auch nach damaligem Brauch schon als Knabe den Titel »Abbé von Savoyen« und trug die Tonsur. Auch wurde er in geistliche Kleider gesteckt. Das war wie eine Vergewaltigung seiner jungen Seele, die schon den Buben von kriegerischem Ruhme träumen ließ.
Militärische Tugenden beruhen auf Führung und Gehorsam; sie sind auf das Ganze der militärischen Operation gerichtet, nicht auf die individuelle Tat und Selbstverwirklichung und nicht auf die individuelle Verantwortlichkeit und Entscheidungskraft einer freien Persönlichkeit, die auf der Basis von Gewissen und Charakter handelt. So hat auch bei Czibulka der militärische Held letztlich nur in geringem Maß individuelle Konturen. ———————— 215 216
Ebd., S. 5. Ebd., S. 13.
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Er wird monumentalisiert zum Geschichtslenker und Vorbildsoldaten. Diese Konzeption bestätigt den schon von Ludwig Carrière erkannten Unterschied zwischen dem Heldischen der Sagenhelden und Heroen und dem soldatischen Heldentum. Während der Held der Sage ein mutiger und mutwilliger Einzelgänger sei, schließe das Soldatenbild der Deutschen Wehrmacht zwar an manche heldischen Kategorien an, der fundamentale Unterschied bestehe jedoch darin, daß der Soldat immer »Massenbestandteil« sei, also seine Individualität im Rahmen von Organisation, Rangordnung, Strategie, Zielvorgaben etc. regulieren müsse.217 Prinz Eugens Leben wird erzählt, um »Eugens Geist«, der Österreichs Armeen bis in den Weltkrieg hinein beseelt habe, zu erhalten.218 Der Biograph versieht seinen Helden lediglich mit einigen wenigen Attributen, die ihn einem bürgerlichen Publikum akzeptabel machen. So wird etwa seine Tugendhaftigkeit betont;219 es finden sich knappe Bemerkungen zu seinem diplomatischen Geschick und gesellschaftlich sicheren Auftreten. Gleichzeitig betont Czibulka aber, daß es Prinz Eugen stets zu seiner Truppe zurückzieht,220 denn in erster Linie ist er Soldat und muß als solcher auf Distanz zum bürokratischen Staat gehen. Czibulka versucht dabei jenseits der Monumentalisierung auch Identifikationsangebote zu schaffen, indem er Eugen mit einer gewissen robusten Sinnlichkeit ausstattet und den Kriegsruhm als Ausgleich für erlittene soziale und familiäre Schmach anbietet.221 Einem Lesepublikum, das sich mit seiner politischen und sozialen Lage in der Gegenwart nicht zurecht findet, werden soldatische Kameradschaft und Abenteuer als eskapistische Träume angeboten, die allerdings einen deutlichen Wunsch zur Verwirklichung durch erneute Kriegstat in sich tragen. Vermenschlichende Aspekte und bildungsbürgerliche Zugeständnisse sind nur verstreute, untergeordnete Randbemerkungen in einer Militärbiographie, deren Ziel die Errichtung eines militärischen und gesamtdeutschen Denkmals ist und nicht ein abwägendes Persönlichkeitsprofil:222 Als der Prinz über das letzte Stück französischer Erde schritt, da fühlte, der Savoyer, sich nicht als Franzose mehr. Da soll er den Schwur getan haben, dieses Land, für das sein Herz erkaltet war, niemals anders wieder als mit dem Degen in der Hand zu betreten. Er hat den Schwur gehalten. Im Augenblick aber als er diesen Eid getan – ist er nun Wahrheit oder Symbol –, rauschte der Vorhang auf zu einem Welttheater, über dessen Bühne fech———————— 217 218 219 220 221 222
Ludwig Carrière, Wandlungen im Begriff des Heldischen. In: Psyche 3 (1949/50), S. 120– 129, zit. S. 125. Czibulka, Prinz Eugen, S. 177. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 45. Ebd., S. 17.
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tend bald ganz Europa stürzte. Brausender rauschte das Strömen der Weltgeschichte nach dieses Knaben Schwur. […] Er hat dieses Deutschland von europäischen Maßen, das er klaren und mächtigen Geistes vor sich sah, mit Blut und Geist, als Feldherr und Staatsmann geschmiedet.
Der gelegentliche Hinweis auf falsche Legendenbildungen um Prinz Eugen ist in diesem Sinn nur ein rhetorischer Kniff, um die Wahrscheinlichkeit der eigenen Monumentalisierung zu gewährleisten. Auch in biographischen und historischen Romanen wird die Gestalt Prinz-Eugens als Heros des gesamtdeutschen Reichsgedankens evoziert. Walter von Molo schrieb seinen gegenüber den veränderten ideologischen Verhältnissen in Deutschland vielleicht anbiederndsten Roman über Eugenio von Savoy (1936). Es folgten u. a. Karl von Möller (1886–?), der Leiter des Kulturamtes der Deutschen in Rumänien, mit einem durch und durch linientreuen biographischen Roman Der Savoyer (1939 u.ö.)223 und Mirko Jelusich (1886–1969) mit einem historischen Roman Der Traum vom Reich (1941), der zentral auch Ereignisse aus dem Leben Eugen von Savoyens behandelt. Anders als Bibl und Czibulka verzichtet etwa Karl von Möller in seinem biographischen Roman auf eine chronologische Darstellung des gesamten Lebenslaufes. Der Fortgang aus Frankreich und die Militärkarriere im Österreichischen Heer werden nur in rückblickenden Bemerkungen in den Figurendialogen aufgegriffen. Der Erzähleingang – ein Gespräch zwischen Kaiser Leopold und seinem Hofkriegsratspräsidenten – führt den Romanhelden ein und zeigt gleich den Durchbruch Prinz Eugens: die Ernennung zum ‘Adlatus’ Augusts des Starken im Krieg gegen die Türken. Auch hier interessiert nicht so sehr der menschliche und individuelle Werdegang des Offiziers als seine militärische und staatsmännische Leistung im Horizont einer großdeutschen Reichsidee. Wie bereits im Eingang des Romans entfaltet sich das Geschehen wesentlich auf der Basis von Figurendialogen. In diesen Dialogen wird sowohl die Biographie des Prinzen in Anspielungen deutlich als auch der historische Hintergrund, der besonders die Gespräche zwischen Prinz Eugen und seiner Vertrauten, Gräfin Eleonore Batthyanny-Strattmann, bestimmt. Dabei werden jedoch ähnliche Tendenzen und Strategien zur Gestaltung der Person Prinz Eugens deutlich. Auch Karl von Möller versucht den Makel einer Herkunft, die als französisch interpretiert werden könnte, durch diverse Hinweise zu verdrängen. Bereits im ersten Gespräch über Eugen von Savoyen zwischen dem Kaiser und seinem Hofkriegsratspräsidenten wird das Problem der französischen Herkunft angesprochen. Die Vorbehalte des Kaisers werden durch den Hinweis auf ———————— 223
Karl v. Möller, Der Savoyer. Ein Prinz-Eugen-Roman. München: Franz Eher 1939.
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seine untadeligen Charaktereigenschaften und besonders durch das erwähnte Lob Eugens seitens des Markgrafen von Baden entkräftet. Der Kaiser gesteht ein: »Der Türkenlouis kann ansonsten die Franzosen so wenig schmecken wie ich.«224 Möller geht noch weiter als Czibulka, der Italien als genealogischen Hintergrund bemüht. Er germanisiert den fremden Heerführer in einem Gespräch zwischen diesem und Guido Starhemberg:225 »Ich hörte unlängst, daß man mich Mars ohne Venus heißt.« »Das Wort kam während des letzten Feldzuges in Italien auf, wenn ich nicht irre, und es stand doch damals ein üppig spanisch Bett für Sie bereit.« »Ich zöge ein deutsches vor.« »Wirklich?« »Sie zweifeln daran, weil man mich halb französisch nennt, halb einen Italiener? Mein Geschlecht stammt aber aus dem Norden. Und historisch gesehen bin ich auch Reichsfürst. Es ist noch keine Ewigkeit her, daß Savoyen tatsächlich ein Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war.«
Immer wieder wird die ‘Deutschheit’ Eugens herausgestellt. Auch in Gesprächen anderer wird das Thema ständig erneut behandelt. Eine Nebenfigur bemerkt etwa: »So einen Deutschen gibt’s kaum sonstwo auf der Welt.«226 Für Möller ist dieser Umstand besonders deswegen auch schwierig, da er – wiederum im Einklang mit anderen Prinz-Eugen-Autoren – seine Darstellung mit deutlichen antifranzösischen Tiraden durchsetzt. Der Sonnenkönig wird von Eugen als ‘Mordbrenner’, ‘Massenmörder’, ‘Oberhurer’ bezeichnet;227 die Franzosen allgemein nicht besser. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, daß sich Möller auch auf anderen Feldern als linientreuer Propagandist erweist: Besonders in der ersten Hälfte des Romans erscheinen immer wieder skrupellose jüdische Händler, die den gesamten Hof durch finanzielle Abhängigkeiten zu beherrschen scheinen und überall geschäftliche Vorteile aufstöbern. Diese schablonenhaften Figuren haben kaum eine andere Funktion als eben die Erfüllung eines antisemitischen Stereotyps. Prinz Eugen wird dagegen zum Leitbild einer gesamtdeutschen Nation. Im Laufe des Romans steigt er zum gottgesandten Kämpfer für die Nation,228 zum »Engel«229 und schließlich zur leibhaftigen Verkörperung der Nation auf. Auftrag und Ziel dieses Ausführenden der Vorsehung ist es, die deutsche Nation gegen ihre Feinde zu verteidigen und besonders: Siedlungsraum im Osten zu schaffen. Wenn der Held äußert, »die wahren ———————— 224 225 226 227 228 229
Ebd., S. 7. Ebd., S. 18. Ebd., S. 70. Ebd., S. 106f. Ebd., S. 33, 158. Möller, Der Savoyer, S. 158, 160.
