Biographien der Arbeit - Arbeit an Biographien: Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer in Deutschland [1. Aufl.] 9783839432396

How do second and third wave migrants deal with precarity and unemployment? Which strategies of risk management and reco

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German Pages 330 Year 2015

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Inhalt
Vorwort
1. EINLEITUNG
1.1 Forschungsstand und Fragestellungen
1.2 Aufbau der Arbeit
2. KONTEXTUALISIERUNGEN
2.1 Erwerbsarbeit und Arbeitsgesellschaft
2.1.1 Arbeit, Erwerbsarbeit, Lohnarbeit: Begriffe und Konzepte
2.1.2 Entstehung, Krise und Umbau der Arbeitsgesellschaft
2.1.3 Arbeit – Gender – Männlichkeit
2.1.4 Arbeitsethische Orientierungen in der Forschung
2.2 Migration aus der Türkei nach Deutschland
2.2.1 Arbeits- und Lebenswelten der ersten Generation
2.2.2 Arbeit und Bildung nach dem Anwerbestopp
2.2.3 Migration und Erwerbsarbeit aus der Perspektive der Statistik
3. METHODEN UND FORSCHUNGSDESIGN
3.1 Interpretative Methoden der Sozialforschung
3.2 Biographische Forschung in den Sozialwissenschaften
3.2.1 Narrative Gesprächsführung
3.2.2 Rekonstruktive Fallanalyse
3.3 Forschungsprozess
4. FALLREKONSTRUKTIONEN
4.1 Sinan Koç – „Millionär werden, und nicht mehr arbeiten, das will doch jeder“
4.1.1 Interviewkontext
4.1.2 Familienkonstellation
4.1.3 Die verpassten Gelegenheiten der Bildungslaufbahn
4.1.4 Maschinenführer, Ehemann, Vater
4.1.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder
4.2 Ilhan Uysal – „Ich bin mehr integriert als viele Deutsche“
4.2.1 Interviewkontext
4.2.2 Familienkonstellation
4.2.3 Bildungslaufbahn unter prekären Bedingungen
4.2.4 Karriere im internationalen Unternehmen
4.2.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder
4.3 Cemal Akkaya – „Dieses Netzwerk [...] also für uns funktioniert das nicht“
4.3.1 Interviewkontext
4.3.2 Familienkonstellation
4.3.3 Bildungslaufbahn und Ausbildung
4.3.4 Berufliche Laufbahn zwischen Familie und Karriere
4.3.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder
4.4 Mehmet Oktay – „Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt“
4.4.1 Interviewkontext
4.4.2 Familienkonstellation
4.4.3 Frühe Kindheit und Schullaufbahn
4.4.4 Fließbandproduktion, Zeitarbeit, berufliche Umorientierung
4.4.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder
5. BIOGRAPHIEN DER ARBEIT – ARBEIT AN BIOGRAPHIEN
5.1 Arbeitsethische Orientierungen und intergenerative Positionierungen
5.1.1 Zwischen Pragmatismus und Karriereorientierung
5.1.2 Intergenerative Positionierungen
5.2 Identität und Zugehörigkeit
5.2.1 Zugehörigkeitskonstruktionen
5.2.2 Translokale Positionierungen
5.2.3 Identitätsdiskurse und Diskriminierung
5.3 Männlichkeit und das Selbstverständnis als Vater und Ehemann
6. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
7. LITERATUR
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Biographien der Arbeit - Arbeit an Biographien: Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer in Deutschland [1. Aufl.]
 9783839432396

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Carina Großer-Kaya Biographien der Arbeit – Arbeit an Biographien

Gesellschaft der Unterschiede | Band 28

Carina Großer-Kaya ist Dozentin und Trainerin für Interkulturelle Kompetenz und Diversity an Hochschulen und in der Erwachsenenbildung. Sie ist Mitarbeiterin im Modellprojekt »Vaterzeit im Ramadan?!« beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Bildung und soziale Ungleichheit.

Carina Großer-Kaya

Biographien der Arbeit – Arbeit an Biographien Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer in Deutschland

Diese Dissertation wurde von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen und am 11. April 2014 verteidigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Carina Großer-Kaya Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3239-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3239-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 9

1. E INLEITUNG | 11 1.1 Forschungsstand und Fragestellungen | 18 1.2 Aufbau der Arbeit | 29

2. KONTEXTUALISIERUNGEN | 33 2.1 Erwerbsarbeit und Arbeitsgesellschaft | 33

2.1.1 Arbeit, Erwerbsarbeit, Lohnarbeit: Begriffe und Konzepte | 33 2.1.2 Entstehung, Krise und Umbau der Arbeitsgesellschaft | 36 2.1.3 Arbeit – Gender – Männlichkeit | 41 2.1.4 Arbeitsethische Orientierungen in der Forschung | 44 2.2 Migration aus der Türkei nach Deutschland | 47

2.2.1 Arbeits- und Lebenswelten der ersten Generation | 47 2.2.2 Arbeit und Bildung nach dem Anwerbestopp | 54 2.2.3 Migration und Erwerbsarbeit aus der Perspektive der Statistik | 61

3. METHODEN UND FORSCHUNGSDESIGN | 71 3.1 Interpretative Methoden der Sozialforschung | 71 3.2 Biographische Forschung in den Sozialwissenschaften | 76

3.2.1 Narrative Gesprächsführung | 81 3.2.2 Rekonstruktive Fallanalyse | 85 3.3 Forschungsprozess | 88

4. FALLREKONSTRUKTIONEN | 103 4.1 Sinan Koç – „Millionär werden, und nicht mehr arbeiten, das will doch jeder“ | 103

4.1.1 Interviewkontext | 103 4.1.2 Familienkonstellation | 104 4.1.3 Die verpassten Gelegenheiten der Bildungslaufbahn | 115 4.1.4 Maschinenführer, Ehemann, Vater | 123 4.1.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder | 135 4.2 İlhan Uysal – „Ich bin mehr integriert als viele Deutsche“ | 140

4.2.1 Interviewkontext | 140 4.2.2 Familienkonstellation | 141 4.2.3 Bildungslaufbahn unter prekären Bedingungen | 150 4.2.4 Karriere im internationalen Unternehmen | 159 4.2.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder | 171 4.3 Cemal Akkaya – „Dieses Netzwerk [...] also für uns funktioniert das nicht“ | 177

4.3.1 Interviewkontext | 177 4.3.2 Familienkonstellation | 178 4.3.3 Bildungslaufbahn und Ausbildung | 181 4.3.4 Berufliche Laufbahn zwischen Familie und Karriere | 188 4.3.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder | 208 4.4 Mehmet Oktay – „Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt“ | 214

4.4.1 Interviewkontext | 214 4.4.2 Familienkonstellation | 216 4.4.3 Frühe Kindheit und Schullaufbahn | 221 4.4.4 Fließbandproduktion, Zeitarbeit, berufliche Umorientierung | 230 4.4.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder | 243

5. BIOGRAPHIEN DER ARBEIT – ARBEIT AN BIOGRAPHIEN | 251 5.1 Arbeitsethische Orientierungen und intergenerative Positionierungen | 252

5.1.1 Zwischen Pragmatismus und Karriereorientierung | 254 5.1.2 Intergenerative Positionierungen | 267 5.2 Identität und Zugehörigkeit | 274

5.2.1 Zugehörigkeitskonstruktionen | 274 5.2.2 Translokale Positionierungen | 278 5.2.3 Identitätsdiskurse und Diskriminierung | 283 5.3 Männlichkeit und das Selbstverständnis als Vater und Ehemann | 290

6. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK | 301 7. LITERATUR | 307

Vorwort

„… was lange währt, wird endlich gut!“ lautete der verschmitzte Kommentar, als es mir endlich gelang, zwischen Kind und verschiedenen Jobs die letzte Hausarbeit abzugeben, um zur Abschlussprüfung zugelassen zu werden. Leider kann ich der hier zitierten Person nicht mehr von dieser Dissertation berichten, da mein Lehrer und Mentor, der hoch geschätzte Islamwissenschaftler Holger Preissler zu früh verstorben ist. Die biographischen Diskontinuitäten, die in der vorliegenden Forschungsarbeit untersucht werden, sind, wenn auch anders gelagert, ein ganz persönliches Thema, das die Entstehung und Fertigstellung in Form dieses Buches begleitet haben. Mein erster ganz herzlicher Dank gilt den Männern und Frauen, die mir ihre Zeit für die Interviews zur Verfügung gestellt haben. Ohne ihr Vertrauen in meine Forschung wäre eine Realisierung nicht möglich gewesen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Material für die Untersuchung überhaupt entstehen konnte. Einen besonders großen Anteil an der Umsetzung meiner Dissertation hat mein Betreuer Jörg Gertel, der mich immer wieder motiviert hat und mir viele hilfreiche Rückmeldungen gegeben hat. Ich danke ganz herzlich für die langjährige Unterstützung. Ich bedanke mich zudem bei meiner Gutachterin Monika Wohlrab-Sahr für ihre zahlreichen Hinweise und Kommentare. Begleitet haben mich auf diesem Weg viele Menschen, die mir mit ihrem Rat zur Seite gestanden, kritische Rückmeldungen gegeben haben oder einfach da waren, wenn ich sie gebraucht habe. So haben mir manche klare Worte geholfen, die ich in Gesprächen, nach Vorträgen oder bei einem Glas Wein erhalten habe, wenn ich so gar nicht mehr weiter wusste. Und somit danke ich allen, die den Entstehungsprozess dieser Arbeit begleitet haben: den vielen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, meinen Eltern, meinen Schwestern und meinen Söhnen.

1. Einleitung

Die globale Verbreitung von Informationstechnologien und die weltweiten Verflechtungen und Verschränkungen der sozialen Beziehungen, sind die zentralen Themen der Postmoderne. Menschen, Güter, Wissen und Ideen sind in Bewegung und treten in physische wie ideelle Austauschprozesse, die neue soziale Phänomene sowohl auf der globalen Ebene wie auch auf der Ebene der Regionen hervorbringen. Mobilität ist das zentrale Stichwort dieser Entwicklungsprozesse, die transnationale und transkulturelle Interaktionen hervorbringen und modifizieren und damit konstitutiv sind bei der Bildung globaler sozialer Räume. Dies führt dazu, dass die Bewegungen von Menschen in diesen Räumen weder mit der Mechanik entlehnten Begriffen wie Push- und Pullfaktoren noch mit dem Begriffspaar Aufnahmeland und Entsendeland zu beschreiben sind. Floya Anthias (2003: 21) spricht deshalb von „transnationalen Bevölkerungsbewegungen“ unter denen eine Vielzahl von Entwicklungen zusammengefasst werden können. So entstehen ausdifferenzierte und global vernetzte Diasporagemeinschaften und Communities, die durch langfristige Niederlassungsprozesse, transnationale Mobilitäten auf globalen Arbeitsmärkten, Pendelmigrationen und globale Märkten für die Partnerwahl gekennzeichnet sind. Eine weitere Dimension der Mobilität zeigt sich in der Zunahme und globalen Ausdehnung von Fluchtbewegungen vor ökonomischen, sozialen, ökologischen und politischen Missständen und Katastrophen. Monokausale Erklärungsansätze, die allein in ökonomischen Faktoren Gründe für die zunehmenden Mobilitäten sehen, greifen angesichts der Pluralisierung von Lebensentwürfen zu kurz. „Wir haben es mit einer komplexen Gesellschaft zu tun, in der zumindest für die Masse der sie belebenden Menschen mannigfaltige kulturelle, wirtschaftliche, politische, religiöse und andere Optionen bereitstehen.“ (Hitzler 1999) Angesichts der zu beobachtenden Phänomene besteht die Chance, Vorstellungen von Zugehörigkeiten und Selbstverortungen differenzierter zu verhandeln und sie jenseits der essentialisierenden Vorstellungen von Kultur und Nation mit neuen Begrifflichkeiten auszu-

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statten. Andererseits aber entwickelt sich auch der Wunsch nach sozial und geographisch lokalisierbaren Orientierungspunkten in einer sich schnell verändernden Alltagswelt. Eine Antwort darauf scheint auch darin zu bestehen, religiöse, kulturelle und nationale Bezugspunkte zu reaktivieren und davon ausgehend radikale Homogenisierungen einzufordern und mit Worten und Taten an ihrer Umsetzung in die Praxis zu arbeiten. „Vor allem in der Folge von und als Reaktion auf Einwanderung findet in westlichen Gesellschaften ein Traditionalismus wieder Eingang, den man irrigerweise als überwunden erachtete. Dieser nimmt unterschiedliche Formen an: Als verstärktes Bedürfnis nach ethnisch begründeten Grenzziehungen, als Wiedererstarken von Identitätsfragen, als Beanspruchung von Sonderrechten seitens Minderheiten oder als Revitalisierung fundamentalistischer Weltanschauungen.“ (Cappai 2008: 12)

Im Rahmen dieser globalen Entwicklungen ist die Bundesrepublik Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden, auch wenn dies erst Jahrzehnte nach den zahlreichen Anwerbeabkommen offiziell erklärt werden konnte. Eine mögliche Erklärung dafür bietet Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau mit Rückblick auf die deutsche Geschichte an: „Wir sind aufgewachsen in einer Bundesrepublik, die so rein deutsch war wie noch nie irgendein Deutschland in der deutschen Geschichte. [...] Dieses Erbe der Nazis hielten wir für normal. Halten viele von uns immer noch für normal. Es war aber nichts anderes, als das Resultat einer gewalttätigen ethnischen Säuberung.“ (Widmann 2010) Trotz des seit etwa 1998 einsetzenden Paradigmenwechsels in der Migrationspolitik und der verschiedenen Initiativen von Politik und Forschung, sich mit Migration und ihren Akteuren als Teil der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu beschäftigen, begegnet ein Großteil der Deutschen dem Thema Einwanderung misstrauisch und zeigt rassistische und antisemitische Haltungen. Klaus Dörre (2004: 105) führt dies darauf zurück, dass „in Deutschland [...] keine in Selbstbildern und sozialen Identitäten verankerte positive Einwanderungstradition [existiert]“. Gerade auf der Ebene der Individuen ist immer wieder zu beobachten, dass die Heterogenität von Lebensentwürfen und Alltagspraxen Migranten nicht im selben Maße zugestanden wird, wie dies die deutsche Mehrheit als selbstverständlich und normal für die eigene Gruppe betrachtet. Dabei wird die „prototypische Normalitätskonstruktion“ (Dausien/Mecheril 2006) verwendet, um das Problem der eindeutigen Grenzziehungen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen denjenigen, die aus der Perspektive der Mehrheit dazugehören und denjenigen, die als nicht zugehörig klassifiziert werden, zu überbrücken.

E INLEITUNG | 13

„Je schwieriger die Bestimmung der Mitgliedschaftsgrenzen anhand konkreter Merkmale wird, desto attraktiver wird die phantasmatische Bestimmung, eine Kompensation durch imaginierte Eigentlichkeit und prototypisch gesteigerte Normalität und Biographie. So wird natio-ethno-kulturelle Normalität erzeugt.“ (Dausien/Mecheril 2006: 166/167)

Im Zuge der globalen Transformationen der Wirtschaftssysteme findet die „Ökonomisierung des Sozialen“ auch ihren Niederschlag in der neoliberalen Neuordnung der Systeme sozialer Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Der Zugang zur umkämpften Ressource Erwerbsarbeit gelingt einem immer geringer werdenden Anteil der Bevölkerung. Die Verlierer in dieser Auseinandersetzung müssen auf die Transferleistungen aus den sozialen Sicherungssystemen zurückgreifen (Neckel 2008: 55). Wilhelm Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einem „entsicherten Jahrzehnt“, in dem „nichts mehr gewiss [...], nichts mehr unmöglich [ist]“ und eine generelle „Statusunsicherheit“ die sozialen Interaktionen dominiert (Goettle 2012). Angesichts ökonomischer Krisen wird in den Verteilungskämpfen um die Ressourcen Arbeit und Bildung die Begrenzung von Zuwanderung und Familiennachzug immer wieder als populistische Lösung der sozialen Probleme ins Spiel gebracht. Der soziale Neid auf die phänotypisch, sozial, religiös und sprachlich markierten „Anderen“ mobilisiert gerade diejenigen, die gut qualifiziert sind und sich von den ökonomischen Krisen in ihrer erreichten sozialen Position als besonders gefährdet sehen. Die soziale Lage der Migranten wird damit zu einem zentralen Thema der Debatten um Migration, Zugehörigkeit und Partizipation. „War früher das Bild des hart arbeitenden Einwanderers in körperlich anstrengenden Berufen vorherrschend, so ist heute das Bild des abgeschottet lebenden Beziehers von Sozialleistungen verbreitet.“ (Thränhardt 2010: 20)

Parallel dazu ist zu beobachten, dass die Beschäftigung von Politik und Sozialwissenschaften mit dem Thema Migration stark zunimmt und enorme Anstrengungen unternommen werden, um die Lebenslagen und Lebenswirklichkeiten vor allem der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen. Damit wird gerade diese Gruppe zur „am besten untersuchten Gruppe“, zumindest was die Anzahl der Untersuchungen und Studien betrifft, allerdings, ohne dass Wissen und Erkenntnis dadurch wesentlich besser geworden wären.1 Zudem

1

Naika Foroutan in einem Vortrag im Leipziger Rathaus im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „Abu, Mama und Bébé“ des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften am 08.04.2011 (Eigene Mitschriften).

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drängt sich der Verdacht auf, dass diese Gruppe, die durch die Ereignisse des 9/11 unter einen umfassenden Generalverdacht gestellt wurde, im Rahmen der Diskurse um religiöse Identität erst als solche konstruiert und damit als Gruppe „entdeckt“ wird (Spielhaus 2006). In den Diskursen zum Thema Migration stehen darüber hinaus volkswirtschaftliche Argumentationen im Zentrum. So wird zwischen erwünschter und nicht erwünschter Einwanderung unterschieden. Diese Einteilung hat in ihren unterschiedlichen Ausprägungen eine jahrzehntelange Tradition, die die Einwanderungsdiskurse seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland strukturiert. Erwünscht sind in der Nachkriegszeit junge, meist ledige Männer und Frauen aus dem Mittelmeerraum, die als körperlich geeignet für monotone Industriearbeit scheinen. Aufgrund der Lohngefälle zu den Herkunftsländern bieten sich ihnen neue, zeitlich begrenzte Einkommensmöglichkeiten, die ihnen einen finanziellen Vorteil gegenüber den nicht migrierenden Teilen der Bevölkerung in den Herkunftsländern verschaffen. Aufgrund der seit den 1980er Jahren einsetzenden ökonomischen Veränderungen und der Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen in Länder mit geringeren Lohnkosten, sowie durch die Technologisierung und Automatisierung der Produktionsabläufe hat sich das Interesse an Arbeitskräften aus dem Ausland erheblich verringert. Entgegen der offiziellen politischen Rhetorik des Anwerbestopps im Jahr 1973, der weitere Einwanderung verhindern sollte, werden weiterhin bestimmte Formen der Migration zugelassen und gefördert. Dies gilt für „bestimmte Migrationstypen [...] je nach regionalem, branchen- oder geschlechtsspezifischem Bedarf“ (Hess 2001: 201). Dazu gehören unter anderem Formen von Saisonarbeit, Werksverträge, Sportler-, Studenten- und Künstlervisa. Hinzukommt ein „breites unreguliertes Feld von versteckten Migrationspraxen, die als solche in keiner offiziellen Migrationsstatistik auftauchen“ (ebd.: 202). Die politischen Maßnahmen bewegen sich damit in einem Spektrum zwischen offizieller Förderung einerseits und Verboten, Restriktionen sowie der Kriminalisierung illegaler Einwanderung und unerlaubter Arbeitsaufnahme andererseits. Damit ist Einwanderungspolitik immer eng verbunden mit Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik (Meier-Braun 2007: 21). Als die Debatten um Geflüchtete darin münden, dem überwiegenden Teil von ihnen ökonomische Motive zu unterstellen, um ihnen als „Wirtschaftsasylanten“ den Anspruch auf ein faires Verfahren und soziale Absicherung zu verweigern, ereignen sich im Zuge der Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten in den Jahren 1991 bis 1993 rassistische Ausschreitungen und Brandanschläge mit mehreren Toten. Die politische Antwort besteht in einer Grundgesetzänderung, die den legalen Zugang zur Bundesrepublik noch weiter einschränkt und

E INLEITUNG | 15

auf das „Nadelöhr Asyl“ hin minimiert (Müller 2010: 313). Jürgen Habermas bringt es in der ZEIT vom 11.12.1992 auf den Punkt, wenn er sagt: „Dass Deutschland den Brandanschlag in Rostock und die Tötung von Mölln für die Einschränkung des politischen Asylrechts benutzte, die Ausländer für solche Handlungen verantwortlich machte, führte zum Verlust der demokratischen und republikanischen Werte und trieb den ‚ethnischen Nationalismus‘ auf politischem Wege zum Höhepunkt.“

Im Rahmen der Schengen-Verträge der EU-Staaten wird das Problem der illegalen Einwanderung zudem auf die Außengrenzen Europas verlagert. Die letzte weitreichende Änderung im Jahr 2007 bestand angesichts der Zunahme von „Scheineheverdachtsfällen“ und unter dem Vorwand der Verhinderung von „Zwangseheschließungen“ darin, von nachreisenden Ehepartnern einen Sprachnachweis zu verlangen. Damit wurden die Zuzugszahlen von Migranten erneut reduziert. Angesichts der demographischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland jedoch verlaufen die Einwanderungsrestriktionen konträr zum wachsenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland, die die sinkenden Absolventenzahlen an den Schulen und die Abwanderung von gut ausgebildeten Arbeitskräften aus Deutschland ausgleichen sollen. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen zielt darauf ab, Einwanderern den Zugang zum Arbeitsmarkt möglichst zu erschweren oder an spezifische Bedingungen zu knüpfen, bei denen die individuelle Verwertbarkeit der Arbeitskraft im Zentrum steht. So wurde bereits Anfang der 1970er Jahren ein hierarchisierter Arbeitsmarktzugang eingeführt, der Einwanderer aus Staaten außerhalb der EU auf den letzten Platz bei der Vergabe offener Stellen setzt.2 Die aktuellen Regelungen des Ehegattennachzugs legen qualifikatorische Voraussetzungen der nachreisenden Ehepartner fest, durch die die potentielle Einsetzbarkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt über den vom Grundgesetz garantierten Schutz von Ehe und Familie gestellt wird. Demgegenüber jedoch verläuft die Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im Ausland erworben werden, nur langsam an und verbirgt sich in einem Dickicht aus wenig transparenten Zuständigkeiten, die stark von einem

2

Die Arbeitsvermittlung vergibt frei werdende Arbeitsplätze anhand eines „Inländerprimats“. An zweiter Stelle nach den Deutschen können EU-Staatsbürger und erst dann ein sogenannter „Drittstaatsangehöriger“ die freie Stelle erhalten. Diese Regelung kann nach Ermessen und auf der Grundlage von Verordnungen in ihrer Anwendung spezifiziert werden. Drittstaatsangehörige mit einer allgemeinen Arbeitserlaubnis können jedoch nicht ohne weitere Begründung abgelehnt werden.

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Schutz berufsständischer Privilegien für in Deutschland Ausgebildete durchzogen sind.3 Insgesamt werden damit, um im ökonomischen Sprachgebrauch zu bleiben, wertvolles Humankapital und berufliche Potenziale von Migranten nicht genutzt, was sich angesichts des demographischen Wandels negativ auf die Kosten-Nutzen-Bilanz der Volkswirtschaft auswirkt. Die Einbindung von Migranten in die Einwanderungsgesellschaft erfolgt somit in erster Linie über die Kategorie Erwerbsarbeit. Der rechtliche Status ist von Erwerbsarbeit abhängig und umgekehrt wird der Zugang zum bundesdeutschen Arbeitsmarkt durch den jeweiligen Rechtsstatus bestimmt. Für Einwanderer aus nicht europäischen Staaten wie der Türkei bestehen Reglementierungen, die entsprechend temporärer volkwirtschaftlicher Interessen modifiziert werden. Hinzukommt, dass juristisch betrachtet, auch die Aufenthaltssicherung und Verfestigung an Erwerbsarbeit gebunden ist, ob nun als Arbeitnehmer, Selbständiger oder Freiberufler. Vom Erwerbsstatus und dem daraus generierten Einkommen wird über die Gewährung, Verfestigung und Verwehrung von Aufenthaltsrechten, ihre Verlängerung und mögliche Entfristung entschieden. Davon hängen alle weiteren Angehörigen einer Kernfamilie ab, wenn sie kein eigenes Einkommen erwirtschaften und auch ihre Einreise im Rahmen von Familienzusammenführungen ist an spezifische Vorgaben zum vorhandenen Einkommen geknüpft. Gleichzeitig ist aber die Ableitung des sozialen Status über die Erwerbsarbeit gesamtgesellschaftliche Praxis. Dies wird angesichts der gegenwärtig geführten kontroversen Debatten in Politik und Gesellschaft über die „Zukunft der Arbeitsgesellschaft“ vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit und der einschneidenden Veränderungen in der Arbeitswelt deutlich. Die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sind eingebettet in kontroverse Debatten um die Verfasstheit der Gesellschaft und ihrer Norm- und Wertvorstellungen. Ethnische und religiöse Differenzierungen, bei denen lediglich zwischen zwei sich dichotom gegenüber stehenden Gruppen unterschieden wird, die als homogene Entitäten konzipiert werden, stehen der Bearbeitung der drängenden sozialen Fragen, wie denen der zunehmenden Bildungsungleichheit und wachsender sozialer Ausgrenzung entgegen. „Nur wenn die Zugehörigkeit nicht mehr in Frage steht, können diese Probleme in Abhängigkeit von Sozialstrukturen diskutiert werden und nicht in

3

Ein Anspruch auf Prüfung der im Ausland erworbenen Qualifikationen besteht erst seit Anfang 2012. Die Vorschriften sind überaus komplex und eine eigenständige Regelung ist für Neueinwanderer ohne kompetente Beratung kaum durchführbar. Beratungsstellen

gibt

es

bisher

nur

www.anerkennung-in-deutschland.de

in

einigen

großen

Städten.

Vgl.

dazu

E INLEITUNG | 17

Verbindung mit der ethnisierenden und kulturalisierenden Frage nach deutsch oder nicht-deutsch.“ (Foroutan 2010a: 13/14) Die Türkeistämmigen in Deutschland blicken auf eine mittlerweile seit über 40 Jahren kontinuierlich andauernde Migrationsgeschichte zurück, die den Ausgangspunkt für die Etablierung einer „Einwanderercommunity“ darstellt, die durch komplex ausdifferenzierte ethnische, religiöse und soziale Orientierungen und Lebensentwürfe gekennzeichnet ist (Rauer 2007; Çelik 2006). Auch Nermin Abadan-Unat (2005: 95) verwendet den Begriff der „Community“, um die zahlreichen religiösen, politischen und sozialen Binnendifferenzierungen zusammenzufassen. Seit den 1960er Jahren haben 50-75% aller Wanderungen aus der Türkei Deutschland als Ziel (Faist 2000: 51). Durch das Anwerbeabkommen von 1961 werden Kontraktarbeiter aus der Türkei angeworben, für die als „Gastarbeiter“ ein vorübergehender Arbeitsaufenthalt vorgesehen ist. Allerdings stellt Jochen Blaschke (1991) fest, dass stets ein nicht unerheblicher Teil der Migranten politische Motive hatte, sich in Deutschland um einen Arbeitsplatz zu bewerben. Seit dem Anwerbestopp von 1973 wird der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt stark eingeschränkt, so dass sich Migration aus der Türkei in Richtung Familiennachzug und Heiratsmigration verlagert. Nach dem Militärputsch 1980 und dem Beginn des Bürgerkrieges in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen nimmt die Zahl der Flüchtlinge stark zu (Thalheimer 2003). Betrachtet man vor dem Hintergrund der historischen Fakten allein das sich daraus ergebende breite Altersspektrum und die unterschiedlichen Zeitpunkte der Zuwanderung, wird die Vielfalt von Lebenswelten und Lebensstilen deutlich. Doch nicht allein die individuellen Ressourcen der Zuwanderer sind für die Verwirklichung der unterschiedlichen Lebensprojekte von Bedeutung. Vielmehr ist die Gleichstellung mit den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Partizipation und Repräsentation in den gesellschaftlichen Institutionen ein Bereich, in dem erhebliche Defizite bestehen. Strukturelle und institutionelle Formen der Diskriminierung wirken insbesondere in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt. Ein positives Bild der Arbeitsmigranten aus der Türkei vermitteln zunächst die Arbeitgeber, die vom hohen Arbeitseinsatz durch Akkordentlohnung und im Schichtdienst an gesundheitlich gefährdenden Arbeitsplätzen ökonomisch profitieren. „Der fleißige Mann vom Bosporus“ der Gegenwart hingegen wird durch den mittelständischen Unternehmer türkischer Herkunft verkörpert, der seinen Beitrag zum Wachstum und dem Erhalt von Arbeitsplätzen leistet. In den Medien wird dabei in besonderer Weise das Leistungsbewusstsein der „bienenfleißigen“ Inhaber türkischer Herkunft hervorgehoben, was wiederum dazu dient, den volkswirtschaftlichen Nutzen von Einwanderung hervorzuheben (Ott 1998).

18 | B IOGRAPHIEN DER A RBEIT – ARBEIT AN B IOGRAPHIEN

Demgegenüber entwickelt sich spätestens in den 1970er Jahren ein rassistischer Diskurs, der durch die Niederlassungsprozesse von Familien aus der Türkei in sanierungsbedürftigen Stadtteilen westdeutscher Großstädte und Westberlins ausgelöst wird. Ein Beispiel dafür ist die Wochenzeitschrift Der Spiegel (1973) mit dem Artikel „Hilfe die Türken kommen – rette sich wer kann“, der kurz vor dem Anwerbestopp erscheint. Parallel dazu zementiert die rassistische Alltagskultur der Mehrheitsgesellschaft das negative „Türkenbild“ in Deutschland, in dem sie zum Beispiel als arbeitsunwillig klassifiziert und damit stigmatisiert werden.4 Die Tragweite dieser Entwicklungen bestätigen Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit, die die Wirksamkeit „negativer Klassifikationen“ feststellen, also diskriminierender Zuschreibungen, die sich vor allem für Türkeistämmige in der Konkurrenz um sozial anerkannte gesellschaftliche Positionen negativ auswirken (Sutterlüty/Neckel 2010). Derzeit ist die verstärkte Abwanderung von hoch qualifizierten Türkeistämmigen in die Türkei zu beobachten und das jährlich gemessene Wanderungssaldo zwischen Deutschland und der Türkei ist negativ. Ein zentrales Motiv der Rückwanderer besteht unter anderem darin, „nie mehr braver Türke“ sein zu müssen, wie eine Rückkehrerin in einem Beitrag von Kristina Karasu (2010) zitiert wird.

1.1 F ORSCHUNGSSTAND UND F RAGESTELLUNGEN Die soziale Situation der Einwanderer findet zunächst eine punktuelle Berücksichtigung in den Sozialwissenschaften der 1970er Jahre als „Ausländerforschung“. In einer der ersten soziologischen Studien untersucht Ursula Mehrländer (1974) die soziale Situation der ersten Generation der Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Die Datenerhebungen sind jedoch zeitlich und regional begrenzt. Bereits Anfang der 1980er Jahre wird kritisiert, dass die Forschung zu Migration in der Regel als Auftragsforschung konzipiert und finanziert wird und damit in der Erwartung initiiert wird, die Ergebnisse für sozialpolitische Maßnahmen heranziehen zu können (Tsiakalos 1982: 29). Annette Treibel (1988: 11) sieht die Ursache dafür in dem Umstand, dass „Ausländer stets als soziales und politisches Problem wahrgenommen wurden.“ Zwar wird die enge Verschränkung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse mit politischen und juristischen Maßnahmen in der Folgezeit kritisch reflektiert, grundsätzlich ist aber bis in die

4

Diese Form der Degradierung findet ihren Ausdruck unter anderem in sogenannten „Türkenwitzen“, wie dieses Beispiel aus einer Internetzusammenstellung verdeutlicht: „Warum ziehen so viele Türken nach Deutschland? Weil es da keine Arbeit gibt.“

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Gegenwart festzustellen, dass es sich bei der Migrationsforschung in der Bundesrepublik Deutschland um eine stark politisierte Forschung handelt. „Forschungen zu Migration und Ethnizität beziehen – ob absichtlich oder nicht – Stellung in den gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung zwischen ethnischen oder aufgrund ihres Migrationsstatus differenzierten Gruppen, und sie können jederzeit zur Bestärkung bestimmter Positionen instrumentalisiert, ausgelegt und partialisiert werden.“ (Mecheril 2007: 26)

Es existiert und entsteht eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen, die den Blick auf die phänotypisch, ethnisch und religiös als „fremd“ wahrgenommene Gruppe der muslimischen Migranten mit Herkunftskontext Türkei richten. Sie ist die Gruppe, die in besonderem Maß mit den Schlagworten Arbeitslosigkeit, Bezug von Sozialleistungen, Schulabbrüchen, Hauptschule, Prekarisierung und Segregation in Zusammenhang gebracht wird. Bis in die Gegenwart wird die Gruppe der Türkeistämmigen, unabhängig von Geburtsort und Staatsangehörigkeit bevorzugt gesondert als Gruppe jenseits der Gesamtgesellschaft untersucht, da bei ihrer Einbeziehung statistische „Verzerrungen“ befürchtet werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in bundesdeutschen Stadtstaaten wie Bremen und Berlin geht. Während Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren das katholische Arbeitermädchen vom Lande als besonders benachteiligt herausgearbeitet hat, stehen gegenwärtig (junge) Männer mit türkisch-muslimischem Migrationshintergrund als besonders benachteiligt im Hinblick auf Bildung, Erwerbsarbeit und sozialen Aufstieg im Zentrum der Aufmerksamkeit (Geißler 2008). Hinsichtlich der sozialen Interaktionen und gesellschaftlichen Prozesse, die auf der individuellen und kollektiven Ebene im Kontext von Migration erfolgen, wurden und werden eine Vielzahl von Konzepten und Theorien entwickelt und kontrovers diskutiert. Als Oberbegriff wird im deutschsprachigen Raum zunächst von „Eingliederungsprozessen“ gesprochen, die in dem Moment beginnen, in dem Menschen aus einem idealtypischer Weise geschlossen konstruierten Gesellschaftssystem in ein anderes wechseln (Sackmann 2004: 23). Aus dieser Grundsituation können einander konträr gegenüber stehende Begriffspaare abgeleitet werden wie Fremde-Einheimische, Wir-Andere, Ausländer-Inländer, Inklusion-Exklusion, Entsendeland-Aufnahmeland, Minderheit-Mehrheit. Zu kritisieren ist daran vor allem, dass im Sinne dieser Dichotomien davon ausgegangen wird, dass es ethnisch und kulturell homogene Gruppen gibt, die unveränderbar der ebenfalls als Einheit präsentierten Bevölkerung der Mehrheitsgesellschaft gegenübertreten. Diesen Konzepten liegt ein essentialisierender Kulturbegriff

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zugrunde, der Bedeutungssysteme konstruiert, die „jede Gesellschaft als eigenständige und begrenzte Ganzheit mit ihrer separaten Ökonomie, Kultur und historischen Überlieferung betrachten“ (Glick Schiller/Basch/Blanc-Szanton 1997: 86). Demgegenüber hat der postmoderne Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften (cultural turn) eine Vielzahl von Diskursverschränkungen rund um die Konstruktion von Identitäten offengelegt, wie es zum Beispiel Stuart Hall (1992) formuliert.5 „A distinctive type of structural change is transforming modern societies in the late twentieth century. This is fragmenting the cultural landscapes of class, gender, sexuality, ethnicity, race and nationality which gave us firm locations as social individuals. These transformations are also shifting our personal identities undermining our sense of ourselves as integrated subjects.“ (Hall 1992: 274/275)

Diese grundlegenden Veränderungen haben weitreichende Konsequenzen für die sozialwissenschaftlichen Konzepte und Theorien, die sich mit Migrationsprozessen und gesellschaftlichem Wandel in einer Welt globaler Mobilität befassen. So geht das Konzept der Assimilation auf Milton M. Gordon (1964) zurück, das in einem Stufenmodell die Eingliederungsprozesse von Migranten beschreibt. Diese Vorstellungen von Assimilation sind in Deutschland vor allem durch Veröffentlichungen von Hartmut Esser (1980; 1999; 2006) bekannt geworden. Es geht davon aus, dass Migranten aus „Entsendeländern“ auf existierende soziale Systeme im Aufnahmeland treffen und sich individuell und strukturell anpassen. Durch diesen Prozess, in dem der umfassende Spracherwerb und das Erlernen der Wert- und Regelsysteme der Aufnahmegesellschaft zentral sind, wird gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Für die USA haben Richard Alba und John Logan (1991) die räumlichen Verteilungsdynamiken ethnischer Gruppen untersucht und daraus das Konzept der „residentiellen Assimilation“ formuliert. Die Assimilation ethnischer Gruppen zeigt sich daran, in wieweit sie aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation in der Lage sind, in suburbanen Räumen der Städte zu wohnen und welche Barrieren dabei wirksam werden. Mit der von Alba und Logan aufgegriffenen Problematik der wohnräumlichen Segregationsprozesse beschäftigt sich auch Georg Elwert (1982). Er setzt der Gefahr der Bildung von

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Zu den turns, den „Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften“, hat die Literaturund Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick (2006) eine umfangreiche und differenzierte Gesamtschau erarbeitet, die einen umfassenden Einblick in die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen einer globalen kulturwissenschaftlichen „Neufokussierung“ bietet.

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segregierten Wohnquartieren die Möglichkeit der Binnenintegration als Weg für Migranten im Aufnahmekontext entgegen. Binnenintegration ist „ein Zustand, in dem für das Glied einer durch emische (kulturimmanente) Grenzen definierten Subkultur der Zugang zu einem Teil der gesellschaftlichen Güter einschließlich solcher Gebrauchswerte wie Vertrauen, Solidarität, Hilfe usw. über soziale Beziehungen zu anderen Gliedern dieser Subkultur vermittelt ist“ (ebd.: 720). Auf dieser Grundlage kann Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen gebildet werden und Alltagswissen innerhalb einer ethnischen Gemeinschaft vermittelt werden, die durch Selbst- und Fremdzuschreibung konstruiert wird (ebd.: 721). Der Prozess der Binnenintegration zielt auf eine möglichst hohe Platzierung innerhalb der ethnischen Minderheit ab, als Grundlage für sich daran anschließende Prozesse zur Eingliederung in die Gesamtgesellschaft. Das Konzept der Binnenintegration ist allerdings dann problematisch, wenn es zur Isolierung von Individuen innerhalb der Migrantengemeinschaft führt. Ein weiteres Konzept, um Prozesse der Eingliederung von Migranten langfristig zu beschreiben, ist das von John Berry (1990; 1997) entwickelte der Akkulturation (acculturation). „Acculturation is a process of cultural and psychological changes that involve various forms of mutual accommodation, leading to some longer-term psychological and sociocultural adaptations [...]; it continues long after initial contact in culturally plural societies, where ethnocultural communities maintain features of their heritage cultures.“ (Berry 2005: 699)

Berry (1997: 9) definiert als vier Strategien der Akkulturation die Separation, Integration, Assimilation und Marginalisierung. Während die Integration aus freien Stücken in einer Atmosphäre der Offenheit erfolgt, unterliegen Prozesse der Marginalisierung äußeren Einflussfaktoren. Eine Marginalisierung im Aufnahmekontext erfolgt dann, wenn seitens der Migranten kein oder nur ein geringes Bestreben besteht, an der eigenen Kultur festzuhalten, und gleichzeitig kein oder nur ein geringer Kontakt mit Angehörigen der anderen Kultur entsteht (Berry 1990: 250). Assimilation bedeutet im positiven Sinne das Aufgehen im melting pot, während Separation den Wunsch nach individueller und kollektiver Abgrenzung zum Ausdruck bringen soll (Berry 2006: 10). Auch dieses Konzept wurde breit rezipiert und auf seine Anwendbarkeit hin in empirischen Studien geprüft (z.B. Berry 2006). Vor allem in Abgrenzung von Assimilationskonzepten, die das stufenweise Aufgeben religiöser, sprachlicher und kultureller Differenz als zentrales Migrationsszenario konstatieren, wurden in den 1980er Jahren Konzepte diskutiert, die in der multikulturellen Gesellschaft eine Antwort auf die Folgen globaler Mobi-

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lität gesehen haben. Dabei wurde davon ausgegangen, dass ethnische Gemeinschaften sich nicht im kontinuierlichen Prozess von Interaktionen angleichen, sondern gesellschaftliche Gruppen, die sich durch religiöse und ethno-kulturelle Merkmale unterscheiden, in Koexistenz ihre kulturelle Eigenständigkeit beibehalten. Durch den Verdacht, dass Segregation zu parallelen Gesellschaftsstrukturen und Auseinandersetzungen um Teilhabe und Macht führt, geriet dieses Konzept in die Kritik. Eine neue Herangehensweise in Anlehnung an die Vorstellungen von der multikulturellen Gesellschaft schlägt Andreas Reckwitz (2001) mit dem „Modell kultureller Interferenzen“ vor, um den Veränderungen der „kulturellen Globalisierung“ und dem cultural turn Rechnung zu tragen. „Dieses Modell geht von der Möglichkeit der Parallelexistenz unterschiedlicher kultureller Codes in den lebensweltlichen Wissensvorräten der gleichen Akteure aus. Multikulturalismus bezeichnet dann keine Multiplizität kultureller Gemeinschaften, sondern die Konstellation einer hybriden Gleichzeitigkeit der Wirkung mehrerer Komplexe sozialer Praktiken und mehrerer sich dort ausdrückender background languages in den gleichen Kollektiven: eine kulturelle Heterogenität nicht zwischen Kollektiven, sondern innerhalb dieser.“ (Ebd.: 180/181; Herv.i.O.)

Das Konzept hat gegenüber den Modellen, die eine Entweder-oder-Situation hervorbringen, den Vorteil, dass „simultane Partizipation von Akteuren an verschiedenen die Lebensführung anleitenden, kognitiv-evaluierenden backgroundlanguages“ beschreibbar ist und damit eine Annäherung an die Lebenswirklichkeiten in pluralen postmodernen Gesellschaften möglich erscheint (ebd.: 189; Herv.i.O.). Für den bundesdeutschen Kontext ist festzustellen, dass die diskutierten Integrationskonzepte deshalb kritisiert werden, da sie eine Modifikation der bestehenden Sozialstrukturen und ihrer Institutionen durch Migration ausblenden und damit einseitige Anpassungsleistungen seitens der Migranten einfordern. Dies ist unter anderem der jahrzehntelangen Weigerung der Politik geschuldet, die bundesdeutsche Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft zu bezeichnen und einen entsprechenden Paradigmenwechsel auf den Weg zu bringen.6 Im Rahmen der viel und lange diskutierten „Defizithypothese“ wird stattdessen davon ausgegangen, dass die Migranten selbst dafür verantwortlich sind, sich der Kultur der Mehrheitsgesellschaft anzupassen und ihre als Defizite deklarierten Abweichun-

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Friedrich Heckmann (1981) stellt diesen Begriff bereits in den 1980er Jahren zur Diskussion und trägt damit den neuen sozialen Konstellationen einer sich durch Migration ändernden gesellschaftlichen Alltagspraxis Rechnung.

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gen von der Norm auszugleichen.7 Ihnen werden besondere „soziale, kulturelle und psychische Sondermerkmale“ zugeschrieben, durch die sie als Angehörige vermeintlich homogener ethnischer oder nationaler Gruppen definiert werden und die sie als negativ different, rückständig und traditionell orientiert, abwerten (Scherr 2002: 190). Migranten befinden sich demzufolge im unauflösbaren Dilemma des „Kulturkonflikts“, in dem sie sich zwischen der Herkunftskultur und der Kultur des Einwanderungslandes entscheiden zu müssen. Tarik Badawia (2002) entwickelt als Weg aus diesem Dilemma das alternative Konzept vom „dritten Stuhl“. Weitere ressourcenorientierte Ansätze stammen von Sabine Hess (2001) und Erol Yıldız (2007). Globale Märkte und soziale Netzwerke entstehen durch transnationale Migration und führen dazu, dass Migranten zwar „Betroffene der Umstrukturierungen“ gleichzeitig aber auch „Träger und Akteure der Globalisierung“ sind (Hess 2001: 198). Da „Menschen, die migrieren, [...] immer ihre eigenen biographischen Erfahrungen mit[bringen], die sie in Neuorientierungsprozessen als Ressource nutzen“, bringen sie Potenziale mit in bestehende gesellschaftliche Strukturen, die als Chance zu sehen sind, sich von traditionellen Wert- und Regelsystemen zu lösen und alternative Lebenswelten zu schaffen (Yıldız 2007: 40). Dies gilt sowohl für die Zuwanderer als auch für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Blanc-Szanton (1997: 81) sehen deshalb in transnationaler Migration einen Prozess, in dem Migranten „soziale Felder schaffen, die das Land der Herkunft und das Land der Niederlassung miteinander verbinden“. Zu türkeistämmigen Migranten8 entwickelt sich trotz aller kritischen Einwände gegen die Auftragsorientierung eine heterogene Forschungsliteratur, die auch die Veränderungen der Türkei durch Migration in den Blick nimmt. Zu nennen sind die ethnographischen Dorfstudien zur Türkei von Paul Stirling (1965), Werner Schiffauer (1987), Evelin Lubig (1988) und Carol Delaney (1991), die einen Einblick in die Lebens- und Arbeitswelt der Landbevölkerung vermitteln und die Ursachen der Wanderungsbewegungen beleuchten. Sie vermitteln einen Eindruck von den sozialen Bezugsrahmen, auf die sich die Migranten der ersten Generation vorrangig beziehen. Mit den sozialen Folgen der Migration aus der Türkei beschäftigt sich Werner Schiffauer (1991) in seiner ethnographischen Feldforschung über die internationalen Migranten aus dem von ihm

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Vgl. dazu für die Migrationsforschung der 1980er Jahre die kritische Analyse von Dorothea Bender-Szymanski und Hermann-Günter Hesse (1987).

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Schwerpunkt des Überblicks zum Forschungsstand ist Literatur, die sich entweder ausschließlich auf Türkeistämmige in Deutschland bezieht oder aber diese Gruppe im Vergleich mit anderen untersucht.

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in den 1980er Jahren untersuchten Dorf. Darüber hinaus entsteht eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die sich mit den historischen, ökonomischen und politischen Konsequenzen der Migration aus der Türkei nach Deutschland beschäftigen. Harun Gümrükçü (1986) analysiert die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der internationalen Migration aus der Türkei. Hans Georg Wehling und Volker Höhfeld (1982) untersuchen die transstaatlichen Prozesse, die in Folge des Anwerbeabkommens von 1961 in Gang gesetzt werden. Eine ökonomische Perspektive findet sich bei Suzanne Paine (1974), während sich Nermin Abadan-Unat (1983) mit der sozialen und ökonomischen Situation von migrierenden Frauen aus der Türkei beschäftigt. Hans-Günter Kleff (1985) verbindet ethnographische Feldforschung, historische und soziale Einbettung der Migration sowie eine kapitalismuskritische Analyse der Migration aus der Türkei und folgt dem Weg der Bauern aus den zentralanatolischen Dörfern, der sie über Istanbul nach Westdeutschland und Westberlin führt. Darüber hinaus entstehen empirische Studien, die sich mit der sozialen Situation der Migranten aus der Türkei beschäftigen. Eine narrationsanalytisch angelegte Untersuchung mit dem Titel „Wir haben uns vergessen – Ein intrakultureller Vergleich türkischer Lebensgeschichten“ wird 1986 von Ursula Mıhçıyazgan erarbeitet. Sie untersucht die Biographien von Migranten in Bezug auf Erfahrungen von Fremdheit und die Konstitutionsbedingungen von sozialen Netzwerken vor und nach der Migration. Ein Vergleich von Familienstrukturen findet sich bei Gabriele Mertens und Ünal Akpınar (1977) und im Bereich Frauen und Heiratsmigration untersucht Barbara Wolbert (1984) Orientierungen und Strategien zur „Migrationsbewältigung“. Das Thema Kinder und Erziehung in Migrantenfamilien aus der Türkei steht in den Untersuchungen von Sami Özkara (1988) und Ursula Neumann (1981) im Zentrum. Seit den 1990er Jahren nimmt die Anzahl der empirischen Studien insgesamt zu, die eine interpretative bzw. qualitative Ausrichtung haben. So gibt es biographische und sozialgeographische Studien, aber auch auf Leitfäden gestützte Untersuchungen zu Themen, die im Zusammenhang mit Migration, Integration und sozialer Ungleichheit stehen. Im Zentrum stehen insbesondere subjektive Perspektiven, Orientierungen und Handlungsstrategien der zweiten und dritten Generation in den Bereichen Bildung, Identität und Interkulturalität. Nur wenige Untersuchungen verzichten auf einen Vergleich mit anderen Herkunftskontexten und konzentrieren sich ausschließlich auf die türkeistämmigen Migranten. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass vergleichbare Lebensumstände bzw. die Herausarbeitung von Unterschieden zwischen den jeweiligen Herkunftskontexten besonders für die zweite und dritte Generation zu Ergebnissen führen, die sich verallgemeinern lassen. Damit werden zwar einerseits kulturalisierende Zu-

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schreibungen überwunden, andererseits erfolgt bei Vergleichen mit der Mehrheitsbevölkerung und anderen Migrantengruppen eine besondere Betonung der Defizite, durch die sich die Türkeistämmigen von den übrigen Gruppen unterscheiden.9 Ein Beispiel für eine umfangreiche Feldforschung zu türkeistämmigen Migranten der zweiten Generation stammt von Andreas Pott (2002), der die Bedeutung von Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozess untersucht. Gaby Straßburger (2003) hingegen untersucht in einer umfangreichen Fallstudie Partnerwahl und Heiratsverhalten der zweiten türkeistämmigen Migrantengeneration in Deutschland. Ebru Tepecik (2010) konzentriert sich auf erfolgreiche Bildungsbiographien von türkeistämmigen Abiturienten, während Margret Spohn (2002) sich mit Männern der ersten Generation beschäftigt. Ahmet Toprak (2005) konzentriert sich in seiner Untersuchung auf Männer der zweiten und dritten Generation und analysiert die Auswirkungen autoritärer Erziehung auf die männlichen Selbstbilder und das Partnerwahlverhalten. Explizit mit dem Thema Gewalt und Kriminalität von türkeistämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschäftigt sich die Untersuchung von Oğuzhan Yazıcı (2011). Im Zentrum stehen dabei sozial und ökonomisch marginalisierte männliche Jugendliche mit muslimisch-türkischem Hintergrund. Michael Tunç (2008) ordnet seine Untersuchungen zu Männlichkeit und Migration am Beispiel türkeistämmiger Väter konzeptionell in den intersektionellen Ansatz ein. Ihn interessieren Männlichkeitskonstruktionen von Vätern vor dem Hintergrund diskriminierender und präkarisierter Lebenskonstellationen. Einen noch wenig untersuchten Aspekt der Einwanderungsgeschichte aus der Türkei greift Gülcin Wilhelm (2011) in ihrem Buch „Generation Koffer“ auf, das sich mit den Folgen der durch die Migration getrennten Familien und den psychologischen Auswirkungen für Kinder beschäftigt, die ohne ihre Eltern aufwachsen. Neuere Untersuchungen der historischen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge und Spezifika der Migration aus der Türkei nach Deutschland finden sich bei Stefan Luft (2009), der sich mit dem Anwerbeabkommen und den ökonomischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit beschäftigt und eine umfangreiche Analyse der vorliegenden Dokumente vornimmt. Karin Hunn (2005) zeichnet demgegenüber die historischen Entwicklungen der Migration und ihrer Akteure nach und Andreas Treichler (1998) nähert sich dem Thema aus der Perspektive der Gewerkschaften an. Thomas Faist (2000) hingegen beschäftigt sich

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Beispiele dafür finden sich neben vielen anderen zum Beispiel bei Merle Hummrich (2009) zum Bildungserfolg junger Frauen mit Migrationserfahrung und Gunilla Fincke (2009) zur Integration der Migranten der zweiten Generation.

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in einem Sammelband mit dem zwischen der Türkei und Deutschland entstandenen „transnationalen Raum“ und die in ihm stattfindenden Interaktionen. Im europäischen Kontext gibt es darüber hinaus weitere Untersuchungen, die sich mit türkeistämmigen Migranten beschäftigen. Zunächst ist dabei auf UllaBritt Engelbrektsson hinzuweisen, die 1978 eine umfangreiche ethnologische Forschungsarbeit zu Migranten aus der Türkei in Schweden vorgelegt hat. Neben einer ethnographischen Studie in zwei Dörfern in der Türkei, aus denen Migranten in Schweden leben und arbeiten, erweitert sie den Bezugsrahmen durch Analysen der sozialen und ökonomischen Situation in Schweden, sowie der transnationalen Beziehungen zwischen Migrations- und Herkunftskontext (Engelbrektsson 1978). Eine weitere Veröffentlichung der Autorin untersucht die Lebensgeschichten türkeistämmiger Jugendlicher in Göteborg (Engelbrektsson 1995). Für die Situation türkischer Migranten in Belgien ist die umfangreiche Veröffentlichung der Forschergruppe um Ron Lesthaeghe (2000) zu nennen. Sie präsentieren eine vielschichtige Analyse des vorliegenden Datenmaterials zu türkischen und marokkanischen Migranten in Belgien und widmen sich unter anderem den Themen Bildung und Arbeit, dem Arbeitsmarktzugang migrantischer Jugendlicher und der Bedeutung von ethnischen Ökonomien und transnationalen Netzwerken für die Entwicklung der Migranten-Communities. Weitere aktuelle Untersuchungen befassen sich darüber hinaus mit der Familiensituation, Erwerbsarbeit und dem Medienverhalten von Migranten türkischer Herkunft in verschiedenen europäischen Staaten. So untersucht Saniye Dedeoğlu (2014) die Einbindung von türkeistämmigen Frauen in die ethnische Ökonomie in London vor dem Hintergrund bestehender sozialer Barrieren. Die familiäre Situation und sozialen Beziehungen von türkeistämmigen Heiratsmigrantinnen stehen im Mittelpunkt einer Langzeituntersuchung in Dänemark, die von Anika Liversage und Vibeke Jakobsen (2010) durchgeführt wurde. In den Niederlanden erarbeitete Christine Ogan (2001) eine Studie zur Mediennutzung türkeistämmiger Migranten in Amsterdam, in der verschiedene Altersgruppen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen zu ihrem Medienverhalten befragt wurden. Mit dem Arbeitsmarktzugang von Jugendlichen in Belgien beschäftigt sich darüber hinaus die quantitative Untersuchung von Ilse Laurijssen und Ignac Glorieux (2014). Sie stellen fest, dass Jugendliche marokkanischer und türkischer Herkunft trotz Abschlüssen häufiger in Positionen mit geringem sozioökonomischem Status arbeiten als Jugendliche ohne Migrationserfahrung. Dabei sind sie häufiger für die beruflichen Positionen überqualifiziert und die Unterschiede werden geringer, je früher die Migrantenjugendlichen nach ihrem Schulabschluss in das Erwerbsleben einsteigen.

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Gerade in den aktuelleren Untersuchungen und Studien in Deutschland finden sich darüber hinaus eine Vielzahl von Verweisen und Bezügen auf Zusammenhänge von Migration und Arbeit, allerdings in erster Linie aus einer quantitativen Perspektive. Auftraggeber sind Bundesministerien und öffentliche Institutionen, wie zum Beispiel das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Der Fokus liegt bei der Integration in den Arbeitsmarkt, der sich dabei auf Neuzuwanderer bezieht aber auch auf erwerbslose Migranten, Langzeitarbeitslose mit Migrationshintergrund sowie Jugendliche mit und ohne Schulabschluss. Dabei geht es vor allem um die Erwerbsbeteiligung, Einkommensverhältnisse, soziale Indikatoren sowie Barrieren, die bei der Arbeitsmarktintegration wirksam werden. Auch die Stiftung Zentrum für Türkeistudien erstellt in regelmäßigen Abständen eine Mehrthemenbefragung von Türkeistämmigen, die zwar auf NordrheinWestfalen begrenzt ist, aber dennoch langfristig bedeutende Daten zur Lebenssituation türkeistämmiger Migranten liefert (Sauer 2014). Darüber hinaus liegen Milieustudien vor, die sich speziell der Gruppe der Türkeistämmigen widmen, wie die vom Institut Sinus Sociovision (2009) und eine weitere aktuelle Untersuchung zu deutsch-türkischen Lebenswelten (Info Research Group 2012). Insgesamt ist festzustellen, dass der Anteil der Auftragsforschungen mit 16% im Vergleich zu anderen Themenfeldern hoch ist, so dass von einer Nähe von Forschungsprojekten zur „Politikberatung“ gesprochen werden kann (GESIS 2010: 41). Der vorgestellte Forschungsstand zu türkeistämmigen Migranten in Deutschland verdeutlicht, dass eine vertiefende und systematische Verbindung von Erwerbsarbeit und Migration bisher nur partiell und exemplarisch erfolgt ist. Im Fokus biographischer Untersuchungen stehen zudem Frauen, Jugendliche und ältere türkeistämmige Migranten. Dabei weisen die statistischen Daten vor allem darauf hin, dass es türkeistämmige Männer der zweiten und dritten Generation sind, die in besonderer Weise von ökonomischen und sozialen Transformationen betroffen sind. Ihre Arbeitssituation ist im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, geringere Einkommenschancen und Arbeitsplatzunsicherheit gekennzeichnet. Der Überblick über den Forschungsstand verdeutlicht die Forschungslücke gerade in diesem Feld, so dass für die vorliegende Untersuchung türkeistämmige Männer aus dem Herkunftskontext Türkei, die in Deutschland als Angehörige der zweiten und dritten Generation leben und arbeiten, in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Daraus ergibt sich für mein Forschungsvorhaben, dass untersucht werden soll, in welcher Weise die Konstruktionen von Identitäten in der Arbeitswelt erfolgen. Mich interessieren die subjektiven Erfahrungsdimensionen, wie sie in den biographischen Selbstrepräsentationen sichtbar werden. Dabei spielt die Analyse des Zu-

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sammenhangs von strukturellen Rahmenbedingungen und ihrer persönlichen Verarbeitung eine besondere Rolle. Ich gehe mit Bettina Dausien (1996: 75) davon aus, dass „Arbeit an der Lohnarbeit [...] immer zugleich Arbeit an sich selbst, und das heißt Identitätsarbeit [ist]“. Die forschungsleitenden Fragen sind davon ausgehend die folgenden: •

• •

In welcher Weise erfolgen Konstruktionen von Identität(en) in Arbeitsund Lebenswelt und welche Rolle spielt die Erwerbsarbeit für die sozialen Positionierungen in der Arbeitsgesellschaft? Welche sozialen Anerkennungsmodelle werden verhandelt und welche Bedeutung haben sie in der gelebten Alltagspraxis? In welcher Weise wird Zugehörigkeit konstituiert und wie erfolgen soziale Positionierungen?

Arbeit beeinflusst das Handeln der Subjekte in unterschiedlich strukturierten räumlichen und sozialen Kontexten. Gleichzeitig ist das Verständnis von Arbeit eingebettet in Erfahrungen der Alltagshandelnden, die durch die Biographie zum Vorschein kommen. Gabriele Rosenthal (1995: 12) sieht in der Biographie ein „soziales Gebilde, das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Muster sich ständig neu affirmiert und transformiert.“ Durch die Beschäftigung mit Lebensgeschichten ist es möglich, die Bedeutung von biographischen Deutungsmustern und Interpretationen der Alltagshandelnden sowie ihre Relevanzsysteme zu erkennen. Angesichts der „Krise der Identität“ im Zuge der Globalisierung werden die Verankerungen der Individuen in der sozialen Welt unterminiert und Zuordnungen zu räumlich und kulturell abgrenzbaren Entitäten kaum noch möglich (Hall 1992: 274). Identitätskonstruktionen können nach dem cultural turn deshalb nicht als permanent und stabil konzipiert betrachtet werden, sondern sind vielmehr abhängig von den jeweiligen räumlichen, kulturellen und sozialen Kontexten. So gehört es zur Realität der postmodernen Gesellschaften, dass Identitäten auch in widersprüchlicher und unvollständiger Weise konstituiert werden (ebd.: 277). Floya Anthias (2002; 2003) schlägt deshalb einen Verzicht auf die Verwendung des Begriffes Identität als „heuristisches Instrument“ vor, stattdessen verwendet sie den Begriff „positionality“ (Anthias 2002: 493), der als „soziale Positionierung“ zu verstehen ist. Die Individuen befinden sich in einem Prozess, in dem durch die Erzählungen über die Zugehörigkeit die „Platzierung in der sozialen Ordnung“ zum Ausdruck gebracht wird. Diese Perspektive bietet einen konzeptionellen Ausweg aus statischen Modellen zur Be-

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antwortung der „Frage nach der Identität“ (Anthias 2003: 27). „Erzählungen von der Zugehörigkeit beinhalten die Art und Weise, in der Individuen ihre Stellung in der Gesellschaftsordnung artikulieren.“ (ebd.: 25) In diesem Sinne werden die Begriffe Zugehörigkeit und Identität in dieser Arbeit verstanden und verwendet.

1.2 AUFBAU

DER

ARBEIT

Die Arbeit ist eine empirische Studie, deren Haupteil aus der rekonstruktiven Fallanalyse der für die Interpretation ausgewählten Interviews besteht. Diese sind eingebettet in Kontextualisierungen, die sich mit den Themenfeldern Arbeit und Arbeitsgesellschaft sowie dem Komplex Migration aus der Türkei beschäftigen. Bezogen auf Arbeit wird im ersten Teil des zweiten Kapitels zunächst die Erwerbsarbeit begrifflich bestimmt und Konzeptionen und Diskurse um die historische Verfasstheit der Arbeitsgesellschaft als Lohnarbeitsgesellschaft vorgestellt. Weiterhin wird kritisch beleuchtet, welche Vorstellungen von Erwerbsarbeit in der bundesdeutschen Arbeitsgesellschaft hervorgebracht werden, in der Erwerbsarbeit als alleinige Ressource für soziale Anerkennung betrachtet zu werden scheint. Davon ausgehend wird diskutiert, in welcher Weise Männer und Frauen sich über Erwerbsarbeit sozial positionieren und welche Konfliktfelder sich aufgrund der differenzierten Anerkennungspolitiken in Genderdiskursen ergeben. Zudem werden Männlichkeitskonstruktionen rund um das Thema Erwerbsarbeit vorgestellt und diskutiert. Als Abschluss der Kontextualisierungen zum Thema Arbeit werden Untersuchungen vorgestellt, die sich aus empirischer Perspektive mit Arbeitsorientierungen beschäftigen. Dies sind einerseits Ergebnisse von Studien zur Arbeitseinstellung, Analysen von empirischen Daten zu Werthaltungen gegenüber der Arbeit und eine biographisch angelegte Untersuchung zu berufsbiographischen Orientierungen. Der zweite Teil des Kapitels zur Kontextualisierung beschäftigt sich mit dem Themenfeld Migration, in dem ein historischer Abriss der Anwerbung von Migranten aus der Türkei seit den 1950er Jahren bis in die Gegenwart gegeben wird. Im Zentrum steht einerseits die Situation im ländlichen Raum, die Binnenwanderung innerhalb der Türkei und die sich daran anschließende internationale Migration nach Westdeutschland und Westberlin. Die Lebens- und Arbeitswelt der ersten Generation ist dabei ein zentrales Thema, wie auch die politischen Maßnahmen zur Steuerung und Begrenzung der Einwanderung. Eine politische, ökonomische und soziale Zäsur der Einwanderungsgeschichte besteht in dem erlassenen Anwerbestopp, der nicht plötzlich aber stetig dazu führt, dass

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sich auf beiden Seiten Veränderungen in Haltungen und Strategien ergeben, die die weiteren Migrations- und Einwanderungspraxen maßgeblich mitgestalten. Daran schließt sich eine Analyse des Zeitraums an, in dem nach dem Anwerbestopp die zweite Generation in Deutschland heranwächst und sich multiplen sozialen und ökonomischen Problemen gegenübersieht. Dieser Zeitraum bildet die Ausgangslage für eine Beschäftigung mit den Ergebnissen erster Untersuchungen zur sozialen Situation der zweiten Generation. Im Schlussteil der Kontextualisierungen erfolgt ein Überblick über Daten, wie sie für die Gruppe der Migranten aus der Türkei vorliegen. Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über interpretative Methoden der Sozialforschung, die die methodologische Ausgangsbasis der vorliegenden Untersuchung bilden sowie die spezielle Methodologie der Biographieforschung. So wird die Vorgehensweise bei der Führung biographisch-narrativer Interviews erläutert und die Auswertungsschritte der rekonstruktiven Fallanalyse vorgestellt. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Darstellung des Forschungsprozesses mit seinen Besonderheiten und einer Übersicht über die für die Untersuchung ausgewählten Interviews. Im Kapitel vier folgen dann die umfassenden rekonstruktiven Fallanalysen der vier ausgewählten Interviews. Dabei wird zunächst der Interviewkontext bewertet und auch die familiäre Konstellation einer detaillierten Analyse unterzogen. Die Biographie wird entlang der chronologischen Anordnung der Ereignisdaten rekonstruiert und unter Berücksichtigung der thematischen Felder bezogen auf die Fragestellungen der Untersuchung zusammengefasst. Das fünfte Kapitel besteht in der ausführlichen Darstellung der auf der Grundlage der Fallrekonstruktionen entwickelten Typologien, in die weitere Interviews auf der Basis der vorliegenden Globalanalysen einbezogen werden. Dabei stehen zunächst die arbeitsethischen Orientierungen und die intergenerativen Positionierungen im Mittelpunkt. Darüber hinaus werden Tendenzen im Hinblick auf Zugehörigkeitskonstruktionen herausgearbeitet und translokale Positionierungen vorgestellt und diskutiert. In einem weiteren Analyseschritt werden individuelle Perspektiven auf Identitätsdiskurse sowie Erfahrungen und Strategien im Umgang mit Diskriminierung erörtert. Abschließend werden Selbstbilder und das Rollenverständnis als Mann und Vater sowie Haltungen und Einstellungen zum Thema Partnerschaft vorgestellt. Den Abschluss der Arbeit bildet die Zusammenfassung der Ergebnisse und ein darauf aufbauender Ausblick. Da es sich um die Untersuchung der Lebenssituation von Türkeistämmigen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren handelt, beschränken sich meine Ausführungen zur Einwanderungspolitik auf die Situation in Westdeutschland und Westberlin, sowie ab 1991 auf die bundesdeutsche

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Migrationspolitik. Im Text verwende ich in der Regel die männlichen Bezeichnungen der Begriffe, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind, um die Lesbarkeit flüssig zu halten. Dies bedeutet, dass in diesen Fällen auch die weibliche Bezeichnung gemeint ist, selbst wenn dies nicht aus dem Wort direkt zu entnehmen ist, wohl aber dem Kontext. Begriffe wie Migrant, Migrationshintergrund, Migrationserfahrung, Arbeitsmigranten und Migrantenfamilien werden im Text in ihren verschiedenen Variationen verwendet, ohne die Hintergründe der Bedeutungen und die Begriffsgeschichten ausführlich zu diskutieren. Eine Beschränkung auf einen einheitlichen Begriff wird aufgrund der ihnen allen innewohnenden konzeptionellen Probleme und dem daraus entstehenden Diskussionsbedarf nicht vorgenommen. Am ehesten geeignet erscheint mir die Verwendung des Begriffs „türkeistämmig“ als Zusatz bzw. das Substantiv „Türkeistämmige“, da er sich von der in der türkischen Sprache und Alltagskultur üblichen Bezeichnung für Herkunftsorte ableiten lässt. Die Endung –li, die im Türkischen an Ortsnamen angehängt werden kann, fungiert als flexible Zuordnung zu einem geographischen Kontext. Durch diese Endung ist eine Zuordnung als „Türkiyeli“ zur Türkei insgesamt, als „türkeistämmig“, aber auch zu kleineren geographischen Einheiten, zum Beispiel „İzmirli“, als Provinz oder Stadt, bis hin zum Dorf, möglich. Dies entspricht der deutschen Bezeichnung „stammend aus…“ oder aber der Endung –er/in, die an Ortsbezeichnungen angehängt wird, wie zum Beispiel bei „Dortmunder bzw. Dortmunderin“. Dies ermöglicht eine Auswahl aus einem großen Spektrum von möglichen Selbstverortungen als überaus kreative lokalisierte Selbstbeschreibungen. Darüber hinaus lässt die Verwendung der Bezeichnung türkeistämmig die ethnische Differenzierung möglichst offen, so dass sich die einzelnen ethnischen Gruppen mit ihren Identitäten als Kurden, Aleviten oder Lazen als aus der territorial abgrenzbaren Türkei stammend präsentieren können, ohne sich auf die ethnische Zuordnung als Türke oder Türkin festlegen zu müssen. Damit wird der aktuelle Lebensmittelpunkt vom gemeinsamen nationalstaatlichen Herkunftskontext abgetrennt und eröffnet ein breites Spektrum ethnischer wie regionaler Selbstverortungen (Abadan-Unat 2005: 95).

2. Kontextualisierungen

2.1 E RWERBSARBEIT

UND

ARBEITSGESELLSCHAFT

2.1.1 Arbeit, Erwerbsarbeit, Lohnarbeit: Begriffe und Konzepte Allgemeine Begriffsbestimmungen von Arbeit aus soziologischer Perspektive definieren Arbeit als „zielbewusste und brauchvermittelte Tätigkeit des Menschen zur Lösung und Linderung seiner Überlebensprobleme [...] Die Arbeit gestaltet die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen unter- und widereinander, verwandelt die ‚natürliche‘ Umwelt in eine je und je kulturelle und prägt in ihren widersprüchlichen Zügen auch ihre Techniken“ (Hillmann und Hartfiel 2007). Menschen arbeiten, um sich selbst mit den zum Lebenserhalt notwendigen Gütern zu versorgen. Die natürliche Umwelt stellt das Material dazu zur Verfügung, und wird von den Menschen mittels spezifischer Techniken bearbeitet. Diese zunächst einmal an Subsistenzproduktion und Selbstversorgung angelehnte Definition ist aber um die Produktion von Wissen und die Marktförmigkeit der Tätigkeiten zu erweitern. Arbeit umfasst damit auch „die bewusste, gezielte körperliche und/oder geistige Tätigkeit, die ein materielles oder immaterielles Produkt hervorbringt und das mittelbar (evtl. über Entlohnung) zur Sicherung der materiellen und geistigen Existenz dient“ (Lamnek 2000: 18). Hervorgehoben wird in beiden Definitionen darüber hinaus die „soziale Dimension der Arbeit“, so dass „Prozesse der Arbeit [...] immer auch soziale Prozesse [sind]“ (ebd.: 19). Davon ausgehend beschäftigt sich die Arbeitssoziologie mit der Einbettung von Arbeit in soziale Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen, die durch historische und kulturelle Kontexte strukturiert werden (Mikl-Horke 2000: 6). „Es geht um Arbeit als ‚soziale Praxis‘ in einem sich wandelnden gesellschaftlich-institutionellen Umfeld und um die symbolische Dimension der Arbeit, ihre Bedeutung im Leben von Menschen, von sozialen Gruppen, von Klassen, der beiden Geschlechter und der ganzen Gesellschaft.“ (Pfister 1996: 10)

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Ökonomische Theorien setzen Arbeit mit Erwerbsarbeit gleich, die sich auf wertschöpfende Tätigkeiten bezieht und durch den Austausch der Ware Erwerbsarbeit gegen Geld in Form von Entlohnung gekennzeichnet ist. Für Rolf Heinze und Claus Offe (1990: 9) steht in ihrer Definition die Zielrichtung der Arbeit im Vordergrund. Sie sprechen „nur dann [...] von Arbeit, [...] wenn eine Tätigkeit durch ein vorbedachtes und nicht nur von den Arbeitenden selbst, sondern auch von anderen als nützlich bewertetes Ziel geleitet wird und wenn sich die auf dieses Ziel gerichteten Anstrengungen in einer gewissen Übereinstimmung mit dem gesellschaftlich erreichten Stand der technischen Produktivität befinden.“ Andere für das physische Überleben erforderliche Tätigkeiten, wie die Subsistenzproduktion und die Versorgung eines Haushalts mit Kindern, wie auch die Reproduktionstätigkeiten für den Erhalt der Arbeitskraft werden demgegenüber nicht als ökonomisch relevant betrachtet (Frambach 1999: 334). Die Fokussierung auf das Arbeitsergebnis und auf die Gesellschaft mit ihren Institutionen ist vor allem hinsichtlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung als problematisch zu betrachten. „Die traditionelle, geschlechtsspezifische Aufteilung der Arbeit setzt voraus, dass die bezahlte Arbeit der Männer sich auf eine Schattenökonomie unbezahlter Frauenarbeit stützt“. (Franks 2000: 68) Bettina Dausien (1996: 73) leitet daraus einen „Doppelcharakter der Arbeit“ für Frauen ab, wenn sie bezahlte Erwerbs- und nicht entlohnte Reproduktionsarbeit leisten. Der Blick in die zentraleuropäische Begriffsgeschichte verdeutlicht die enge Verbindung des Arbeitsverständnisses mit den jeweiligen Produktions- und Lebensverhältnissen und den damit einhergehenden ideengeschichtlichen Kontextualisierungen. So „existieren mehrere Auffassungen über Arbeit, von denen die ein oder andere dominierend ist (im Augenblick ist das ökonomische Arbeitsverständnis das vorherrschende). Die Dominanz einer bestimmten Arbeitsauffassung sagt aber nichts darüber aus, ob andere Auffassungen unwichtiger sein müssen“ (Frambach 1999: 446). Die Herauslösung des Arbeitsbegriffs aus der religiösen und „moralisch-pädagogischen Akzentuierung“ erfolgt in der Epoche der Aufklärung (Gutschner 2002: 146). Damit setzt sich die Haltung durch, dass Eigentum und daraus entstehender Reichtum die Ergebnisse eigener Anstrengungen und Leistungen sind (Elbe 2011). Dies bedeutet dann, dass „Armut wiederum [...] als bewusste Nicht-Arbeit definiert und als selbstverschuldetes Laster“ verstanden wird (Gutschner 2002: 146). Der Arbeitsbegriff, der sich auf Tätigkeiten bezieht, die auf der Grundlage von Marktbeziehungen als außerhäusliche Erwerbsarbeit ausgeführt werden, entsteht im 19. Jahrhundert durch die Ausweitung der industriellen Produktionstätigkeiten und die damit einsetzende räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsort. Daraus entsteht in Zentraleuropa eine industrialisierte Gesellschaft mit weitreichenden sozialen Folgeerschei-

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nungen (Mikl-Horke 2000: 7/8). In dieser Zeit entwickelt Karl Marx einen Arbeitsbegriff, der Arbeit als „des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung und Leidenschaft“ auffasst. „Daran, dass ich etwas zur Tat und zum Dasein bringe, ist mir viel daran gelegen, ich muss dabei sein, ich will durch die Vollführung befriedigt werden. Ein Zweck, für welchen ich tätig sein soll, muss auf irgendeine Weise auch mein Zweck sein. Dies ist das unendliche Recht des Subjekts, dass es sich selbst in seiner Tätigkeit und Arbeit befriedigt findet.“ (Marx 1969: 162)

Karl Marx unterscheidet drei Formen von Arbeit. Die „unfreie Arbeit“ ist die Sklaven-, Fron- und Lohnarbeit, während die „freie Arbeit“ Selbstverwirklichung und Gestaltung der individuellen Verhältnisse ermöglicht. Ungleiche Besitzverhältnisse schaffen ein Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis und bringen die „entfremdete Arbeit“ hervor, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die geschaffenen Werte den Besitzern der Arbeitskraft nicht gehören, obwohl sie von ihnen hergestellt werden (Marx 1974: 505). Andere Formen der Arbeit wie die Subsistenz und häusliche Reproduktion werden als traditionell und überholt klassifiziert und ihr baldiges Aufgehen in formelle, abhängige und entfremdete Arbeit prognostiziert. Max Weber (1995) hingegen versteht Arbeit als „sinnhaftes Verhalten“ und geht damit über die alleinige Fokussierung auf die ökonomische Verwertbarkeit der Arbeit hinaus. Die Entstehung des „Geist des Kapitalismus“ sieht Max Weber in der Überwindung des Traditionalismus, der dadurch gekennzeichnet war, dass „ihm Gelderwerb zur Ermöglichung [...] eines bestimmten Lebensstils und genusses [diente], letztlich zur Erlangung einer Vermögensstufe, die ein Leben ohne Arbeit oder zumindest deren Reduzierung erlaubte; keinesfalls aber war ihm Gelderwerb sittliche Berufspflicht“ (Weber 1995: 353). Arbeit ist bei Max Weber in besonderer Weise mit den Begriffen des „Berufs“ und der „Berufung“ verknüpft, wie sie bereits Martin Luther geprägt hat. Aus der asketischen Lebenshaltung des Protestantismus und des Puritanismus entwickelt sich in der Konzeption Webers das Arbeitsverständnis der modernen zentraleuropäischen Industriegesellschaft. Die Beruflichkeit von Arbeit und die daraus abgeleitete Anerkennung finden ihren Ausdruck in der „Ausübung von gemäß anerkannter Verfahren institutionell bestätigter Kompetenzen“. Damit wird der Mensch zur „Erwerbsmaschine“ und strebt durch „rastlose Berufsarbeit“ nach Heilsgewissheit und Erlösung (ebd.: 351). André Gorz (2000: 11) geht in seiner kritischen Perspektive auf Arbeit von gesellschaftlich anerkannten und unhinterfragten Selbstverständlichkeiten aus,

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durch die festgelegt wird „was man für gewöhnlich Arbeit nennt“. Arbeit wird als „soziale Aktivität definiert, [...] die sich in den Strom des gesamtgesellschaftlichen Warenaustausches einfügt.“ „Ihre Entlohnung ist Ausdruck dieser Einfügung, aber dennoch nicht das Wesentliche. Dieses besteht in der gesellschaftlich anerkannten und normierten Funktion, die ‚Arbeit‘ in der Produktion und der Reproduktion der Gesamtgesellschaft innehat. Um aber eine gesellschaftlich anerkannte Funktion zu erfüllen, muss sie selbst als Ausübung gesellschaftlich festgelegter Kompetenzen, die mit gesellschaftlich bestimmten Verfahren übereinstimmen, anerkannt sein. Mit anderen Worten, sie muss ein ‚Beruf‘ sein, will heißen die Ausübung von gemäß anerkannter Verfahren institutionell bestätigter Kompetenzen. (Ebd.: 11; Herv.i.O.)