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Schicksalsländer der deutschen Nation liegen nun einmal im Osten«,230 so ist damit nicht mehr nur die Verteidigung des Abendlandes gegen die Türken, die Verteidigung der Christen gegen den Islam gemeint, sondern der Expansionswillen einer großdeutschen Nation. Neben dem Heerführer Eugen ist es vor allem der Siedlungsstratege, den Möller hervorhebt. Die Besiedlung Ungarns mit Deutschen wird zum ureigensten Anliegen des Prinzen. Ein gewisses erzählerisches Geschick zeigt sich bei der Umsetzung dieser biographischen Akzente. So sehr Prinz Eugen das Werk bestimmt und als monumentaler Heros sämtliche historischen Entscheidungen beeinflußt, so deutlich wird der überragenden Einzelgestalt ein unübersehbares Feld von Nebenfiguren beigestellt, in denen sich die Volksmasse, die Einheit der Nation und der Opferwille ihrer einzelnen Glieder zeigen soll. Siedler aus den unterschiedlichsten Regionen des Reichs – besonders aus der Pfalz und Schwaben – werden in kurzen Dialogszenen vorgestellt. Sie sprechen fast sämtlich ihren jeweiligen Dialekt. Verbindungen und Freundschaften über die regionalen Grenzen hinweg wie etwa zwischen einer Lübecker und einer Wiener Familie demonstrieren den Zusammenhalt der Nation. Kaum eine dieser Figuren erhält ein individuelles Gepräge, aber insgesamt vertreten sie Fülle und Vielfalt der Nation. Dies gilt nicht nur für die Siedler, auch die Wiener Stadtbevölkerung wird in solchen willkürlich herausgegriffenen Gestalten gezeichnet. Besonders gilt dies auch für die Soldaten, die nicht nur eine bedingungslose Verehrung für den militärischen Führer auszeichnet, sondern auch rückhaltloser Opfermut und schier unglaubliche Begeisterungsfähigkeit für die Sache der Nation.231 Als Eugenius in die Lager der Truppen ritt […], rannten von allen Seiten Soldaten herbei; alle Starrheit des Dienstes war vergessen, vor dem da war man Mensch, ein liebender, hingerissener, ein aus dem Alltag hochgehobener, besserer, ein Ausbund von Opferbereitschaft und Zuversicht.
Im Einklang mit der ‘göttlichen’ Sendung ziehen die Soldaten in die Schlacht, die vom Jauchzen der Soldaten begleitet in blutrünstigen Bildern geschildert wird:232 Und wiederum zerbrach der Tod Knochen, zerriß Sehnen, zerschnitt Muskeln, stach nach Herzen, nach Schlagadern und Bäuchen, denen längst sterbensübel war. »Vater!« jauchzte Karl Koch, indes Franz [sein Bruder] auf der anderen Seite des Alten Stiche führte, die genau dort saßen, wohin sie berechnet waren. Karl hatte einige Türken zur Seite gestoßen, und, weil der Fahnenführer der Leibkompanie gefallen war, die Fahne an sich gerissen. Er sprang mit ihr als erster deutscher Soldat vor den Eingang zur zitternden Brücke und pflanzte das Banner ———————— 230 231 232
Ebd., S. 104; vgl. a. S. 187: »Im Osten liegt die Zukunft der deutschen Nation.« usf. Ebd., S. 165. Ebd., S. 40-42.
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mit dem Doppeladler dort auf. Er sah nichts mehr vor Glück und hörte nichts mehr, schluckendes Schluchzen brach aus seiner Kehle, aus den Augen aber stürzten Tränen der Freude. Er verbarg darob sein Antlitz im Fahnentuch. […] Für die kaiserliche Armee brach Erntezeit an. Sie mähte im Einklang mit Gott, und bald hörte man nichts mehr als das Geräusch, so die in die Leiber dringenden Eisen verursachten.
Die Heroisierung Eugens, die nicht zu einer asozialen, isolationären Gestaltung führt, wird im Roman durch diesen Chor der Einzelstimmen der Nation geleistet. Jeder Auftritt wird von massenhaften »Vivat«-Rufen begleitet. Menschen, die ihm begegnen, erkennen in ihm den ‘Engel der Nation’. Vor allem aber wird er tief verehrt und bewundert. Gegnerschaft gegen diesen geheimen »Führer Deutschlands« gilt als »Gotteslästerung«.233 Prinz Eugen selbst ist ein aufrechter Kämpfer gegen Widerstände und Intrigen und setzt sein ganzes Leben nahezu ausschließlich für die Sache der Nation ein: »Ewiges Licht der Nation«.234 All dies wird in keiner Weise problematisiert. Für innere Widersprüche bleibt in der sehr schematischen Heroisierung kein Platz. Der alternde Prinz Eugen faßt seine eigene Rolle gegenüber dem Kaiser in den Worten zusammen:235 »[…] Ich will Ihnen etwas sagen Majestät: Zuweilen erschrecke ich selber vor der dämonischen Gewalt, die mich mit allerhöchstdero Reich zusammengießt zu einem Wesen, ich spüre dann das Reich in meinem Blute pulsen, in meinem Herzen, knie vor Gott hin mit aller Ehrfurcht und danke ihm für diese unerhörte Gnade, die einem Menschen in solcher Größe kaum je schon widerfuhr. […].«
In seinem Roman vermag Möller durch den sehr freien Einsatz fiktiver Bestandteile wie der Mehrzahl der Nebenfiguren, wie der zahlreichen Dialogpassagen, wie des fiktiven Briefwechsels mit der vertrauten Gräfin oder wie solcher Selbstaussagen, das Darstellungsziel der nationalmilitärischen Prinz-Eugen-Literatur noch stärker als in historischen Biographien ohnehin schon möglich zu akzentuieren. Damit war von Möller erfolgreich: Sein Werk erlebte wenigstens zwei Neuauflagen während des Zweiten Weltkrieges. Eine kürzere Prinz-Eugen-Erzählung mit dem Titel Heißsporne (1940) erschien außerdem in wenigstens zwei Auflagen in der Reihe Soldaten-Kameraden des Münchener Zentralverlags der NSDAP.236 Zahlreiche weitere Werke lassen sich ermitteln – in der Regel allerdings nicht in den Katalogen großer Bibliotheken, sondern in den Verzeichnissen von Antiquariaten. ———————— 233 234 235 236
Ebd., S. 315. Ebd., S. 321. Ebd., S. 449. Karl v. Möller, Heißsporne. Eine Reitergeschichte um Prinz Eugen. München: Zentralverlag der NSDAP 1940 (Soldaten-Kameraden 27), dass. 1942.
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Mirko Jelusich ist einer der prominenteren Autoren in der hier behandelten Reihe der Prinz-Eugen-Literaten. Der studierte Philosoph und Theaterkritiker an der rechtsextremen Deutsch-österreichischen Tageszeitung war Mitglied im österreichischen Landesverband von Alfred Rosenbergs »Kampfbund für deutsche Kultur« und ein tätiger Werber für die deutschen Nationalsozialisten in Österreich.237 Er verfaßte mehrere historischbiographische Romane, in denen er historische Führergestalten nach dem Vorbild aktueller Persönlichkeiten gestaltete. Sein Roman Caesar (1929) nimmt sich Mussolini zum Vorbild, der Roman Cromwell (1933) ist ein fast unverhülltes Porträt Hitlers.238 Seine Auseinandersetzung mit der Gestalt Eugens von Savoyen trägt kaum das formale Gewand einer Biographie. Vielmehr ist die Person Eugens eingebettet in einen historischen Roman über die Regierungszeit Kaiser Josephs I.: Der Traum vom Reich (1941).239 Während Möller in seinem Roman wichtige Eckpunkte der Biographie Eugens in Rückblicken der Figuren thematisiert, bleibt das normale biographische Gerüst unberührt. Weder Geburt und Herkunft noch der Tod werden dargestellt. Auch ein persönlicher Entwicklungsgang fehlt. Prinz Eugen ist eine unter mehreren Figuren; er hat zwar eine zentrale, aber nicht die einzige zentrale Rolle im Roman. Während sich der Roman inhaltlich vollkommen mit den Beobachtungen zur Funktion der militärischen und der nationalsozialistischen Biographik deckt, ist das erzählerische Gewand nicht zuletzt durch die Wahl der Gattung des historischen Romans statt der Romanbiographie und durch das im Vergleich größere erzähltechnische Geschick des Verfassers deutlich von den Werken Möllers, Czibulkas oder Bibls abzugrenzen. Die Handlung entfaltet sich zwischen zwei einrahmenden Szenen, die als Prolog den Trauerzug bei der Begräbnisfeier Kaiser Leopolds I. und als Epilog den Trauerzug bei der Begräbnisfeier für Kaiser Joseph I. darstellen. Die unterschiedliche Dimension der Trauerzüge und die Kommentare der Figuren am Rande der Züge machen die Leistung der Regierungszeit des Kaisers Joseph I deutlich. Diese Regierungszeit bildet den eigentlichen Gegenstand des Romans, in dem allerdings dem erfolgreichsten Feldherrn, Prinz Eugen von Savoyen, nahezu die Hauptrolle ———————— 237
238
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Vgl.: Klaus Amann, Mark und Gesinnung. Über einige Besonderheiten des literarischen Lebens in Österreich zwischen 1933 und 1938. In: Ders., Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918. [Wien:] Edition Falter, Deuticke 1992, S. 74–93. Johannes Sachslehner, Mirko Jelusich. In: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke in deutscher Sprache. Hg. von Walter Killy. Bd. 6. Gütersloh u. München: Bertelsmann 1990, S.92; ders., Führerwort und Führerblick. Mirko Jelusich. Königstein/Ts.: Hain 1985; Amann, Mark und Gesinnung, S. 88. Mirko Jelusich, Der Traum vom Reich. Roman. Berlin: Safari 1941. – Erst eine spätere Neuausgabe verwies im Titel auf Prinz Eugen: Prinz Eugen. Der Feldherr Europas. Graz: Stocker 1979 (nicht eingesehen).
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zufällt. Er lenkt die Geschicke des Krieges wie der Politik. Bereits im zweiten Kapitel, anläßlich der Vereidigung der Regimenter auf den neuen Kaiser, erscheint Eugen im Erzählerbericht als »der Sieger in zahllosen Schlachten«, als derjenige, »an den sich so viele Hoffnungen und Erwartungen knüpfen«.240 Es ist sicher eine Schwäche des Romans, daß Jelusich hier weder eine Entwicklung auf die Größe hin darstellt, noch Krisenmomente einbaut, in denen diese Eingangsbehauptung sich erst oder erneut erweisen muß. Prinz Eugen bleibt von der ersten bis zur letzten Seite unangefochten in seiner Rolle als Hoffnungsträger und Held des Reiches. Erzählerisches Geschick zeigt sich eher dort, wo Jelusich auf die breite historische Entfaltung der Ereignisse verzichtet und den Leser in charakteristischen Momentaufnahmen die Situation an den verschiedenen Handlungsorten zu präsentieren versteht. Mehrere Kapitel setzen mit der knappen Beschreibung eines Raumes – etwa des kaiserlichen Kabinetts in der Hofburg – ein, welche die historische Situation verdeutlicht, wenn ein veränderter Geist in den gleichen Räumen herrscht, in denen der Vorgänger waltete. Die historischen Gegenstände, die politische Situation, werden an diesen Handlungsorten in Dialogen entwickelt.241 Dadurch entgeht Jelusich mitunter – wenn auch nicht allzu oft – der Gefahr einer überdeutlichen Parteinahme und Bewertung der Situation. Die verschiedensten Schauplätze – etwa Treffen rebellischer Bayern und Ungarn – werden vorgeführt, und dadurch gewinnt der Leser ein plastisches Bild von dem zentralen Problem, welches der Roman aufzeigen soll: die mangelnde Einheit des Reiches. In diesem Kontext spielt eine ‘Biographie’ Prinz Eugens kaum eine Rolle. Entsprechend wird zwar Prinz Eugen als Held vorgeführt, doch sind die erzählerischen Mittel der Heroisierung relativ zurückgenommen. Sie beschränken sich auf die Bewunderung durch die Zeitgenossen, wenige Erzählerkommentare und besonders die Schilderung militärischer Erfolge. Die sonst geläufigen Modelle: der Kampf gegen Widerstände, Schilderung von Entscheidungsprozessen, Betonung von Willenskraft und Ideenbesessenheit werden kaum genutzt. Dieses Fehlen biographietypischer Erzählverfahren macht bei aller Überschneidung den Unterschied zwischen einem biographischen – am Werdegang und Schicksal der Einzelperson orientiertem – und einem historischen – eher thematisch als personal geprägtem – Roman deutlich. ———————— 240 241
Jelusich, Der Traum vom Reich, S. 11. Besonders hervorzuheben wären etwa die Gespräche des jungen Monarchen Joseph mit dem Fürsten Salm im Kapitel »Der junge Herr« (ebd., S. 15ff.) und die Beschreibung des französischen Hofes u. Königs im Kapitel »Der allzeit huldvolle Sonnenkönig« (ebd. S. 69).
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Im Hinblick auf die Funktionalisierung von Geschichte jedoch ist Jelusichs Roman in die hier skizzierte Gruppe einzuordnen. Neben einer detaillierten Darstellung der militärischen Ereignisse und des Aufopferungswillens einzelner Führer, denen die Soldaten folgen, wird besonders die Übertragung politisch funktionalisierter Feindbilder der Gegenwart in die Geschichte geleistet, wobei Jelusich in brutaler Offenheit antisemitische Propaganda betreibt. Besonders deutlich zeigt sich dies etwa bei der Schilderung einer ‘Reichskristallnacht’-ähnlichen Szenerie. Aufgebrachte Bürger Wiens stürmen Häuser jüdischer Mitbürger. Scheiben werden zerschmissen; der Mob feiert Straßenfeste und brandschatzt. Bereits die Schilderung dieser Ereignisse erfolgt nicht ohne Sympathie für die Randalierer, deren gewalttätige Erregung legitimiert wird:242 Jeder [!] hat Schaden von den Juden gehabt oder von solchem gehört. Wucher, Betrügerei, Vorenthaltung des verdienten Lohnes, Übervorteilung beim Ein- oder beim Verkauf haben sie alle [!] erfahren, […] und alle wissen [!], daß, von ihren in der Stadt lebenden Genossen gefördert, immer wieder neue Juden nach Wien geschmuggelt werden, allen behördlichen Verboten zum Trotz, um die jüdische Gemeinde und ihren Einfluß in allen Geld- und Handelssachen zu fördern.
Wenn die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit der Randalierer ohne Ironie geschildert wird, sich »aus dem Aufruhr ein Volksfest« entwickelt, »die ganze Nacht hindurch gefeiert wird« und die ebenfalls pöbelnden Rossauer schließlich heimkehren, »in dem Bewußtsein, dem lange beleidigten Recht, da niemand sonst es wahren wollte, durch Selbsthilfe Genüge getan zu haben«, dann wird die judenfeindliche Aktion erzählerisch aufgewertet.243 Zwar schreitet die Obrigkeit am Ende des Kapitels mit dem erstaunlichen Titel »Judentumult« ein, doch erhalten die Aufrührer im folgenden Kapitel – »Das Schwert der Themis« – Unterstützung durch Eugen von Savoyen, der vom Kaiser erbittet, mit den ‘Wienern’ glimpflich zu verfahren, da immerhin der Schaden durch die Juden größer sei als der unbedeutende Tumult. Prinz Eugen schließt seine Verteidigung der ‘Wiener’ mit den Worten:244 »Denn mag auch der verursachte Tumult straffällig machen, die Forderung der Rottierer ist nicht von der Hand zu weisen: es wird erst Ruhe sein im Land, bis alle Juden ausgewiesen sind. […].«
Die Orientierung an den Feindbildern der Gegenwart ist deutlich; auch antifranzösische Bemerkungen bleiben nicht aus. Die historische Darstellung dient der Installation eines opportunen, funktionalisierbaren Geschichtsbildes für die Gegenwart. ———————— 242 243 244
Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Ebd., S. 97.
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Nun ist es freilich nicht so, daß sich die Geschichte der Biographik in einer Geschichte der immer neuen Instrumentalisierung der Geschichte für die Gegenwart erschöpfte. Es zeigt sich vielmehr, daß die jeweilige aktualisierende Funktionalisierung sich nicht einfach einer rhetorischen Möglichkeit der Darstellung und Argumentation – der Biographie – bedient, sondern daß dabei das Instrumentarium der Darstellung jeweils neu entwickelt wird. Jeweils liegen spezifische Menschenbilder – das freie Individuum, der militärische Held, der Kristallisationspunkt der Volkseigenschaften – zugrunde, welche die Wahl spezifischer Darstellungsstrategien mitbestimmen (und umgekehrt das Resultat dieser Strategien bilden). Es liegt dabei auch nahe, den freien Gebrauch fiktiver und den Verzicht auf fiktionalisierende Elemente dadurch zu erklären, daß die zugrunde gelegten Menschenbilder, politischen Identifikationssignale zwischen Text und Leser, zwischen Geschichte und Gegenwart eine – für die jeweilige Leserschaft – hinreichende Beglaubigung darstellen. Antisemitische Haltungen des Prinzen Eugen wirken deswegen beglaubigend für die Darstellung, da eine spezifische Leserschaft nicht allein generell Rassenunterschiede, sondern auch den Antisemtismus als eine anthropologische Gegebenheit nicht mehr hinterfragt. Die diachrone Perspektive zeigt, wie ungenügend eine reine Systematik der Biographie erscheinen muß. Vielmehr ist jeweils die Pragmatik der Texte in konkreten Kommunikations- und Handlungskontexten zu berücksichtigen, welche auch etwa die Präferenz militärischer Größe vor völkischen Argumentationen in soldatischen Biographien regelt, wenn diese eine soldatische Leserschaft erreichen sollen.