Gegen diese Ansätze, die ausschließlich außerhäuslich erfolgende und auf den Markt gerichtete Tätigkeiten als Arbeit bezeichnen und anerkennen, richtet sich der Ansatz der Bielefelder Entwicklungssoziologie, die „alle gebrauchswertorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten für den Selbstgebrauch und Eigenkonsum außerhalb marktwirtschaftlicher Beziehungen“ unter dem Begriff Arbeit zusammenfassen und somit den Arbeitsbegriff erheblich weiter fassen (Evers 1987: 354). Arbeit wird zur „Suche nach Sicherheit“ durch die Gruppe der Ungesicherten, die dadurch gekennzeichnet ist, dass „sie [...] keine gesicherte Reproduktion ihrer Überlebensbedingungen“ haben. Sie kombinieren unterschiedliche ökonomische Tätigkeiten im Interesse einer Existenzsicherung miteinander. Damit sind sie Mischproduzenten, die Tätigkeiten in verschiedenen Sektoren und Arbeitsfeldern, wie der abhängigen Lohnarbeit, der Hausarbeit, der kleinbäuerlichen Produktion und im Handwerk miteinander verbinden (Evers/Wilkens 1983: 284). 2.1.2 Entstehung, Krise und Umbau der Arbeitsgesellschaft Im Zuge der Industrialisierungsschübe und der damit einhergehenden globalen Arbeitsteilung bildet sich in Zentraleuropa eine Lohnarbeitsgesellschaft heraus, innerhalb derer die räumliche Trennung von Haushalts- und Erwerbssphäre zentral wird. „Arbeit ist schon immer Teil unseres Lebens gewesen. Im Gegensatz dazu ist das soziale Konstrukt des ‚Jobs‘ oder ‚Arbeitsplatzes‘ eine vergleichsweise moderne Erfindung.“ (Franks 2000: 63) Die Differenzierung zwischen entlohnter Erwerbstätigkeit und unbezahlter häuslicher Reproduktionstätigkeit hat weitreichende Folgen für die soziale Anerkennung der Arbeit der Geschlechter. „Die Nationalökonomie schließlich stellte Arbeit ins Zentrum ihres Systems. Arbeit wurde zum Produktionsfaktor, war Mittel sowohl der Existenzsicherung

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als auch der Anhäufung von Kapital.“ (Gutschner 2002: 146) Robert Castel (2000: 286f.) benennt fünf Voraussetzungen, die der Entstehung der Lohnarbeitsgesellschaft zugrunde liegen. Zunächst einmal erfolgt eine „klare Trennung zwischen denen, die tatsächlich und regelmäßig arbeiten und den Nichterwerbstätigkeiten oder teilweise Erwerbstätigen“. Die zweite Voraussetzung besteht in der „Bindung des Arbeiters an seinen Arbeitsplatz und die Rationalisierung des Arbeitsprozesses.“ Durch den gezahlten Lohn wird „der Arbeiter selbst zum Nutznießer und Konsumenten der Massenproduktion“ und zudem darüber hinaus zum Arbeitnehmer, der als „Gesellschaftsmitglied“ einen Anspruch auf Teilhabe an den „nicht-marktmäßigen Gemeingütern“ hat. Damit wird dem Arbeitnehmer ein „sozialer Status jenseits der rein individuellen Dimension des Arbeitsvertrags“ zugestanden. Die Lohnarbeit als das zentrale Erwerbsmodell erlangt im beginnenden 20. Jahrhundert einen überaus hohen gesellschaftlichen Stellenwert und wird in den 1960er Jahren zur „Basismatrix der modernen Lohnarbeitsgesellschaft“ (Castel 2000: 11). Besonders in den Nachkriegsjahrzehnten entwickelt sich in der Lohnarbeitsgesellschaft ein Anspruch auf „soziales Eigentum“ in Form von wohlfahrtsstaatlicher Versorgung derjenigen, „die bisher nicht über Eigentum abgesichert waren“ (Castel 2005: 41). Damit entsteht eine „Gesellschaft der Ähnlichen“, in der soziale Ungleichheit fortbesteht, sich aber die ökonomische Situation der sozialen Gruppen insgesamt wesentlich verbessert (Dörre 2006: 182). Technisierung und Automatisierungsprozesse führen dazu, dass die „in den Fabriken verwendete Arbeitskraft notwendig fremdbestimmt [war] und sank zu einem Attribut des ‚Kapitals‘, d.h. der vom Unternehmer zur Verfügung gestellten Produktionsmittel herab“ (Fürstenberg 1975: 14). Dabei geht es auch um die Kontrolle des Raumes durch seine „rationale Gliederung“ in der „Fabrikhalle“ (Werlen 1997: 203). Dies geht einher mit der Disziplinierung der Menschen über die Messung der Zeit. „Die kapitalistische Wirtschaftsordnung wird demgemäß erst auf der Basis einer exakten Kontrolle über die Zeit möglich.“ (Ebd.: 204) Dadurch wird der Mensch „in eine einfache, eintönige Produktivkraft verwandelt, die weder körperliche noch geistige Spannkräfte ins Spiel zu setzen hat. Seine Arbeit wird allen zugängliche Arbeit. Es drängen daher Konkurrenten von allen Seiten auf ihn ein“ (Marx/Engels 1985: 93). Die Lohnarbeit wird im Kontext der geschlechtlichen Arbeitsteilung als männliche Erwerbsarbeit definiert. „Den männlichen Charakter der Fabrikarbeit herauszustreichen, dient sowohl dazu, ausbeuterische Klassenverhältnisse zu überleben, als auch die Überlegenheit gegenüber Frauen zu behaupten.“ (Connell 1999: 75) Dadurch entsteht auf der einen Seite der Eindruck, dass die männliche Lohnarbeit eine besondere Körperlichkeit impliziert, während gleichzeitig die individuelle Muskelkraft

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durch den Maschineneinsatz und Automatisierungsprozesse schrittweise an Bedeutung verliert und in einer Monotonisierung der Arbeitsabläufe aufgeht. Die Arbeiterbewegung eignet sich seit ihrer Entstehung die positiv konnotierte Perspektive auf die Lohnarbeit an und idealisiert den „arbeitenden Menschen, der ausschließlich über seine Lohnarbeit definiert wird“ (Gutschner 2002: 147). Demgegenüber wird die „(re)produktive Tätigkeit von Frauen [...] einer weniger angesehenen, privaten Sphäre zugeteilt“ (Hof 1995: 14). Dabei folgt aus der geschlechtlichen Arbeitsteilung, dass die bezahlte Arbeit der Männer sich auf eine „Schattenökonomie unbezahlter Frauenarbeit stützt“ (Franks 2000: 68). Wenn Frauen ebenfalls als Arbeitskräfte in die Arbeitswelt eintreten, dann werden sie zu „Grenzgängerinnen zwischen Produktions- und Reproduktionsbereich“ (Deutschmann 2002: 198). Vollbeschäftigung, wachsender Massenkonsum und die soziale Absicherung breiter Bevölkerungsschichten haben in Europa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs dazu geführt, dass die Erwerbsarbeit eine zentrale Rolle in der sozialen Interaktion zugewiesen bekommen hat. Davon ausgehend wurde der Begriff der „Arbeitsgesellschaft“ entwickelt als einer Gesellschaft, „die Arbeit in eigene Rollen fasst und diesen Rollen eine prägende Bedeutung im Leben der Menschen wie in den Institutionen der Gesellschaft zumisst“ (Dahrendorf 1983: 32). Dabei ist zentral, dass „die Bedeutung von Arbeit sich für die Berufstätigen keineswegs auf Zeitstrukturierung und Sicherstellung des Lebensunterhalts [reduziert].“ Vielmehr geht es um „Aufbau und dauerhafte Stabilisierung von Identitätsstrukturen“ über die Erwerbsarbeit, „da die Ausformung individueller Realisierungskonzepte ohne die Teilnahme an Arbeitsprozessen nur beschränkt möglich ist.“ Zudem werden im Interaktionsprozess mit Kollegen „soziale Kontakte und Handlungsmöglichkeiten“ stabilisiert. Allerdings werden die „kommunikativen Akte weitgehend funktionalisiert oder auf Phasen der kurzfristigen Arbeitserholung abgedrängt“ (Heinemeier et al. 1981: 181). Das Normalarbeitsverhältnis, verbunden mit lebenslanger Bindung an den erlernten Beruf, in Zusammenhang mit einer großen Loyalität gegenüber dem Betrieb, wird zum dominanten Strukturprinzip der Arbeitsgesellschaft. Damit wird Arbeit „untrennbar mit dem Gang zu einem Arbeitsplatz verbunden“ und als „tägliche, männliche Ausübung von Ausbildung bis Rente“ definiert (Franks 2000: 64). Der Lebenslauf der Individuen erfährt seine Institutionalisierung über die beruflichen Stationen der Biographie. Ein Lebenslauf, der sich als lineare und stringente Normalbiographie liest, wird zum „Sicherheitskonstrukt“ einer „Gesellschaft, die nicht mehr wie die vormoderne durch weitgehende Unvorhersehbarkeit von Lebensereignissen und elementare Existenzbedrohung gekennzeichnet ist“ (Wohlrab-Sahr 1993: 37).

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Durch die technologischen Veränderungen in den Bereichen der Informationsund Datenverarbeitung und die Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung verändern sich Quantität und Qualität der Erwerbsarbeit. Die globalen Produktionsverhältnisse sind dabei weiterhin durch strukturelle Ungleichheit gekennzeichnet, aber „in einer globalisierten Welt werden nicht nur die bislang relativ eindeutigen lokalen Grenzen durchlässiger, auch die Regionen verlieren ihre feste Rahmung“ (Mutz 2001: 116). Während es „bislang [...] als sicher [galt], dass Arbeit raum- und damit in einem starken Maße kulturgebunden ist“, verändert die globale Arbeitsteilung die Arbeitszusammenhänge, gerade auch durch die Verschiebung der Wirtschaftsstruktur zugunsten des Dienstleistungssektors, in dem vor allem wissensintensive, hochqualifizierte Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen, die ihren Bezug zum konkreten Arbeitsort verlieren. Gleichzeitig nimmt der Anteil der geringqualifizierten Tätigkeiten in der industriellen Produktion in Mitteleuropa ab. Durch die Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen in Länder mit geringeren Lohnkosten verringert sich die Anzahl der Arbeitsplätze in dramatischer Weise (Vogel 2008; Meyer 2002). Die Zahl der formalisierten Vollzeitarbeitsverhältnisse mit enger langfristiger betrieblicher Bindung geht erheblich zurück. Im Zuge dieser Veränderungen findet in der Öffentlichkeit eine kontroverse Debatte über die Bedeutung der „Erwerbsgesellschaft“, den „Wert der Arbeit“ und die „Zukunft der Arbeit“ statt. Bereits Hannah Arendt (1981: 116) wirft die sich daraus ergebende zugespitzte Frage auf, was mit der „Arbeitsgesellschaft“ geschieht, der die Arbeit ausgeht, „also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht.“ Rolf Dahrendorf (1983: 30) stellt zudem fest, dass „der Kampf zwischen denen, die arbeiten müssen und denen, die nicht arbeiten müssen, [...] zum totalen Erfolg geführt [hat]: die, die früher nicht arbeiten mussten, sind nun zu denen geworden, die noch arbeiten dürfen, während die, die früher arbeiten mussten, nicht mehr arbeiten können. Der Klassenkampf um Arbeit hat zur vollständigen Verkehrung der Fronten geführt.“ Für André Gorz (2000: 10) folgt daraus das „Ende der Arbeit“, insofern es sich um die spezifische, für den „Industriekapitalismus typische Arbeit“ handelt, „also um Arbeit, die gemeint ist, wenn man sagt, dass eine Frau, die ihre eigenen Kinder erzieht, ‚keine Arbeit habe‘, dass sie aber einer ‚Arbeit nachgehe‘, wenn sie und sei es auch nur für einige Stunden – andere Kinder erzieht, z.B. in einer Kinderkrippe oder in einem Kindergarten.“ Die neue „Risikogesellschaft“ entwickelt sich dabei aufgrund der „immanenten Widersprüche zwischen Moderne und Gegenmoderne im Grundriss der Industriegesellschaft“ (Beck 1986: 18). So wird beklagt, dass die Märkte „nicht mehr nach dem klassischen Muster einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft“ funktionieren (Statistisches Bundesamt 2001). Seit den 1990er Jahren ist der An-

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teil der Personen, die von Erwerbsarbeit als ausschließlicher Einkommensquelle leben auf „nur noch gut 40% der in Deutschland lebenden Personen“ zurückgegangen. Gründe dafür sind neben einem steigenden Anteil an Einkommen durch Renten und längerer Bildungszeiten vor allem die anhaltende Arbeitslosigkeit. Dadurch kommt es zum Fehlen von Erträgen durch Arbeit, aber auch „weil die moderne Ökonomie den Wert der Arbeit vor allem im unteren und mittleren Segment nachhaltig verarmen lässt“, sinkt absolut der Anteil der Erwerbseinkommen an den gesamten Einkommensarten (Neckel 2008: 55). Bereits seit Ende der 1970er Jahre kann davon ausgegangen werde, dass Arbeitslosigkeit strukturell und nicht ausschließlich konjunkturell bedingt ist (Oevermann 1999: 1). „Das Leistungsprinzip, das der modernen Gesellschaft als zentrales normatives Kriterium der Verteilung knapper Güter dienen soll, wird jedoch in dem Moment ad absurdum geführt, in dem sich Arbeit selbst zu einem knappen Gut verwandelt.“ (Neckel 2008: 55)

In der Folge bildet sich ein „negativer Individualismus“ heraus, der als „kompetitiv ausgerichtete Version“ einen „Wettbewerbsindividualismus“ hervorbringt, und sich in denjenigen manifestiert, die Sieghard Neckel (ebd.: 15) als „Arbeitsnomaden auf der Suche nach Lebenschancen“ bezeichnet. „Flexibler Arbeitsmarkt“ bedeutet dabei in erster Linie, „dass Individuen jetzt imstande sein müssen, die Unsicherheit zu absorbieren, die bislang von Institutionen gemildert wurde“ (Franks 2000: 65). Die neue Definition von Erfolg beinhaltet deshalb zum einen, dass Kontinuitäten bewahrt werden. Andererseits ist es vor dem Hintergrund der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt als Erfolg zu bezeichnen, „geeignete Formen des Umgangs mit Unsicherheiten und Strukturbrüchen zu finden, also Diskontinuitäten zu handhaben“ (Wohlrab-Sahr 1995: 236; Herv.i.O.). Die Diskurse um Arbeit und ihre Zukunft haben einen erheblichen Einfluss auf die Debatten um den Wohlfahrtsstaat, die Familie und die Leitwerte der Gesellschaft (Hausen 2000: 343). So steht das Normalarbeitsverhältnis in Vollzeit mit lebenslanger Berufsbindung zur Disposition, was dazu führt, dass sowohl die ökonomische Absicherung als auch die sozialen Anerkennungsmodelle neu zu ordnen sind. Gleichzeitig ist die „Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu beobachten, die vor allem eins zum Ausdruck bringt: das eindimensionale Prestige des ökonomischen Erfolgs und die relative Entwertung, z.T. Missachtung anderer Anerkennungsarenen“ (Holtgreve/Voswinkel/Wagner 2000: 15f.). Allerdings existieren Vorstellungen von „sozialen Standards“, die eine Messbarkeit des wirtschaftlichen Erfolgs der Individuen möglich machen. Die Möglichkeiten, Karriere zu machen im Sinne des Beschreitens eines klassischen Karrierewegs,

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haben sich seit den 1980er Jahren „deutlich kompliziert“ (Wohlrab-Sahr 1995: 235). „Je weniger Karrieren im Durchlaufen vorhersehbarer Etappen bestehen, sondern oft bereits zu Beginn komplizierte Hürdenläufe sind, umso mehr gewinnen institutionelle Maßnahmen und psychosoziale Mechanismen an Relevanz, die auf die ‚Reparatur von Strukturbrüchen‘ zielen.“ (Wohlrab-Sahr 1995: 235)

2.1.3 Arbeit – Gender – Männlichkeit Die internationale Arbeitsteilung bringt neue flexible Produktions- und Arbeitsverhältnisse hervor und führt zu grundlegenden Neuordnungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit drehen sich vor allem um die Sicherung und Umverteilung der Erwerbsarbeit. Dabei wird der Arbeitsmarkt seitens der Ökonomie als Regulator von Arbeitsteilung und Existenzsicherung geschlechtsneutral verstanden, auch wenn in der Praxis eine Benachteiligung von Frauen nachweisbar ist (Beer 1991: 15). Da Arbeit nur dann als Arbeit gilt, wenn „Geld den Besitzer wechselt“ wie Franks (2000: 67) kritisch feststellt, folgt aus der geschlechtlichen Arbeitsteilung bis in die Gegenwart, dass „strukturelle Geschlechterungleichheit aufgrund der sozialen Organisation von ‚Mutterschaft‘“ vorliegt und die schlechteren Einkommens- und Karrieremöglichkeiten für Frauen dadurch legitimiert und reproduziert werden (WillmsHerget 1985: 17). Die Anerkennungsmodelle über die Erwerbsarbeit sind mit den ungleichen Geschlechterverhältnissen eng verwoben. „Das Geschlechterverhältnis strukturiert für Männer und Frauen die Anerkennungschancen ihrer Arbeit in oftmals widersprüchlicher Weise, und umgekehrt vermittelt die Anerkennung in der Arbeit auch Anerkennung ‚als Mann‘ und ‚als Frau‘ (Holtgrewe/Voswinkel/Wagner 2000: 18). Der davon abzuleitende „Doppelcharakter des Geschlechts auf der Ebene der sozialen Ungleichheit [...] und auf der Ebene der symbolischen Ordnung“ führt dazu, dass „Frauen [...] in hierarchische Strukturen [eingebunden sind] und als handelnde Subjekte an der Reproduktion der patriarchalischen Verhältnisse beteiligt [sind]“ (Lenz 1995: 22: 28). Die ökonomischen Transformationen haben weiterhin zur Folge, dass „mit dem Schwinden früherer Selbstverständlichkeiten [...] der Druck zur Selbststeuerung biographischer Abläufe [wächst]. Mutterschaft als solche und der ‚Einbau‘ von Kindererziehungszeiten in die Biographie werden in wachsendem Maße zu einer Frage von Planung und Terminierung, deren Folgen für das Berufsleben jede Frau individuell abzuschätzen hat“ (Wohlrab-Sahr 1993: 69).

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Die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse und der damit einhergehende informationstechnologische Umbau der Industriearbeitsplätze führen dazu, dass „die Männlichkeitskonstruktion seit den 1990er Jahren im Zuge des neoliberalen Umbaus des Erwerbssystems verstärkt unter Druck [geraten]: Auf der einen Seite erodiert das [männliche] Normalarbeitsverhältnis, Erwerbsarbeit wird zum knappen Gut; auf der anderen Seite gewinnt im Zuge der so genannten Subjektivierung von Arbeit die Berufsarbeit an neuer ‚Strahlkraft‘ und zwar für Männer und Frauen“ (Scholz 2008: 105; Herv.i.O.). Die Verbindung von „Stärke und Können“ traditioneller Industriearbeit wird immer mehr zu „Hilfs- und Gelegenheitsarbeit“ transformiert. In den Informationstechnologien erfolgt die Arbeit am Schreibtisch im Büro, in dem ehemals die Frauen in der Mehrheit als Schreibkräfte tätig waren. Dies verändert das Bild des arbeitenden Mannes maßgeblich, so dass Raewyn Connell (1999: 76) die neuen männlichen Selbstkonstruktionen über Arbeit als „männlich, technisch, aber nicht Arbeiterklasse“ bezeichnet. „Der Körper des Mittelschichtmannes war durch die Klassengrenzen von physischer Stärke getrennt, gewinnt nun aber gesteigerte Macht in den Mann/Maschine-Systemen der modernen Kybernetik.“ (Ebd.: 76) Dabei unterliegen sowohl die Mittelschichtmänner als auch die Männer der Arbeiterklasse der „gesellschaftliche[n] Dynamik, in der sowohl Klassen- als auch Geschlechterrelationen eine Rolle spielen“ (ebd.: 101). Die Auswirkungen des Wandels beschränken sich jedoch nicht allein auf die Arbeitswelt, sondern beeinflussen „auch das Verhältnis von Arbeit und Leben, von Beruf und Familie, von Öffentlichkeit und Privatheit, also diejenige Relation, deren Grenzziehungen konstitutiv sind für die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft und die darin eingelassene hegemoniale Männlichkeit sind“ (Meuser 2009: 253). Allerdings erweisen sich die Anerkennungsmodelle über Erwerbsarbeit und die geschlechtliche Rollenverteilung als überaus konstant und damit bis in die Gegenwart relativ wenig flexibel. „Männer selbst sehen nach wie vor Erwerbstätigkeit als ihre zentrale Aufgabe. Das Erreichen, Bewerkstelligen und Bewahren von männlicher Geschlechtlichkeit erfolgt daher nach wie vor über die Erwerbsarbeit als zentralem, manchmal einzigem Mittel. Gemäß dem Konzept der Hegemonialität bedeutet dies umgekehrt: Denen, welchen dieses Mittel nicht oder nur unzureichend zur Verfügung steht, bleibt dann oft kein anderer Weg als über den Körper und seine Inszenierung – durch Risikopraktiken, aber auch durch Gewalt.“ (Baur/Luedtke 2008: 85)

Insgesamt sind Männer nach wie vor davon überzeugt, dass eine berufliche Karriere besonders wichtig ist. Das Fehlen an Erwerbsarbeit bedeutet dann auch ein

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Verlust an Macht und Status. Darüber hinaus wird der Kanon der Erwartungen den Männern gegenüber gerade in aktuellen Diskursen um Geschlechtergerechtigkeit und partnerschaftliche Arbeitsteilung wesentlich breiter gefasst. „Männer sollen sich einerseits wie eh und je mit ihrem Beruf identifizieren. In der Familie sollen sie sich aber auch an der Hausarbeit und Kindererziehung beteiligen. [...] Neue Muster wie das des fürsorgenden bzw. des ‚neuen‘ Vater sind noch keine anerkannten männlichen Lebensmodelle. Aufgrund dieser Leerstelle im Konstrukt der modernen Männlichkeit kommt es in den Lebensgeschichten zu einer Dethematisierung des Familienbereichs, die jedoch nicht der Bedeutung entspricht, die dieser Lebensbereich für die meisten der befragten Männer hat.“ (Scholz 2008: 117)

Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten führt dazu, dass der Alltag einer Familie mit Kind(ern) mit großem Aufwand geplant werden muss, um beiden Eltern eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Die Aushandlungsprozesse um die Gewichtung von Arbeits- und Freizeit werden zum zentralen Bestandteil familiärer Zeitarrangements. „Je stärker Frauen und Männer entscheiden können und müssen, welche Rolle berufliche und familiale Arbeit in ihrem Leben jeweils spielen, desto mehr müssen die Personen ihr Alltagsleben mit komplexeren Anforderungen abstimmen und eigenständig gestalten.“ (Rerrich 1994: 205)

Damit wird das „Alltagsleben [...] der Tendenz nach immer mehr selbst zu einem Stück Arbeit“ (ebd.: 205). Dies stellt gerade Paare mit Kindern vor große organisatorische aber auch finanzielle Herausforderungen. Denn die Erwerbsarbeit hat eine nach wie vor „ungebrochene Strahlkraft“, und transportiert „eine Reihe fundamentaler Erwartungshaltungen“ wie auch struktureller Verschränkungen, durch die die Neuverhandlung der sozialen Rollen zu einem konfliktreichen und zeitintensiven Projekt wird (Kraemer/Speidel 2005: 370). „Auf dem Arbeitsmarkt fallen die Entscheidungen über Art und Niveau der materiellen Versorgung des Individuums und damit über die soziale Verteilung begehrter Güter. Dies trifft übrigens auch in gleichem Maße für die nicht-erwerbstätige Bevölkerung zu, die ihren Lebensunterhalt über Versicherungsleistungen bzw. Versorgungsansprüche bestreitet.“ (Ebd.: 370)

Die Verschränkungen von sozialem und beruflichem Status führen dazu, dass in der Alltagspraxis ein Idealtypus des „total verfügbaren Berufsmenschen“ repro-

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duziert wird, der von „Familien- und Hausarbeit entlastet ist „als Einzelindividuum zwar auch weiblich sein kann, in der Regel aber anscheinend auch künftig männlich gedacht wird“ (Nickel 2000: 251). 2.1.4 Arbeitsethische Orientierungen in der Forschung Hinsichtlich der Arbeitsorientierungen, wie sie im empirischen Teil anhand der Fallrekonstruktionen herausgearbeitet werden, finden sich in der Forschungsliteratur einige wenige Untersuchungen, die sich mit Typisierungen und Kategorisierungen von Haltungen und Einstellungen zur Arbeit befassen. Angeschoben wurden diese Untersuchungen im deutschsprachigen Raum seit dem Ende der 1970er Jahre durch die von Elisabeth Noelle-Neumann initiierte Debatte um die „Krise der Arbeitsmoral“ als eine „deutsche Spezialität“.1 Ausgangspunkt bilden die Analysen von Ronald Inglehart (1995) zum „Wertwandel in der westlichen Welt“. Er unterscheidet materialistische und postmaterialistische Wertvorstellungen, die sich vor allem aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen Wachstumsperioden innerhalb der „westlichen Gesellschaften“ herausbilden. Durch den Zuwachs an Einkommen und wohlfahrtsstaatlicher Absicherung nimmt die Bedeutung von Status und Lebensqualität gegenüber der bloßen physischen und materiellen Sicherung der Existenz zu. Daraus ergeben sich veränderte Haltungen und Einstellungen zur Arbeit. So stellt Inglehart fest, dass „Menschen mit postmaterialistischen Wertvorstellungen“ dazu tendieren, sich stärker auf den Zugewinn „an anderen Gütern als das Einkommen“ zu fokussieren. „Für ihr eigenes Leben sind ihnen eine interessante, sinnvolle Tätigkeit und sympathische Kollegen viel wichtiger als ein sicherer Arbeitsplatz und ein hohes Einkommen.“ (Inglehart 1995: 208) Als Beispiel für eine Rezeption der von Inglehart entwickelten Werttypen gilt die Klassifikation, die Helmut Klages (2001: 11) auf der Grundlage der Daten der „Freiwilligensurveys“ aus den Jahren 1987, 1993 und 1999 vornimmt. Er unterscheidet fünf Wertetypen, die er als Traditionelle, Resignierte, Realisten, Hedonisten und Idealisten voneinander abgrenzt.2 In einem Vergleich, der einen Zeitraum von 30 Jahren umfasst, untersuchen Ditmar Brock und Eva-Maria Otto-Brock (1992: 360) die Einstellungen Jugendlicher und jun-

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Vgl. dazu Karl-Heinz Reuband (1985) sowie Eva Otto-Brock und Peter Wahler (1988).

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Die Daten beziehen sich auf die erwachsene Bevölkerung bis zu einem Alter von 30 Jahren in Westdeutschland.

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ger Erwachsener zur Arbeit.3 Sie unterscheiden vier Gruppen von Arbeitshaltungen, die sie als „Pflichtethik“, „Selbstverwirklichung in der Arbeit“, „instrumentelle Einstellung“ zur Arbeit und als „Sinnverlust“ der Arbeit bezeichnen. Die „instrumentelle Arbeitsorientierung“ bedeutet, dass Geld verdienen im Mittelpunkt steht. Bei der Zustimmung zur Aussage, Arbeit sei „die Erfüllung einer Aufgabe“, wird angenommen, dass Pflicht und Akzeptanz im Zentrum des Interesses steht. Eine auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Auffassung von Arbeit wird dann angenommen, wenn die Arbeit etwas sein soll, was „Befriedigung hergibt“. Als vierte Gruppe gelten diejenigen, die Arbeit als „schwere Last/notwendiges Übel“ betrachten. Bei der Gruppe, die eine instrumentelle Arbeitsorientierung zeigt, wird angenommen, dass sie aufgrund der „monotonen“ oder sonst wie unbefriedigenden Arbeit dazu gebracht werden, den „Sinn ihres Lebens“ jenseits der Welt der Arbeit zu suchen. Bei Dieter Jaufmann und Martin Pfaff (2000) finden sich Ergebnisse von Befragungen in mehreren europäischen Ländern aus den Jahren 1981-1983 und 1990-1991 zu den Themen „Arbeitszufriedenheit“, „Arbeitsstolz“ und „Freiheit in der Arbeit“.4 Demnach ist beispielsweise der „Arbeitsstolz“ in Ost- wie auch in Westdeutschland doppelt so hoch wie in den USA. Die „Arbeitszufriedenheit“ ist „trotz vielfältig als belastend empfundener Arbeitsbedingungen“ hoch und liegt fast in allen Ländern über 75%. Auf die Frage „Ich würde auch dann gerne berufstätig sein, wenn ich das Geld nicht bräuchte“ gibt es in Deutschland eine Zustimmung von über 70%. Die Aussage: „Berufliche Arbeit ist die wichtigste Tätigkeit des Menschen“ stößt dabei in Westdeutschland auf ein nahezu gleich gewichtetes Bild. Während 45% zustimmen, signalisieren immerhin 40% Ablehnung (Jaufmann/Pfaff 2000: 505). Eine weitere Untersuchung, durchgeführt von Hans-Joachim Giegel, Gerhard Frank und Ulrich Billerbeck in den 1980er Jahren, analysiert die „berufsbiographischen Orientierungen von Lohnarbeitern“ (Giegel/Frank/Billerbeck 1988). Auf der Grundlage von lebensgeschichtlichen Interviews mit Männern werden Identitätskonstruktionen im „Prozess der Individualisierung“ als Ausdruck „kon-

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Sie ziehen dazu die Daten aus verschiedenen Befragungen und Untersuchungen von EMNID aus dem Jahr 1964, dem Jugendwerk der deutschen Schell von 1976 und aus einer Studie von Fischer, Fuchs und Zinnecker aus dem Jahr 1985 heran. Vgl. dazu Ditmar Brock und Eva-Maria Otto-Brock (1992: 360).

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Datengrundlagen sind „Internationale Wertestudien und die Untersuchungen des ISSP „International Social Survey Programme“ zum Bereich der „Work Orientations“. Daten zu Ostdeutschland liegen nur aus den Jahren 1990-1991 vor (Jaufmann/Pfaff 2000).

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kreter Subjektivität“ herausgearbeitet und das „Gesundheits- und Krankheitsverhalten“ untersucht (ebd. 1988: 11). Das Ziel der Untersuchung besteht darin, den „sinnstrukturellen Zusammenhang [zu] bestimmen, der zwischen dem Muster der berufsbiographischen und dem der gesundheitlichen Orientierungen besteht, um so einen möglichen Einfluss der ersteren auf das letztere ans Licht zu bringen“ (ebd. 1988: 15). Das empirische Material besteht aus 80 unstrukturierten Interviews mit „männlichen deutschen Metallarbeitern im Alter von 35 bis 60 Jahren“ (ebd. 1988: 406). Im Anschluss an die ausführliche Darstellung von sechs exemplarischen Fallstrukturen wird eine Typisierung der berufsbiographischen Orientierungsmuster vorgenommen, die sich auf 18 Fälle einer „ausgewählten Kerngruppe“ beziehen (ebd. 1988: 260 f.). Abbildung eins zeigt einen Auszug aus den herausgearbeiteten Kategorien des Samples. Abbildung 1 Berufsbiographische Orientierungen nach Hans-Joachim Giegel, Gerhard Frank und Ulrich Billerbeck Typus Bezeichnung

Dominierende Interessen

Vorstellung von eigenen Handlungsressourcen

I

Gelegenheitsarbeit und eigensinnige Selbstbehauptung

Beschränkter Kreis gesteigerten (auch kollektiven) Konsums, ereignisreicher Aktionismus

Cleverness, Durchsetzungsvermögen, Körperstärke

II

Lohnarbeit als moralische Veranstaltung

Ständiges Bemühen um (moralisch prämierte) Leistungserbringung. Askese

Normale Voraussetzungen, anerzogene Disziplin (Fleiß)

III

Unerreichbare Ideale oder die Idealisierung des Unerreichbaren

Ideal einer höheren Existenz pflegen, sich nicht im Kleinen verlieren

Talent, (für anspruchsvolle Tätigkeit), Durchblick

IV

Autonomie durch Kompetenzsteigerung

Kompensation von Defiziten durch Demonstration der Leistungsfähigkeit. Sinn für höhere Lebensform

Problematischer Ausgangspunkt, lernwillig, zäh

V

Lohnarbeit als Schule des Lebens

Status sichern, auf gefährdetem Talentiert, Übersicht, Terrain differenzierten keine Härte, Flexibilität Lebensstil ausbilden. Geselligkeit

VI

Erfolg durch Verzicht

(Vielseitige) Kompetenzen steigern. Praktische Umsetzung der Kompetenzen. Kontrolle

Talentiert, lernfähig, Fähigkeit zur Selbststeuerung

Quelle: (Giegel/Frank/Billerbeck 1988: 346/347; Übersicht 8 in Auszügen)

Während sich die Studie von Hans-Joachim Giegel, Gerhard Frank und Ulrich Billerbeck mit den Arbeitsorientierungen von Arbeitern beschäftigt, untersucht

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das Institut Sinus Sociovision Migrantenmilieus in Deutschland in Bezug auf Werthaltungen und Einstellungen zu gesellschaftlichen Themen, unter anderem zur Arbeitseinstellung (Wippermann/Flaig 2009). Es wird eine Einteilung in acht Wertetypen, „mit jeweils ganz unterschiedlichen Lebensweisen“ vorgenommen, wobei die Grundorientierungen in fünf Kategorien eingeteilt werden, die mit dichotomen Gegensatzpaaren wie „Tradition“ und „Moderne“ arbeiten. So gibt es die Kategorien „vormoderne Tradition“ und „ethnische Tradition“, „KonsumMaterialismus“, und „Individualisierung“, sowie die“ Multi-Optionalität“. Der Bereich der „ethnischen Tradition“ wird dabei mit den Begriffen „Pflicht und Akzeptanz“ sowie „materielle Sicherheit“ charakterisiert, während die Grundorientierung „Konsum-Materialismus“ mit „Status“, „Aufstiegsorientierung“ und „sozialer Akzeptanz“ in Verbindung gebracht wird. Der Begriff „Leistung“ beschreibt demgegenüber die Kategorie, die als „Individualisierung“ bezeichnet wird (Wippermann/Flaig 2009: 8). Neben diesen Forschungsperspektiven, die sich auf den deutschen Kontext beziehen, veröffentlicht eine internationale Forschergruppe 1987 eine Studie mit dem Titel „The Meaning Of Work“ (MOW) zu Arbeitsorientierungen und der Bedeutung von Arbeit mit Datenmaterial aus den OECD-Staaten (MOW International Research Team 1987). Darin werden „empirical work definitions“ in vier Kategorien eingeteilt, anhand derer die Aussagen der Befragten geclustert werden. Dies sind die konkrete Arbeit (concrete), die soziale Funktion der Arbeit (social), die Auffassung, dass es sich bei Arbeit um Pflichterfüllung (duty) handelt und als vierte Kategorie, die Haltung, dass Arbeit als Last (burden) zu betrachten ist (ebd.: 166). In der Bundesrepublik Deutschland stimmen dabei 45% der Befragten dem Cluster konkrete Arbeit zu, das die folgenden Definitionen enthält: „if you get money for doing it“, „you have to do it“, „you have to do it in a working place“, „you do it at a certain time“, „it is not pleasant“.

2.2 M IGRATION

AUS DER

T ÜRKEI

NACH

D EUTSCHLAND

2.2.1 Arbeits- und Lebenswelten der ersten Generation Migration und räumliche Mobilität sind in der Türkei keine Neuentdeckung des 20. Jahrhunderts; vielmehr hat die „saisonale Binnenwanderung“ eine über „100jährige Tradition“ (Özkara 1988: 19). Das Dorf wird als Lebensmittelpunkt beibehalten, die Männer wandern zur Erwirtschaftung zusätzlicher Geldeinkommen zeitweise in andere Regionen, während Frauen und ältere Familienangehörige die dörfliche Landwirtschaft führen (Schiffauer 1987: 153). Die traditionelle

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Großfamilie als ökonomische Einheit wird damit aufrechterhalten. Allerdings leben die bäuerlichen Kleinbetriebe von Subsistenz und liegen hinsichtlich der Einkommen beim Existenzminimum. Durch den Bevölkerungszuwachs, der durch hohe Geburtenraten und eine bessere Gesundheitsversorgung erreicht wird, können die „Großfamilien“ auf den zu geringen Landflächen kein ausreichendes Einkommen erwirtschaften (Özkara 1988: 18f.). Im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft verlassen seit den 1950er Jahren bis in die Mitte der 1970er Jahre acht Millionen Menschen dauerhaft die ländlichen Regionen und wandern in die großen Städte der Türkei (Kleff 1985: 54). Die Einwohnerzahl von Istanbul steigt von 1,4 Millionen (1961) auf 10,7 Millionen im Jahr 1992 (Şen/Goldberg 1994: 13). Damit verbunden sind folgenreiche ökonomische und soziale Umbrüche, die Hans-Günter Kleff (1985: 23) unter dem Schlagwort „Auflösung der anatolischen Bauerngesellschaft“ zusammenfasst und als den entscheidenden Faktor für die internationale Migration ausmacht. Sule Özel und Bernhard Nauck (1987: 64) bezeichnen die Türkei als ein typisches Beispiel für eine „Übergangsgesellschaft“ mit rapiden sozialen Veränderungen, die sich von einer „rural-segmentären“ Gesellschaft zu einer „funktional-differenzierten“ Industriegesellschaft vollziehen. Damit verbunden sind „Krisenerscheinungen“ wie Landflucht, demographische Veränderungen, Anwachsen der städtischen Bevölkerungen und damit einhergehende Belastungen für Infrastruktur, Arbeitsmärkte und Ökosystem. Soziale Folgen sind Massenarmut, hohe Kindersterblichkeitsraten, eine große Zahl von Analphabeten und Kinderarbeit (Karpat 1976; Gümrükçü 1986). In den Randgebieten der großen Städte entstehen Elendssiedlungen, die als gecekondu5 eine spezifische Sozialstruktur herausbilden. Junge Männer gründen Stadthaushalte, die als „Dependancen“ der Dorfhaushalte fungieren. „Sie bildeten zusammen mit dem dörflichen Haushalt weiterhin eine politische, soziale und ökonomische Einheit, die durch den Vater personifiziert war“. (Schiffauer 1991: 86) Allerdings gibt es auch in den Städten keine ausreichenden Einkommensmöglichkeiten, die Anzahl der Industriearbeitsplätze ist gering und die Binnenmigranten verfügen kaum über berufliche Abschlüsse. In der Industrie werden sie, wenn überhaupt, lediglich im unteren Segment beschäftigt. Auf diese Weise entwickelt sich ein informeller Sektor, der prekäre Beschäftigungssituati-

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Gecekondu bedeutet wörtlich „über Nacht gebaut“. Gemäß geltendem Gewohnheitsrecht dürfen Gebäude, die innerhalb eines Tages erbaut und nach der ersten Nacht ein Dach erhalten haben, nicht abgerissen werden. Diese über Nacht gebauten Siedlungen werden in der Folge zu verdichteten Siedlungen, aus denen sich neue Stadtteile in den Metropolen der Türkei herausbilden.

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onen hervorbringt und die ländliche Unterbeschäftigung wird zu einer städtischen Arbeitslosigkeit (Gümrükçü 1986: 82). Im informellen Sektor gelten weder Mindestlöhne noch Arbeitsschutzgesetze. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist sozial abgesichert, beispielsweise im Jahr 1980 nur 2% der abhängig Beschäftigten (ebd.: 22). Vielen Binnenmigranten bleibt dann lediglich die „Flucht in die Selbständigkeit“ mit stark eingeschränkten Möglichkeiten der Einkommensabsicherung und -stabilisierung (Luft 2009: 98). Sozialstrukturell bedeutet die Ausweitung der gecekondu keine Zunahme der urbanisierten Bevölkerung, sondern stellt eine „‚Pseudourbanisation‘ [dar], in der Lebensmuster der neuen ‚Städter‘ kaum verändert wurden und ein ländliches Leben am Rande der Großstadt fortgesetzt wird“ (ebd.: 53). Die Bevölkerung der gecekondu bildet wirtschaftlich, sozial und kulturell eine Sondergruppe, die lediglich formal zur Stadt gehört und es besteht kaum „Wohnmobilität“ (Planck 1974: 44). Während im Jahr 1950 lediglich 14,4% der Bevölkerung in Städten (das heißt Siedlungen mit mehr als 20.000 Einwohnern) lebten, waren es 1980 bereits 40,3% (ebd.: 78). Die tiefgreifenden sozioökonomischen Brüche haben zur Folge, dass traditionelle Selbstverständlichkeiten in den neu entstehenden multilokalen Haushalten zunehmend an Bedeutung verlieren, auch wenn sie in ökonomischer Hinsicht Vorteile bieten. So kann der schwankende Arbeitskräftebedarf auf dem Land ausgeglichen werden und die Möglichkeiten für Geldeinkommen wesentlich erweitert werden. Hinzu kommen Vorteile für die Gesundheitsversorgung und beim Zugang zu Bildung und sozialer Infrastruktur. Problematisch allerdings ist, dass Geldeinkommen für den Konsum in der Stadt wie auch im Dorf an Bedeutung gewinnen. „Die zunächst unscheinbare (und wohl auch unmerklich stattfindende) Akzentverschiebung führte dazu, dass sich die Logik der Lohnarbeit gegen die Logik der Subsistenzproduktion durchsetzte.“ (Schiffauer 1991: 87; Herv.i.O.) Gegenüber der bäuerlichen Produktion, sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Verkauf, erhält die Lohnarbeit aufgrund der Sicherheit der Bezüge und dem regelmäßigen Geldzufluss einen höheren Stellenwert (Lubig 1988: 84). Dadurch verliert die „traditionelle Großfamilie“ ihre Bedeutung als ökonomische Einheit, auch wenn sie aus „ethisch-traditionellen Gründen“ weiterhin besteht. An ihre Stelle treten der „Familienverband“ und die „Nachbarschaft“, in die die Kleinfamilie integriert wird (Özkara 1988: 19). Im Zuge der umfangreichen und kontinuierlichen Binnenmigrationen entwickelt sich eine spezifische und neue Form sozialer Netzwerke, die hemşehrilik. Dies bedeutet wörtlich „aus derselben Stadt kommend” und ist eine Bezeichnung für die besonderen sozialen Beziehungen zwischen Menschen, die den Herkunftsort (bezogen auf eine Provinz, Kreis, Stadt oder Dorf) teilen. Die Institution des hemşehrilik schafft jenseits von Stammeszugehörigkeit und Verwandtschaft eine Grundlage für soziale

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Beziehungen zwischen der durch die Binnenwanderungen entwurzelten Landbevölkerung. Einen hemşehri, das heißt eine Person, mit der gemeinsame regionale Herkunft geteilt wird, findet man nur außerhalb der Herkunftsregion (Dubetsky 1976; Hersant/Toumarkine 2005). Die internationale Migration wird ab 1961 rechtlich überhaupt erst möglich, als durch eine Verfassungsänderung die Ausreise ins Ausland zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit legalisiert wird (Kleff 1985: 7). Bereits im selben Jahr wird das Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossen, in dem die Migration von türkischen Staatsangehörigen zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit offiziell geregelt und ausgestaltet wird. Es werden Anwerbebüros in großen Städten aber auch in den Zentren der ländlichen Regionen der Türkei eingerichtet. Faruk Şen und Andreas Goldberg (1994: 16) berichten, dass es zeitweise 500-600 Vermittlungsstellen der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei gibt. Damit wird die Zielgruppe der ökonomisch marginalisierten Binnenmigranten in den gecekondu durch die direkte Anwerbung aus dem ländlichen Raum wesentlich erweitert (Kleff 1985: 8). Der Anreiz ist vor allem aufgrund des Lohngefälles groß, denn in dieser Zeit beträgt das durchschnittliche Einkommen in der Türkei etwa 25% des Durchschnittseinkommens in Westdeutschland (Luft 2009: 94). Darüber hinaus gibt es große Werbekampagnen in den türkischen Tageszeitungen, die über die Einkommensmöglichkeiten im Ausland berichten. Gesamtwirtschaftlich gesehen leidet die Volkswirtschaft der Türkei trotz finanzieller Unterstützung aus dem Marshall-Plan nach dem Ende des zweiten Weltkriegs seit den 1950er Jahren unter der hohen Verschuldung im Ausland und einer beträchtlichen Inflation (Uyaner 1996: 11). All diese Faktoren machen die internationale Migration sowohl für die Individuen und die Familien als auch für den Staat zu einem Erfolg versprechenden Projekt. Durch die internationale Migration wird die Erwerbsarbeit aus „traditionalen sozialen und politischen Zusammenhängen“ herausgelöst und die Auffassung setzt sich durch, dass die Arbeitskraft demjenigen angeboten wird, der am meisten dafür bietet. „Mit der Entscheidung, ins Ausland zu gehen, verbanden die meisten nichts anderes, als ihre Arbeitskraft an denjenigen zu verkaufen, der das meiste bot – und zwar an jemanden, mit dem man keine andere Beziehung hatte (und wollte) als die über die Arbeit gestiftet und vertraglich geregelte.“ (Schiffauer 1991: 91/92)

Werner Schiffauer (ebd.: 84f.) vertritt die pessimistische Ansicht, dass die Person dadurch zum „Gesellschaftsatom“ vereinzelt und von der Sicherheit versprechenden Großfamilie abgetrennt wird. Dieser Prozess vollzieht sich innerhalb

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eines äußerst kurzen Zeitraums, so dass Hans-Günter Kleff (1985: 19) feststellt, dass „aus türkischen Bauern innerhalb eines Lebens Arbeiter in einer industriekapitalistischen Gesellschaft“ werden. Während bereits die saisonale Abwanderung von Männern aus den Dörfern zu sozialen Veränderungen führt und durch die Binnenmigrationen soziale Umwälzungen eingeleitet werden, begünstigt die ökonomische Eigenständigkeit junger Männer und Frauen darüber hinaus die Rebellion gegen hierarchische Strukturen und traditionelle Familienmodelle (ebd.: 56). Auch Schiffauer (1991: 13) sieht in der internationalen Migration die Möglichkeit, aus dem „Heimatdorf auszubrechen; die Arbeit in der Fremde schien die Chance zu bieten, innerhalb kurzer Zeit die Grundlage für den Aufstieg in der eigenen Gesellschaft zu schaffen.“ Nermin Abadan-Unat (1983: 208/209) hebt darüber hinaus den emanzipatorischen Faktor für Frauen hervor, die sich autonom für die Migration ins Ausland entscheiden. Die Anwerbung und Öffnung des Arbeitsmarktes für Ausländer erfolgt in der Bundesrepublik Deutschland durch Entscheidungen der Exekutive. Die Legislative und auch die Gewerkschaften werden aus diesem Prozess vollständig ausgeschlossen (Luft 2009: 36). Somit erfolgt die Anwerbung in erster Linie zum Vorteil der Unternehmen, die großes Interesse am Einsatz ausländischer Arbeiter in der Industrieproduktion haben. Durch die Anwerbung aus den Mittelmeerländern können die Lohnkosten für ungelernte Tätigkeiten im unteren Segment gering gehalten werden. Eine weitergehende Rationalisierung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen werden dadurch aufgeschoben. „Wäre dieses zusätzliche Arbeitspotential nicht verfügbar gewesen, hätten die gesamtwirtschaftliche Lohnquote erhöht und mehr arbeitssparende Kapitalinvestitionen (zum Zwecke der Automatisierung) durchgeführt werden müssen.“ (Voigt 1974: 25)

Dem sozialen Aufstieg von deutschen Arbeitskräften mit geringen Qualifikationen in stabilere und besser bezahlte berufliche Positionen wird damit der Weg bereitet, während die Migranten selbst von der Partizipation an der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ ausgeschlossen sind (Groß 2008: 90). Sie fungieren als „Konjunkturpuffer“ ohne langfristige Aufenthaltsperspektiven und leisten Beiträge in die Sozialversicherungen, von denen sie aufgrund von Rotation, Altersstruktur etc. zunächst keine Leistungen erhalten (Luft 2009: 46). Die politischen Akteure bemühen sich darum, die liberale Anwerbepraxis, wie sie die Unternehmen wünschen, gegenüber der deutschen Bevölkerung zu rechtfertigen. Damit wird die Unterschichtung als Grundlage für den sozialen Aufstieg der deutschen Arbeiter offiziell legitimiert (ebd.: 39). Berufliche Qualifizierungen und Weiterbildungen, wie sie seitens der Türkei gewünscht werden, finden kaum ei-

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ne praktische Umsetzung. Bis zum Anwerbestopp 1973 liegen die Hauptfelder für die Beschäftigung von Migranten aus der Türkei im Bereich der Industrie (Schiffbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Gießerei, Textilverarbeitung, Kosmetikindustrie). Im Jahr 1974 sind 85% der bei der Ruhrkohle AG Beschäftigten Migranten aus der Türkei, 1990 liegt der Anteil sogar bei 95%. Insgesamt führt der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte im produzierenden Sektor und in der Bauwirtschaft zu einem starken Rückgang der deutschen Arbeitskräfte in diesen Bereichen (ebd. 2009: 42). Durch die Rotation von Arbeitskräften wird eine Verwurzelung in Deutschland verhindert, zudem verpflichten sich die Arbeitgeber dazu, die Migranten unterzubringen (Uyaner 1996). Laut Nermin Abadan-Unat (2005: 131) lebten zum Beispiel 1964 85% der Türken in Wohnheimen. „Der Erfolg der Migration bemaß sich also nach dem Kriterium, ob es den Migranten gelang, im Ausland einen guten Verdienst zu erzielen und nach Ablauf eines möglichst kurzen Zeitraums mit ansehnlichen Ersparnissen in die Heimat zurückzukehren.“ (Hunn 2005: 305)

Als Konsumenten treten die Arbeitsmigranten deshalb zunächst kaum in Erscheinung, da sie für Investitionen in der Türkei Ansparungen tätigen und nur wenig Lohn für ihren individuellen Konsum ausgeben. Trotz der Rückkehrorientierung entwickelt sich ein stetiger Niederlassungsprozess, der anhand der länger werdenden Aufenthaltszeiten und der sinkenden Zahl der Migranten in Wohnheimen deutlich wird. So verringert sich der Anteil der Migranten in Wohnheimen in Nordrhein-Westfalen von 31% im Jahr 1968 auf nur 9,7% im Jahr 1972 (Uyaner 1996: 24). Der Familiennachzug entwickelt sich ebenfalls stetig weiter, so dass 1971 von den Migranten, die Kinder haben, immerhin schon 36% gemeinsam mit ihnen in der Bundesrepublik Deutschland leben (Mehrländer 1974). Verschärfend kommt hinzu, dass die Türkei aufgrund politischer und ökonomischer Krisen als Investitions- und Lebensmittelpunkt wenig attraktiv ist. Seitens der Türkei besteht ebenfalls wenig Interesse an der Rückkehr der Arbeitsmigranten, wobei die monetären Rückflüsse durchaus erwünscht und erforderlich sind. Bei Karin Hunn (2005: 309) findet sich die Äußerung eines enttäuschten Rückkehrers, der sagt, „die Türkei will mein Geld, nicht mich.“ Dabei treten die ersten Rückkehrer als Investoren durchaus in Erscheinung. Sie gründen Unternehmen und investierten in Eigentumswohnungen, Grundstücke und landwirtschaftliche Geräte (Şen/Goldberg 1994: 16/17). „Die Summe der Überweisungen der Auslandstürken erreichte in manchen Jahren fast die Einnahmen des türkischen Staates aus Exporten.“ (Şen/Goldberg 1994: 18) Allerdings verringert sich die Höhe der Rücküberweisungen in dem Maße, wie die Migranten

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sich für einen dauerhaften Aufenthalt entscheiden und Rückkehrabsichten zurückstellen. Eine nachhaltige Förderung der türkischen Wirtschaft kann durch die Investitionen der Arbeitsmigranten nicht erreicht werden. Es wird überwiegend in den Konsum und den Grund- und Hauserwerb investiert, aber weniger in industrielle Produktion. Trotzdem sind die Rücküberweisungen bis in die Gegenwart eine bedeutende Einnahmequelle. So betrug beispielsweise der „Kapitalrückfluss der Arbeitsmigration [...] 1997 4,2 Mrd. US-Dollar und ist für die türkische Wirtschaft daher von immenser Bedeutung“ (Rieple 2000: 95). Bis zum Anwerbestopp 1973 existiert keine staatliche Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, vielmehr steht der Wunsch der Unternehmen nach „billiger und abhängiger Arbeitskraft“ im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen (Rittstieg 1974: 56). So gehört es zur Betriebspolitik vieler Arbeitgeber, den Arbeitskräftebedarf über die familiären Netzwerke der bereits im Betrieb tätigen Migranten zu decken (Luft 2009: 48). Trotz der längeren Aufenthaltszeiten und der Zunahme an Familiennachzügen ist „Integration der Gastarbeiter in die deutsche Gesellschaft aus innen- und außenpolitischen Gründen“ nicht erwünscht, auch wenn das Interesse an einer „zunehmenden beruflichen Qualifizierung“ wächst (Hunn 2005: 283). Die widersprüchlichen Haltungen der Institutionen setzen sich dahingehend fort, dass erste Ansätze seit Ende der 1960er Jahre eine Eingliederung in das „deutsche Milieu“ anbieten, diese allerdings auf den Erhalt der „nationalen Eigenarten“ abzielen. Der „Gastarbeiter“ wird lediglich zu einem „Mitbürger auf Zeit“, dem ein gleichberechtigter Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen vorenthalten wird. „Das Fehlen einer klaren politischen Linie trug angesichts des fortgesetzten Zuzugs ausländischer Arbeitskräfte und ihrer Familienangehörigen wiederum dazu bei, dass sich die sozialen Folgeprobleme erheblich verschärften.“ (Hunn 2005: 303)

Aus der Perspektive der Migranten ist diese Zeit von einer „zaghaften Niederlassung“ in der Kombination mit der Haltung „noch ein bisschen in Deutschland bleiben“ und „noch ein bisschen sparen“ gekennzeichnet (Wilhelm 2011: 41). Aufgrund der fehlenden Einrahmung dieses Prozesses durch sozialpolitische Maßnahmen entwickelt sich eine regional unterschiedlich ausgeprägte Wohnsegregation, die einen weiteren Ausgangspunkt für strukturelle Ungleichheit innerhalb der Einwanderungsgesellschaft darstellt. Da es bis in die 1980er Jahre keine pädagogischen Konzepte gibt, wird Bildung, wie eine Angehörige der zweiten Generation im Rückblick bei Karin Hunn (2005: 410) zitiert wird, „für unsere Generation Glückssache“. Die Energiekrise, die ab Oktober 1973 einsetzt, ist der

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äußere Anlass für den Stopp der offiziellen Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland. 2.2.2 Arbeit und Bildung nach dem Anwerbestopp Der Anwerbestopp führt dazu, dass die Gesamtzahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten um 42% zurückgeht (Luft 2009: 53). In einem ersten Schritt setzt die Bundesanstalt für Arbeit durch Anordnungen an die Arbeitsämter das vorher kaum angewendete „Inländerprimat“ verstärkt in die Praxis um, und schränkt damit die Neuerteilung und Erneuerung von Arbeitsgenehmigungen erheblich ein (Treichler 1998: 180). In weiteren Schritten folgen Änderungen der gesetzlichen Vorschriften, die die Erteilung von Aufenthaltsverfestigungen und Arbeitsgenehmigungen erschweren. In der Öffentlichkeit wird davon ausgegangen, dass sich das „Gastarbeiterproblem [...] jetzt wohl gewissermaßen aus quantitativen Gründen von selbst [erledige]“ (Hunn 2005: 338). Allerdings ist die Zahl der Rückkehrer in die Türkei mit lediglich 2,5% überaus gering (Luft 2009: 53). Dies liegt auch daran, dass Mitte der 1970er Jahre 400.000 Türkeistämmige aufgrund von Aufenthaltszeiten von mehr als fünf Jahren Anspruch auf die Erteilung der Arbeitserlaubnis haben und zudem etwa 200.000 türkische Staatsangehörige mit Deutschen verheiratet sind und deshalb ebenfalls einen Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis haben, die unabhängig von den Arbeitsmarktentwicklungen ist (Treichler 1998: 180). Zudem leben 1971 bereits mehr als ein Drittel der türkischen Staatsbürger gemeinsam mit Kindern in der Bundesrepublik Deutschland. Die im Zuge der Krise entlassenen Migranten schöpfen zunächst ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld aus. Eine Rückkehr in die politisch und ökonomisch zerrüttete Türkei stellt keine aussichtsreiche Alternative dar. In einem „unstrukturierten Niederlassungsprozess“ erfolgen umfangreiche Familienzusammenführungen, in die sowohl die Kernfamilien als auch die erweiterten verwandtschaftlichen Netzwerke einbezogen werden (Luft 2009: 57). Insgesamt steigt die aus der Türkei stammende Wohnbevölkerung von 1.027.800 im Jahr 1974 auf 1.462.000 im Jahr 1980 an. Der Anteil der Frauen aus der Türkei steigt zwischen 1974 und 1979 um 21% und parallel dazu die Anzahl der Kinder in deutschen Schulen (ebd.: 85). Klaus Jürgen Bade und Michael Bommes (2004: 439) sprechen deshalb auch von einem „Bumerang der Ausländerpolitik“ in dieser Zeit. Eine langfristige Folge dieser Prozesse ist, dass die „Realität des Einwanderungslandes“ zu veränderten Erwerbsquoten in der Gruppe der Migranten führt (Meier-Braun 2002: 22). Während der Anteil derjenigen, die einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen, 1972 83% beträgt, sind es 1992 nur noch 33%. 65% sind Familienangehörige, die keiner

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Beschäftigung nachgehen. Der Rest sind Unternehmer und mithelfende Familienangehörige (Şen/Goldberg 1994). Anhand der Zahlen wird deutlich, dass „wir es eben nicht mehr mit ledigen ‚Gastarbeitern‘ zu tun [haben], sondern mit ausländischen[n] Familien, deren Mitglieder zum selben Anteil erwerbstätig sind wie die Deutschen“ (Meier-Braun 2002: 21). In der Folge des Anwerbestopps werden bis in die Mitte der 1980er Jahre zahlreiche aufenthalts- und arbeitsrechtliche Maßnahmen durchgesetzt, die eine Begrenzung der Einwanderung zum Ziel haben, den Nachzug von Familienangehörigen gerade aus der Türkei allerdings faktisch beschleunigen. So wird 1975 das Kindergeld für im Ausland lebende Kinder um die Hälfte reduziert. Dies führt dazu, dass die Zahl der nachziehenden Kinder aus der Türkei in den Jahren zwischen 1975 und 1978 bei jeweils 700.000 liegt (Hopf 1981: 841). Durch Sperrfristen und Wartezeiten werden allerdings sowohl die nachziehenden Ehegatten als auch Jugendliche an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gehindert. Dies gilt zeitweise sogar für die berufliche Ausbildung. Angesichts der fortschreitenden räumlichen Konzentration besteht ab 1975 die Möglichkeit, Zuzugssperren für bestimmte Stadtteile zu erlassen. Auf der anderen Seite jedoch werden kaum Anstrengungen seitens der politischen Akteure unternommen, um für die größer werdenden Migrantenfamilien angemessenen Wohnraum bereitzustellen. Durch die erste Stufe der Freizügigkeit, die das Assoziationsabkommen mit der EG türkischen Staatsangehörigen eingeräumt, können Migranten mit langjährigem Aufenthalt zudem Verbesserungen im Hinblick auf Aufenthaltssicherung und Arbeitsaufnahme erreichen. Der Zugang zum Bundesgebiet wird jedoch durch die Einführung des Pass- und Visazwangs für türkische Staatsangehörige im Jahr 1980 und das Absenken des Nachzugsalters von 18 auf 16 Jahre ab 1981 stark eingeschränkt, so dass die Zahlen legaler Einwanderung aus der Türkei zurückgehen. Ein offiziell eingerichtetes Rückkehrprogramm der Bundesregierung führt dazu, dass 250.000 Türkeistämmige Deutschland verlassen und zu einem Rückgang der Türkeistämmigen um 5,4%. Allerdings kehren „mehrheitlich alte, unqualifizierte und kranke Personen und solche, die persönliche und familiäre Probleme hatten“, in die Türkei zurück (Abadan-Unat 2005: 86). Die restriktive Ausländerpolitik setzt in einer Phase ein, in der es in der Türkei schwere politische Unruhen, ökonomische Krisen und einen Militärputsch gibt. Parteipolitiker und linke Oppositionelle werden verhaftet und viele von ihnen getötet. Darüber hinaus spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken zu einem Jahrzehnte lang anhaltenden Bürgerkrieg zu. Eine große Zahl Oppositioneller versucht deshalb, sich durch die Flucht ins Ausland

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vor der politischen Verfolgung in Sicherheit zu bringen.6 Darüber hinaus erschweren Bevölkerungswachstum und hohe Arbeitslosenzahlen den Rückkehrern die Etablierung auf dem Arbeitsmarkt der Türkei. Inflation und schlechte Marktbedingungen führten dazu, dass viele Rückkehrer mit ihren Investitionen scheitern. Türkische Großunternehmen mit großer Machtkonzentration und besserer Kapitaldecke verhindern, dass die Rückkehrer mit geringerem Eigenkapital konkurrenzfähig werden können (Şen/Goldberg 1994: 25). Die Folge davon ist, dass bereits 1986 61,5% der Türken sich dahingehend äußern, für immer in Deutschland bleiben zu wollen (ebd.: 32). Im intergenerativen Vergleich bestehen in der Bundesrepublik Deutschland große Unterschiede zwischen den beruflichen Aussichten und den Bildungschancen der zweiten Generation im Vergleich zur ersten Generation der Einwanderer aus der Türkei. Trotz aller negativen Folgen der Industriearbeit für Gesundheit und persönliches Wohlbefinden erfährt die erste Generation eine Anerkennung ihrer Arbeitsleistungen, die sich in erster Line auf den sozialen Bezugsrahmen im Herkunftskontext bezieht. Die Entwicklung vom Bauern zum Industriearbeiter (Kleff 1985), zeigt sich durch das gesicherte Einkommen der Lohnarbeit und soziale Absicherung im Falle von Krankheit und im Alter. „Soziale und politische Traditionen des Herkunftslandes behielten ihre Gültigkeit, weil die Migrationsphase stets als vorübergehende gedacht war. Erwachsene Teilnehmer wurden hier nicht über die mangelhafte Teilnahme an der Kultur der Aufnahmegesellschaft, sondern als kompetente Mitglieder ihrer Herkunftskultur definiert.“ (Apitzsch 2009: 53)

Der soziale Bezugsrahmen ist für die zweite Generation dagegen ein grundsätzlich anderer. In dem Maße, wie Rückkehrpläne aufgeschoben werden und Familiennachzüge und Familiengründungen im Migrationsland erfolgen, wird die Gesellschaft des Einwanderungslandes der Eltern zum dauerhaften Lebensmittelpunkt. „Während die ‚erste Generation‘ der Migranten auf Grund der Anwerbung stabil in den Betrieben verankert war, ist es für die ‚zweite Generation‘ schwieriger, in der Wirtschaft Fuß zu fassen, trotz der Jahr für Jahr besser werdenden Schulabschlüsse und Sprachkenntnisse.“ (Thränhardt 2010: 20)

6

Der Tod von Cemal Kemal Altun, der durch den Sprung aus einem Fenster versucht, seiner Abschiebung in die Türkei zu entgehen, zeigt die dramatischen Folgen der „Ausländer-raus-Politik“ in dieser Zeit (Jäger 2009).

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Die Ursachen dafür sind zum einen strukturell bedingt. Die ökonomischen Krisen und die damit einher gehende Massenarbeitslosigkeit, die durch umfangreichen Arbeitsplatzabbau und Produktionsverlagerungen in andere Länder hervorgerufen wird, führen dazu, dass der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften zurückgeht. Die Nachfrage nach hoch qualifizierten Fachkräften steigt dagegen an. Einwanderer mit geringen Qualifikationen werden aufgrund der Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt marginalisiert (Seibert 2007: 113/114). Insgesamt behindert die „ethnisch-soziale Unterschichtung der Aufnahmegesellschaften“ den sozialen Aufstieg der zweiten Generation (Luft 2009: 104). Denn gerade in dieser Zeit durchlaufen die Kinder der Arbeitsmigranten aus der Türkei die Bildungsinstitutionen. Sie geraten damit in eine „Modernisierungsfalle“ (Apitzsch 2009: 53/54), die in zwei Richtungen wirksam wird. Einerseits stellt eine Rückkehr ins Herkunftsland der Eltern keine Perspektive dar, denn dort finden ebenfalls Transformationsprozesse statt, die ihre Teilhabechancen reduzieren. Darüber hinaus ist die ökonomische und politische Situation von Unsicherheit geprägt. Auf der anderen Seite erfolgt im Migrationsland der Eltern keine strukturierte Integration in die zentralen gesellschaftlichen Institutionen, die Zugang zu qualifizierender Bildung und qualifizierter Erwerbsarbeit ermöglichen. „Bereits Anfang der 1970er Jahre wird die Tendenz zum Bleiben deutlich, die Schulen jedoch fahren mit dem Programm fort, die Kinder auf die Rückkehr vorzubereiten.“ (Geiselberger 1972: 139) Auch im Bereich der Früh- und Vorschulerziehung sind nicht genügend Plätze für die Kinder aus Migrantenfamilien vorhanden, in denen häufiger als in deutschen Familien beide Elternteile erwerbstätig sind. Die Folge davon ist, dass Kinder von älteren Geschwistern zu Hause betreut werden oder aber in die Türkei zu Verwandten geschickt werden bzw. dort bleiben, solange die Eltern in Deutschland erwerbstätig sind (Wilhelm 2011). Eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 1980 stellt fest, dass in der Bundesrepublik Deutschland 11,8% der Kinder türkischer Einwanderer „Schlüsselkinder“ sind, also nach der Schule keine organisierte Betreuung erhalten (Abadan-Unat 2005: 223). Eine Betreuung in einer Kindertagesstätte wird im Bundesdurchschnitt insgesamt ohnehin nur für etwa 30% der Kinder zur Verfügung gestellt (Geiselberger 1972: 135). Durch diese strukturellen Defizite werden in der frühkindlichen Bildung vor allem die Migrantenfamilien benachteiligt, in denen eine adäquate Vorbereitung auf die deutsche Schule schon allein aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse der Eltern nicht erfolgen kann. Hinzukommt, dass gerade unter den Frauen aus der Türkei der Anteil der Analphabetinnen hoch ist. Bis in die Gegenwart wird die geringe Durchlässigkeit der Bildungsinstitutionen kritisiert, die sogar dazu führt, dass von einer intergenerativen Weitergabe

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sozialer Unterschiede und damit verbundener Teilhabechancen an den gesellschaftlichen Institutionen gesprochen wird. „Die Benachteiligung der ausländischen Schüler ist schon aus dem Grunde gegeben, weil in den bundesrepublikanischen Schulen das Selektionsprinzip gegenüber dem der Sozialisation dominiert und den individuellen Lernvoraussetzungen der ausländischen Kinder nicht Rechnung getragen wird.“ (Özkara 1988: 14)

Gerade aus der Verknüpfung von ethnischen und sozialen Merkmalen entsteht eine strukturelle Diskriminierung, die dazu führt, dass türkeistämmige Kinder in der vierten Klasse über eine Hauptschulempfehlung selten hinauskommen oder aber aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und fehlender Angebote zum Spracherwerb in untere Klassen zurückgestuft werden (Abadan-Unat 2005: 222f.). Und gerade diejenigen, die die Schule ohne Abschluss oder lediglich mit einem Hauptschulabgangszeugnis verlassen, haben in Zeiten hoher Arbeitslosenzahlen und Massenentlassungen große Schwierigkeiten, eine auf dem Arbeitsmarkt langfristig verwertbare berufliche Qualifikation zu erlangen. Die formalen Anforderungen des dualen Ausbildungssystems sind hoch. Die Höhe des Einkommens und die beruflichen Weiterentwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten sind an spezifische theoretische und berufsständisch reglementierte Anforderungen sowie berufspraktische Erfahrungen geknüpft. Gleichzeitig wird in Untersuchungen zu Jugendlichen aus Unterschichtsfamilien die Bedeutung eines eigenen Einkommens als Zeichen der Unabhängigkeit hervorgehoben. „Ein eigenes Auskommen zu haben, ist für Jugendliche der Arbeiterklasse sehr wichtig [...]. Der Eintritt ins Arbeitsleben ist ein bedeutsames Ereignis.“ (Connell 1999: 120) Dies führt bei Ursula Apitzsch (2009: 54) zu der Schlussfolgerung, dass insgesamt „Schließungstendenzen von Seiten der Aufnahmegesellschaft wie verweigerte Ausbildung, verweigerte höhere Schulbildung und (bei Nicht-EU-Mitgliedern) ungesicherter Aufenthaltsstatus“ zu beobachten sind, die zu „erheblich gesteigerten Diskriminierungserfahrungen in dieser zweiten im Vergleich zur ersten Generation“ führen. Aber auch der Übergang von der Ausbildung in den Beruf, die sogenannte zweite Schwelle, erweist sich für die Migranten aus der Türkei als schwierig. „Werden die normierten Ansprüche, die mit dem Abschluss einer Ausbildung verbunden sind, nicht erfüllt, so werden die eigenen (und auch die von außen angetragenen) Ziele nicht erreicht, und das Individuum muss seine Lebensplanung neu ausrichten oder mit den Zielkonflikten leben.“ (Seibert 2007: 113/114)

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Anhand von Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) seit Mitte der 1980er Jahre bis 2004 findet Holger Seibert (2007: 120f.) heraus, dass gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Migranten aus der Türkei beim Übergang in den Beruf nach einer dualen Ausbildung schlechtere Chancen haben, eine „ausbildungsadäquate“ Stelle zu finden als Deutsche in den gleichen Alters- und Berufsgruppen. Wenn allein die Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Männern verglichen werden, so zeigt sich, dass lediglich 24,7% der deutschen Männer nach der Ausbildung den Beruf wechseln, während es bei den türkischen Männern 37,7% sind. Während 22,5% der Türkeistämmigen nach erfolgreicher Ausbildung als erste Tätigkeit unterhalb ihrer vorhandenen Qualifikationen arbeiten, trifft dies nur auf 12,5% der Deutschen zu. Die Unterschiede sind über die von Holger Seibert untersuchte Zeit hinaus sichtbar, so dass daraus zu schließen ist, dass die ohnehin vorliegende soziale Selektion im Bildungswesen dadurch verstärkt wird, dass weitere soziale und strukturelle Barrieren beim Berufseinstieg nach erfolgreicher Ausbildung wirksam werden. Gerade für Kinder von Migranten, die selbst keine berufliche Qualifikation erreicht haben, ist damit der soziale Aufstieg wesentlich schwieriger bzw. wird als weniger wahrscheinlich prognostiziert (Pollak 2010). Bezogen auf die familiären Strukturen betont Sami Özkara (1988: 17f.) zu recht, dass es „die türkische Familie“ nicht gibt. Dies gilt sowohl für die Türkei wie auch für die aus der Türkei stammenden Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Die Pluralisierung der Lebensentwürfe ist dabei ein soziales Phänomen, das durch die ökonomischen und sozialen Brüche in der Türkei in die Wege geleitet wird und sich durch die internationale Migration fortsetzt. „Gerade weil die durch Migration hervorgerufenen Veränderungen die Herkunftsregionen nicht unberührt lassen, beginnen diese Brucherfahrungen zumeist nicht erst mit der eigentlichen Auswanderung, sondern längst vorher.“ (Apitzsch 2009: 50)

Dieser Umstand wird immer wieder übersehen, wenn eine Homogenität aufgrund nationaler Herkunft hergestellt wird, die so nicht gegeben ist. Trotzdem kann von der Dominanz einer ökonomischen und soziokulturellen Türkeiorientierung der Elterngeneration gesprochen werden, mit der sich die nachfolgenden Generationen auf den verschiedenen Ebenen auseinandersetzen müssen. Die Elterngeneration arbeitet an einem sozialen Aufstieg innerhalb des für sie zentralen sozialen Bezugsrahmens, der im Herkunftskontext Türkei zu verorten ist. Prestige und Anerkennung erfahren sie aufgrund des durch die Erwerbsarbeit erreichten höheren Einkommens, mit dem Statussymbole erworben und Investitionen getätigt werden können. Erst mit steigender Aufenthaltsdauer verlagern sich

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Konsum und der Erwerb von Wohneigentum in das Migrationsland (Şen/Goldberg 1994: 29). In diesem Prozess führen die geringeren Einkommen dazu, dass für den Konsum Einsparungen erforderlich sind, die auch zulasten der eigenen Kinder gehen, denen dadurch Teilhabechancen verwehrt werden. Darüber hinaus führt der Diskurs um Rückkehr, der sowohl von den Migranten selbst wie auch von den Institutionen im Einwanderungsland geführt wird, dazu, dass die nachfolgenden Generationen im Ungewissen über die Dauer des Aufenthalts groß werden (Mıhçıyazgan 2009). In einer Untersuchung der FriedrichEbert-Stiftung aus dem Jahr 1985 wird festgestellt, dass gerade hinsichtlich beruflicher Perspektiven eine starke Verunsicherung vorhanden ist. „Die Hälfte der befragten türkischen Jugendlichen sagten, sie rechneten damit, dass ihre Eltern irgendwann, unter Umständen sehr kurzfristig, in die Türkei zurückkehren würden. Es fehle ihnen die Sicherheit, eine dreijährige Ausbildung aufzunehmen und abschließen zu können. Die drohende bzw. nicht auszuschließende Rückkehr wird somit auch nach einem langen Aufenthalt in Deutschland und nach erfolgreichen Schulabschlüssen zum bestimmenden Faktor der Berufsorientierung.“ (Ammann/Backes/Mehrländer 1985: 18)

Ein weiterer Aspekt sind Verunsicherungen und Schwierigkeiten, die bei der sozialen Kontrolle des Verhaltens der Mitglieder der Kernfamilie entstehen. Die Normenkontrolle erfolgt in der ländlichen Türkei und in den Städten durch die familiären Netzwerke und die Nachbarschaft. Im Zuge der Migration verändert sich das familiäre und soziale Netzwerk, so dass soziale Kontrolle neu und anders organisiert werden muss. Darüber hinaus ist der außerhäusliche Bereich von kulturellen Normen und Werten geprägt, die sich von denen unterscheiden, mit denen die Eltern sozialisiert sind. „Aus dieser Überlegung heraus ist es zu verstehen, dass die Familien ihre Kinder ständig in der familiären Umgebung haben wollen.“ (Özkara 1988: 51) Die Veränderung der sozialen Kontrollinstitutionen kann aber auch bedeuten, dass „der private Charakter der familialen Beziehungen“ hervorgehoben und die individuelle Anpassung der Normen an die Bedürfnisse der Kernfamilien erfolgen kann, ohne dass verwandtschaftliche Netzwerke Vorgaben machen können. Bereits die hohe Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit verdeutlicht die pragmatische Auslegung kultureller Normen im Interesse eines gemeinsamen „Familienziels“ (Schiffauer 1991: 229f.). Darüber hinaus erfolgt auch eine stärkere Bezugnahme auf religiöse Orientierungen, die „angesichts der Marginalisierung durch die deutsche Gesellschaft das Bewusstsein zumindest potentieller moralischer Überlegenheit“ vermitteln, gerade dann, wenn gesellschaftliche Teilhabe verweigert wird. Damit wird ermöglicht, „tradierte Werte und Normen zu erhalten, die feste Verhaltensregeln und Deutungs-

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muster vorgeben. Dass dies auch auf Kosten einer situationsadäquaten Erziehung der Kinder geht, liegt nahe“ (Özkara 1988: 54). Konflikte zwischen Eltern und Kindern entstehen vor allem dadurch, dass die Kinder sich sprachlich schneller anpassen, als dies den Eltern möglich ist. Sie geraten in eine Situation, in der sie für die Eltern administrative Aufgaben erledigen, für die deutsche Sprachkenntnisse erforderlich sind. Die deutschsprachige Sozialpädagogik sieht darin in erster Linie die Gefahr der Überforderung der Kinder, die negative Folgen für die psychosoziale Entwicklung hat und sich negativ auf die schulischen Ergebnisse auswirken kann. Demgegenüber finden sich im angloamerikanischen Kontext Untersuchungen, die betonen, dass die Kinder diese besonderen sprachlichen und interkulturellen Ressourcen erfolgreich einsetzen können, wenn sie in ihren Familien die Rolle des „language broker“ innehaben (Swanson/Edwards/Spencer 2010: 286f.). Bezogen auf den bundesdeutschen Kontext der ausgehenden 1980er Jahre stellt Sami Özkara (1988: 39) pessimistisch fest „dass der sozialrechtliche Status der Ausländer in der Bundesrepublik in legislativer, administrativer und praktischer Hinsicht so beschaffen ist, dass er sich nicht dazu eignet, den Ausländern Perspektiven und damit Orientierungsmöglichkeiten zu bieten, die sie zu einer Modifikation ihrer Lebensweise und damit auch ihrer familiären Traditionen, Normen und Erziehungsvorstellungen veranlassen könnten.“ 2.2.3 Migration und Erwerbsarbeit aus der Perspektive der Statistik Am Beispiel der Migration aus der Türkei zeigt sich die Problematik, Begriffsbestimmungen vorzunehmen, die der heterogenen Struktur und der gelebten Alltagspraxis in Vergangenheit und Gegenwart gerecht werden. Insgesamt zeigt sich, dass die Verwendung der Bezeichnungen einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegen und veränderte Rahmenbedingungen und Paradigmenwechsel dazu führen, dass Begrifflichkeiten variiert, überdacht und neu geschaffen werden. Dies wirkt sich auf die statistische Erfassung und damit auf die Datenbasis aus, die über die Gruppe der Türkeistämmigen in der Bundesrepublik Deutschland vorliegen. Der Begriff „Gastarbeiter“ hat seit den 1960er Jahren Eingang in den Alltagssprachgebrauch gefunden, steht jedoch im eklatanten Widerspruch zum Anwerbeinteresse der Bundesrepublik und den realen Lebensund Arbeitsbedingungen, die mit einem Gaststatus nicht viel gemeinsam hatten (Thränhardt 1984: 115). Darüber hinaus blendet der Gebrauch der männlichen Form des Wortes den verhältnismäßig großen Anteil von Frauen vollkommen aus. Darüber hinaus impliziert er einen vorübergehenden Aufenthalt und eine Außenseiterposition jenseits der Gesellschaft und ihrer Institutionen (Hoffmeyer-

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Zlotnik 1977: 33). Eine weitere bereits in dieser Arbeit verwendete begriffliche Einteilung der Türkeistämmigen erfolgt in Form von Generationen. Dies ermöglicht die Unterscheidung der Lebenszusammenhänge derjenigen, die als erste ihrer Familie nach Westdeutschland eingewandert sind, von den Kindern und Enkeln, die als Familienangehörige einwandern oder aber in der Bundesrepublik Deutschland geboren werden. Die erste Generation unterscheidet sich in Alter, Bildungsstand und Arbeitspraxis von den nachfolgenden Generationen, die als zweite, dritte, vierte Generation bezeichnet werden können, auch wenn die Abgrenzungen keineswegs trennscharf sind. Diejenigen, die als Kinder von Einwanderern in Deutschland geboren sind, werden auch als Postmigranten bezeichnet (Foroutan 2010a). Diese relativ junge Wortschöpfung hebt die Nummerierung der Generationenfolgen auf und setzt dem eine Einteilung entgegen, die auf die Migrationserfahrungen rekurriert. Aufgrund der großen Heterogenität der Einwanderungserfahrungen ist eine klare begriffliche Abgrenzung aber insgesamt eine überaus komplexe Angelegenheit. Für diese Arbeit habe ich mich entschieden, den Begriff der Generation pragmatisch zu verwenden, um eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die als erste Generation auf eigene Initiative nach Deutschland migrieren und ihren Nachkommen vornehmen zu können. Dabei verwende ich die Bezeichnung zweite Generation, wenn die Eltern als erste migriert sind und dritte Generation, wenn die Großeltern als erste migriert sind.7 Davon grenze ich diejenigen als Postmigranten ab, die als Kinder oder Enkelkinder von Türkeistämmigen in Deutschland geboren sind. In den Analysen zur Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland werden Migranten bis in die 1990er Jahre nicht systematisch berücksichtigt oder aber als Sonder- und Problemgruppe getrennt von der Mehrheitsbevölkerung untersucht (Heckmann 1983: 368). Das Sozioökonomische Panel (SOEP) führt seit 1984 die Kategorie „Ausländer“ ein, aber erst ab 2005 werden im Mikrozensus Daten mit der Bezeichnung „Migrationshintergrund“ erfasst, die über die aktuelle

7

Auch Ursula Apitzsch (2009: 49) präferiert die Bezeichnung Generation gegenüber dem Migrationshintergrund. „Subjekte in einem Generationenzusammenhang müssen und werden sich nicht als bewusste Gemeinschaft konstituieren, aber sie können sich doch als gesellschaftliche Akteure verstehen und nicht bloß durch einen ‚Hintergrund‘ Geschädigte.“

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Staatsbürgerschaft und das Geburtsland hinausgehen.8 Dies führt dazu, dass ethno-kulturelle Zusammenhänge stärker berücksichtigt werden, die angesichts des erleichterten Einbürgerungsverfahrens auch offiziell nicht mehr allein durch die Staatsangehörigkeit zum Ausdruck kommen. Damit erfolgt einerseits eine Wertschätzung der gesellschaftlichen Diversität, andererseits jedoch wird die Erhebung und die Auswertung der Daten komplexer und die Vergleichbarkeit von Ergebnissen schwieriger. Darüber hinaus entwickelt sich die Bezeichnung „Migrationshintergrund“ zu einer ebenfalls von Vorurteilen behafteten Kategorie, die jenseits der Statistik wiederum ethnische, kulturelle und religiöse Differenz beschreibt.9 Einen weiteren kritischen Beitrag zum Problem der Vergleichbarkeit der verschiedenen Merkmale von Migrantengruppen leistet Gunilla Fincke (2009: 288). Wenn Migranten aus der Türkei ausschließlich aufgrund der Staatsangehörigkeit in die Analyse gezogen werden, so ergibt sich, dass ihr sozioökonomischer Status im Vergleich mit den anderen Herkunftsgruppen, ebenfalls nach Staatsangehörigkeit differenziert, geringer ist. Wenn die Gruppe der Türkeistämmigen insgesamt, also inklusive der Eingebürgerten mit mindestens einem türkeistämmigen Elternteil betrachtet wird, erhöht sich die sozioökonomische Position erheblich. Ein weiterer forschungskritischer Einwand wird von Heike Diefenbach (2007) angeführt. Sie stellt fest, dass die Forschungslage „insgesamt unbefriedigend, weil unzureichend“ ist. „Erklärungen, auf die am häufigsten rekurriert wird, weil sie offenbar vielen hochplausibel erscheinen, sind eher ernüchternd.“ Außerdem findet sie heraus, dass es „bislang [...] kein statistisches Modell [gibt], mit dessen Hilfe es gelungen wäre, den Effekt des Schülermerkmals ‚Ausländer‘ oder ‚Migrationshintergrund‘ zum Verschwinden zu bringen“ (Diefenbach 2007: 93). Vielmehr ist es die defizitäre Betrachtung kultureller Differenz und kulturel-

8

Seit 2006 existiert eine ausführliche Definition des Statistischen Bundesamtes, was unter „Menschen mit Migrationshintergrund“ verstanden wird: „1. seit 1950 zugewanderte Deutsche, Spätaussiedler, Eingebürgerte zugewanderte Ausländer, 2. Personen mit mindestens einem zugewanderten Elternteil oder Elternteil mit ausländischer Staatsangehörigkeit: Eingebürgerte, nicht zugewanderte Ausländer, Kinder zugewanderter Spätaussiedler, Kinder zugewanderter oder in Deutschland geborener eingebürgerter ausländischer Eltern, Kinder ausländischer Eltern, die bei der Geburt zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben (jus soli), Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund: nur ein Elternteil ist Migrant oder in Deutschland geborener Eingebürgerter/Ausländer.“ (Wippermann/Flaig 2009: 4)

9

Vgl. dazu Eben Louws (2014: 178/179) kritische Anmerkungen zur sozialen und politischen Trageweite des Begriffs „Migrationshintergrund“.

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le Werte, die als hinderlich für den Bildungserfolg identifiziert werden (ebd.: 93). Aufgrund der dargestellten begrifflichen und definitorischen Veränderungen, sind Vergleiche statistischer Daten überaus schwer vorzunehmen. Die Gruppe der Türkeistämmigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterscheidet sich erheblich von der Gruppe der Deutschen mit Wurzeln in der Türkei. Dies führt dazu, dass die folgenden Zusammenfassungen von Datenmaterial aus verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen lediglich Hinweise auf Tendenzen geben, um die Untersuchungsgruppe insgesamt vorzustellen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 2013 insgesamt 15,9 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der BRD. Dies entspricht einem Anteil von 19,7% an der Gesamtbevölkerung. Die meisten von ihnen stammen mit 17,6% aus der Türkei (Statistisches Bundesamt 2014b). Darüber hinaus lebten 2014 1,7 Millionen türkische Staatsangehörige in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2014a). Sie stellen damit die Gruppe mit der nachhaltigsten kollektiven Einwanderungsgeschichte in die Bundesrepublik Deutschland dar. Die Neuzuwanderung aus der Türkei hält trotz des Anwerbestopps und zahlreicher Einschränkungen weiter an. So sind „fast 20% aller türkischen Staatsangehörigen im Erwerbsalter in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen“ (OECD 2005: 16). Außerdem wird ein hoher Anteil – 2003 waren es zum Beispiel ein Drittel – der Visa an türkische Staatsangehörige für Zwecke des Familiennachzugs erteilt. Aufgrund der Beschränkungen des Familiennachzugs im Jahr 2007 sind die Zahlen allerdings rückläufig. Insgesamt ist ein negativer Wanderungssaldo von türkischen Staatsangehörigen zu verzeichnen, das heißt zwischen 2005 und 2010 sind im Durchschnitt jährlich 10.000 Personen türkischer Staatsangehörigkeit mehr aus Deutschland weggezogen als zugezogen sind (Bundeszentrale für politische Bildung 2012). Darüber hinaus sind die Zahlen von Asylantragstellern aus der Türkei, die in der Regel Kurden sind, zurückgegangen.10 Mehr als die Hälfte der türkischen Staatsangehörigen leben seit mehr als 20 Jahren in der BRD, 37,7% mehr als 30 Jahre und 20,2% zwischen 20 und 30 Jahren (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2012). 39,7% derjenigen, die einen Migrationshintergrund mit Herkunftskontext Türkei haben, verfügen über keine eigene Migrationserfahrung. Auch wenn die absoluten Zahlen der Einbürgerungen türkischer Staatsangehöriger zurückgegangen sind, so ist ihr

10 Eine ethnische Binnendifferenzierung wird nicht vorgenommen. Somit ist nur bekannt, wie groß die Anzahl der Asylerstanträge von Personen aus der Türkei ist. 2002 sind es noch 9.600, demgegenüber sind es 2011 nur noch 1.578 Personen, die einen Asylantrag stellen. Der Anteil an den gesamten Asylerstanträgen beträgt 2011 nur 3,4% (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013: 114/115).

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Anteil mit 25% an allen Eingebürgerten hoch (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2012). Im Bereich Bildung wird in Studien immer wieder auf die Defizite der Türkeistämmigen hingewiesen, die im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen und Deutschen ohne Migrationshintergrund schlecht abschneiden. Der Blick auf einen intergenerativen Vergleich führt dazu, dass ein anderes Bild entsteht. 42,4% der türkischen Staatsangehörigen der zweiten und dritten Generation in der Bundespublik Deutschland erreichen einen höheren Bildungsabschluss als die erste Generation (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2012). 22,4% der Türkeistämmigen im Alter von 20 bis 25 Jahren erreichen dem Mikrozensus 2009 zufolge das Abitur oder die Hochschulreife (Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009). Naika Foroutan (2010b: 5) weist darauf hin, dass die Steigerung im Vergleich zur ersten Generation damit 300% beträgt, da diese einen Anteil von nur 3% Abiturienten aufweisen kann. Vergleichbare Unterschiede zeigen sich auch, wenn das Ausbildungsniveau intergenerativ verglichen wird. Abbildung zwei stellt dar, dass in der ersten Generation der türkeistämmigen Migranten 68% ohne eine berufliche Qualifikation, während es in der zweiten Generation nur noch 28% sind (Institut der deutschen Wirtschaft Köln).

Abbildung 2 Anteil unqualifizierter Personen mit türkischem Migrationshintergrund

Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 2011, Berechnungen auf der Grundlage des Mikrozensus 2009 (Angaben in Prozent)

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Die Entwicklung in den Bereichen Bildung und Ausbildung verläuft damit grundsätzlich positiv, was allerdings bei Vergleichen mit anderen Herkunftsgruppen nicht in dieser Form deutlich wird, da die Türkeistämmigen im Vergleich geringere Abiturquoten erreichen. Allerdings kann festgestellt werden, dass die Türkeistämmigen die größte Dynamik zeigen und sich hier Veränderungen abzeichnen, die auf kontinuierliche Bildungsaufstiege hindeuten. „Wenn Kinder von Migranten deutlich häufiger das Abitur machen als ihre Eltern, zeigen sie, dass sie die Angebote des deutschen Bildungssystems zu nutzen wissen und dass sie sich dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung annähern oder diesen sogar hinter sich lassen.“ (Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009: 33)

Die Folge der schlechteren Schulergebnisse ist, dass der Einstieg in Ausbildung Beruf und damit die langfristige Partizipation am Arbeitsmarkt für Türkeistämmige im Vergleich zu anderen Migrantengruppen problematisch ist. Korrespondierend zu den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich, dass Migranten aus der Türkei auch in den jüngeren Jahrgängen gegenwärtig in besonders hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Arbeitslosenzahlen von türkischen Staatsangehörigen sind mit einem Durchschnitt von 31,2% im Jahr 2011 hoch und liegen weit über den Quoten für EU-Ausländer und deutsche Staatsangehörige. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass lediglich 24,4% der türkischen Staatsangehörigen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, ihr Anteil an den geringfügigen Beschäftigungen aber 25,1% beträgt (Bundesagentur für Arbeit 2013). In der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit wird aufgrund einer Verordnung aus dem Jahr 2010 der Migrationshintergrund in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen. Die Auswertungen für das Jahr 2011 zeigen, dass die Arbeitslosenquote von Personen mit Migrationshintergrund bei 9,5% liegt (die der Deutschen liegt bei 5,9%). In den neuen Bundesländern (ohne Berlin) liegt die Arbeitslosenquote sogar bei 20,4% (Bundesagentur für Arbeit 2013). Eine Differenzierung nach Herkunftskontexten erfolgt dabei aber nicht, so dass die Gruppe der Türkeistämmigen darin nicht gesondert aufgeführt wird. Laut Mikrozensus, der eine solche Differenzierung vornimmt, waren 2009 18,2% der türkeistämmigen Männer und 11,8% der Frauen erwerbslos. Insgesamt sind die Erwerbsquoten von türkeistämmigen Männern mit 59,5% und Frauen mit 46,1% im Vergleich zu anderen Gruppen (zwischen 70 und über 80% bei Männern, zwischen 60 und über 70% bei Frauen) geringer. (Statistisches Bundesamt 2011) Auch im Hinblick auf die Gefährdung durch Verarmung zeigen die Zahlen des Mikrozensus 2013, dass Türkeistämmige insgesamt mit einer Quote von 35,7% einem erheblich höheren Armutsrisiko ausge-

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setzt sind, als es für Deutschland insgesamt mit 15,5% besteht.11 Auch türkeistämmige Erwerbstätige weisen dabei eine Gefährdungsquote von 20% auf, während die Quote für Erwerbstätige in Deutschland insgesamt bei nur 6,3% liegt (Statistisches Bundesamt 2014b). Besonders aufschlussreich ist auch ein intergenerativer Vergleich statistischer Daten zur beruflichen Situation türkeistämmiger Männer, der von Gunilla Fincke (2009) durchgeführt wurde. Abbildung drei zeigt, dass der Anteil der Beschäftigten in den einfachen manuellen Berufen bei der zweiten Generation zurückgeht, während er in den Kategorien mit höheren Qualifikationen ansteigt. Im Bereich der qualifizierten Dienstleistungen und Technikerberufe ist sogar eine Verdreifachung des Anteils zu verzeichnen, während der Anstieg in der höchsten beruflichen Kategorie wesentlich geringer ist. Gleichbleibend ist jedoch der Anteil der Beschäftigten im Bereich der qualifizierten manuellen Berufsgruppen und die Anteile derjenigen, die ohne Erwerbsarbeit sind, sind angestiegen.

11 Die Armutsrisikoquote des Mikrozensus 2013 bezieht sich auf Personen, die über ein Einkommen verfügen, das unterhalb von 60% des Durchschnittseinkommens liegt (Statistisches Bundesamt 2014b).

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Abbildung 3 Vergleich der ersten und zweiten Generation türkeistämmiger Männer anhand von Berufskategorien

Berufliche Kategorien auf der Grundlage der „Blossfeld-Skala“12

Männer der ersten Generation13

Männer der zweiten Generation

Kat. 1: Arbeitslose und arbeitssuchende Nichterwerbspersonen

21 %

26 %

Kat. 2: Einfache manuelle Berufe, einfache Dienstleistungsberufe

47 %

30 %

Kat. 3: Qualifizierte manuelle Berufe, einfache kaufmännische und verwaltende Berufe

24 %

24 %

Kat. 4: Qualifizierte Dienstleistungen, Technikberufe, qualifizierte Verwaltungsberufe

5%

15 %

Kat. 5: (Semi-) Professionen, Manager, Ingenieure

3%

5%

Quelle: Auszug aus Berechnungen von Gunilla Fincke (2009: 147) auf der Grundlage des Mikrozensus 2005 und der Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder

Wie im Bereich der Erwerbstätigkeit zeigt sich bei der Wohnsituation ein heterogenes Bild. So ist gerade in den Ballungszentren seit Jahrzehnten die Entstehung und Verstetigung von Wohnquartieren mit hohem Anteil an türkeistämmiger Wohnbevölkerung zu beobachten. Für Nordrhein-Westfalen liegen Zahlen vor, nach denen 20% in Stadtteilen wohnen, in denen die Zahl der Zuwanderer überwiegt. Die überwiegende Mehrheit wohnt aber mit 56,6% in überwiegend

12 Die insgesamt zwölf Beschäftigungskategorien wurden von Hans Peter Blossfeld (1985) auf der Grundlage von Volkszählungsdaten von 1970 entwickelt und ermöglichen einen Vergleich des sozialen Status, der mit den Berufen einhergeht (Fincke 2009: 144). Beispiele für Kategorie zwei sind Straßenbauer, Kellner, Gebäudereiniger, für Kategorie drei Elektriker, Schlosser, Verkäufer, für Kategorie vier Polizist, Bautechniker, Bankkaufleute und für Kategorie fünf Krankenpfleger, Sozialpädagoge, Gymnasiallehrer, Geschäftsführer, Architekt. 13 Gunilla Fincke (2009: 84) bezeichnet diese Gruppe als „Erste und Anderthalbte Generation“. Die „Anderthalbte Generation“ sind für sie diejenigen, die im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren in Begleitung ihrer Eltern eingewandert sind.

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deutschen und 19,8% in Stadtteilen mit gleichgewichteter Bevölkerung (Sauer 2011). Die Zufriedenheit der Türkeistämmigen in Nordrhein-Westfalen mit den Wohnverhältnissen ist dort am geringsten, wo sie überwiegend mit Türkeistämmigen wohnen, was auch am schlechten baulichen und infrastrukturellen Zustand der Wohngebiete mit hohem Zuwandereranteil liegt. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre verfügen 11% der türkischen Haushalte über Wohneigentum in der Bundesrepublik Deutschland (Şen/Goldberg 1994: 31). Im Jahr 2006 besitzen bereits 20,8% ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung (Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 2008: 23). Bereits seit den 1990er Jahren liegen Hinweise dafür vor, dass beginnend bei der Bewertung von Schulleistungen über die Empfehlung einer weiterführenden Schule bis hin zur Auswahl durch die Personalverantwortlichen von Firmen und öffentlichen Einrichtungen das Tragen eines türkischen Namens bedeuten kann, auch bei gleichen Leistungen schlechter bewertet bzw. als nicht geeignet abgewiesen zu werden (Velling 1995; Goldberg/Mourinho/Kulke 1995). Auch Heike Diefenbach (2007) untersucht vorliegendes Datenmaterial und Studien seit den 1970er Jahren daraufhin, inwieweit sie Erklärungen für die andauernde Bildungsbenachteiligung von Kindern aus Migrantenfamilien liefern. Sie stellt fest, dass kulturelle Zuschreibungen und Vorurteile vor allem den türkeistämmigen Migranten gegenüber dazu führen, dass sie insgesamt benachteiligt werden. So stellt sie fest, dass im Zeitraum 1986 bis 2006 Kinder aus Haushalten „mit türkischem Haushaltsvorstand“ zu 72,8% auf die Hauptschule kommen und nur 5,7% in dieser Familienkonstellation einen Übergang auf ein Gymnasium erreichen (Diefenbach 2007: 54). Im Vergleich dazu sind es in der Gruppe der deutschen Haushalte nur 47,1%, die auf die Hauptschule kommen, während 29,9% den Übergang auf ein Gymnasium erreichen. Sie vermutet hier einen überproportionalen Einfluss von diskriminierenden Haltungen bei denjenigen, die über den Bildungsweg entscheiden. Auch Helena Flam (2007: 139; 204) führt die Diskrepanzen darauf zurück, dass alle Migranten beim Zugang zum Arbeitsmarkt von „gesetzlicher Diskriminierung“ betroffen sind und darüber hinaus vor allem die Türkeistämmigen von den Gatekeepern in staatlichen Institutionen, Gewerkschaften und Unternehmen als „fremde, kulturferne Gruppe“ abgelehnt und abgewiesen werden. Eine aktuellere Studie des Liljeberg-Instituts (Info Research Group 2012) fragt deshalb nach Diskriminierungserfahrungen von Türkeistämmigen in Deutschland. 28% von ihnen sagen, dass sie am Arbeitsplatz Beschimpfungen wegen ihrer „türkischen Herkunft“ erfahren haben. In der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen sind es 40%, die der Aussage zustimmen, dass sie in der Öffentlichkeit wegen ihres „türkischen Aussehens“ beschimpft wurden. Trotzdem stimmten in einer Befragung 87% der Aussage zu: „Alles in Allem

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war es richtig, dass ich bzw. meine Familie nach Deutschland gekommen sind“ (Sinus Sociovision 2009). Davon ausgehend stellt sich die Frage nach Identität und Zugehörigkeit, mit der sich die Fallstudie „Selbstverortungen und Zugehörigkeitsgefühlen“ von Türkeistämmigen in Deutschland beschäftigt (Sackmann 2004). Daraus geht hervor, dass sich 46% der Befragten als Türke oder Türkin verorten und 29% als Deutsche bzw. Deutscher. Nur 7% bezeichnen sich in erster Linie als Muslimin oder Muslim (Sackmann 2004: 121). Zur Lokalisierung von Zugehörigkeit kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „42% der Befragten der ersten Generation die Stadt (in der sie leben) oder Deutschland als ersten Zugehörigkeitsort“ benennen und bei der zweiten Generation sind es 55%. Insgesamt zeichnet sich aber auch ab, dass die regionale Identifikation mit der Stadt/dem Stadtteil, in dem die Befragten leben, größer ist, als Zugehörigkeitsgefühle zu Deutschland. Die Frage „Welchem Ort fühlen Sie sich in erster Linie zugehörig?“ beantworten 47% der Befragten der zweiten Generation mit „Die Stadt, der Stadtteil“, nur 8% nennen Deutschland. (ebd. 2004: 124) Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass „Selbstverortungen in der Gruppenperspektive und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft (repräsentiert durch den lokalen Ort oder durch den Landesnamen) bei den [...] befragten Zuwanderern in vielen Fällen auseinanderfallen“ (ebd. 2004: 124). Eine weitere wesentliche Erkenntnis besteht darin, dass die Selbstbezeichnung als Türke oder Türkin keine direkte Verbindung zu einer Lokalisierung der Zugehörigkeit zur Türkei bedeutet, gleichzeitig aber auch nur von wenigen gesagt wird, dass Deutschland als Ganzes der Platz ist, an dem Zugehörigkeit verortet wird. Insgesamt weisen die Ergebnisse auf eine regionale Lokalisierung von Zugehörigkeit bezogen auf die Stadt oder einen bestimmten Stadtteil hin. Zum Forschungsthema der Arbeit liegen bezogen auf den Zusammenhang von Arbeit und Migration hinsichtlich der Türkeistämmigen in der Bundesrepublik Deutschland kaum Daten vor. Ausnahmen sind lediglich die zwei bereits erwähnten Milieustudien privater Forschungseinrichtungen. So stimmen 92% der Aussage zustimmen „zu einem erfüllten Leben gehört die Arbeit/der Beruf dazu“ (Info Research Group 2012). 44% der Befragten finden es korrekt zu sagen „Ein Beruf ist nur ein Mittel, um Geld zu verdienen – nicht mehr“. In der Studie zu den Lebenswelten von Migranten in Deutschland (Sinus Sociovision 2009) sind zudem 63% der türkeistämmigen Befragten der Meinung „Jeder, der sich anstrengt, kann sich hocharbeiten“.

3. Methoden und Forschungsdesign

3.1 I NTERPRETATIVE M ETHODEN DER S OZIALFORSCHUNG Im Zentrum der interpretativen Methoden der Sozialforschung stehen die Untersuchung von Unbekanntem und Neuem und davon abgeleitet der Nachvollzug des subjektiv gemeinten Sinns sowie die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Einzelfall, dessen komplexe Handlungszusammenhänge aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert werden. Damit kann auch soziales Handeln gesellschaftlicher Gruppen und komplexer sozialer Milieus untersucht werden, um sich der Beantwortung zentraler sozialwissenschaftlicher Fragen anzunähern, wie sie Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer-Rosenthal formulieren. „Wie können Menschen, die als Einzelne immer auch Verschiedenes erleben, dennoch kooperieren? Wenn es für die Mitglieder einer Gesellschaft ganz normal ist, dass man ständig mit Erlebnissen und Erfahrungen anderer zu rechnen hat, bei denen man nicht selbst anwesend und beteiligt war, wie lässt sich Erwartungssicherheit im Umgang miteinander herstellen? Wie kann eine gemeinsam geteilte Welt erzeugt werden, in der man sich orientiert bewegen kann, von der man annehmen kann, dass sie für alle in gleicher Weise für alle praktischen Zwecke ausreichend ‚wirklich‘ ist.“ (Rosenthal/ FischerRosenthal 2000: 256/57)

Die Hypothesen- und Theoriebildung der interpretativen Methoden ist empirisch begründet und bezieht sich auf den Einzelfall, der damit einerseits aus dem Allgemeinen herausgelöst wird, andererseits aber theoretisierend verallgemeinerbar wird. Qualitative Verfahren sind vor allem dadurch gekennzeichnet, „dass die vorhandenen Erwartungen und theoretischen Überzeugungen nach Möglichkeit offenen Charakter haben sollen“ (Hopf 1993: 15). Eine Grundannahme besteht

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in der Position, dass „Menschen auf der Grundlage ihrer Deutungen der sozialen Wirklichkeit handeln und diese Wirklichkeit nach bestimmten sozialen Regeln immer wieder neu interaktiv handelnd herstellen“ (Rosenthal 1995: 39). Hinsichtlich der methodischen Einteilungen und Unterschiede zwischen den qualitativen und quantitativen Verfahren der Sozialforschung weist Gabriele Rosenthal (2005) darauf hin, dass unter der Bezeichnung qualitative Methoden eine Vielzahl verschiedener grundlagentheoretischer Positionen subsumiert werden können. Dies wird durch die verwendeten Bezeichnungen der methodologischen Konzeptionen deutlich. Sozialforscher, die in der Tradition der Chicago School und des Symbolischen Interaktionismus stehen, bevorzugen zur Verdeutlichung ihrer Position und zur Abgrenzung von anderen Konzepten die Bezeichnung „interpretative“ Methoden. In Abgrenzung zu „normativen“ Verfahren geht das interpretative Paradigma davon aus, dass der Mensch ein handelnder und erkennender Organismus ist.1 Eine weitere begriffliche und konzeptionelle Unterscheidung orientiert sich an der Differenzierung von Methoden als „sensitizing“ oder „definitive“.2 „Sensibilisierende Konzepte dürfen also nicht vor einer empirischen Untersuchung (etwa durch eine genaue Definition und Operationalisierung) präzisiert werden, ihre Konkretisierung muss vielmehr in Auseinandersetzung mit der Realität einer sozialen Lebensform stattfinden.“ (Kelle/Kluge 1999: 27)

Joachim Matthes verwendet den Oberbegriff „erzählanalytische Verfahren“ und meint damit Methoden, „die mit dem Material erzählter Geschichten arbeiten, gleich wie solche Erzählungen gewonnen worden sind und auch gleich welcher besonderen Art solche Erzählungen sind“ (Matthes 1985: 311; Anm. 1) Ralf Bohnsack (2007) unterscheidet zwischen „rekonstruktiven“ Verfahren in Abgrenzung von „hypothesenprüfenden“ Verfahren. Rekonstruktive Verfahren stellen „innovative Methodologien“ dar, die aus der Forschungspraxis heraus entwickelt wurden. Es besteht deshalb eine „reflexive Beziehung“ zwischen „methodischen Regeln“ und der Forschungspraxis (Bohnsack 2007: 10). Dem rekonstruktiven Verständnis dieser Forschungsrichtung schließen sich auch Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr an.

1

Die Bezeichnungen gehen auf Thomas Wilson (1970/1973 in: Rosenthal 2005: 14) zurück.

2

Dieses Begriffspaar verwendet Herbert Blumer (1954 in: Kelle/Kluge 1999: 25f.).

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„Sozialwissenschaftliche Konstruktionen basieren auf alltäglichen Konstruktionen: Es handelt sich um Interpretationen bzw. Konstruktionen zweiten Grades. Das Verhältnis qualitativer Methoden zu ihrem Gegenstand ist deshalb ein rekonstruktives.“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 27)

Ein Beispiel für eine frühe interpretative Forschungsarbeit ist die Untersuchung der Alltagswelten des „Polish peasant in America and Europe“ von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki. „Indem wir die Erfahrungen und Einstellungen eines einzelnen Menschen analysieren, erhalten wir immer Daten und elementare Fakten, die nicht ausschließlich auf dieses Individuum begrenzt sind, sondern die als mehr oder weniger allgemeine Klassen von Daten und Fakten behandelt werden und so für die Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten des sozialen Prozesses genutzt werden können“. (Thomas/Znaniecki 1958 II, S. 1831 f. zitiert in: Rosenthal 2005: 36)

Im deutschsprachigen Raum werden durch die umfangreiche Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld (1975) grundlegende Vorarbeiten für die Etablierung interpretativer Methodologien in den Sozialwissenschaften geleistet. Durch eine umfangreiche Zusammenstellung von Daten, Dokumenten und biographischen Selbstzeugnissen für eine Analyse sozialer Milieus und der Interpretation individueller Erfahrungen wird dem grundsätzlichen Problem der Sozialwissenschaften nachgegangen. Marie Jahoda formuliert in einem Interview als Ziel der Sozialwissenschaften „to make invisible things visible“ (Fryer 1986: 108). Durch diese frühen sozialwissenschaftlichen Studien wird ein entscheidender methodologischer Paradigmenwechsel in die Wege geleitet, der sich kritisch damit auseinandersetzt, dass die empirischen Gesellschaftswissenschaften in ihrer Forschungspraxis daran arbeiten, alle kommunikativen Begleiterscheinungen, die das Instrument der Befragung hervorbringt, durch spezielle Interviewtechniken zu „verbannen“ (Schütze 1976b: 40). Ein Hauptarbeitsfeld besteht deshalb vor allem darin, Methoden der Datengewinnung jenseits der in dieser Phase dominanten an die Naturwissenschaften angelehnten Verfahren zu entwickeln. Darüber hinaus erfolgt eine Adaption ethnographischer Methoden für die Untersuchung von Phänomenen der „eigenen Gesellschaften“, die die „Arbeitsteilung“ zwischen der Ethnologie und der empirischen Sozialforschung aufhebt (Shimada 2008: 265). Das Forschungsparadigma des Symbolischen Interaktionismus stellt die „grundlagentheoretischen Voraussetzungen für methodisch kontrolliertes Fremdverstehen“ bereit, wenn davon auszugehen ist, dass Gesellschaft von „Individuen in symbolischen Interak-

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tionen erzeugt und abgewandelt wird“ (Maindok 1996: 99). Als die Forschungsansätze der Chicago School in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland rezipiert werden, ist es die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, die sie als methodologisches Konzept der „Kommunikativen Sozialforschung“ verbreitet (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973; 1976). Das Verständnis der „soziologischen Methode als Kommunikation“ bedeutet, dass in der Forschungspraxis die „Regeln der alltagsweltlichen Kommunikation“ in den Mittelpunkt gestellt werden (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973: 434). Es wird untersucht, wie „interaktive Erkenntnis- und Handlungsvollzüge [...] überhaupt bewältigt werden können, was die unabdingbaren Leistungen und Regelvoraussetzungen des Erkenntnis- und Handlungsvollzuges sind – kurz, wie ihre elementare Konstitution abgewickelt wird“ (Schütze 1976a: 177). Ein weiteres theoretisches und methodologisches Fundament für interpretative Forschungsverfahren findet sich in der „Grounded Theory“ von Barney Glaser und Anselm Strauss (Glaser/Strauss 1993; Glaser/Strauss 1998; Glaser 2011 und Strauss 1991). Ihre Konzeption der „gegenstandsbezogenen Theorie“ wird in Theorie und Praxis der Sozialwissenschaften vielfach diskutiert, angewendet und modifiziert. „Wenn wir von der Entdeckung gegenstandsbezogener Theorien sprechen, meinen wir die Formulierung von Konzepten und deren Beziehungen zu einem Satz von Hypothesen für einen bestimmten Gegenstandsbereich.“ (Glaser/Strauss 1993: 91) Es werden „Kategorien oder ihre Eigenschaften auf der Grundlage von Belegen“ entwickelt, die sich aus dem Datenmaterial ableiten lassen (Glaser/Strauss 1998: 33). „Die perfekte Beschreibung des Feldes“ ist nicht das Ziel der Methode, vielmehr geht es um die Entwicklung bzw. „Entdeckung“ einer Theorie, „die dem relevanten Verhalten weitgehend Rechnung trägt.“ (ebd.: 40) Es erfolgt keine Quantifizierung der zur Entwicklung der Theorie relevanten Fälle, sondern eine Verankerung der Hypothesen in der Empirie (ebd.: 49). Der zeitliche Zusammenhang von Datenerhebung und Datenauswertung hat einen „unmittelbaren Einfluss auf die Art und Weise, in der der Forscher zu einem Abschluss seiner Arbeit kommt“ (Glaser/Strauss 1993: 95). Dabei wird ein möglichst großer und breiter Datenkomplex unter der Vorgabe „all is data“ (Glaser 2011: 148) in die Untersuchung einbezogen, was zur Folge hat, dass „aus völlig unterschiedlichen Materialien [...] in der Sozialforschung unentbehrliche Daten“ werden (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008: 189). Die empirische Arbeit erfordert eine umfassende „theoretische Sensibilität“, die in der Fähigkeit besteht, „über empirisch gegebenes Material in theoretischen Begriffen zu reflektieren“ (Kelle/Kluge 1999: 25; Herv.i.O.). Das interpretative Forschungsparadigma folgt in Theorie und praktischer Anwendung den Grundsätzen der Kommunikation und der Offenheit, die den

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unterschiedlichen Verfahren und Konzepten gemeinsam sind. Das Prinzip der Kommunikation basiert darauf, dass die alltagsweltliche Interaktion den Forschungsprozess strukturiert und damit das Forschungshandeln „eine Art sozialer Interaktion“ ist, innerhalb derer die Datenerhebung in kommunikativen Prozessen erfolgt (Maindok 1996: 103). Im Vordergrund des Interesses steht dabei die Erhebung von Material, das die Alltagswelt und die Praxis sozialen Handelns aus der Perspektive der Handelnden selbst erfassen kann. Neben der Methode des offenen, unstrukturierten Interviews sind es auch die Datensammlungsinstrumente der teilnehmenden Beobachtung, Gruppendiskussionen und Familiengespräche, in der Interaktionen der Alltagshandelnden methodisch kontrolliert erfasst werden können. Insgesamt ergibt sich daraus eine kommunikative „Verschränkung von Theorie, Gegenstandsbezug und Methode“ bei der Untersuchung sozialer Phänomene und der Handlungspraxis gesellschaftlicher Akteure (ebd.: 100). Das zweite Prinzip besteht in der grundsätzlichen Offenheit der Forschung und des gesamten Forschungsprozesses. Es bezieht sich sowohl auf die Phase der Datengewinnung als auch auf den Auswertungsprozess. Für die Erhebungssituation bedeutet dies Offenheit im Hinblick auf die Auswahl der Instrumente der Datengewinnung, der Konstitution von Gesprächssituationen und dem Verlauf des Forschungsprozesses. Die Forschungsfrage wird offen formuliert und kann damit im Verlauf der Untersuchung modifiziert werden. Der Forschungsgegenstand wird zunächst vorläufig und vage benannt, um dann im Zuge erster Erkenntnisse aus der Datenauswertung spezifiziert und modifiziert zu werden. Damit werden vorab bestehende Annahmen und Alltagstheorien, die sich auf den zu untersuchenden Gegenstand beziehen, möglichst ausgeblendet und lassen eine enge Ausrichtung und Modifikation der Forschungsfragen auf der Grundlage der im Forschungsprozess herauszuarbeitenden Relevanzsysteme der Alltagshandelnden zu (Rosenthal 2005: 53). Barney Glaser und Anselm Strauss (1998: 47) gehen sogar soweit, dass sie empfehlen, „die Literatur über Theorie und Tatbestände des untersuchten Feldes zunächst buchstäblich zu ignorieren“. Dies kann allerdings auch bedeuten, dass unüberschaubar große Datenmengen produziert werden, die die Analyse unter Umständen wesentlich erschweren oder unmöglich machen. Deshalb ist eine pragmatische Strukturierung erforderlich, um zu verhindern, dass „sich der Forscher der Realität nicht als einer tabula rasa [annähert]. Er muss eine Perspektive besitzen, die ihm die relevanten Daten (wenn auch noch unscharf) und die signifikanten Kategorien aus seiner Prüfung der Daten zu abstrahieren erlaubt“ (ebd.: 13, FN 3). Die Hypothesenbildung erfolgt im Verlauf des Forschungsprozess auf der Grundlage des erhobenen Materials. Die entstehenden Hypothesen werden an-

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hand des Datenmaterials überprüft und weiter entwickelt. Dieses Verfahren der „Abduktion“ unterscheidet sich maßgeblich von den deduktiven, das heißt Hypothesen prüfenden Verfahren der empirischen Wissenschaften (Reichartz 2011). „Abduktionen erfordern eine Revision bisheriger Annahmen. Elemente bislang für sicher gehaltener Wissensbestände werden aufgegeben, modifiziert, voneinander getrennt und neu kombiniert.“ (Kelle/Kluge 1999: 24) Die theoretische Stichprobe wird auf der Grundlage der erhobenen Daten parallel zum Prozess der weiteren Datengewinnung vorgenommen. Auch dieses Vorgehen der theoretischen Stichprobenziehung findet sich im Konzept der Grounded Theory von Barney Glaser und Anselm Strauss. „Das Theoretische Sampling ist ein Verfahren, bei dem sich der Forscher auf einer analytischen Basis entscheidet, welche Daten als nächstes zu erheben sind und wo er diese finden kann.“ (Strauss 1991: 70; Herv.i.O.) Die Entscheidungsprozesse richten sich dabei nach den folgenden Fragen: „Welchen Gruppen oder Untergruppen von Populationen, Ereignissen, Handlungen (um voneinander abweichende Dimensionen, Strategien usw. zu finden) wendet man sich bei der Datenerhebung als nächstes zu? Und welche theoretische Absicht steckt dahinter?“ (Ebd.: 70; Herv.i.O.)

Im Laufe dieses Verfahrens wird die Datensammlung so weit geführt, bis eine „theoretische Sättigung“ erreicht wird, also keine neuen Aspekte mehr hinzukommen. Die Schwierigkeit dieser Vorgehensweise besteht darin, sicherzustellen, „dass für die Untersuchungsfragestellung und das Untersuchungsfeld relevante Fälle in die Studie einbezogen werden“ (Kelle/Kluge 1999: 39).

3.2 B IOGRAPHISCHE F ORSCHUNG IN DEN S OZIALWISSENSCHAFTEN Einer der Anwendungsbereiche interpretativer Verfahren der Sozialforschung ist die Biographieforschung, deren Anfänge auf die bereits vorgestellte Untersuchung zum „The Polish Peasant in Europe and America“ von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki zurückgehen. Ab den 1970er Jahren findet die Beschäftigung mit biographischem Material in der Lebenslaufforschung (Kohli 1984) ihren Niederschlag und führt dazu, dass die Untersuchung von Lebensgeschichten verstärkten Eingang in die Sozialwissenschaften findet. Damit wird ein „Boom der interpretativen Biographieforschung“ eingeleitet (Rosenthal 1995: 162). Weitere Anwendungsgebiete entwickeln sich auch in den Erziehungswis-

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senschaften und der Oral History in den Geschichtswissenschaften. Dies liegt auch daran, dass gerade die Biographieforschung über Konzepte und Methoden verfügt, um „die Brüche, Krisen und Wendepunkte im menschlichen Leben“ sichtbar zu machen (Oevermann 2000: 171). Gerade in Bezug auf die Arbeitswelt bedeutet dies, dass die Beschäftigung mit Biographien Antworten auf die Frage bietet, „wie lebensgeschichtliche Diskontinuitäten und Brüche lebenspraktisch verarbeitet werden“ (Schäfer/Völter 2005: 165). Monika Wohlrab-Sahr (1995) betrachtet gerade die individuellen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Institutionen vor dem Hintergrund der zu beobachtenden Transformationen als ein besonders aufschlussreiches Untersuchungsfeld der Biographieforschung. „Vor diesem Hintergrund kann man davon ausgehen, dass gerade in Biographien, die auf Institutionen Bezug nehmen, die sich für die Bewältigung von Strukturbrüchen oder für zeitweilige bindungsentlastende Reflexivität in besonderer Weise anbieten – seien es Institutionen des Erwerbssystems oder des Familiensystems – ein allgemeines Merkmal zeitgenössischer Biographien in prägnanter Weise erkennbar wird.“ (Wohlrab-Sahr 1995: 236)

Darüber hinaus liefert die Biographie den gestalterischen Spielraum der Individuen, um „zu definieren, was Erfolg ist“ (Giegel 1995: 214). Allerdings kommt es darauf an, ob die biographische Selbstpräsentation konzeptionell auf die berufliche Laufbahn fokussiert wird oder sich auf die gesamte Lebensgeschichte bezieht. „Wer keine Ausbildung hat, unter prekären Bedingungen gearbeitet und dabei nicht viel verdient hat, aufgrund hoher Arbeitsbelastungen erkrankt und am Ende vielleicht in die Dauerarbeitslosigkeit, aus der es kein Entrinnen mehr gibt, absinkt, der mag hinsichtlich einzelner Phasen seiner Berufsbiographie immer noch Genugtuung verspüren, hinsichtlich des Gesamtverlaufs seiner Berufsbiographie wird er nicht umhinkönnen, sie in hohem Maße als problematisch, wenn nicht für gescheitert zu erklären.“ (Ebd.: 214)

Gerade vor dem Hintergrund weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen stellt die Biographieforschung ein „Mittel sozialer Strukturierung“ zur Verfügung und weist dabei „einen Weg aus der dualistischen Sackgasse von Subjekt und Gesellschaft“ (Rosenthal 1995: 11/12). Für das Verständnis von Biographien ist es dabei zentral, die biographischen Deutungsmuster und Interpretationen der Alltagshandelnden mit der rekonstruierten Lebensgeschichte in Bezug zu setzen (Schütze 1983: 284). Notwendig ist deshalb eine Erhebungsmethode, die

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„Primärdaten erfasst, deren Analyse auf die zeitlichen Verhältnisse und die sachliche Abfolge der von ihnen repräsentierten lebensgeschichtlichen Prozesse zurückschließen lässt. Diese Bedingungen werden von autobiographischen Stehgreiferzählungen erfüllt, wie sie mit Mitteln des narrativen Interviews hervorgelockt und aufrechterhalten werden können“ (ebd.: 285). So kann im Rahmen der Auswertung von narrativ generiertem Material „zwischen den bekundeten Handlungsabsichten und Theorien über das eigene Selbst einerseits“ wie auch der „im Schatten dieser Theorien dokumentierenden Handlungspraxis sowie den Prozessen des Erleidens andererseits“ unterschieden werden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 34). Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion von erinnerten Handlungsabläufen und Erfahrungen der Autobiographen. „Wenn wir uns nicht damit zufrieden geben wollen, nur etwas über die übersituativen Einstellungen und Alltagstheorien der Befragten zu erfahren, die von den Erlebnissen und Erinnerungen abgehoben sind, und wenn wir nicht den sozialwissenschaftlich verbreiteten Dualismus von Denken und Handeln vertiefen wollen, sondern wenn wir rekonstruieren wollen, was die Menschen im Laufe ihres Lebens erlebt haben, und wie dieses Erleben ihre gegenwärtigen Perspektiven und Handlungsorientierungen konstituiert, dann empfiehlt es sich, Erinnerungsprozesse und deren sprachliche Übersetzung in Erzählungen hervorzurufen.“ (Rosenthal 2005: 141)

Durch die Gegenüberstellung von erzählter und erlebter Lebensgeschichte ist ein Zugang zum „Relevanzsystem der Alltagshandelnden“ möglich. „Die erzählte Lebensgeschichte konstituiert sich wechselseitig aus dem sich dem Bewusstsein in der Erlebnissituation Darbietenden und dem Akt der Wahrnehmung, aus den aus dem Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten Erlebnissen und dem Akt der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte stehen in einem sich wechselseitig konstituierenden Verhältnis.“ (Rosenthal 1995: 20)

Dabei besteht die Lebensgeschichte aus einer „sequentiell geordnete[n] Aufschichtung größerer und kleinerer Prozessstrukturen“ (Schütze 1983: 284). Durch die Rekonstruktion der Relevanzsysteme der Handelnden entsteht eine „biographische Gesamtsicht“, die eine sozial konstruierte Grundlage der Interaktion der Subjekte darstellt (Rosenthal 1995: 13). Die „biographische Selbstrepräsentation“ ist der erzählten Lebensgeschichte übergeordnet und wird in verschiedenen Textsorten, Darstellungsformen, Selbstzeugnissen und anderen Dokumenten zum Ausdruck gebracht. Gabriele Rosenthal (ebd.: 17) sieht das Wesentliche

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in der „Wechselwirkung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem.“ Dabei wird sowohl rekonstruktiv wie auch sequentiell gearbeitet. Die Rekonstruktionen erfolgen entlang der latenten Sinnstrukturen, „also der Bedeutungsgehalte, die den Befragten selbst nicht zugänglich sind“ (Rosenthal 2005: 177). Die Selbstdeutungen der Befragten und die von ihnen übermittelte „Plausibilität“ werden entlang „anderer möglicher Bedeutungen“ und ihren jeweiligen „möglichen Bedeutungshorizonten“ am Material hypothetisch überprüft und weiterentwickelt (ebd.: 177). Die sequentielle Analyse von Texteinheiten beruht auf der Annahme, „dass alle Erscheinungsformen von humaner Praxis durch Sequenziertheit strukturiert bzw. konstituiert sind“ (Oevermann 2000: 64). Gabriele Rosenthal (2005: 73) betrachtet es deshalb als wesentlich für die Rekonstruktion der „im prozessualen Geschehen immer wieder neu herzustellenden und sich verändernden sozialen Wirklichkeit“, ein Verfahren anzuwenden, „bei dem danach gefragt wird, welcher Möglichkeitshorizont bei einer bestimmten Sequenz offen steht, welche Auswahl der Handelnde oder die Gesprächspartner vornehmen, welche Wahlmöglichkeiten sie außer Acht lassen und was daraus für die Zukunft folgt.“ Die Aufschlüsselung der sequentiellen Gestalt von Texten bringt zum Vorschein, dass „jedes scheinbare Einzel-Handeln [...] sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden [ist] und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelmäßige Anschlüsse“ (Oevermann 2000: 64). Im Rahmen der theoretischen Stichprobe wie sie unter anderem Wolfram Fischer-Rosenthal und Gabriele Rosenthal (1997; Rosenthal 2005) in Anlehnung an Barney Glaser und Anselm Strauß (1998) durchführen, bilden die ersten geführten Interviews die erste theoretische Stichprobe. Es werden Memos bzw. Globalanalysen zu allen Interviews angefertigt. Ein erstes Interview wird zur Transkription und Auswertung ausgewählt. Danach werden weitere Interviews ausgewählt (2. theoretische Stichprobe), transkribiert und ausgewertet. Die Auswahl kann entsprechend bestimmter Kriterien wie „ganz anders“ oder „ähnlich“ erfolgen. Die Verteilung der Stichprobe erfolgt anhand der im Laufe des Forschungsprozesses erkannten theoretischen „Typen“ (zum Beispiel Gender, Generation, Erwerbssituation). „Sowohl bei der Bildung des ersten Samples (der zu führenden Interviews) wie des zweiten Samples (der Auswahl zur Fallrekonstruktionen) orientiert man sich nicht an formalen Verteilungskriterien, sondern am theoretisch interessanten Fall und dem Kriterium der Varianz

mit

dem

Ziel

der

Rosenthal/Rosenthal 1997: 151)

Rekonstruktion

unterschiedlicher

Typen.“

(Fischer-

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Die Anzahl der einzubeziehenden Interviews ist demzufolge offen und entscheidet sich im Verlauf der Forschung entsprechend der „theoretischen oder auch typologischen Varianz des Feldes“ (ebd.: 151f.). So erfolgt die Verteilung der theoretischen Stichprobe anhand der im Laufe des Forschungsprozesses herauszuarbeitenden theoretischen „Typen“. Dementsprechend werden entlang der sich aus den ersten Analysen ergebenden Relevanzen weitere Gesprächspartner ausgewählt bzw. weitere Erhebungen in die sich im Forschungsprozess entwickelnden Richtungen durchgeführt. „Beim theoretical sampling werden also, ähnlich wie bei einem experimentellen Vorgehen, bestimmte Eigenschaften eines sozialen Phänomens konstant gehalten, während andere nach bestimmten Kriterien systematisch variiert werden.“ (Kelle/Kluge 1999: 45; Herv.i.O.)

Das Ziel der Typenbildung besteht zum einen in einer „dichten Beschreibung“ wie sie Clifford Geertz (1994) für die Ethnographie formuliert und zum anderen in der Konstruktion empirisch begründeter Theorien, wie sie Barney Glaser und Anselm Strauss (1998) zur Anwendung bringen. Durch die Beschäftigung mit dem konkreten Fall werden die Strukturen des Allgemeinen sichtbar, in dem deutlich hervortritt, „was das Besondere nicht ist“ (Schiffauer 1991: 27). Die Typenbildung besteht darin, „(möglichst) ähnliche Fälle zu Gruppen zusammenzufassen und von (möglichst) differenten Fällen zu trennen“ (Kluge 1999: 11). Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr grenzen zwei Formen der Typenbildung voneinander ab. So geht die erste von einer „Fallstruktur“ aus, und setzt an den „Fallstrukturen systematisch ähnlicher Fälle an und abstrahiert diese – unter Zuhilfenahme wesentlicher Dimensionen – zu Typen. (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 332; Herv.i.O.)“ Eine zweite Form der Typenbildung besteht dagegen darin, „am Fallmaterial unterschiedliche Typiken“ herauszuarbeiten, „für die der konkrete Fall gleichsam eine Schnittfläche bildet“ (ebd.: 333; Herv.i.O.). Im Zentrum steht nicht die „Allgemeinheit in der Breite“ sondern die „Allgemeinheit in der Tiefe“, um „Details und Strukturen zu erfassen, die dem großen Überblick entgehen“ (Schiffauer 1991: 27). „Es geht darum, die Begriffe anzureichern, ihre Konnotationen herauszuarbeiten, zu zeigen, was sie zum Verständnis der vollen Lebenswirklichkeit beitragen.“ (ebd.: 27) In diesem Punkt besteht ein Zusammenhang zum Konzept des „Idealtypus“ von Max Weber und zwar durch das „Prinzip des ständigen Vergleichens in den qualitativen Methoden“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 331). Die Vorstellung vom „Idealtypus“ als „eines rein idealen Grenzbegriffs“ geht dahin, dass er als „ideales Gedankengebilde“ die Funktion übernimmt, die „Wirklichkeit immer besser zu ver-

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stehen oder zu erklären“ (ebd.: 330/331). „Die idealtypische Konstruktion steht im Dienste der Verdichtung und Zuspitzung dessen, was man in der Empirie findet: Sie dient der Typenbildung.“ (ebd.: 330) Dahinter steht die Frage danach, „welche unterschiedlichen Antworten sich auf ein bestimmtes soziales Phänomen finden lassen“ (Rosenthal 2005: 96). Die „theoretischen Verallgemeinerungen und Modellbildungen ergeben sich aus dem kontrastiven Vergleich der abgeschlossenen Fallrekonstruktionen und der darauf basierenden Typenbildung“ (ebd.: 96/97). 3.2.1 Narrative Gesprächsführung Die soziale Funktion der Kommunikation und das Erzählen von Erlebnissen in Gestalt von Geschichten spielen im narrativen Interview eine zentrale Rolle. Die narrative Gesprächsführung ist eine Methode, um längere Erzählungen in einer interaktiven Situation hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. Erzählungen sind „diejenigen vom thematisch interessierenden faktischen Handeln abgehobenen sprachlichen Texte, die diesem am nächsten stehen und die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns auch unter der Perspektive der Erfahrungsrekapitulation in beträchtlichem Maße rekonstruieren“ (Schütze 1977: 1). Dabei ist besonders zu betonen, dass im Erzählprozess die in den Geschichten „eingebetteten Kognitionen und Gefühle“ näher an die erlebten Situationen herankommen, als „abgehobene Argumente im Hier und Jetzt der Gesprächssituation“ (Rosenthal 2005: 141). Das Erzählen erscheint als ein „geeignetes Mittel, eigene Erfahrungen als Ergebnis und Prozess anderen so mitzuteilen, dass sie und auch man selbst diese Erfahrungen nachvollziehen kann“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000: 257). Eine weitere Besonderheit narrativ geführter Interviews bilden die „interaktiven Komponenten“, die einen zentralen methodischen Bestandteil in den Gesprächssituationen darstellen (Maindok 1996: 108f.). „Der Erzählvorgang als solcher ist eine Interaktion des Informationsaustausches und der Entfaltung der gemeinsamen Wissens-Teilhabe an Ereignissen von Welt. Dem Erzähler stehen im Erzählvorgang seine eigenen vergangenen Erfahrungen vor Augen; er erlebt sie in der Erinnerung noch einmal und sieht zugleich ihre Gesamtgestalt vor sich. Für die Darstellung der erlebten Ereignisse lässt er sich einerseits von der Aufeinanderfolge der diesbezüglichen Erfahrungen treiben, und andererseits orientiert er sich an der Gesamtgestalt der erlebten Ereignisse, der Geschichte.“ (Schütze 1987: 92f.)

Vor allem der „Stegreif-Charakter“ der Erzählung bedeutet, dass eine selbst erlebte Situation dargestellt und erzählerisch ausgestaltet wird, „die nicht schon

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nach bestimmten Aspekten auf- und vorbereitet worden ist“ (Maindok 1996: 111). „Die Analyse der interaktiven Hervorbringung von Erzählungen bezieht sich auf Vorgänge des Erzählens im Alltag, und an deren Logik knüpft die Methode des narrativen Interviews an.“ (ebd.: 115) Der Erzähler wird nicht durch vorbereitete Aspekte und Themen in eine bestimmte Richtung gelenkt, gleichzeitig hält sich der Interviewer mit Anmerkungen und Eingriffen in den Prozess des Erinnerns zurück und gibt keine Richtung vor. „Der zuhörende Interaktionspartner hat gerade nicht die Aufgabe, auf die Auswahl und die Gestaltung der Darstellungsgegenstände einzuwirken, nachdem das Ausgangsthema erst einmal gesetzt ist. Der Erzähler ist also darin autonom, seine eigene damalige Erlebnisund seine jetzige Gestaltungsperspektive authentisch zu entfalten.“ (Schütze 1976b: 9)

Dadurch erhält die narrativ gestaltete Interaktion für die Interviewten einen „größtmöglichen Raum zur Selbstgestaltung der Präsentation ihrer Erfahrungen und bei der Entwicklung ihrer Perspektive auf das angesprochene Thema bzw. ihre Biographie“ (Rosenthal 2005: 137). Der Einfluss des Interviewers wird möglichst minimiert, aber durch zentrale Grundsätze strukturiert. „Das Wissen über die Bedeutung des Zuhörers in alltäglichen Kommunikationssituationen macht das narrative Interview sich zunutze, aber das bedeutet keinesfalls, dass der Interviewer als Zuhörer sich unmittelbar an der Person des alltäglichen Zuhörers orientieren könnte.“ (Maindok 1996: 115)

Der Unterschied zur Alltagsinteraktion besteht darin, dass sich der Zuhörer „gerade nicht auf die ‚Erfahrungsunmittelbarkeit‘ einlassen [darf], während dessen er das aktuelle Interaktionsgeschehen aus den Augen verliert“ (ebd.: 116). Es ist eine professionelle „Haltung“ erforderlich, die vor allem im Erlernen und Erproben narrativer Fragetechniken besteht. Gabriele Rosenthal (2001) empfiehlt eine grundsätzliche „Fremdheitseinstellung“ dem Forschungsgegenstand gegenüber und eine „naive Grundhaltung“, die dazu führt, dass sich der Interviewer mit Hilfe narrativ gestellter Fragen die Handlungskontexte von den Interviewten erklären lässt. Erhebungssituationen, die in Form von Gesprächen und narrativen Interviews erfolgen, werden von Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr (2008: 80f.) in fünf Phasen eingeteilt. In der ersten Phase erfolgt das Einstimmen aufeinander als eine Art „Small-talk“, in der sich die Beteiligten des alltagsweltlichen Rahmens bewusst werden, in dem die Interviewsituation stattfindet. Dabei können Vorabsprachen getroffen werden und Informationen zur Person und dem

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unmittelbaren Alltagskontext ausgetauscht werden, um eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre herzustellen. Darüber hinaus werden Absprachen über die Aufzeichnung, die Anonymität und die Dauer des Gesprächs getroffen. Die zweite Phase setzt mit der Eingangsfrage ein, durch die der „Erzählstimulus“ seitens des Interviewers gegeben wird. Der Interviewte wird explizit darum gebeten, eigenständig zu erzählen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der „Herstellung von Selbstläufigkeit“, durch die das Relevanzsystem des Interviewten als bestimmend für die inhaltliche Ausrichtung des Gesprächsverlaufs in den Vordergrund gestellt wird (ebd.: 87). Die Erzählaufforderung wird auf der Basis der Forschungsfrage gestaltet und kann sich auf die gesamte Lebensgeschichte beziehen und damit möglichst offen sein. Einschränkungen können im Hinblick auf Zeit- und Erfahrungsräume vorgenommen werden, wenn beispielsweise die Migrationsgeschichte oder die Berufsbiographie in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Wichtig ist, dass die Interviewten nach der Erzählaufforderung ohne Nachfragen und Zwischenfragen mit ihren Erinnerungen interagieren. Während der Haupterzählung notiert sich der Interviewer in Stichpunkten die Themen, die angesprochen werden. Die Notizen bilden einen „fallspezifischen, am Erleben und an den Relevanzen des Interviewten orientierten Leitfaden für den Nachfrageteil des Interviews“ (Rosenthal 2005: 147). Das Memorieren schafft eine Struktur, die eine Rückkehr aus dem emotionalen Erleben des Zuhörens zurück zur Ebene der Relevanz des Erzählten ermöglicht. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Interviewer in den Erzählfluss „eintaucht“ und dabei wichtige Randbemerkungen und Hinweise übersieht. Es wird offen geschrieben und vor dem Interview darüber informiert, dass die Notizen dazu dienen, später Nachfragen zu stellen. Zentrale Begriffe werden wörtlich notiert werden und bei Rückfragen auch so wörtlich zurückgegeben (ebd.: 147). Die Haupterzählung wird durch die Interviewten beendet. Sie bestimmen autonom, wann die Erzählung abgeschlossen ist. Hinweise dafür können Formulierungen wie zum Beispiel „so, das wars jetzt eigentlich“ sein. Auch Pausen, in denen Erlebnisse und Erinnerungen in einem Prozess zu Geschichten gedanklich zusammengetragen werden, sind keine Aufforderung zur Intervention, deshalb sollen diese Phasen mit Geduld ausgehalten werden (ebd.: 147). Im Anschluss an die autonom ausgestaltete Eingangserzählung der Interviewten, werden in der dritten Phase immanente Nachfragen gestellt, die sich aus den Ausführungen der autonom gestalteten Eingangserzählung ergeben (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 83). Vor der ersten Nachfrage dankt der Interviewer für die Eingangserzählung und kann eine Rückmeldung geben, dass die Ausführungen interessant und informativ waren. Die Nachfragen setzten beim ersten Stichpunkt der Notizen wieder an. Zu den angesprochenen Themen und Hinwei-

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sen werden Nachfragen gestellt, um weitere Erzählungen zu den erlebten Situationen zu erhalten. Grundsätzlich gilt, dass alles, was vom Interviewten angesprochen wird, ein Angebot ist, darüber weiterzusprechen, auch wenn es emotional schwierige Themen sind (Rosenthal 2005: 148). Die Nachfragen werden nach Möglichkeit narrativ gestellt. Das bedeutet, dass sogenannte W-Fragen; wann, wo, woher, wohin und warum möglichst nicht gestellt werden, da sie nicht dazu dienen, Erzählungen hervorzubringen. Die authentischen Formulierungen der Interviewten sollen im Nachfrageteil weitgehend wörtlich wieder aufgegriffen und nicht „gespiegelt“ werden. Die Fragen werden grundsätzlich so gestellt, dass sie an Situationen, Handlungskontexte und Interaktionen gebunden sind (ebd.: 149). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, durch „aktives Zuhören“ Verständnis zu signalisieren in dem die Aussagen umformuliert zurückgegeben werden. Dies erhöht auch die Akzeptanz narrativ gestellter Nachfragen. Zunächst werden der Sachverhalt und sein emotionaler Inhalt (Wut, Enttäuschung, Angst, Demütigung) entschlüsselt. „Der Interviewer zeigt damit, dass er das Mitgeteilte zu verstehen versucht. [...] Bei schwierigen Passagen, in denen die Autobiographen von bedrückenden und schmerzhaften Erlebnissen erzählen, in denen auch Gefühle reaktualisiert werden, die Erzähler weinen, betroffen oder wütend sind, bedarf das Signalisieren von Verständnis und die Hilfe zum Weitererzählen dann auch mehr als nur eines aufmunternden ‚mhs‘ oder nur einer Paraphrasierung. Mit dem ‚Verbalisieren von emotionalen Erlebnisinhalten‘ versucht der Zuhörer, auf die Gefühle die er bei der Erzählung ‚heraushört‘, einzugehen und sie dem Erzähler zurückzuspiegeln.“ (Rosenthal 1995: 201; Herv.i.O.)

Die vierte Phase ermöglicht „exmanente Nachfragen“, die sich aus der Fragestellung ergeben und nicht bereits eigenständig in den beiden vorangegangenen Interviewphasen ausführlich beantwortet wurden. Zum Abschluss des Interviews bedankt sich der Interviewer für das Gespräch und die Verfügung gestellte Zeit. Das Gespräch soll in einer angenehmen Atmosphäre beendet werden, die von der Interviewer angesteuert werden kann. Durch die Rückfrage „Wie war das Gespräch für Sie?“ kann die Gesprächssituation gemeinsam reflektiert werden und unangenehme Situationen besprochen werden. Damit können sich die Interviewten aus den erzählten Erinnerungen heraus zurück in die Gegenwart begeben. Auf jeden Fall sollte der Interviewer eine positive Rückmeldung zum Gesprächsverlauf geben und Hilfe anbieten. Grundsätzlich gilt, dass nicht belastend ist, über etwas zu sprechen, sondern das Erlebte selbst (ebd.: 201). Gegebenenfalls sollte der Interviewer die Bereitschaft signalisieren, weiter in Kontakt zu

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bleiben und Rückmeldung über den weiteren Verlauf der Forschungsarbeit zu geben. 3.2.2 Rekonstruktive Fallanalyse Das methodische Verfahren, mit dem die in dieser Untersuchung vorgenommenen Auswertungen durchgeführt wurden, richtet sich nach den Analyseschritten der rekonstruktiven Fallanalyse wie sie Gabriele Rosenthal (1995; 2005) vorschlägt. Dabei erfolgt in „analytisch getrennten Auswertungsschritten“, die Rekonstruktion der „Perspektiven des Handelnden in der Vergangenheit“ und ihr Verhältnis zur „Gegenwartsperspektive“ (Rosenthal 2005: 173). Im ersten Analyseschritt erfolgt die Rekonstruktion von Handlungsabläufen in der Vergangenheit. Dabei geht es um die chronologische Aufschichtung biographischer Erfahrungen in der erlebten Lebensgeschichte. „Bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte versuchen wir also, die Genese der erlebten Lebensgeschichte zu klären und bei der Analyse der biographischen Selbstpräsentation die Genese der Darstellung in der Gegenwart zu entschlüsseln, die in ihren thematischen und temporalen Verknüpfungen prinzipiell von der Chronologie der Erlebnisse differiert.“ (Ebd.: 173/174)

So werden in dieser Auswertungsphase die biographischen Daten, wie sie im Gesamttext des Interviews auftauchen, entlang der Chronologie des Lebenslaufs gesammelt. Die Analyse der biographischen Daten erfolgt entlang der zeitlichen Abfolge, jeweils „eingeklammert“, das heißt, von den davor und danach liegenden Ereignisdaten losgelöst. Die Hypothesenbildung ist damit in alle Richtungen möglich, so dass die potentiellen Handlungsmöglichkeiten sichtbar gemacht werden. Dies geschieht unabhängig davon, ob der hypothetisch mögliche Weg auch weiterverfolgt wurde. Durch diese Vorgehensweise werden die möglichen Deutungen in der Vergangenheit in den Mittelpunkt der Analyse der Daten des „erlebten Lebens“ gerückt und aus dem Zusammenhang mit den „Selbstdeutungen der Interviewten aus dessen Gegenwart“ herausgearbeitet (ebd.: 177). Weitere Quellen und sekundäre Informationen, die im Zusammenhang mit dem historischen, sozialen und politischen Kontext des Ereignisses stehen, zum Beispiel Naturkatastrophen oder politische Umbruchsituationen, werden in die Datenanalyse einbezogen. Hinzukommt Hintergrundwissen wie beispielsweise aus der Entwicklungspsychologie, um die Auswirkungen von einschneidenden Ereignissen auf die Persönlichkeitsentwicklung in den jeweiligen Altersgruppen wie frühe Kindheit oder Adoleszenz einordnen zu können.

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„Für die Hypothesenbildung ist es daher auch im heuristischen Sinne erforderlich, jeweils gegenstandsbezogenes theoretisches und empirisch fundiertes Wissen über die Auswirkungen bestimmter Lebensereignisse auf ein bestimmtes Lebensalter mit einzubeziehen.“ (Ebd.: 175)

Im Gegensatz zur „biographischen Bedeutung einer Erfahrung zur damaligen Zeit“ wie sie bei der Analyse des „erlebten Lebens“ untersucht wird, widmet sich die „Text- und thematische Feldanalyse“ der Frage „nach der Funktion der Darstellung des Erlebens für die interviewte Person in ihrem gegenwärtigen sozialen Kontext“ (ebd.: 174). Dieser zweite Auswertungsschritt erfolgt als eine sequentielle Analyse der Textsegmente der Haupterzählung. „Das Ziel dieses Analyseschritts ist es, die Regeln für die Genese der in der Gegenwart des Interviews präsentierten biographischen Erzählung bzw. allgemeiner der Selbstpräsentation, herauszufinden.“ (ebd.: 183) Dafür wird der gesamte Text nach drei Kriterien in Sequenzen eingeteilt. Dies sind der Wechsel von Textsorte, Thema und Sprecher. Daraus entsteht eine Art Inhaltsverzeichnis und Gliederung des gesamten Interviewtextes. Zu den Sequenzen der Haupterzählung werden anschließend Hypothesen zu den folgenden Fragen gebildet. Weshalb wird dieser Inhalt an dieser Stelle eingeführt? Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Textsorte präsentiert? Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Ausführlichkeit oder Kürze dargestellt? Was könnte das Thema dieses Inhalts sein, bzw. was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? • Welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht? • Über welche Lebensbereiche und Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil und weshalb wurden diese nicht in der Haupterzählung eingeführt? • • • •

Die sequentielle Textanalyse ist darauf gerichtet, die thematischen Felder herauszuarbeiten, die für die Selbstpräsentation der Interviewten eine biographische Relevanz haben. Bei diesem Auswertungsschritt stehen somit die „temporalen und thematischen Verknüpfungen der einzelnen Teile der erzählten Lebensgeschichte“ im Zentrum, die für die Gestaltung durch die Autobiographen maßgeblich sind (ebd.: 184). Die Hypothesen zu den voneinander abgegrenzten Sequenzen vermitteln einen Einblick in das Präsentationsinteresse der Interviewten. „Bei jeder Sequenz geht es damit um das Auffinden der inhärenten Verweisungen auf mögliche thematische Felder und um den hypothetischen Entwurf der jeweils anschlussfähigen weiteren Sequenzen.“ (ebd.: 185/185) Im dritten Aus-

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wertungsschritt erfolgt die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte. Es erfolgt eine Zuordnung, Abgleichung und Erweiterung der Hypothesen aus den ersten beiden Analyseschritten. „Wir gehen in der Logik der sequentiellen Analyse in der Chronologie der erlebten Lebensgeschichte von Erlebnis zu Erlebnis und betrachten dabei jeweils die Interviewpassagen, in denen die Biographin darüber spricht.“ (ebd.: 189)

Der Abschluss der Auswertung besteht in einem kontrastiven Vergleich von erzählter und erlebter Lebensgeschichte. „Beim kontrastiven Vergleich der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte geht es zum Abschluss um mögliche Erklärungen für die Differenz zwischen diesen beiden Ebenen, d.h. zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive und um den damit verbundenen Unterschied in der Temporalität und den thematischen Relevanzen von erzählter und erlebter Lebensgeschichte. M.a.W. verhilft die Kontrastierung dazu, die Regeln der Differenz von Erzähltem und Erlebtem aufzufinden. Dabei gilt es auch danach zu fragen, welche biographischen Erfahrungen zu einer bestimmten Präsentation in der Gegenwart geführt haben.“ (Ebd.: 194; Herv.i.O.)

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine Feinanalyse einzelner Textstellen zu verschiedenen Zeitpunkten im Auswertungsprozess durchzuführen. „Einige Textstellen werden einer detaillierten sequenziellen Analyse unterzogen. Ziel ist es dabei, insbesondere die latenten Sinnstrukturen des Textes zu entschlüsseln. Ein wesentliches Kriterium für die Auswahl von Textstellen sind parasprachliche Auffälligkeiten, wie lange Pausen, Versprecher und Abbrüche, sowie generell der Eindruck, dass die Textstelle mehr Sinn enthält, als beim ersten Lesen ersichtlich ist.“ (Rosenthal 2005: 193)

Die Typenbildung erfolgt als eine Rekonstruktion der „Gestaltheit der Lebenserzählung und der zugrunde liegenden Regeln ihrer Konstitution“ (Rosenthal 1995: 23). Der Vergleich bedeutet, dass die „strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ rekonstruktiv herausgearbeitet werden (ebd.: 19). Anhand der untersuchten, jeweiligen Fälle wird ein bestimmter Zusammenhang, eine Regel oder ein Mechanismus herausgearbeitet. „Ob es sich beim Vergleich von zwei Lebensgeschichten um den Vergleich innerhalb eines Typus handelt oder um den Vergleich von zwei unterschiedlichen Typen, kann erst nach Abschluss beider Fallanalysen bestimmt werden.“ (ebd.: 26)

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3.3 Forschungsprozess Das Forschungsdesign fokussiert auf die Untersuchung der strukturellen Zusammenhänge von Migration und Arbeit aus einer subjektiven Perspektive. Dies geschieht zunächst in einem offenen Rahmen, ohne das Forschungsfeld thematisch zu sehr vorab zu strukturieren und damit den zu interviewenden Alltagshandelnden möglichst großen Gestaltungsspielraum zu belassen. In den ersten Arbeitsschritten wurden deshalb möglichst geringe Einschränkungen für die Auswahl von Gesprächspartnern festgelegt. Ein zentrales Merkmal für die Auswahl war ein familiärer Bezug zum Herkunftskontext Türkei, ohne dass der Geburtsort oder ein Generationenzusammenhang eine Rolle spielen. Diese Festlegung erfolgte vor dem Hintergrund eigener wissenschaftlicher Vorarbeiten im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts zur Alltagspraxis türkeistämmiger Unternehmer und einer regionalwissenschaftlichen Verortung in den Nahostwissenschaften mit den Arbeitsschwerpunkten Türkei und globale Mobilitäten.3 Weitere Kriterien, wie die Bildungsabschlüsse, Alter, Geschlecht, Wohnort innerhalb Deutschlands und die Migrationsgeschichte wurden zunächst nicht weiter spezifiziert. Ein zweites Kriterium, das bei der Suche nach Gesprächspartnern zugrunde gelegt wurde, war die Erfahrung mit Arbeit in Form von Erwerbsarbeit. Die Interviews wurden in allen Arbeitsphasen entsprechend den in Kapitel 3.2.1 dargestellten Grundlagen zur narrativen Gesprächsführung durchgeführt. Bereits in den Vorgesprächen und Anschreiben habe ich mich und mein Forschungsvorhaben vorgestellt und Fragen dazu beantwortet. Damit gab ich einen Eindruck von der Richtung, die das biographische Interview nehmen könnte, ohne zu weitgehende Informationen zu geben. Dies kann dazu führen, dass die Themen Arbeit und auch die Berufsbiographie eine zentrale Rolle in den biographischen Selbstpräsentationen einnehmen. Im Interesse von Transparenz und Authentizität erscheint es aber erforderlich, den Gesprächspartnern gegenüber Auskunft über die Forschungsrichtung zu erteilen. Darüber hinaus erläuterte ich meinen Gesprächspartnern, dass mich insbesondere türkeistämmige Migranten interessieren. Bei der Kontaktaufnahme in Form von Telefonaten, E-Mails oder Anschreiben habe ich deshalb die folgende Formulierung verwendet: „Mein Thema ist Arbeit und die beruflichen Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten, die entweder selbst bzw. deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind.“ Meinen eigenen beruflichen Werdegang habe ich vorgestellt, um zu signalisieren, dass grundsätzlich die Möglichkeit be-

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Die Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes zur transkulturellen Praxis Berliner Unternehmer türkischer Herkunft wurden von Robert Pütz (2004) veröffentlicht.