Schlußbemerkung und Ausblick »[…] die bloße Nacherzählung eines wechselnden Lebenslaufs mit plötzlichem Ende wäre nichts als eine Zumutung.« (Peter Handke, Wunschloses Unglück)
Unter dem Leitthema ‘Biographische Anthropologie’ waren in der vorliegenden Arbeit Studien zur Erprobung des Menschenbildes respektive der Menschenbilder in lebensgeschichtlichen Darstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu erarbeiten, um zu demonstrieren, daß und wie Wandlungen und Differenzierungen der Menschenbilder in unterschiedlichen historischen, politischen, ideologischen, diskursiven und disziplinären Kontexten die Geschichte der Biographik wesentlich prägen. Die Vermutung liegt nahe, daß sich die Konjunkturen der Geschichte des biographischen Schreibens etwa zwischen 1830 und 1848, 1890 und 1914, 1920 und 1935 als Reaktionen auf Verunsicherungen des Menschenbildes beziehungsweise auf Formierungsphasen neuer Menschenbilder deuten lassen. Das gilt sowohl für die als Konstitutionsphase einer bürgerlichen und literarischen Anthropologie diskutierte Zeit zwischen 1830 und 1848 als auch für die psychopathologischen Forschungen und ihre Rezeption durch frühe moderne Biographen (wie Emil Ludwig) zwischen 1890 und 1914 und ebenso für die Konkurrenz altliberaler (‘humanistischer’), nationaler und rassischer etc. Menschenbilder in der Weimarer Republik. Eine direkte Koppelung der Gattungsgeschichte mit historisch-politischen Ereignissen, wie sie in der Biographieforschung diskutiert worden ist, greift sicher zu kurz, auch wenn den nachhaltigen Verunsicherungen, welche anthropologische und ethische Annahmen etwa durch die Französische Revolution und den Ersten Weltkrieg erfahren haben, ebenso Rechnung zu tragen ist wie den Wirkungen disziplinärer Erkenntnisse – und gerade nach dem Ersten Weltkrieg ist es bemerkenswert, daß einer Krise des Romans, die sich der angenommenen Zernichtung des individuellen Lebenslaufes als Grundproblem künftigen Schreibens stellt, eine veritable Flut und Mode biographischen Schreibens gegenübersteht. Insbesondere konnte durch die Verlagerung der Perspektive auf die Biographische Anthropologie gegenüber den bisherigen Forschungsansätzen ein Kernbereich des Biographischen bestimmt werden, welcher durch die traditionelle Gattungsbestimmung im Konfliktbereich zwischen Kunst
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Schlußbemerkung und Ausblick
und Wissenschaft, insbesondere aber zwischen ‘Roman’ und Geschichtswissenschaft eher verdeckt worden ist. Der hier verfolgte Ansatz steht im Kontext einer im deutschen Sprachraum bislang kaum existenten historischen Biographieforschung. Bevor erneut versucht wird, die Biographik als eine Darstellungsform, Hilfswissenschaft oder als Erkenntnisinstrument der Geisteswissenschaften zu vereinnahmen, sind die eigenständigen Erarbeitungs- und Aussageformen, insbesondere aber die Darstellungsinteressen und diskursiven Rahmenbedingungen, wie sie in der vorliegenden Studie aufgezeigt worden sind, historisch weiter aufzuarbeiten. Dabei erscheinen mir für eine künftige Biographieforschung zwei Bereiche bedeutsam: die biographische Anthropologie sowie die biographische Ethik und Moraldidaktik. Die Biographik würde vorschnell und unzulänglich verkürzt, wollte man sie auf Verstehen und Darstellung eines fremden Lebens festlegen, auch wenn Jan Romeins Forderung, die Biographie dürfe »keine Ethik, keine Geschichte, keine Biologie [und Anthropologie] und keine Psychologie« sein,1 gerade das Verstehen individueller historischer Lebensläufe als proprium der Biographie behaupten will. Gewiß geht es immer wieder auch um die individuelle Charakteristik, um das Bemühen, den einzelnen in seinen individuellen Konturen abzubilden. Aber die Biographik leistet die Individualisierung des Einzelmenschen gerade durch die Relation des Individuellen zum Anthropologischen (oder durch die Relation individueller Tugend zur ethischen Norm). Biographien sind so immer auch Erprobungen von Menschenbildern, von ethischen und anthropologischen Aussagen, die in bezug auf die individuelle historische Erscheinung analytisch erarbeitet, exemplarisch belegt oder didaktisch vermittelt werden sollen. Das individuelle Lebensbild ist Exempel überindividueller Fragestellungen: sei es als disziplinäres Argument, als anthropologische Reflexion, als Leitbild zur Lebensorientierung oder als didaktische Aufbereitung der zugrunde gelegten Fragestellung. Offensichtlich handelt es sich bei der moralisch-didaktischen und der anthropologischen Biographik um den eigentlichen ‘mainstream’ der biographischen Literatur, der sich an seinen Rändern mit dem historischen Roman (und Drama) und mit der Geschichtsschreibung verbindet, aber – wie nachdrücklich zu betonen ist – eine eigenständige Tradition bildet: Die Biographie ist weder ein Sonderfall des historischen Romans, noch eine Darstellungsform der Geschichtswissenschaft – wenngleich beide von der Kenntnis der biographischen Traditionen profitiert haben. Die Rückbindung an ethische Aufgaben und anthropologische Gesichtspunkte bedeutet aber auch ein Absehen von dem tatsächlich Individuellen des Lebenslaufs, welches nach der traditionellen Vorstellung von ———————— 1
Romein, Die Biographie, S. 114.
Schlußbemerkung und Ausblick
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der ‘Biographiewürdigkeit’ als uninteressant und in den bemerkenswerten Sätzen über die Biographik in Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück schlichtweg als eine »Zumutung« erscheint.2 So erweist es sich von jeher als eine Aufgabe des Biographen, dem bloß Individuellen zu entgehen, um Interesse für seine Darstellung zu wecken und übergreifende ethische, politische oder andere didaktische Ziele zu sichern, wie sie wohl stets mit der Biographik verbunden sind. Gleichzeitig bedarf die geforderte Anschaulichkeit, vielleicht auch Vertrautheit und Intimität (‘Persönlichkeit’), der Darstellung aber des individuellen Zuschnitts, und die Exemplarizität der historischen Gestalt gewinnt durch die suggerierte oder tatsächliche Annäherung an das fremde Leben. Der seriöse Biograph mag sich – wie der Erzähler in Handkes Text – »zwei Gefahren« der Biographik ausgesetzt sehen: der Gefahr der bloßen Nacherzählung des allzu Individuellen wie der Gefahr der Auflösung der historischen Gestalt in der Sprache einer verallgemeinernden biographischen Konstruktion.3 Gegenstand der Studie war nicht die Verteidigung der Biographie als Darstellungsform in den historischen Wissenschaften oder eine kritische Revision des Biographismus. Vielmehr impliziert die Festlegung des biographischen Kernbereichs auf letztlich überindividuelle Aussagesysteme zumindest eine skeptische Einschätzung der ‘Erkenntnisform’ Biographie für die Erarbeitung der Geschichte von Individuen. Dies schließt freilich – wie nachdrücklich zu betonen ist – nicht aus, die Biographie als eine Vermittlungs- und Darstellungsform auch in akademisch wissenschaftlichen Kontexten zu nutzen. Sie ist eine Form der Narration wie andere auch, und ihr Wert hängt eher vom Reflexionsniveau der Darstellung, der Art der konkreten Funktionalisierung für Vermittlungsbedürfnisse und der Qualität biographischer Didaktik und ihrer kritischen Selbstreflexion ab. Als ein Fazit aus einer kritischen Betrachtung der Geschichte der Biographik wäre jedenfalls auch festzuhalten: Biographien lassen sich nicht nach dem Maßstab historischer Wissenschaft messen – und sie wollen überwiegend an diesem auch nicht gemessen werden. Sie wären vielmehr nach den Darstellungsanliegen zu beurteilen, nach den Konstruktionsprinzipien und dem strategischen Ziel, dem sie die Fiktion der historischen Persönlichkeit unterordnen. Ziel meiner Ausführungen war es nicht zuletzt, nachdrücklich auf ein breites, weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld für die Literaturwissenschaften hinzuweisen sowie auf bedeutende Quellen für die Historische Anthropologie. Wenn der Eindruck entstünde, die vorstehende Arbeit habe eine Bresche in weitgehend unbekannte Textkorpora geschla———————— 2 3
Peter Handke, Wunschloses Unglück. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 [zuerst 1972], S. 39. Ebd., S. 40.
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Schlußbemerkung und Ausblick
gen, dabei aber nicht nur diese oder jene herausragende einzelne Biographie, sondern ganze Teilbereiche unbeachtet gelassen, die es ebenfalls wert wären, einer genaueren Untersuchung hinsichtlich ihrer anthropologischen und ethischen Grundlagen unterzogen zu werden, dann wäre bereits ein gewichtiges Sekundärziel der Arbeit erreicht: die Aufmerksamkeit für ein vernachlässigtes, ja nahezu vollständig brach liegendes Forschungsgebiet zu stärken. Viele Aspekte traten im Verlauf der Arbeit an der Studie hervor, deren eingehendere Behandlung den Rahmen gesprengt hätte. Zu einigen dieser Aspekte konnten bereits Tagungen oder Sammelbänden organisiert und Studien angeregt werden (Dichterbiographien, Frauenbiographien, Biographik in der Technik- und Wissenschaftsgeschichte), zu einigen Themen sind in den vergangenen Jahren erste Ergebnisse von Tagungen anderer publiziert worden. Nach den hier vollzogenen ersten Schritten in das Gebiet einer Biographischen Anthropologie erschiene es wünschenswert, weiterführende Fragestellungen einer historischen Anthropologie auf die biographischen Werke anzuwenden, also über den kursorischen Durchgang durch die Geschichte des Verhältnisses der Biographik zu wandelnden Konzeptionen einer conditio humana hinaus etwa nach der Konstruktion von Geschlechtermodellen in der Biographik zu fragen, nach der Konzeption und Funktion sozialer Relationen (Familie, Verwandtschaft, Liebe und Partnerschaft, Sexualität, Freundschaft), den individuell gespiegelten anthropologischen Funktionen von Religion, Arbeit, Kultur. Jede historische anthropologische Fragestellung muß ihre Relevanz letztlich am Einzelmenschen erweisen; die Biographie ist exemplarische Fallgeschichte und Medium der Reflexion im Rahmen historischer anthropologischer Konzeptualisierungen und Lebenspraxis. Dabei wäre insbesondere das Verhältnis anthropologischer und ethischer sowie moraldidaktischer Aspekte der Biographik weiter untersuchenswert. Die Erforschung der Geschichte biographischen Schreibens und biographischer Gattungen könnte unter diesen Fragestellungen zu einem zentralen Feld kulturgeschichtlicher und kultursoziologischer Forschung werden. Zu ihrer Erarbeitung bedarf es nicht zuletzt literaturwissenschaftlicher Kompetenz, aber auch eines transdisziplinären Forschungsansatzes unter dem Dach der Kulturwissenschaften.