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steht, im Gespräch die deutsche und/oder türkische Sprache zu verwenden. Ich habe meinen Gesprächspartnern Anonymität zugesichert und angeboten, über das Gespräch hinaus für Rückfragen zur Verfügung zu stehen und über den weiteren Verlauf meiner Untersuchung zu informieren. Für die Interviews habe ich eine offene Eingangsfrage gewählt, die in allen Gesprächen in gleicher Form verwendet wurde. „Mich interessieren die Lebensgeschichten von Menschen, die selbst (bzw. deren Eltern oder Großeltern) aus der Türkei eingewandert sind, ihre ganz persönlichen Erfahrungen. Ich möchte Sie daher bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Erlebnisse, die ihnen einfallen. Sie können sich dazu so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten. Ich werde Sie auch erst mal nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen machen, und später darauf zurückkommen.“

Der Interviewverlauf folgte anschließend dem bereits dargestellten Ablauf des biographisch-narrativen Interviews, wie es Gabriele Rosenthal (1995; 2005) beschreibt. Während die immanenten Nachfragen sich aus den jeweiligen Eingangserzählungen ergaben, habe ich für den letzten Teil der Gespräche weitere Nachfragen formuliert, die ich gestellt habe, wenn die Themen nicht bereits in den ersten beiden Teilen des Interviews angesprochen wurden. Den Kreis dieser Fragen habe ich im Verlauf der Interviews modifiziert. So wurde beispielsweise von einigen Gesprächspartnern thematisiert, dass sie sich einen Umzug innerhalb Deutschlands nicht vorstellen können und die Stadt, in der sie groß geworden sind, nicht verlassen möchten. Daraufhin habe ich die narrativ formulierte Frage „Erinnern Sie sich an eine Zeit, in der Sie daran gedacht haben, innerhalb Deutschlands umzuziehen?“ in den dritten Teil des Interviews aufgenommen, um herauszufinden, ob das Thema über den Einzelfall hinaus relevant ist. Darüber hinaus ist mir in Interviews erklärt worden, welche beruflichen Positionen erreicht wurden, so dass ich am Ende eine Frage nach der aktuellen beruflichen Position aufgenommen habe, um mir über die Bedeutung von beruflichen Hierarchien für die Gesprächspartner klar zu werden. Soweit dies möglich war, habe ich die Nachfragen narrativ formuliert, um auch in diesem Teil Erzählungen zu erhalten. Im Anschluss an die Gespräche wurden Globalanalysen angefertigt, die wesentliche Informationen zum Gesprächsverlauf, Beobachtungen in der Interaktion und erste biographische Informationen schriftlich festhalten. Dies ermöglichte einen ersten Vergleich der geführten Interviews und hat die Auswahl weiterer Interviewpartner unterstützt. Die Transkription vollständiger Interviews erfolgte zu dem Zeitpunkt, an dem ich entschieden habe, welche Interviews nach der Sich-

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tung der Globalanalysen als theoretische Stichprobe ausgewählt werden. Die Transkription erfolgte wörtlich, also weder lautsprachig noch zusammenfassend. Die Darstellung der Zitate erfolgt mit Hilfe der folgenden Transkriptionszeichen. Transkriptionszeichen fett

Hervorhebung deutlicher Wortbetonungen: „Da hat sie gelacht, ist das nicht unverschämt?“

unterstrichen

Kennzeichnung besonders lauter Sprechweise: „Sie wurden immer lauter und lauter“

(.)

kurze Redepause unter 5 Sekunden

(..)

mittellange Redepause 5-10 Sekunden

(...)

längere Redepause

kursiv

Wörter, die nicht zu verstehen sind, aber aus dem Kontext zu ahnen sind: „dann habe ich Hasan geholfen“

(Wort)/(Wörter)

Kennzeichnung von Wörtern, die auf der Aufnahme nicht zu verstehen sind, evtl. ergänzt um Anmerkungen, die der Einordnung des nicht Verstandenen dienen: „Dann bin ich mit (Wort: Name des Freundes) ins Kino gegangen.“



Wenn ein Satz unterbrochen wurde, durch Interviewerin oder andere und anschließend fortgeführt wird: Antwort: Dann bin ich 1999... Frage: ...1999?

-

Kennzeichnung, wenn sich ein Sprecher selbst unterbricht, dann den Satz weiter fortführt: „Nach Berlin kam ich vor vi-, nein vor siebzehn Jahren“

e-i-n p-a-a-r

besonders langsam gesprochene Wörter

Alle Angaben, die einen Rückschluss auf eine befragte Person erlauben, wurden anonymisiert. Die Tonbandaufnahmen wurden in normales Schrifthochdeutsch übertragen. Sprache und Interpunktion wurden leicht geglättet, das heißt an das Schriftdeutsch angenähert. Nur deutliche Dialekte wurden von mir transkribiert. Die Maskierung bzw. Anonymisierung erfolgten so, dass Rückschlüsse von dritten Personen auf das Lebensumfeld nicht oder nur schwer möglich sind. Die Maskierung dient dem Schutz der Person und ihrer Lebensgeschichte. Die großen Konzerne BMW, Opel und HDW nenne ich mit ihren korrekten Namen,

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da sie einerseits über eine große Anzahl von Beschäftigten verfügen und somit der Einzelfall nicht ohne weiteres auffindbar ist und sie andererseits aufgrund ihrer Bedeutung als Arbeitgeber der jeweiligen Regionen kaum wirksam zu anonymisieren sind. Ansonsten nenne ich lediglich die Branchenbezeichnungen der Unternehmen. In einem Fall habe ich entschieden, das soziale Engagement eines Interviewten nicht ausführlicher auszuwerten, da eine Maskierung aufgrund der vielfältigen Tätigkeiten erschwert worden wäre. Die Interviewten haben jeweils eigenständig festgelegt, wo und wann die Gespräche stattfinden sollten. Daraus ergaben sich überaus unterschiedliche Gesprächskonstellationen, die in den Globalanalysen und Auswertungen berücksichtigt wurden. So war ich einen ganzen Tag bei einer Familie zu Gast und habe mit verschiedenen Familienangehörigen Interviews geführt. Ein Gesprächspartner in Nordrhein-Westfalen hat mich vor dem Gespräch in die Besonderheiten seiner Wohnumgebung in einem Stadtteil mit hohem Migrantenanteil eingeführt und mich im Lokal eines Freundes zum Mittagessen eingeladen. Ein weiterer Interviewpartner hat mir den Neubau einer Moschee in seinem Stadtteil gezeigt und mich zu einem Tee auf einem vor der Moschee stattfindenden Markt eingeladen. Andere Gespräche habe ich nach kurzem Kennenlernen in Cafés, am Arbeitsplatz und in Wohnzimmern durchgeführt oder aber in der Kantine des Unternehmens, in dem der Interviewte arbeitet. Um einen Eindruck von den relevanten Kategorien der Zusammenhänge von Arbeit und Migration zu erhalten, die in den Lebensgeschichten von Türkeistämmigen eine Rolle spielen, habe ich in einer ersten Phase der Datenerhebung insgesamt zehn Gespräche geführt und erste Globalanalysen angefertigt. Daraus haben sich erste Einblicke in die für die Interviewten relevanten Themen ergeben, wie sie in den Biographien zum Ausdruck kommen. Ein wichtiges Ergebnis der ersten Interviewphase war, dass die überaus große Heterogenität im Hinblick auf den juristischen Status und den Bildungsabschluss dazu führt, dass der Geflüchtete ohne Arbeitserlaubnis und ohne Schulabschluss mit vollkommen anderen strukturellen Barrieren konfrontiert wird, als die eingebürgerte und in Deutschland ausgebildete Ärztin. Vor allem der ausländerrechtliche Status und die verwehrte Anerkennung von beruflichen Abschlüssen aus der Türkei wirken sich auf den Zugang zu qualifizierten Positionen auf dem Arbeitsmarkt erheblich aus. Von diesen strukturellen Barrieren sind Geflüchtete und nachreisende Ehepartner aus der Türkei in besonderem Maße betroffen. Parallel dazu besteht für die Gruppe derjenigen, die als Kinder in Deutschland geboren wurden, bzw. als Familienangehörige zu ihren Eltern gezogen sind, eine wesentlich geringere ausländerrechtlich relevante Marginalisierung bezogen auf die Aufenthaltsverstetigung. Auch der Zugang zum Arbeitsmarkt ist mit dem Verlassen der Schule als

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„Bildungsinländer“ juristisch betrachtet uneingeschränkt möglich. Diese Aussagen beziehen sich allerdings auf Türkeistämmige, die nicht die Schule abgebrochen haben und auch nicht als Geflüchtete über einen unsicheren Aufenthaltsstatus und eingeschränkte Bürgerrechte verfügen. Ebenso wenig können Aussagen getroffen werden über Türkeistämmige, die sich illegal in Deutschland aufhalten oder von Ausweisung bedroht sind, da sie wegen ausländerrechtlich relevanter Vergehen verurteilt wurden. Dies hängt unter anderem mit der schweren Erreichbarkeit von besonders benachteiligten Gruppen zusammen. Die Suche nach Menschen in marginalisierten Lebenssituationen wurde auch deshalb nicht weiterverfolgt, da bereits im Anschluss an die ersten Gespräche biographisch relevante Kategorien herausgearbeitet werden konnten, die für die Untersuchung des Zusammenhangs von Migration und Arbeit relevant sind. So sind es Erfahrungen mit strukturellen und sozialen Barrieren, die sich auf den Zugang zu Qualifizierung und Erwerbsarbeit auswirken. Gerade die zweite und dritte Generation der Türkeistämmigen ist vom strukturellen Umbau der Arbeitsgesellschaft, der nach dem Anwerbestopp verstärkt einsetzt, besonders betroffen. Die Folgen sind eine steigende Jugendarbeitslosigkeit und die damit einhergehende Debatte um die Verteilung von Wohlstand und Arbeit entlang ethnischer Kriterien. Diese Entwicklungen haben weitreichende Folgen für die sozialen Anerkennungskategorien. Parallel dazu werden türkeistämmige Migranten zur zahlenmäßig größten Einwanderergruppe in der Bundesrepublik Deutschland. Zusammenfassend können die sozialen und strukturellen Rahmenbedingungen der zweiten und dritten Generation der Türkeistämmigen, wie sie sich aus der ersten Interviewphase ergeben, wie folgt beschrieben werden: • Es gibt keine sozialpolitischen und pädagogischen Konzepte, um den Prozess

der „unstrukturierten Niederlassung“ und Neugründung von türkeistämmigen Familien in der Bundesrepublik Deutschland langfristig zu begleiten. • Die juristische Regulierung des Zuzugs und Aufenthalts zielt seit dem Anwerbestopp in erster Linie darauf ab, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Türkeistämmige zu erschweren und ein „Inländerprimat“ in die Praxis umzusetzen. Die Folge davon ist eine staatlich sanktionierte Diskriminierung in den Institutionen der Arbeitsverwaltung aber auch in den Unternehmen, von der Türkeistämmige als größte Einwanderergruppe aus einem Staat außerhalb der EU besonders betroffen sind. • Die Niederlassung von Familien aus der Türkei findet in einer Zeit statt, in der strukturell bedingte Massenarbeitslosigkeit die Einkommensmöglichkeiten der Elterngeneration wie auch die Ausbildungssituation der nachfolgenden Generationen erheblich gefährdet.

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• Die Elterngeneration konserviert einen symbolischen Diskurs um eine Rück-

kehr in die Türkei, was zu einer großen Verunsicherung der türkeistämmigen Kinder und Jugendlichen hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektiven in der Bundesrepublik Deutschland führt. • Die Installierung von multilokalen Haushalten zwischen der Türkei und Deutschland führt dazu, dass Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihrer emotionalen Bindungen verunsichert sind. • Die soziale und ökonomische Orientierung der Elterngeneration bezieht sich in erster Linie auf die Türkei. Für die gesellschaftliche Teilhabe der Kinder und Jugendlichen sind nur wenige ökonomische Ressourcen vorhanden bzw. sie werden in die Rückkehrprojekte der Elterngeneration in der Türkei investiert. • Die konservative Familienpolitik fördert die Erziehung in der Familie durch nicht erwerbstätige Frauen mehr als die Erwerbsbeteiligung von Müttern. Eine Ganztagsbetreuung für die Kinder von Familien, in denen beide Elternteile erwerbstätig sind, ist kaum vorhanden. Daraus folgte im nächsten Arbeitsschritt eine Auswahl von Interviewpartnern ausgehend von der Kategorie des Migrationsstatus bzw. Migrationsverlauf, die als Angehörige der zweiten oder dritten Generation in Bundesrepublik Deutschland leben und arbeiten, einen Schulabschluss erreicht haben und über berufliche Qualifizierungen verfügen. Mit Hilfe einer Recherche im Internet habe ich Vereine und Organisationen kontaktiert, aus deren Namen, Arbeitsaufgaben etc. ein Bezug zur Türkei bzw. zu Migranten aus dem Herkunftskontext Türkei hervorgeht. Darunter waren unter anderem Elternvereine, religiöse Vereine, politische Exilorganisationen, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereine, Sportvereine sowie Vereine, die von Menschen einer bestimmten Herkunftsregion in der Türkei gegründet wurden.4 Insgesamt haben 20 Personen ihr Interesse an einem Gespräch und der weiteren Vermittlung von Interviewpartnern signalisiert. Bis auf eine Ausnahme wurde mit allen im Anschluss an ein telefonisches Vorgespräch ein Gesprächstermin realisiert. Im Ergebnis entstand in verschiedenen Arbeitsphasen ein Materialkorpus von insgesamt 29 Gesprächen mit Männern und Frauen in unterschiedlichen Altersgruppen, Lebens- und Arbeitszusammenhängen sowie mit vielfältigen Migrationserfahrungen und in verschiedenen familiären Konstellationen wie sie Abbildung vier zeigt.

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Vgl. dazu den Abschnitt zum Begriff hemşehrilik im Kapitel 2.2, Seite 49/50.

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Abbildung 4 Grunddaten der 29 Interviewten Frauen Männer 50 verheiratet ledig Familienstand geschieden verheiratet aber getrennt lebend keine Kinder bis 2 Kinder ab 3 Kinder Zweite Generation Dritte Generation Fluchtmigration Einreiseform/ Generation Studium Doktorand Eheschließung Abitur (TR) Mittelschule (TR)6 Grundschule (TR)7 Höchster Hauptschule (D) 5 Schulabschluss Realschule (D) Fachabitur (D) Abitur (D) ohne formale Berufsausbildung duale Berufsausbildung Höchster Fachhochschulstudium beruflicher Abschluss Hochschulstudium (D) Hochschulstudium (TR) Angestellter Angestellter in leitender Position Selbständiger Erwerbsstatus Geringfügige Beschäftigung Doktorand In Ausbildung Arbeitssuchend Geschlecht

6 23 1 10 6 9 3 25 1 1 2 6 15 8 16 2 4 3 1 3 10 1 1 7 2 5 3 4 12 5 5 3 16 4 3 1 1 1 3

In der Gesamtschau der in den Interviews zu erkennenden biographisch relevanten Themen, hat sich im Hinblick auf die Bearbeitung der Fragestellungen erge5

TR bedeutet, dass der höchste Schulabschluss in der Türkei, D bedeutet, dass der höchste Schulabschluss in Deutschland erreicht wurde.

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Die Mittelschule in der Türkei zu beenden, bedeutet eine Schulbesuchsdauer von zehn Jahren.

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Die Grundschulzeit war in diesem Fall fünf Jahre, mittlerweile dauert die Grundschule in der Türkei sieben Jahre.

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ben, dass gerade die Identitätskonstruktionen über Erwerbsarbeit aus der Perspektive von türkeistämmigen Männern der zweiten und dritten Generation von besonderem Interesse für die Beantwortung der Forschungsfragen nach den Zusammenhängen von Migration und Arbeit sind. Gerade in diesem Feld bietet das Material ein breites Spektrum an Interpretationsansätzen auf der Grundlage der Lebensgeschichten. Das Material der elf biographisch-narrativen Interviews mit Männern von unter 30 bis über 50 Jahren vereint einen breiten Korpus an biographisch relevanten Erfahrungen mit Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit gerade in dieser Gruppe. Erfahrungen mit Erwerbsarbeit werden abgebildet durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Zeitarbeit, Kurzarbeit, Selbständigkeit, Arbeitslosigkeit, Ausbildung und Studium. Insgesamt überwiegen Männer, die in Vollzeit erwerbstätig sind und darüber hinaus verheiratet sind und Kinder haben. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten ergeben sich einerseits aus der mit dem Altersspektrum einhergehenden Situierung in der aktiven Erwerbsphase, in der darüber hinaus die Themen Partnerschaft und Vaterschaft eine Rolle spielen. Allerdings ergibt sich aus meinem Vorgehen zur Gewinnung von Gesprächspartnern, dass durch meine Anfragen via Internet die „fitteren“ Migranten erreicht wurden, die sich sozial engagieren und Informationstechnologien nutzen. Männer in gesellschaftlich extrem marginalisierten Positionen wurden durch dieses Vorgehen nicht erreicht. Meine Beobachtungen und Reflexionen zur Interviewsituation zwischen einer Frau als Interviewerin und einem männlichen Interviewpartner ergaben zunächst den Eindruck, dass aufgrund dieser Konstellation weniger Informationen über das private Leben mitgeteilt werden und die Partnerinnen selten ausführlicher thematisiert werden. Allerdings stellt Kuno Trüeb (1994: 84) dazu fest, dass das thematische Ungleichgewicht bei Männern auf den „halböffentlichen Charakter“ des biographischen Interviews zurückzuführen ist. „Der Interviewte erzählt nur das, was er nicht für privat hält.“ Demgegenüber präsentieren die interviewten Männer ihre Lebensgeschichte überaus detailliert entlang ihrer beruflichen Biographie und nehmen Karrieresprünge aber auch Entlassungen und berufliche Degradierungen als Ankerpunkte. Der Schwerpunkt der Darstellungen in den Biographien liegt damit auf dem, was Ursula Mıhçıyazgan (1986: 253) als „äußere Laufbahn“ von der „inneren Laufbahn“ abgrenzt. Allerdings ist auch festzustellen, dass Frauen in den biographischen Selbstpräsentationen vor allem dann eine größere Rolle spielen, wenn sie eine tragende Rolle innehaben oder aber wenn aufgrund ihrer ethnischen Herkunft bzw. wegen den Regeln zur Familienzusammenführung die Eheschließung problematisch ist. Kuno Trüeb (1994: 87) macht in seinen Untersuchungen ähnliche Beobachtungen und konstatiert: „Meine Gesprächspartner scheinen in fast reinen Männerwelten zu leben!“. Die

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„Männerzentriertheit“ in den Lebensgeschichten von Männern hängt somit nicht unbedingt mit dem Geschlecht der interviewenden Person zusammen (Trüeb 1994: 87). Eine weitere Besonderheit ist die Nichtthematisierung von ethnonationaler Zugehörigkeit, wenn es sich um die gleiche Gruppe handelt, der sich der Interviewte zugehörig fühlt. So wird zum Beispiel die Ehefrau nicht als ethno-national gleich präsentiert, da dies als unhinterfragte Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, wie es analog dazu auch für Deutsche selbstverständlich wäre, nicht darauf aufmerksam zu machen, dass der Partner die gleiche Staatsangehörigkeit besitzt. Auf der anderen Seite wird ethno-nationale Zugehörigkeit thematisiert, wenn es um problematische Konstellationen geht wie beispielsweise um residentielle Segregation und eingeschränkte interkulturelle Kontakte im Freundeskreis. Für die Forschungspraxis war es zudem von Vorteil, dieselben Sprachen zu sprechen wie die Interviewpartner. Sprachliche Kompetenzen von mehrsprachigen Menschen sind dabei nicht allein in der Fähigkeit zu sehen, je nach Gesprächspartner zwischen zwei oder mehreren Sprachen zu wechseln, um sich dem anderen verständlich zu machen. Vielmehr geht damit einher, dass die Gesprächspartner über ein gemeinsames Kompendium an Wissensbeständen über Alltagspraxen verfügen, dass durch die Sprache symbolisch repräsentierbar wird. Denn gerade in der Interviewsituation besteht das Risiko, „je weniger gemeinsame Erfahrungen mich mit meinem Gegenüber verbinden, je weniger kulturellen Hintergrund wir teilen, desto weniger bin ich in der Lage, Äußerungen – auf der Ebene von Konstruktionen ersten Grades – treffend zu interpretieren“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 29). Gerade die gemeinsame sprachliche Basis war sowohl bei der Kontaktaufnahme als auch in der Interaktion während der Interviews überaus hilfreich bei der Überwindung von Distanzen aufgrund ethnischer, geschlechtlicher und sozialer Unterschiede. Allerdings ist gleichzeitig zu beobachten, dass durch sprachliche Gemeinsamkeiten auch ein Vorwissen über kulturelle Praktiken und Wertsysteme als selbstverständlich vorausgesetzt wird, die als „türkisch“ markiert sind. Dies erschwert es, dass sich die Forscherin „im Verlauf [ihrer] Arbeit von der Eigenart der untersuchten Phänomene affizieren und überraschen lässt“ (Cappai 2008: 18). Die Gesamtschau der Daten, die im Laufe der Gespräche mit den interviewten türkeistämmigen Männern der zweiten und dritten Generation zusammenge-

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UND

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tragen wurden, zeigt ein heterogenes Bild.8 So sind die Bildungslaufbahnen sehr unterschiedlich verlaufen. Herr E. hat keinen deutschen Schulabschluss, sondern die siebenjährige Mittelschule in der Türkei abgeschlossen. Dagegen erreicht Herr L. in der Türkei das Abitur. Von den interviewten Männern, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, haben İlhan Uysal und Herr M. ein Fachabitur, Cemal Akkaya und Herr B. einen Realschulabschluss. Demgegenüber haben fünf der interviewten Männer (Mehmet Oktay, Sinan Koç, Herr H., Herr P, Herr N.) einen Hauptschulabschluss, der entweder in einem Abgangszeugnis nach der neunten Klasse besteht oder aber eine je nach Bundesland unterschiedliche Qualifizierung durch eine Prüfung beinhaltet. Die beruflichen Abschlüsse sind folgendermaßen verteilt: Herr H. hat keine Berufsausbildung abgeschlossen, sechs der interviewten Männer haben eine duale Berufsausbildung absolviert, İlhan Uysal und Herr M. verfügen über einen Fachhochschulabschluss. Cemal Akkaya hat ein Studium in Deutschland und Herr L. ein Hochschulstudium in der Türkei abgeschlossen. Zum Interviewzeitpunkt sind sechs der interviewten Männer in einem Vertragsverhältnis bei einem Unternehmen angestellt. İlhan Uysal und Herr M. sind Angestellte in leitenden Positionen, Cemal Akkaya und Herr H. sind selbständig und Mehmet Oktay ist Auszubildender. Die Tätigkeitsbereiche der Interviewten stellen sich wie folgt dar: İlhan Uysal und Herr M. haben einen Fachhochschulabschluss im ingenieurwissenschaftlichen Bereich und arbeiten im Projektmanagement in Automobil- oder Telekommunikationsunternehmen. Cemal Akkaya verfügt über einen Hochschulabschluss in Betriebswirtschaftslehre und arbeitet als freiberuflicher Unternehmensberater. Herr H. hat keinen beruflichen Abschluss und ist Inhaber eines Unternehmens in der Fleischverarbeitung. Mehmet Oktay, Sinan Koç, Herr B., Herr P. und Herr N. haben duale Ausbildungen in handwerklich-technischen Bereichen (Bausektor, Automobilbranche und Automobilzulieferer) absolviert. Sinan Koç, Herr P. und Herrn N. arbeiten in industriellen Großbetrieben in der Produktion im Mehr-Schicht-System. Mehmet Oktay hingegen absolviert eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Herr B. arbeitet als Fahrtrainer mit erweitertem administrativem Aufgabengebiet. Herr E. hat in Österreich eine kaufmännische Ausbildung und eine Schreinerausbildung abgeschlossen und arbeitet in einem Betrieb, der auf Industriereinigung spezialisiert ist. Eine Gegenüberstellung mit den Angaben, wie sie Gunilla

8

Die interviewten Männer, zu denen Globalanalysen vorliegen aber keine Fallrekonstruktionen durchgeführt wurden, werden mit einem Namenskürzel genannt. Die Gesprächspartner, zu denen eine Fallrekonstruktion durchgeführt wurde, haben einen Namen erhalten, der nicht mit ihrem realen Namen in Zusammenhang steht. Einen Überblick über die elf Interviewten gibt Abbildung fünf.

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Fincke (2009) für die zweite Generation analysiert hat, zeigt, dass die einfachen manuellen Berufen (Kategorien 2 und 3 der Blossfeld-Skala) am stärksten vertreten sind. Ein geringer Teil der Männer ist in der Kategorie 5 tätig und Berufe der Kategorie 4 sind nur ansatzweise vertreten, wie z.B. durch Herrn B., der als Fahrtrainer mit administrativen Aufgaben tätig ist. Abbildung 5 Grunddaten der elf biographischen Interviews

Alter

50 verheiratet Familienstand

Kinder

Höchster Schulabschluss

Höchster beruflicher Abschluss

Erwerbsstatus

1 10

ledig

1

keine

2

zwei Kinder

9

Abitur (TR)

1

Mittelschule (TR)

1

Hauptschule (D)

5

Realschule (D)

2

Fachabitur (D)

2

ohne formale Berufsausbildung

1

duale Berufsausbildung

6

Fachhochschulstudium

2

Hochschulstudium (D)

1

Hochschulstudium (TR)

1

Angestellter

5

Angestellter in leitender Position9

3

Selbständiger

2

in Ausbildung

1

Die Bildungs- und Erwerbssituation der Eltern stellt sich wie folgt dar: Während die meisten Männer Kinder und Enkel von Einwanderern aus ländlichen Gebieten der Türkei sind, war der Vater von Herrn L. vor der Migration als Unterneh9

Projektmanager mit Budget- und Personalverantwortung.

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UND

FORSCHUNGSDESIGN | 99

mer in einer westtürkischen Stadt tätig. Der Vater von Cemal Akkaya hat in einer zentraltürkischen Kleinstadt in einem Krankenhaus als Pfleger gearbeitet. Von den Müttern ist nur bekannt, dass die Mutter von Cemal Akkaya in der Türkei den Beruf der Schneiderin ausgeübt hat. Alle anderen Mütter haben keine beruflichen Abschlüsse, sind aber bis auf die Mütter von Mehmet Oktay und Herrn H. alphabetisiert. Keiner der interviewten Männer berichtet von aufenthaltsrechtlichen Schwierigkeiten aufgrund längerer Zeiten von Erwerbslosigkeit oder aufenthaltsrechtlich relevanten Verfahren. Die Aufenthaltssituation ist gesichert, Einbürgerungen sind abgeschlossen bzw. in die Wege geleitet oder aber die türkische Staatsangehörigkeit ist mit einem dauerhaften Aufenthaltstitel für Deutschland versehen. Bis auf Herrn P. sind alle verheiratet. Mehmet Oktay und Herr P. haben keine Kinder. Alle anderen Interviewten sind Väter von zwei Kindern. Für die erste ausführliche Analyse wird ein Fall ausgewählt, bei dem hinsichtlich seiner Fallstruktur sowohl strukturell wie sozial wirksame Barrieren in Form verpasster und verweigerter Bildungschancen deutlich werden. Dies ist Sinan Koç, der in Deutschland geboren wird und in einem Stadtteil in Nürnberg aufwächst, in dem der Migrantenanteil hoch ist. Die Eltern sind beide erwerbstätig, er selbst erreicht einen einfachen Hauptschulabschluss, schließt eine Ausbildung ab, kommt aber kurz darauf schon in die Industrieproduktion und arbeitet in Positionen, die nicht „ausbildungsadäquat“ sind. Bis in die Gegenwart ist er trotz erlebter Werksschließung und zeitweiser Arbeitslosigkeit in der industriellen Produktion in Vollzeit und Schichtdienst erwerbstätig. Berufliche Umorientierungen oder Weiterqualifizierungen sind nicht erfolgt. Dies ist die erste theoretische Stichprobe des Samples. Als zweite theoretische Stichprobe wird die Fallgeschichte von İlhan Uysal analysiert, da sie als maximaler Kontrast erscheint. İlhan Uysal verfügt ebenfalls über eine „problematische“ Ausgangsbasis, die darin besteht, dass er als Kind zu den Großeltern in die Türkei geschickt wird, während die Eltern beide in Nordrhein-Westfalen erwerbstätig sind. Er kommt mit sechs Jahren nach Deutschland und wird in eine Klasse mit türkischen Kindern und türkischen Lehrern eingeschult. Nach einer Gesamtschulempfehlung und umfangreicher Förderung durch einzelne Lehrer realisiert er eine mustergültige Karriere, durch die er Senior-Manager in einem Telekommunikationsunternehmen wird. Die zwei weiteren ausführlich rekonstruierten Fallgeschichten von Mehmet Oktay und Cemal Akkaya bewegen sich hinsichtlich ihrer Fallstrukturen innerhalb des breiten Spektrums zwischen İlhan Uysal und Sinan Koç. Die Globalanalysen der weiteren sieben Fälle, die nicht ausführlich dargestellt werden, beziehe ich bei der Formulierung einer Typologie im fünften Kapitel mit in die Analysen ein.

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Abbildung 6 Interviewte türkeistämmige Männer der zweiten und dritten Generation

Migrationsverlauf Geburtsland

Fallrekonstruktionen

Ergänzende Interviews

als Kind zu oder mit Elternteilen

frühe Kindheit ohne Eltern in Türkei

„Postmigrant“

Türkei

Deutschland

Deutschland

Cemal Akkaya (1966/1974)10

İlhan Uysal (1973/1978)

Sinan Koç (1978)11 Mehmet Oktay (1980)

Herr E. (1971/1994) Herr H. (1962/1977) Herr L. (1959/1971) Herr N. (1968/1978)

Herr M. (1972/1980)

Herr B. (1977) Herr P. (1984)

Die umfassenden Fallrekonstruktionen, die im vierten Kapitel dargestellt werden, erfolgen vor dem Hintergrund, die als relevant herausgearbeiteten Kategorien zum Zusammenhang von Migration und Arbeit systematisch auf der Grundlage der Biographien zu untersuchen. Dazu wurde hinsichtlich der in Kapitel 1.1 formulierten Fragestellungen, den Ergebnissen der Kontextualisierungen und dem Forschungsdesign ein Analyserahmen mit den folgenden Kategorien entwickelt: •





Arbeit wird verstanden als Erwerbsarbeit, die als wesentliches Kriterium für soziale Anerkennung von übergeordneter gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist. Generation bildet ein strukturierendes Charakteristikum sozialer Interaktionen, die vor dem Hintergrund von strukturellen Brüchen und veränderter sozialer Bezugsrahmen gerade für die Gruppe der Türkeistämmigen in Deutschland von Bedeutung sind. Zugehörigkeit wird als ein kontinuierlicher Prozess von Aneignungs- und Abgrenzungsdynamiken mit vielfältiger Ausrichtung verstanden, der durch soziale Positionierungen sowie die Konstruktion von sozialen Räumen deutlich wird.

10 Das Geburtsjahr und das Einwanderungsjahr stehen in Klammern. 11 Das Geburtsjahr steht in Klammern.

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UND

FORSCHUNGSDESIGN | 101

• Identitätskonstruktionen werden als prozessualer und langfristiger Verlauf so-

zialer Positionierungen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge betrachtet, im Sinne des von Floya Anthias (2002; 2003) entwickelten Konzepts der „positionality“.12 Diese Kategorien bilden den Analyserahmen, der den Fallrekonstruktionen im Kapitel vier zugrunde gelegt wird. Dabei werden zunächst die Interviewkonstellationen vorgestellt und ausgewertet und anschließend die Familienkonstellation untersucht. Im Anschluss an spezifisch biographisch relevante Themenkomplexe erfolgt abschließend eine Zusammenführung der thematischen Felder der biographischen Selbstpräsentationen. Im fünften Kapitel werden die Fallrekonstruktionen systematisiert und auf die Kategorien des Analyserahmens bezogen zusammengeführt. Dabei werden die weiteren Interviews aus der Gruppe der türkeistämmigen Männer der zweiten und dritten Generation auf der Grundlage der Globalanalysen einbezogen.

12 Vgl. dazu Kapitel 1.1, Seite 28/29.

4. Fallrekonstruktionen

4.1 S INAN K OÇ – „M ILLIONÄR WERDEN , UND NICHT MEHR ARBEITEN , DAS WILL DOCH JEDER “ 4.1.1 Interviewkontext Sinan Koç meldet sich telefonisch und stellt sich als „Maschinenführer“ in einem großen Unternehmen in Nordbayern vor. Er möchte gern einen Gesprächstermin vereinbaren, hat allerdings aufgrund seiner Tätigkeit im Schichtbetrieb nur an Sonntagen Zeit für ein Interview. Wir treffen uns in den Vereinsräumen des Fußballvereins in Nürnberg, in dem er aktiv ist. In einem Gemeinschaftsraum mit einem großen Flachbildschirm sitzen einige Männer und sehen sich ein Fußballspiel an. Sinan Koç erwartet mich bereits in einem Besprechungszimmer. Der Raum ist mit Wimpeln und Fotografien dekoriert. Nach der Begrüßung organisiert er uns Tee, der im Gesprächsverlauf einige Male erneuert wird. Unser Gespräch dauert fast drei Stunden. Einige Male werden wir durch Anrufe auf seinem Mobiltelefon unterbrochen, bzw. es wartet gegen Ende des Gesprächs ein Vereinsmitglied auf einen Termin. Nach zwei Stunden wundert sich Sinan Koç darüber, dass schon so viel Zeit vergangen ist. Dies verdeutlicht, dass er sich überaus intensiv in die biographischen Reflektionen über die Ereignisse der Vergangenheit eingelassen hat. Dabei erscheint er zu Gesprächsbeginn durchaus müde, da er am Vorabend zu einer Feier eingeladen war. Er hat eine anstrengende Arbeitswoche hinter sich, raucht während des Gesprächs mehrere Zigaretten und hat noch weitere Termine an seinem einzigen freien Tag der Woche. Die sprachliche Gestaltung der Eingangserzählung verdeutlicht einen abwechslungsreichen Kommunikationsstil. Mittels rhetorischer Fragen gliedert er seine Selbstpräsentation und erzeugt dadurch einen Spannungsbogen. Dabei unterlaufen ihm kleinere sprachliche Fehler, die er beispielsweise bei der Verwendung von Präpositionen und Artikeln macht, die aber aufgrund der gestalteri-

104 | B IOGRAPHIEN DER A RBEIT – A RBEIT AN B IOGRAPHIEN

schen Vielfalt in den Hintergrund treten. Er tritt als selbstbewusster Autobiograph auf, der sich als kommunikativer und kompetenter Gesprächspartner präsentiert. Unsicherheiten bestehen in der Interaktion bezogen auf Inhalte und Erwartungen, die er aufgrund meiner Position als Frau mit akademischem Hintergrund vermutet. Auch dies kann ein Grund für die besondere Gestaltung der Eingangserzählung sein, so dass er in den ersten Sequenzen seine Position im gemeinsamen Interaktionsfeld schrittweise ausgestaltet. Hinzukommt, dass er mit dem Beginn der Aufnahme im Zentrum des weiteren Geschehens steht. Dies gehört nicht zu den im Alltag von ihm als normal erlebten Situationen und führt dazu, dass er der Interaktion, auf die er sich eingelassen hat, eine besondere Bedeutung verleiht. Gleich zu Beginn werden wir durch einen Anruf auf seinem Mobiltelefon unterbrochen. (Telefonklingeln) Sinan Koç: -[Deutsch] Habe ich vergessen. I: Macht nichts. Wir können auch unterbrechen. Sinan Koç: [Türkisch] Bitte schön, ich bin zurzeit im Interview. (..) Erzähle ich dir später. Bitte- um wie viel Uhr? Wann möchtest du denn? In der nächsten Stunde geht es nicht, aber später können wir uns treffen. (…) Ja, wir telefonieren dann um halb drei noch mal. Ok? (..) In Ordnung, ok. Bis später, Tschüss. (..) [Deutsch] Dann machen wir mal lautlos… (1:34-37)1

Er zeigt sich gegenüber dem Anrufer selbstbewusst und ist stolz über die besondere Aufmerksamkeit, die er durch das Interview erhält. Zwar hat er als Mitglied im Vereinsvorstand repräsentative Aufgaben zu erledigen, trotzdem fühlt er sich durch das Interview in besonderer Weise anerkannt. Im Vorgespräch hatten wir vereinbart, dass die Interviewsprache zunächst Deutsch sein soll. Im Gesprächsverlauf wird aber deutlich, dass Sinan Koç zu bestimmten Themen zum Kontext Türkei in den türkischen Begrifflichkeiten sicherer und schneller ist, so dass mehrere Sprachwechsel stattfinden und mehrfach türkische Begriffe in die Sätze integriert werden. 4.1.2 Familienkonstellation Die Darstellung der Migrationsgeschichte der Vorgenerationen nimmt einen breiten Raum im Gespräch ein. Diese wird anhand des Großvaters väterlicher-

1

Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die Seite und die Zeilennummern im Transkript.

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seits und dem Vater umfangreich ausgestaltet. Im Kontrast dazu werden die Mutter und ihre Herkunftsfamilie kaum thematisiert und auch auf Nachfragen gibt es wenige Informationen über diesen Teil der Familie. Es ist davon auszugehen, dass diese Konstellation sowohl in ihrer Gewichtung wie auch ihrer unterschiedlich umfangreichen inhaltlichen Ausgestaltung biographisch relevant ist. Der Großvater als Pioniermigrant Die Familie von Sinan Koçs Vater stammt aus einem Dorf in der Schwarzmeerregion. Sein Großvater kommt Anfang der 1970er Jahre ins nördliche Bayern und arbeitet in einer Gießerei. Er steht im Vordergrund der Migrationsgeschichte der Familie, wie sie Sinan Koç präsentiert und ist in seiner Darstellung der zentrale Pionierwanderer der Familie. Mit ihm leitet Sinan Koç seine Lebensgeschichte ein und führt ihn in der ersten Sequenz der Haupterzählung mit der familiären Bezeichnung „Opa“ ein. Bereits diese umgangssprachliche Bezeichnung weist auf große Nähe und Vertrautheit hin. Für die nicht eingeweihte Interviewerin bleibt zunächst offen, ob es sich um den Großvater väterlicherseits oder mütterlicherseits handelt. Der Zusammenhang erschließt sich dann indirekt durch die Erwähnung des Vaters. Sinan Koç hingegen erscheint es selbstverständlich, dass es um den Vater des Vaters geht. Aufgrund der Tatsache, dass nur wenige Erinnerungen an den Großvater vorhanden sind, auch deshalb, da Sinan Koç bei seiner endgültigen Rückkehr in die Türkei erst fünf Jahre alt ist, konstruiert er den Großvater als Figur, die den Idealtypus des „Gastarbeiters“ symbolisieren soll. Sinan Koç: Der Opa ist glaub- also Jahrzahl- Jahr, wann das war, weiß ich jetzt nicht, Siebziger Jahre war das. Ist einer von den ersten (.) Türken sage ich jetzt mal, der von Türkei nach Deutschland gekommen ist, um Geld zu verdienen, eh- bisschen Geld zu sparen für eine Wohnung, für ein Auto, also damals nicht Auto, also besser gesagt für ein Pferd oder Kuh, sagen wir mal [...] sagen wir mal, weil wir vom Dorf her kommen ne? und da braucht man halt Tiere, um- um die Pflanzen oder um die wie sagt man (.) (Fingerschnippen) tarla. I: Tarla, die Felder. Sinan Koç: Genau, um die Felder zu bearbeiten ne- dafür. Aber, was ist passiert, die sind gekommen, ganz andere Klima, eh- die haben geschaut, aha, gutes Geld, sind dann irgendwie hiergeblieben ne- weil hier damals sehr, sehr gutes Geld verdient haben… (1:4346)

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Die Person des Großvaters wird in der Präsentation mit bedeutsamen Attributen ausgestattet. Dies ist zum einen die Darstellung, dass er einer „von den Ersten“ war, die nach Deutschland kamen.2 Möglicherweise war er einer der ersten seines Dorfes und/oder der weiteren Verwandtschaft, die nach Deutschland gegangen sind und damit war er aus der inneren Perspektive der erweiterten Familie von Sinan Koç einer „der ersten Türken“. Eine weitere Besonderheit ist die Bescheidenheit des Großvaters. Das zentrale Motiv „Geld zu verdienen“, schwächt Sinan Koç in seiner Bedeutung durch die Ergänzung „ein bisschen“ ab und betont dadurch umso mehr das maßvolle Handeln des Großvaters. Die Konsuminteressen sind bescheiden und beziehen sich auf das Leben in einer ruralen Türkei ohne technologische Veränderungen und Automatisierung der Landwirtschaft. Sinan Koç präsentiert seinen Großvater als überaus engagierten aber dennoch bescheidenen Vertreter der ersten Einwanderergeneration.3 Dabei wird die besondere Betonung ökonomischer Interessen vermieden. Wirtschaftliche Not und ländliche Armut als Auswanderungsmotiv spielen in den Darstellungen keine Rolle und auch die weiteren familiären und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Auswanderung des Großvaters werden nicht angesprochen. Dies liegt zum einen daran, dass Armut immer auch mit Schamgefühlen verbunden ist, und darüber hinaus die Präsentation des Großvaters die Funktion hat, einen Blick zurück auf den Anfang des erfolgreichen Migrationsprojekts zu werfen, das von ihm initiiert wurde. Die ausführliche Beschäftigung mit der Figur des Großvaters ist damit zum einen in das thematische Feld Geld verdienen einzuordnen, das in der Präsentation der Lebensgeschichte von Sinan Koç eine zentrale Rolle spielt. Auch wenn ökonomische Interessen legitime Migrationsmotive darstellen, so wird die existenzielle Not verneint und Maximierung des Gelderwerbs als Teil eines individualistischen Leistungsdenkens abgelehnt. Dies geschieht auch in dem Bewusstsein, dass Sprechen über Geld interkulturell unterschiedlich praktiziert wird. Während im Kontext Türkei grundsätzlich offen und direkt über Geld gesprochen wird, ist Geld im Kontext Deutschland zunächst ein

2

Wenn der Großvater in den 1970er Jahren eingewandert ist, so ist er in der Migrationsgeschichte nicht einer der ersten, da das Anwerbeabkommen mit der Türkei bereits im Jahr 1961 geschlossen wurde und bereits 1973 der Anwerbestopp verhängt wird.

3

Der Arbeitseinsatz in körperlich anstrengenden Arbeitsbereichen im Schichtdienst und mit Akkordentlohnung ist hoch und führt dazu, dass die türkischen Arbeitsmigranten bei den Arbeitgebern beliebt sind und als besonders „fleißig“ gelobt werden. HansJürgen Kleff (1985: 109) weist darauf hin, dass die türkischen Migranten besonders beim Akkordlohn großen Einsatz gezeigt haben, und diese Haltung auf Ablehnung bei ihren deutschen Kollegen gestoßen ist.

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Thema, das mit Vorsicht angegangen wird.4 Andererseits ist auch zu vermuten, dass die Einschränkung der ökonomischen Interessen eine Folge von hegemonialen Diskursen ist, die Einwanderern grundsätzlich wirtschaftliche Motive unterstellen. Dies geht soweit, dass in rassistischen Äußerungen und den Witzen, die über Türken in Deutschland im Umlauf sind, Geldgier und Bereicherung auf Kosten der Deutschen und des deutschen Sozialstaates ein zentrales Thema sind.5 Als dritte Dimension kommt hinzu, dass durch das Wohlstandsgefälle zwischen der Türkei und Deutschland, der für deutsche Verhältnisse bescheidene Überschuss, den der Großvater erarbeitet, in der ländlichen Türkei die Grundlage für ein Leben in Wohlstand bildet. Alle diese Faktoren führen meiner Ansicht nach dazu, dass sich Sinan Koç bei der Präsentation der Migrationsmotive des Großvaters zurückhält und ihn als bescheidenen, fleißigen Mann darstellt, der keine kontinuierliche Einkommensmaximierung zum Ziel hatte. In einem zweiten thematischen Feld, der Legitimierung der Zugehörigkeit zu Deutschland, spielt die Figur des Großvaters wiederum eine wichtige Rolle. Sinan Koç betont bereits während der einleitenden Frage, dass er seit seiner Geburt in Deutschland lebt, in dem er bekräftigt, „ich bin hier geboren“. Vom Großvater und seinen Eltern unterscheidet ihn der Geburtsort, allerdings sieht er sich in der legitimen Nachfolge des Pioniermigranten seiner Familie, der den Anstoß für die Migration gegeben hat. Daraus folgt eine Lokalisierung der familiären Tradition in Deutschland, die mehrere Generationen umspannt und dazu führt, dass Sinan

4

Leider sind mir keine Untersuchungen zum Thema bekannt, so dass ich hier persönliche Einschätzungen aufgrund alltäglicher Erfahrungen einfließen lasse. In der Türkei wird in Alltagssituationen offen über den Preis für Produkte und Dienstleistungen gesprochen. Gute Geschäfte machen diejenigen, die im Vergleich zu anderen am wenigsten bezahlen. Der Preis ist nicht fix, sondern variabel. In Deutschland besteht dagegen eine große Zurückhaltung, so dass zu hören ist: „Über Geld spricht man nicht.“ Ich gehe davon aus, dass keine unveränderbaren Regelsysteme als geschlossene Einheiten bestehen, sondern in der Alltagspraxis einer Migrationsgesellschaft in alle Richtungen modifiziert werden. Ein Beispiel dafür ist das Bezahlen im Restaurant mit getrennten Rechnungen, was in der Türkei unüblich ist und deshalb unter der Bezeichnung „Rechnung auf deutsche Art“ (hesap Alman usulü) Eingang in die türkische Alltagskommunikation gefunden hat. Darauf weist auch Werner Schiffauer (1991: 340) hin.

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Ich gebe die Witze und Äußerungen hier nicht im Detail wieder, denn bereits oberflächliche Recherchen im Internet bringen eine Vielzahl solcher Witze mit rassistischen Stereotypen hervor, in denen die Themen Geld, Geiz und Ausgabeverhalten eine Rolle spielen.

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Koç bereits aufgrund der Dauer dieser Phase für sich beansprucht, als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt zu werden. Vater und Mutter als „işçi aile çocuğu“ – Kind aus einer Arbeiterfamilie6 Der Vater von Sinan Koç kommt 1974 im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland. Er ist bei Einreise etwa 16 Jahre alt und bekommt durch die Vermittlung seines Vaters eine Stelle in einem türkischen Lebensmittelgeschäft in Nürnberg. Anschließend wechselt er mehrmals die Tätigkeit und hat etwa acht Jahre lang einen Gemüsestand. Danach arbeitet er in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarktes bis er schließlich etwa 1988 eine feste Anstellung in einem Großkonzern erhält. Im starken Kontrast zum Großvater präsentiert Sinan Koç den Lebenslauf seines Vaters aus einer sehr persönlichen Perspektive und geht bereits in der Eingangserzählung auf seine schwierige berufliche Laufbahn ein. Der Vater profitiert als Kind eines Arbeitsmigranten in Deutschland vom Wohlstandszuwachs im Kontext Türkei, muss aber längere Zeit auf die Anwesenheit seines Vaters verzichten.7 Der Familiennachzug erfolgt, nachdem er die Schule verlassen hat und in der Türkei jenseits der Landwirtschaft keine weiteren beruflichen Perspektiven zu erwarten sind. Der Großvater kalkuliert sein zunächst temporär angelegtes Migrationsprojekt mit allen potentiellen Arbeitskräften, die die Familie zur Verfügung hat. Er holt alle Söhne nach dem Erreichen eines arbeitsfähigen Alters innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums nach Deutschland. Die Ehefrau und die Töchter bleiben

6

İşçi aile çocuğu bedeutet übersetzt „Kind aus einer Arbeiterfamilie“. Dieser Begriff ist jedoch nicht mit dem deutschen Begriff Arbeiterkind zu übersetzen, da es sich im Kontext Türkei (auch) auf die Kinder mit im Ausland arbeitenden Elternteilen bezieht. Kind eines Arbeiters zu sein bedeutet dann, einen Zugang zu Konsum, sozialen Dienstleistungen und damit einem sozialen Aufstieg aus der Masse der unterbeschäftigten und armen Landbevölkerung in Aussicht zu haben. Darüber hinaus verfügen die Familien durch das Assoziationsabkommen mit der EG von 1964 und den Regelungen der Wanderarbeitnehmerkonvention der UN über einige Vorrechte.

7

Aufgrund des Assoziationsabkommens der EG wird in dieser Zeit Kindergeld auch für im Ausland lebende Kinder von in Deutschland arbeitenden türkischen Staatsangehörigen gezahlt.

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in der Türkei.8 Er verwaltet als Haushaltsvorstand die gemeinsam erwirtschafteten Gelder bis zur Haushaltsgründung der Söhne und kann damit Investitionen im Sinne der von ihm definierten Familieninteressen tätigen. Diese Aufgabenverteilung folgt den Organisationsprinzipien wie sie innerhalb des landwirtschaftlichen Familienbetriebs in der Türkei mit einer Erweiterung durch die transnationale Komponente praktiziert werden. Die Bescheidenheit jedoch mit der Sinan Koç den Großvater einführt, wird dadurch kontrastiert und verdeutlicht, dass der Großvater strategische Entscheidungen für eine kontinuierliche Verbesserung der Einkommenssituation des transnationalen Haushalts trifft. Für den Vater von Sinan Koç und dessen Brüder bedeutet dies allerdings, dass sie als Teil des Migrationsprojekts des Großvaters nach Deutschland einreisen, um durch Erwerbsarbeit an einer Maximierung des Familieneinkommens mitzuwirken. Eine Qualifizierung und Weiterbildung ist nicht das Ziel der Migration, so dass sich an die Einreise für den Vater unmittelbar eine Tätigkeit in einem türkischen Lebensmittelgeschäft anschließt. Formale Qualifizierungen werden dafür weder vorausgesetzt noch erworben, und die Umgangssprache im Arbeitsalltag ist Türkisch. Am Beispiel des Vaters zeigt sich dadurch die problematische Lage der frühen zweiten Generation. Er kommt 1974 in einer Zeit nach dem Anwerbestopp nach Deutschland, in der die Arbeitslosenzahlen ansteigen und der Bedarf an ungelernten Arbeitern aus dem Ausland zurückgeht. Er ist ein noch minderjähriger Jugendlicher, allerdings besteht keine Schulpflicht mehr, und er ist ökonomisch und strukturell vom Vater abhängig, der sich mit den Verhältnissen besser auskennt. Verbindliche Angebote für Neuzuwanderer hinsichtlich Sprache und Ausbildung bestehen nicht. An seinem Beispiel zeigen sich auch die erheblichen Unterschiede zwischen den beruflichen und sozialen Perspektiven der ersten und zweiten Generation. Der Großvater hat als ökonomischen und sozialen Bezugsrahmen seines Projekts Migration die Türkei. Die Anerkennung seiner Leistungen als Industriearbeiter, Familienvater, evt. auch als Landbesitzer und Unternehmer erfolgen im Kontext des Herkunftslandes. Dort erreicht er im Verhältnis zu denjenigen, die nicht migriert sind, einen erheblichen sozialen Aufstieg, kann seine Familie besser versorgen und seinen Grund-, Immobilienund Maschinenbesitz vergrößern.

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Aufgrund der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Migrationsstrategie der Familie – der Ehemann migriert, holt die Söhne nach, Ehefrau und Töchter bleiben im Dorf – ist zu vermuten, dass traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung praktiziert wurde. Die Frauen arbeiten im Haushalt und im familiären Umfeld auf den Feldern. Die Migrationsstrategie der Familie der Mutter hingegen schließt auch die Frauen mit ein.

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Der Vater jedoch entscheidet sich mit der Ehe und Vaterschaft für Deutschland als neuen sozialen Bezugsrahmen. Ob er diese Entscheidung bewusst trifft, oder aber auch immer wieder über Rückkehr nachdenkt, ist nicht bekannt. In der Alltagspraxis wird schnell deutlich, dass eine Rückkehr in die Türkei nach der Entscheidung zur Eheschließung und der Geburt von Kindern keine interessante ökonomische Alternative darstellt. Allerdings vergrößern sich mit der Familiengründung die finanziellen Erwartungen, denen er nur schwer gerecht werden kann. Aus den vorhandenen Informationen ist abzuleiten, dass die Migration für den Vater von Sinan Koç ein überaus kritisches Lebensereignis dargestellt hat. Er kommt in ein Land, dessen Sprache und soziale Strukturen ihm unbekannt sind. Der eigene Vater ist ihm aufgrund der langjährigen Abwesenheit fremd geworden, und er ist darüber hinaus überwiegend mit Erwerbstätigkeit beschäftigt. Die Mutter und die bekannte dörfliche Umgebung mit ihren alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind nicht mehr vorhanden. Für den Großvater steht vor allem der Gelderwerb im Vordergrund, Investitionen werden in der Türkei geplant und getätigt, im Haushalt im Migrationsland wird möglichst wenig Geld ausgegeben. Die berufliche Positionierung in der Arbeitswelt ist aufgrund dieser zahlreichen Reglementierungen, die zusätzlich zu sozialen Rahmenbedingungen wirken, für den Vater von Sinan Koç über einen Zeitraum von 15 Jahren hinweg problematisch. Diese spezifische Familienkonstellation führt dazu, dass Sinan Koç seinen Vater bereits in der Eingangserzählung mittels einer Erzählung einführt, die die problematische Lebenssituation des Vaters emotional einzuordnen versucht. Genau, acht Jahre ist er selbständig gewesen, (..) dann (.) ist er zu, hat er bisschen Probleme mit der Stadt gehabt mit der Polizei, haben sie seine Gewerbe weggenommen, weil er zu gutmütig war. Weil er einer türkischen Familie helfen wollte, der allein erziehende Mutter ist und einen 16-, 17-jährigen Kind hat, der in die Schule geht. Wollte ihnen halt helfen, weil die Mutter zu ihm gekommen ist und gemeint hat, ja ich bin allein erzogen, ich komme nicht zurecht, können Sie mir helfen, dass mein Sohn nach der Arb- nach der Schule mal ab und zu mal bei ihnen aushilft und sein Taschengeld verdient. Und das ist ja halt alles dann eh- nicht wie heuer halt 400 Euro Basis gelaufen, nicht unter Papiere, also sagen wir mal schwarz. Und der Junge, weil mein Vater sehr gutmütig war, hat ihr einen Gefallen gemacht (lacht) [...] (2:37-45)

Die Darstellung verdeutlicht Unsicherheiten in der Wortwahl und wird begleitet durch Pausen, die dazu dienen, die Gedanken zu ordnen. Im Gegensatz zum Großvater präsentiert er den Vater als eine Person, die ökonomisch schwach ist und sich nicht in der Arbeitswelt behaupten kann. Im Mittelpunkt der familiären

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Migrationsgeschichte stehen somit zwei Männer, die mit ihren stark kontrastierenden Charaktereigenschaften für Sinan Koç eine bedeutende biographische Relevanz haben. Während der Großvater als derjenige präsentiert wird, der sich ums Geldverdienen kümmert, verkörpert der Vater ein positives Vorbild für die Gestaltung sozialer Beziehungen auf der Grundlage eines humanitären Weltbildes jenseits ökonomischer Interessen. Die biographischen Daten zur Mutter sind im gesamten Interview gering und lassen sich nur aus den im Hintergrund vorhandenen Andeutungen rekonstruieren. In der Haupterzählung wird die Mutter lediglich als Randfigur erwähnt. Sie lernt den Vater in Deutschland kennen und hat Geschwister, die über einen langen Zeitraum in dem Großunternehmen arbeiten, in dem sowohl sie selbst als auch der Vater beschäftigt sind. Ihre Familie stammt ebenfalls aus einem Ort am Schwarzen Meer und ihr Vater kommt wie der Großvater väterlicherseits zum Arbeiten nach Deutschland. Aus dem Interviewmaterial geht nicht hervor, ob ihre Familie ebenfalls aus einem Dorf stammt, allerdings sind die Familien miteinander als hemşehris9, aus demselben Dorf oder derselben Stadt, verbunden. Sie selbst reist etwa Mitte der 1970er Jahre als Touristin ein und arbeitet als Reinigungskraft. Während Sinan Koç ausführlich auf die wechselhafte Berufslaufbahn des Vaters eingeht und erleichtert damit abschließen kann, dass der Vater einen Arbeitsplatz im Großunternehmen erhält, erwähnt er lediglich in einem Nebensatz, dass die Mutter bereits vor dem Vater bei der AEG gearbeitet hat, dem zentralen Arbeitgeber der Region, in der die Familien leben. Insgesamt ist bis zur Werksschließung ein großer Teil der Familie der Mutter, der Vater und auch Sinan Koç selbst dort beschäftigt. Es bleibt allerdings unklar, ob die Familie der Mutter in einer ökonomisch besseren Position war als die Familie des Vaters und darüber hinaus nur bereit war, der Mutter zu einem Arbeitsplatz zu verhelfen. Somit wird deutlich, dass die Mutter über eine enge Vernetzung mit ihrer Herkunftsfamilie verfügte und darüber Arbeitsplätze vermittelt werden konnten. Zudem sieht sie sich dafür verantwortlich, einen Beitrag zum Einkommen ihrer Familie zu leisten. Ob dies innerhalb der Paarbeziehung einvernehmlich geregelt oder aber aufgrund der schwierigen Lage des Vaters eine Notlösung war, ist aus dem Interview nicht zu rekonstruieren. Die Präsentation deutet allerdings an, dass sich an dieser Stelle unausgesprochene Spannungsfelder auftun. Es besteht

9

Zum Begriff hemşehri vgl. Kapitel 2.2, Seite 49/50.

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eine emotionale Distanz zur Mutter und vielleicht auch zu ihrer Familie über deren Ursachen im Interview nicht gesprochen wird .10 So präsentiert Sinan Koç den Vater als Einzelkämpfer in schwieriger Lage, der sich immer wieder eigenständig um die Versorgung der Familie bemühen muss. Der finanzielle Beitrag der Mutter zum familiären Einkommen findet keine Wertschätzung. Ihr Beitrag zum Haushaltseinkommen aber auch zur Hausund Familienarbeit werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Überidentifikation mit den Problemen des Vaters in der Vergangenheit verdeutlicht die Gewichtung der innerfamiliären Beziehungen. Der Vater ist das große Vorbild hinsichtlich der eigenen Bemühungen in der Gegenwart, wenn es um den ganz persönlichen Erfolg bei der finanziellen Absicherung von Ehefrau und Kindern geht. Der messbare ökonomische Erfolg, den der Vater erzielt hat, ist dabei weniger bedeutend als die in der Praxis unternommenen Anstrengungen. Kindheitserfahrungen im segregierten Stadtteil Sinan Koç präsentiert seine Biographie zunächst, ohne auf die Kindheit einzugehen. So springt er in der Chronologie von der Geburt direkt zum Hauptschulabschluss. Im Nachfrageteil ergeben sich dann in drei Sequenzen Rückblicke auf die frühe Kindheit.11 Allen drei Sequenzen ist gemeinsam, dass die knappen Darstellungen von Ereignissen und Erfahrungen in der Vergangenheit jeweils mit aktuellen Situationen des Lebens der Gegenwart kontrastiert werden. Der unmittelbare Vergleich mit der Gegenwart erleichtert dabei den Zugang zu den Erinnerungen. Die Retrospektive vermittelt die sichere Distanz des Erwachsenen, der diese Phase als abgeschlossen betrachtet. Damit deutet Sinan Koç an, dass er nicht gern an die eigene Kindheit zurückdenkt und sich als ältester Sohn der Familie schnell in der Welt der Erwachsenen eingefunden hat, in der erwartet wurde, dass er Verantwortung für sein Leben übernimmt. Im Zentrum seiner Kindheitserinnerungen steht der Nürnberger Stadtteil Gostenhof, in dem er von seiner Geburt 1978 bis zur Heirat gemeinsam mit den Eltern lebt. Er ist das erste Kind der Familie, die Eltern heiraten im Jahr davor. Die Nennung des Namens

10 Im starken Kontrast dazu nimmt die Mutter in den anderen drei Fallrekonstruktionen einen größeren Raum ein. Sie ist Ansprechpartnerin für persönliche Probleme, die mit dem Vater nicht offen besprochen werden können (İlhan Uysal) oder aber wird aufgrund ihrer Leidensgeschichte in das Zentrum der Aufmerksamkeit des erwachsenen Sohnes gestellt (Cemal Akkaya). 11 Themen sind gemeinsame Urlaube mit den Eltern in der Türkei, der nicht erfolgte Kindergartenbesuch und der Alltag im Stadtteil.

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allein schon führt dazu, dass er an den Schauplatz der Kindheit zurückkehrt. Dies erfolgt in Gestalt von detaillierten Beschreibungen des Raumes und den damit im Zusammenhang stehenden Assoziationen. In Gostanbul, wie das ist im Sommer, bis um Mitternacht war die Hölle los, immer laut. Wenn man vom Fenster geschaut hat, hat man gesehen aha- die Familien haben sich Stühle runtergeholt. Auf der Straße haben die, auf dem Gehweg, sage ich jetzt mal, die Frauen haben sich auf die Stühle gesetzt und el işi, Handarbeit gemacht, die Jungs haben Fußball gespielt, so kleines Tischle gehabt, çay getrunken, Tee getrunken. War wie in Türkei, also hab (lacht) keine Probleme gehabt. (8:24-30)

Die Darstellung beschreibt keinen konkreten Tag, vielmehr die Erinnerung an eine Summe glücklicher Tage der Kindheit, in denen es laut und fröhlich zuging. Die „Hölle“ ist somit eine positiv besetzte Metapher für einen aufregenden, abenteuerlichen Alltag. Es erinnert an Schilderungen von Migranten, die auf die Zeit im Dorf vor der Migration zurückblicken und suggeriert einen intakten Mikrokosmos einer homogen türkisch konstruierten Gemeinschaft, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Verwandtschaft, Nachbarschaft und gemeinsame regionale Herkunft sind soziale Vernetzungskategorien, die das Leben im Stadtteil strukturieren. Die Schlussevaluation dieser Sequenz, die den Alltag als „wie in der Türkei“ zusammenfasst, vermittelt den Eindruck, dass eine gegenseitige Unterstützung bei Kinderbetreuung und Haushaltstätigkeiten praktiziert wird, unhinterfragte Vertrautheit mit den geteilten Regeln und Normen besteht und die räumliche Mobilität auf den unmittelbaren Nahraum konzentriert ist. Die Einführung in den Stadtteil erfolgt durch die Namensadaption, die aus Gostenhof in Anlehnung an die türkische Metropole Istanbul „Gostanbul“ macht. Damit präsentiert er sich als Kenner der informellen Lokalgeschichte, die der Interviewerin unbekannt ist. Der offizielle Name muss von mir als nicht eingeweihter Fremder erst mittels weiterer Fragen erschlossen werden. Sinan Koç ist erfreut, sich als Experte für die lokale Tradition und Aneignung von Raum durch die Migranten aus der Türkei zu präsentieren. Da der Begriff in Nürnberg überaus geläufig ist, gehe ich davon aus, dass er diesen Begriff bereits als Kind gehört hat.12 Sinan Koç entwirft den sozialen Raum der Kindheit entlang positi-

12 Recherchen haben ergeben, dass der Name seit geraumer Zeit im Umlauf ist. In einer Lokalzeitung und im Internet sind Fotografien mit dem Schriftzug „Gostanbul“ an Hauswänden zu finden. Weiterhin wird der Begriff in der Soziokultur wie auch in der informellen Jugendsubkultur verwendet. Seit wann der Begriff im Umlauf ist, war jedoch nicht herauszufinden.

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ver Identifikationen. Die Beanspruchung des Stadtteils als „Gostanbul“ suggeriert ethnische Homogenität, ohne dass klar wird, wie die tatsächlichen demographischen Verhältnisse waren. Der Ausschnitt seiner Kindheitserinnerungen kann sich auf einen kleinen Innenhof beziehen, umgeben von Mietshäusern, in denen vor allem türkische Familie gelebt haben, oder aber sie waren diejenigen, die in den Sommermonaten den Hof genutzt haben und sich damit den Raum angeeignet haben. Sinan Koç entwirft in seinen Beschreibungen den idealisiert konservierten Ort seiner Kindheit, der dadurch gekennzeichnet ist, dass es „wie in Türkei“ war und es deshalb „keine Probleme“ gab. Individuell handelnde Personen kommen nicht vor, die Eltern, weitere Verwandte und Nachbarn gehen in der atmosphärischen Ausgestaltung auf. Gleichzeitig aber wird das Gegenbild in dem idealen Bild mitgeliefert, da die Welt außerhalb des Stadtteils eben nicht „wie in Türkei“ ist und demzufolge durch „Probleme“ gekennzeichnet ist. So muss das sichere Refugium der Kindheit mit Hilfe von außen, das heißt der deutschen Polizei, „sauber gemacht“ werden. Kriminalität und Drogenhandel thematisiert er als die problematische Seite des Stadtteils, den er dann offiziell mit der deutschen Bezeichnung Gostenhof benennt, und distanziert sich damit vom ethnisch homogenisierten unproblematischen „Gostanbul“. Aufgrund des dichotomen Bilds zwischen den konträren Polen „kein Problem“ und „wirklich sehr schlimm“ verdeutlicht er seine individuelle Auseinandersetzung mit dem Ort der Kindheit und Jugend. Vor allem als Heranwachsender ist er im Alltag gefordert, sich mit den Problemfeldern des segregierten Wohnviertels auseinanderzusetzen. Von der Stigmatisierung ist er persönlich betroffen, seine Identifikation mit „Gostanbul“ ist gefährdet, wenn Gostenhof in der Öffentlichkeit in Zusammenhang mit „Drogen“ und „Ärger“ gebracht wird. Die dritte Dimension seiner Selbstverortung in Gostanbul-Gostenhof als sozialem Raum erfolgt in einer retrospektiven Zusammenfassung seiner individuellen Laufbahn. Den Stadtteil Gostenhof präsentiert er als die zentrale Ursache für vorhandene sprachliche Defizite und alle weiteren Nachteile, die sich daraus für Bildung, Ausbildung und Beruf ergeben. Und da bin ich halt aufgewachsen, habe 21 Jahre lang dort gelebt. Bin dort in die Schule gegangen, ist auch deswegen mein Deutsch so bisschen äh- Bruchdeutsch, sage ich mal, weil ich nur unter Ausländern aufgewachsen bin. Wenn ich vielleicht in einem anderen Stadtteil aufgewachsen wäre, wäre anders, weil gehst du in die Schule hast du nur türkische Freunde, kommst du von der Schule nach Hause, wird türkisch geredet. Gehst du dann Fußball spielen, ich habe 20 Jahre noch Fußball gespielt, geh ich in Verein Fußball, auch Türken. War nur in der türkischen Umgebung, bin ich aufgewachsen, deswegen ist auch mein Deutsch so bisschen bruchmäßig. Aber hab kein Problem damit. (8:14-21)

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Damit kann er seine persönlichen Defizite, die ihm in der Gegenwart bewusst sind, im sozialen Raum „Gostanbul“ verorten und damit die Verantwortung für seinen geringen Erfolg in den Bildungsinstitutionen auf die strukturellen Rahmenbedingungen zurückführen. Sein Umfeld ist vor allem türkischsprachig, der Aktionsradius ist auf den Stadtteil und seine türkischen Bewohner begrenzt. Die Eltern treffen die Entscheidung, in dem Stadtteil zu wohnen, der günstigen Wohnraum, Nähe zu Verwandten und Bekannten und eine sich entwickelnde türkischsprachige Infrastruktur zu bieten hat. Als Sinan Koç geboren wird, betreibt der Vater einen Gemüsestand, mit dem er auf Märkten in verschiedenen Stadtteilen unterwegs ist. Die Mutter ist zumindest stundenweise als Hilfskraft erwerbstätig. Die Kinderbetreuung kann möglicherweise in den türkischen Hausgemeinschaften gemeinsam organisiert werden.13 Dies erklärt wohl auch die Erinnerungen an Spiele im Freien und Frauen, die Handarbeiten erledigen, die Sinan Koç mit dem Stadtteil Gostenhof verbindet. Damit wird auch die geschlechtliche Arbeitsteilung mit anwesenden Müttern und abwesenden Vätern deutlich. Insgesamt spricht er kaum über Erfahrungen und Ereignisse, die in Zusammenhang mit seinen Eltern stehen. Bezogen auf das Thema Kindergarten wird lediglich die Unwissenheit der Eltern argumentativ ausgestaltet. Erst bei seinen jüngeren Geschwistern informieren sich die Eltern über die Möglichkeit, die Kinder im Kindergarten betreuen zu lassen. Für Sinan Koç bedeutet die ausschließliche Betreuung in einem türkischsprachigen Umfeld, dass er bis der Einschulung keinen Kontakt zur deutschen Sprache und Bildungsinstitutionen hat. 4.1.3 Die verpassten Gelegenheiten der Bildungslaufbahn Die Schullaufbahn In der Haupterzählung wird die Schulzeit als Einheit präsentiert, ohne dass Sinan Koç näher auf die einzelnen Schulphasen eingeht. Nach einer kurzen Sequenz zur Jugend geht er direkt zum Erreichen des Hauptschulabschlusses über. Dieser stellt für Sinan Koç lediglich ein Übergangsstadium dar, um anschließend eine weiterführende Schule zu besuchen, wozu es aber nie kommt.

13 Im Rahmen gegenseitiger Unterstützung kann die Kinderbetreuung aufgeteilt werden. So können dann ältere Geschwister oder ältere Kinder aus den Familien mit der Aufsicht der jüngeren Kinder beauftragt werden. Ausgaben für einen Kindergartenplatz sind dann nicht erforderlich, wenn über die sozialen Netzwerke eine kostenlose Beaufsichtigung übernommen werden kann.

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Eh- ich habe hier den Hauptschulabschluss fertiggemacht, (Name der Schule) (.) 1993dann habe ich als- (…) angefangen, weil wollte erst weiter in die Schule gehen, aber da die Anmeldedatum verpasst habe, musste ich ein Jahr Pause machen. Habe ich mir überlegt, ja, was soll ich jetzt ein Jahr machen. Wieder ein Jahr über die Eltern leben, oder mach mal halt lieber mal ein Ausbildungsplatz anfangen und wenns mir gefällt schauen wir halt mal. Wollte also- mein Plan war eigentlich ein Jahr Ausbildung machen und mich für nächstes Jahr vorbereiten, anmelden und die Ausbildung abbrechen und weiter zur Schule gehen. Aber ist nicht passiert (lacht) [...] (3:15-21)

Bereits in dieser kurzen Sequenz taucht das thematische Feld der verpassten Gelegenheiten zum ersten Mal auf. Während die Wohnumgebung und der Kindergarten noch ausschließlich in der Verantwortung der Eltern liegen, sieht er sich hier selbst aufgefordert, den eigenen Anteil an der verpatzten Schulkarriere zu plausibilisieren. Dies erfolgt auch nicht erst auf Nachfragen sondern eigenständig als Teil der Haupterzählung. Das Hauptinteresse der Darstellung liegt darin, seine individuellen Kompetenzen zu betonen, mit denen er die Hauptschule verlassen hat. Dadurch entsteht der Eindruck, dass er sich trotz des Besuchs der Hauptschule als ein guter Schüler mit ausbaufähigen Bildungsmöglichkeiten präsentieren möchte. Dass es dazu nicht gekommen ist und welche Erklärungsmuster Sinan Koç dafür anbietet, zeigt sich erst im Nachfrageteil des Interviews. Er beginnt die Grundschulzeit ohne Kenntnisse der deutschen Sprache und hat innerhalb des familiären und nachbarschaftlichen Umfeldes überwiegend türkisch gesprochen. Dadurch wird der Grundschulbesuch zur ersten kontinuierlichen Kontaktaufnahme mit einem deutschsprachigen Umfeld. Bei der Präsentation seiner Bildungslaufbahn geht er auf die Zeitpunkte ein, an denen die Übergänge zwischen den Bildungsinstitutionen erfolgen und gestaltet sie vor allem argumentativ aus. Die alltägliche Praxis in der Schule ist für ihn kein Thema. So leitet er von der Begründung, warum er nicht in den Kindergarten geht, direkt zum Schulwechsel nach der vierten Klasse über. Ab der vierten Hauptschule und da habe ich die Möglichkeit gehabt, ab der vierten Klasse zum Gymnasium zu gehen von den Notendurchschnitt her, aber damaliger Lehrer hat gemeint, ich soll noch ein Jahr in die Hauptschule gehen, mich noch bisschen verbessern, nicht dass ich dann die Schwierigkeiten wegen Deutsch kriege und meine Eltern, ja, die haben ja nicht so viel Zeit gehabt, weil einer war immer Zuhause und der andere war arbeiten, die könnten ja mit mir nicht viel lernen oder mir behilflich sein, wie jetzige Jugend, sage ich jetzt mal. Haben wir gemeint, ja- ok ein Jahr noch, wupp wieder verpasst. (19:27-33)

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In der vierten Klasse sind es die Lehrer, die sich gegen das Gymnasium aussprechen, und sie werden aufgrund ihrer Haltung gegenüber Sinan Koç als Kind von Migranten in erster Linie für die verpassten Gelegenheiten der schulischen Laufbahn verantwortlich gemacht.14 Die Eltern sind ebenfalls Adressaten, denen aber nur ein geringerer Teil der Verantwortung übertragen werden kann, da sie selbst zu wenig über die Institutionen wissen. In später folgenden Sequenzen erweitert er die Defizite der Eltern um deren „Vertrauen in die Lehrer“ und den Umstand, dass sie sich auf Deutsch nicht gut ausdrücken konnten, so dass sie sich nicht „durchsetzen können“. Dadurch wird der Zusammenhang von Wissen und den damit verbundenen Gestaltungsspielräumen deutlich. Die Lehrer sind als Wissende in der Position, Macht durch ihre Bewertungen und Einordnungen auszuüben. Sie sind die zentralen Gatekeeper, von denen die Eltern annehmen, dass sie kompetente und gewissenhafte Entscheidungen treffen. Die Eltern werden angesichts der Übermacht der Strukturen wegen ihres Wissensdefizites als machtlos wahrgenommen. Sinan Koç entlastet sie aber retrospektiv aufgrund ihrer Einwanderungsgeschichte von der Verantwortung. [...] haben immer den Lehrern vertraut und ich sehe mal- das ist denen ihre Fehler gewesen, weil ich bin in der Meinung, die ausländischen Schüler, vor allem die türkischen Schüler, die werden in der Hauptschule meistens geblockt, wenn die in der Grenze sind von den Durchschnitt, von den Noten her sagen die: Nein es wird schwierig, du bist Ausländer... (20:5-8)

Damit verortet er die Bildungsbenachteiligung, die er selbst erlebt hat, in erster Linie auf der Ebene der Ethnizität. Dies erfolgt als eine grundlegende Evaluation seiner Vergangenheit, die er auf die allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen überträgt. Dabei verwendet er ausschließlich Beispiele, die in keinem Zusammenhang mit eigenen biographisch relevanten Erfahrungen als Schüler stehen. Durch die zeitlichen Sprünge, die immer wieder auf die Kontinuität der ethnischen Benachteiligung in Vergangenheit und Gegenwart hinweisen, erfolgt eine Dethematisierung des persönlichen Erlebens und den damit zusammenhängenden Emotionen von Wut und Trauer über die diskriminierenden Erfahrungen. Deshalb wird seine persönliche Perspektive auf die schulischen Entscheidungen

14 Der Übertritt in die Sekundarstufe I erfolgt in Bayern durch die „Lehrerempfehlung“ die eine „bindende Wirkung“ hat. Um gegen die Entscheidung der Lehrer vorzugehen, sind Schritte der Eltern erforderlich, die vor allem darin bestehen, einen Probeunterricht in der gewünschten höheren Schulform durchzusetzen und das Kind inhaltlich und mental durch diese Prüfungssituation zu begleiten (Pohlmann 2009: 29).

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und auch das eigene Engagement und Lernverhalten kaum sichtbar. Er präsentiert sich somit in erster Linie als Opfer der bestehenden diskriminierenden Verhältnisse, vor allem da er aufgrund seines Alters und der Übermacht der Strukturen kaum Möglichkeiten des Protests und der Einflussnahme hatte und auch seine Eltern als machtlos wahrnimmt. Seine ausführliche Beschäftigung mit den vorhandenen Barrieren, die ihn in seiner Bildungslaufbahn benachteiligt haben, stellt jedoch nur einen Erklärungsansatz dar, der stark auf die Verantwortung der Institutionen fokussiert. Etwa ab dem 13. Lebensjahr sind der außerschulische Bereich und die Freizeitgestaltung mit der Peergroup sehr wichtig für die persönliche Identitätsentwicklung als Heranwachsender.15 Diesem Thema widmet sich Sinan Koç auch im Interview sehr umfangreich und durchaus kritisch in der Bewertung seiner Handlungen und Einstellungen in der Vergangenheit. [...] ok, macht er noch ein Jahr und das war denen ihr Fehler, und ab der siebten Klasse bin ich dann in bisschen ganz andere Umgebung, Freunde, Jugendliche- da bist du ja 14- 13, 14, da hast du dann anderes im Kopf, und da habe ich dann mit Rauchen angefangen, und dann- ich kann Ihnen bloß sagen, in der neunten Klasse in der Hauptschule zwischen Zeugnis habe ich acht Zweier, drei Einser und einen Dreier und Quali- habe ich nicht geschafft. (20:23-28)

So werden die persönlichen Anteile am schulischen Misserfolg seit der siebten Klasse schrittweise sichtbar und das Bild der Hauptverantwortung der Lehrer kann nicht aufrechterhalten werden. Schließlich muss er sich eingestehen, dass er sich den qualifizierten Hauptschulabschluss selbst verbaut hat.16 Sicher ist einzuwenden, dass im Alter von dreizehn Jahren der Einfluss der Eltern, ihre Er-

15 Im Kontext der hier vorgenommenen Analysen ist der Begriff Peergroup zu verstehen als „Zusammenschluss von annähernd Gleichaltrigen, der von diesen selbst gestiftet ist und nicht von Erwachsenen organisiert wird, in dem die Zugehörigkeit freiwillig ist und in welchem die Mitglieder ihre Angelegenheiten weitgehend ohne Aufsicht und Eingriffe Erwachsener regeln“ (Krappmann/Oswald 1995: 43). 16 Die Einführung einer besonderen Leistungsfeststellung zum Erlangen des qualifizierten Hauptschulabschlusses bedeutet seit 1981, dass in elf Fächern Prüfungen abzulegen sind. Es war ein Durchschnitt von 3,0 erforderlich um zu bestehen. Dies führte zu einer Aufwertung des qualifizierten Hauptschulabschlusses und einer Abwertung des Abgangszeugnisses nach der neunten Klasse. Die Zahlen der Prüfungsteilnehmer stiegen zwar enorm an, aber die Durchfallquoten lagen jedes Jahr (Zahlen von 1981 bis 1986 vorhanden) zwischen 28 und 26% (Apel/Liedtke 1997: 790/791).

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ziehungskompetenz, Präsenz und Kontrolle für die Entwicklung von Jugendlichen geringer wird, während der Einfluss des Umfeldes von Gleichaltrigen an Bedeutung gewinnt. Damit geht aber auch die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln einher. Sinan Koç entlastet sich durch die Überbetonung der Fehler der Erwachsenen in dieser Zeit von den eigenen Anteilen an der weiteren schulischen Entwicklung, blendet sie aber nicht vollkommen aus. Die Art der Darstellung deutet jedoch an, dass er durchaus selbstkritisch reflektiert, in welchem Maß seine außerschulischen Aktivitäten Auswirkungen auf den geringen Erfolg in der Schule hatten. Auch wenn er eher vage Formulierungen wählt und keine ausführlicheren Geschichten präsentiert, ist er im Rückblick durchaus bereit, über diese Lebensphase zu sprechen. Freizeitgestaltung mit der Peergroup In der Lebensgeschichte von Sinan Koç erfüllt das thematische Feld von den Erzählungen über die wilde Jugend zum einen die Funktion, den schulischen Misserfolg zu erklären, andererseits aber die ethnische Segregation und ihre Folgen für die Adoleszenz zu veranschaulichen. Eine weitere Lesart besteht darin, dass Sinan Koç die Hervorhebung der wilden Jugend dazu dient, den persönlichen Erfolg als besonders herausragend darzustellen. Zunächst einmal ist Sinan Koç seit dem siebten Lebensjahr aktiver Fußballer, da auch der Vater an Fußball interessiert ist und ihn als zunächst einzigen Türken in einem deutschen Verein anmeldet. Später, wann genau ist unklar, kommen weitere Spieler mit türkischen Wurzeln dazu. Etwa ab der siebten Klasse besucht er gemeinsam mit gleichaltrigen Freunden regelmäßig ein Jugendzentrum in Gostenhof und beschreibt seinen Aktionsradius in dem Dreieck „Schule, Hause, Jugendtreff, Schule, Hause“. Während er zunächst das Rauchen vehement ablehnt und seinem Vater die negativen Folgen für die Gesundheit vor Augen führt, beginnt er schließlich selbst zu rauchen. Er berichtet von Freunden, die Alkohol und Drogen konsumieren und Straftaten begehen. Darüber hinaus macht er erste sexuelle Erfahrungen mit Mädchen und kann sich im Stadtgebiet ohne größere Einschränkungen bewegen. Seine (männlichen) Freunde und auch Mitspieler beim Fußball sind überwiegend türkischer Herkunft. Sein persönlicher Bezug zur „schlimmen“ Seite, Kriminalität und Drogen im Stadtteil ist zwar vorhanden, wird aber nur vage angedeutet. Das ist angesichts seiner heutigen Vorbildfunktion als Vater und der Interviewsituation, in der er als Autobiograph im Mittelpunkt steht, durchaus nachvollziehbar. Ich gehe davon aus, dass er lediglich die aus seiner heutigen Sicht halbwegs präsentierbare Oberfläche seiner Jugend darstellt, von der er annimmt, dass er sie einer von au-

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ßen kommenden Gesprächspartnerin zumuten kann. Gerade durch die vagen und unspezifischen Andeutungen erzeugt er aber einen Spannungsbogen, den er insgesamt als gestalterisches Element seiner Präsentation einsetzt und entwickelt das Bild des bösen Jungen, der es trotzdem zu etwas gebracht hat und nicht im Kreislauf von Segregation, Diskriminierung und Kriminalität stecken geblieben ist. In seiner Freizeit ist er mit der Peergroup in der Stadt, auch jenseits von Gostenhof unterwegs und führt Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Gruppen. Sinan Koç: Was weiß ich, Gostenhof gegen Aufseßplatz Jugendliche, was ist passiert, ahdie haben einen von Gostenhof geschlagen, haydi- ho-hop-güm-17 I: Oh, Gott! Sinan Koç: Ja, ja, war so unsere Jugend, einen Anruf bekommen, Jugendtreff: Hallo! Beni dövdüler- Aufseßplatz´ta bir genç- [Sie haben mich geschlagen- ein Jugendlicher vom Aufseßplatz-]‚ was weiß ich- wo bist du? Da- Hop- 20, 30 Mann rübergefahren, mit UBahn oder mit Auto, je nachdem, Massenschlägerei. Haydi (Wort) (lacht) Ja, aber ist auch schön, ist auch bisschen so Zusammenhalt, ne- ist auch wichtig. [...] Bei solchen Sachen lernt man auch negative und positive Sachen. Zusammenhalt, ok, Schlägerei ist nicht gut, aber das Zusammenhalt, das ist wichtig. Wenn einem von unseren Freunden was passiert da, wenn man ihnen jetzt einen Fehler gemacht hat, dann wurde es nicht ihnen gemacht sondern uns allen. (19:9-19)

Die dargestellten Auseinandersetzungen erfolgen nicht entlang ethnischer sondern räumlicher Kategorien, wobei sich die Jugendgangs als Repräsentanten ihrer jeweiligen Stadtquartiere verstehen und sich um die Rangfolge und die Repräsentation im Sozialraum der Stadt als Einheit auseinandersetzen.18 Sinan Koç schildert in dieser Sequenz das Beispiel eines Konflikts, wie er an einem beliebigen Tag in dieser Phase seiner Jugend hätte passiert sein können. Durch den Einsatz von wörtlicher Rede und dem Sprachwechsel verleiht er der Situation ein hohes Maß an Authentizität, so als ob sich die Situation wirklich ereignet hätte. Sein Sprechstil signalisiert, dass der Einsatz körperlicher Gewalt als Ausdruck von Solidarität und Zusammenhalt legitim ist. Die gesundheitlichen und strafrechtlichen Konsequenzen spielen keine Rolle, sondern vielmehr die stabile Po-

17 Hier werden umgangssprachliche Äußerungen aus der türkischen Comicsprache verwendet. Deutsche Entsprechungen für haydi, hop – „los“, güm – „zack“ oder „bum“ als Geräusche beim Auftreffen eines Faustschlags. 18 Vgl. dazu die Untersuchung von Hermann Tertilt (1996) über die Jugendgang „Turkish Power Boys“, die sich ebenfalls auf der Stadtteilebene konstituiert.

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sitionierung in der Peergroup, die in der Auseinandersetzung mit anderen ihre Machtposition behaupten will und damit ein positives Verhältnis zum Problemviertel Gostenhof entwickelt.19 Trotzdem besteht ein hoher Gruppendruck, den Sinan Koç auch als belastend wahrnimmt. Er beginnt trotz seiner sportlichen Aktivitäten zu rauchen und begründet dies mit dem Zugewinn an Männlichkeit, durch den „Mädchen“ beeindruckt werden können; „wenn sie sieht, dass du rauchst, sie denkt, du bist ein Mann“. Parallel dazu wird ihm beim Fußball im Alter von 13 bis 15 Jahren, in der „C-Jugend“ im Anschluss an die Spiele von den Erwachsenen Alkohol angeboten, die „dann immer in die Kabine drei, vier Maß Radler gebracht“ haben. Eine scharfe Abgrenzung jedoch erfolgt beim Thema Drogen und damit einhergehender Kriminalität. Zwar bekräftigt er die Problematik seines Lebensumfeldes und die ungünstigen Folgen für seine Bildungskarriere, er hält sich aber von strafbaren Handlungen eher fern. [...] bin ich der Meinung, weil ich habe in dem Viertel gewohnt, wo gute Sachen waren, wo gute Sachen waren, wo schlechte Sachen waren, ok, ich sage jetzt mal von mir, weil ich jetzt von der eh- von der famili- eh- so erziehungsmäßig bin ich nicht den schlechten Weg gegangen, sondern den guten Weg. Sonst wäre ich jetzt nicht mit Ihnen hier zusammen, den Interview durchgeführt, weil die meisten Freunde sind wo anders. (15:35-39)

Diese Entscheidung präsentiert er als dramatische Zuspitzung bei der es nur zwei mögliche Wege gibt. Er unterstreicht insbesondere, dass er sich nicht für den „schlechten Weg“ entschieden hat, auch wenn Angehörige seiner Peergroup dies getan haben und bewertet die Aktivitäten als eine Form der Selbstbehauptung in der Konkurrenz jugendlicher Bandenbildung. Allerdings wird in den hegemonialen Diskursen die Kriminalität von Jugendlichen und Männern aus dem Herkunftskontext Türkei auch immer als kulturelles Problem thematisiert und problematisiert. Damit setzt sich Sinan Koç auch aufgrund seines Anliegens, als positives Vorbild wahrgenommen zu werden, auseinander. So manifestiert sich an seiner Biographie, dass er trotz der 21 Jahre in Gostenhof nicht von Gefängnis und Abschiebung bedroht war und sich somit trotz aller Schwierigkeiten im Bereich der Bildung und der Defizite als erfolgreich allein durch die Abwesenheit von Gesetzeskonflikten präsentieren kann.

19 Mechthild Bereswill (2009: 148) weist auf die Gleichzeitigkeit von „Gefährdung“ durch Diskriminierung und Stigmatisierung und die „Gefährlichkeit“ durch die Praxis einer „öffentlich dargebotenen Inszenierung von Hypermaskulinität“ hin.

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Der Vater als ambivalentes Vorbild Der Vater hat im Vergleich zum Großvater eine ökonomisch schwache Position, wird aber von Sinan Koç nicht für sein berufliches Scheitern verantwortlich gemacht. Vielmehr bemüht er sich, die positiven Charaktereigenschaften, quasi als persönliches Schicksal, das sich in der Person des Vaters manifestiert, als Ressource hervorzuheben. Bezogen auf die eigene berufliche Laufbahn ist der Vater als Vorbild nicht geeignet. Zudem kann er ihm keine Unterstützung anbieten, der Vater zeigt keine Präsenz in den Bildungsinstitution und wird nicht aktiv, wenn es darum geht, Grenzen zu setzen und die Einhaltung von Normen und Regeln einzufordern. Die fehlende Aufmerksamkeit des Vaters wird deshalb für Sinan Koç zu einem biographisch relevanten Thema, das auch zur Erklärung seines geringen schulischen Erfolgs herangezogen wird. Ab der siebten Klasse ist sehr wichtig, da fängts an, da habe ich meinen Vater mehr gebraucht, in der Zeit war er nicht da. [...] von arbeitsmäßig her, bisschen schwierig, nur Wochenende haben wir Zeit gehabt und das hat nicht gelangt. Das ist zu wenig gewesen. (21:23-27)

Auch wenn er in der schwierigen Phase als Heranwachsender entscheidet, dass Schule weniger wichtig ist als die Peergroup, stellt er doch Überlegungen darüber an, ob der Einfluss des Vaters seinen Entscheidungen eine andere Ausrichtung hätte geben können. Damit wird das Feld der relevanten erwachsenen Personen, die er mit dem schulischen Misserfolg in Verbindung bringt, um den abwesenden Vater erweitert. Allerdings finden sich keine Hinweise auf Aktivitäten und Probleme, die den Vater in dieser Zeit davon abhalten, für den Sohn da zu sein. So gründet der Vater einen türkischen Fußballverein, der aber zunächst keine Jugendmannschaften hat. Er begeistert seinen Sohn für Fußball, dabei möchte Sinan Koç eigentlich Kampfsport machen. Sinan Koç spielt bis zu einem Alter von Mitte 20 in einem Verein mit überwiegend deutschen Mitgliedern, engagiert sich aber dann im vom Vater gegründeten Verein.20 Auch in beruflicher Hinsicht, stabilisiert sich bereits vor der Phase der Adoleszenz die berufliche Situation des Vaters. Als Sinan Koç etwa zwölf Jahre alt ist, erhält der Vater eine unbefristete Anstellung in der Produktion bei AEG. Dies bedeutet zwar Schichtarbeit, aber die langjährige prekäre Beschäftigungssituation geht zu Ende. So ist das Bild des abwesenden Vaters, das Sinan Koç bei der Suche nach den Verant-

20 Im Versammlungsraum, in dem unser Gespräch stattfindet, sind Bilder von Vater und Sohn zu sehen, auf die mich Sinan Koç stolz hinweist.

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wortlichen für seinen schulischen Misserfolg entwirft, nicht aufrecht zu erhalten. Vielmehr äußert er sich an anderer Stelle überaus positiv über seine enge Beziehung zum Vater, die zeitlich durchaus in die Adoleszenz einzuordnen ist. Ja, aber ich bin, ich habe den Vorteil, ich bin so aufgewachsen, mit meinem Vater eh- wie Freund. Nicht Vater und Sohn, sondern wie Kumpel, ich bin oft mit ihm weggegangen. So, wie wenn ich jetzt so sehe mein Alter 32, mein Sohn ist neun wenn er 19 ist bin ich 40, 41, kann ich noch mit meinem Sohn viele Sachen gemeinsam machen. (16:18-21)

Im Ergebnis stellt sich das Verhältnis zum Vater ambivalent dar. Er ist eine zentrale und doch abwesende Person, mit deren Rolle und Bedeutung für die eigene Biographie sich Sinan Koç bis in die Gegenwart aktiv auseinandersetzt. 4.1.4 Maschinenführer, Ehemann, Vater Pragmatische Berufswahl Die schlechten Startbedingungen aufgrund der ungünstigen Wohnlage, der geringen Förderung durch die Eltern und dem geringen schulischen Erfolg wirken als strukturelle und soziale Barrieren. Angesichts der familiären Konstellation hat Sinan Koç bei seiner Berufswahl und beruflichen Weiterentwicklung ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Seine subjektiven Entscheidungen sind nicht familiär eingebettet in Ratschläge und Vorgaben, die explizit geäußert werden oder aber implizit vorhanden sind. Hinzukommt, dass er in einem Wohnumfeld aufwächst, in dem ungünstigste Entwicklungen in Richtung Schulabbruch und kriminellen Lebensverläufe durchaus möglich sind. Aufgrund des geringen Interesses an Schule in der Übergangsphase in den Beruf fällt es ihm schwer, Initiative zu zeigen und eigene Entscheidungen zu treffen. Zunächst entscheidet er sich, keine Entscheidung zu treffen, in dem er zwar die Schullaufbahn nicht abbricht, sich aber auch nicht rechtzeitig mit den Folgen seines geringen schulischen Erfolges beschäftigt. In der Präsentation seiner Lebensgeschichte ordnet er diese Übergangsphase in den Beruf dem thematischen Feld der verpassten Gelegenheiten zu. So wiederholt er mehrfach sein Ziel, im Anschluss an den Besuch der Hauptschule eine weiterführende Schule zu besuchen und signalisiert grundsätzliches Interesse an einem höheren Bildungsabschluss. Dadurch wird die Wahl eines Ausbildungsberufs zu einer Übergangslösung, die lediglich deshalb erforderlich ist, da er das „Anmeldedatum verpasst“. Sein eigentliches Ziel etwas mit „Bürokommunikation“ zu machen, kann er praktisch nicht umsetzen. Er verdeutlicht aber eine starke innere Distanz zum Thema Ausbildung, wobei er die

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eigene Verantwortung, nicht in der Lage gewesen sein, sich an einer Schule anzumelden, aber auch nicht selbstkritisch reflektiert, sondern als schuldlos verpasste Gelegenheit einstuft. Parallel dazu entwickelt er während der Berufswahl jedoch Gedanken, die dem thematischen Feld Geld verdienen zuzuordnen sind. So ist neben der Fortsetzung der Bildungslaufbahn eine regelmäßige Erwerbstätigkeit das erklärte Ziel, um von den Eltern unabhängig zu werden. Dies setzt aber voraus, dass er im Rahmen einer betrieblichen Ausbildung erwerbstätig ist und Geld dafür bekommt, was bei einem weiteren Schulbesuch nicht der Fall wäre. Da habe ich halt gemeint, ein Jahr was mache- ich fange eine Arbeitsstelle an, Ausbildung, verdiene ich 5 bis 600 Euro- Mark, mein eigenes Taschengeld, dann bin ich halt von den Eltern nicht ein bisschen abhängig oder denen nicht, muss ich immer fragen: Papa, gibst du Geld, Mutter gibst du Geld, habe ich mein eigenes Taschengeld, habe ich halt als Maurer angefangen, und da habe ich wieder die Termine verpasst und dann ist die Lust auch wieder vergangen, weiter in die Schule zu gehen. (21:27-32)

Die Wahl des Ausbildungsberufs trifft er pragmatisch aufgrund von Verdienstmöglichkeiten während der Ausbildungszeit und es kommen für ihn nur Berufe im handwerklich-technischen Bereich in Frage. Der Zugang zu einem Ausbildungsplatz mit überwiegenden Bürotätigkeiten ist durch den Schulabschluss stark eingeschränkt und wird von ihm aufgrund der geringen Ausbildungsvergütungen nicht weiterverfolgt. Da der Kfz-Mechaniker im Gehaltsvergleich schlechter abschneidet, entscheidet er sich für den Beruf des Maurers. Besondere Neigungen und Interessen sind in dieser Zeit entweder nicht vorhanden oder aber er betrachtet sie als nicht beruflich relevant. Bei entsprechenden Einkommensmöglichkeiten hätte er deshalb auch einen anderen Beruf gelernt. Darüber hinaus spielt das Interesse an ökonomischer Unabhängigkeit von den Eltern eine Rolle für die Wahl eines Berufes, mit dem er in möglichst kurzer Zeit ein als ausreichend betrachtetes Einkommen erzielen kann.21 Mit nur einer Bewerbung findet er einen Ausbildungsplatz, da er zwar nur einen einfachen Hauptschulabschluss hat, diesen aber mit gutem Notenschnitt erreicht hat. Die erste erfolgreiche Bewerbung leitet zum thematischen Feld des Glückhabens über, da er in seinem Leben die Erfolgsbilanz „drei Arbeitsstellen und drei Bewerbungen“ zu verbuchen hat. Dabei ist er sich der Schwierigkeiten bewusst, die andere bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz haben, kann aber ganz persönlich eine positive

21 Vgl. dazu die Ausführungen von Raewyn Connell (1999) zur Bedeutung des Eintritts ins Arbeitsleben für Jugendliche der Unterschichten in Kapitel 2.2, Seite 58.

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Grundhaltung zum Thema Arbeitsplatzsuche einnehmen. Die Erinnerungen an die erfolgreiche Arbeitssuche sind überaus stark präsent und führen dazu, dass er sich ihnen ausführlicher in erzählerisch ausgebauten Sequenzen widmet. Telefonisch habe ich mich beworben, zuerst, haben gemeint, ja ok, schreiben Sie Bewerbung, wir schauen uns das an. Habe ich gesagt, ja, aber ich fliege morgen Urlaub, Türkei, das muss ein bisschen schneller gehen, habe ich gleich am selben Tag geschrieben, raus gefahren, Briefkasten gesteckt und am nächsten Tag, haben die mich angerufen, [...] bin ich schnell hin und gleich war schon alles vorbereitet, Arbeitsvertrag war schon vorbereitet, bevor ich in den Urlaub geflogen bin, habe ich den Vertrag unterschrieben. (22:18-27)

Die Verantwortung für Glück und Unglück, aber auch die inhaltliche Ausgestaltung dessen, was das Glückhaben für ihn ausmacht, wird in eine nur vage zu identifizierende Sphäre außerhalb seiner Person verortet. Die Zeit der Ausbildung bedeutet eine Umstellung auf körperlich anstrengende Tätigkeiten in einem bisher unbekannten Arbeitsumfeld überwiegend im Freien. Sinan Koç tröstet sich über die Anfangszeit damit, dass es sich um eine Übergangslösung handelt. Ja, am Anfang ja bist du 16, 17 Maurer, war für mich zu dreckig oder kalt draußen, aber dann irgendwann mit der Zeit hat mir das schon Spaß gemacht, weil immer was anderes Mal anderes, mal die Baustelle gewesen, mal das, du hast gesehen am Ende was du gemacht hast. Aha, ich könnte sagen, hallo, dieses Haus hier habe ich gemacht oder diese Mauer habe ich hier zugemacht oder den Boden habe ich betoniert. (22:39-43)

Trotz der Arbeit unter schwierigen Wetterbedingungen, findet er Gefallen an den praktischen handwerklichen Tätigkeiten, auf die er am Ende des Arbeitstages zurückblicken kann. Dies ist eine Erfahrung, die in der Schule in der Regel nicht vorhanden ist, da es bis auf Ausnahmen keine sichtbaren Arbeitsergebnisse jenseits von Noten gibt. Bei der Überwindung dieser anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten hilft ihm auch die Einteilung der Ausbildung in Arbeits- und Berufsschulzeit und kommt seinem eigentlichen Wunsch nach einem weiterführenden Schulbesuch entgegen. Er verdient sein erstes eigenes Geld und wird von den Eltern ökonomisch unabhängig. Darüber hinaus wird er während der Ausbildung nur auf Baustellen in der Stadt eingesetzt, so dass er kurze Wege hat und keine weiteren Veränderungen in seinem Alltag erforderlich sind. Alles zusammen genommen führt dazu, dass er die Ausbildung innerhalb der vorgesehenen Zeit erfolgreich abschließt, auch wenn er sie als Übergangslösung begonnen hatte. Er erweist sich als gewissenhaft und zuverlässig, so dass er in seinem Ab-

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schlusszeugnis gute Noten vorweisen kann und von der Firma in eine Festanstellung übernommen wird. Insgesamt entsteht aus den vorhandenen Darstellungen der Eindruck, dass Sinan Koç trotz der vorhandenen Barrieren relativ gute Ergebnisse beim Übergang ins Berufsleben erreichen kann. Er erlangt einen Schulabschluss und ist nicht straffällig geworden. Er ist kontinuierlich als Sportler aktiv und verweigert sich illegalen Drogen. Er verfügt über ein eigenes Einkommen und über einen großen Freiraum, der von der Kontrolle durch die Eltern nicht beschränkt wird. Er hat erste sexuelle Beziehungen zu jungen (deutschen) Frauen, die er vor allem durch den Besuch der Berufsschule kennenlernt. Bei der Darstellung dieser Lebensphase verwendet den Begriff „Frauen“, während er in seinen Darstellungen der ersten Kontakte in der Schulzeit auch die Begriffe „Mädchen“ und „Weiber“ verwendet. Einerseits bedeutet dies, dass er sich durch den Einstieg in die Erwerbsphase selbst als Mann definiert, der Beziehungen zu „Frauen“ eingeht. Eine weitere Lesart besteht darin, dass er begriffliche Unterscheidungen zwischen Mädchen und Frauen vornimmt. Im türkischen Ehrkonzept sind Mädchen diejenigen, die nach dem Eintreten der Geschlechtsreife unverheiratet und sexuell nicht aktiv sind, bzw. im Hinblick auf potentielle sexuelle Aktivität überwacht werden oder aber eigenständige Selbstkontrolle praktizieren. Seine ersten wechselnden sexuellen Beziehungen hat er mit „Frauen“, die nicht den Normen und Regeln des Ehrkonzeptes nicht unterliegen. Darüber hinaus ist er in den losen Zusammenhang einer überwiegend türkeistämmigen Peergroup integriert. Diese Aktivitäten finden jenseits der Sphäre der Eltern statt und werden ergänzt durch formale Kontakte und Besuche, mittels derer der Vater ihn in die Netzwerke der türkeistämmigen Erwachsenen einführt. Damit besteht eine soziale Einbettung in nach Alter und Lebensphase differenzierte Gruppen türkeistämmiger Männer und interethnische Außenkontakte im Rahmen erster Liebesbeziehungen. Als junger, unverheirateter Mann und delikanlı22 kann er deshalb bei Grenzübertretungen mit der Nachsicht der türkisch sozialisierten Erwachsenen rechnen, so-

22 Heranwachsende unverheiratete Männer werden als delikanlı bezeichnet, was in der wörtlichen Übersetzung „der mit dem verrückten Blut“ bedeutet. Eine deutsche Entsprechung findet sich in der veralteten Bezeichnung „Halbstarke“. Werner Schiffauer (1987: 91) verwendet die Übersetzung „Heißblütige“. Das Konzept der delikanlılık wird in den medialen Diskursen um veränderte Männerbilder in der Türkei breit rezipiert und ist inhaltlich schwer zu fassen. Deshalb spricht Gönül Demez (2005) auch von der „virtuellen oder imaginierten“ delikanlılık.

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lange sich seine Aktivitäten jenseits von massiven Angriffen auf Eigentum und körperliche Unversehrtheit dritter Personen bewegen.23 Glück und Krise im Arbeitsalltag Der Arbeitsalltag als Maurergeselle ist weniger angenehm als er es während der Ausbildung erlebt hat und im Interview wird spürbar, dass er sich nicht gern an diese Zeit erinnert. So merkt er schnell, dass er den Beruf wechseln sollte, arbeitet aber insgesamt zwei Jahre unter diesen schwierigen Bedingungen. Die ersten zwei Baustellen waren gut, da haben wir in Pensionen übernachtet, da gings noch, da hat jeder ein Zimmer gehabt oder als zwei, drei Mitarbeiter in einem Zimmer geschlafen, aber wenn ich so sehe, zehn Mitarbeiter in einem kleinen Container. Vor allem, j-e-d-e-r M-e-n-s-c-h ist ja nicht gleich, der eine trinkt, der andere macht das und auf dem Bau trinkst du ja nur, die meisten waren Alkoholiker, hat mir nicht gepasst. Das war auch einer von den Gründen, dass ich da weg war, dass Bau doch nicht das richtige für mich war. (24:1-6)

Über eine weiterführende Schulbildung denkt er nicht mehr nach, vielmehr konzentriert er sich auf die Suche nach besseren Arbeitsbedingungen, die eine Ortsabwesenheit nicht erforderlich machen. Dabei wird zum ersten Mal in seiner Berufsbiographie deutlich, dass für die Zufriedenheit mit der Arbeit und dem Arbeitsplatz das Verhältnis zu den Kollegen eine zentrale Bedeutung hat. Darüber hinaus besteht der Wunsch zu heiraten und er leidet unter den Nachteilen längerer Abwesenheit von zu Hause, so dass er sich einen neuen Arbeitsplatz sucht. Da seine Eltern beide seit längerer Zeit bei AEG arbeiten, sind sie seine ersten Ansprechpartner. Einen Firmenwechsel in der gleichen Branche oder eine berufliche und schulische Weiterentwicklung thematisiert er nicht. Auch scheint er sehr schnell zu entscheiden, dass das Großunternehmen AEG eine angemessene Alternative ist. Dabei wird auch sichtbar, dass er sich in der alleinigen Verantwortung sieht, nach einer Eheschließung, Ehefrau und Kinder zu finanziell zu versorgen. Die Höhe des Einkommens ist deshalb im Vergleich zu den Arbeitsinhalten von größerer Bedeutung. Durch die familiären Netzwerke erwartet er

23 Dazu sagt Ahmet Toprak (2005: 111): „Beim Jungen fällt ins Auge, dass er viele Freiheiten genießt, ihm wird vieles nachgesehen und sein Fehlverhalten wird mit seiner Jugend entschuldigt. Das heißt, ihm werden kaum Grenzen gesetzt und er erfährt weniger scharf die Übergänge von der Kindheit über die Adoleszenz zum Erwachsensein.“

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ein gutes Betriebsklima in einem Großunternehmen mit Tradition und die Unterstützung bei seinen Bemühungen um eine Stabilisierung der beruflichen Position, so dass er sich auf ein zunächst befristetes Arbeitsverhältnis einlässt. Da die Eltern von den Personalverantwortlichen stets als zuverlässige Mitarbeiter geschätzt wurden, rechnet er mit einer Vertragsverlängerung, was sich auch bestätigt. Angesichts der Eheschließung und daraus resultierenden Alleinverantwortung für Ehefrau und Kinder blendet er mögliche Unsicherheiten aus. Aufgrund seiner positiven Grundhaltung wie auch der Erfahrung, im weiteren Verlauf seiner Berufsbiographie immer wieder Glück gehabt zu haben, kann er negative Gedanken auch in der Retrospektive ausblenden. Seine Tätigkeiten bei AEG haben nichts mit dem zu tun, was er in seiner Ausbildung gelernt hat. Er arbeitet in der Fließbandproduktion und beschreibt die Besonderheiten der Akkordarbeit, die seinen Arbeitsalltag bestimmen. Sinan Koç: Ja, ja- freilich, das war ganz andere Atmosphäre, in einer Abteilung- im Waschmaschinenbereich haben pro Schicht 300, 400 Leute gearbeitet. Wie Ameisenhaufen- (.) Stellen Sie sich einmal Band vor, ich stehe da und mach Teile rein und neben mir ist auch einer, vor mir ist auch einer, an der Seite, da war viel los- viel los, weil Band läuft, du machst deine Teile rein, Kabel verbinden oder ja nachdem, was du gemacht hast, einer hat ´nen Schlauch gesteckt, einer hat ´ne Seite gemacht, einer hat (.) jeder hat was gemacht, neh- jeder was er machen muss und wenn Sie es nicht geschafft haben, weil Band läuft, sind Sie da mitgegangen- (lacht) I: Ach so, hinterhergelaufenSinan Koç: Ja, ja- ist ja Fließband gewesen, neh- Band läuft und Maschine geht auch weiter und sie müssen halt schnell sein. (25:33-42)

Er vermittelt der fachfremden Interviewerin eine authentische Darstellung seines Arbeitsalltags, so dass ein anschauliches Bild einer Situation entworfen wird, in der eine große Anzahl Menschen in einer riesigen Halle in einer hektischen Arbeitssituation nach automatisierten Abläufen handelt. Die Fremdbestimmung sticht klar heraus, aber auch das Ausgeliefertsein der Individuen im Arbeitsprozess. Die Verwendung von „du“ nimmt die Zuhörerin in die Situation hinein und auch Sinan Koç tritt als kleines Rädchen im großen Uhrwerk in Erscheinung. Da es sich um einen von ihm in der Vergangenheit täglich in vergleichbarer Weise erlebten Ablauf handelt, entwickelt er eine auf alle Arbeitstage gleichermaßen anwendbare Beschreibung als „verdichtete Situation“.24 Zunächst muss er sich

24 Gabriele Rosenthal (2005: 140) bezeichnet die Komprimierung von sich wiederholenden Ereignissen als „verdichtete Situation“.

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eingewöhnen, dann aber sind die Abläufe verinnerlicht und fordern ihn nicht in besonderer Weise heraus, so dass er „die Augen zumachen“ kann. Im Vergleich dazu erscheint die vorherige Tätigkeit als Maurer als wesentlich anspruchsvoller und kreativerer. Als Grundlage für die Bewertung des Arbeitsplatzes ist das „Arbeitsklima“ besonders wichtig. Die Atmosphäre, in der gearbeitet wird, wird zu einem bedeutenden Indikator für die Zufriedenheit mit der beruflichen Situation. Während ihn als Maurer vor allem die Kollegen, der Alkoholkonsum und die Gemeinschaftsunterbringung gestört haben, entwickelt er eine überaus große Identifikation mit dem Unternehmen AEG. Die ganze Zeit, war schöne Klima, war wie gesagt Familienbetrieb, aber da waren alle Mitarbeiter Familie, wie Familie, das war ganz andere Klima im Gegensatz zu meiner jetzigen Firma, war ganz anders. 400, 500 Mitarbeiter in einer Schicht in einer Abteilung das war wirklich sehr schön, das vermisse ich immer noch. Die Arbeitsklima war gut, es gibt ja auch solche Arbeiten, man geht da nicht so gerne hin, aber man muss dahin gehen wegen, man braucht halt das Geld, um zu leben, musst du hingehen. Aber AEG war nicht der Fall, da sind wir gern hingegangen, weil ein sehr schön Klima da war, familiäres Klima, wenn Mittagspause gewesen ist, Tisch war schön voll, wenn zum Beispiel- ich habe drei Teller da gehabt zum Essen, du hast Salat mitgebracht, er hat was anderes mitgebracht, haben wir alle zusammen gemeinsam gegessen. Du andere Nationalität, ich andere Nationalität, alles kein Problem gewesen. (26:31-43)

So konzipiert er seine Berufstätigkeit in dieser Lebensphase rund um ein spezifisches Verständnis vom „Familienbetrieb“, der dadurch gekennzeichnet ist, dass einerseits der überwiegende Teil seiner Familie dort tätig ist und zum anderen die sozialen Beziehungen der Mitarbeiter denen einer Familie entsprechen. Ethnische Differenzierungen beeinträchtigen die Arbeitszufriedenheit in keiner Weise, sondern werden als Bereicherung betrachtet. Auf der Grundlage der Arbeitszufriedenheit entwickelt Sinan Koç eine überaus große Identifikation mit dem Unternehmen AEG und seinen Produkten. Dies präsentiert er stolz, aber auch mit einer großen Verbitterung und Traurigkeit. Interessant ist auch die Identifikation mit dem Label „Made in Germany“ durch die er ganz selbstverständlich seinen Beitrag zur Verbreitung eines positiven Images der deutschen Marke AEG signalisiert. In dieser Hinsicht sieht er sich in der Tradition eines Unternehmens, das seit den 1960er Jahren Qualitätsprodukte für den Weltmarkt in Deutschland mit Migranten in der Produktion herstellt. Bereits die Elterngeneration identifiziert sich mit dem Unternehmen und erhält Anerkennung für die geleistete Arbeit. Sinan Koç präsentiert sie als angesehene und umworbene In-

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dustriearbeiter, die mit der Aufforderung „Kommen Sie morgen, sind Sie morgen da? Oder, kommen Sie nicht? Bitte kommen Sie!“ von den Arbeitgebern persönlich umworben werden. Im Kontrast zu seiner Darstellung der problematischen Berufslaufbahn des Vaters bringt er seine große Anerkennung für die Leistungen seiner Eltern als Repräsentanten einer besonderen Generation zum Ausdruck. Die Arbeitsinhalte und die Monotonie am Fließband nimmt er abgesehen von der Tatsache, dass es eine intellektuell anspruchslose Tätigkeit ist, nicht als belastend wahr. Seine sozialen Positionsbestimmungen drehen sich dabei pragmatisch um seine Rolle als Alleinversorger der neu gegründeten Familie. Sinan Koç arrangiert sich in pragmatischer Weise mit den strukturell vorgegebenen Rahmenbedingungen. So sieht er sich im beruflichen Alltag in einer Fortsetzung der Tradition der Eltern, die langjährige vergleichbare Tätigkeiten bei AEG am Fließband ausführen. Potentielle Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb des Betriebs thematisiert er nicht, hebt aber hervor, dass er als „Springer“ an verschiedenen Positionen beschäftigt war. Er steigt in der internen Hierarchie allmählich auf und eignet sich durch den Einsatz in verschiedenen Bereichen handwerkliche Fähigkeiten an, die durch seinen Einsatz in der Reparaturabteilung auch von anderen gewürdigt werden. Einen weitergehenden beruflichen Aufstieg hält er davon ausgehend für möglich, so dass er sich in einer stabilisierten Situation wahrnimmt. Die berufliche Krise durchlebt er infolge der Entscheidung des Konzerns, die Produktion ins Ausland zu verlagern, was die Schließung des gesamten Standortes in Nürnberg zur Folge hat. Sinan Koç wird wie alle anderen Beschäftigten in der Produktion von dieser Nachricht überrascht. Die haben uns plötzlich alle versammelt, Betriebsversammlung gemacht, jeder gestaunt, was los ist, wussten wir nicht. Plötzlich kommt der große Chef aus Schweden, hat bloß gesagt, dass er AEG von Deutschland nach Polen gezogen wird, das wars. Dann sind die Leute ausgeflippt, mehr können wir von denen nicht mehr erfahren, weil da wurden dann Stühle, Kissen alles, was in die Hand gehabt haben, haben die geschmissen. (27:34-38)

Damit sind alle Sicherheiten, die stabile Positionierung in einem kontinuierlichen Arbeitsverhältnis, die innerbetrieblichen Aufstiegsoptionen in einem Augenblick hinfällig geworden. Die Eltern und die Geschwister der Mutter können sich aufgrund der hohen Abfindungen wegen langjähriger Betriebszugehörigkeiten zur Ruhe setzen. Sinan Koç hingegen wird aufgrund seiner erst kurzen Betriebszugehörigkeit als einer der Ersten entlassen und bekommt Kurzarbeitergeld kombiniert mit Schulungsangeboten. Das Familieneinkommen ist fast ausschließlich von seiner Erwerbstätigkeit abhängig, er hat mittlerweile zwei Kinder

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und seine Tochter wurde erst einige Monate vor der Entlassung geboren. Da er die Hauptverantwortung für die ökonomische Versorgung der Familie bei sich selbst sieht, steht er unter großem Erfolgsdruck, möglichst bald einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Trotz der erfahrenen Degradierung und der Dramatik in dieser Lebensphase stellt er sie distanziert dar. Dabei ist durchaus anzunehmen, dass er stark verunsichert ist und große Ängste im Hinblick auf die Zukunft hat. Aufgrund des auch in dieser schwierigen Phase erlebten Glücks, mit nur einer Bewerbung einen neuen Arbeitsplatz bekommen zu haben, werden Gefühle wie Wut und Verzweiflung über die berufliche Degradierung in der Retrospektive nicht zum Ausdruck gebracht, sondern das Glück haben besonders betont. Obwohl das nächste Arbeitsverhältnis in einem Unternehmen, das hydraulische Anlagen herstellt, zunächst befristet ist, nimmt er das Angebot an. Die unerwartete Kündigung zum Vertragsende trifft ihn deshalb besonders hart. Umso größer ist noch aus der Perspektive der Gegenwart die Freude und Erleichterung darüber, dass es ihm gelingt, über seinen direkten Vorgesetzten innerhalb kürzester Zeit eine Zusage für einen unbefristeten Vertrag zu bekommen. Da wollt ich- da erinnere ich mich immer noch, da wollte ich Mittag, bei uns ist ja immer freitags Freitagsgebet, neh? Wollte ich zum Freitagsgebet und danach wollte ich nach München fahren, weil ein Verwandter von uns Samstag Hochzeit und freitags ist aber jetzt Polterabend, Hennaabend, neh? Sie kennen das bestimmt. Kına gecesi [Hennaabend] gehabt hat [...] Und da wollte ich- da wollten wir mit der Familie- mit meiner Familie wollte ich da hinfahren und am Freitag bevor ich- habe ich Frühstück gemacht, wenn die halbe Stunde später mich angerufen hätten, wäre ich gar nicht zu Hause gewesen. [...] (lacht) genau richtig angerufen- habe ich gesagt, ok ich komme sofort, meine Frau habe ich gesagt, da Autoschlüssel, fährt ihr weiter, du kannst fahren, ich gehe in die Arbeit, (lautes Lachen) na, freilich da hat man sich sehr viel gefreut. (29:35-44)

Die Art der Präsentation vermittelt einen Eindruck von seinem starken Engagement und bringt die Erleichterung und Freude zum Ausdruck, die er bis in die Gegenwart darüber empfindet, erneut eine unbefristete Anstellung bekommen zu haben. Auch hier wird wieder das thematische Feld des Glückhabens deutlich und entlastet ihn von dem hohen Druck. Die Vertragsunterzeichnung und damit seine Erwerbstätigkeit hat höchste Priorität. Auch in dieser Erzählung zeigt sich, dass die konkreten Arbeitsinhalte und auch der Status innerhalb des Unternehmens der Maxime, unter allen Umständen einer regelmäßigen entlohnten Tätigkeit nachzugehen, untergeordnet werden. Vor allem entsteht der Eindruck, dass das Glück in Bezug auf die Berufstätigkeiten in hohem Maße erforderlich ist, da

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es die negativen Folgen der verpassten Gelegenheiten in der Bildungslaufbahn ausgleichen muss. Zu einem Zeitpunkt, der eigentlich bereits den Gesprächsausklang darstellt, kommen negative Erfahrungen an seinem aktuellen Arbeitsplatz erstmals zur Sprache. In der Eingangserzählung findet seine derzeitige Erwerbstätigkeit nur eine kurze Erwähnung und auch im weiteren Gesprächsverlauf thematisiert er die Gegenwart vor allem anhand von Aktivitäten jenseits der Erwerbstätigkeit. Dies erfolgt in erster Linie aufgrund seiner Arbeitshaltung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Stabilität des Arbeitsplatzes eine höhere Priorität gegenüber den Arbeitsaufgaben hat. Allerdings nimmt er wahr, dass die Konkurrenzverhältnisse am Arbeitsplatz dazu führen, dass eine Entsolidarisierung der Beschäftigten das Betriebsklima und damit seine Arbeitszufriedenheit belasten. Hier ist es nicht so. eh-eh. Ich habe ja jetzt gesagt, die Nationalität hat nicht Wert gegeben, sondern, egal wer das war, Deutsche und Ding, was auf dem Tisch war, konnte jeder essen, aber hier ist es so: jeder packt aus der Tasche und isst selber, das zum Beispiel oder wenn du was gemacht hast, am nächsten Tag hat es jeder in der Firma gehört. [...] Wenn jemand, du bist- was weiß ich, zum Beispiel ich bin an der Anlage, ist ja immer ölig neund manchmal die Anschlüsse, die Ohrringe platzen und dann spritzt es und dann wirst du, wenn du- wenn du es nicht richtig siehst, dann wirst du pitschnass, ölig. [...] Ja. Wenn so was passiert, dann weiß es jeder in der Firma zum Beispiel. [...] Wird dann gleich gelästert und das gefällt mir nicht. (36:3-14)

Er nimmt aktuell stärker als im Rückblick auf die Vergangenheit wahr, dass seine beruflichen Möglichkeiten begrenzt sind. Er sieht sich in besonderer Konkurrenz mit der Gruppe der Spätaussiedler, die sich auf Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft durch eine gemeinsame Abstammung berufen können und für die besondere gesetzliche Regelungen gelten. Im Gegensatz dazu wird ihm, in Deutschland geboren und aufgewachsen, Kind und Enkel der angeworbenen Arbeitsmigranten eine solche Sonderstellung vorenthalten. Die vorhandenen Ressentiments gegenüber den von ihm als privilegierter eingestuften Einwanderergruppen kontrastieren das Bild, das Sinan Koç über weite Strecken des Gesprächs von sich vermittelt hat und ist ein Thema, das ihn in seiner gegenwärtigen Lebenssituation stark beschäftigt. Trotz seiner positiven Grundhaltung und den pragmatischen beruflichen Entscheidungen werden Unsicherheiten sichtbar, so dass die Wahrnehmung für Bildungsdefizite und deren langfristige Folgen für die weiteren beruflichen Perspektiven geschärft werden. Zwar erklärt er seine grundsätzliche Bereitschaft, sich innerbetrieblich zum Industriemeister weiterzubilden, trotzdem vertritt er die Auffassung, dass er aufgrund der beruflichen Er-

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fahrungen bereits ausreichend qualifiziert ist, um in eine höhere berufliche Position befördert zu werden. Zum Beispiel, also- wenn ich jetzt bei uns in der Firma, wenn wir jemand anstellen möchten, Einsteller werden möchte, braucht man Meisterbrief jetzt, das ist zu viel, man braucht, ich sage mal jetzt so, wenn die mich jetzt von Hand packen und sagen, du Sinan machst jetzt diese Arbeit, was ein Meister macht, ich bin in der Meinung, ich schaffe das auch und ich werde es auch schaffen, aber man muss auch die Chance dem Mitarbeiter geben können, nicht immer nur Qualifikation schau- Qualifikation. (38:38-43)

Er wünscht sich sehr, mit den im Berufsalltag erworbenen Qualifikationen anerkannt zu werden. Jedoch werden von außen formale Kriterien festlegt, denen er aufgrund seiner Berufslaufbahn nicht gerecht werden kann. Zwar hat er eine Berufsausbildung, hat aber auf dieser Grundlage keine weiteren Qualifikationen erreicht, so dass er in einem Bereich arbeitet, der nicht „ausbildungsadäquat“ ist.25 Sein ökonomischer Pragmatismus führt dazu, dass er sich nach mehr als 15 Jahren Berufstätigkeit erstmals wieder mit dem Thema Bildung befassen muss. Eine praktische Vereinbarkeit von Schichtarbeit und Weiterbildung kann er sich nicht vorstellen. Dabei nimmt er jedoch durchaus wahr, dass der Kostendruck seine Situation als alleinverdienender Familienvater verschlechtert, so dass seine Partnerin derzeit eine Stelle sucht, um zum Familieneinkommen beizutragen. Die Familie versucht, die Ausgaben gering zu halten, wobei die Kinder und die Finanzierung eines bestmöglichen Zugangs zu Bildung klare Ausgabenpriorität hat. Innere Laufbahn Die Beendigung der Lebensphase als delikanlı erfolgt durch die Heirat zu einem Zeitpunkt, an dem die Berufsausbildung abgeschlossen ist und er erste Berufserfahrungen gesammelt hat und über eigenes Einkommen verfügt. Es handelt sich um die Tochter einer Familie aus dem Bekanntenkreis der Eltern. Deshalb kennt er sie schon länger und geht davon aus, dass sie auf sein Interesse an ihr eingeht und ihn ebenfalls heiraten möchte. Innerfamiliär spielt bei der Vermittlung der Ehe die Mutter eine Rolle, die ansonsten lediglich als Versorgerin von Haushalt und Kindern im Hintergrund benannt wird. Dabei kommt es anscheinend jedoch zu Komplikationen, über die er aber nicht spricht, sondern deren Ausgang er lediglich mit „zum Glück“ kommentiert. Wieder interpretiert er den guten Aus-

25 Vgl. die Ausführungen von Holger Seibert (2007) in Kapitel 2.2, Seite 58/59.

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gang einer nicht unproblematischen Phase als schicksalsgeleitet und nicht aktiv durch ihn beeinflussbar. Dieses Muster ist bereits im Zusammenhang mit beruflichen Entwicklungen handlungsleitend, so dass auch das Thema der Eheschließung in das thematische Feld des Glückhabens eingeordnet werden kann. Trotzdem betrachtet er die Entscheidung für die Ehe als eine ernsthafte Angelegenheit, für die er eine innere Bereitschaft entwickeln muss. Zudem erhöht sich der Erwartungsdruck der Eltern und ihres türkeistämmigen Umfeldes an ihn als den ältesten Sohn, die Anerkennung als erwachsener Mann und Vater zu erlangen. Die Gründung eines eigenen Haushalts, der Auszug aus der elterlichen Wohnung und die Übernahme der Verantwortung für die Versorgung von Ehefrau und Kindern sind dabei die wesentlichen Faktoren, die diesen Übergang einleiten. Er heiratet mit 21 Jahren und wird bald darauf zum ersten Mal Vater. Die scheinbar selbstverständliche Aneinanderreihung von Entscheidungen und dadurch eingeleiteten Ereignissen im privaten Leben betrachtet er als unhinterfragte Normalität.26 Damit einhergehen die bereits dargestellten beruflichen Verpflichtungen, die er als Familienvater wahrnehmen möchte. Die Nähe von Arbeitsort und Wohnung wird mit der Eheschließung begründet, auch die Nähe zu seinen Eltern ist überaus wünschenswert. Ein Wegzug gemeinsam mit der Ehefrau in eine andere Stadt kommt nicht in Frage. Allerdings zeigt er im Vergleich zur Elterngeneration ein Umdenken hinsichtlich des Wohnumfeldes, da er mit der Heirat den Stadtteil Gostenhof verlässt und in einem anderen Stadtteil wohnt. Damit deutet sich auch eine Verschiebung der Prioritäten an, die er als Ehemann und Vater setzt. Er investiert Zeit, Geld und Energie, um sich der Entwicklung seiner Kinder zu widmen. Gemeinsam mit seiner Partnerin regelt er die Frage, welche Sprachen in der Familie gesprochen werden und welche Bildungseinrichtungen die Kinder besuchen. Er ist an Präsenz interessiert und betont den Vorteil, dass er als „junger Vater“ vor allem für seinen Sohn ein wichtiger Ansprechpartner sein zu können. [...] Vater ist 40 und der Sohn ist erst zehn, wenn er dich richtig braucht, bist du schon 50, 55. Verstehen Sie, was ich meine, wenn er dich so richtig braucht als Vater, ne- wo du deinen Sohn unterstützen kannst, wo du mit deinem Sohn was unternehmen kannst, bist du dafür ein bisschen zu alt. Ich sehe das so und ist auch meistens immer Nachteil, das ist

26 Ursula Mıhçıyazgan (1986: 312) stellt fest, „dass die ‚Ehezeit’ als selbstverständliche Phase“ angesehen wird, die sich in der Regel an den Abschluss der Schulzeit anschließt. Verlängerte Ausbildungszeiten führen dann auch zu einer späteren Eheschließung.

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mein eigener Gedanke, sag ich jetzt einmal so, man muss jung sein und mit dem Kind zusammen aufwachsen, denke ich. (16:22-26)

Damit reflektiert er zum einen seine eigene Jugend und die Zeit, die er mit dem Vater verbracht hat und auch das Problem des abwesenden Vaters. Gleichzeitig präsentiert er sich als Mann, der sich weiterentwickelt und zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes kein fertiger Erwachsener war, auch wenn dies von außen durch die Umgebung so gewertet wird. Während er in beruflicher Hinsicht kaum Weiterentwicklungsmöglichkeiten sieht, so sieht er sich selbst in langfristige Prozesse der Sozialisation eingebunden. Mit seinem Engagement im Fußballverein setzt er eine Familientradition fort, die der Vater begründet hat. Einerseits erfüllt er damit die Erwartungen des Vaters, andererseits ermöglicht er sich damit die Ausweitung und Intensivierung sozialer Netzwerke, in die er seit der Kindheit aufgrund seiner ethnischen Herkunft und der wohnräumlichen Verortung über die Eltern eingebunden ist. 4.1.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder Das thematische Feld Geld verdienen wird von Sinan Koç in der Präsentation in einen intergenerativen Zusammenhang gestellt. Ausgehend von der Motivation des Großvaters, in Deutschland ein „bisschen Geld verdienen“ zu wollen, sieht sich auch Sinan Koç dazu verpflichtet, durch seine Leistungsbereitschaft für angemessenes Einkommen zu sorgen. Er präsentiert den Gelderwerb durch Erwerbsarbeit als eine notwendige Pflicht, die ihn als verantwortungsvollen Ehemann und Familienvater auszeichnet. Der Gelderwerb steht im Vordergrund bei allen beruflichen Entscheidungen, während andere Kriterien, wie Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben von untergeordneter Bedeutung sind. Dabei steht er jedoch unter Rechtfertigungsdruck, da er im Gegensatz zum Großvater seine Anerkennung innerhalb eines sozialen Bezugsrahmens erfolgt, in dem er mit besser ausgebildeten und höher qualifizierten Deutschstämmigen und Migranten konkurriert. Für seinen Großvater war dagegen die Türkei der soziale Bezugsrahmen, in dem er durch den in Deutschland erarbeiteten Wohnstand eine angesehene soziale Position erhalten konnte. Im Gegensatz zum Vater aber, der keine Ausbildung in Deutschland erhalten hat, verfügt Sinan Koç über einen qualifizierten Zugang in die Berufswelt. Allerdings nutzt er die berufsbezogenen Möglichkeiten nicht und zieht weitere Qualifizierungen nicht in ernsthaft in Erwägung, sondern orientiert sich ausschließlich an monetären Gesichtspunkten, wenn er sich einen Arbeitsplatz sucht. Dies führt dazu, dass seine berufliche Qualifikation de facto keinen Wert mehr hat, als er sich für die Fließbandarbeit mit Akkordentlohnung

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entscheidet. Mit dieser Präferierung des Geldverdienens gegenüber inhaltlichen Aspekten sieht er sich in der ideellen Nachfolge der Arbeitertradition der „ersten Gastarbeiter“ für die sein Großvater symbolisch steht. Angesichts der wachsenden Konkurrenz und dem Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrieproduktion, die Sinan Koç auch unmittelbar durch Entlassung zu spüren bekommt, entwickelt er Unsicherheiten und stellt Überlegungen über die Zukunft an, die aber dahin gehen, Lohnarbeit als Mühsal und Last zu definieren. Arbeit ist in seinem Verständnis eine mechanisch auszuführende, fremdbestimmte manuelle Tätigkeit, für deren Erledigung keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten erforderlich sind. Sie ist lediglich dadurch zu rechtfertigen, dass sie für das erforderliche Einkommen und damit verbundenen sozialen Status als Familienernährer sorgt. Bei bestehender Wahlfreiheit würde er sich dafür entscheiden, nicht zu arbeiten, was der Fall wäre, wenn er den Wunsch realisieren könnte, „Millionär zu werden, und nicht mehr arbeiten, das will doch jeder“. Darüber hinaus zieht er es vor, durch sein Engagement im Fußballverein sich ein Tätigkeitsfeld jenseits der Arbeitswelt zu suchen, in dem er inhaltlich interessante Aufgaben erledigen kann. Die verpassten Gelegenheiten seiner Bildungslaufbahn stellen einen weiteren zentralen Teil der biographischen Selbstpräsentation dar. So präsentiert sich Sinan Koç als verhinderter Bildungsaufsteiger, der aufgrund fehlender Förderung und der segregierten Wohnsituation keinen Zugang zu höherer Bildung erhalten hat. Strukturelle und soziale Barrieren führt er zur Begründung für seine geringe Schulbildung an. Seine Sozialisation findet in einem sozialen Raum statt, der stark durch ethnische Grenzziehungen markiert wird. Dies findet bis in die Gegenwart Ausdruck in seiner Sprachkompetenz, die er als „Bruchdeutsch“ charakterisiert und dazu führt, dass er sich in einem überwiegend türkischsprachigen Umfeld orientiert. Bei der Reflexion seiner Bildungslaufbahn nimmt er deutlichen Bezug auf die medialen Diskurse zum Zusammenhang von Migration und Bildung, die er aufmerksam verfolgt. Institutionalisiertes kulturelles Kapital betrachtet er dabei aus der Perspektive der Gegenwart als die zentrale Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg, den er nicht realisieren konnte. Dabei fällt es ihm schwer, auch den eigenen Anteil, vor allem sein geringes Interesse an der Schule als Heranwachsender, mit in die selbstkritische Analyse einzubeziehen. Insgesamt jedoch zeigt sich an seinem Beispiel, welche Bedeutung die strukturellen und sozialen Rahmenbedingungen für den Bildungserfolg haben können. Trotzdem äußert er Zufriedenheit über den Verlauf seines Lebens, da er vor allem im Hinblick auf die berufliche Entwicklung Glück hat. So schreibt er es dem Faktor „Glück“ zu, dass er immer wieder einen Arbeitsplatz findet und sieht sich gegenüber anderen im Vorteil, die in der Hinsicht weniger erfolgreich sind.

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Dabei schreibt er es in keiner Weise einer individuellen Strategie zu, dass er bei der Arbeitsplatzsuche erfolgreich ist, sondern einem scheinbar unspezifischen und durch ihn nicht beeinflussbaren Schicksal. Der Rückblick auf die Erfolge in der Vergangenheit führt dazu, dass er eine positive Grundhaltung entwickelt, wenn es um die Zukunft geht und darauf vertraut, dass er auch weiterhin in beruflicher Hinsicht Stabilität erreichen kann. Da seine Erwartungen an einen Arbeitsplatz gering sind, und die ökonomische Versorgung Priorität hat, ist er flexibel im Umgang mit beruflichen Veränderungen und kann sich innerhalb kurzer Zeit neu orientieren. Seine Qualifikation, wie auch seine Berufsausbildung spielen aber bei der Ausführung automatisierter manueller Tätigkeiten kaum eine Rolle. Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sind nur in geringem Umfang vorhanden und werden informell über die sozialen Beziehungen zur Ebene der Vorgesetzten im Produktionsbereich vermittelt. In dieser Situation entlastet er sich durch die Interpretation seiner bisherigen Erfolge als „Glück“ von der großen Verantwortung, die er als männlicher Alleinversorger übernommen hat, vermeidet aber auch Überlegungen in Richtung einer beruflichen Weiterqualifizierung. Er nimmt sich selbst in seiner gegenwärtigen Situation als ausreichend qualifiziert wahr und wünscht sich einen möglichst frühen Ausstieg aus dem als beschwerlich empfundenen Berufsalltag. Bereits während der Eingangsfrage gibt Sinan Koç den inhaltlichen roten Faden seiner biographischen Selbstpräsentation vor und unterbricht die Erzählaufforderung „Menschen, die aus der Türkei eingewandert sind“ mit dem zentralen Satz „ich bin hier geboren“. Der Terminus „hier geboren“ ist von Bedeutung zur Legitimierung der Zugehörigkeit. Dies ist im Gesamtzusammenhang des Interviews durchaus als Antwort auf Situationen zu verstehen, in denen seine Zugehörigkeit von anderen in Frage gestellt wurde und wird. Somit findet einerseits eine Abgrenzung zur Vorgeneration statt, die in der Türkei geboren ist, aber auch eine Distanz gegenüber Neuzuwanderern, die aus der Türkei und anderen Ländern durch Heirat, Asyl, Studium etc. zu einem späteren Zeitpunkt nach Deutschland kommen. So präsentiert er seine Person als etablierten Nachfolger von Großvater und Vater, deren erfolgreiches familiäres Migrationsprojekt er fortführt. Darüber hinaus leitet er seinen Anspruch auf Zugehörigkeit sowohl für sich selbst als auch für die kommenden Generationen aus den bereits von der Familie kollektiv geleisteten Beiträgen in die Sozialversicherungen ab und tritt damit den hegemonialen Diskursen über den „abgeschottet lebenden Beziehers von Sozialleistungen“ offensiv entgegen.27 Dies erfolgt aufgrund der wachsenden Konkurrenz der Einwanderergruppen untereinander und als Entgegnung ge-

27 Vgl. dazu Dietrich Thränhardt (2010).

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genüber hegemonialen Diskursen diskriminierender Ungleichwertigkeiten. Im Wettbewerb um die knapper werdenden Industriearbeitsplätze, auf die er aufgrund seiner geringen Qualifikation angewiesen ist, sieht er sich gegenüber den Spätaussiedlern und Deutschen aus den neuen Bundesländern benachteiligt, da diese mit Privilegien ausgestattet werden, die ihm vorenthalten werden, und sie darüber hinaus von den Unternehmen bevorzugt eingestellt werden. Somit wird er selbst, trotz der langjährigen Familientradition und der langfristigen Beiträge einer weniger angesehenen Migrantengruppe zugeordnet, während die privilegierte Gruppe Leistungen erhält, ohne Beiträge gezahlt zu haben. Hier zeigt er seine Machtlosigkeit, da er sich angesichts der hohen Erwartungen an seine Erwerbstätigkeit fortlaufend mit seiner Positionierung in der Arbeitswelt und seinen Zukunftsperspektiven auseinanderzusetzen hat. Er erlebt die in der Alltagspraxis stattfindende Differenzierung zwischen Migrantengruppen und die Erteilung von Privilegien bei der Vergabe von Aufenthalts- und Arbeitsrechten sowie sozialer Absicherung als diskriminierend. Angesichts der sich verschärfenden Debatten um Einwanderung nimmt Sinan Koç eine stolze Haltung ein und betont in besonderer Weise die Migrationsgenealogie seiner Familie, die mittlerweile die vierte Generation in Gestalt seiner Kinder erreicht hat. Diese intergenerativen Bezüge sind für ihn ausschließlich positiv besetzt, da er die Meinung vertritt, je länger die Genealogie zurückverfolgt werden kann, desto selbstverständlicher und damit legitimer ist der Anspruch auf Zugehörigkeit. Sinan Koç ist nicht nur in Vollzeit erwerbstätig, sondern in seinem Zeitmanagement nimmt die Beschäftigung mit dem Erhalt und dem Ausbau seiner beruflichen Position breiten Raum ein. Seine soziale Position definiert er in erster Linie auf der Grundlage seiner Rolle als Ernährer und Versorger von Ehefrau und Kindern. Arbeit versteht er als außerhäusliche Lohnarbeit, die er in Vollzeit ausführt, hinzukommen die jeweiligen Anforderungen wie Schichtarbeit und Akkordentlohnung. Damit verortet er sein Verständnis von Arbeit in den Erfahrungskontext der Vorgenerationen und schafft eine intergenerative Anknüpfung an den Arbeiterstatus und den Arbeiterstolz, den er auf den Großvater projiziert. In der Person des Großvaters vollzieht sich die Transformation des Bauern zum Industriearbeiter, dessen Kinder dann als „Kinder eines Arbeiters (im Ausland)“ sozial aufgewertet werden. Dieser Vorgang bezieht sich allerdings nur auf den sozialen Bezugsrahmen in der Türkei, während er in Deutschland einen Unterschichtungsprozess darstellt. Für Sinan Koç bedeutet dies in der Alltagspraxis, dass er durch eine grundlegende Qualifizierung die Anforderungen der Bildungsinstitutionen erfüllt und eine Ausbildung erfolgreich abschließt. Diese Qualifizierung kann er aber bei seinen weiteren beruflichen Entscheidungen nicht einbringen, da er die monetäre Orientierung seiner familiären Vorbilder ebenso ver-

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innerlicht hat wie die Erwartungen an ihn als Alleinversorger von Ehefrau und Kindern. Dies führt dazu, dass er sich jeweils mit den kurzfristigen strukturellen Rahmenbedingungen arrangiert und gerade angesichts der ökonomischen Krisenerfahrungen immer wieder unter großem Erfolgsdruck steht. Eine Kompensation dieser Verunsicherungen erfolgt durch die Pflege der sozialen Netzwerke, innerhalb derer Informationen über bessere Arbeitsmöglichkeiten ausgetauscht und Krisensituationen überwunden werden können. In dieser Hinsicht ist Sinan Koç überaus engagiert und auch sein Engagement im Fußballverein ist diesem Interesse zuzuordnen, wobei er sich wiederum in der Nachfolge seine Vaters sieht, der sich in vergleichbarer Weise für den Ausbau seiner sozialen Vernetzung engagiert hat. Aufgrund der pragmatischen Ausrichtung seines Arbeitsverständnisses, sind seine Erwartungen an den Arbeitsplatz gering. Arbeitszufriedenheit entwickelt Sinan Koç in erster Linie durch die Zusammensatzung der Belegschaft wie er es bei AEG erlebt hat. Davon ausgehend entwickelt er Vorstellungen von einem „Familienbetrieb“, in dem die Nachteile der monotonen und intellektuell anspruchslosen Arbeitsabläufe durch die soziale und emotionale Einbettung in eine soziale Gruppe ausgeglichen werden können. Alters-, Positions- und Bildungsunterschiede treten dabei hinter einer Solidarisierung der Arbeiter zurück. Angesichts der Wahrnehmung von Konkurrenz sieht er in der Entsolidarisierung der Beschäftigten ein Hauptproblem seines Arbeitsalltags in der Gegenwart. Die Gegebenheiten seines beruflichen und familiären Alltags bilden für Sinan Koç nicht hinterfragte Selbstverständlichkeiten. Wie auch sein Vater sich stets für die ökonomische Versorgung der Familie verantwortlich gefühlt hat, sieht sein Sohn hier eine umfassende Zuständigkeit. Während die Eltern aus finanziellen Gründen die Kinderbetreuung untereinander zeitlich geteilt haben, favorisiert Sinan Koç ein Rollenmodell, bei dem seine Ehefrau nach Möglichkeit nicht erwerbstätig ist, sondern sich ausschließlich um die Versorgung von Ehemann und Kindern kümmert. In diesem Rollenmodell verwurzelt, gesteht er auch seinem ursprünglich sehr vehement präsentierten Wunsch nach einer weiterführenden Schulbildung und ergänzenden Qualifizierungen keinen Raum zu. Ein Ausstieg aus diesem Modell betrachtet er als praktisch nicht umsetzbar. Gleichzeitig aber hat er durchaus den Anspruch, als Vater für die Kinder da zu sein. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung durch Vollzeittätigkeit mit wechselnden Tagesschichten und seiner starken Präsenz im Fußballverein, stellt sich die Frage, in wieweit die praktische Umsetzung im Alltag möglich ist.

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4.2 İ LHAN U YSAL – „I CH BIN MEHR INTEGRIERT ALS VIELE D EUTSCHE “ 4.2.1 Interviewkontext İlhan Uysal ist als Senior-Manager in einem Telekommunikationsunternehmen in Nordrhein-Westfalen tätig. Der Kontakt kommt über einen Verein zustande, in dem er ehrenamtlich tätig ist. Der erste Termin kommt nicht zustande, da ein anderes Interview länger dauert als ich es erwartet habe. Eine Verschiebung ist wegen seiner familiären Verpflichtungen am selben Tag nicht möglich. Wir vereinbaren jedoch einen weiteren Termin und treffen uns in der Cafeteria des Unternehmens, in dem er arbeitet. Ich melde mich in der Lobby des Bürohauses an und er kommt nach kurzer Zeit aus seinem Büro, um mich zu begrüßen. Wir sprechen kurz über meine Reise und die Städte, in denen ich bereits war. Er hat sich zwei Stunden Zeit für unser Gespräch genommen und zeigt sich interessiert an meinem Forschungsthema. Bereits im Vorgespräch legt er besonderen Wert darauf, sich als gut ausgebildeten Experten zu präsentieren, der sich darüber hinaus mit den Problemlagen und Potenzialen der von mir untersuchten Gruppe überaus gut auskennt. Er formuliert Kritik an der medialen Darstellung des Themas Migration und äußert Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Forschung in diesem Bereich. Diese Skepsis benennt er als Motivation, sich für ein Interview bereit zu erklären. Die Auswahl des Gesprächsortes hat im Fall von İlhan Uysal eine besondere Bedeutung. Während ich alle weiteren Gesprächspartner außerhalb des unmittelbaren Arbeitsumfelds in Cafés, Vereinsräumen und privaten Wohnungen getroffen habe, integriert er unser Gespräch in seinen Arbeitsalltag. Dies verdeutlicht einerseits, dass er unser Treffen in einen offiziellen beruflichen Kontext einordnet und er ein Interesse daran hat, sich selbst innerhalb des Unternehmens in seinem unmittelbaren Arbeitsumfeld zu präsentieren. Darüber hinaus vermittelt er ein beeindruckendes Bild seines hohen sozialen Status, den er erreicht hat, da er über die planerische Freiheit und Gestaltungsmacht verfügt, sich während der Arbeitszeit eine Auszeit für ein Gespräch zu nehmen, dass nicht direkt den Unternehmenszielen dient. Sollte er dies auch in seinem Team oder der Abteilung so vermittelt haben, erfährt er dadurch als Experte für Türkeistämmige einen weiteren Bedeutungszuwachs. Darüber hinaus ergibt sich am Gesprächsort die Umkehrung der Erfahrungen von Fremdheit. In seiner alltäglichen Arbeitsumgebung bin ich als Interviewerin die Fremde, während er sich in die Rolle des informierten Gastgebers begibt, der mich in die ihm vertraute Umgebung einführt. Diese besondere Konstellation unterstreicht seine herausragende Rolle und er

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versichert sich selbst seiner hohen beruflichen Stellung. Eine weitere Begleiterscheinung der Integration des Gesprächs in den Arbeitsalltag besteht in der Betonung der Trennung von privater und beruflicher Zeit. In seinem Zeitmanagement unterscheidet er zwischen der Zeit für Arbeit und der Zeit für Familie. Dadurch hebt er die Bedeutung, die familiäre Aufgaben für ihn haben, besonders heraus. Während er die Arbeit für ein Gespräch unterbrechen kann, gilt dies für den privaten Bereich nicht im gleichen Maße. 4.2.2 Familienkonstellation Migrationsgeschichte der Eltern Die Familie von İlhan Uysal stammt aus einem Dorf im Hochgebirge der nordöstlichen Türkei. Das Dorf ist bis in die Zeit seiner Kindheit ohne Stromversorgung und fließendes Wasser. Er resümiert, dass die Eltern „aus ganz armen Verhältnissen“ kommen und der Vater die Migration Ende der 1960er Jahre in erster Linie realisiert, um durch vorübergehende Arbeit im Ausland, die Einkommenssituation der Familie in der Türkei zu verbessern. Dabei ist eine dauerhafte Auswanderung nicht das Ziel. Seine Ehefrau bleibt mit der 1968 geborenen Tochter zunächst im Dorf. Die erste Station des Vaters in Europa ist Frankreich, aber schon bald zieht er zu seinem älteren Bruder, der in Nordrhein-Westfalen lebt. Nach etwa einem Jahr holt er seine Ehefrau und die Tochter aus der Türkei nach. Der ältere Bruder des Vaters hat ebenfalls Ehefrau und Kinder, und die Brüder leben gemeinsam im selben Haus. Dies erleichtert die Betreuung der Kinder und darüber hinaus auch die Orientierung im Alltag und bietet Unterstützung bei der Suche nach Arbeit. Der Vater arbeitet auf Baustellen, die Mutter in der Fließbandproduktion. Vor allem der Vater wird als derjenige präsentiert, der den Plan für die Migration entwickelt und verfolgt. Über den Weg der Binnenwanderung aus dem Dorf nach Istanbul geht der Weg nach Europa mit dem Ziel, durch den vorübergehenden Arbeitsaufenthalt in Europa möglichst hohe Rücklagen anzulegen. Die Rückkehr soll innerhalb eines nicht näher definierten Zeitraums in die Türkei und dort nach Istanbul führen. İlhan Uysal präsentiert den Vater als denjenigen, der damit einen Traum realisieren möchte. Er beabsichtigt, in Istanbul ein Taxi zu kaufen, um damit die Familie zu versorgen. Allerdings erwartet der ältere Bruder des Vaters die Unterordnung in der Altershierarchie und die Anerkennung seiner Rolle als Familienoberhaupt. Ebenso wird von der Mutter erwartet, dass sie den Vorgaben ihrer älteren Schwägerin Folge leistet. Als İlhan Uysal 1973 geboren wird, besteht das akute Problem, dass seine erwerbstätigen Eltern

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die Frage der Kinderbetreuung lösen müssen. Sie finden eine „nette, deutsche Frau“, die den Säugling und die ältere Tochter während der Arbeitszeiten der Eltern betreuen kann. Dies ruft allerdings den Widerstand von Bruder und Schwägerin hervor, die dadurch die Traditionen und vor allem die türkische Erziehung der Kinder gefährdet sehen. In der Darstellung von İlhan Uysal wird deutlich, dass der innerfamiliäre Konflikt durch den Anspruch seiner Eltern, eigenständige Entscheidungen zu treffen, hervorgerufen wird und durch diese Rebellion die übergeordnete Position des älteren Ehepaares der erweiterten Familie in Frage gestellt wird. Das Problem der Kinderbetreuung weitet sich in der Folgezeit zu einem Machtkampf mit weitreichenden Folgen für das familiäre Netzwerk aus. Und, eh- die haben auch im gleichen Haus gewohnt, jeder ein Zimmer, mit zwei Kindern und da ehm- die- da gab es eine sehr nette deutsche Frau, die hat quasi auf uns aufgepasst, also, wo meine Mutter arbeiten war. Und meine- eh- also, die Schwägerin von meiner Mutter, also die Frau von meinem Onkel quasi, die hat dann gesagt, nee- das soll keine Deutsche machen, ich werd das machen. Und dann haben die das halt von der deutschen Frau weggenommen und sie hat das gemacht. Sie hat sich aber überhaupt nicht gekümmert. Und meine Mutter war dann super traurig. Das hat drei Monate glaub ich gedauert, dann ist mein Vater- hat sich mit meinem Onkel dann quasi gestritten, ist dann nach N. gezogen. (5:8-15)

Zwar gehen die Eltern zunächst auf die Forderung der älteren Familienmitglieder ein, kritisieren dann aber die schlechte Versorgung der Kinder während ihrer Abwesenheit. Diese Auseinandersetzung hat direkte gravierende Auswirkungen auf die Zeit der Kindheit von İlhan Uysal, der deshalb auch von einer „Tragödie“ spricht. Diese steht in direkten Zusammenhang mit seiner Geburt und den innerfamiliären und organisatorischen Problemen, denen die Eltern gegenüberstehen. So führt der Streit zwischen den Brüdern und ihren Ehefrauen dazu, dass ein weiteres Zusammenleben nicht mehr möglich ist und über einen längeren Zeitraum die Beziehungen abgebrochen werden. Da es dem Älteren nicht gelingt, den Jüngeren zu disziplinieren, verliert er seine als selbstverständlich betrachtete Vorrangstellung. Durch die Rebellion des jüngeren Bruders und seiner Partnerin wird sein Ansehen innerhalb des sozialen Bezugsrahmens erheblich beschädigt. Die Eltern wechseln den Wohnort und ziehen in eine andere Stadt in NordrheinWestfalen, die etwa eine Stunde Fahrtzeit entfernt liegt. Gerade aufgrund der Erfahrungen mit Fremdheit durch die Migration ist es eine weitreichende Entschei-

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dung, die Nähe zu Verwandten aufzugeben. Gerade die sozialen Netzwerke können eine wichtige Rolle bei der Anpassung in die neue Umgebung spielen.28 Die indirekte Folge der Auseinandersetzung der Erwachsenen ist, dass İlhan Uysal im Alter von acht Monaten gemeinsam mit seiner fünf Jahre älteren Schwester zu den Großeltern in das Heimatdorf der Familie in der Türkei gebracht wird und dort lebt, bis er fast sechs Jahre alt ist. Die „Tragödie“ besteht also aus seiner Perspektive vor allem in der Trennung von den Eltern zu einem frühen Zeitpunkt. Dabei wird die Mutter als diejenige dargestellt, die die Trennung als „Albtraum“ erlebt, während der Vater pragmatisch damit umgeht. Er hat einen „Traum“, den er umsetzen möchte, und geht deshalb davon aus, dass eine Trennung für mehrere Jahre im Interesse der ökonomischen Stabilisierung gerechtfertigt ist. Die Form der Präsentation der Haltungen der Eltern gegenüber der Trennung von den Kindern ist eine Folge der innerfamiliären Beziehungskonstellation, wie sie sich entwickelt, nachdem die Familie wieder gemeinsam in Deutschland lebt. Während die Distanz zum Vater bis in die Gegenwart groß ist, entwickelt İlhan Uysal eine emotionalere Beziehung zu seiner Mutter. Da er gemeinsam mit seiner Schwester in die Türkei geschickt wird, entsteht eine enge Bindung zu ihr, die bis in die Gegenwart biographisch relevant ist. Sie ist seine engste Bezugsperson und übernimmt auch nach der Familienzusammenführung immer wieder die Rolle der „Ersatzmutter“. Für die Mutter wird durch die Aussicht auf eine Trennung auf Zeit, die Phase des „Albtraums“ der Trennung von ihren Kindern auf einen überschaubar erscheinenden Zeitraum begrenzt. Als durchaus positiv bewertet İlhan Uysal die Entscheidung der Eltern für einen anderen Wohnort aber dennoch. Zwar hat er mittlerweile Kontakte zur Verwandtschaft am ersten Wohnort der Familie, allerdings deklassiert er den Ort als „Kaff“ ab, und ist überaus zufrieden mit den Möglichkeiten, die sich ihm am neuen, größeren und interessanteren Wohnort bieten, auch wenn sie durch einen gravierenden Streit hervorgerufen wurden. Frühe Kindheitserfahrungen İlhan Uysal wächst in einem „abgelegenen Dorf“ in der Schwarzmeerregion auf und wird von den Großeltern liebevoll versorgt. Seine Eltern sieht er selten, sie kommen in ihrem Urlaub ins Dorf. Die Bezeichnung „Hochgebirge“ führt er selbst bereits in der Eingangserzählung ein und verwendet sie als Oberbegriff für Assoziationen, die mit dem Ort seiner frühen Kindheitserfahrungen verbunden

28 Georg Elwert (1982) beschäftigt sich ausführlich mit der Bedeutung der „Binnenintegration“. Vgl. dazu auch Kapitel 1.1, Seite 20/21.