Bibliographie Nachgewiesen wird sämtliche in den Anmerkungen genannte Literatur; Lexikonartikel werden nicht in jedem Fall einzeln nachgewiesen, wenn das Lexikon als Gesamtwerk in die Bibliographie aufgenommen worden ist; beim Nachweis von Buchbeiträgen sind, sind teils abgekürzte Nachweise verwendet worden: »(…)«, das heißt: siehe jeweils die vollständigen Angaben unter dem Haupteintrag. Ungedruckte Texte aus dem Nachlaß Emil Ludwig im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA Bern) werden nicht gesondert aufgeführt, sondern alphabetisch in die Bibliographie integriert.
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Register Das Register verzeichnet sämtliche Namen des Haupttextes und der Anmerkungen. Autor(inn)en moderner Forschungsliteratur, soweit diese lediglich im Anmerkungsteil genannt werden, und Namen, die Bestandteil bibliographischer Angaben sind, werden nicht aufgeführt. Verweise auf Anmerkungen werden durch ein hochgestelltes A gekennzeichnet. Bei Namensnennungen, die sich auf Personen in biographischen Arbeiten beziehen, werden die Seitenverweise kursiv gesetzt. Aaron, P. G. 270 Abbe, Ernst 176 Adler, Alfred 248 Adorno, Theodor W. 419f. Aland, Kurt 327 Aleando, Girolamo (Hieronymus Aleander) 481f. Alexander I. (Zar von Rußland) 411 Alexander der Große 112f., 120, 130, 135, Alfieri, Vittorio 214 Alheit, Peter 15 Alkibiades 146 Allport, Gordon W. 371 Álvarez del Vayo, Julio 449A Alverdes, Paul 383 A, 385, 453A Amundsen, Roald 321 Andreas, Willy 452 Anz, Thomas 226, 269, 272 Aprent, Johannes 86 A, 88 A Arkwright, Richard 162, 166–169 Arnim, Bettina von 100 Arnim, Hans von 456 Arx, Walther von 174 Attila 347 Aub, Max 39 Auernheimer, Raoul 449 A August II. (Kurfürst von Sachsen, Kg. von Po-
len, ‘August der Starke’) 503 Augustin, Hermann 58 Bacon, Francis 217 Bade, Wilfried 453 Baker-Eddy, Mary 260 Bakunin, Michail 422 Balboa, Vasco Nuñez de 291, 333 Balfour, Arthur James 222 Ballin, Albert 176 Bally, Carl Franz 172 A Balzac, Honoré de 414 Barbosa, Diego 332 Barsch, Achim 48 Barthes, Roland 38 Barthou, Jean Louis 275 Batthyanny-Strattmann, Gräfin Eleonore 503 Baudelaire, Charles 420 Bauer, Heinrich 275 Bauer, Ludwig 275, 430 Bauer, Otto 446 A Baumgardt, Rudolf 330– 332, 333A, 334–343, 345f. Bayle, Antoine Laurent José 209 Beck, Knut 345 Beckett, Samuel 271 Beer, Adolf 250 Beethoven, Ludwig van 275, 436 Behaim, Martin 346
Behl, Carl Friedrich Wilhelm 312f. Benda, Julien 444, 445 A, Benjamin, Walter 420, 423 Benn, Gottfried 147, 220, 243A, 255, 455 Béranger, Pierre-Jean 366 Bergengruen, Werner 430 A Berger, Karl 471 A, 472, 477 Bertoni, Mosé 437 A Berzelius, Jöns Jakob 196 Bibl, Viktor 497–499, 501, 503, 507 Bienek, Horst 45 A Bierotte, Wolf 320 A Binding, Rudolf 327 Bismarck, Otto Fürst von 244A, 245, 247, 260, 360–368, 372f., 375, 377–380, 384, 392, 399, 400A, 404, 409 A, 417 A, 425, 432f., 463f., 477, 498 Blei, Franz 275 Bloch, Ernst 140, 296–298, 343 Blöcker, Günther 186 Blunck, Hans Friedrich 489A Bockemühl, Erich 176 Böcklin, Arnold 174 Böhme, Jakob 453A Boehmer, Heinrich 458 Börne, Ludwig 100, 102, 106–108
Register Bohlz, August Wilhelm 100 Bolivar, Simon 396, 449A Bollnow, Otto Friedrich 156 Bornkamm, Heinrich 453 A Borsig, Johann Friedrich Karl August 168 Bourdieu, Pierre 11, 46, 267 Bovet, Arnold 176 Boyes, Joseph 153 Brahe, Tycho 449 Brandenburg, Erich 452 Brandes, Georg 275 A, 276, 367 Brandt, Karsten 152, 170f. Braun, Otto 237 Brecht, Bertolt 435f. Brunetière, Ferdinand 222 Buchenel, P. 173 A Buckle, Henry Thomas 374 Bühler, Charlotte 203, 252 Bürger, Gottfried August 74A Bullock, Alan 449 Burckhardt, Jakob 135, 144–150, 277A, 283, 285f., 289, 374, 406, 423A, 453 A Burdach, Konrad 474 Burke, Kenneth Duva 12, 17f., 33, 34 A, 35f., 37 A, 436 Burley, John Balfour of 412 Burns, Robert 139 Byron, Lord George 277, 449A Caboto, Sebastiano 291 Cäsar (Gaius Julius Cæsar) 115, 244A, 280 A, 435, 507 Calderón de la Barca, Pedro 145 Camões, Luis de 342 Cardano, Girolamo 216 Carlyle, Thomas 16, 31, 118, 132, 135f., 138– 145, 147–150, 158f., 202, 237, 283, 285f., 289, 374, 406, 423 A, 429, 462, 466 Carrière, Ludwig 502
Cavour, Camillo Benso Conte di 217 Cenci, Beatrice 281f. Cervantes Saavedra, Miguel de 302 A Chamberlain, Houston Stewart 357 A, 358 A, 454 Chamisso, Adelbert von 75 Chapman, Raymond 152 Charcot, Jean Martin 212 Chateaubriand, FrançoisRené de 103 Chaucer, Geoffrey 271 Chesterton, Gilbert K. 275 Christina von Schweden 32A, 124A, 275 Claudius, Matthias 115 Clouse, Robert G. 270 Cockshut, A. O. J. 153 Conrad, Joseph 275 Cortez, Hernando 291, 333 Cot, Pierre 449 A, Cox, Kenyon 224 Craik, George Lillie 154 Cremerius, Johannes 262, 273 Cromwell, Oliver 137 A, 139, 275, 396, 412, 467, 507 Czibulka, Alfons von 500– 504, 507 Da Costa, Uriel 450 Daiber, Gottfried 467 Dante Alighieri 139, 217 Danton, Georges Jacques 109, 182, 419A Danzel, Wilhelm 26 Darwin, Charles 211f., 225, 235 Dausien, Bettina 15 Dautendey, Max 453 A David, Heinrich 174 Davy, Humphry 166, 193 Dehmel, Richard 357, 361, 365, 368, 453A Delbrück, Hans 391, 393, 403 Dilthey, Wilhelm 12f., 14 A, 305, 370, 371 A, 372– 376, 379, 406, 417 A, 454A, 485 Dingeldey, Eduard 456 A, Disraeli, Benjamin 277 Dobbert, F. 153
549 Döblin, Alfred 9, 275 Döring, Heinrich 74 Dorow, Wilhelm 74, 102 Dove, Alfred 124 Droste-Hülshoff, Annette von 453A Droysen, Gustav 117, 121, 131 Droysen, Johann Gustav 7, 109, 110A, 111–123, 130f., 135, 181, 279 Drummond, Henry 222 Dschingis Khan 146 Dülmen, Richard van 5 Dunant, Henri 275 Edel, Leon 261–265, 270 Eduard VII. 277 Eissler, Kurt R. 262, 266– 269, 271f. Ekstein, Rudolf 252 Eliot, Thomas Stearns 264 Elisabeth I. (Kgn. von England) 425 Ellenbogen, Wilhelm 377 A, Ellis, Havelock 228 Ellmann, Richard 20, 22, 262, 266, 270f. Elms, Alan C. 252, 272 Elster, Hanns Martin 476f., 479 Emerson, Ralph Waldo 161 Engel, Manfred 6 Engel-Janosi, Friedrich 26 Erasmus, Desiderius 21, 312, 323–328, 348, 487 Erikson, Erik H. 252, 262, 265, 270 Ernst, Paul 453 A Eugen von Savoyen 275, 468, 494A, 495–510 Eulenberg, Herbert 279, 392 Eulenburg (und Hertefeld), Philipp Fürst zu 386 Eyth, Max 177A Faraday, Michael 193 Faulenbach, Bernd 399 Favre, Louis 172 Febvre, Lucien 458 Fechner, Georg Theodor 189, 199, 210, 228 Fechter, Paul 453 Feilchenfeldt, Konrad 77, 79