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sind. In der Erinnerung füllt er den Begriff mit nostalgischen Darstellungen vom einfachen, aber idyllischen Landleben. Er bezeichnet das Dorf als „riesigen Abenteuerspielplatz“, auf dem er mit den anderen Kindern „Hirte spielt“. Es gibt einen festen Tagesablauf, der mit der Dunkelheit endet, da nur Öllampen und Feuer für Beleuchtung sorgen. Er wächst in einer Kindergemeinschaft auf und kann sich innerhalb der Grenzen des Dorfes bewegen. Die einzige negative Erinnerung ist die Beschneidung, die seine Großmutter in die Wege leitet, als er etwa vier Jahre alt ist. Das so erlebte Dorf seiner Kindheit ist eine Quelle für erste als natürlich und ursprünglich wahrgenommene Erfahrungen, die Bild er als Gegenstück zu seinem Alltag in der durchtechnisierten Informationsgesellschaft der Gegenwart entwirft. Der Kontrast ist auch deshalb besonders wirkungsvoll, da das Gespräch in der modern eingerichteten Betriebskantine eines Bürohochhauses stattfindet. Damit entsteht ein wirkungsvoller Gegensatz zwischen der armen, aber glücklichen Kindheit und dem hohen erreichten sozialen Status der Gegenwart. Ein kleines Kind, das von den armen Eltern, die in Deutschland arbeiten, im abgelegenen Dorf ohne Komfort zurückgelassen wird, schafft den sozialen Aufstieg in ein internationales Unternehmen. Die Großeltern werden seine sozialen Eltern und als ihr „Lieblingsenkel“ steht er besonders im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Neben ihm und seiner Schwester betreuen sie weitere Kinder, deren Eltern außerhalb des Dorfes arbeiten. Am Beispiel der Kinder wird das Ausmaß der Folgen von Landflucht und Migration damit besonders deutlich. Für die Erwachsenen sind die Einkommensmöglichkeiten in den Dörfern schlecht. Die Binnenwanderung hat somit weitreichende Folgen für die nächsten Generationen, die als Kinder der Migranten groß werden. Für sie sind jenseits der Familie weder in Westdeutschland noch in den Ballungszentren der Türkei ausreichend Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden. Hinzukommt, dass die Kosten für die Kinderbetreuung am Arbeitsort der Eltern die Rücklagen, die eine schnelle Rückkehr ermöglichen sollen, verringern würden. Deshalb wird bei der Kinderbetreuung auf die traditionellen Netzwerke zurückgegriffen. Diese Form der Betreuung durch die älteren Mitglieder der Großfamilie ist im ländlichen Raum bereits übliche Praxis, mit dem Unterschied, dass die Eltern nun weit entfernt arbeiten und lange Zeiten nicht anwesend sind. In der Darstellung von İlhan Uysal wird das Dorf zum nostalgisch verklärten Rückzugsort und auch die nächstgelegene Provinzstadt ist nicht der Ort, an dem die Eltern ihre Rücklagen investieren möchten. Weder für die Eltern noch für İlhan Uysal scheint es erstrebenswert, sich dort niederzulassen und zu arbeiten. Sie ist lediglich die Durchgangsstation für die überaus mobilen Migranten, wenn sie zurück ins Dorf bzw. von dort wegfahren.

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Nachdem İlhan Uysal seine Eltern lediglich bei ihren Urlauben sieht, entscheiden sie sich 1978 für eine Rückkehr in die Türkei. Damit geht der „Alptraum“ der Trennung für die Mutter zu Ende, auch wenn offen bleibt, wo die Familie lebt und ob sie überhaupt zusammenwohnen werden. Da der Vater den Aufbau einer Existenz in Istanbul vorsieht, ist möglich, dass die Trennung zunächst weiter bestehen bleibt, wenn auch über eine geringere Distanz mit häufigeren Kontakten. İlhan Uysal äußert seine Erleichterung über die Rückkehr der Eltern, auch wenn er sich bis in die Gegenwart mit den Folgen der Trennung auseinandersetzt. Dabei verortet er in der Retrospektive die Rückkehr der Eltern als Teil ihrer Migrationsstrategie, die sie „wie wahrscheinlich alle“ verfolgen. Die Eltern sind mit dem Projekt ihrer Rückkehr nach Istanbul nicht erfolgreich und unterschätzen die veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die den Alltag in dieser Zeit, Ende der 1970er Jahre dominieren. Es gibt heftige Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern, Attentate, Demonstrationen und Inhaftierungen von Oppositionellen. 1980 wird durch den Militärputsch die Verfassung außer Kraft gesetzt und durch den Ausnahmezustand die Menschenrechte eingeschränkt, Parteien verboten und politische Gegner inhaftiert, gefoltert und ermordet. İlhan Uysal fasst diese Ereignisse mit den Begriffen „Militärrevolte“ und „Wirtschaftskrise“ zusammen, die letztlich dazu führen, dass der Vater seine Existenzgründung in Istanbul aufgeben muss und die zweite Auswanderung nach Deutschland plant. Möglicherweise hat der Vater die Risiken unterschätzt und durch seine lange Abwesenheit zu wenige Informationen über die wirtschaftliche und politische Situation gehabt, so dass er seinen „Traum“ nicht realisieren kann. Andererseits äußert sich İlhan Uysal auch kritisch über die Investitionen des Vaters, so dass möglich ist, dass er Fehlentscheidungen getroffen hat, die dazu führen, dass das Rückkehrprojekt scheitert. Da İlhan Uysal allerdings erst fünf Jahre alt ist, hat er davon wohl erst später durch andere erfahren, wenn in der Familie darüber gesprochen wurde. Er stattet die zweite Migration der Familie mit einer gewissen Dramatik aus, da der Vater „quasi geflüchtet ist“ und dieses Mal große Anstrengungen unternimmt, um die Migration der gesamten Kernfamilie zu realisieren. Dabei ist die Situation überaus problematisch, da das angesparte Startkapital verlorengegangen ist. So geht der Vater zunächst allein nach Deutschland, an denselben Ort, an dem er bereits vorher mit seiner Ehefrau gewohnt und gearbeitet hat. Bereits nach einem halben Jahr kommt auch İlhan Uysal mit seiner Schwester zu den Eltern. Er ist mittlerweile fast sechs Jahre alt und kann eingeschult werden. Damit ist auch ein Teil des Betreuungsproblems geklärt, da die Schule feste Zeiten vorgibt, ohne zusätzlichen Kosten zu verursachen. Die Arbeitsbelastung der Eltern ändert sich aller-

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dings nicht wesentlich. Der Vater arbeitet erneut im Bausektor und die Mutter in einer Fabrik. Familiäre Beziehungskonstellationen Die frühe Trennung von den Eltern ist vor allem im Hinblick auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn biographisch relevant. İlhan Uysal stellt das Verhältnis als distanziert und „kühl“ dar. Der Vater ist für ihn eine Person, vor der er Respekt hat, jedoch nicht aufgrund der Achtung von positiven Charaktereigenschaften, sondern aus Angst. Respekt und Angst sind für İlhan Uysal bezogen auf den Vater dasselbe. Der formal erwartete Respekt wird von ihm nicht verinnerlicht, sondern ist ein Produkt äußerer Erwartungen, da gesellschaftlich eingefordert wird, dass der Sohn den Vater respektiert. Allerdings ist das Verhältnis dadurch gestört, dass der Vater Gewalt zur Disziplinierung seines Sohnes anwendet. [...] mein Vater war sowieso gestresst, die hatten halt ein Haus bauen lassen, der hatte Schulden, und der war sowieso mit sich fertig, sag ich mal. [...] Ehm- ja, ich hab wenig mit ihm gesprochen, also extrem viel Respekt gehabt, eh- und so jeder sein eigenes Leben. Hab auch nie diskutiert mit ihm, auch wenn ich unschuldig war, ja? Da hab ich gesagt, ach, lass ihn ruhig. [...] Ja- (.) oder, wenn es denn mal Prügel gab, bin ich auch nicht weggelaufen. War mir quasi egal. Aber er war auch nicht so einer, der jetzt (.) mit dem Stock oder mit was weiß ich was, sondern er hat- halt eine Ohrfeige oder so was, und [...] ja, es war schon ein bisschen gespannt. (10:34-47)

Durch die Gewalt verliert İlhan Uysal die Achtung vor dem Vater als Mensch, was bleibt ist Angst vor den Strafen, durch die er Missachtung seiner Person erlebt. Darüber hinaus nimmt İlhan Uysal deutlich war, dass der Druck, unter dem der Vater steht, dazu führt, ihn besonders hart zu behandeln. Der Sohn wird bei Fehlverhalten zum Ventil der Frustrationen, die der Vater aufgrund seiner sozialen Stellung und ökonomischen Situation immer wieder erfährt. Die Fremdheit, die durch die mehrjährige Trennung hervorgerufen wurde, verstärkt sich damit noch um die Distanz, die darin besteht, dass İlhan Uysal dem Vater aus dem Weg geht, seine Meinung verschweigt, sich aber auch nicht gegen ungerechte Handlungen des Vater zur Wehr setzt. Auch wenn im Gespräch nicht deutlich wird, in welcher Phase die körperliche Bestrafung einsetzt, zeigt sich, dass İlhan Uysal immer noch die erlebte Machtlosigkeit gegenüber dem allmächtigen und körperlich überlegenen Vater wahrnimmt. Dabei bemüht er sich überaus angestrengt darum, das Verhalten des Vaters mit dem anderer Väter, die als wesent-

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lich „schlimmer“ präsentiert werden, zu vergleichen, um die schmerzhafte Erfahrung abzuschwächen. Die Entmachtung des in der Kindheit als allmächtig erlebten Vaters folgt im Rahmen seiner Befreiung in drei Schritten. Die erste erfolgreiche Rebellion findet statt, indem er mit Beginn der Ausbildung entscheidet, das Ausbildungsgehalt nicht in die vom Vater verwaltete Familienkasse einzuzahlen. Der zweite Schritt ist seine „endgültige Befreiung“, als er durchsetzt, wegen seines Studiums in eine eigene Wohnung zu ziehen. In einem dritten Schritt, der nicht an ein biographisches Datum geknüpft ist, entwertet er die Erwerbsarbeit des Vater als „nichts“, was für ihn bedeutet, dass der Vater keine qualifizierten Tätigkeiten ausgeführt hat und darüber hinaus im Vergleich mit ihm nicht durchgängig erwerbstätig, sondern „längere Zeit arbeitslos“ war. Der Vater versteht sich als alleiniger Verwalter der ökonomischen Ressourcen der Familie, stellt aber kein Geld für Freizeit oder zusätzliche Bildung der beiden Kinder zur Verfügung, so dass İlhan Uysal und seine Schwester sich selbst organisieren müssen. Darüber hinaus gibt der Vater das Geld, das er verdient in İlhan Uysals Wahrnehmung nahezu vollständig aus. Im Gegensatz dazu eignet er sich ein Ausgabeverhalten in starker Abgrenzung vom Vater an, in dem er bis zu 50% seines Einkommens anspart und für langfristige Investitionen verwendet, die er als „zweites Standbein“ bezeichnet. Auch im Hinblick auf die Freizeitgestaltung entwickelt İlhan Uysal besondere Aktivitäten ebenfalls in Ablehnung der Alltagspraxis des Vaters. Sprich, dass man sich Wohnung kauft, die vermietet, dass man eh- Grundstücke kauft, einfach, die dann liegen lässt, in der Hoffnung, dass die halt an Wert steigen, dass man andere Sachen macht, die einen interessieren, ja, ehm- dass man Hobbies hat, wo es- das sehe ich bei meinem Vater ganz extrem, der hat halt keine Hobbies, und dem ist einfach langweilig, dass man auch Sachen hat, die man auch im hohen Alter machen kann. [..] Also, nicht nur Standbein finanziell gesehen, sondern dass ich, wenn ich mal Rentner bin, dass ich dann was zu tun hab. Ich- meine Kinder werden dann weg sein. So, und dann sitzen da zwei greise Leute, und sagen sich, was machen wir jetzt? (32:16-24)

Damit wird jedoch auch seine Fokussierung auf den Vater als den zentralen Repräsentanten der Vorgeneration deutlich. Wie bereits bei Sinan Koç ist der Vater eine der zentralen Figuren, an denen die eigenen Leistungen gemessen werden. Indem İlhan Uysal die Leistungen des Vaters grundsätzlich negiert und in Frage stellt, wird der von ihm realisierte soziale Aufstieg umso größer und anerkennenswerter.

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Im Kontrast dazu erscheint die Mutter als eine informelle Ansprechperson, die als „Puffer-Instanz“ zum Vater fungiert. Zwar ist sie ökonomisch von ihm abhängig, so dass die Machtverteilung zugunsten des Vaters ausfällt. Sie bekommt vom Vater ein „Taschengeld“ zugeteilt, während er den Großteil ihres Einkommens behält und für die von ihm initiierten und gesteuerten Familienprojekte verwendet. Die Mutter stellt eigene Wünsche hinter die des Vaters zurück, der seinen „Traum“ verwirklichen möchte. Trotz der frühen Trennung von ihrem Sohn, gelingt es ihr jedoch im Gegensatz zum Vater, nach der Zusammenführung der Familie in Deutschland emotionale Nähe herzustellen. Sie wird zu einer Ansprechpartnerin für die persönlichen Probleme ihres Sohnes und er kann sich an sie wenden, ohne Strafen und Missachtung seiner Person befürchten zu müssen. Mit der Schwester verbindet ihn eine enge Beziehung seit der frühen Kindheit, da sie die einzige Familienangehörige ist, von der er nicht getrennt worden ist. Sie wird von den Eltern nach der zweiten Migration nach Deutschland mit der Betreuung des jüngeren Bruders beauftragt. Als Mädchen wird ihr die Verantwortung früh zugetraut, darüber hinaus haben die Eltern keine alternativen Betreuungsmöglichkeiten, die kostengünstig zur Verfügung stehen. Sie ist damit für İlhan Uysal „Vater- und Mutterersatz“. Jedoch konstatiert er im Rahmen der Beschäftigung mit der Geschwisterfolge, dass sie die intelligenteste von allen Geschwistern ist, die aber „zu früh geboren“ wurde. Sie beginnt früh neben der Schule zu arbeiten, kümmert sich um den Haushalt und neben İlhan Uysal um drei weitere jüngere Geschwister, die nach der zweiten Migration der Familie geboren werden. Sie verlässt die Schule nach der zehnten Klasse und macht eine Ausbildung. In der Adoleszenz wird sie vom Vater mit Erwartungen an ihre moralische Integrität unter Druck gesetzt und ordnet sich ihm unter, so wie bereits die Mutter es tut. Sie erhält ebenfalls keine Förderung durch die Eltern und ist mit häuslichen Aufgaben und Betreuungsaufgaben stark belastet. Mit 19 heiratet sie und zieht mit ihrem Ehemann in eine eigene Wohnung. Die drei jüngeren Geschwister, die keine Trennung von den Eltern erleben, können bereits innerhalb der Geschwisterfolge aufgrund der veränderten sozialen Rahmenbedingungen einer anderen Generation zugerechnet werden. Sie erhalten weitergehende Möglichkeiten bei der Finanzierung von zusätzlicher Bildung und Freizeit, für die sich jedoch vor allem İlhan Uysal einsetzt, während der Vater zunächst von der Notwendigkeit überzeugt werden muss. So haben die Schwestern Jura studiert, der jüngste Bruder studiert Medizin. Diesen Erfolg rechnet sich İlhan Uysal zu, da der Vater zwar grundsätzlich bereit ist, finanziell zu helfen, aber die Potenziale seiner jüngeren Kinder, vor allem die der Mädchen, gering schätzt. Insgesamt präsentiert İlhan Uysal seine Familie als Unter-

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schichtfamilie ohne ökonomische Ressourcen. Die Mehrheit der Angehörigen in der Türkei und in Deutschland erreichen keine höheren Bildungsabschlüsse. Abgesehen von einem entfernten Onkel bestehen keine Erfahrungen mit Bildungsaufstieg. Die Familienmitglieder sind einfache Bauern oder ungelernte, angelernte Arbeiter in der Industrie und im Baugewerbe. [...] wo ich erstaunt war, ist, ehm- dass das bei uns in der Familie immer als so (.) unerreichbar galt immer, also sprich, wir hatten nur einen einzigen, der in der Familie, im Bekanntenkreis studiert war, das war der Mann von meiner Tante, der war also Lehrer. Und so eh- kam das halt, und mein Vater der hat halt- der hat uns nie gehindert, hats aber auch nie (.) eh- gefördert. Also, er hat jetzt nicht gesagt, ich kannte das von anderen, dass die gesagt haben, du musst jetzt arbeiten, du musst jetzt Geld bringen, das hat er nie gemacht. Der hat aber auch nicht Geld gegeben, damit wir studieren, also das hat der auch nicht gemacht, oder bei mir auf jeden Fall. (3:19-24)

Es ist durchaus erwünscht, einen Schulabschluss und eine Ausbildung zu erreichen, die Zugang zu geregeltem Einkommen und stabilen beruflichen Positionen ermöglicht. Es existieren jedoch keine Vorstellungen von inhaltlichen Ausrichtungen im Beruf, da im familiären Umfeld keine Vorbilder vorhanden sind. Zudem steht gerade bei den älteren beiden Kindern ein früher Eintritt in das Arbeitsleben im Vordergrund, da er für eine Entlastung des Familienbudgets sorgt und den Vater mit einem potenziell größeren Familieneinkommen ausstattet, über das er verfügen kann. Eine längere Bildungs- und Ausbildungsphase bedeutet einen Aufschub des Eintritts in die Erwerbsphase und die ökonomische Abhängigkeit von anderen erwerbstätigen Familienangehörigen.29 İlhan Uysal ist der erste der Familie, der individuelle Bildungsinteressen und ökonomische Eigenständigkeit erfolgreich gegen den Vater durchsetzt. Dies hat weitreichende Folgen für die nächste Geschwistergeneration und die Stellung des Vaters als Familienoberhaupt.

29 Besonders für „weibliche Mitglieder [ist] eine Ausdehnung der Phase der Schulzeit problematisch, weil der Zeitpunkt der Ehezeit dadurch verschoben wird“ (Mıhçıyazgan 1986: 312).

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4.2.3 Bildungslaufbahn unter prekären Bedingungen Eigene Migration und Einschulung Die zweite Migration der Familie führt dazu, dass İlhan Uysal schließlich im Alter von fast sechs Jahren als letzter der Familie nach Deutschland kommt. In der Präsentation der Reise transferiert er sich vom Abenteuerspielplatz des Dorfes in einen „Science-Fiction-Film“. Dies hinterlässt lebendige Erinnerungen an die Fahrt, die er gemeinsam mit einem älteren Verwandten antritt. Er benutzt stark kontrastierende Bilder, die verdeutlichen, in welchem Maße die elementare Fremdheit ihn aus der Bahn zu werfen droht. [...] war dann im Flugzeug, und eh- wo ich dann hier kam, die waren irgendwie im fünften Stock und ich dann hochgeguckt, ich dachte, was ist das denn, ich kannte ja nur irgendwie so Holzhäuser, das war für mich wie ein Alptraum. [...] Ja, Toilette war für mich eh- wie so ´n eh- Science-Fiction-Film [...] weil so was kannte ich gar nicht. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Eh- hab mich auch nicht getraut, da rauf zu gehen, weil für mich war halt Toilette irgendwo hinterm Haus und hat halt runtergeplumpst so ungefähr, und hab schon meine Schwierigkeiten gehabt. (8:14-22)

Die Fokussierung auf das Problem elementarer körperlicher Bedürfnisse durch die Wahl des Beispiels der Toilette verdeutlicht darüber hinaus sein hohes Maß an interkultureller Kompetenz, die er zeigt, in dem er sozialisationsbedingte Schamgrenzen überwindet, die es verbieten, ohne eine vorhergehende Entschuldigung über Angelegenheiten der Körperausscheidungen mit anderen Menschen zu sprechen. Darüber hinaus dient die Beschäftigung mit den ersten sinnlichen Erfahrungen dazu, die Begegnung mit fremden Menschen nicht thematisieren zu müssen. Die Distanz zu den fremden Eltern und die Trennung von den sozialen Eltern im geschlossen Sozialgefüge des Dorfes, werden auf diese Weise nicht angesprochen, bzw. können den allgemeinen Anpassungsschwierigkeiten untergeordnet werden, ohne explizit benannt zu werden. Die Fokussierung auf einen Nebenaspekt des Ortswechsels, der ja sich nicht allein durch die unterschiedlichen Toiletten ausdrückt, führt dazu, dass İlhan Uysal auf unterhaltsame Weise die tiefgreifenden persönlichen Veränderungen ausklammern kann. Bereits nach einer kurzen Eingewöhnung in die neue Umgebung kommt er in die Grundschule in eine Klasse, in der ausschließlich türkischsprachige Kinder in türkischer Sprache von aus der Türkei stammenden Lehrern unterrichtet werden. Die Klasse befindet sich zwar in einer staatlichen Grundschule, es gibt aber keinen Deutschunterricht für diese Schülergruppe. Da seine Umgebung in der Phase

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ausschließlich türkischsprachig ist, lernt er zunächst kein Deutsch. Zur deutschsprachigen Umgebung, den Kindern und Lehrern der Schule besteht kein Kontakt. Auch wenn er die sprachliche Isolierung in dieser Zeit als schmerzhaft wahrnimmt, so erläutert er nicht, welche Beweggründe die Eltern möglicherweise hatten, als sie ihn in diese Klasse eingeschult haben. Da die Eltern überaus stark mit eigenen finanziellen Sorgen beschäftigt waren, ist durchaus denkbar, dass sie einen Vorschlag der Schulbehörde oder Ratschläge anderer türkeistämmiger Eltern unreflektiert angenommen haben. Zudem treffen in dieser Frage Haltungen der Migranten, die einen vorübergehenden Aufenthalt im Migrationsland planen, auf Haltungen der Institutionen, die trotz des Familiennachzugs davon ausgehen, dass türkische Schüler in absehbarer Zeit mit ihren Eltern in die Türkei zurückkehren werden.30 Auch İlhan Uysal selbst ist zunächst einmal zufrieden mit der Möglichkeit, innerhalb kurzer Zeit bereits in die Schule gehen zu „dürfen“. Damit vermittelt er den Eindruck, dass allein schon der Schulbesuch nicht selbstverständlich ist, so dass die Inhalte und die Sprache eine zunächst untergeordnete Rolle spielen. Insgesamt sieht sich İlhan Uysal in einer passiven Rolle, in der er darauf wartet, dass andere ihm etwas gestatten und damit den weiteren Verlauf seines Lebens maßgeblich strukturieren. Das thematische Feld die anderen treffen die Entscheidungen, bekommt von ihm eine große biographische Relevanz zugewiesen und spielt als Kontrast zum frühen Selbstmanagement eine zentrale Rolle. Durch die sprachliche Homogenität wird zwar zunächst einmal dafür gesorgt, dass er sich in der Schule nicht fremd fühlt und weder Ablehnung noch Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft erfährt. Andererseits jedoch ist er sprachlich isoliert, spricht kein Deutsch und kann keine Kontakte zur deutschsprachigen Umgebung aufbauen. Ein Schlüsselereignis macht ihm seine Außenseiterposition überaus bewusst. Er erinnert sich bereits in der Eingangserzählung

30 Die Möglichkeit zur Bildung von „Ausländerklassen“ besteht aufgrund von Beschlüssen der Kultusministerkonferenzen im Jahre 1976. Der Anteil ausländischer Kinder in den Regelklassen sollte nicht über einem Fünftel liegen. Gerade in Stadtteilen mit hohen Migrantenanteilen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese Grenze überschritten wird. „Ausländerklassen“ fassen somit diejenigen Schüler zusammen, die als Überschuss die Quoten der Regelklassen überschreiten und sind darüber hinaus ein Instrument, um Schüler mit unzureichenden Sprachkenntnissen zusammenzufassen. „In Vorbereitungsklassen mit Schülern gleicher Muttersprache konnten Unterrichtsinhalte auch in der Muttersprache der Schüler durch ausländische Lehrer vermittelt werden.“ (Langenfeld 2001: 36)

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daran, dass er ohne Sprachkenntnisse vollkommen unfähig zur Kommunikation war. Also, ich kann mich an eine Szene erinnern, da war ich glaub ich sechs, da ist mein Vater mit dem Auto vorbeigekommen und hat gesagt, stell dich hier auf ´n Parkplatz, damit das keiner wegnimmt, und sag einfach, ich versteh nichts, und eh- und da kam wirklich einer und ich hab dann nur gesagt, ich versteh nichts, ich weiß gar nicht, wie ich das ausgesprochen hab, also solche Szenen gab es dann noch, also quasi wirklich bei null. (2:15-19)

Er erfährt Abhängigkeit und Hilflosigkeit in einer fremden Umgebung, von der er isoliert ist. Dies führt dazu, dass er auch über diese besondere Situation in der Klasse und den türkischsprachigen Unterricht distanziert spricht. So ordnet er diese besondere Situation in eine abgeschlossene Phase seines Lebens ein und in eine Zeit, in der möglich war, was heute aus seiner Perspektive als Vater als undenkbar einzuordnen wäre. „Damals“ war es möglich, türkeistämmige Kinder auf Zeit in einsprachig türkischen Schulklassen zusammenzufassen, was in der Gegenwart weder angeboten werden sollte, noch für ihn persönlich akzeptabel scheint. So kommt er in einer vorläufigen Evaluation zu dem Ergebnis, dass die Erfahrung doppelter Fremdheit „fremdes Land, fremde Eltern“, zunächst durch den Vorteil zeitweiser sprachlicher und kultureller Homogenität abgefedert wurde, allerdings keine Annäherung an die fremden Eltern bringt, aber auch keine Ablehnungserfahrungen in einer deutschsprachigen Umgebung nach sich zieht. Die Schulzeit Weder seine Eltern noch er selbst werden in der Grundschulzeit aktiv, um den Wechsel in eine deutschsprachige Klasse herbeizuführen. Die Veränderungen ergeben sich am Ende der zweiten Klasse durch den äußeren Umstand, dass die Bestimmungen, die die türkischsprachigen Klassen hervorgebracht haben, geändert werden. Von einem Tag auf den anderen wechselt das Lehrprogramm ins Deutsche und er hat von da an Deutschunterricht und eine engagierte deutsche Lehrerin. Dies zeigt, dass nicht nur sprachlich eine radikale Wende eintritt, sondern auch die pädagogischen Ansätze für eine völlig andere und neue Unter-

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richtssituation sorgen.31 Die junge Lehrerin trifft auf eine Klasse mit Kindern, die kein Wort von dem verstehen, was sie sagt und die İlhan Uysal darüber hinaus als „frech“ beschreibt. Während er diesen Wechsel trotz erster Anpassungsschwierigkeiten als anregend und interessant wahrnimmt, ist er nicht sicher, ob die Lehrerin in gleichem Maße Freude an der Arbeit mit den neuen Schülern hat. Er ist ein guter Schüler, in den letzten beiden Grundschuljahren entwickelt er sich überaus gut und erhält bessere Noten, hat in Deutsch aber noch Lücken. Deshalb schließen die Lehrer einen Wechsel auf ein Gymnasium aus und schicken ihn zusammen mit zwei Mädchen der Klasse auf eine neu gegründete Gesamtschule mit Ganztagsunterricht. Dies nimmt er durchaus als großes Privileg wahr, da die anderen türkischen Schüler auf die Hauptschule gehen, was İlhan Uysal als in dieser Zeit übliche Entscheidung bewertet. Und wir sind dann mit drei, Klassenkamera- also mit drei- zwei Mädchen und ich, sind dann an die Gesamtschule in E. gegangen, an die große, die hieß (Name der Schule) und alle anderen, das weiß ich, sind ganz normal zur Hauptschule gegangen. Also, das war schon damals vorprogrammiert, ich mein, wenig Deutsch, das ist halt relativ schlecht- ja[...] (2:22-26)

Für ihn bedeutet die Auswahl, dass er eine besondere Entwicklungschance erhält, der er gerecht werden möchte. Trotzdem ist der Wechsel in die fünfte Klasse auch seine „schlimmste Zeit“. Der Schulwechsel bringt ihn in eine überwiegend deutsche Umgebung, die geschlossene Gruppe türkischer Kinder besteht nicht mehr, so dass er sich im Schulalltag erstmals mit deutschen Kindern arrangieren muss, die ihm im Hinblick auf ihre Deutschkenntnisse überlegen sind. Während er in der Gruppe der türkeistämmigen Kinder immer einer der Besten war, was die Lehrer ja zur Gesamtschulempfehlung veranlasst hat, ist er nun überaus stark gefordert. Einen entscheidenden Vorteil erlebt er durch die gute Ausstattung der Schule, die als Ganztagsschule eine gute Basis für Betreuung

31 Dazu sagt Asker Kartari (1996: 59): „In den Schulen der Türkei genießen Lehrer und Lehrerinnen hohes Ansehen. Während der osmanischen Herrschaft sprachen die Väter bei der Einschulung ihrer Kinder: ‚Herr Lehrer, hier ist mein Kind, sein Fleisch sei dein, seine Knochen sind mein’. Demnach wurde dem Lehrer alle Erziehungsgewalt, einschließlich der Körperzüchtigung, übertragen. Diese Gewaltenübertragung gibt dem Lehrer grenzenlose Rechte über das Kind und gleichzeitig einen hohen sozialen Status in der Gesellschaft.“ Aus dieser Auffassung ergibt sich die Frage, inwieweit Eltern die Zuständigkeit für die Kinder mit dem Beginn der Schulzeit quasi an die Lehrer übertragen und sich damit nur wenig in die Schulentscheidungen einmischen.

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und Freizeitgestaltung im Anschluss an den Unterricht anbietet. İlhan Uysal freut sich über die breit angelegten Möglichkeiten und fühlt sich durchaus wohl. Die Eltern sind damit von der Betreuung entlastet und er hat durch die festen Tagesstrukturen einen konstanten Rahmen, in dem er sich bewegt. Ab der siebten Klasse sind seine Leistungen durchgehend gut und auch in Deutsch kommt er auf die Note drei. Vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern ist er gut. Er hat eine enge Freundin mit der ihn vor allem die ebenfalls schwierigen Familienverhältnisse verbinden. Darüber hinaus erhält er Anerkennung durch die Lehrer, die ihn in den leistungsstärkeren Kursen weiter fördern. So wird er zu einem der Klassenbesten, der in vielen Fächern brillieren kann. Im Rückblick stellt er fest, dass die Integration in die „Elite“ dann erfolgt, wenn man in der Schule gut und im Sport erfolgreich ist. Er wird in die Gruppe der Erfolgreichen aufgenommen, allerdings mit der Betonung, aus dem Blickwinkel der Deutschen „nicht wie ein Türke“ zu sein. In dieser Zeit hört er diese Bemerkung das erste Mal und sie begleitet ihn im Laufe seiner Biographie bis in die Gegenwart. Zwischen „Nichtbehütung“ und Selbstmanagement Aus den biographischen Daten des Interviews geht hervor, dass beide Eltern durchgehend erwerbstätig sind. Die Mutter arbeitet sogar einen längeren Zeitraum in einer „Mittagsschicht“ und ist deshalb am Nachmittag nicht zu Hause, der Vater kommt in der Regel ebenfalls erst am späten Nachmittag bzw. am Abend nach Hause. So stellt İlhan Uysal dar, dass er mit seiner Mutter nur am ersten Tag der Grundschulzeit gemeinsam mit dem Bus den Weg zur Schule gefahren ist. Anschließend muss er sich allein zurechtfinden. Im Rückblick stellt er erstaunt fest, dass er sich gegenwärtig nicht vorstellen kann, was passieren würde, wenn er seine jüngste Tochter allein durch die Stadt schicken würde. Sein Schulweg war nicht weit, trotzdem irritiert ihn die „Nichtbehütung“, die er als Kind erfahren hat bis in die Gegenwart. Diese steht im krassen Gegensatz zur in der Gegenwart erlebten „Überbehütung“, die er selbst bei seinen Kindern praktiziert. Auch die Tatsache, dass zwischen 1979 und 1984 drei weitere Kinder geboren werden, verändert den Alltag in der Erinnerung von İlhan Uysal nur wenig. Es bleibt unklar, wie die Eltern Berufstätigkeit und Kinderbetreuung regeln, doch auch wenn die Mutter einen gewissen Zeitraum nicht erwerbstätig war, ist in seinen Darstellungen die häufige Abwesenheit der Eltern überaus stark präsent. Die meiste Zeit verbringt er mit der älteren Schwester, die sein „Mutterersatz“ ist. Sie ist diejenige, die für ihn und vermutlich auch die anderen Geschwister zuständig ist, wenn die Eltern arbeiten.

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In seiner Freizeit außerhalb der elterlichen Wohnung ist İlhan Uysal deshalb weitgehend auf sich allein gestellt. Da er jedoch schnell andere Kinder findet, die ebenso unbehütet aufwachsen, bilden sie eine Gruppe, die gemeinsam ihre Freizeit gestaltet. Dazu gehören Fahrradtouren und Streifzüge durch die Stadt. Damit ist der „Abenteuerspielplatz“ wieder belebt worden, mit dem Unterschied, dass er sich nicht mehr im abgelegenen Dorf, sondern in der Stadt befindet. Bereits die Grundschulzeit leitet damit eine Lebensphase ein, in der er für die Gestaltung seiner freien Zeit eigenständig sorgt. Die Eltern sind abwesend, die Beziehungen sind distanziert, auch wenn sich die Mutter um Nähe bemüht. Die Tatsache, dass die Eltern überwiegend mit Arbeiten beschäftigt sind und darüber hinaus finanzielle Sorgen haben, führt nicht dazu, dass sie sich in der verbleibenden Zeit intensiv mit ihren Kindern beschäftigten. Vielmehr vergrößert sich die Distanz. Die Eltern sind jeweils nur dann präsent, wenn es um die Übertretung von Regeln und Normen geht. Der Vater ist dann die Autoritätsperson, die sich das Recht nimmt, den Sohn körperlich zu bestrafen. İlhan Uysal begegnet dem mit noch größerer Distanz, die ihn davor bewahrt, die Körperstrafen als persönliche Verletzungen zu erleben. Eltern und Kinder sprechen nicht über die Trennungserfahrungen und über ihre Wünsche, Träume und Sorgen miteinander. Sie leben in einer Zweckgemeinschaft nebeneinander her, in der die Kinder die Aufgabe haben, sich selbständig zu beschäftigen, möglichst ihre Angelegenheiten eigenständig zu regeln und keine Forderungen, vor allem keine emotionalen oder ökonomischen, an die Eltern zu stellen. İlhan Uysal erinnert sich daran, dass die Familie immer wenig Geld zur Verfügung hatte. Die ökonomische Ausrichtung der Eltern orientiert sich auch nach der zweiten Migration auf die Bildung von Rücklagen für Investitionen und Konsum in der Türkei.32 Die Entscheidung in Deutschland mit der Familie zu leben, beeinflusst das Ausgabeverhalten der Eltern nicht wesentlich, darüber hinaus wird die Familie durch die drei weiteren Kinder größer, so dass mehr Geld für die Grundversorgung bereitgestellt werden muss. Das Sparverhalten und die ohnehin geringeren Einkommen aufgrund fehlender Qualifizierungen und geringer Aufstiegschancen führen dazu, dass jenseits einer Versorgung mit Essen und Kleidung keine finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden. Die Fahrten ins Dorf zu den Großeltern sind jedoch ein selbstverständlicher Bestandteil des gemeinsamen Lebens. Sie dienen dabei sowohl der transnationalen Netzwerkpflege als auch zur Repräsentation des erarbeiteten Wohlstands und zur Ausgestaltung, Kontrolle und Anbahnung von sozialen Beziehungen und weiteren Investitionen.

32 So besitzt die Familie mehrere Grundstücke, Wohnungen und Häuser, im Herkunftsdorf der Eltern und in Istanbul, die bereits der Vater gekauft und gebaut hat.

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Aufgrund der daraus resultierenden dauerhaften finanziellen Mangellage geht İlhan Uysal bereits in der Grundschulzeit gemeinsam mit seinen Freunden in der Stadt auf die Suche nach Einnahmequellen. Ja, man wurde einfach, man wurde extrem schnell selbständig. Ehm- man hat durch diese (.) „Nichtbehütung“ sag ich mal in Anführungsstrichen oder dieses finanziell immer klamm sein, hat man natürlich als Kind auch eh- sich extrem selbständig gemacht und auch Wege gefunden, die zum Beispiel ein sieben, achtjähriges Kind nie geht. Das kam auch noch hinzu. [...] Das ist, ach- was macht man da, wir hatten da immer so eine eingeschworene Clique von vier, fünf Leuten, und eine Lieblingsbeschäftigung war, jede Woche, war- früher gabs so Münztelefone, und da war so ein gelber Kasten und darunter war so ein Loch. Erinnern Sie sich vielleicht noch dran. [...] Und da ist immer Geld reingefallen von den Leuten und da sind wir systematisch komplett (die Stadt) abgegangen und haben dort immer locker acht, neun Mark immer zusammengesammelt, also zehn Pfennigstücke, fünfzig Pfennig, fünf Mark war schon ein Highlight [...] und da- das haben wir gegemacht wie wir noch klei- oder Leergut gesammelt, und eh- relativ früh auf dem Flohmarkt Sachen verkauft und ehm- ja- halt sich irgendwie so durchge- durchgebracht. (8:389:7)

Die Präsentation der finanziell prekären Situation seit der Kindheit ist einzuordnen in die Darstellung seiner Biographie als Kontrast, der zwischen der in der Kindheit erlebten Armut und Unterschichtzugehörigkeit und der aktuellen Lebenssituation als hoch qualifizierter Projektmanager besteht. Er erhält keinerlei Förderung seitens der Eltern und realisiert trotzdem einen sozialen Aufstieg und eine beispielhafte Karriere. In seiner Haupterzählung baut er die Überwindung der Armut aus eigener Anstrengung zu einem zentralen thematischen Feld aus. Die ökonomische und soziale Marginalisierung ist biographisch relevant, da er bereits früh damit konfrontiert wird, dass Bildungsinteressen und organisierte Freizeit von den Eltern nicht organisiert und gefördert werden. Seine Fähigkeiten zum Selbstmanagement seit der Kindheit hebt er auch deshalb besonders hervor. Er ist fest integriert in soziale Netzwerke, die ihn mit dem versorgen, was er für die Freizeitgestaltung benötigt. Es gelingt ihm sogar, eine kostenlose Mitgliedschaft im Fußballverein zu bekommen, in dem er bis in die Gegenwart aktiv ist. Damit stellt er bereits früh sein Organisationstalent unter Beweis und erhält Zugang zu Bereichen, die ihn persönlich weiterbringen und durch die er Wertschätzung und Anerkennung seiner Freunde erhält. İlhan Uysal nimmt die finanzielle Misere seiner Familie als durchaus belastend dar, auch wenn er in der Lage ist, in Netzwerken mit anderen Migrantenkindern informelle Abhilfen zu schaffen. Dabei betont er jedoch, dass er es als

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Vorteil wahrnimmt, dass er im Vergleich zu anderen in seinem weiteren familiäre Netzwerk nicht in einem segregierten Wohnviertel aufwächst, sondern sich in der Regel in einer mehrheitsdeutschen Umgebung bewegt. Auch wenn sein Netzwerk mehrheitlich türkisch bzw. migrantisch ist, lebt er in einer Umgebung, die er als „95% deutsch“ erinnert. Den Unterschied zwischen dem Lebensumfeld seiner Kindheit und dem segregierten Wohnen realisiert er erst als Erwachsener, als er innerhalb von Nordrhein-Westfalen Besuche beispielsweise in DuisburgMarxloh macht, und die deutlichen Unterschiede zum Stadtteil, in dem er aufgewachsen ist, erkennt. Trotz der schulischen Erfolge und Anerkennung durch die Schüler und Lehrer, die überwiegend deutsch sind, präsentiert er sich als „Problemkind“ aufgrund eher mäßiger Leistungen in Deutsch, aber auch aufgrund seiner familiären Situation. Er vergleicht sich und seine Leistungen vor allem mit denen der deutschen Schüler und kann mithalten in der Konkurrenz um gute Noten, die Anerkennung bringen. Allerdings erfolgt diese Anerkennung unter in rassistischer Abgrenzung und Negierung seiner ethnischen Identität. Und die Deutschen, waren halt hauptsächlich in der Schule, weil- eh- da war man unbewusst in so eine Art Elite, sag ich mal, aufgestiegen, ne- weil man war halt sehr gut und durch diese in der Schule sehr gut sein und im Sport sehr gut sein, hatte man halt seine Akzeptanz gehabt. [...] Ja, weil wenn dann Klassenarbeiten kamen, dann war immer klar, dass ich immer zu den ersten drei gehöre und diese Akzeptanz, hat man sich auch die Deutschen zugelegt, zu sagen, ja, der ist ja- also der ist ja Türke aber, aber (.) der ist ja kein normaler. Und den Satz habe ich sehr oft gehört, und der nervt mich so extrem. (16:310)

Bereits seine Schullaufbahn wird damit auf der Grundlage rassistischer Stereotypen durch die deutschstämmige Umgebung als unnormal und untypisch für einen türkeistämmigen Schüler aus einer Einwandererfamilie der Unterschicht etikettiert. Als Kind von Einwanderern aus der Türkei in der Schule erfolgreich zu sein und damit der „Elite“ anzugehören, läuft dem in den dominanten Diskursen vorherrschenden Türkenbild zuwider. Dies führt dazu, dass sich İlhan Uysal der Vielzahl von Stereotypen bewusst wird, die über Türkeistämmige bestehen. Die Auseinandersetzung mit der Fremdzuschreibung nicht wie ein Türke zu sein, stellt ein weiteres thematisches Feld von großer biographischer Bedeutung dar. Er erlebt es als verletzend, dass seine türkische Herkunft als negativ klassifiziert wird und ihm eine ethnisierte Unterschichtenposition zuzuweisen versucht, die er nicht hinzunehmen bereit ist. Im weiteren Verlauf seiner Biographie gerät er immer wieder in Situationen, in denen er mit dem scheinbaren Widerspruch, den

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die anderen darin sehen, dass er als Türke beruflich erfolgreich ist, konfrontiert wird. In der Schulzeit führt die Fremdzuschreibung „nicht wie ein Türke“ vor allem dazu, dass er sich bemüht, durch aufsässiges und aggressives Verhalten den Zuschreibungen der Umgebung zu entsprechen, indem er sich als „frecher“ Türke präsentiert, um mit seiner ethnischen Identität wahrgenommen zu werden. Allerdings führt das nicht dazu, das er weniger Unterstützung erhält, denn er bekommt von den Lehrern signalisiert, dass man ihm „die Zukunft nicht verbauen“ will. Die grundsätzlichen Einstellungen gegenüber seiner ethnischen Herkunft werden aber nicht bearbeitet. Dies führt dazu, dass er in der Schule überwiegend in deutsche Netzwerke und außerhalb der Schule in türkeistämmige Netzwerke integriert ist. Ein Grund dafür liegt dabei in der schlechten finanziellen Ausstattung seiner Familie, wodurch ihm der Zugang zu Konsumgütern fehlt, die er bei der Konkurrenz um zentrale Statuspositionen einsetzen kann. Dieser Mangel verbindet ihn mit den ebenfalls ökonomisch marginalisierten türkeistämmigen Freunden, ebenso wie die Aggression und das „Frechsein“, durch die er seine Peergroup charakterisiert. Und man musste halt so sein, also aggressiv, frech, weil, wie sollte man sich- man sich sonst durchsetzen. Ich mein, wir hatten keine guten Klamotten, wir hatten kein Geld, wir hatten keine Eltern, die sich darum gekümmert haben, keine Förderung, also was bleibt einem übrig? [...] wenn ich so überlege, dann bereue ich natürlich bestimmte Sachen, aber es ging nicht anders. Man musste sich irgendwie durchsetzen. Das ist immer so. Entweder man setzt sich intellektuell durch, also clever, oder halt man integriert sich oder man schottet sich komplett ab. Und da wir uns nicht abschotten wollten, wollten wir natürlich auch immer- irgendwie müssen wir uns durchsetzen. Und das Einzige, was wir hatten, war halt unsere Aggressivität, die halt naturgegeben war. (14:19-29)

So verortet er sich vorrangig als Angehöriger der Gruppe der sozial und ökonomisch marginalisierten türkeistämmigen Jugendlichen, die ihre gesellschaftliche Randstellung durch aufsässiges Verhalten nach außen tragen. Er rechtfertigt dieses Verhalten mit dem Argument der Naturgegebenheit. Ökonomische Marginalisierung in der Phase der Adoleszenz bedeutet einen Ausschluss vom Konsum, über den Statusverhandlungen in der Peer-Group vorgenommen werden. Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht am Beispiel seiner Gruppe darin, sich durch Körpereinsatz, Geschicklichkeit und Cleverness eine Position innerhalb

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der Sozialwelt der Jugendlichen zu erstreiten.33 Dadurch erfolgt eine selbstinitiierte und subkulturelle Aneignung des sozialen Raums durch das solidarische Kollektiv der Marginalisierten. Aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation beginnt İlhan Uysal bereits im Alter von zwölf Jahren zu arbeiten. Dies erfolgt zunächst gemeinsam mit der älteren Schwester, die ihn zu ihren Nebentätigkeiten – Zeitungen austragen, Erdbeeren und Bohnen pflücken – mitnimmt. Dem Vater hilft er bei „Putzjobs“. Darüber hinaus hilft er am Wochenende in einem türkischen Lebensmittelgeschäft aus. Auch wenn er dafür nur wenig Geld bekommt, hat er zumindest ein Taschengeld und kann sich davon Dinge kaufen, die er ansonsten nicht bekommen würde. [...] man musste sich einfach selber über die Runden bringen. Das heißt entweder nichts haben und langweilen oder was tun und ehm- was bewegen. (13:11/12)

Dies ist auch das zentrale Motiv seines ökonomischen Handelns. Die Erfahrung des Ausschlusses von Konsum aufgrund der prekären Situation seiner Familie wirkt motivierend und führt dazu, dass er sich selbst für die Erfüllung von Konsumwünschen verantwortlich sieht. Die Möglichkeit, etwas aus dem eigenen Leben zu machen, besteht nur dann, wenn er selbst die Initiative ergreift. Auch wenn er im Hinblick auf die Bildungslaufbahn und auch bei beruflichen Entscheidungen auf erwachsene Mentoren und deren Meinungen zurückgreifen kann, so ist er in ökonomischen Fragen früh eigenständig. 4.2.4 Karriere im internationalen Unternehmen Berufsausbildung und erste Erwerbstätigkeit Während er in Bezug auf soziale Beziehungen und die Behebung der ökonomischen Mangelsituation überaus gut organisiertes Selbstmanagement praktiziert, ist dies im Feld der beruflichen Entscheidungen nicht der Fall. Mit dem Realschulabschluss erfolgt das vorläufige Ende der Schulzeit und es steht die Entscheidung darüber an, wie es weiter gehen soll. Wie bereits beim ersten Schulbe-

33 Dieses Verhalten entspricht dem, was Michael Meuser (2008: 41) als „Risikohandeln“ beschreibt: „Risikohandeln, das zumeist die Gestalt eines Wettbewerbs hat, ist Teil der normalen Entwicklung Adoleszenter, es ist eine entwicklungsphasentypische Form der ernsten Spiele des Wettbewerbs, mit dem dessen Spielregen angeeignet werden.“

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such verortet er sich auch hier in der Position desjenigen, der die Entscheidungen den Erwachsenen überlässt, in der Annahme, dass sie über die dafür erforderliche Kompetenz verfügen. Erst im Rückblick als Erwachsener reflektiert er, ob er die richtige Wahl getroffen hat, da er als Jugendlicher nicht in der Lage ist, die negativen Folgen zu überblicken und die Beratungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Ja, meine Klassenlehrerin, ehm- ich- ich mein, ich weiß jetzt nicht, ob das eine kluge Entscheidung war, am Ende. Ich mein, sagen wir mal so, es ist alles gut gelaufen, aber ich hätte auch nach der Ausbildung hängenbleiben können, quasi. Also, und ehm- ich mein, sie hat sich- ich hab nachher auch- wir hatten noch Klassentreffen- ich hab sie auch nachher gefragt, sie hat gesagt, ehm- dass sie halt wollte, dass ich an Geld komme, also auch das habe und weil sie ja auch sehr, sehr viel schlechte Erfahrungen gemacht hat, dass ich auf jeden Fall eine Ausbildung habe, egal was passiert und sie meinte, meistens werden die Kinder mit 18, 19 relativ wild oder driften ab, und sie wollte, dass ich früh eine Ausbildung habe und ehm- sie hat das halt gefördert. Ich bin dann auch zu ihr hin und hab gesagt, ich hab die und die Stellen und was soll ich machen. Und sie hat gesagt, ja hier Elektronik, das ist nicht so dreckig, ehm- das ist schön, das ist ein Zukunftsberuf, was ja absolut damals auch gestimmt hat für damalige Zeit. Die hat mich also auch mit dazu bewegt, das zu machen, also die Ausbildung zu machen. (16:32-42)

Die Übergangspassage in die Berufsausbildung erweist sich als ein erster biographisch relevanter Wendepunkt, an dem er eine Entscheidung trifft, die er auf die ausschließliche Empfehlung seiner Lehrerin zurückführt. Die Darstellung der Erinnerungen erfolgt ausschließlich aus der Perspektive der Erwachsenen, so dass er selbst als Person unbeteiligt an der Entscheidung zu sein scheint. Auch die zentralen Argumente, die für die Wahl des Berufes aufgeführt werden, „an Geld kommen“ und einen Beruf auswählen, der „nicht so dreckig“ ist, sind nicht seine eigenen und es entwickelt sich durch die argumentative Ausgestaltung dieser Sequenz auch keine Aneignung der Argumente der anderen Beteiligten. Allerdings beansprucht er aus der Perspektive des Erwachsenen, der den sozialen Aufstieg geschafft hat, die Relevanz der Empfehlung und ihre Tragweite zu überprüfen. Die Angst vor dem „hängenbleiben“ realisiert er erst in der Position als erfolgreicher Manager, der er in der Gegenwart ist und hinterfragt nicht inwieweit die „sehr, sehr schlechten Erfahrungen“ sich auf türkeistämmige Kinder wie ihn beziehen. Allerdings wird im weiteren Verlauf seiner Darstellungen durchaus sichtbar, dass er aufgrund seiner vorbildlichen Karriere durchaus den Wunsch hat, seine Bildungslaufbahn in Richtung eines direkten Übergangs zum Abitur zu modifizieren. Dies zeigt sich daran, dass er bereits in der Eingangser-

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zählung des Interviews die Bezeichnung seines ersten Schulabschlusses nicht nennt, sondern besonderen Wert darauf legt zu betonen, dass er nach der zehnten Klasse die grundsätzliche Voraussetzung erfüllt hatte, um Abitur zu machen. Und so hab ich dann halt, meine- meine- eh- na, wie heißt das, Hochschulreife- ne- Fachhoch- ne, Qualifikation, weiß ich gar nicht mehr, auf jeden Fall, ich durfte Abitur machen. (2:34/35)

Den tatsächlich erreichten Schulabschluss in dieser Lebensphase nennt er erst auf meine explizite Nachfrage hin, aber wiederum mit der Ergänzung der Option, das Abitur machen zu können. Auch der Mittleren Reife verleiht er durch die Erweiterung „mit Qualifikation“ eine größere Bedeutung. I: Und zum Abschluss hatten Sie dann die Mittlere Reife, nennt man das hier so? Oder was war das für ein Schulabschlİlhan Uysal: Mittlere Reife mit Qualifikation, genau, also ich hätte direkt Abitur machen können. (16:44-46)

Er zeigt damit, dass er als Erwachsener in einer angesehenen beruflichen Position, die Bedeutung der Hochschulreife als maßgeblich für gesellschaftliche Anerkennung betrachtet. Der erreichte Realschulabschluss bedeutet für ihn weniger Prestige und deutet auf eine vage Art an, dass ein Bildungsdefizit besteht, das der Karriere hinderlich sein kann. Der Versuch, die Benennung seines ersten Schulabschlusses zu vermeiden, geschieht vor dem Hintergrund, dass er im beruflichen Alltag wohl überwiegend mit Hochschulabsolventen zu tun hat und deren direkte Wege zum Studium mit seinem Umweg über eine Berufsausbildung vergleicht. Vor allem die daraus erfolgende Identifizierung seiner ethnischen und sozialen Herkunft führt zu Unbehagen und Schamgefühlen. Angesichts der Diskurse um strukturelle und soziale Barrieren, die die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft festschreiben und sozialen Aufstieg behindern, nimmt er seine Laufbahn als von einem Makel behaftet wahr. In dem er die Verantwortung für die erste berufliche Entscheidung seiner Lehrerin überträgt, macht er sie auch dafür verantwortlich, dass er seine Karriere nur über einen Umweg machen konnte. Trotz seiner Kritik an der Empfehlung der Lehrerin, wird anhand seiner Darstellungen deutlich, dass die finanzielle Eigenständigkeit ein zentrales Motiv bei der Entscheidung für eine Ausbildung war. Die Lehrerin erkennt dies als erste und ist diejenige, die er dazu argumentativ einführt, um seine Entscheidung in dieser Phase zu rechtfertigen. Auch er selbst leidet erheblich unter der schlechten

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finanziellen Ausstattung der Familie und erreicht durch die Ausbildung eine wesentliche Verbesserung.34 Er kann seine Eltern finanziell entlasten, was bei einer Fortsetzung des Schulbesuchs nicht der Fall gewesen wäre. Zudem wird innerhalb der Familie von İlhan Uysal die Auffassung vertreten, dass ein Studium „unerreichbar“ ist, so dass ein Abitur keinen Sinn macht, da keine Erfahrungen mit den Konsequenzen vorhanden sind und eine Verlängerung der Schulzeit weitere Kosten verursachen würde, wenn anschließend eine Ausbildung folgt, die auch mit einem mittleren Bildungsabschluss erreichbar gewesen wäre. Bei der Wahl des Ausbildungsberufs beschränkt er sich auf Berufe im handwerklich-technischen Bereich. Auch wenn er in Deutsch nicht über eine Drei hinaus kommt, so ist er ein überaus guter Schüler, der die Schule mit einem guten Zeugnis verlässt. Er schreibt 20 Bewerbungen und bekommt 16 Zusagen. Alle Bewerbungen hat er bis in die Gegenwart aufgehoben und war bei allen Unternehmen zum Einstellungstest. Er testet somit erstmalig seinen Marktwert und konserviert die Artefakte seiner ersten beruflichen Entscheidung bis in die Gegenwart. Damit verdeutlicht er, wie groß die Bedeutung ist, die er dieser Statuspassage für sein weiteres Leben zuweist. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Lehrerin lehnt er den Rat des Vaters ab, das erstbeste Angebot anzunehmen, sondern zieht es vor, zu „gucken, was noch so kommt“. Dies geschieht vor dem Hintergrund seiner bereits erfolgreich praktizierten Eigenständigkeit, die dazu führt, dass er der Meinung des Vaters wenig Gewicht beimisst. Das Verhältnis zum Vater ist gekennzeichnet von großer Distanz und Angst und wird von İlhan Uysal dahingehend modifiziert, dass er sich von den Erwartungen und dem Druck des Vaters löst und sich als nicht nur ökonomisch eigenständig begreifen will. Er sieht sich keiner realen oder imaginierten Familientradition verpflichtet, die ihn dazu veranlasst, sich in intergenerativen Bezügen als Nachfolger seines Vaters oder als Bewahrer des familiären Migrationsprojekts der Eltern zu verstehen und entsprechend zu verhalten. Mit dem Beginn der Ausbildung als Fernmeldetechniker wird er erneut vor eine Entscheidung gestellt, in die er scheinbar unvorbereitet hineingerät und einen wichtigen Schritt für die weitere berufliche Laufbahn darstellt. İlhan Uysal: Ja, man konnte- man konnte sich das komischerweise aussuchen. Also, das war wirklich ganz drastisch (.) wir waren in der Berufsschule und da kamen Lehrer und haben gesagt, wer möchte noch parallel Fachabitur machen und wer nicht, die nach rechts,

34 Auch hier wird die Relevanz des eigenen Einkommens, wie bereits bei Sinan Koç gezeigt wurde überaus deutlich, allerdings wird sie von außen durch die Lehrerin an ihn herangetragen.

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die nach links. Ja, dachte ich, was machste jetzt? Lockeres Leben oder doch ein bisschen Stress. Ich sag: Komm geh ich rüber. Und da bin ich rüber gegangen. Das war so ganz drastisch. I: Echt, ja? İlhan Uysal: Ja, ja, so war das schon so auf dem Schulhof. (17:10-16)

Dieser spontanen Situation wird er unvorbereitet ausgesetzt, da er davon ausgeht, dass er eine berufliche Ausbildung macht. Dies verdeutlicht einerseits seine Unwissenheit über die vorhandenen Bildungsmöglichkeiten, aber auch seine Spontaneität, so dass er seine Eigenständigkeit in dieser Situation ohne Mitwirkung von weiteren Erwachsenen unter Beweis stellt. Die Mehrarbeit durch die Kombination aus Schule und Ausbildung stellt für ihn entgegen der Darstellung in der Sequenz in der Praxis keine Überforderung dar. Er macht sein Fachabitur und verkürzt die Ausbildung zudem auf drei anstelle von dreieinhalb Jahren. Für die familiären Machtkonstellationen stellt der Ausbildungsbeginn eine wichtige Zäsur dar. İlhan Uysal stellt als der erste der Familie die Autorität des Vaters und seine unangefochtene Stellung als Verwalter der Einkommensquellen in Frage. Während die Mutter und die ältere Schwester ihr Einkommen auf das vom Vater verwaltete Familienkonto einzahlen, setzt sich İlhan Uysal mit dieser Praxis kritisch auseinander und beansprucht ein eigenes Konto für sein Einkommen. Dadurch rebelliert er erfolgreich und stellt die Autorität des Vaters in Frage. Vermittelt über die Mutter bemüht sich der Vater darum, den Sohn zur Ordnung zu rufen, was ihm aber misslingt. Ich habs nicht gemacht, ich hab es drauf anlegen lassen, ich hab dann meine ersten (.) 640 Mark Ausbildungsvergütung bekommen, und der hat dann meiner Mutter gesagt, ob ich ihm das nicht gebe, und ich habe gesagt: Nö, mach ich nicht! Und eh- dann hat der wohl zu meiner Mutter gesagt, eh- ja, man kann doch nicht zwei Konten im Haus haben und so weiter. Und ich war dann auch (Wörter) relativ selbstbewusst und hab mir dann überlegt, wenn er mich rausschmeißt, kein Problem, ich hab meine 600 Mark im Monat, das reicht mir. Und so ist das dann so auch geblieben. Und er hat dann auch nichts gesagt. (13:3238)

Im ersten Machtkampf mit dem Vater erzielt İlhan Uysal einen entscheidenden Erfolg, der die bereits bei der Ausbildungsplatzwahl wahrgenommene Überlegenheit bestätigt. Er ist überaus selbstbewusst und kann sicher sein, dass die Weigerung keinen Bruch mit der Familie hervorrufen wird. Gleichzeitig aber kritisiert er das Verhalten seiner älteren Schwester und seiner Mutter, die sich dem Vater unterordnen und auf einen Großteil ihres Einkommens verzichten. Er

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tritt dadurch in ein Konkurrenzverhältnis zum Vater und ist nicht länger der Sohn, der sich der Autorität des Vaters unterordnet. Die Folge davon ist, dass İlhan Uysal über ein regelmäßiges Einkommen verfügt, zwar bei den Eltern wohnt, aber keinen direkten finanziellen Beitrag zum elterlichen Haushalt leisten muss. Seine Beteiligung erfolgt auf freiwilliger Basis, so dass er von seinem Geld für den Haushalt einkauft und bestimmte Anschaffungen tätigt. Dies jedoch wird nicht direkt eingefordert, so dass er selbst den Umfang seiner Beteiligung festlegen kann. Ein weiterer Faktor für die Entscheidung zur eigenen Geldverwaltung besteht aber auch darin, dass İlhan Uysal nicht damit rechnen kann, dass der Vater ihn auf dem Weg seiner beruflichen Weiterentwicklung unterstützen wird. Dies ändert sich erst bei den jüngeren Geschwistern, die vom Vater ihre „Studentenwohnung“ und den Führerschein finanziert bekommen. Sowohl İlhan Uysal als auch die ältere Schwester erhalten diese Möglichkeiten nicht. Während der Ausbildung entwickelt İlhan Uysal Interesse für die Aufgabengebiete, die er kennenlernt. Wiederum ist er als türkeistämmiger Jugendlicher in der Minderheitenposition, erinnert sich aber nicht an diskriminiere Erfahrungen, sondern fühlt sich als gleichwertig angenommen und akzeptiert. Er findet Freunde, mit denen er bis in die Gegenwart Kontakt hat und lernt in dieser Zeit auch seinen bis heute besten Freund35 kennen, der ihn später zum Studium überredet. Insgesamt ist festzustellen, dass er in jeder Lebensphase zentrale Personen kennenlernt, die ihn im weiteren Verlauf bei Entscheidungen unterstützen und zu denen er überaus engen Kontakt pflegt. Im Anschluss an die Ausbildung arbeitet er drei Jahre in einem Elektronikunternehmen. Er schreibt mehrere Bewerbungen und kann sich erneut zwischen mehreren Stellen entscheiden. Studium und Familiengründung Grundsätzlich ist er mit der Lebens- und Erwerbskonstellation, die er durch die Ausbildung erreicht hat, überaus zufrieden. Er hat ein regelmäßiges Einkommen, eine anspruchsvolle Aufgabe, besitzt ein Auto und hat (wechselnde) Freundinnen. Da er kostengünstig bei den Eltern wohnt, kann er darüber hinaus viel in Konsum investieren und Geld zurücklegen. Die Zufriedenheit in dieser Lebens-

35 Aus dem Material kann nicht rekonstruiert werden, ob dieser langjährige Freund und Berater ebenfalls über Migrationserfahrung verfügt. Möglicherweise ist er ebenfalls türkeistämmig, da İlhan Uysal es nicht besonders hervorhebt, weil ihm die gleiche Herkunft selbstverständlich erscheint und er dies nur dann besonders erwähnt hätte, wenn es eine Unterschiedlichkeit gegeben hätte.

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phase wird in Frage gestellt, als er wahrnimmt, dass jenseits des Erreichten weitere Möglichkeiten bestehen, sich beruflich weiterzuentwickeln. [...] und, einmal bin ich zur Entwicklung hoch, und da saßen halt die ganzen Ingenieure, die hatten jeder einen Tisch, ja- mit Telefon und das war für mich so ach- ja, das was soach- [...] Ja, das war für mich halt so, das Gipfel der Gefühle und da hab ich gesagt, das will ich auch. (20:19-25)

Allein der Wunsch nach einem beruflichen Aufstieg führt allerdings nicht zur Umsetzung, vielmehr benötigt er wiederum einen äußeren Ratgeber, der in Form seines besten Freundes als Entscheider an seiner Stelle auftritt. Aufgrund der immer wieder innerfamiliär vertretenen Auffassung, dass ein Studium unerreichbar sei, so dass die finanzielle Stabilität gegenüber einer beruflichen Weiterentwicklung Priorität hat, wird die selbst initiierte Realisierung des Wunsches verhindert. İlhan Uysal traut sich den Schritt nicht alleine zu und fühlt sich mit einer finanziell abgesicherten Existenz wohler. Das Studium hätte ihn vor neue ökonomische Herausforderungen gestellt, Einschränkungen, die er als Rückschritt hinter das bisher Erreichte wahrgenommen hätte. Angesichts der schwierigen Erfahrungen in Kindheit und Jugend ist dies eine biographisch eingebettete Haltung, die allerdings von seinem besten Freund nicht in gleicher Weise akzeptiert wird. Seiner Darstellung zufolge wird er vom Freund nicht nur zum Studium überredet, sondern regelrecht genötigt, da er ihn an der Universität im Fach Elektrotechnik anmeldet und ihn dadurch dazu bringt, sich mit dem Thema Universität auseinanderzusetzen. Dies hebt er bereits in der Eingangserzählung besonders hervor und benennt den Freund damit als eine weitere zentrale Person, die ihm Entscheidungen abnimmt. Dabei ist das Vorgehen des Freundes durchaus radikal, da er ihn vor vollendete Tatsachen stellt, bzw. alle Schritte bis auf die Unterschrift ohne İlhan Uysal vorbereitet. Und eh- der hat mich dann angemeldet, dann bin eh- ich vom Urlaub gekommen. Also, damals mit 21 halt relativ viel Geld, ich hab ja gearbeitet, halt Auto, also mitten im Leben. Und ehm- er hat gesagt, ich soll unbedingt dahin. bin dann dahin, hab dann gesehen, relativ gute Atmosphäre, hab gesagt, ok, ich versuchs mal, oder ich machs mal einfach. Ehund ja, so bin ich dann zum Studium gekommen, hab dann Elektrotechnik studiert. (3:1519)

So bereitet wiederum eine andere Person den Weg für den nächsten Karriereschritt vor und İlhan Uysal geht darauf ein, auch wenn er ohne die Initiative des Freundes länger für die Umsetzung gebraucht hätte, oder aber diesen Schritt nie

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in die Wege geleitet hätte. Der Übergang ins Studium bringt finanzielle Veränderungen und den Auszug von zu Hause mit sich. Aufgrund des geringen Einkommens der Eltern bekommt İlhan Uysal Bafög und kann auch von den seinen Ersparnissen profitieren. Erstmals erhält er eine staatliche Förderung für eine Ausbildung und ist überaus dankbar für die Möglichkeit zu studieren, ohne von den Eltern abhängig zu sein. Die wichtigste Begleiterscheinung des Studiums ist aus seiner Sicht jedoch der Auszug von zu Hause. İlhan Uysal: Ja, und irgendwann hab ich dann mal gesagt, jetzt mach ich das. Und ich bin ja gar nicht so weit weg, war ja auch nicht, waren drei Straßen. I: Ok, drei Straßen weiter. İlhan Uysal: Ja, aber trotzdem komplett eigenes Leben. Das war für mich so, (.) die endgültige Befreiung. (21:23-26)

Ein Auszug aus der elterlichen Wohnung vor einer offiziellen Eheschließung erfordert in der Familie von İlhan Uysal eine für die Eltern nachvollziehbare Begründung. So stellt İlhan Uysal frustriert fest, „einfach Ausziehen, das gabs nicht“ und sieht darin einen erheblichen Nachteil, mit dem er sich als Kind in einer türkeistämmigen Familie grundsätzlich auseinanderzusetzen muss. Im Gegensatz zum Thema Geldverwaltung „diskutiert“ er darüber nicht. Er ist bereit, sich unterzuordnen, auch wenn er eine finanzielle Basis für eine eigene Wohnung bereits hat und zeigt somit seine Nähe und den Respekt gegenüber den für die Eltern und ihre türkeistämmige Umgebung geltenden Normen. Gerade vor dem Hintergrund seines erfolgreichen Selbstmanagements und der Einbindung in interethnische Netzwerke, wirkt dieses Zugeständnis an die von den Eltern aufgestellten Regeln als persönliche Einschränkung. Er hat ein eigenes Einkommen, ein Auto und Beziehungen zu Frauen, aber keinen privaten, von den Eltern nicht kontrollierten Raum. Gerade deshalb erlebt er seinen eigenen, schwer mit Argumenten erkämpften Auszug als die „endgültige Befreiung“ von Werten und Normen, deren Sinn er in seiner Lebensphase als junger Mann mit großen Plänen nicht nachvollziehen kann. Zu Beginn des Studiums, das er am Wohnort der Familie beginnt, argumentiert er, dass er sich in der Wohnung der Eltern, mit nur drei Zimmern, in der zudem die drei jüngeren Geschwister leben, nicht auf das Lernen für das Studium konzentrieren kann. Dieses Argument ist für die Eltern schließlich akzeptabel, auch wenn İlhan Uysal feststellt, dass die Mutter besondere Schwierigkeiten hat, den Sohn in eine nicht weit entfernte Wohnung umziehen zu lassen. Das Studium erlebt er als aufregende Zeit, in der er eine Vielzahl dauerhafter Freundschaften schließt und überaus viele Anregungen für die Lebensgestaltung

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erhält. Der Auszug von zu Hause leitet eine wesentliche freiere Tagesgestaltung ein. Er kann Freunde mit zu sich bringen, ist viel unterwegs und muss sich nicht für längere Abwesenheiten rechtfertigen. Darüber hinaus sind die Jobangebote für Studenten vielseitig und die Aussicht, während des Studiums „Brutto wie Netto“ zu verdienen, hat einen besonderen Reiz. So ist er als Kellner in einer Kneipe tätig und dabei der „Hahn im Korb“ zwischen den Frauen, die dort arbeiten. Er geht zusammen mit Freunden auf Reisen, lernt andere Städte kennen und geht auf Partys. Die Umstellung vom Berufsalltag auf eine neue Lernphase fällt ihm nicht schwer, im Gegenteil, er verfügt über einen durchstrukturierten Lernalltag, an den sich abends gemeinsame Freizeit mit Freunden anschließt. Dabei ist der Lernstoff durchaus anspruchsvoll, so dass nicht alle Kommilitonen die Prüfungen bestehen. İlhan Uysal schafft alle Prüfungen sogar vor der Regelstudienzeit und kann damit sein Studium vor dem vorgesehenen Semester abschließen. Damit wird eine gewisse Hast deutlich, die vielleicht auch daraus resultiert, dass er während des Studiums seine heutige Ehefrau kennenlernt. Er ist 23 Jahre alt und damit durchaus in einem Alter, in dem seine Eltern und die türkeistämmige Umgebung eine Eheschließung erwarten, zumal er bereits über einen qualifizierenden Berufsabschluss verfügt. So entscheidet er sich für ein zügiges Durchziehen des Studiums, um vor der Heirat seine berufliche Existenz abzusichern. Die Eltern halten sich bei der Forderung nach einer Eheschließung eher zurück, so dass er gemeinsam mit seiner Partnerin dementsprechende Pläne machen kann. Nach Studienabschluss arbeitet er deshalb zunächst für einige Monate in dem Unternehmen, in dem er die Diplomarbeit angefertigt hat. Anschließend wechselt er in das Telekommunikationsunternehmen, in dem er heute tätig ist, da er feststellt, dass die bisherige Arbeit „zu langweilig“ ist. In diesem Übergang vom Studium in die nächste berufliche Phase zeigen sich seine hohe Motivation und sein individuelles Interesse an einer inhaltlich interessanten Tätigkeit zum ersten Mal deutlich. Während es in der Zeit davor um die Existenzsicherung unter einigermaßen akzeptablen Bedingungen geht, wird nun klar, dass er es zu schätzen weiß, was der Abschluss des Studiums für eine berufliche Karriere bedeuten kann. Als erster der Familie erreicht er einen als unerreichbar deklarierten Bildungsabschluss und erkennt seine Möglichkeiten. An dieser nächsten Passage in den Beruf mit Hochschulabschluss erklärt er selbstbewusst sein neues Ziel, nämlich, dass er in ein „großes Unternehmen“ möchte.