550 Ferdinand V. (Kg. von Kastilien und León) 275 Fersen, Hans Axel Graf von 313f. Fest, Joachim C. 449 Feuchtersleben, Ernst Frhr. von 58–60, 63, 67, 72, 83–85, 86A, 87 A, 88, 90– 97, 101, 109, 117, 120, 188A, 220 Feuchtwanger, Lion 275, 449f. Feyerabend, Paul 46 Fichte, Johann Gottlob 136, 473 Fischer, Samuel 349, 363 Flake, Otto 275, 349–356, 360, 373, 388, 453, 477 Fließ, Wilhelm 207, 228 Fontane, Theodor 283 A Ford, Henry 437A Foucault, Michel 155, 162 Fouché, Joseph 319A, 353A Fouqué, Karoline von 78 Franck, Hanns 363 Frank, Bruno 275 Franklin, Benjamin 176 Franz I. (röm.-dt. Kaiser) 499 Frauenholz, E. 388 A Freud, Sigmund 187, 204, 209, 211, 228, 241f., 247A, 249–257, 256– 261, 260–262, 265, 268, 269A, 270, 272f., 273, 275, 312, 315, 322, 348, 365, 372, 382, 385 Frevert, Ute 132 Friedrich II. (Kg. von Preußen) 115–117, 122, 135A, 143 A, 244A, 275, 392, 401A, 457, 468 Friedrich Wilhelm IV (Kg. von Preußen) 131 Frisch, Max 331 Fröhlich, Hans J. 264 Fulda, Daniel 119, 123 Galilei, Galileo 217 Gall, Franz Joseph 218, 228–230 Galton, Francis 199, 212f., 218, 228, 230 Garfield, James 170, 175 Garibaldi, Giuseppe 449 A
Register Gasparri, Pietro Kardinal 374 Gattinara, Mercurino 481 Geheeb, Christian (Ps.) 383A, Geiger, Ludwig 132 Gentz, Friedrich von 73, 78 George, Stefan 148, 191 Gerhard, D. 405 Gerhardt, Charles 193 Gerhardt, Paul 453 A Gerome, Jean-Leon 224 Gervinus, Georg Gottfried 26A, 101, 196, Ghil, René 220 Gittings, Robert 20, 266, 272 Glapion, Jean 481 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 247 Gobat, Charles Albert 173 Goerdeler, Carl 457 Göring, Hermann 441A Goethe, Cornelia 269 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 55, 72f., 74, 76, 97A, 99, 101, 135 A, 176A, 190, 196, 211, 215, 218, 224, 227, 232f., 245, 247, 254, 260, 266, 268f., 272, 352, 357–359, 360A, 361, 376, 378, 406, 436, 466, 471–473, 474, 477 Gogarten, Friedrich 453 A, 458A, Gogh, Vincent van 208, 252 Goll, Yvan 449 A, 450 Gosse, Edmond 25 Gotthelf, Jeremias (Ps. für Albert Bitzius) 173 A Gottschall, Rudolf 26A, 76, 79, 109, 131f., 143 A, 178f., 181–185, 190 Gottsched, Johann Christoph 26, 34 A Grabbe, Christian Dietrich 100f. Gradmann, Christoph 392, 395, 398 Graf, Sabine 349 Gray, Thomas 25, 264 Gregor VII. (Papst) 137 A Griesinger, Wilhelm 209f.
Grimm, Gebrüder 453A Grimm, Hans 489 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel 453 A Grote, George 374 Grünewald, Matthias 491 A Gruhle, Hans W. 234 Gumpert, Martin 275 Gundolf, Friedrich 191, 357, 358A, 472 Gustav Adolf (Kg. von Schweden) 131, 424– 426 Gutzkow, Karl 72, 98, 101– 107, 114f., 118, 125, 130, 183 Habe, Hans 449 A Hack, David 153 Haenel, Thomas 273 Hähner, Olaf 2, 113, 122 Händel, Georg Friedrich 84A Hallmann, Georg 372, 380 Hamann, Otto 207, 214 A Handke, Peter 513 Hannibal Barkas 347 Haniel, Franz 167 Hansen, Niels 393, 398, 410 Harden, Maximilian von 276, 361, 362 A, 366f., 402A, 436 Hardenberg, Carl August Frhr. von 94f. Harpprecht, Klaus 32 Hartmann, Eduard von 135 Hartmann, Karl Philipp 84 Hartung, Fritz 393, 402 A Hauptmann, Gerhart 363 Haydn, Joseph 170 Haym, Rudolf 123A Hazeltine, Mayo W. 221 Hebbel, Friedrich 54, 393 A Hebel, Johann Peter 248 Heckenast, Gustav 54, 109 Hegel, Georg Friedrich 64A, 77 A, 99, 100, 115f., 134–138, 145f., 181, 244A, 296–298, 335, 462 Hegemann, Werner 275, 279A, 392, 401 A, 402, 413A Heiden, Konrad 430, 437– 438, 442–448
551
Register Heine, Heinrich 106, 224, 449A, 450 Heinrich IV. (Kg. von Frankreich) 9 Hejl, Peter M. 48 Held, Hans von 81f., 250 Hellpach, Willy Hugo 235–237, 239, 357f., 363, 364A, 370, 372 Helmholtz, Hermann von 193, 197, 210 Helvetius, Claude-Adrien 229 Henhöfer, Aloys 171, 174f. Hennings, Justus Christian 61 Herbart, Johann Friedrich 60, 64f., 67f., 75, 85 A, 88, 247 Herbst, Wilhelm 115 Herder, Johann Gottfried 15 A, 60, 94, 120, 352, 453A Herodes 450 Herrmann-Neiße, Max 383A, 389f. Herzog, Eduard 172 A Herzog, Wilhelm 275 Hesse, Hermann 325A Heuss, Theodor 452A, 453 A Hildesheimer, Wolfgang 3, 39, 254, 331 Hillebrand, Joseph 70 A Hindenburg, Paul von 432–435, 457A Hitler, Adolf 147, 349, 363A, 390, 436–449, 457A, 497, 498, 507 Hitzig, Julius 75 Höhle, Thomas 426f. Hölderlin, Friedrich 92, 257, 453A, 472 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 100 Hoffmann, Volker 88 Hofmann, Emil 173 A Hofmannsthal, Hugo von 306A, 495–497 Holl, Karl 453 A, 458 Holstein, Friedrich August von 386 Honegger, Hans 284f. Hoppe, Birgit 202
A
Horkheimer, Max 164 , 255, 413A, 414, 416 A, 417f. Hormayr, Joseph von 111, 118 Hufeland, Christoph Wilhelm 93, 94 A, 197, 471 Hüllen, Jürgen 89 Humboldt, Wilhelm von 60f., 75f., 82, 86 A, 88, 120 Hutten, Ulrich von 275, 328, 349–352, 354–356 Ibsen, Henrik 224 Isabella (Kgn. von Kastillien) 275 Iser, Wolfgang 5, 44 Jacob, Heinrich E. 449 A, 450 James, Henry 270 Jander, Eckhart 113 Jaspers, Karl 208, 234 Jauss, Hans Robert 42f. Jeanne d’Arc 281 Jenatsch, Georg (Jörg Jenatsch) 49, 133, 283– 285, 302, 333, 480, 482 Jelusich, Mirko 503, 507– 509 Jenssen, Christian 176 Jentsch, Karl 24 Jeremias (Prophet) 450 Jesus Christus 209, 234f., 239, 417A Johannes der Täufer 237 Johnson, Samuel 139 Johst, Hanns 289 Jolly, Margaretta 2 Joseph I. (röm.-dt. Kaiser) 507, 508A Joyce, James 271 Jung, Alexander 98 Jung, Carl Gustav 192f., 199, 241, 377 A, Kafka, Franz 271 Kalb, Charlotte von 471f. Kalkoff, Paul 351f., 354 Kant, Immanuel 15 A, 59f., 62f., 65, 68–70, 77 A, 93, 103, 146, 207, 227, 453A Karl XII. (Kg. von Schweden) 330 Kastein, Josef 430, 450f. Kayser, Kurt 335 Keats, John 272