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Karriere im internationalen Unternehmen İlhan Uysal bewirbt sich in den „großen Unternehmen“ der Telekommunikationsbranche und erhält zwei Zusagen, allerdings mit einem Gehaltsunterschied von 500 Euro. Als er dem Unternehmen, das ihm weniger bietet, absagen will, überredet ihn der Projektverantwortliche, das Angebot dennoch anzunehmen. [...] und mein damaliger Chef, das war der A. der hat- ich hab halt gesagt, ja M., das ist halt ein großes Unternehmen- aber ich bin aber erst seit vier Monaten- und so weiter und so fort. Und der hat dann einfach mich irgendwie am Telefon überredet, hat gesagt, hier unterschreiben Sie das, haben Sie ein Fax in der Nähe, hab ich gesagt, ja, meint er, faxen Sie zu, brauchen Sie keine Angst zu haben, und so weiter und so fort und so bin ich dann hier gelandet. (3:37-41)

Er selbst hat zwar die Absicht, einen Platz in einem großen Unternehmen zu erlangen, zögert aber aufgrund seiner geringen Erfahrung bei der Aushandlung von vertraglichen Konditionen. An diesem Punkt seiner Berufslaufbahn trifft er erneut auf Vorbehalte, die mit seiner ethnischen Herkunft in Zusammenhang stehen. Der für die Einstellung zuständige Abteilungsleiter hat Zweifel an seiner Eignung und äußert: „ich wär ja Türke“, bevor er ihn in die zuständige Abteilung weitervermittelt. Allerdings muss er sich im Nachhinein dafür offiziell entschuldigen. Aufgrund der schnellen Einarbeitung wird die Probezeit nach drei Monaten aufgehoben und auch die Gehaltsdifferenz wird ausgeglichen. İlhan Uysal erklärt sich die Vorbehalte gegenüber seiner ethno-nationalen Zugehörigkeit mit der „konservativen“ Unternehmenskultur und nimmt die Anfangsschwierigkeiten gelassen hin. Da er im weiteren Verlauf erneut gefördert und befördert wird, erhält er Anerkennung und eine Würdigung seiner Leistungen. Sein erster Abteilungsleiter wird zu seinem besonderen Mentor, mit dem er gemeinsam die Abteilungen und Aufgabenbereiche wechselt. Mit den Wechseln sind jeweils bessere Positionen verbunden und der Einstieg in den internationalen Geschäftsbereich. Für İlhan Uysal geht es in dieser Phase „eigentlich immer nur aufwärts“. Er hat gute Beziehungen zu seinen Vorgesetzten und den zentralen Entscheidungsträgern der Abteilungen. So wird er in Aktivitäten einbezogen, die im Rahmen informeller Netzwerke veranstaltet werden und bekommt Zugang zu einem „inneren Kreis“, in dem Privilegien wie das „Duzen“ angeboten werden. Der berufliche Aufstieg ist jedoch mit Reisetätigkeiten verbunden, so dass er gerade in der Zeit nach der Heirat häufig beruflich unterwegs ist. Die erste inhaltliche Herausforderung besteht darin, seine Englischkenntnisse zu verbessern, die er für Vorträge und Gespräche in englischer Sprache braucht. Dies erreicht er

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durch eine Fortbildung, die ihm das Unternehmen anbietet und durch ergänzende Kurse an der Volkshochschule, so dass er schnell ein ausreichend hohes sprachliches Niveau erreicht und dies beruflich anwenden kann. Zunächst sind die Reisen interessant und er kann häufig gemeinsam mit seiner Ehefrau fahren, allerdings werden die beruflich bedingten Abwesenheiten nach der Geburt des ersten Kindes zur Belastung. Und ich mein, einmal China, zweimal China, aber das dritte Mal, eh- (..) [...] Nee- zweimal Korea, aber was will man da machen, ich mein, das ist so langweilig. Und der Ausschlag gebende Faktor war halt, dass wir eine Tochter bekommen haben und da wollt ich nicht mehr. Ich mein, die beiden Wochenenden waren tot. Also, Anreisewochenende und Ankunftswochenende waren tot, je nachdem- (26:25-31)

Er selbst interpretiert seine veränderte Haltung gegenüber dem Ausbau der Karriere als die Verschiebung von Prioritäten, die durch die Geburt der Kinder eingeleitet werden und von ihm als Beginn der „Sesshaftigkeit“ bezeichnet wird. Es dauert jedoch mehrere Jahre bis es ihm gelingt, innerhalb des Unternehmens die Position zu wechseln, um ausschließlich am Wohnort der Familie zu arbeiten. Dabei hält er sich beim Ausbau seiner beruflichen Position stärker zurück und ist zum Interviewzeitpunkt als Projektleiter mit überschaubarer Mittel- und Personalverantwortung tätig. Durch seinen teilweisen Rückzug aus der Aufwärtsspirale der Karriereleiter signalisiert er Verantwortungsgefühl für seine Familie. Gleichzeitig aber sorgt er mit seinem Einkommen gemeinsam mit seiner Partnerin für Wohneigentum und sieht sich in der Verantwortung, der Familie seine freie Zeit zur Verfügung zu stellen. So scheitert unser erster Gesprächstermin, da er mit seiner Partnerin vereinbart hat, dass er am Wochenende keine beruflichen Termine wahrnimmt. Er praktiziert somit eine klare Trennung zwischen der Arbeitszeit und der Familien- und Freizeit. Angesichts der mittlerweile unter Beweis gestellten beruflichen Erfahrungen modifiziert er seine Karriereinteressen und zeigt eine ambivalente Haltung. Auch wenn grundsätzlich die Möglichkeit besteht, in der Unternehmenshierarchie weiter aufzusteigen, ohne Reisetätigkeiten in Kauf zu nehmen, ist vor allem die Personalverantwortung eine komplexe Angelegenheit, die er durchaus selbstkritisch analysiert. Wo ich dann weg wollte, haben die mir eine Superposition angeboten, und ich habs halt nicht gemacht, weil, ich hätte mich dann komplett verkauft. [...] Ja, das war mit 80 Leuten, und mit Leuten, eh- ich mein, ich komm jetzt mit zwölf nicht klar, das ist- [...] Ja, das ist einfach schwierig, ja, man hat 80 Individuen, man muss sich jedes von denen anhören, man muss sich das Schleimen gefallen lassen, man muss- das ist echt schwierig, das ist

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überhaupt nicht einfach, also ich beneide die Leute nicht, die da oben sind. Nee, überhaupt nicht, man wird oberflächlicher, und ich mein, die geben mit- die fahren (Wörter) die haben viel mehr Verantwortung, aber auch nicht viel mehr, also die ganz oben, klar, aber so das mittlere- und so weiter, also, muss nicht sein. (30:12-23)

Er realisiert seine individuellen Grenzen und die Schwierigkeiten, die mit mehr Macht und Verantwortung einhergehen können. An dieser Stelle entscheidet er sich für eine angesehene Stellung mit überschaubarer Verantwortung für Mittel und Personal, die ihn nicht zu überfordern droht. Seine Haltung gegenüber dem weiteren Karriereausbau bezeichnet er als „nicht mehr so zielstrebig“. Aufgrund des hohen Erwartungsdrucks im Berufsalltag ist ohnehin ausreichend „Stress“ vorhanden, auch wenn er die Aufgaben als inhaltlich anspruchsvoll und interessant wahrnimmt. Sein Ausgabeverhalten präsentiert er in scharfer Abgrenzung zum Vater und bemüht sich um eine solide Absicherung seiner Existenz. Dabei geht es nicht nur darum, seinen Arbeitsplatz zu erhalten und seine Position im Unternehmen auszubauen. Vielmehr erweitert er seine ökonomischen Aktivitäten dahingehend, dass sie als „zweites Standbein“ langfristige Stabilität und ökonomische Perspektiven jenseits des Angestelltenstatus eröffnen. Der Vater sorgt in dieser Hinsicht für die negative „Prägung“. Ich mein, durch meinen Vater bin ich da ja ein bisschen geprägt, bei mir ist das nicht so, ich verdiene zehn und gebe zehn aus, sondern, wenn ich zehn verdiene, versuch ich fünf auszugeben und die fünf, natürlich ohne Verlust von Lebensqualität und versuch andere Sachen zu machen. Ich mein, ich denke, es ist- die Türkei hat sehr viel Potenzial, da kann man noch sehr, sehr viel machen, da sollte man investieren, die sind extrem im Kommen. (31:10-15)

Während er in der Kindheit unter dem rigiden Sparverhalten des Vaters gelitten hat, das vor allem der Finanzierung von Investitionen in der Türkei diente, bemüht er sich um vorausschauende Planung. Er investiert in Wohneigentum und Wohnungen, die an Geschäftsreisende vermietet werden. Diese verwaltet seine Ehefrau. Darüber hinaus ist er im „internationalen Investment“ aktiv, das er gemeinsam mit seinem besten Freund betreibt. Hier hat er in der Vergangenheit Verluste hinnehmen müssen, konnte aber durch alternative Investitionen, wie beispielsweise in der Türkei, neue Anlageformen nutzen. Dies ist ein für ihn ausbaufähiges aber auch riskantes Aktionsfeld, zumal er im Hinblick auf die Türkei über Vorerfahrungen verfügt und damit Investitionen auf hohem Niveau tätigen kann, die auch auf die Altersvorsorge gerichtet sind.

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İlhan Uysals Ehefrau ist gelernte Grafikerin, die seit der Geburt der Kinder freiberuflich tätig ist und versorgt ansonsten den Haushalt, die Mietwohnungen und die Kinder.36 Die gemeinsamen Investitionen wie auch die Freizeitplanung werden partnerschaftlich und arbeitsteilig organisiert. Trotz der steigenden Nebeneinkünfte ist die Familie überwiegend auf İlhan Uysals Erwerbseinkommen angewiesen. Innerhalb seiner Herkunftsfamilie setzt er sich für einen gleichberechtigten Zugang zum Studium für alle Geschwister unabhängig vom Geschlecht ein und setzt sich damit gegen die Meinung des Vaters durch, der die Eignung seiner Töchter für anspruchsvollere Bildungslaufbahnen in Frage stellt. Er ist damit der erste, der selbst die Machtposition des Vaters angreift und Kritik an der Unterordnung der Frauen seiner Familie übt. Die älteste Schwester ist die einzige, die keinen höheren Schulabschluss. In seiner Freizeit fährt İlhan Uysal Motorrad und angelt mit eigenem Boot. Er ist immer noch aktiver Fußballer. Seine Eltern sind im Ruhestand und leben neun Monate in der Türkei und drei Monate in Deutschland. Die Eltern besitzen eine Wohnung in Istanbul und ein Haus im Heimatdorf des Vaters. 4.2.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder İlhan Uysal präsentiert seine Lebensgeschichte als Erfolgsgeschichte, die sich dadurch auszeichnet, dass der soziale Aufstieg ohne Probleme realisierbar war und es keine Rückschläge gegeben hat, sondern vielmehr eine kontinuierliche Verbesserung der persönlichen und beruflichen Situation. Die Erzählungen von der gelungenen Überwindung von Armut und Fremdheit bilden dabei ein zentrales Feld der biographischen Selbstpräsentation. Dies geschieht vor dem Hintergrund, die eigene Laufbahn in den Kontext des Aufstiegs aus schwierigen Verhältnissen zu verorten. So wird durch die überaus detaillierte Veranschaulichung von Armut und Fremdheit in der Kindheit erreicht, dass die beruflichen und ökonomischen Erfolge als Senior-Manager in einem internationalen Unternehmen beeindruckend erscheinen. Dabei ist die Kindheit gekennzeichnet von elementaren Verunsicherungen durch die Trennung von den Eltern und die daraus resultierende emotionale Distanz, nachdem die Familie gemeinsam in Deutschland lebt. Die Einschulung in eine türkischsprachige Klasse führt zu einer Verzögerung des Zweitspracherwerbs. Die ökonomisch schwierige Situation und die

36 Er thematisiert die ethnische Herkunft seiner Partnerin nicht. Dies kann zu der Annahme führen, dass sie ebenfalls türkeistämmig ist und die ethnische Gleichheit deshalb eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellt, die nicht besonders thematisiert wird. Vgl. dazu auch Kapitel 3.3, Seite 96.

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Berufstätigkeit der Eltern bedeuten soziale Ausgrenzung und die Erfordernis von Selbstmanagement zu einem frühen Zeitpunkt. Diese Marginalisierungserfahrungen der Kindheit werden jedoch in der Präsentation dahingehend umgedeutet, dass sie den rasanten Aufstieg als wirkungsmächtiger erscheinen lassen. Die offensive Thematisierung dient dabei auch dazu, die Geschichte vom sozialen Aufstieg als einen narrativen Spannungsbogen zu gestalten, der durch den Gesprächsort, die moderne Cafeteria des Telekommunikationsunternehmens, noch verstärkt wird. Die Präsentation der Lebensgeschichte erfüllt damit auch die Funktion, beispielhaft für andere erfolgreiche Türkeistämmige die Geschichte vom sozialen Aufstieg für machbar zu erklären. Parallel dazu erfüllt die Präsentation der scheinbar einfach zu erreichenden Karriere, dass die emotionale Not des Kindes, das von den Eltern verlassen und auch während der gemeinsamen Zeit nur mit dem Nötigsten ausgestattet wird, verdrängt werden kann. Eine Bearbeitung der Trennungserfahrungen und der Erkenntnis, als Kind emotional und sozial von den Eltern vernachlässigt worden zu sein, erfolgt nicht. Allerdings führt die argumentative Reflexion der „Nichtbehütung“ dazu, dass İlhan Uysal in seiner Position als Vater vergleichbares Verhalten in der Gegenwart als unentschuldbar kritisiert. Eine ausführlich dargestellte Strategie im Umgang mit Armut und Fremdheit besteht im erfolgreichen Selbstmanagement, das İlhan Uysal gemeinsam mit seiner Peergroup praktiziert. Durch „Cleverness“ und „Intelligenz“ versorgt er sich mit den nötigen ökonomischen und sozialen Ressourcen, um die Nachteile der Marginalisierung zumindest teilweise auszugleichen. Dies führt auch dazu, dass über die Binnenintegration in die Peergroup Stabilität und Selbstwertgefühl aufgebaut werden, um sich positiv in der Sozialwelt zu verorten. In der Präsentation wird die Wirkungsmacht dieses Selbstmanagements stark hervorgehoben, so dass dadurch die erfahrene Vernachlässigung und Zurückweisung in den Hintergrund treten. İlhan Uysal vermittelt den Eindruck, als ob die Peergroup als Familienersatz umfassend zur Verfügung steht und verkennt dabei die Bedeutung der strukturellen und sozialen Barrieren, die vor allem im Hinblick auf die Bildungsinstitutionen wirksam sind. Allerdings führt das erfolgreiche Selbstmanagement dazu, dass er sich selbstbewusst mit seiner Rolle als Sohn in seiner Familie auseinandersetzt und mit dem Beginn der Ausbildung erfolgreich gegen den Vater rebelliert. Dieser Schritt leitet eine emotionale und soziale Ablösung von der Familie ein, ohne dass sich die Konflikte zu einem Bruch mit den Eltern zuspitzen. İlhan Uysals Präsentation zu den zentralen Bildungsentscheidungen erfolgt mittels einer Überbetonung der Fremdbestimmtheit durch informierte Dritte. In jeder Statuspassage, Wechsel der Schulform, Einstieg in die Ausbildung, Studi-

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enaufnahme und sogar bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz, benennt er dritte Personen als diejenigen, die an seiner Stelle entschieden haben, bzw. ihn maßgeblich beeinflussen. Während in der Grundschulzeit aufgrund des Alters seine Möglichkeiten mitzuwirken begrenzt sind, vermittelt er bei den Entscheidungen als Erwachsener zunächst nicht den Eindruck, aufgrund einer Position der Machtlosigkeit die Entscheidung abgeben zu müssen. Vielmehr entsteht das Bild, dass alle Entscheidungen, die sich im Rückblick als Erwachsener erfolgreich und richtig erwiesen haben, scheinbar logisch und sinnvoll aufeinander aufbauen. Sein Eingreifen ist somit gar nicht erforderlich, da er sich auf die anderen verlassen kann und ihrem Rat von einer Station zur nächsten blind folgen kann. Als Gegenleistung bietet er an, die an ihn gestellten Aufgaben zu erfüllen. Er macht einen guten Schulabschluss, hat Freude an der Ausbildung und schließt das Studium im Schnelldurchlauf ab. In der biographischen Gesamtsicht jedoch zeigt sich, dass das Entscheidungsvakuum überhaupt erst durch die Abwesenheit der Eltern bei zentralen Entscheidungen entsteht. Sie stehen nicht zur Verfügung, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, oder aber sind aufgrund der Komplexität keine kompetenten Ansprechpartner. Dies führt dazu, dass auch İlhan Uysal keine Vorstellungen und Meinungen entwickelt, was er wann, wie und wo machen möchte, sondern es Lehrern, Freunden und Vorgesetzten überlässt, in seinem Sinn zu entscheiden. Die Tragweite dieser Strategie wird ihm jedoch erst im Rückblick als Erwachsener deutlich, als er die Empfehlung der Lehrerin, eine Ausbildung zu machen, kritisch hinterfragt. Zu keinem Zeitpunkt im Interview stellt er sich der Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn diese Personen nicht aktiv geworden wären oder aber ihn auf andere Wege geführt hätten. Angesichts des erreichten sozialen Status vermittelt die Ausgestaltung des thematischen Feldes der Fremdbestimmtheit den Eindruck, dass der gegangene Weg leicht zu gehen war und sich die Übergänge unproblematisch und scheinbar beiläufig aneinandergereiht haben. Dabei vollzieht er jedoch im Berufsleben eine entscheidende Veränderung, die als Schnittstelle zwischen dem Selbstmanagement in der Not und der Fremdbestimmtheit von Entscheidungen einzuordnen ist. Sein beruflicher Erfolg und sein Aufstieg zum Manager versetzen ihn erstmals in die Lage versetzt, sein berufliches und privates Leben in eigener Regie auszugestalten. Durch das Erreichen des Hochschulabschlusses überwindet er die letzte Barriere, die in der familiär tradierten Auffassung besteht, dass ein Studium nicht realisierbar ist. Dies bedeutet die endgültige emotionale Ablösung aus dem familiären Netzwerk. Parallel dazu vollzieht er den Übergang aus der Position des marginalisierten und verunsicherten Einwandererkindes zum selbstbestimmt seine beruflichen und persönlichen Angelegenheiten regelnden erwachsenen Mann und Vater.

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Eine ganz normale Biographie zu präsentieren, in der sich alle Stationen, berufliche und persönliche, aneinanderreihen, ist ein weiteres thematisches Feld der Lebensgeschichte von İlhan Uysal. Dabei sieht er sich als erfolgreicher Manager, der in einem angesehenen Unternehmen in einer interessanten Position arbeitet, sich wie alle anderen auch qualifiziert hat und sich von den deutschstämmigen Kollegen und Freunden nicht unterscheiden möchte. Die mustergültige Berufslaufbahn, die Ehe mit einer gut ausgebildeten Partnerin und die beiden Kinder passen damit in ein bildungsbürgerliches Ideal, dass von Freizeitaktivitäten wie Motorradfahren und Angeln, sozialen Kontakten und Fernreisen eingerahmt wird. Dabei steht hinter dieser Präsentation der Wunsch, sich dem idealtypischen Bild des erfolgreichen berufstätigen Mannes in angesehener Position anzunähern. Die Kontextualisierung der sozialen Positionierung erfolgt in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, durch die sich İlhan Uysal von der Selbstverpflichtung, den tradierten Migrationserfahrungen der Elterngeneration Anerkennung entgegenzubringen, loslöst und eine individuelle Perspektive auf sein Leben einzunehmen beansprucht. Es erfolgt eine Abkopplung aus intergenerativen Bezügen, innerhalb derer die Orientierung auf die Türkei und türkische Wert- und Normensysteme den dominanten sozialen Bezugsrahmen gebildet haben. In Abgrenzung zur Generation der Eltern setzt ein Prozess ein, der darin besteht, sich selbst als Individuum innerhalb neu verhandelter sozialer Bezugsrahmen zu verorten. İlhan Uysal setzt sich in diesem Prozess mit den an Defiziten orientierten Stereotypen über türkeistämmige Migranten und dem Stigma als Angehöriger der Unterschicht betrachtet zu werden, auseinander. Dazu entwertet er die Arbeit und die Leistung der Eltern und deklariert sie als „nichts“ im Vergleich zu dem, was er selbst erreicht hat. I: Ach so, ich hab noch nicht gefragt, was Ihre Eltern beruflich gemacht haben. İlhan Uysal: Nichts, Arbeiter. I: Beide haben immer gearbeitet. İlhan Uysal: Ja, ja. Arbeiter. I: Und was haben die gearbeitet? İlhan Uysal: Mein Vater hat beim Bau gearbeitet, teilweise, der war auch lange Zeit arbeitslos und meine Mutter hat in der Fabrik, eh- am Fließband [...] (34:9/15)

Sein sozialer Bezugsrahmen ist die Arbeitsgesellschaft Deutschland mit ihren spezifischen Anforderungen und Anerkennungsmustern. Innerhalb dieses von ihm verinnerlichten Wertesystems siedelt er die Erwerbstätigkeit der Eltern im Vergleich zu seiner hoch qualifizierten, angesehenen Position auf den unteren Stufen der Hierarchie an. Die Arbeit der Eltern spielt für die eigene berufliche

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Laufbahn in der Hinsicht eine Rolle, als dass sie durch ihn entwertet wird, so dass der Eindruck entsteht, als ob die Eltern nichts geleistet haben. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in einer Dethematisierung der Erwerbstätigkeiten der Eltern, die İlhan Uysal im gesamten Interview aufrechterhält.37 Die Entwertung der Lebensleistung der Eltern erfolgt im Kontext einer Verbitterung und Traurigkeit, die er sich in seiner gegenwärtigen Position aber nicht zugesteht und die damit zusammenhängenden Gefühle nicht zulässt. Die überaus starke Selbstkontrolle, die er sich im Laufe seiner Erfahrungen im Zusammenleben mit den Eltern angeeignet hat, schützt ihn aber auch vor dem Erleben weiterer Enttäuschungen. Gerade der Aufbau langfristiger sozialer Beziehungen zu Männern, die ihm als seine Freunde, Unterstützer und Ratgeber nahestehen, stellt einen Ausgleich zur gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung dar. Der Konkurrenzkampf um den Nachweis der Fähigkeit, in angemessener Weise für eine Familie zu sorgen, wird von İlhan Uysal eindeutig gewonnen. Der Vater ist entmachtet und kann nicht einmal mehr mit einer Würdigung seiner Lebensleistungen als türkeistämmiger Migrant rechnen. Dass İlhan Uysal ihm diese Anerkennung verweigert und sich damit aus dem tradierten Normensystem und der Erwartung herauszieht, dass die Jüngeren die Älteren unhinterfragt zu respektieren haben, zeigt das Ausmaß der zerrütteten Beziehung. Eine weitere Dimension der Selbstpositionierung erfolgt in der Auseinandersetzung mit stereotypen Zuschreibungen, gerade wenn er gute Leistungen zeigt und erfolgreich ist. Die Diskriminierungserfahrungen sind in der Schule und im Berufsleben biographisch relevant. Sein Umfeld signalisiert ihm durch diese Haltung, dass er für seine Leistungen nur dann Anerkennung erhalten kann, wenn die ethnische Einordnung außer Kraft gesetzt wird. In seiner Jugend besteht die Strategie, der Diskriminierung zu begegnen darin, durch Aufsässigkeit in Schule und Freizeit, seine ethnische Identität nach außen zu demonstrieren und sich selbst und dem Umfeld seine Zugehörigkeit zur ethno-nationalen Peergroup zu beweisen. In seiner gegenwärtigen beruflichen Situation sieht er den entscheidenden Vorteil, dass er in einem internationalen Unternehmen mit Kollegen und Vorgesetzten arbeitet, die ebenfalls einen Migrationshintergrund haben. Lediglich zu Beginn seiner Laufbahn wurde das Stigma seiner ethnischen Identität von einem Personalverantwortlichen eingebracht. Allerdings sieht er sich aufgrund seiner gut gelaufenen Karriere immer wieder damit konfrontiert,

37 Erst im Anschluss an den Nachfrageteil frage ich nach der Erwerbstätigkeit der Eltern, um die biographischen Informationen zu den Familienangehörigen zu ergänzen. In allen anderen Gesprächen, die ich geführt habe, wurden Tätigkeiten der Eltern zumindest kurz angesprochen.

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dass sein Erfolg aufgrund rassistischer Stereotypen bezogen auf seine Herkunft aus der Türkei für Irritationen sorgt. Sein Lebenslauf läuft dem im Diskurs konstruierten Prototypus des männlich-muslimischen Türkeistämmigen, der sozial und ökonomisch marginalisiert ist, zuwider. Die biographisch relevanten Auseinandersetzungen mit den daraus abgeleiteten Zuschreibungen und dem damit einhergehenden stereotypen Türkenbild bringen im Prozess seiner Sozialisation mehrdimensionale Ablösungsprozesse in Gang. Die Herauslösung aus der Herkunftsfamilie und dem starren Wertsystem des Vaters bedeutet nicht, dass er sich für seine Herkunft aus der Türkei schämt und sie deshalb ablehnt und negiert. Vielmehr konstruiert er seine Identität als anders türkisch, da er sich eben nicht auf die Vorgenerationen stützt und deren Traditionen unhinterfragt verteidigt und weitervermittelt. Stattdessen überprüft er die Traditionen auf ihre Tauglichkeit im Alltag und bei der Organisation der sozialen Beziehungen. Die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wird ihm bereits früh bewusst und er erkennt die geringen Teilhabechancen, die seine Kindheit maßgeblich beeinflussen. Durch seine Haltung „Ich bin mehr integriert als viele Deutsche“ nimmt er einen Vergleich mit denjenigen vor, denen er sich sozial annähert, in dem er an der Stabilisierung seines sozialen Aufstiegs im Sinne einer ganz normalen Biographie arbeitet. Die Integration als Einwandererkind in eine mehrheitsdeutsche Gesellschaft wird abgelöst von einer sozialen Integration in ein ausdifferenziertes Gemeinwesen, indem vor allem die sozialen Positionen über Zugangschancen bestimmen. Damit manifestiert sich in seiner Biographie die Überwindung von sozialen, strukturellen und ethnischen Barrieren in einem System sozialer Ungleichheit. Die Arbeit an der Überwindung von Armut und Fremdheit führt im Fall von İlhan Uysal dazu, dass er keine strategische Karriereplanung verfolgt, aber doch einem scheinbar implizit vorhandenen Plan folgt, der in einer mustergültigen Karriere bis zum Senior-Manager führt. Auch wenn er überaus stolz auf den erreichen Status und die damit einhergehenden Möglichkeiten ist, so zielt sein Handeln vor allem darauf ab, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Beruf, Freizeit und Familie zu erreichen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der zeitlichen Einspannung in eine inhaltlich anspruchsvolle aber auch anstrengende Erwerbstätigkeit mit einem hohen Grad an Eigenverantwortung und zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Gerade deshalb erscheint die klare Trennung zwischen dem, was Arbeit ist und der Freizeit, in der die Arbeit abwesend ist, sinnvoll zu sein. Die Balance zwischen beiden Bereichen unterzieht er immer wieder einer selbstkritischen Prüfung. Dabei stellt er sich durchaus der Frage, ob er in Zukunft die Stabilität des Erreichten anstrebt oder aber noch andere Wünsche und Ziele hat. Der weitere Ausbau der Karriere stößt jedoch an Grenzen. Ein

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weiterer Aufstieg bedeutet, dass die Verantwortung für Mitarbeiter und Budget wächst und auch Dienstreisen wieder erforderlich sein können. Dem steht der Anspruch entgegen, Lebenszeit zur Verfügung zu haben, die gemeinsam mit Ehefrau, Kindern und Freunden verbracht werden kann. Seine Entscheidung geht in die Richtung, die derzeitige berufliche Position zu stabilisieren, ohne weiter aufzusteigen. Als Ergänzung widmet er sich dem Aufbau eines „zweiten Standbeins“, durch das er eine langfristige ökonomische Absicherung seiner Familie erreichen möchte. Dies geschieht einerseits in Abgrenzung zur ökonomischen Misere seiner Kindheit, ist aber auch auf potenzielle Gefährdungen seiner beruflichen Basis gerichtet.

4.3 C EMAL AKKAYA – „D IESES N ETZWERK [...] ALSO FÜR UNS FUNKTIONIERT DAS NICHT “ 4.3.1 Interviewkontext Ich treffe Cemal Akkaya zum telefonisch vereinbarten Termin in einer belebten Einkaufsstraße in Hamburg. Wir wählen ein Café aus, in dem es ziemlich laut ist, allerdings sind die anderen ebenfalls gut besucht. Nach erfolgreichem Aufnahmetest bestellen wir einen Kaffee und beginnen unser Gespräch. Trotz des hohen Geräuschpegels ist Cemal Akkaya aufmerksam und konzentriert. Wir müssen laut sprechen und die Sitzgelegenheiten sind nicht sonderlich bequem. Dadurch erhält das Gespräch den Charakter eines offiziellen Arbeitstreffens in anonymer Umgebung, bei dem sich zwei Fremde begegnen. Zudem sieht sich Cemal Akkaya nicht als ortskundiger Gastgeber in der Verantwortung, mich in den Stadtteil, in dem er die längste Zeit seines Lebens verbracht hat, einzuführen. Ein Bezug zur migrantischen Stadtteilkultur, mit zahlreichen Lokalen und Geschäften in den Seitenstraßen bietet er nicht an, und vermeidet dadurch eine Verknüpfung seiner Lebensgeschichte mit dem Sozialraum, in dem sich auch seine Kindheit abgespielt hat. Diese Rahmenbedingungen unterstreichen, dass es sich um eine Begegnung in der Öffentlichkeit handelt, die er in einem quasi „ethnizitätsfreien“ Raum als formloses und zwangloses Treffen verortet, aus der keine weiteren Verbindlichkeiten und Verpflichtungen abzuleiten sind. Cemal Akkaya spricht deutlichen hamburgischen Dialekt und dehnt die Vokale, so dass die Wörter lang gezogen klingen. Er verwendet häufig umgangssprachliche Floskeln und Redewendungen, die einerseits Nähe zum Gegenstand

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herstellen, aber auch starke Verallgemeinerungen darstellen.38 Seine Satzanfänge akzentuiert er durch die Voranstellung von Substantiven, die dann das Stichwort für die sich anschließende Sequenz geben und als Überleitung zu neuen Themen fungieren. So leitet er durch die Formulierung „zu unseren Kindern“ in einen neuen Abschnitt über, in dem es um die Bildungslaufbahnen seiner Kinder geht. Dadurch wirkt seine Sprechweise funktional und fokussiert auf die wesentlichen Informationen, durch die eine emotionale Nähe zum Thema vermieden wird. Er verfügt über einen umfangreichen Wortschatz, durch den er seine gute Allgemeinbildung zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus verwendet er einen fachspezifischen Wortschatz, den er gern auch außerhalb des Wirtschaftsthemas verwendet. Türkische Begriffe kommen im Gespräch nicht vor. Insgesamt unterstreicht sein Sprechstil den von ihm intendierten offiziellen und geschäftsmäßigen Charakter unseres Treffens. 4.3.2 Familienkonstellation Cemal Akkaya wird 1965 als erster Sohn seiner Eltern geboren, die in einer zentraltürkischen Kleinstadt leben. Zumindest ein Elternteil stammt aus einem Dorf in der Umgebung, da die Großeltern noch dort leben. Der Vater ist als Pflegekraft in einem Krankenhaus angestellt und verfügt damit über eine Form der sozialen Sicherung.39 Die Mutter hat den Beruf der Näherin gelernt. Die Eltern haben zumindest einen einfachen bis mittleren Bildungsabschluss und eine formelle oder auch informelle Phase der Ausbildung oder Anlernphase durchlaufen. Dadurch haben sie Zugang zur städtischen Infrastruktur und abhängige Lohnarbeit ist die vorrangige Lebensgrundlage. Die ersten Lebensjahre verbringt Cemal Akkaya mit seinen Eltern in der Kleinfamilie, auch die Mutter ist teilweise erwerbstätig, eventuell in Heimarbeit, während der Vater im Schichtdienst außerhäuslich arbeitet. Durch die Migration der Eltern im Jahr 1969 wird die häusliche Gemeinschaft mit den Eltern im vierten Lebensjahr von Cemal Akkaya beendet und er kommt zu seinen Großeltern, die in einem Dorf leben. Diese Le-

38 Beispiele dafür sind „da fängt die ganze Arie von vorne an“, „das war so der Tenor“, „auf eine Waagschale werfen“ die als Resümee der vorangehenden Ausführungen fungieren, ohne Auskunft über innere Haltungen den erlebten Situationen gegenüber zu geben. 39 Zumindest der Vater hat durch seine Tätigkeit im staatlichen Sektor eine sozialversicherungspflichtige Position und Anspruch auf staatliche Gesundheitsversorgung, die dann auch für die Familienangehörigen gilt, sowie einen Anspruch auf eine Rente im Alter oder aufgrund von Krankheit.

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bensphase dauert fast vier Jahre an, so dass Cemal Akkaya in der Türkei eingeschult wird und zwei Jahre in die Grundschule geht. Die Eltern sieht er in diesem Zeitraum nur in den Ferien. Die Migrationsmotive der Eltern thematisiert Cemal Akkaya im Gespräch nicht, auch Erinnerungen an die erste gemeinsame Zeit mit den Eltern kommen im Interview nicht vor. Auch auf Nachfragen reagiert Cemal Akkaya ausweichend und vermeidet die weitere Beschäftigung mit dieser frühen Lebensphase. Dies deutet darauf hin, dass er Erinnerungen aufgrund unangenehmer Gefühle eher vermeiden möchte. Auf Nachfragen reagiert er irritiert und weist lediglich kurz auf die Eltern, Großeltern und Orte der Kindheit hin. Inhaltlich leitet er die Fragen zur frühen Kindheit umgehend zu Themen über, die mit seiner Person und seinem Leben in Hamburg in der Gegenwart zu tun haben. Sicher ist aufgrund seines geringen Alters die Erinnerung an diese Lebensphase kaum vorhanden oder nur über Dritte vermittelt worden. Allerdings beschäftigt er sich in einer Sequenz mit der Trennung in der frühen Kindheit und der Beziehung zur Mutter. Dies geschieht allerdings im Rahmen eines Ereignisses in der jüngeren Gegenwart, durch das er die Trennung aus der Perspektive und Erinnerung seiner Mutter darstellt. Er begleitet seine Mutter zum Augenarzt, der sie untersucht und sich über ihre „trockenen Augen“ wundert. [...] und da hat meine Mutter gesagt, ja, das ist damals passiert, als mein Sohn, hier der junge Mann hier, in der Türkei war und ich hier war, da, hat sie jeden Abend geweint, sagt sie, kann mich da also- (.) und da habe ich damals, hat sie sehr viele Augentränen verloren und eh- das kann wahrscheinlich der Grund dafür sein und- na ja- wie dem auch sei, aber das Empfinden ist auf jeden Fall auf ihrer Seite eben damit verbunden. (8:10-13)

Cemal Akkaya präsentiert ein widersprüchliches Bild der Beziehung zwischen Mutter und Sohn in Vergangenheit und Gegenwart. Die Mutter spricht über die Trennung in der Vergangenheit, in dem sie die Rollen der Handelnden vertauscht. Sie präsentiert sich als die Verlassene, ihr damals erst vier Jahre alter Sohn wird damit zu demjenigen, der die Mutter verlässt. Durch diese Umkehr überträgt die Mutter ihre Verantwortung für die Trennung vom vierjährigen Sohn der Vergangenheit auf den „jungen Mann“ der Gegenwart, der zudem durch die Art seiner Präsentation in dieser Sequenz zeigt, dass er zur Übernahme der Verantwortung bereit ist. Damit wird die Migration der Eltern als ein schicksalhaftes Ereignis der Vergangenheit wahrgenommen, dessen Verantwortung die Mutter bis in die Gegenwart hinein nicht tragen bzw. emotional ertragen kann. Sie zeigt körperliche Symptome, deren Ursache sie in der Trennung vom Sohn verortet und die bis in die Gegenwart vorhanden sind. Ihr Sohn bekommt die Rolle desjenigen zugewiesen, der die Mutter von ihrer persönlichen Schuld ent-

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lasten kann und zeigt durch die Form der Darstellung dieser Sequenz, dass er die Schuld zu übernehmen bereit ist. Der Vater wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, vielmehr wird der Sohn zum eigentlichen Mann an der Seite der Mutter, der über die Energie und Stärke verfügt, sie zu schützen und zu stützen.40 Im Gegensatz zur Mutter hat Cemal Akkaya durchaus positive Erinnerungen an die Zeit, die er bei den Großeltern verbringt. Er ist noch klein und gewöhnt sich schnell an die neuen Bezugspersonen. Von den Großeltern im Dorf wird er liebevoll versorgt und beschreibt diese Phase als eine Zeit, in der er „gehegt und gepflegt“ wurde. Die berufliche Situation der Eltern nach der Migration wird von Cemal Akkaya nur in wenigen Sequenzen dargestellt. Insgesamt ist es jedoch so, dass die Eltern in unsicheren Beschäftigungssituationen tätig sind und häufig neue Arbeitsstellen antreten. Dies deutet auf eine prekäre Einkommenssituation und geringe Beschäftigungssicherheit hin. Ein wichtiges Familienthema ist aber vor allem die unterschiedliche Anerkennung der beruflichen Vorerfahrungen der Eltern nach der Migration. Der Vaters leidet unter der Entwertung seiner Arbeitserfahrungen in der Türkei, da er nicht im erlernten Beruf arbeiten kann.41 Eh- mein Vater hatte den Beruf des eh- Pflegers gelernt und war auch im Krankenhaus, also [...] eh- und so weiter, tätig gewesen, aber das konnte er hier nicht zur Geltung bringen, eh- (..) der Abschluss von meiner Mutter, was eh- (.) was diese Näherin und so weiter angeht oder jetzt Textil, wurde eigentlich auch nicht anerkannt, aber die Firma hat gesagt, wir sehen es ja, du kannst es beherrschen, also kannst du da arbeiten und dann haben sie meinen Vater gleich mit da- mit reingenommen in den Bereich Bügeln. (9:43-48)

Die Mutter kann an berufliche Vorerfahrungen in der Türkei anknüpfen, was dem Vater nicht gelingt. Somit entsteht eine asymmetrische Konstellation zwischen den Ehepartnern. Gerade vor dem Hintergrund der besonderen Beziehung

40 Ilhami Atabay (2010: 80) hat sich aus der Sicht der Psychotherapie mit der MutterSohn-Beziehung in türkeistämmigen Familien beschäftigt. „Der Sohn ist die erste männliche Person im Leben einer jungen Frau, zu dem sie unhinterfragt eine Beziehung, eine Bindung aufbauen darf. Die Mütter in der islamischen Welt sind in den Augen ihrer Söhne die paradiesisch-verwöhnende, die liebende, verzeihende, duldende und tragende Person. Dafür wollen sie geliebt werden, zumal sie diese Liebe oft nicht von ihren Männern bekommen, deren Liebe wiederum auf die eigene Mutter gerichtet ist.“ 41 Helfende Berufe in der Türkei sind in dieser Zeit im staatlichen Sektor anzusiedeln und bieten eine gewisse soziale Absicherung auf niedrigem Niveau.

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zwischen Mutter und Sohn bis in die Gegenwart, erscheint der Vater in einer innerfamiliär wie sozioökonomisch schwachen Position zu sein. Als Bügler arbeitet er unter den Bedingungen von Akkordlohn und gesundheitlich belastenden Arbeitsbedingungen. Weitere Erwerbstätigkeiten des Vaters außerhalb der Textilfirma sind nicht bekannt und er hat im Vergleich mit seiner Ehefrau erhebliche Probleme, eine langfristige und darüber hinaus angemessen entlohnte Tätigkeit zu finden. Die Mutter hingegen kann ihre Vorkenntnisse einbringen und ist im Vergleich zu ihrem Ehemann insgesamt erfolgreicher. So geht Cemal Akkaya in seiner Präsentation ausführlicher auf die berufliche Laufbahn der Mutter ein, während der Vater gar nicht oder lediglich im Zusammenhang mit der Mutter thematisiert wird. Meine Mutter hat eh- hinterher, als die Firma geschlossen wurde eh- also, ich glaube zehn Jahre oder so war sie da, bei dieser Firma und dann die letzte Zeit dann mal in der Firma, mal in der Firma, zwei, drei Jahre immer so gewechselt, teilweise auch irgendwie, im Bereich, in Metallberufen gearbeitet, wo es eig- wo es für Frauen eigentlich nicht eh- zugänglich ist, aber da hat sie auch dann eh-, eh- im Bereich, wie nennt man das nochmaleh- eh- im Bereich Gießerei und solche Sachen dann auch gemacht. Nicht dass sie direkt gegossen hat, aber da hat sie auch eh-, eh- in diesem Umfeld gearbeitet. (10:6-11)

Während die weiteren Arbeitsfelder des Vaters unbekannt bleiben, deutet sich an, dass die Laufbahn der Mutter sich auch jenseits der traditionellen Frauenberufe abspielt. Unklar bleibt dabei zunächst, wo die Gründe dafür liegen. Erst nach mehreren Nachfragen wird deutlich, dass chronische körperliche und psychische Beschwerden zur Erwerbsunfähigkeit des Vaters führen und dies eine Erklärung für den geringen Beitrag des Vaters zur Familienökonomie und zum Erfolg des Migrationsprojekts der Eltern darstellt. Die Mutter ist deshalb diejenige, die vorrangig für das Familieneinkommen zuständig ist, und ihr Sohn betont ihren großen Einsatz in Berufsfeldern, in denen vor allem Männer tätig sind überaus stark, um ihrem Beitrag wertschätzend zu begegnen. 4.3.3 Bildungslaufbahn und Ausbildung Migration zu fremden Eltern Cemal Akkaya beginnt seine Haupterzählung mit dem Ereignis seiner Migration zu den Eltern, die bereits in Hamburg leben. Dies kennzeichnet er zum einen durch die Jahreszahl und sein damaliges Alter. Dadurch vermittelt er den Eindruck, dass sein Leben mit dem Ereignis der Migration beginnt. Die Vorge-

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schichte der Eltern und ihre Entscheidung zur Migration werden in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Durch die Wahl des Einstiegs in die Haupterzählung erhält seine biographische Selbstdarstellung einen individualisierten Fokus. Damit vermittelt er ein hohes Maß an Handlungskompetenz, so dass der Eindruck entsteht, als ob er bereits erwachsen gewesen wäre und eigenständig entschieden hätte, nach Deutschland zu migrieren. Dieses Thema der eigenständigen Gestaltungskompetenz ist immer wieder ein Strukturierungselement seiner biographischen Präsentationen. Im Nachfrageteil konkretisiert er das Erleben der Migration als zentrales Ereignis seiner Biographie und dabei wird deutlich, dass die ambivalenten Gefühle, die es ausgelöst hat, noch in der Gegenwart sehr präsent sind. So wird er im Alter von siebeneinhalb Jahren von einem Onkel bei den Großeltern abgeholt und über Istanbul nach Hamburg gebracht. [...] dann eh- kam eines Tages ´n Onkel (..) zum Dorf, wo ich bei meinen Großeltern, sozusagen gehegt und gepflegt wurde und der sagte, ich werde dich jetzt ehm- mit nach Deutschland nehmen. Das war ein guter Freund, ein Bekannter von meinen Eltern, die auch hier in Hamburg gewohnt haben, ich glaube bis vor kurzem sogar noch gewohnt haben und eh- der hatte dann die Tickets und so weiter alles organisiert, auch mit Visum, haben meine Eltern schon vorher irgendwie organisiert gehabt, und dann stand er da und dann eh- und dann gabs erstmal eh- de- der Zeitpunkt, wo ich dann tatsächlich Abschied nehmen musste, mit einem wild- fremden Mann, kann mich noch einigermaßen daran erinnern, vor allem der Abschied von meiner Oma fiel mir ziemlich schwer. (7:28-32)

Sowohl die Distanz zu den Eltern als auch die sichere Bindung an die Großeltern, werden in dieser Erzählsequenz deutlich. Die Eltern kommen nicht selbst, um ihn abzuholen, sondern schicken einen Mann, den er ebenfalls kaum kennt. Im weiteren Verlauf der Reise verpasst der Bekannte den Abflug, so dass sie erst einige Tage später in Hamburg ankommen. Die Eltern kommen allerdings immer noch nicht, um ihn abzuholen, so dass Cemal Akkaya seine erste Nacht in Hamburg in der Wohnung des Bekannten der Eltern verbringt. Er selbst findet die Erklärung für das späte Zusammentreffen mit den Eltern in deren schwierigen Arbeitszeiten und ihrer hohen Arbeitsbelastung und vermittelt nicht den Eindruck, darüber enttäuscht gewesen zu sein. Stattdessen konzentriert er sich in der Präsentation auf den spannenden und ungewöhnlichen Reiseverlauf und auf das wesentliche Ergebnis, das für ihn bis in die Gegenwart von Bedeutung ist. Dies besteht nicht darin, dass endlich die Zeit der Trennung von den Eltern zu Ende ist, sondern in der Tatsache, dass er seit diesem Tag in Hamburg lebt. So beendet er die Erzählung mit der Evaluation „ja so hat die Geschichte mit Hamburg sozusagen für mich begonnen.“ Hier zeigt sich, dass der Ort mehr als die famili-

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ären Bindungen aus der gegenwärtigen Perspektive im Zentrum der Selbstverortungen stehen. Während die Eltern in Hamburg nur einen zeitweisen Lebensmittelpunkt gefunden haben, bezeichnet Cemal Akkaya die Stadt bereits zu Beginn seiner Eingangserzählung als „Headquarter“. Damit vermittelt er den Eindruck, dass er über eine Zentrale verfügt, die mit weiteren Außenposten, um im militärischen Sprachgebrauch zu bleiben, verbunden ist. So entsteht ein Bild komplexer Vernetzung, mit ihm selbst als Leitung an der Spitze. Eine besondere Freude über das Wiedersehen mit den Eltern thematisiert Cemal Akkaya im Gespräch nicht, auch nicht den Umstand, dass ihm die Eltern durch die lange Trennung fremd geworden sind. Die gemeinsame Zeit mit den Eltern ist wohl auch durch deren Erwerbstätigkeit eher gering gewesen. Denn Cemal Akkaya erinnert sich, dass er bereits kurz nach der Ankunft in Hamburg und vor seiner Einschulung von einer Bekannten der Eltern betreut wird. Er erinnert sich an gemeinsame Wochenenden mit der Frau, die aufgrund eines längeren Türkeiaufenthalts türkisch spricht, aber nicht an gemeinsame Zeit mit den Eltern. Den Namen der Frau erinnert er nicht, aber von ihr lernt er die ersten deutschen Wörter und kommt bald darauf in die Grundschule. Damit zeigt sich, dass die Eltern zwar wegen ihrer Arbeitszeiten wenig zur Verfügung standen, sich aber um eine kompetente Betreuung kümmern, die ihn darüber hinaus auf die bevorstehende Schule vorbereiten kann. Schullaufbahn Wegen fehlender Deutschkenntnisse muss Cemal Akkaya die zweite Klasse wiederholen. In der Schule ist er zunächst das einzige ausländische Kind. Die Rückstufung erfolgt mit der Begründung fehlender Sprachkenntnisse und führt zu einer Entwertung seines bereits in der Türkei angeeigneten schulischen Wissens.42 Damit muss er sich in eine Klassenstruktur integrieren, in der die Kinder jünger sind als er, ihm aber sprachlich überlegen sind. Die ersten zwei Schuljahre bewertet er als schwierig, da er nicht verstanden wird und darüber hinaus keine gleichsprachigen Freunde in der Klasse hat. Die Kinder sind überwiegend einsprachig deutsch und er fühlt sich fremd und wird von den anderen als Frem-

42 Wegen der fehlenden Sprachkenntnisse und nicht vorhandener Vorbereitungsklassen für ausländische Schüler erfolgt in der Praxis in vielen Fällen eine Rückstufung in eine niedrigere Klassenstufe, von der sich die Lehrer versprechen, dass die Kinder ihre sprachlichen Defizite ausgleichen. Dabei wird übersehen, dass sie bereits über schulische Vorerfahrungen und damit Kenntnisse im Schreiben und Rechnen verfügen und intellektuell unterfordert sind.

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der behandelt. Cemal Akkaya fasst die Schwierigkeiten der ersten Schuljahre aus der heutigen Perspektive unter dem Begriff „Reibereien“ zusammen. Konkrete Beispiele von selbst erlebter Diskriminierung stellt Cemal Akkaya jedoch nicht dar, so dass der Eindruck entsteht, dass er diese Lebensphase als abgeschlossen und wenig relevant für sein gegenwärtiges Leben betrachtet. Auch den Wechsel auf die Realschule präsentiert er als einen unproblematischen Übergang. Dies hat sicher auch etwas damit zu tun, dass ihm dieser Bildungsweg Möglichkeiten für eine schulische Weiterqualifizierung eröffnet und den späteren Zugang zum Abitur erleichtert. Allerdings ist seine schulische Situation nicht durchgehend gut, so dass er eine Klasse wiederholen muss. [...] und dann Realschule und ich hab die siebte Klasse auf meinen persönlichen Wunsch noch mal eh- wiederholt. Und die Klasse, wo ich da war, die gefiel mir überhaupt nicht, und die Leistungen waren auch nicht ganz toll. Wie ich auf die Realschule kam, und dann hab ich die wiederholt und von dort an ging eigentlich alles recht gut. Die Noten haben sich verbessert, dann habe ich mittlerweile (Wort) Freunde eh- und mit einem guten Durchschnitt habe ich dann die Realschule abgeschlossen. (11:17-22)

Die Präsentation dieser Sequenz verdeutlicht seine frühe Eigenständigkeit und die Übernahme von Verantwortung. Er konzipiert seine biographischen Darstellungen rund um seine subjektiven Erfahrungen in einer Weise, die seine sozialen und strukturellen Einbettungen in Institutionen ausblendet, so dass daraus die individualisierte Biographie eines autonom handelnden Erzählers entsteht. Anders als die Biographie von İlhan Uysal bestehen keinerlei Querverweise auf Freundschaften und Freizeitgestaltung. Im Zentrum steht seine Bildungslaufbahn, in der er bereits im Altern von 14 Jahren autonome und scheinbar vollkommen rational nachvollziehbare Entscheidungen trifft. Während er in der Grundschule von anderen zurückgestuft wurde, ohne dass er beteiligt war, handelt er hier eigenständig. Weder die Eltern noch die Lehrer sind in den Entscheidungsprozess involviert. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Cemal Akkaya bereits im Altern von 14 Jahren die Entscheidungs- und Handlungsvollmacht eines Erwachsenen inne hatte bzw. diese sich retrospektiv zuweist. Aufgrund der Sequenzen über die Familienstrukturen gibt es Hinweise dahingehend, dass er bereits früh eigenständig wurde, da die Eltern überaus stark mit der Organisation ihres Arbeitsalltages beschäftigt sind. Hinzukommt, dass in der Zeit, als er die siebte Klasse wiederholt, sein Bruder geboren wird und damit die Arbeitsaufgaben zwischen den Eltern für die Versorgung eines Säuglings neu geregelt werden müssen. Er bezieht sich nicht direkt auf dieses Ereignis, allerdings ist ein Zusammenhang mit seinen schulischen Schwierigkeiten und der Präsentation seiner Autonomie durchaus

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aus den innerfamiliären Veränderungen heraus zu erklären. Er wird zum älteren Bruder, der die Eltern entlasten kann, in dem er seine Angelegenheiten selbst regelt. Während er in den Jahren davor das einzige Kind der Familie ist, verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Eltern auf den kleinen Bruder. Im Gespräch wird der Bruder erstmals im Anschluss an die bereits analysierte Sequenz erwähnt, in der es um die „Augentränen“ der Mutter geht. Während Cemal Akkaya einen längeren Zeitraum von der Mutter getrennt lebt, ist der Bruder derjenige, der seine Kindheit durchgehend gemeinsam mit den Eltern verbringt. Der Lebenslauf des Bruders wird somit zur Kompensation für die Trennung vom ältesten Sohn mit der physischen Präsenz der Mutter verbunden. Die gemeinsame Zeit mit dem jüngeren Bruder ist kurz und Cemal Akkaya schon bald mit den Themen Ausbildung und Familiengründung beschäftigt. In dieser familiären Konstellation kann er von den Eltern nur wenig Hilfe erwarten, und trifft bereits früh eigene Entscheidungen. Trotzdem verfolgen seine Eltern seine schulische Entwicklung mit Interesse. Meine Eltern haben mich eigentlich eh- immer von der Motivation her recht gut unterstützt. Aber eh- was jetzt beruflich besser wäre, was man aussuchen sollte, eh- weitestgehend mit Goodwill unterstützt, aber mit fachlichen Informationen konnten sie mich da eigentlich eh- konnten sie mich dort nicht unterstützen. (11:34-37)

Im Wohnumfeld der Familie findet Cemal Akkaya jedoch Unterstützung in schulischen Fragen. In der Nachbarschaft der Familie lebt Frau W., zu der die Eltern und auch er selbst bis in die Gegenwart regelmäßigen Kontakt haben. Er hebt besonders hervor, dass sie sich sowohl von den Eltern als auch von anderen Nachbarn, die er als „Otto-Normal-Menschen“ bezeichnet, wesentlich durch ihre Kenntnisse und „Sichtweisen“ unterscheidet. Er kann sie bei Hausaufgaben um Rat fragen, wenn er selber nicht mehr weiter weiß. Frau W. ist damit die zweite deutsche Frau, die die Eltern unterstützt und von Aufgaben entlastet, die sie selbst nicht erbringen können. Damit zeigt sich, dass die Eltern über ein unterstützendes Netzwerk jenseits ethnischer Grenzziehungen verfügen. Als Cemal Akkaya gegen Ende der Schulzeit die Suche nach einem Ausbildungsplatz beginnt, spricht er mit Frau W. über seine beruflichen Möglichkeiten. Im Rückblick erscheint ihm die Berufswahl jedoch schwierig, da er nur geringe Vorstellungen hat und letztlich auf sich allein gestellt entscheiden muss, für welche Berufe er sich bewirbt. Die Berufsinformationen des Arbeitsamts nimmt er zwar in Anspruch, bewertet seine Entscheidungen in dieser Lebensphase aber überaus selbstkritisch.

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[...] und da war, wie gesagt, diesen Fernmeldetechniker und eh- im Bereich eh- Elektroinstallation und so weiter, und ist ja recht interessant, und sieht ja gut aus, da kann man einiges machen und auch mit Elektrik. Ehm- dachte ich zumindest, dass das zu mir passen würde, als junger Mann. Und eh- äh, hat sich eben nicht bewahrheitet. (11:29-31)

In dieser Zeit trifft er Entscheidungen, die den weiteren Verlauf seines Lebens maßgeblich beeinflussen. Dabei spielt die Verlängerung der Schulzeit bis zum Abitur keine Rolle, auch im Rückblick reflektiert er dies in keiner Weise kritisch. Sein erstes berufliches Ziel ist eine duale Ausbildung in einem handwerklich-technischen Beruf, der eher weniger mit körperlich schweren und schmutzigen Tätigkeiten in Verbindung gebracht wird, sondern technische und feinmotorische Fertigkeiten erfordert. Einen kaufmännischen Beruf kann er sich in dieser Zeit nicht vorstellen und sein Interesse an ökonomischen Themen ist noch nicht vorhanden. So entwickelt Cemal Akkaya erst in der beruflichen Praxis konkrete Vorstellungen von potenziell interessanten Arbeitsinhalten und den damit in Zusammenhang stehenden Berufsbildern. Berufliche Vorbilder innerhalb der Familie hat er nicht und die Nachbarin Frau W. ist eine der wenigen Personen mit einem qualifizierten Berufsabschluss in seinem Umfeld in Hamburg.43 Darüber hinaus ist die ökonomische Situation der Familie konstant schwierig. Der Vater geht bereits einige Jahre nach Cemal Akkayas Schulabschluss in die Frühverrentung, so dass davon auszugehen ist, dass die Zeit davor durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Vaters belastet ist. Dies ist der entscheidende Faktor, der dazu führt, dass Cemal Akkaya beabsichtigt, möglichst bald finanziell unabhängig zu werden, um die Eltern zu entlasten bzw. durch ein stabiles Einkommen zu unterstützen. Ausbildung in schwierigen Zeiten Vor dem Hintergrund seiner beruflichen Wünsche ist die Ausbildung zum Maschinenschlosser, die Cemal Akkaya im Anschluss an die Schule absolviert, „notgedrungen“ zustande gekommen. Die zahlreichen Aufnahmetests für Ausbildungsplätze im Bereich der Elektrik und Fernmeldetechnik besteht er nicht. Er steht in Konkurrenz mit einer großen Gruppe von Bewerbern, von denen nur ein kleiner Teil ausgewählt wird. Die Erfahrung des Scheiterns schildert er jedoch, ohne über die damit verbundenen Gefühle zu sprechen. Er bleibt distanziert und zurückhaltend.

43 Sie ist Angestellte bei einer Hamburger Behörde.

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[...] unter anderem auch bei Siemens, kann mich noch ganz gut erinnern, die hatten riesengroße Halle dort irgendwie organisiert und eh- (.) da waren bestimmt über hundert Leute, also, die da eingeladen worden waren und dann ging es da um Einstellungstest, Bewegungstest und eh- zum Schluss hatten sie da ungefähr zehn Leute oder so eingestellt und hat also nicht geklappt, durchgefallen. (1:39-43)

Die Konkurrenz in einer anonymen Masse um eine geringe Zahl von Ausbildungsplätzen erscheint als unausweichliches Schicksal in dieser Lebensphase.44 Er selbst bezieht sich nicht auf den zeitlichen Kontext, sondern präsentiert seine ersten Misserfolge als persönliche und überaus singuläre Erfahrungen. Auch an dieser Stelle verortet er sich zu keinem Zeitpunkt als Teil einer sozialen oder ethnischen Gruppe, die strukturell benachteiligt wird. Während er die Namen der Unternehmen nennt, bei denen er in den Aufnahmeprüfungen scheitert, kommt der Name der Werft, in der er schließlich eine Ausbildung macht, im Interview nur in einer Sequenz vor, in der explizit nach dem Namen gefragt wird. Dabei erlebt der Schiffbau in Deutschland gerade in dieser Zeit eine schwere Krise.45 Die Ereignisse fallen in die Zeit seiner Ausbildung, allerdings erwähnt er sie im Gespräch nicht. Stattdessen beschränkt er sich auf die Erfahrungen, die er bei Einstellungstests für Berufe macht, die seinen beruflichen Interessen eher entsprechen, in denen er aber nicht erfolgreich ist. Vor dem Hintergrund seiner derzeitigen Tätigkeit, erscheint der Beruf des Maschinenschlossers in einer von der Schließung bedrohten Werft nicht als das passende Bild, das Cemal Akkaya in der Gegenwart von sich selbst als erfolgreichem Unternehmensberater vermitteln möchte. Er entscheidet sich deshalb dafür, die Zeit der Ausbildung nicht genauer darzustellen. Angesichts der Krise auf dem Arbeitsmarkt ist er jedoch erleichtert, nach zahlreichen Enttäuschungen überhaupt eine Ausbildung machen zu können. Seine Mutter ist hier diejenige, die ihn bei der Entscheidung unterstützt.

44 In den beginnenden 1980er Jahren sind die Arbeitslosenzahlen mit über 2,3 Millionen konstant hoch. Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt in dieser Zeit drastisch zu. Daraus ergibt sich die dargestellte Konstellation, dass mehrere 100 Bewerber um zehn Ausbildungsplätze konkurrieren. Dies gehört zu einer der Alltagserfahrungen der Schulabgänger in dieser Zeit (Raithel 2009; Mansel 2007). 45 Die deutschen und europäischen Werften verlieren in der Konkurrenz mit außereuropäischen Werften Aufträge, da sie im Preiswettbewerb nicht mithalten können. In Hamburg gab es in den beginnenden 1980er Jahren umfangreiche Entlassungen, Standortschließungen, Werksverkleinerungen und Kurzarbeit. Eine Reaktion der Werftarbeiter waren unter anderem Betriebsbesetzungen (HDW und Metaller Arbeitslosenzentrum 1990).

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Bevor ich irgendwie gar nichts mache, das hat auch meine Mutter immer gesagt, bevor du gar nichts machst, machst du jetzt diese Ausbildung, kannst hinterher immer noch gucken, was du dann machen willst. (13:5-7)

Es ist denkbar, dass die Ausbildung eine Notlösung darstellt, da die Werft, in der er arbeitet, von Schließung bedroht ist und deshalb vielleicht kein großer Ansturm auf die Ausbildungsplätze erfolgt. Verschärfend kommt hinzu, dass die Motivation des Personals und der Auszubildenden nur gering ist, da akute Sorgen um den Erhalt der Arbeitsplätze im Vordergrund stehen. Dies ist jedoch nicht das Thema, das für ihn im Interview im Vordergrund steht. Sein Selbstbild entwickelt sich mit Beginn der Ausbildung in Richtung des berufstätigen erwachsenen Mannes, der über eigene finanzielle Mittel zur Gründung einer Familie verfügt. Die Erfahrung ökonomischer Unsicherheit und Prekarität in der eigenen Familie führt jedoch nicht zu einer Ablehnung, sondern zur forcierten Gründung einer eigenen Familie. Er heiratet bereits während der Ausbildung und wird im Alter von 22 Jahren zum ersten Mal Vater. 4.3.4 Berufliche Laufbahn zwischen Familie und Karriere Berufliche Stabilisierung Im Anschluss an die Ausbildung in der Werft entscheidet er sich für den Wechsel in eine weniger krisenhafte Branche. Ein berufliches Fortkommen erscheint im Anschluss an die Ausbildung in der von Krisen bedrohten Werft wenig aussichtsreich, so dass sich Cemal Akkaya auf die Suche nach einem anderen Arbeitsplatz macht. Da er sich für die ökonomische Versorgung von Ehefrau und Kind verantwortlich fühlt, muss er durch seine Erwerbsarbeit das Familieneinkommen sicherstellen. [...] also ehm- so September, Oktober, da gabs eine Annonce in der Zeitung und deutsche Airbus hat nach eh- nach Leuten gesucht, die Ausbildung gemacht haben, Metall, Schwermetall und so weiter, also die Bereiche waren abgesteckt, mit einer Zusatzausbildung, Qualifizierung konnte man dort eben arbeiten. Ich hab mich beworben und auch da wieder, Auswahlverfahren und so weiter, mit Zusatzausbildung, aber hat es da geklappt und eh- da habe ich dann begonnen sozusagen, eh- im Bereich, Strukturmontage aber dann hinterher in der Ausstattung eh- zu arbeiten. (1:44-2:2)

Durch eine Zusatzqualifizierung kann er seine beruflichen Kenntnisse im technischen Bereich weiterentwickeln und dafür ist abgeschlossene Berufsausbildung

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eine formale Zugangsvoraussetzung.46 Seine hohe Motivation wird auch dadurch deutlich, dass er die berufliche Weiterentwicklung und sein aktives Handeln besonders hervorhebt. Darüber hinaus ist es relevant, dass er durch den Berufswechsel eine längerfristige Einkommensstabilisierung erreichen kann.47 Auch deshalb baut Cemal Akkaya diese erste Berufstätigkeit im Gespräch detaillierter aus, während er sich beim Thema Ausbildung in der Werft besonders zurückhält. Ein besonderes Interesse und Begeisterung für die Arbeit wird aber auch in dieser Lebensphase nicht sichtbar. Die langen sechs Jahre bei Airbus werden wenig inhaltlich ausgestaltet, so dass auch diese Tätigkeit aus pragmatischen Gründen und damit ebenfalls „notgedrungen“ ausgeübt wird. So sieht er selbst keine Anknüpfungspunkte, die im Sinne seines Interesses, sich als erfolgreicher Unternehmensberater der Gegenwart zu präsentieren, auf die Arbeit bei Airbus bezogen werden können. Trotz der ökonomischen Stabilität und Planungssicherheit, die er durch die Tätigkeit erreicht, entscheidet er sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre. Diesen Wunsch lokalisiert er bereits in die Zeit der ersten Ausbildung, stellt ihn aber aufgrund der ökonomischen Erfordernisse zurück. Da haben die immer gesagt, guck mal der, der liest immer so komische Zeitungen und so weiter. Das hat sich in der Zeit auch so ´n bisschen von der persönlichen Entwicklung her bei mir entwickelt, dass ich Interesse in Wirtschaft habe, dass ich Interesse in Politik habe und da lag das für mich irgendwie dann auf der Hand, dass ich BWL studieren wollte, aber eben erst mal den Weg zu ebnen. (13:14-17)

Seine innere Entwicklung führt ihn auf andere berufliche Wege und das Erleben von Fremdheit innerhalb seines beruflichen Umfeldes bezieht sich nicht auf ethnische Differenz, sondern auf soziale und kulturelle Unterscheidungen. An dieser Stelle vergleicht er sich auch erstmals mit anderen, die in seiner Umgebung leben und arbeiten. In Abgrenzung zu seinem Umfeld nimmt er sich mit seinen

46 Die Aufstiegsmöglichkeiten eines ausgebildeten Fluggerätmechanikers sind im Vergleich mit vielen anderen Berufen gut. Es bestehen zahlreiche Einsatzmöglichkeiten außerhalb der Flugzeugherstellung zum Beispiel am Flughafen (Bundesagentur für Arbeit 2012). 47 Airbus ist trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten Ende der 1980er Jahre im Vergleich zum Beispiel mit den Werften ein Großunternehmen, in dem, wenn auch mit massiver staatlicher Hilfe, Arbeitsplätze in schwierigen Zeiten relativ sicher erscheinen. Darüber hinaus arbeitet Cemal Akkaya später als Berater in einem Projekt, das in Verbindung mit Airbus steht und kann sich dabei auch auf seine beruflichen Vorerfahrungen beziehen.

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Interessen an bestimmten Themen und Kommunikationsformen als abweichend von der allgemeinen Praxis der Beschäftigten an Industriearbeitsplätzen wahr. Diese Unterscheidung führt er in der Retrospektive als einen Beleg für seine besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen ins Feld.48 Die Unzufriedenheit mit den beruflichen Möglichkeiten führt schließlich dazu, dass er sich für eine radikale berufliche Neuorientierung entscheidet. Dabei zeigen sich auch Parallelen zur beruflichen Entwicklung, wie sie sein Vater durchlaufen hat. Dieser hat ebenfalls keinen Erfolg im industriellen Bereich erzielen können, verfügte aber nicht über Entwicklungschancen in einem alternativen Berufsfeld, da seine Vorerfahrungen durch die Tätigkeit im Krankenhaus nach der Migration keinen Wert hatten. Cemal Akkaya verfolgt bei seiner Karriereplanung somit das Ziel, die Werkbank und Montagebänder zu verlassen, um eine White-Collar-Position zu erreichen. Er verortet sich damit durchaus in der Tradition seines Vaters und in der Verantwortung, sich neuen Tätigkeitsfeldern zuzuwenden. Durch seine Berufswahl überschreitet er die symbolischen ethnischen Grenzziehungen des Einwandererkindes und konstruiert seine Identität entlang sozialer Kategorien. Dies führt auch dazu, dass er Erfahrungen von rassistischer Diskriminierung erst gegen Ende des Interviews aufgrund konkreterer Nachfragen expliziert. Die subjektiven Erfahrungen mit ethnischer Differenz klammert er aus der Selbstpräsentation seiner erfolgreichen Unternehmensberaterkarriere zunächst aus. Familiengründung und Rückkehr der Eltern in die Türkei Seine Ehefrau lernt Cemal Akkaya während eines Urlaubs in der Türkei kennen und heiratet sie noch, bevor er den Berufsabschluss erreicht. Über die Zeit des Kennenlernens und die über zwei Jahre dauernde Fernbeziehung gibt es im Gespräch keine weiteren Informationen. Die Entscheidung zur Heirat setzt er konsequent und selbständig um und macht dieses Thema zu einem Hauptgesprächsbestandteil in den Sequenzen, in denen er sich mit der Familiengründung beschäftigt. Die auftretenden Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung führen nicht dazu, dass er reflektiert, ob die Entscheidung vor allem bezogen auf den Zeitpunkt der Heirat gerechtfertigt ist. Da er kein ausreichendes Einkommen vorweisen kann, werden die Eltern aufgrund der behördlichen Restriktionen mit in das Verfahren einbezogen.

48 Aufgrund der Informationen im Interview ist nicht herauszuarbeiten, inwiefern auch die tagespolitischen Ereignisse rund um den Fortbestand der Hamburger Werften zu seiner Entscheidung beigetragen haben, BWL zu studieren.

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[...] wo dieses Familienzusammenführungsgesetz existierte, das heißt, da musste man e-i-n Jahr lang erstmal verheiratet sein, bevor der Ehepartner, Mann oder Frau, ist egal, überhaupt, eh- überhaupt hierherkommen durfte und eh- ging dann auch eine penible, nervige, ziemlich zeitauf- eh- reu- raubende und lang haltende Kontrolle seitens Ausländerbehörde, so hieß es hier damals, es ist heute immer noch glaube ich, genau und das hat sich ziemlich lange hingezogen und ja- eh- da war das so dann eben, weil ich damals ja noch ehnoch nicht 100% äh- seitens der Behörde die Kriterien, was Geld verdienen angeht, erfüllen konnte. Also das, was ich verdient habe, war noch zu wenig für die, bekam meine Frau erstmal keine Einreisegenehmigung und so wird auch de- dem- das Visum in äh- [...] nicht, in der Türkei äh- [...] (3:41-49)

Seine Empörung weist zum einen darauf hin, dass er im Vorfeld seiner Heirat nur wenig Erfahrungen mit behördlichen Restriktionen gemacht hat und damit keine Selbstwahrnehmung als anders und fremd bezogen auf die nationale Zugehörigkeit vorhanden ist. Zudem hat er sich nicht über die geltenden Vorschriften informiert, die einer Familienzusammenführung zugrunde liegen, sondern sich ganz auf die Initiierung der Ehe entsprechend den in der Türkei geltenden Regeln konzentriert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt klar auf den institutionellen Restriktionen und seinem engagierten Einsatz dagegen. Damit präsentiert er sich erstmals als aktiver Mann, der sich gegen erfahrene Ungerechtigkeiten zur Wehr setzt. Seine Empörung über die ungerechte Behandlung verdeutlicht, dass er sich grundsätzlich als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft mit gleichen Chancen und Rechten wahrnimmt. Die Erfahrung mit Restriktionen, die sich auf seine nationalstaatliche Zugehörigkeit beziehen, nimmt er als nicht zu rechtfertigende Ausgrenzung wahr, durch die er auf seine ethnische Herkunft reduziert werden soll. Er sieht sich dadurch in seiner Gestaltungsmöglichkeit eingeschränkt. In der Auseinandersetzung mit strukturellen Zwängen sieht er sich mit den Themen Ethnizität und Zugehörigkeit konfrontiert und muss sich mit Gruppenabgrenzungen und Diskriminierung beschäftigen, was seiner stark individualisierten Perspektive auf seine Lebensgeschichte entgegensteht. Während er ansonsten hinsichtlich seiner beruflichen Entscheidungen durchaus pragmatisch und rational handelt, zeigt sich im Bereich der „inneren Laufbahn“ eine starke emotionale Seite. Die Ehefrau sucht er sich selbst aus, auch wenn er sie innerhalb der familiären und/oder nachbarschaftlichen Netzwerke in der Türkei kennenlernt. Dieses hohe Maß an Eigenständigkeit verdeutlicht, dass seine Eltern insgesamt nur wenige Vorgaben machen wollen oder können. Cemal Akkaya wird früh erwachsen, bzw. fühlt sich in der Rolle eines erwachsenen Mannes. Aufgrund dieses Selbstbildes und der finanziell schwierigen Situation der Eltern ist es ihm besonders unangenehm, dass er bei der Familienzusammen-

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führung auf die Unterstützung der Eltern angewiesen ist. Trotzdem wird deutlich, dass die Eltern lediglich aufgrund der finanziellen Lasten Kritik üben, gegen die Entscheidung zur Heirat haben sie keine Einwände. Ja, ehm- das hat sich so bei uns ergeben. Ehm- mein Vater, ehm- war auch nicht unbedingt erfreut davon. [...] also, klar ehm- bei der Heirat waren eh- alle Elternteile dabei und so, aber wegen der Einreise, musste mein Vater auch mehrmals zur Behörde hin, weil er alsweil er- also wenn er eh- wenn er- wenn er bürgen konnte, dass er das fehlende Geld sozusagen für uns irgendwie aufbringen kann, dann gäbe es kein Problem, das war irgendwie so der Tenor. (14:37-43)

Die grundsätzliche Einwilligung aller Elternteile ist ihm wichtig, um zu signalisieren, dass die Eheschließung als familiäre Verbindung beider Seiten akzeptiert wird. Lediglich die zusätzlichen Kosten, die er seinen Eltern verursacht, stellen angesichts der schlechten finanziellen Ausstattung ein Problem dar. Im Anschluss an die Heirat steht die ökonomische Stabilisierung im Zentrum seines Interesses. Er möchte seinen Eltern beweisen, dass er in der Lage ist, eine Familie zu versorgen. Mit seiner Ehefrau praktiziert er seit der Eheschließung eine klare Trennung der Verantwortlichkeiten. Sie ist für die Versorgung von Haushalt und Kindern zuständig, seine zentrale Aufgabe besteht in der Bereitstellung der ökonomischen Ressourcen für die Familie. Cemal Akkaya entwickelt sich in dieser Lebensphase zu einem verantwortlich handelnden erwachsenen Mann und hat durch seine beruflichen Qualifizierungen Zugang zu beruflichen Tätigkeiten, zu denen seinem Vater der Weg versperrt war. Insgesamt bleibt im Interview unklar, wie lange der Vater in welchen Tätigkeiten gearbeitet hat. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre leidet er körperlich wie psychisch unter der schwierigen Lebens- und Arbeitssituation. Dies ist anhand der wenigen und vagen Zeitangaben zu rekonstruieren. Cemal Akkaya ist die Darstellung der psychischen Dimension der Erkrankung unangenehm, und er bemüht sich darum, den Eindruck zu entkräften, der Vater sei „irre durch die Gegend gelaufen“. Der Wunsch nach einem vitalen und psychisch belastbaren Vater wird dadurch besonders deutlich. Die Beeinträchtigungen des Vaters stehen für einen langen Zeitraum im Zentrum der familiären Aufmerksamkeit. Als einzige Erklärung für die Krankheit des Vaters werden die insgesamt schweren Arbeitsbedingungen herangezogen, mit denen die Arbeitsmigranten zurechtkommen müssen. [...] aber mein Vater sagt das immer wieder, also das sind die- das sind die Spuren von den letzten Jahren, die er hier machen musste und so weiter und eh- (.) aber so, dass sie sich

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jetzt nicht beklagen, also- so klage mäßig nicht, aber nur als Feststellung, dass es eben von der Arbeit kommt. (10:23-26)

Vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Verhalten, dass er als besonders vorbildlicher Sohn bemüht ist, den Eltern keine weiteren Schwierigkeiten zu verursachen. Eine eher unproblematische Adoleszenz und seine frühe Eigenständigkeit und Heirat sind Hinweise dafür, dass er früh gelernt hat, sich selbst um seine Angelegenheiten zu kümmern. Die Mutter ist in der familiären Konstellation die stabilere Erwachsene, die beruflich flexibler, gesünder und aktiver ist als der Vater. Cemal Akkaya kann sie durch seine Eigenständigkeit entlasten, so dass sie sich um den geschwächten Vater kümmern kann. Als der Vater nicht mehr arbeiten kann, steht das Familienprojekt Migration an seinem Wendepunkt. Der Vater weigert sich, staatliche Hilfe anzunehmen und die Erwerbsunfähigkeitsrente ist für ein Leben in Deutschland zu gering. Die Rückkehr in die Türkei präsentiert Cemal Akkaya deshalb als den einzig möglichen Ausweg aus der Krise für die Eltern. [...] und da hat er gesagt, wir müssen dauernd jetzt zur Behörde und das und da habe ich auch keine Lust dazu und so weiter. Und Heimweh war sowieso bei meiner eh- Mutter die letzten Jahre ausgeprägt da gewesen, das habe ich gefühlt. (.) Habe ich gesagt gut, wenn ihr damit beide klar kommt, dann macht das doch (Heben der Stimme). So, und dann sind sie dann auch zurückgefahren und haben also selbst dann oft hin und her gependelt ehm- (..) ja die Wohnung erstmal hier beibehalten hinterher, dann auch abgelöst und so weiter, so ist eh- sozusagen die Lage dann eh- für die entstanden. (9:19-26)

Der soziale Abstieg, der durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen befürchtet wird, ereignet sich in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, in der mit Hilfe von Rückkehrprämien Arbeitsmigranten der ersten Generation in die Türkei zurückkehren können. Die öffentliche Debatte um Einwanderung thematisiert vor allem die Belastungen der sozialen Sicherungssysteme durch die Migranten. Die Entscheidung der Eltern steht demzufolge für einen möglichen Umgang mit öffentlichen Diskursen sowohl in Deutschland wie auch in der Türkei, innerhalb derer sie für sich selbst einen sozial akzeptierten Ausweg wählen. Aufgrund der Unterschiede der Lebenshaltungskosten in der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei stellt die Rückkehr für die Eltern einen halbwegs gelungenen Abschluss des Migrationsprojekts dar. Cemal Akkaya bemüht sich, die Haltung des Vaters nachzuvollziehen, da er erneut derjenige ist, der von den Eltern zurückgelassen wird. Die Art der Präsentation, das deutliche Heben der Stimme, längere Sprechpausen und die Unsicherheit in der Darstellung der korrekten Jahreszah-

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len, zeigen, dass er in dieser Sequenz emotional bewegt ist. Er trägt damit den Konflikt aus zwischen dem verletzten Kind, das trotzig erklärt, „wenn ihr damit beide klar kommt“ und dem erwachsenen Mann, mit einem eigenen Leben, der die Entscheidung der Eltern mit „Heimweh“ und „Behördenfrust“ argumentativ zu rechtfertigen versucht. Die Rückkehr der Eltern führt dazu, dass Cemal Akkaya sich erneut mit dem Thema Trennung beschäftigt. Es ist sein zentrales Familienthema, dem er sich immer wieder stellen muss. Auch in dieser Phase ist er nicht derjenige, der über die Entscheidungsmacht verfügt. In seiner Kindheit haben die Eltern entschieden, dass er bei den Großeltern bleibt. Als erwachsener Mann mit eigener Familie und stabiler beruflicher Existenz vermittelt er den Eltern die Sicherheit, dass er mit einer erneuten Trennung klarkommen kann und erleichtert ihnen die Entscheidung zur Rückkehr. Sie wissen ihn gut versorgt, vor allem dadurch, dass er bereits ökonomische eigenständig und verheiratet ist und können ihn mit gutem Gefühl zurücklassen. Eine Rückkehr gemeinsam mit den Eltern in die Türkei steht nicht zur Diskussion. Implizit übertragen sie ihm auch den Auftrag, das schwierige Projekt ihrer Migration erfolgreich abzuschließen. Dies können sie auch deshalb tun, da sie Gewissheit haben, dass er beruflich und familiär in der Lebensphase des erwachsenen Mannes angekommen ist. Dadurch übernimmt er erneut die Verantwortung für elterliche Entscheidungen. Ihre ständige Anwesenheit ist nicht weiter erforderlich und es zeichnet sich ab, dass die Eltern mit zunehmendem Alter eher auf die emotionale und finanzielle Versorgung durch den ältesten Sohn angewiesen sein werden. Der eigentliche Verlierer in dem Prozess der Remigration der Eltern ist der jüngere Bruder. Die räumliche Trennung vergrößert die Distanz, die aufgrund des Altersunterschieds zwischen den Brüdern besteht. Auch hier zeigt Cemal Akkaya Schuldgefühle, da er dem Bruder nicht helfen kann. Die Schuldgefühle entwickeln sich in der Retrospektive vor allem deshalb, da sich nach der Rückkehr der Eltern zeigt, dass der Bruder weder schulisch noch beruflich in der Türkei Fuß fassen kann. Er hat keinen Berufsabschluss und dies bewertet Cemal Akkaya als durchaus kritisch, wenn er sagt, dass er „seinen Weg jetzt auf andere Art und Weise“ macht. Ich würde- ich würde auf keinen Fall den Fehler machen- ich seh das jetzt nicht als Fehler, meine Eltern haben es einfach nicht besser gewusst, es waren auch ganz andere Zeiten. (23:22/23)

Er korrigiert seine Kritik an der Entscheidung der Eltern, indem er den Zeitfaktor besonders betont und entlastet die Eltern damit von der Verantwortung für die

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ungünstige Laufbahn des Bruders. Er selbst schließt eine vergleichbare Entscheidung für die Gegenwart aus, da er seinen Kindern einen solchen Ortswechsel nicht zumuten möchte, auch wenn er gemeinsam mit seiner Partnerin Überlegungen über einen Umzug in die Türkei anstellt. Trauer über die Trennung von den Eltern und über die distanzierte Beziehung zum Bruder lässt Cemal Akkaya in der Darstellung nicht zu. Die berechtigte Kritik an der Fehlentscheidung wird vom Respekt und auch der aktuellen Sorge um die Gesundheit der Eltern verdrängt. Hochschulabschluss als Karrieresprung Die Lebensphase, in der sich Cemal Akkaya für einen beruflichen Neuanfang entscheidet, ist charakterisiert durch die Auseinandersetzung mit den individuellen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Die Rückkehr der Eltern in die Türkei hat dazu geführt, dass Cemal Akkaya überwiegend innerhalb seiner Kleinfamilie lebt, die Einbindung in die verwandtschaftlichen Netzwerk thematisiert er nicht. Die Arbeit in der Industrieproduktion entspricht trotz der Stabilität, die er durch die Ausbildung und berufliche Weiterentwicklung erreichen kann, nicht seinen Erwartungen. Es bestehen nur geringe eigene Gestaltungsmöglichkeiten und eine hohe körperliche Beanspruchung. Zudem erfolgt keine überaus große Identifikation mit dem Beruf oder dem Unternehmen. Somit erscheint die Motivation, ein Studium aufzunehmen als selbstverständlich. Konkrete Gründe wie Arbeitsinhalte und Aufstiegsmöglichkeiten werden von Cemal Akkaya nicht diskutiert. Dies hat sicher auch mit der Interviewkonstellation mit einer Akademikerin zu tun, so dass er implizit das gemeinsame Interesse an Weiterqualifizierung und sozialem Aufstieg voraussetzt. Dies mag in der Vergangenheit anders gewesen sein, da er nicht erwähnt, dass in seinem Umfeld Verwandte, Freunde, Bekannte ebenfalls studiert haben. Im Gegensatz zu İlhan Uysal präsentiert er seine beruflichen Entscheidungen als eigenständig getroffene, für die keine Unterstützung und Beratung von Außen erforderlich war. Die Ideen und ihre Umsetzung entwickeln sich in einem innerem Entscheidungsprozess. Das Interesse an wirtschaftlichen Fragestellungen präsentiert er als die wesentliche Motivation für die Auswahl des Studienfaches. Die Hürde zur Umsetzung des Wunsches ist jedoch hoch, da er weder einen formalen Hochschulzugang besitzt, noch die finanziellen Möglichkeiten, um aus der Rolle als Alleinverdiener einer Kernfamilie mit zwei Kindern zeitweise auszusteigen. [...] aber ich hatte ja kein Abitur, damals, also ich wollte unbedingt studieren, ich habe aber kein Abitur gehabt und vom beruflichen Ablauf her habe ich die Chance nicht ir-

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gendwie über abends, weil das ist alles furchtbar anstrengend, da kommt man nach Hause, ist man müde, und hab dann nach Alternativen gesucht und hab dann an der Hamburger Universität die Möglichkeit eines komplizierten Aufnahmeverfahrens durchlaufen, eh- wo ich dann nicht nur bestimmte Prüfungen machen musste, sondern wo ich dann auch Hausarbeit schreiben musste, Referat zu einem bestimmten Thema und dann stand ich auch ehgegenüber von Lehrern, Professoren und die haben mich auch ganz komisch befragt und so weiter, und alles in allem haben die einen Durchschnitt von 1,7 für mich erteilt und da hat der eine gesagt: Sie können auf jeden Fall studieren, wir sehen da überhaupt kein Problem, und somit habe ich mein BWL-Studium aufgenommen. (2:8-17)

Das Abwägen der Vor- und Nachteile verdeutlicht den Prozess, der durch den Wunsch nach beruflichen Veränderungen eingeleitet wird. Der klassische Weg mit einem langjährigen Schulbesuch zum Abitur ist wegen der zusätzlichen Arbeitsbelastung nicht denkbar, da ihn die Vollzeiterwerbstätigkeit bereits körperlich und zeitlich stark beansprucht. Über einen zeitweisen Ausstieg aus dem Vollerwerbsmodell denkt er aufgrund seiner umfassenden Alleinverantwortung fürs Familieneinkommen nicht nach. Seine Ehefrau ist nicht erwerbstätig und verfügt über keinen in Deutschland verwertbaren beruflichen Abschluss. Da die Rollenverteilung der Familie klar geregelt ist, finden sich im Gespräch keine Überlegungen in Richtung einer grundsätzlichen Veränderung. Cemal Akkaya jedoch findet aufgrund der besonderen Situation in Hamburg, einen für ihn in seiner familiären Situation geeigneten Zugang zu einem Studium ohne Abitur.49 Die erfolgreiche Aufnahmeprüfung baut er erzählerisch aus, so dass deutlich wird, wie stolz er bis in die Gegenwart darauf ist, eine hohe Hürde überwunden zu haben. Damit besteht er zum zweiten Mal eine Aufnahmeprüfung, diesmal in einem Bereich, der ihn vor allem inhaltlich interessiert und von dem er sich soziale Anerkennung verspricht. War die erste Ausbildung noch die Erledigung der Pflichtaufgabe „überhaupt etwas zu haben“, ist das Studium der selbst erarbeitete Einstieg in eine inhaltlich interessante berufliche Laufbahn mit hohem sozialem Prestige. Er zeigt sich überaus stolz darüber, dass er den vorgegebenen Zeitplan stringent einhalten kann und schließt das Studium mit gutem Ergebnis ab. Trotzdem entsteht auch hier wieder der Eindruck des Abarbeitens, wie es bereits während der ersten Ausbildung deutlich wurde. Auch wenn die Inhalte interessanter

49 Die Möglichkeit, ohne Abitur zu studieren, besteht in Hamburg an der HWP (Hochschule für Wirtschaft und Politik), an der Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung und Berufserfahrung nach bestandener Aufnahmeprüfung ein Vollzeitstudium absolvieren können. Erst 2009 wurde von der Konferenz der Kulturminister der Länder eine Vereinheitlichung der Regelungen beschlossen (Gamperl/Kramer 2012).