Kehr, Eckart 413–415, 418 Keilpflug, Erich R. 330 A Keller, Gottfried 174 Kepler, Johann 125 Kesser, Hermann 275 Kesten, Hermann 275, 430f. Kidd, Benjamin 222 Kienast, Walther 397f. Kienzle, Michael 392–395, 397 Kießling, Wolfgang 427f. Kindermann, Heinz 489 A, 490f. Kipling, Rudyard 277 Kippenberg, Anton 285 Klabund (Ps. für Alfred Henschke) 290, 319, 494 Klages, Ludwig 190, 248 Kleist, Heinrich von 257, 453A, 483 A Klitscher, Gustav 167 A Klopstock, Friedrich Gottlob 74A, 453A Knox, John 139 Koch, Hans-Albrecht 329 Kolb, Eberhard 392, 397f. Kolbenheyer, Erwin Guido 484A, 489 Kolumbus, Christoph 137 A, 145, 217, 244, 275, 287–303, 306–308, 311, 343 Koopmann, Helmut 40 Koreff, David Friedrich 75, 80 Kornbichler, Thomas 266 Kosciusko, Tadeusz 449 A Kossuth, Lajos 449 A Kracauer, Siegfried 165, 278, 394, 413, 415–417, 419f., 423, 431 Kraepelin, Emil 234 Krafft-Ebing, Richard von 315 Kranz, Henry B. 449 Kretschmer, Ernst 208f., 243–248, 255, 260, 295f. Kris, Ernst 18, 42, 265 Kronfeld, Arthur 248 Kruckis, Hans-Martin 2 Krug, Wilhelm Traugott 66f., 69, 88, 126 A
552 Kühn, Dieter 3 Kühne, Gustav 98, 132f. Kühnemann, Eugen 477 Kurz, Otto 18, 42 Kuttner, Erich 275 La Fayette, Marie-Joseph du Motier, Marquis de 493 Lamarck, Jean Baptiste 211 Lamprecht, Karl 236 A, 237, 239, 413A Lang, Paul 277 A Lange-Eichbaum, Wilhelm 208f., 243 Langenbucher, Hellmuth 453A, 490 Lassalle, Ferdinand 422 Laube, Heinrich 72f., 80, 98–101, 118 Lawrence, David Herbert 277 Leinweber, Richard 167 Lenau, Nikolaus 190 Lenin, Wladimir Iljitsch 427–429, 449A Lenz, Friedrich 493 Lenz, Jakob Michael Reinhold 15, 269 Leopold I. (röm.-dt. Kaiser) 507 Leopold II. (Kg. von Belgien) 275 Lessing, Gotthold Ephraim 26A, 453A Lessing, Theodor 164 Leuchsenring, Franz Michael 78 Levi, Paul 383 A, 390, 399 Levin, Rahel (Rahel Varnhagen) 74f., 75, 83, 100 Liebig, Justus 193–199, 204, 206, 212 Liebknecht, Karl 427 Liliencron, Detlev von 453A Lincoln, Abraham 377 Linde, Otto zur 176A Linné, Carl von 137A List, Friedrich 453 A, 468, 492–494 Liszt, Franz von 236 Littell, Robert 10 Livingstone, David 171, 174, 288, 325
Register Locke, John 68 Lockhart, John Gibson 160 Löw, Hans 152, 170, 174f. Löwenthal, Leo 165, 274, 278, 329, 413, 415, 417f., 467 Löwith, Karl 148 A Lombroso, Cesare 189, 208, 212–222, 226, 228, 235f., 240, 242f., 246 Lomer, Georg (Ps.: de Loosten) 234, 237, 239 Lotze, Rudolf Hermann 210 Louis Ferdinand (Prinz von Preußen) 75 Louis Philippe (Ludwig Philipp, Kg. von Frankreich) 180 A Loyola, Ignacio de 237f. Lubin, Albert J. 252, 265 Lucka, Emil 290 A, Ludendorff, Erich 433f. Ludwig XVI. (Kg. von Frankreich) 314, 317 Ludwig Wilhelm (Markgraf von Baden, gen. ‘Türkenlouis’) 349, 504 Ludwig, Emil 3, 7f., 14 A, 36, 50A, 118, 181, 250 A, 255, 274f., 279, 282, 285f., 305, 329, 357– 392, 394–397, 399, 401–410, 417A, 418, 430, 432–436, 447–449, 467, 477 Lüderitz, Adolf 453A Luise von MecklenburgStrelitz (Kgn. von Preußen) 468 Lukács, Georg 317 A, 328, 412f., 415, 418 Luther, Martin 12, 21, 139, 142, 145, 244A, 248, 252, 262, 325–328, 355A, 356, 424f., 453A, 455–465, 468, 480–483, 485–487, 492, 498 Macaulay, Thomas 118, 132, 406 Machiavelli, Niccolo 217, 275 Machtan, Lothar 448 MacKinley, William 27
Magalhães, Fernaõ (Magellan) 291, 312, 324, 329–334, 336–348, 431 Madelénat, Daniel 190 Magnan, Valentin 212, 228, 242 Mahrholz, Werner 357 A, 358A Mallarmé, Stéphane 220 Mann, Golo 3 Mann, Heinrich 9, 275, 431, 449A Mann, Klaus 275, 327, 362A, 431 Mann, Thomas 275A, 306 A, 469f., 475f. Mansfield, Katherine 275 Marcks, Erich 405, 452, 453A Marcu, Valeriu 275 Marcuse, Ludwig 249, 275, 278, 327, 393 Marées, Hans von 275 Maria Theresia (Kaiserin) 250 Marie Antoinette 257 A, 312–317, 323, 325, 329, 348 Marius (Gaius Marius) 147 Marmorek, Schiller (Jakob Saul) 316, 317 A, 395, 413f., 415A Martin du Gard, Roger 318 Martínez de la Rosa, Francisco 102f. Marx, Karl 237, 421, 422f., 426f., 449A Masaryk, Jan 449 A Masaryk, Thomas G. 378, 379A, 449 A Mason, William 25 Matschoß, Conrad 453A, Maurer, Michael 2, 19, 399 Maurois, André 274, 277, 279f., 287, 293, 361, 396, 449A Maximilian II. (Kg. von Bayern) 131 Mayer, Julius Robert 193 Maync, Harry 358 A Mayrhofer, Johann 90–93, 95f. Mazarin, Jules 330 Mazzini, Giuseppe 437A, 449A
Register Mehmed Ali von Ägypten 103 Mehring, Franz 422–426, 428, 476 Meinecke, Friedrich von 393A, 398, 400 A, 401 A, 423, 466 Meisner, Otto 404 Meißinger, Karl August 453A Melanchthon, Philipp 328 Mell, Max 453 A Mellen, Joan 13 Mesmer, Franz Anton 260 Metternich, Clemes Wenzel Lothar Nepomuk Fürst von 499 Meyer, Conrad Ferdinand 49, 132A, 190, 241, 269A, 278, 283–286, 302, 329, 333, 480, 482 Meyerfeld, Max 382 Michael, Horst 123 Michaelis, Karin 449 Michelangelo 145, 217 Minor, Jakob 477 Mitscherlich, Alexander 267 Möbius, August Ferdinand 229 Möbius, Paul Julius 189 A, 190, 208, 211f., 218, 227–235, 240–243, 362 Moeller van den Bruck, Arthur 351, 452, 453, 453A, 454f., 474 Möller, Karl von 503–507 Mohammed 139, 142, 145 Molo, Walter von 9, 136A, 143, 274–276, 285, 329, 350, 418A, 453, 458, 467–481, 483–486, 492–494, 503 Mommsen, Wilhelm 392f., 398, 404, 405 A, 408–410 Mörchen, F. 237 Moreau de Tours, Jacques Joseph 189, 208, 211 Morel, Benedict Augustin 189, 211, 213, 218, 222f. Moser, Heinrich 173 Mozart, Wolfgang Amadeus 145 Müller, Eugen 402
Müller, Karl 80 Müller-Freienfels, Richard 240 Mulot, Arno 491 Mundt, Theodor 98 Murchison, Roderick 288 Mussolini, Benito 377 A, 377f., 393, 395, 396 A, 437 Nadejena, Lydia 449 A Nadel, Ira Bruce 29 Nadler, Josef 453 A Nagera, Humberto 252, 265 Napoleon Bonaparte 133, 139, 145, 169, 182, 244A, 275, 280 A, 343, 347A, 361, 377, 382, 392, 402, 406, 411, 417A Napoleon III. 419 Nasmyth, James 166 Neumann, Alfred 275, 449 A Neumann, Robert 431 A, Newton, Isaac 161 Nicholson, Peter P. 154 Niedermeier, Hans 480 Niekisch, Ernst 437 Nietzsche, Friedrich 40f., 147–151, 190, 224, 229, 257, 367f., 370 Niño, Pedro 291 Nordau, Max (eigtl. Simon Maximilian Südfeld) 101, 189, 208, 218–228, 242, 246 Oates, Lawrence 320 Odin 139 Offenbach, Jacques 419f., 431 Ojeda, Alonzo de 291 Olav I. Tryggvason (Kg. von Norwegen) 449 Olden, Rudolf 430, 437– 441, 443A, 444, 446, 448 Oncken, Hermann 453A, 459A Osietzki, Maria 34 Ossietzky, Carl v. 397 A Ostrogorsky, Georg 456 A Ostwald, Wilhelm 188, 192–208, 211f., 217, 471 Otto, Friedrich 446 A Ovid (Publius Ovidius Naso) 449f.
553 Oviedo, Edgardo 10 Palissy, Bernard 166, 168f. Panunzio, Costantino 449A Papen, Franz von 441 Paul III. (Papst) 124 Partin, Robert 36 Perry, Hans-Jürgen 392, 395 Pestalozzi, Johann Heinrich 171 Peter I., der Große (Zar von Rußland) 146, 169 Petersen, Julius 453 A Peuckert, Will-Erich 453 A Pfotenhauer, Helmut 5 Philipp II. (Kg. von Spanien) 431 Picasso, Pablo 39 Pinzon, Martín Alonso 343 Pirkheimer, Willibald 354 Pizarro, Francisco 291, 333 Planer, Oscar 27 Platen, August von 206 Platon 67 Plessen, Hans von 383 Plessing, Victor L. 269 Plutarch 26, 40, 72, 76, 111f., 122, 125, 132, 165, 181, 286, 367, 374, 378 Poictevin, Francis 220 Pope, Alexander 31 Posner, Ernst 393, 401 A Pourtalès, Jacques Louis de 173A Proust, Marcel 264 Puttkammer, Johanna von 380 Raabe, Wilhelm 269 A, 283 A Rádl, Emanuel 210f., 218 Raffael 145 Rank, Otto 255 Ranke, Leopold von 7, 110A, 111f., 118, 123– 131, 453A Rathenau, Walther 358, 432 Raulff, Ulrich 276 Reißmann, Camillo 27 Remarque, Erich Maria 415 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 377 Reuchlin, Johann 133 Reulecke, Anne-Kathrin 22 Richard, Eugène 172
554 Richelieu, Armand-Jean du Plessis Kardinal 130A, 425 Richter, Jean Paul (Jean Paul) 74A, 107, 472 Riesenberger, Dieter 122, 457 Ritter, Gerhard 326, 400 A, 453, 455–467, 480 Robespierre, Maximilian 54, 59, 74, 109, 111 A, 115, 118, 132f., 147, 178–185 Röhm, Ernst 447 Rohden, Peter Richard 452, 456A, 486 Romein, Jan 274, 361, 430, 512 Roon, Albrecht von 453A Roosevelt, Franklin D. 391 Rosegger, Peter 171 Rosenberg, Alfred 430 A, 507 Roth, Joseph 431 A Roth, Richard 166 Rothacker, Erich 453A Rothschild, Familie 103 Rousseau, Jean-Jacques 77A, 85 A, 99, 108, 139, 180, 190, 227, 499 Rubens, Peter Paul 145 Saager, Adolf 377 A, 437 Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 349 Sadger, Isidor 190, 208f., 234, 240f., 255f. Sainte-Beuve, CharlesAugustin 364A Saint-Jean, Robert de 449 A Saint-Just, Louis-AntoineLéon 147 Schäfer, Wilhelm 9, 275f., 335, 354, 453, 455, 480, 483–492, 499 Scharnhorst, Gerhard Johann von 122, 275 Schaumburg, Bruno Paul 152, 168, 170 Scheel, Otto 458, 464f. Scheffel, Joseph Victor von 190, 234 Scherer, Wilhelm 476 Scherr, Johannes 132, 469 A, 474, 478
Register Scheuchzer, Johann 446 A Scheuer, Helmut 1f., 34, 72f., 121, 161, 311, 323, 361, 392, 394f., 397, 430, 467 Schiller, Charlotte 471f. Schiller, Friedrich von 74A, 75A, 97A, 100f., 111 A, 137, 145, 176A, 196, 247, 248, 281, 285, 414, 468–480, 484, 492 Schirach, Baldur von 489A Schirokauer, Arno 275 Schlabrendorff, Gustav von 76 Schlatter, Dora 175 Schlegel, Friedrich von 84A Schleicher, Kurt von 441 Schliemann, Heinrich 166 Schlüter, Andreas 453 A Schmid, Karl Friedrich 176 Schmidt, Carl 205 A Schmidt, Julian 80 Schnabel, Franz 400 A Schneider, Reinhold 275 Schneller, Ernst 427f. Schöler, Hermann 170, 176 Scholz, Wilhelm von 452 Schopenhauer, Arthur 227, 229 Schottlaender, Felix 21 Schreiber, Gerhard 448 Schubart, Christian Daniel 27 Schubert, Franz 90–92 Schüßler, Wilhelm 392, 397f., 400–404, 405, 408, 410 Schulte, Christoph 222 Schulze, Friedrich August (Ps. Fr. Laun) 179, 180A, 182 A, 183, 184 A Schulze-Delitzsch, Hermann 154 Schumann, Robert 216 Schumann, Wolfgang 479 Schurz, Carl 330, 449 A Schwabe, Klaus 458 Schwarzkopf, Nikolaus 491A Schweitzer, Albert 234 Scipio Africanus 347 Scott, Robert Falcon 312, 319–322, 329, 342, 348 Scott, Walter 160f., 412
Seehof, Arthur 278, 279 A, 413A Seneca (Lucius Annæus Seneca) 247 Sengle, Friedrich 58, 71f., 75, 83, 101, 311f. Serrão, Francisco 337–339 Seume, Johann Gottfried 27 Sforza, Carlo 449 A Shakespeare 119, 139, 270, 277A, 406 Shaw, George Bernhard 277 Shelley, Percy B. 277, 361 Shortland, Michael 190 Sickingen, Franz von 352 Siemens, Werner von 453A Sigaud, Charles 333 Simmel, Georg 358 A, 360 A S&libar, Neva 22 Smiles, Samuel 7, 152–154, 156–159, 161–163, 165–168, 170–172, 177, 292A, 308, 341f. Soeffner, Hans-Georg 46 Sommer, Georg 189 A Sommerfeld, Martin 278 Somogyi, Josef 195 Sorge, Reinhard 475A Spamer, Franz Otto (Ps. Franz Otto) 152, 166, 168, 170, 172, 177 Spencer, Herbert 214 A Spengler, Oswald 457 A Spinoza, Baruch 217 Spranger, Eduard 371 A, 452f., 454A, 474, 476 Sprengel, Kurt Polykarp Joachim 137 A S&rbik, Heinrich Ritter von 392, 401f., 463 Stämpfli, Jakob 173 Stanley, Henry Morton 287f., 307–309, 311, 315A, 325 Stein, Heinrich Friedrich Karl Frhr. von 400A, 401A, 457, 459 A, 464 Steinacker, Harold 489 Stephenson, George 166, 168f. Stern, William 31A, 186, 209, 240, 242f., 247 A, 255, 371A
Register Stickelberger, Emanuel 491A Stifter, Adalbert 7f., 15 A, 54–62, 65–72, 74, 76, 79, 82f., 85, 86 A, 88f., 97, 109f., 114f., 117 A, 118, 119A, 132, 150, 178, 183–185, 188 A, 453A Storfer, Adolf J. 252 Strachey, Lytton 36, 255, 262f., 275A, 276f., 277, 361 Strauß, David Friedrich 27, 209, 350, 352, 355 Stresemann, Gustav 478 A Strindberg, August 208, 278 Stuckert, Franz 490 Süßkind von Trimberg 450f. Sun Yat-sen 449 A Swinburne, Algernon Charles 220 Swoboda, Hermann 228 A Taine, Hippolyte 232, 317, 366, 374 Talleyrand, Charles Maurice de 99 A, 103f., 275 Tasso, Torquato 248 Taube, Otto von 430A Thadden, Marie von 380 Thielmann, Winfried 3 Thiers, Adolphe 226 Thieß, Frank 415 Thimme, Friedrich 398 A Tieck, Ludwig 99f. Tocquevilles, Alexis de 317 Tolstoi, Leo N. 217, 411f. Toyoda Sakichi 153 Travers, Tim 159 Treitschke, Heinrich von 79, 131, 408, 423f., 426, 452, 458, 459 A Treue, Wilhelm 492 Tschaikowsky, Peter Iljitsch 431 Tschudi, Clara 314 A Tucholsky, Kurt (Ps. Ignaz Wrobel) 362 A, 388 A Uhland, Ludwig 248 Ullrich, Sebastian 392, 395 Undset, Sigrid 449 Valentin, Veit 392 A
Varnhagen von Ense, Karl August 58, 72–83, 90, 98f., 102, 105f., 111, 114, 117f., 122f., 132, 135A, 183, 185, 226, 250 Verlaine, Paul 224 Verdi, Giuseppe 275 Vesper, Will 353 A, 494 A Vespucci, Amerigo 294f., 297, 312 Viereck, George Sylvester 365 Vinci, Leonardo da 249, 251–253, 266, 270, 273 Vischer, Luise 471 Voemel, Alexander 175f. Voltaire 108, 217, 449 A, 450 Voß, Christian Daniel 137 A Wagner, Richard 220, 361, 364, 381f., 393 A Waiblinger, Wilhelm 92 Walch, Johann Georg 61 Waldenfels, Bernhard 45 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius von 9, 112, 125, 126 A, 127– 130, 281 Walzel, Oscar 79, 303f. Wartenburg, Graf Yorck von 121f. Wassermann, Jakob 7, 275, 283f., 286–311, 323f., 343, 360, 392, 477f. Watson, George 152, 155 Weber, Max 398 Weber, Max Maria von 177A Weihe, Carl 177 A Weininger, Otto 190, 471f. Weiß, Ernst 319 A, 347, 385, 388A Wellington, Arthur Wellesby, Duke of 103 Wells, Herbert George 406 Weltmann, Lutz 260 A, 310 Wendel, Hermann 419 A Werner, Zacharias 248 Wessel, Horst 453 Westphal, Otto 393, 398, 410 Wezel, Johann Karl 68 White, Hayden 42 Wichert, Ernst 275 Wieck, Clara 216
555 Wiedenmann, Ursula 77, 79 Wiegler, Paul 275, 392f., 402A, 453 A Wienbarg, Ludolf 80, 98 Wilde, Oscar 271 Wilhelm I. (dt. Kaiser) 393, 402A Wilhelm II. (dt. Kaiser) 360, 362A, 377, 382– 388, 390f., 399, 401, 403, 409A, 417A, 418A, 432f., 448, 498 Wilhelm von Oranien 431 Winckelmann, Johann Joachim 25, 72f. Witkop, Philipp 488 Wittlin, Joseph 449 A Wöhler, Friedrich 196 Wolff, Christian 68 Wolzogen, Caroline von 75, 471f. Woolf, Virginia 277 Wulf, Christoph 202 Wundt, Wilhelm 164, 210, 235f., 292, 297f., 368, 370 Yeats, William Butler 271 Yeo, Richard 190 Zarek, Otto 430 Zeller, Eduard 27A Zeller, Rosemarie 38f. Zeppelin, Ferdinand Graf von 437A Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 453A Zola, Émile 224, 449 A Zweig, Arnold 260 Zweig, Friderike 347 A Zweig, Stefan 3, 8, 14 A, 24, 28, 40, 84 A,143, 153, 188, 255–261, 273, 274f., 278–282, 284– 286f., 289–291, 293, 295, 310–332, 336–348, 350, 353, 355, 358, 360f., 373, 386 A, 391f., 415, 418, 431, 408, 423f., 426, 449A, 452, 458, 459A, 467, 477f., 487 Zwingli, Ulrich (Huldrych Zwingli) 453A, 460A, 484–488, 490f. Zymner, Rüdiger 6