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sind als in der Ausbildung, so ist auch das Studium zu erledigen, um anschließend Zugang zu inhaltlich und finanziell interessanten Tätigkeiten zu erhalten. Im Gegensatz zu den vorhergehenden beruflichen Stationen, beschäftigt er sich ausführlich mit seiner Lebensphase als Student. Er kann auf den Rückhalt seiner Ehefrau zurückgreifen, die außerhalb ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter keine individuellen beruflichen Ziele hat. Somit steht sein Studium im Zentrum der Aufmerksamkeit der Familie. Er sieht sich als Student nicht in seiner Verantwortlichkeit für die ökonomische Versorgung in Frage gestellt und akzeptiert die Doppelbelastung, die sich aus Studium und Erwerbsarbeit ergeben. Dass er in dieser Zeit staatliche Unterstützung durch Bafög erhält und seine Ehefrau teilweise ebenfalls arbeitet, erwähnt er jedoch nur kurz, so dass der Eindruck entsteht, er habe auch während des Studiums die Familie ebenfalls eigenständig versorgt. Diesen Faktor baut er gestalterisch besonders aus, in dem er die Nachtschichten bei der Post detailliert als „super stressig“ beschreibt. Trotzdem genießt er sichtlich die Erinnerungen an die vielen neuen Möglichkeiten, Eindrücke und Kontakte, die sich in dieser Zeit entwickeln. Er gönnt sich gemeinsame Freizeit mit anderen Studenten, besucht Diskussionsveranstaltungen an der Universität und auch die Arbeit in der Nacht wird durch intensive Gespräche weniger anstrengend. Ja, wir waren ein richtiges Team, und eh- ja, bisschen Studium, bisschen Traumvorstellungen, bisschen Ideallaberei, und so- da war der Morgen schon da? (lautes Lachen) [...] ja, das war ziemlich eh- (.) ermüdende Geschichte, aber im Grunde genommen auch irgendwie eh- super, weil das war so ´ne Abwechslung, eh- wenn du Geld verdienst auch eh- in Themen hineingehen zu können, wo man eben auch mit den Kollegen sprechen konnte. (13:43-14:5)

Der inhaltliche Austausch unterscheidet sich in dieser Lebensphase wesentlich von den beruflichen Kontakten während der Ausbildung, da er nun Menschen trifft, mit denen er gemeinsame Interessen hat. Damit verortet er sich erstmals im Verlauf des Interviews positiv in eine Gruppe, der er sich zugehörig fühlt und die er selbst ausgewählt hat. Trotz der Doppelbelastung durch Studium und Erwerbstätigkeit sieht er sich in seiner Wahl bestätigt und kann die große Verantwortung für die Familie zeitweise hinter sich lassen. Er bekommt einen Eindruck vom Leben der anderen Studenten, die ohne familiäre Verpflichtungen studieren und arbeiten. Dies ist aber nur möglich, da seine Ehefrau ihm Erziehungs- und Hausarbeit abnimmt, so dass er die wenige freie Zeit für sich nutzen kann. Allerdings ist im Hinblick auf die Studieninhalte eine hohe Eigenmotivation nötig, um den Anforderungen zu entsprechen. Er hat vor allem in den mathematischen

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Fächern Schwierigkeiten, die er nicht auf Anhieb erfolgreich „abarbeiten“ kann. Auch wenn das Studium im Hinblick auf die zeitlichen Einteilungen und inhaltlichen Anforderungen als anstrengend wahrgenommen wird, so erinnert er sich an Ereignisse und Erfahrungen, die er in einem multiethnischen Umfeld machen kann. Im Rückblick gesteht er sich ein, dass er die Doppelbelastung „heute nicht noch mal machen“ würde, trotzdem bestätigt er sich dadurch auch die erfolgreiche Bewältigung einer biographisch relevanten Lebensphase. Er präsentiert sich sehr selbstbewusst als aktiv, engagiert und belastbar und ist damit mit den Softskills ausgestattet, die von einem erfolgreichen Unternehmensberater in der „Businesswelt“ erwartet werden. Ethnische und soziale Barrieren spielen in dieser Zeit keine Rolle. Er nimmt sich als gleichberechtigt in seinen Möglichkeiten wahr und vermittelt den Eindruck, dass er aufgrund eigener Anstrengungen und individueller Leistungen einen gleichwertigen Zugang zu sozial anerkannten beruflichen Positionen erhalten kann. Die von außen auferlegten sozialen Barrieren, die ihm als Sohn von Einwanderern zugeschrieben werden, sind in seiner Alltagswelt nicht relevant. So lehnt er auch das Angebot eines türkeistämmigen Unternehmers ab, in dessen Firma einzusteigen. Angesichts aktueller Überlegungen über seine eigene berufliche Zukunft in Deutschland bewertet er seine Haltung in dieser Frage im Rückblick selbstkritisch. In der Praktikumsphase im Anschluss an das Studium ist er bemüht, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. Aufgrund seines Alters und dem Umstand, dass er bereits eine Familie hat, steht er unter zeitlichem Druck, möglichst schnell eine finanziell angemessene Beschäftigung zu erhalten. Seine erste Festanstellung als „Business-Consult“ erfüllt ihn heute noch mit großem Stolz.50 In dieser Phase erlebt er den Übergang zwischen zwei biographisch bedeutenden Phasen. Während er als „junger Mann“ „notgedrungen“ die an ihn gestellten Aufgaben „abarbeitet“, startet mit der ersten Festanstellung seine Karriere in verschiedenen Positionen der Unternehmensberatung, die eine lineare soziale Aufwärtsbewegung darstellen. Bereits in der Eingangserzählung führt er diesen

50 Durch die Verwendung der englischen Bezeichnung „Business-Consult“, die englische Bezeichnung für Unternehmensberater verdeutlicht er seine Wort- und Weltgewandtheit und überspielt die unklare berufliche Spezifikation. Die Bezeichnung Unternehmensberatung ist nicht geschützt, so dass es sich um ein breites, eher unspezifisches Tätigkeitsfeld handelt, in dem es auch darum geht, Rationalisierungen, Outsourcing, Effizienzsteigerung, Optimierung von Arbeitsabläufen und Produktivitätssteigerungen durchzusetzen, die weitreichende Folgen für die Arbeitskräfte haben. In erster Linie dienen die Maßnahmen dazu, die Gewinne und Dividenden zu maximieren (Löhr 2011).

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Übergang im Vergleich zu Ausbildung und erster Berufstätigkeit ausführlich aus. [...] und nach zwei, drei Monaten haben die gesagt: Haben Sie auch Lust, eh- als Berater bei uns zu arbeiten, wir würden das gerne machen, wie sieht das bei Ihnen aus? Ehm- Ich hatte das insgeheim gehofft, aber niemals irgendwie (.) eh- ausgesprochen, da habe ich mich natürlich umso mehr gefreut und so beginnt mein beruflicher Werdegang, als Business-Consult. (2:28-32)

Im weiteren Verlauf der Darstellungen zur beruflichen Laufbahn geht er deshalb auch detailliert auf Arbeitsorte, Unternehmen, Aufgabenbereiche und seine beruflichen Weiterentwicklungen ein. Seine Einsatzbereitschaft und seine Flexibilität sind hoch, häufige Positions- und Ortswechsel führen dazu, dass Mobilität, sowohl geographisch wie sozial, zum zentralen Thema dieser beruflichen Phase wird. Er entdeckt vielseitige und inhaltlich anspruchsvolle Tätigkeiten, die sich hinter dem Label „Unternehmensberatung“ verbergen. Dabei reflektiert er in keiner Weise, welche negativen Folgen die Maßnahmen nach erfolgter Beratung für die Beschäftigten haben können, so dass der Eindruck entsteht, dass er die Seiten gewechselt hat. Während er als Auszubildender in der Werft und als Angestellter am Montageband potentiell von den Einsparungsmaßnahmen der Unternehmen betroffen sein konnte, ist er nun zum Berater und Vermittler solcher Maßnahmen geworden. Die erste berufliche Phase als Facharbeiter ist damit abgeschlossen und wird in ihrer Bedeutung in einer Weise herabgestuft, die keinerlei Solidarisierung mit den Anliegen der Belegschaften der von ihm beratenen Unternehmen zeigt. Dies stellt einen Bruch dar, durch den berufliche Erfahrungen entwertet und negiert werden, während die neuen Aufgabenbereiche als die einzig wahren und immer schon angestrebten aufgewertet werden. Im Vergleich mit den ersten beruflichen Stationen auf der Werft und bei Airbus, nimmt die Darstellung der beruflichen Stationen, auch wenn sie zeitlich nur kurz angedauert haben, breiten Raum ein. Dann eh- ich b-i-n knapp zwei Jahre dort geblieben und von dort aus nach Saarbrücken zu C-AG eh- da habe ich vielmehr im Bereich München, Österreich, Schweiz gearbeitet, im süddeutschen Bereich sozusagen, ehm- dann wieder zurück nach Hamburg zu P., fünf Jahre lang dort, eh- Projekte gemacht im IT-Bereich, [...] aber auch Organisationsberatung, Effizienzberatung unter anderem bei D. hier in Hamburg, bei H. in Hamburg, [...] die hatten auch, ehm- eh- ein- ein interessantes Problem [...] (2:32-28)

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Seine Darstellungsweise setzt einen gemeinsamen Wortschatz und Erfahrungshorizont als gegeben voraus. Über meine späteren Nachfragen nach Berufsbezeichnungen und Arbeitsinhalten zeigt er sich zunächst überrascht, da er ein gemeinsames Spezialwissen über ökonomische Begriffe als Allgemeinwissen voraussetzt. Andererseits ist auch denkbar, dass er über dieses Thema vor allem mit Menschen spricht, mit denen er den beruflichen Wissens- und Erfahrungshorizont teilt. In der beruflichen Hierarchie der Unternehmensberatung steigt er innerhalb kurzer Zeit vom „Junior-Consult“ schrittweise bis zum „Seniormanager“ auf und leitet eigenverantwortlich Projekte im IT und Logistik-Bereich angesehener Unternehmen. Er muss sich innerhalb kurzer Zeiträume auf neue Aufgaben, Kollegen und Arbeitsorte einstellen und darüber hinaus vorgegebene Ziele der Auftraggeber erreichen. Dies bedeutet vor allem, dass er in dieser Zeit häufig unterwegs ist und erfährt eine ihm bisher unbekannte Form der Fremdheit. Und da gab es eine Annonce in der Zeitung, die suchten Berater, und da hab ich so, mit meinem jugendlichen Leichtsinn einfach ´ne Bewerbung hingeschrieben und dann kam, eh- ´ne Einladung nach S., weil sie- eh- eh- de-der Headquarter war ja in S., und da bin ich dann auch hingefahren, zum ersten Mal dann da in S. gewesen und als der Zug so langsam dann die Berge hoch fuhr, da dachte ich, mein Gott, bin ich noch in Deutschland, weil da sah es in dieser Zeit noch ein bisschen komisch aus, muss ich ehrlich sagen. (17:40-46)

Diese Sequenz verdeutlicht einerseits seine Verwurzelung in der ihm seit der Kindheit bekannten Umgebung, andererseits aber auch eine Neugier auf Veränderung, die sich dadurch ausdrückt, dass er sich außerhalb Hamburgs bewirbt. Er ist bereit, seinen Horizont sowohl inhaltlich wie geographisch zu erweitern und vermittelt den Eindruck, alles erreichen zu können, was er sich vornimmt. Dabei verfügt über eine zuverlässige Basis und den Rückhalt seiner Partnerin, die ihn bei seinen Aktivitäten unterstützt und von familiären Pflichten entlastet. Gleichzeitig profitiert die Familie vom Statusgewinn und Einkommenszuwachs. Durch die Erweiterung seines beruflichen Aktionsradius entwickelt er die Vorstellung von Hamburg das zentrale „Headquarter“ und als geographischer Ausgangspunkt seiner beruflichen Karriere. Motivierend wirkt dabei vor allem die Erfahrung, dass die Integration in die Wirtschafts- und Finanzbranche gelingt und Cemal Akkaya sich in die spezifischen Regeln und Normen hineinfindet. Seine ersten beruflichen Erfolge zeigen ihm, dass sein sozialer Aufstieg ausbaufähig ist und in einer transnational vernetzten Geschäftswelt ethnische Grenzziehungen von untergeordneter Bedeutung sind. Trotz der Erfolge werden im Arbeitsalltag erhebliche Belastungen für Cemal Akkaya und seine Familie sichtbar. Es besteht großer Erfolgsdruck und Konkur-

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renz um die Zuteilung von Aufträgen, und die Anpassung an inhaltliche und räumliche Vorgaben in den Unternehmen sowie an die Anforderungen der Auftraggeber wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Während Cemal Akkaya die inhaltlichen Aufgaben als Bereicherung wahrnimmt und sich neuen Tätigkeitsfeldern selbstbewusst stellt, erweisen sich die häufigen Reisen innerhalb Deutschlands und Europas als belastend. Die Position als Senior-Manager ist ohne häufige Abwesenheit aus Hamburg nicht adäquat auszuführen. Damit steht die Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Karriere zur Diskussion. Während seiner Abwesenheit trägt seine Partnerin die alleinige Verantwortung für die Belange des Haushalts und die schulische Entwicklung der Kinder sowie deren Freizeitaktivitäten. Das Familienmodell der Kernfamilie mit in Vollzeit berufstätigem Vater überträgt der Mutter generell in dieser Frage die Hauptverantwortung bei der Organisation des Alltags. Aufgrund ihrer späteren Einreise nach Deutschland verfügt Cemal Akkayas Ehefrau nicht über das institutionalisierte kulturelle Kapital, um den vom deutschen Bildungssystem geforderten Elterneinsatz leisten zu können. Während die jüngste Tochter in dieser Zeit eingeschult wird, beginnt die Adoleszenz der beiden Söhne. Auch dies bringt besondere erzieherische Herausforderungen in den Familienalltag ein. Das weitere familiäre Netzwerk bietet aufgrund der Rückkehr der Eltern keine konstanten Unterstützungsleistungen, auch wenn die Eltern zeitweise in Hamburg leben. Von weiteren Bezugspersonen der Kinder im familiären Umfeld ist nichts bekannt und die Eltern der Ehefrau leben ebenfalls in der Türkei. In dieser Konstellation konzentriert sich die Verantwortlichkeit für die äußeren Angelegenheiten der Familie bei Cemal Akkaya. Zunächst kann der berufliche Erfolg die Nachteile ausgleichen, sein Einkommen und sein Ansehen wachsen und die Familie profitiert finanziell davon. [...] auch wegen Ausbildung unserer Kinder und so weiter, also man musste auch natürlich ein bestimmtes Geld verdienen, muss man auch noch mal sagen, also von daher war das eigentlich nicht so schlimm, sie hat sich also jetzt nicht beklagt oder so, aber schon den Wunsch immer mehr geäußert, eine Alternative zu schaffen, um davon wegzukommen. Aber vielmehr habe ich mich darüber geärgert und eh- und, wie die dann auch immer im sozialen Umfeld, eh- Kollegen laden ein, eh- zur Hochzeit oder wie auch immer, und meine Frau will da alleine nicht hingehen, weil da gehört immer der Mann auch dazu, eh- da kam dann so immer die Momente, wo man das und jenes doch gemacht hätte und das hat mich dann immer mehr überlegen lassen, irgendwie davon wegzukommen. (19:25-32)

Gerade im türkeistämmigen Umfeld der Familie wird von Cemal Akkaya erwartet, dass er die Repräsentation im sozialen Umfeld gemeinsam mit seiner Ehe-

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frau übernimmt. Seine Partnerin fordert seinen Anteil an der sozialen Netzwerkarbeit ein und auch er selbst ist zunehmend unzufrieden mit der häufigen Abwesenheit. Familienfeiern wie Hochzeiten und Beschneidungen sind gesellschaftliche Großereignisse, bei denen soziale Beziehungen bestätigt, gefestigt und ausgebaut werden. Trotz der grundsätzlichen Bereitschaft seiner Ehefrau, ihn von Aufgaben zu entlasten, gelingt dies bei der Außenrepräsentation, die darüber hinaus durch geschlechtsspezifische zeremonielle Abläufe geregelt ist, nur in eingeschränktem Maße. Das Beispiel von Cemal Akkaya verdeutlicht insgesamt, dass kritisch zu hinterfragen ist, in wieweit die umfassende Einbindung in die Arbeitswelt mit der Rolle als Ehemann und Vater zu vereinbaren ist. Häufige Dienstreisen und ständige Einsatzbereitschaft sind gerade in den Managementpositionen Voraussetzungen für beruflichen Aufstieg. Die Konkurrenz erhöht zudem den Druck der Aufstiegsanwärter, so dass die Einsatzbereitschaft auf einem hohen Niveau gehalten werden muss. Am Beispiel von Cemal Akkaya und seiner Familie zeigt sich, dass die sozialen Beziehungen im türkeistämmigen Umfeld die Präsenz beider Geschlechter erforderlich machen. Das familiäre Zeitmanagement und die geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen sind jedoch Konfliktfelder, die in bildungsbürgerlichen Kernfamilien in vergleichbarer Weise diskutiert werden. Die Unzufriedenheit von Cemal Akkaya und seiner Frau ist also auch auf die spezifischen Arbeitsbedingungen seiner Berufsgruppe zurückzuführen und nicht allein auf die besonderen Anforderungen an die soziale Beziehungsarbeit in einem türkeistämmigen Umfeld. Aufstieg, Krise, Neuanfang Insgesamt erreicht Cemal Akkaya einen kontinuierlichen sozialen Aufstieg von dem er und seine Familie insgesamt profitieren können. Seine Einkommenssituation verbessert sich zunehmend, zeitweise hat er sogar einen Dienstwagen und kauft eine Wohnung in einem weniger zentral gelegenen Stadtteil. Die Söhne machen das Abitur und haben damit einen direkten Zugang zum Studium, was für den Vater nur über Umwege möglich war. Die jüngste Tochter ist ebenfalls erfolgreich in der Schule und besucht das Gymnasium. Diese Lebensphase, die sowohl beruflich wie familiär gut verläuft, wird von der grundlegenden Verunsicherung durch die Erfahrung struktureller Barrieren überlagert, durch die der weitere berufliche Aufstieg behindert wird. Cemal Akkaya erfährt diese Diskriminierung nicht offen, sondern nimmt sie dadurch wahr, dass er bei der Auswahl derjenigen, die für den Aufstieg in das mittlere Management vorgesehen sind, nicht berücksichtigt wird. Erstmals führt er an diesem Punkt seiner Biographie die ethnische Herkunft als Grund für den verwehrten Aufstieg an, was dazu

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führt, dass er aus den informellen unternehmensinternen Netzwerken ausgeschlossen bleibt.51 Das ist ein offenes Geheimnis, also, in der Hinsicht ein offenes Geheimnis, dass eh- wenn Sie sich auch zum Beispiel die DAX-notierten deutschen Unternehmen mal anschauen, da werden Sie- da werden Sie keinen (hustet) sorry, keinen ausländischen Namen finden, das sind durchgehend deutsche Topmanager. Ehm- aber davon mal abgesehen, wir reden hier jetzt nicht von der Ebene, das ist sowieso nur die wenigsten Menschen auch den Deutschen gegönnt, sondern wir reden ja jetzt hier von dem mittleren Management. So, und um da rein zukommen müssen Sie auch irgendein eh- ich sag mal, Ziehvater haben, eh wie man einen Doktorvater hat, einen haben, der einen mit in die Kreise hereinbringt. Der sagt, dieser Mann, auf den können Sie vertrauen, weil ne- ich bring ihn mit rein, ich hafte für ihn, also haften nicht aber, ich bin so ´n Referenzträger, so, und dann lassen wir ihn mal gewähren [...] (21:29-46)

Trotz seiner guten Arbeitsergebnisse und dem großen Einsatz, den er im Berufsleben zeigt, gelingt es ihm nicht, Zugang zu den erforderlichen Netzwerken zu erhalten. Die ethnische Kategorie erscheint ihm als einzig mögliche Begründung dafür, ohne dass er konkrete Beispiele präsentieren kann, die diese Annahme belegen. Insgesamt ist zudem die Zahl der verfügbaren qualifizierten Bewerber größer ist als die Anzahl der höheren Positionen, die zu vergeben sind, wodurch die Machtposition der zentralen Gatekeeper in den Unternehmen, die über die informellen Netzwerke eine interne Auswahl vornehmen, überaus groß ist. Zwar befindet sich Cemal Akkaya in der Startposition für das mittlere Management,

51 Von einem „Glass Ceiling Effect“ wird gesprochen, wenn die Aufstiegschancen in höhere Positionen für bestimmte Gruppen wie Frauen und ethnische Minderheiten unabhängig von ihren Qualifikationen und beruflichen Erfahrungen geringer sind (Cotter et al. 2001). Während über die „gläserne Decke“ im Hinblick auf Frauen breit diskutiert wird, finden sich kaum Untersuchungen über vergleichbare Barrieren für ethnische Minderheiten (Peters/Bensel 2002). Seit der Einführung des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) im Jahr 2006 wird verstärkt zum Thema Diskriminierung in der Arbeitswelt geforscht. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Menschen mit nichtdeutschen, vor allem türkischen Namen und muslimischem Phänotypus bei der Stellensuche, am Arbeitsplatz und beim beruflichen Aufstieg benachteiligt sind. Speziell für die mittleren und höheren Positionen der Wirtschaft, wie auch im Bereich der Wissenschaft können aber kaum Aussagen über ethnische Diskriminierung gemacht werden. So betont beispielsweise İlhan Uysal, dass durch die internationale Zusammensetzung des Personals Diskriminierung nicht relevant ist.

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erkennt aber, dass er trotz seines hohen Einsatzes keine Möglichkeit hat, eine höhere Position zu erreichen. [...] und ich kenne viele, eh- Berater, Controller, und, und, und. Und äh (.) immer wenn der Weg von dem einen oder anderen nach Hamburg führt oder ich nach, nach Frankfurt oder sonst wo komme, redet man mit denen, aber auch über die ganz gewöhnlichen Plattformen. Diese Dinge beklagen alle, dass eben die Karrieremöglichkeiten, äh, für diesen Jahrgang, ich bin 44, faktisch nicht da ist. [...] wenn sie eine leitende Position besetzten wollen oder in den Vorstand wollen (..) da holt sich ein Unternehmen eh- Referenz von mehreren, von anderen, mit denen man zusammengearbeitet hat (.) und äh (.) dieses Netzwerk (.) ist praktisch in deutschen Händen, das muss man einfach mal sagen das funktioniert nicht, also für uns funktioniert das nicht, also ehm- [...] (5:4-16)

Aus der Wahrnehmung, dass die Vergabe der Positionen „in deutschen Händen“ ist, leitet er ab, dass die deutschen Vorgesetzten sich ausschließlich für deutsche Mitarbeiter entscheiden werden. Diese Kongruenz sieht er dadurch als erwiesen an, dass er selbst nicht ausgewählt wurde. Damit verortet er sich einem akademisch gebildeten türkeistämmigen Umfeld als zugehörig, in dem eine Vielzahl von Freunden und Bekannten vergleichbare Erfahrungen in der Arbeitswelt machen. Die Zurückweisung wird dadurch aus der singulären Erfahrung des Erleidens von Diskriminierung herausgelöst und führt dazu, dass er sich in seinem beruflichen Alltag stärker als türkeistämmig wahrnimmt und aktiv positioniert. Er intensiviert die Kontakte mit türkeistämmigen Männern und Frauen in vergleichbaren beruflichen Positionen, die ein informelles Netzwerk konstituieren, in dem ein Austausch über individuelle Erfahrungen und alternative Strategien im Umgang mit Barrieren und Diskriminierung stattfindet. Insgesamt jedoch wird das Thema Diskriminierung nicht durch selbst erfahrene Beispiele veranschaulicht, sondern vor allem argumentativ ausgestaltet, so dass das Themenfeld der ethnischen Barrieren als ein aus tagespolitischen Gründen ausgestalteter Nebenschauplatz erscheint. Die hegemonialen Diskurse zum Thema Diskriminierung überlagern im Gespräch mit Cemal Akkaya die persönliche Perspektive auf das Thema. Er vermeidet die Präsentation aus der Perspektive der für ihn biographisch relevanten Erfahrungen. In dieser schwierigen Phase, in der Cemal Akkaya erkennt, dass die Aufstiegsmöglichkeiten begrenzt sind und die Belastungen durch die häufige Trennung das Familienleben stark beeinträchtigen, findet er einen Arbeitsplatz in einem Unternehmen, für dass er ausschließlich in Hamburg arbeitet. Die beruflichen Veränderungen, die er herbeiführt, haben deshalb auch zum Zweck, die negativen Auswirkungen der häufigen Dienstreisen auf das familiäre und soziale

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Leben zu beheben. Bei einem Aufstieg in eine Position im mittleren Management, wären die häufigen Dienstreisen wiederum ein Faktor, der mit dem Zeitmanagement zwischen Beruf und Familie kollidieren würde. Daraus ergibt sich die widersprüchliche Situation, dass einerseits der Anspruch besteht, die Karriere nach den ersten erfolgreichen Jahren weiter auszubauen, andererseits aber Präsenz und Einsatz für die Familie gewährleistet sein soll. Durch den neuen Arbeitsplatz wird er für den verpassten Aufstieg dadurch entschädigt, dass er keine Dienstreisen mehr machen muss, trotzdem aber eine anspruchsvolle Position innehat. [...] wir brauchen einen erfahrenen Mann, der soll hier bei uns, wir haben eine Ausschreibung gemacht bei B., haben wir als Kunden und er soll das Migrations- Migrations-SAPProjekt an der Stelle eh- als Projektleiter äh leiten, die sind überwiegend in Hamburg, sie haben einen Raum, sie haben hier Schreibtisch und das, in diesem Bereich ist es Luxus, so muss man das einfach mal eh- verstehen, und das war ein super Angebot, das Gehalt war auch nicht schlecht. (3:10-14)

Die neue Position bedeutet ein höheres Einkommen und einen weiteren Karrieresprung. Zudem bekommt er einen Dienstwagen gestellt, der als ein besonderes Statussymbol den hohen Wert der Position für das Umfeld sichtbar macht. Dies war bei den vorherigen Positionen, für die er häufig mit Bahn und Flugzeug unterwegs war, weniger der Fall. Allerdings erlebt er in seiner neuen Position bereits nach nur sechs Monaten eine einschneidende berufliche Krise. Er wird entlassen, da das Unternehmen im Zuge der „Finanzkrise“ Stellen abbaut. So, das habe ich auch angenommen und dann haben wir auch angefangen, dann ging es auch recht gut, bis diese Krise kam. Mit der Krise zusammen, wie das bei den meisten Unternehmen ist, haben sich die Unternehmen an Mitarbeitern erleichtert um, nun ja, finanziell sich besser positionieren zu können und das war der Moment [...] (3:14-18)

Zwar bemüht er sich, die Entlassungsgründe jenseits seiner Person und seiner Leistungen zu verorten, trotzdem gerät er in dieser Phase in eine schwerwiegende berufliche Krise. Er vermeidet die Verwendung des Wortes Entlassung in dieser Sequenz und verwendet den Begriff der Krise nicht auf sich selbst, sondern nur in Bezug auf das Unternehmen. Damit bemüht er sich um die äußere Rechtfertigung des unternehmerischen Handelns, das gegen ihn gerichtet ist, aber nicht ihn persönlich treffen soll. Er selbst ist als Person nicht handelnd präsent, sondern dem anonym agierenden Akteur und den makroökonomischen Verhältnissen ausgeliefert. Dadurch erscheint die Entlassung als unpersönliche aber

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scheinbar logisch nachvollziehbare Folge einer nicht zu steuernden gesamtwirtschaftlichen Situation. Dahinter verschwindet die Verantwortung des Unternehmens aber auch seine eigene Verantwortung für die Entlassung, und die subjektiven Folgen für ihn als Mensch bleiben unsichtbar. Dabei ist er persönlich schwer von der Entlassung getroffen. Sein Selbstbewusstsein und seine soziale Rolle als männlicher Alleinverdiener bezieht er nahezu ausschließlich aus seiner Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Seit Beginn der ersten Ausbildung im Jahr 1984 ist er in Vollzeit erwerbstätig. Im Studium ändert sich die Arbeitszeit dahingehend, dass er zusätzlich in Nachtschicht arbeitet. An seinem letzten Arbeitsplatz arbeitet er durchschnittlich zehn Stunden täglich. Als Folge der Entlassung zeigt sein Körper starke Symptome, so dass er sich erstmals ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit macht. Nachdem ihm ein Arzt bestätigt „das ist alles psychisch“ begibt er sich auf die Suche nach neuen Aufgaben und findet, nachdem er sich vom ersten Schock erholt hat, schnell wieder in einen Arbeitsrhythmus zurück. Innerhalb kurzer Zeit organisiert er sich eine Weiterbildung und zeigt einen großen inneren Antrieb zur Überwindung der Krise, die durch die Arbeitslosigkeit ausgelöst wurde. Die Überlegungen zu neuen Tätigkeitsbereichen drehen sich vor allem um die Entscheidung zwischen einer erneuten Tätigkeit als Angestellter und einer Selbständigkeit als Unternehmensberater. Beide Arbeitsformen haben für ihn Nachteile. Während er in seiner Zeit als Angestellter die häufigen Reisen und den Konkurrenzdruck als problematisch erlebt hat, bedeutet der Einstieg in die Selbständigkeit ein hohes finanzielles Risiko, gerade da er als Alleinverdiener für den gesamten Haushalt sorgt. Da er sich dazu überaus stark in seiner Rolle als sozialer Aufsteiger verortet, betrachtet er seine berufliche Laufbahn als lineare Bewegung nach oben. In dieser Phase entdeckt er in der Freiberuflichkeit als „Freelancer“ die erstrebenswerte nächste Stufe auf der Karriereleiter nach oben. Er nimmt eine Uminterpretation vor, die dazu führt, den Angestelltenstatus, der zuvor sein erklärtes Ziel war, abzuwerten und demgegenüber die Vorteile der Selbständigkeit hervorzuheben. Dies geschieht in einer Lebensphase, in der die Erwartungen an ihn hoch sind und die Überwindung der persönlichen Krise seine volle Aufmerksamkeit fordert. Durch das praktizierte Familienmodell sieht er sich in der Verpflichtung zu dauerhafter Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Alle ökonomischen Ressourcen bezieht die Familie aus seinem Einkommen.52 Trotzdem

52 Inwieweit er auch die Eltern, den Bruder und die Verwandten seiner Partnerin in der Türkei finanziell unterstützt, ist unbekannt, es ist aber durchaus denkbar, dass in der Türkei Investitionen in Immobilien und Geschäfte auf seinen Namen und mit seiner finanziellen Unterstützung getätigt wurden/werden.

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ist er sich zum Gesprächszeitpunkt nicht sicher, ob er den Status als Freiberufler dauerhaft erfolgreich beibehalten kann. Parallel habe ich immer mal wieder Probebewerbungen geschrieben und eh- abgeschickt, also ehm- so ungefähr zweimal im Jahr, so Februar und einmal Ende des Jahres, so immer zehn Stück auf bestimmte Sachen rausgesucht und abgeschickt und ehm- und da kam ´ne ganze Ecke auch Absagen, eh- also von diesen zehn Stück, aber man hat mich dann auch zu Einstellungsgespräche eingeladen, und als ich da gesagt habe, ich bin als Freelancer tätig, ehm- hab ich die Erfahrung gemacht, kam das super gut an. Eh- das hatte ich so nicht gewusst, dass man da bei den Arbeitsgebern auch gut punkten kann, das kam auf jeden Fall gut an. Also, ich hab da auch diese Erfahrungen gesammelt, und von daher will ich mich jetzt auch nicht zu sehr wieder in den abhängigen Angestelltenbereich zurückbegeben, sondern will es einfach jetzt mal weiter versuchen. Wenn es doch nicht gehen sollte, da müsste man dann notgedrungen dann wieder zurück. (20:5-14)

Trotz der positiven Selbstsicht als potenziell erfolgreicher Freiberufler nimmt er die Verunsicherungen, die in seiner aktuellen Lebensphase als Selbständiger vorhanden sind, überaus stark wahr. Der Ausgang des Karriereexperiments ist ungewiss, was sich durch seine Versuche, sich nebenbei um Festanstellungen zu bewerben, deutlich wird. Auch wenn er vorgibt, damit seinen aktuellen Marktwert zu testen, ist seine Einkommenssituation als Freiberufler größeren Schwankungen unterworfen. Trotzdem sieht er einen entscheidenden Vorteil darin, unabhängiger im Zeitmanagement zu sein. Er kann sich zudem der erfahrenen ethnischen Benachteiligung im Konkurrenzkampf in den Unternehmen vollständig entziehen. Zudem erhöht sich die Lebensqualität dadurch, dass er überwiegend in Hamburg arbeiten kann. Seine sozialen Netzwerke sind vielfältig und er kann sie für Kooperationen und Projekte als Freiberufler nutzen und ausbauen. Allerdings weisen die Netzwerke eine ethnische Binnendifferenzierung auf. Während er im Geschäftsbereich überwiegend mit deutschen Einzelpersonen und Unternehmen zu tun hat, engagiert er sich in seinem türkeistämmigen Umfeld auch als Ehrenamtlicher.53 In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich intensiv mit den aktuellen Migrationsdiskursen, die auch seine Identitätskonstruktionen stark beeinflussen. Dem liegen Erfahrungen mit Diskriminierung zugrunde, die seine Kinder in der Schule erleben und die Familie im Wohnumfeld erlebt.

53 Er ist in einem Verein aktiv, der Türkeistämmige unterstützt. Um seine Anonymität zu wahren, gehe ich nicht detaillierter auf den Verein ein.

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[...] da haben wir ein Jahr lang mit den Nachbarn zu kämpfen gehabt. Wir haben ein- hmwir haben dort einen kleinen Garten und im Garten lagen alle möglichen Fäkalien, Taschentücher, Zigarettenreste, dann wurde verfaultes Schweinefleisch geschmissen, im Postkasten eh- war eh- eine Damenbinde, ´ne benutzte volle Damenbinde und eh- Pornohefte und eh- ach, alles Mögliche [...] Eh- das erste Jahr haben wir da schon was durchgemacht, eh- meine Frau war auch mit den Nerven fast durch. Wir wären beinah wieder weggezogen, aber wir haben das dann mit der Genossenschaft thematisiert und eh- im Grunde genommen haben die auch keine Lösung gefunden und eh- da habe ich einen Brief geschrieben und dann hab ich mit dem einen oder anderen gesprochen, obwohl wir uns nie irgendwie geschlossen oder distanziert haben und eh- da kam das eine zum Andern und da hat sich das dann einigermaßen beruhigt. (24:23-35)

Vor diesem Hintergrund entwickelt er konkrete Vorstellungen über eine mögliche Rückkehr in die Türkei in eine Position als Freiberufler oder hoch qualifizierter Angestellter. Dies möchte er selbst durchaus als eine Konsequenz aufgrund erfahrener Diskriminierung verstanden wissen. Als Hindernis führt er lediglich den Schulbesuch der Tochter an und zeigt damit im Gegensatz zu seinen Eltern große Rücksicht gegenüber den Interessen seiner Kinder. Die gesundheitlichen Probleme der Eltern im Alter beschäftigen ihn in der Gegenwart sehr. Er sieht sich in der Verantwortung, die Termine bei Ärzten für die Eltern zu regeln und zeigt Verständnis für ihre Sorgen. Da die Eltern über ihren Rentenbezug einen Zugang zur Krankenversicherung in Deutschland haben, findet die Behandlung ihrer Beschwerden in Hamburg statt. Dies bedeutet für Cemal Akkaya eine Mehrbelastung, die ihn auch emotional an die Eltern bindet, während die Beziehung zum jüngeren Bruder in der Türkei überaus distanziert ist. 4.3.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder Cemal Akkaya präsentiert sich als selbstbewusster an der Karriere orientierter Akademiker, der sich intensiv mit seiner beruflichen Weiterentwicklung beschäftigt. Somit steht seine biographische Selbstdarstellung im Fokus des thematischen Feldes ich mache Karriere, und es geht immer weiter aufwärts. Er formuliert klare persönliche Ziele, die er aktiv umzusetzen versucht und präsentiert sich als kompetenten und umfassend gebildeten Mann, Ehemann und Vater. Dabei ist der Fokus immer auf die nächste erreichbare soziale Position in einer linearen Aufwärtsbewegung ausgerichtet. Niederlagen und Krisen werden in diesem Sinne als überwindbare Zäsuren präsentiert, die den Weg zur nächst höheren sozialen Position vorbereiten. Die Karriereorientierung folgt einer scheinbar biographischen Plausibilisierung, durch die er alle getroffenen Entscheidungen als

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selbstverständlich und „normal“ einordnet. Seine Handlungsmotivation bezieht Cemal Akkaya aus den Idealen eines kapitalistischen Leistungs- und Wachstumsdenkens, in dessen Logik der Zuwachs an Produktivität durch entsprechenden Zuwachs an Einkommen und Ansehen honoriert wird.54 Vor diesem Hintergrund ist es das eigenständige Handeln, das über den individuellen Erfolg entscheidet. Dahinter steht die Auffassung, dass eine grundsätzliche Gleichheit und Gleichwertigkeit beim Zugang zum beruflichen Ansehen und sozialem Aufstieg besteht. Die erfolgreiche Selbstvermarktung ist ein wesentliches Kriterium, das er für die Anerkennung seiner beruflichen Leistungen zugrunde legt. Seine Positionierung als „Business-Consult“ bedeutet dabei eine überaus unreflektierte Übernahme des Wertesystems der Marktökonomie. Dabei betont er immer wieder, wie sehr er sich engagiert, um seinen sozialen Status auszubauen und die beruflichen Möglichkeiten zu erweitern. Diese Bemühungen erfolgen aber nicht allein aus inhaltlichen Interessen, sondern werden als notwendige Schritte im Sinne eines „Abarbeitens“ vollzogen, die die Übergänge zwischen den sozialen Positionen markieren. Dies steht im Kontrast zum Bild des selbstbestimmten und an den Arbeitsaufgaben interessierten Unternehmensberaters. Die entscheidende Zäsur seiner beruflichen Entwicklung ist dabei der Moment, als es ihm gelingt, einen Studienplatz zu erhalten. An diesem biographischen Wendepunkt setzt ein Prozess ein, durch den er den Habitus des Einwandererkindes ablegen kann, und sich als überzeugend auftretender, eloquenter Hochschulabsolvent positioniert. Aus dieser Perspektive erfolgt auch die Präsentation seiner Lebensgeschichte, die eine überaus starke individualisierte und scheinbar „ethnizitätsfreie“ Fokussierung aufweist. In seiner Familie erreicht er als erster einen akademischen Abschluss. Diese Leistung betont er nicht im Kontext der Lebensgeschichte und Lebensleistungen der Eltern, sondern verortet sie vielmehr in seine Vorstellungen vom machbaren kontinuierlichen sozialen Aufstieg. Dabei vergleicht er sich mit denjenigen, die ungeachtet ihrer Herkunft einen vergleichbaren Abschluss haben. Die erste berufliche Phase in der Werft und bei Airbus betrachtet er als abgeschlossen und nicht mehr relevant, da durch die biographische Zäsur eine entscheidende berufliche Neuorientierung erfolgt ist. Die Entlassung und die darauffolgende Umorientierung auf eine neue Arbeitsform als „Freelancer“ stellen einen zweiten biographischen Wendepunkt dar, der durch einen Bruch eingeleitet wird. Diese Krise deutet er als eine rein äußere

54 Dazu sagt Sighard Neckel (2008: 48/49): „In der bürgerlichen Gesellschaft, deren Ideal die askriptive Neutralität gegenüber allen natürlichen Merkmalen und Herkunftskategorien ist, wird kulturelles Kapital am Maßstab der ‚Leistungen‘ verrechnet, die eine Person beim Erwerb von Fertigkeiten und Wissen erbringt.“

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makroökonomische Krise, so dass das individuelle Erleben des biographischen Bruchs in den Hintergrund tritt. Die Entscheidung zur Selbständigkeit erfolgt im Rahmen ihrer Neudeutung als konsequente Weiterentwicklung der erfolgreichen beruflichen Laufbahn. Während er bis zur Entlassung an seinem Aufstieg als Angestellter gearbeitet hat, wird dieser Status in seinem Prestige dem Status des Freiberuflers untergeordnet, so dass auch hier wieder der Eindruck der kontinuierlichen Aufwärtsbewegung seiner Karriere entsteht. Aufgrund seiner Selbstpräsentation als erfolgreicher Deutscher mit Migrationserfahrung, blendet er ethnische Kategorien und ihre Folgen für den sozialen Aufstieg zunächst aus. Strukturelle Barrieren und ethnische Diskriminierung sind jedoch ein Feld, mit dem er sich aufgrund der Erfahrungen, die er in der Arbeitswelt und im privaten Bereich macht, beschäftigen muss. Angesichts der sich verschärfenden Konkurrenz um Positionen und damit verbundene Macht der Gatekeeper, nimmt er die Bedeutung der ethnischen Komponente in der Gegenwart verstärkt wahr. Im Zusammenhang mit der Krise der Entlassung entwickelt Cemal Akkaya eine Vorstellung von einer „gläsernen Decke“, die seinen weiteren Aufstieg verhindert. Er stellt ausführlich argumentativ dar, dass er aufgrund seiner Herkunft von „deutschen Netzwerken“ ausgeschlossen wird, die die höheren Posten ausschließlich unter „Deutschen“ verteilen. Zurückgeworfen auf das Merkmal türkeistämmig, ist er verunsichert und gezwungen, die Relevanz von Herkunft in die von ihm als ethnizitätsindifferent konzipierte „Businesswelt“ einzubeziehen. Dies führt zu einer ernüchterten Haltung und zu Verunsicherungen, durch die er seine eigene Machtlosigkeit wahrnimmt und sich den Entscheidungen einer deutschstämmigen Mehrheit ausgesetzt sieht. Eine Strategie im Umgang mit der Unsicherheit besteht darin, sich verstärkt für die sozialen Netzwerke türkeistämmiger Akademiker zu interessieren. Aufgrund vergleichbarer Erfahrungen beim sozialen Aufstieg teilt er mit ihnen eine grundsätzliche Unzufriedenheit über die Karrierechancen in Deutschland. Durch die transnationale Ausrichtung dieses Netzwerks und die hohe Mobilität rückt auch die Türkei als interessantes Arbeits- und Aktionsfeld stärker in den Mittelpunkt des Interesses.55 Allerdings unterliegt dieser positive Blick auf die beruflichen Möglichkeiten in der Türkei einer Trübung durch die am Beispiel Diskriminierung im Alltag deutlich werdende Resignation. Somit ergeben sich im Bereich Familienleben und Bildungslaufbahn der Kinder Verunsicherungen darüber, ob sich der soziale Interaktionsraum vorrangig auf Hamburg als „Headquarter“ konzentrieren soll, oder ob in Zukunft Veränderungen vorgenommen werden sollen. Dies steht

55 Vgl. dazu den Artikel von Kristina Karasu (2010) mit dem Titel „Nie wieder braver Türke“ über erfolgreiche hoch qualifizierte Rückwanderer in die Türkei.

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im Kontrast zur Selbstpräsentation als in Hamburg verwurzelter Mann, der von dort aus seine Außenposten managt. Cemal Akkaya präsentiert sich als Mann, der hohe Erwartungen an sich selbst stellt und den Eindruck vermittelt, dass er einen impliziten Auftrag seiner Eltern zu erfüllen hat. Seine individuelle Auseinandersetzung mit der Elterngeneration und deren Rechtfertigungsstrategien bezogen auf Trennungserfahrungen und ökonomischem Misserfolg ist biographisch relevant. So ist er zur frühen Übernahme von Verantwortung für die gesundheitlich angeschlagenen und ökonomisch wenig erfolgreichen Eltern bereit, um das begonnene Familienprojekt Migration erfolgreich weiterzuführen, indem er sich durch das Erreichen eines hohen Bildungsniveaus und damit verbundenem Statusgewinn aus der Rolle des Sohnes aus einer Einwandererfamilie herausarbeitet. Dies führt allerdings dazu, dass er sich hohen Erwartungen gegenübersieht, die an ihn als den Hauptversorger von Ehefrau und Kindern gestellt werden. Er betrachtet es als erforderlich, seinen Kinder die ökonomischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit sie mit den Kindern der mehrheitsdeutschen Mittelschicht mithalten zu können. Cemal Akkaya ist die zentrale Instanz, die die Verteilung der ökonomischen, zeitlichen und emotionalen Ressourcen regelt. Seine Ehefrau erwirtschaftet kein Einkommen, die Eltern haben nur eine geringe Rente und der Bruder verfügt über keinen qualifizierten Berufsabschluss. Somit steht Cemal Akkaya hohen Erwartungen anderer gegenüber, die davon ausgehen, dass er als guter Sohn, Ehemann und Vater den familiären Anforderungen gerecht wird. Ebenso resultieren aus dem hohen Einsatz, den Cemal Akkaya für seine Familie zeigt, Erwartungen an seine Kinder und an seine Partnerin. So ist seine Ehefrau ausschließlich für die häusliche Versorgung von Ehemann und Kindern zuständig und erwirtschaftet kein Erwerbseinkommen.56 Auch wenn sie aufgrund ihrer späteren Einreise über schlechtere Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt verfügt, so setzt Cemal Akkaya voraus, dass sie keine Erwartungen an eine Erwerbsbeteiligung hat und mit ihrer Rolle dauerhaft zufrieden ist. Die Kinder sind noch in der Ausbildung, aber mit wesentlich besseren Startvoraussetzungen als Cemal Akkaya sie hatte. Als leistungsorientierter Vater wünscht er sich für seine Kinder akademische Berufe mit hohem Ansehen und Aufstiegschancen, für die Söhne im Bereich Technik und Ökonomie und für die Tochter im Bereich Medizin. Die Söhne sind diejenigen, von denen er eine Fortführung und Ausbau des vom Vater erreichten sozialen Aufstiegs erwartet. Damit kann

56 Sie arbeitet lediglich während seines Studium zeitweise als Aushilfe, also in einer Zeit, in der Cemal Akkaya weniger verdient als vorher.

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sich Cemal Akkaya innerhalb der für ihn relevanten sozialen Bezugsrahmen als Vater bildungserfolgreicher Söhne präsentieren.57 Cemal Akkayas biographische Selbstpräsentation steht in einem Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz. Während in der familiären Konstellation eine emotionale Nähe die frühen Trennungserfahrungen ausgleichen soll, erfolgt in beruflicher Hinsicht eine individualisierte Auseinandersetzung mit dem prekären Status der Eltern, der durch einen Bildungsaufstieg überwunden wird. Parallel zur biographischen Auseinandersetzung mit dem ökonomisch schwachen und gesundheitlich angeschlagenen Vater erfolgt eine Überbetonung der eigenen Vitalität und Selbstwirksamkeit, die sich in der umfassenden Karriereorientierung und dem Anspruch an die zentrale Rolle als umfassender Familienversorger ausdrückt. Während sein Vater und dessen Generation mit körperlich anstrengenden und geistig wenig anspruchsvollen Tätigkeiten zurechtkommen mussten, gelingt Cemal Akkaya der Aufstieg jenseits der tradierten Normalbiographie eines Einwandererkindes und den damit verbundenen Erwartungen und Barrieren. Dabei betont er die Leistungen und die Opferbereitschaft seiner Eltern nicht in besonderer Weise, vermittelt aber auch nicht den Eindruck, sich ihrer schämen zu müssen oder sie abzulehnen.58 Cemal Akkaya sammelt in einem relativ kurzen Zeitraum berufliche Erfahrungen in grundlegend verschiedenen Bereichen. Die berufliche Ausbildung bietet ihm einen Einstieg in die Arbeitswelt und bildet die Grundlage seines Lebensweges als erwachsener Mann und Vater. Allerdings erfolgen die Auswahl und die mehrjährige Berufspraxis unter dem Einfluss von pragmatischen Gesichtspunkten angesichts schwieriger struktureller Rahmenbedingungen. So ist es zunächst wichtig, überhaupt eine Ausbildung vorweisen zu können und aufgrund der frühen Heiratspläne steht zunächst der Gelderwerb im Vordergrund des Arbeitslebens. Eine dauerhafte Tätigkeit in einem technischen Beruf in der Montage und am Fertigungsband kann er sich nicht vorstellen. Seine Vorstellung von Arbeit geht in die Richtung einer Angestelltentätigkeit, bei der intellektuelle Fähigkeiten eingebracht und individuelle Kompetenzen angeeignet und gestaltend umgesetzt werden können. Hier zeigt sich eine Parallele zur beruflichen Entwicklung des Vaters, der nach Auffassung seines Sohnes gegen seinen Wil-

57 Angesichts der öffentlichen Debatten gerade über die Schwierigkeiten von Jungen mit Migrationserfahrung im Bildungssystem kann Cemal Akkaya dies als besonderen persönlichen Erfolg verbuchen. 58 Im Vergleich dazu präsentiert zum Beispiel Sinan Koç die Geschichte der Vorgenerationen ausführlich und entwickelt sein Selbstbild in der Gegenwart maßgeblich darüber, während İlhan Uysal die Arbeiterbiographie der Eltern als „nichts“ entwertet.

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len zum Industriearbeiter degradiert wurde. Auch Cemal Akkaya möchte nicht dauerhaft in handwerklich-technischen Bereichen der Industrie arbeiten. Während der Vater aber aufgrund der strukturellen Unmöglichkeit, aus den belastenden Arbeitsverhältnissen herauszukommen, krank wird und sich geschwächt zurückzieht, kann sein Sohn einen kontinuierlichen beruflichen Aufstieg realisieren. Die Mutter ist in dieser Konstellation diejenige, die durch ihren dauerhaften beschwerlichen und gesundheitsschädigenden Arbeitseinsatz beiden Männern der Familie, die Umsetzung ihrer Wünsche ermöglicht. Beim Vater ist dies der frühe Rückzug aus dem Erwerbsleben und die Rückkehr in die Türkei und dem Sohn eröffnet sie die Möglichkeit des frühen sozialen Aufstiegs und der Ablösung aus dem elterlichen Haushalt. Im Anschluss daran geht die Verantwortung für die erweiterte Familie von der starken Mutter auf den gestärkten guten Sohn über, der ihr dafür Respekt und Dankbarkeit entgegenbringt. Cemal Akkaya wendet sich in seiner beruflichen Entwicklung von den handwerklich-technischen Berufen ab, die zunächst für die Söhne der Einwanderer als umsetzbar und praktikabel erscheinen, da sie an berufliche Vorerfahrungen der Väter anknüpfen, sowie soziale Anerkennung und Einkommen für eine Familiengründung bereitstellen. Während er im Vergleich mit anderen Migranten der zweiten Generation und der Elterngeneration einen durchaus anerkennenswerten Aufstieg geschafft hat, erscheint die Entwicklung vom Facharbeiter im Industrieunternehmen zum Unternehmensberater als biographischer Makel. Die zurückhaltende Thematisierung der ersten beruflichen Stationen erfolgt vor dem Hintergrund, dass die diskontinuierliche Laufbahn nicht mit der prototypischen Normalbiographie des Unternehmensberaters vereinbar scheint. Auch sein Erscheinungsbild im legeren „Businesslook“ mit Hemd, Pullover, Blouson und Handgelenktasche bildet einen starken Kontrast zum Bild des ehemaligen Werftarbeiters, an den er sich zu keinem Zeitpunkt unseres Gesprächs anzunähern bereit ist. Diese innere und äußere Abgrenzung ist auch deshalb erforderlich, da er sich in seiner Position als Unternehmensberater mit Rationalisierungen und Personalkürzungsmaßnahmen beschäftigt, die eben genau die Berufsgruppen betreffen können, zu denen er selbst und vor allem seine Eltern gehört haben und von deren Folgen vor allem die gering qualifizierten Beschäftigten betroffen sind. Diesen Zusammenhang seiner früheren und gegenwärtigen Tätigkeiten blendet er jedoch vollständig aus, so dass er beide berufliche Phasen als vollständig getrennt wahrnimmt und keine Beziehungen herstellt. Um den sozialen Aufstieg zu erreichen, ist er bereit, ein hohes Risiko einzugehen und verzichtet auf ökonomische Sicherheit für seine Familie und muss auch damit rechnen, dass seine Pläne scheitern. Hier jedoch zeigt er ein großes Maß an Risikobereitschaft, da er sich aufgrund der in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen sicher ist, seine Ziele

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erreichen zu können, wenn er sich nur genügend anstrengt. Erst in dem Moment, in dem er den nächsten Karrieresprung ins mittlere Management plant, stößt er an Grenzen. Angesichts der Barrieren, die neben anderen Faktoren ihren Ursprung in einer ethnischen Diskriminierung haben können, konstruiert er sich als Opfer von informellen Netzwerken, die er als ethnisch geschlossen wahrnimmt. Damit lässt er allerdings weitere Lesarten des Ausschlusses, wie beispielsweise die große zahlenmäßige Konkurrenz um wenige Posten und möglich Lücken in seiner Qualifikation nicht gelten. Vor allem im Hinblick auf seine Qualifikation sieht er keinerlei Anlass dazu, selbstkritisch die eigenen Fähigkeiten als Unternehmensberater zu hinterfragen. Somit stellt er sich als vollständig und umfassend ausgebildeten Akademiker dar, der für alle höheren Positionen qualifiziert ist. Angesichts dieses hohen Grades an Selbstbewusstsein erscheint die Zurückweisung umso härter und bedrohlicher für eine positive Selbstverortung in der Arbeitswelt. Sein Interesse am weiteren beruflichen Aufstieg ist groß, so dass die Anfälligkeit für die Enttäuschung über ethnische Schließungen umso stärker wirksam werden kann.

4.4 M EHMET O KTAY – „I CH HÄTTE DASS ES SO GUT KLAPPT “

NICHT GEDACHT ,

4.4.1 Interviewkontext Der Kontakt zu Mehmet Oktay kommt über einen seiner älteren Brüder zustande, der sich auf meine Gesprächsanfrage hin meldet. Ich fahre in die oberbayerische Kleinstadt und führe das erste Interview mit dem älteren Bruder in der Wohnküche eines Einfamilienhauses. Es ist Freitagnachmittag und während des Gesprächs treffen seine Töchter und seine Partnerin zu Hause ein. Auch Mehmet Oktay kommt gemeinsam mit seiner Ehefrau dazu und hat sich Zeit für ein Gespräch genommen. Die Atmosphäre ist familiär, im angrenzenden Wohnzimmer gibt es Tee, Kaffee und einen kleinen Imbiss, die Einstimmung auf das Wochenende beginnt. Die Hintergrundgespräche finden überwiegend im Alltagsdialekt/Umgangssprache der Region statt, gelegentlich wird ins Türkische gewechselt. Mir werden neugierige Fragen zu meinem Forschungsprojekt gestellt und wir sprechen auch über private Themen. Dadurch bin ich ein Gast, der in den Familienabend einbezogen wird, bin jedoch auch mit einem offiziellen Anliegen vor Ort. Die Gespräche finden in räumlicher Trennung im Küchenbereich statt, die Personen im Wohnbereich sind aber gelegentlich bei Rückfragen und ein-

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rahmenden Dialogen, aber auch beim Nachschenken von Tee und Kaffee in das Interview eingebunden. Mehmet Oktay spricht im Alltag die regionale Umgangssprache der Region in Oberbayern, in der er aufgewachsen ist.59 Aufgrund meiner Unkenntnis der sprachlichen Besonderheiten bemüht er sich um eine Anpassung an die hochdeutsche Standardsprache. Aufgrund dieser Differenzerfahrungen, die aus meiner Fremdheit resultieren, wird das Thema deutsche Sprache und ihre Dialekte in unserem Gespräch stärker thematisiert als dies in Interviews der Fall war, die in Nordrhein-Westfalen und Hamburg stattgefunden haben. Eine weitere Besonderheit des Gesprächs ergibt sich durch die Integration in den Familienalltag. Ich kann die Interaktionen innerhalb der Familie beobachten und es sind weitere Personen anwesend, über die in den Interviews gesprochen wird. Zudem kann ich die Interaktionen mit dem älteren Bruder verfolgen, in dessen Interview sich Mehmet Oktay bei seinem Eintreffen einmischt. Herr N.: Manche habe dann VorurteileMehmet Oktay: Ja, sehr viele- sehr viele haben dann diese Vorurteile. Dann wenn manHerr N.: Du bist gar nicht dranI: (lacht) Mehmet Oktay: -wenn man, das nächsteHerr N.: (lacht) Mehmet Oktay: -den nächsten sagt, dann merkt man das gleich. Herr N.: (lautes Lachen) Mehmet Oktay: Ne- ich wollte jetzt einfach (Wörter) Herr N.: Also, wenn wir mit unserer Familie zusammenkommen, bei meinen Eltern oder sonst irgendwo, redt nur er. Mehmet Oktay: Ah, geh, so ´n Schmarrn. (Auszug aus der Audiodatei des Gesprächs mit Herrn N.)

Diese Sequenz verdeutlicht die Interaktion in der Familie, die sehr offen und direkt ist und ganz selbstverständlich in der lokalen Umgangssprache geführt wird. Durch die Integration der Interviews in den Familienalltag werden von beiden Männern im Gespräch die Bereiche Familie, Kindererziehung und Partnerschaft detaillierter ausgeführt, als dies in den Gesprächen mit Männern der Fall ist, die im öffentlichen Raum oder in der Arbeitsumgebung stattfinden. So spricht der ältere Bruder über seine wegen Erwerbstätigkeit häufig abwesende Ehefrau und

59 Es ist eine Variante des Mittelbairischen, dem Dialekt dieser Region, mit weiteren regionalen Ausprägungen (Renn 2009).

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Mehmet Oktay beschäftigt sich bereits in seiner Eingangserzählung ausführlich mit seiner bikulturellen Ehe.60 4.4.2 Familienkonstellation Die Familie von Mehmet Oktay stammt aus einem Dorf in der Westtürkei. Einkommensgrundlage ist die Landwirtschaft, die die Eltern gemeinsam in der patrilokalen Familie betreiben. Der Vater absolviert die fünfjährige Grundschule, die Mutter geht nicht in die Schule und ist nicht alphabetisiert. Die drei älteren Brüder von Mehmet Oktay werden zwischen 1965 und 1970 in der Türkei geboren. 1970 überlebt die Familie ein schweres Erdbeben und wohnt einige Zeit im Zelt. Im selben Jahr geht der Vater allein nach Deutschland. Er arbeitet auf Baustellen im Raum München. Ab 1972/73 arbeitet er bei BMW im Schichtbetrieb. Die Brüder leben mit der Mutter acht Jahre im Dorf im Haushalt der Eltern des Vaters. Die Mutter arbeitet in der Landwirtschaft und im Haushalt. 1978 kommt die Mutter mit zunächst zwei Brüdern nach München – der Älteste kommt Anfang der 1980er Jahre nach. Bereits nach wenigen Wochen in München zieht die Familie in eine größere Wohnung in einem Dorf in Oberbayern. Der Vater pendelt zur Arbeit bei BMW in München. Er ist durchgehend im Schichtbetrieb am Montageband tätig und an seinen Arbeitstagen gut zwölf Stunden von zu Hause abwesend. Der Vater wird als die entscheidende familiäre Instanz präsentiert, die über die Migration und die Strukturierung des Familiennetzwerkes entscheidet. Er ist der Pioniermigrant der Familie, der in ökonomisch schwierigen Zeiten insgesamt acht Jahre von der Familie getrennt in Deutschland lebt und arbeitet. Damit kennt er sich zunächst besser aus, organisiert die Familienzusammenführung und entscheidet, wo die Familie wohnt. Von 1972 bis zur Verrentung ist er durchgängig erwerbstätig, er ist weder arbeitslos, noch erfolgen berufliche Weiterentwicklungen und Neuorientierungen. Die Frage, ob der Vater zufrieden war, beantwortet sich Mehmet Oktay, indem er dessen Verdienst betont. Der war auch- ge- geschweißt hat er glaube ich, jahrelang. Aber das ist halt, wenn man ein Land sieht, glaube ich, wo man froh ist, dass man die Familie über Wasser halten kann, dann opfert man sich einfach für die Familie auf, und (.) das hat mein Vater schon an dem Tag gewusst, dass er so etwas macht, an dem er gesagt hat, ich gehe nach Deutschland als

60 Dies steht auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Herkunft meines deutschtürkischen Doppelnamens, der auf eine binationale Konstellation in meinem Leben hinweist.

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Gastarbeiter, weil er gesagt hat, ich opfer mich, dass es meiner Familie besser geht und das hat er voll durchgezogen, bis er in die Rente gegangen ist. Er hätte auch vieles anderes machen können, aber, er hat sich das auch nicht getraut, was anderes zu machen. (21:1420)

Der Fleiß und die Disziplin des Vaters werden besonders hervorgehoben. Damit wird er als idealtypischer „Gastarbeiter“ ohne eigene Bedürfnisse und Interessen präsentiert, dessen Lebensleistung die kommenden Generationen respektieren und achten. Dabei wird er als überaus gesund und vital dargestellt, gesundheitliche Beschwerden aufgrund der hohen Arbeitsbelastungen im Schichtdienst spielen keine Rolle. Trotzdem finden sich im Interview Hinweise darauf, dass sich die Rolle des Vaters innerhalb der Familie im Zuge der Migration verändert. Während er in der Zeit der Familienzusammenführung das unangefochtene Oberhaupt der Familie ist, geht die Verantwortung im Laufe der Zeit verstärkt auf die älteren Söhne über.61 Mehmet Oktay empfindet großen Respekt und Achtung vor dem Vater und setzt sich mit den Erwartungen an die Einhaltung von sozialen und kulturellen Regeln und Normen im Bereich der sozialen Beziehungen auseinander, als es darum geht, seine Beziehung zu einer nichttürkeistämmigen Frau gegenüber dem Vater zu legitimieren. Der soziale und historische Bezug zur Türkei und zur ethnischen Identität als Türke wird in erster Linie über den Vater hergestellt, der als zentraler Informant zu diesen Themen herangezogen wird. Dabei entwickelt sich jedoch im Hinblick auf seine Zuverlässigkeit als Quelle zunehmend eine kritische Haltung. Mehmet Oktay präsentiert ihn als überaus „stolzen Türken“, der sich daran erfreut, in Diskussionsrunden weltbewegende Erfindungen und Verdienste wie die Erfindung der Glühbirne und die Entdeckung Amerikas den Türken bzw. Osmanen zuzuschreiben, auch wenn sich dafür keine ernst zu nehmenden Quellen finden lassen.62 Einerseits wird durch den Vater damit ein kontinuierlicher Türkeibezug hergestellt, der den nachfolgenden Generationen einen Zugang zu Informationen

61 So wundert sich der ältere Bruder, Herr N., im Gespräch über seine frühere Bewunderung für die Deutschkenntnisse des Vaters. Gegenwärtig erledigt der Vater seine Angelegenheiten ausschließlich in Begleitung von Kindern und Enkeln, die für ihn dolmetschen. Dementsprechend wird bei Familienzusammenkünften mit den Eltern türkisch und ohne die Eltern überwiegend deutsch gesprochen. 62 Ähnliche Vaterfiguren finden sich in der Alltagskultur im Buch von Jan Weiler „Maria, ihm schmeckt´s nicht“ und im Film „My big fat Greek Wedding“, in dem der griechische Vater in den USA alle Erfindungen den Griechen zuschreibt und alle Wörter auf einen griechischen Ursprung zurückführt.

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vermittelt, andererseits zeigt sich, dass wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch und die ungewöhnlichen Schlussfolgerungen des Vaters nicht unbedingt zusammenpassen. Der Vater wird als ältestes männliches Mitglied für seine Leistungen geehrt und ist das emotionale Bindeglied zum gemeinsamen Herkunftskontext Türkei, der die geographisch-kulturelle Ausgangsbasis für die kollektiv erinnerte Familiengeschichte darstellt. Auch bei Angelegenheiten, die Erziehungsvorstellungen und die Partnerwahl betreffen, zeigen sich veränderte Bewertungen der Rolle des Vaters. Der älteste Bruder wird im Alter von 18 Jahren in eine Ehe gedrängt, die nach einigen Jahren scheitert und damit zu innerfamiliären Komplikationen führt. Der Vater argumentiert bei der Verheiratung mit der Sorge um die Zukunft seines Sohnes, der sich nicht regelkonform verhält. Er erwartet, dass der Sohn durch die Heirat „erwachsen“ und „vernünftig“ wird.63 In der Wahrnehmung Mehmet Oktays erkennt der Vater an diesem Konflikt, dass eine frühe Verheiratung in der Gegenwart keine Garantie für eine lebenslange Verbindung mehr darstellt. Am Beispiel von Mehmet Oktay zeigt sich dann im biographischen Verlauf, dass die Frage, wann eine Ehe mit welcher Partnerin geschlossen werden soll, zu einem wichtigen biographischen Thema wird. Er selbst ist durch die familiären Konflikte stark verunsichert und entwickelt nur langsam eigene Vorstellungen zur Partnerwahl. Diese Verunsicherung resultiert aus der Wahrnehmung, dass sich der Vater als unzureichend vorbereitet auf seine Vaterrolle sieht und Mehmet Oktay erinnert dazu einen Dialog mit dem Vater zum Thema Erziehung. [...] sagt mein Vater: Ich habe es nie gelernt, wie ich ein Vater sein sollte, mein Vater hat es mir nicht gezeigt, ich habe nicht gewusst, was richtig und falsch ist, es ist eigentlich, je mehr Kinder man hat, umso perfekter wird es bis zum Schluss, beim ersten Kind, beim zweiten kann jeder selber Erziehung und es war nicht wichtig wer in die Schule geht oder was der macht, bei den Brüdern, das hat sich so im Nachhinein entwickelt, dass diese Werte immer wichtiger wurden. Wenn ich noch drei Kinder hätte, die wären noch besser, hätte ich noch besser erzogen, aber hat er leider (Wörter) jetzt nachhinein gesehen, sagt er war es vielleicht, deswegen haben sie sich bei mir sich zurückgehalten und haben gesagt, mach was du willst, so ungefähr, das war wahrscheinlich das Gute daran. (13:12-20)

Im Verlauf der Erfahrungen, die der Vater nach der Migration macht, verändert er seinen autoritären Erziehungsstil, durch den er über das Leben seiner Söhne

63 Die Disziplinierung durch Heirat beschreibt auch Ahmet Toprak (2005: 115f.) als ein mögliches Vorgehen, wenn die Eltern aufgrund des Verhaltens ihrer Söhne Schaden für ihr gesellschaftliches Ansehen befürchten.

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zu bestimmen versucht hat dahingehend, dass er sagt, „mach, was du willst“ also der Wechsel in das andere Extrem, einer Haltung des Laissez-faire. Dies geschieht jedoch eher in Form eines Rückzugs aus der Verantwortung für seine Kinder, da ihm die Instrumente zur Durchsetzung seiner Vorstellungen fehlen und er damit Macht und Einfluss auf das Leben seiner Kinder verliert.64 Die älteren Brüder erhalten dadurch ein hohes Maß an Eigenverantwortung übertragen, können aber bei Schwierigkeiten und Problemen innerhalb des engen familiären Netzwerkes Unterstützung und Rat einholen. Der Vater wird damit von seiner umfassenden Verantwortung als alleinige Autorität entlastet, muss sich allerdings damit arrangieren, dass seine Söhne kulturelle und soziale Regeln und Normen, die im Kontext der ländlichen Türkei Gültigkeit hatten, nicht unverändert in ihre Familien übernehmen.65 Die Mutter von Mehmet Oktay hatte vor der Migration als Schwiegertochter im Haushalt des der Familie ihres Ehemannes schwere Feld- und Hausarbeit zu erledigen und war darüber hinaus acht Jahre ohne Ehemann mit den Söhnen im Haushalt der Schwiegereltern. Mehmet Oktay hebt besonders hervor, dass sie sich nicht gut mit der Schwiegermutter verstanden hat, da diese darauf bestand, die Kinder zu versorgen, damit die Mutter auf den Feldern arbeiten kann. Diese Erfahrung präsentiert Mehmet Oktay als Begründung für die besondere Zuwendung der Mutter, die er als das einzige in Deutschland geborene Kind der Familie erhält. Die Migration bedeutet für sie eine erhebliche Arbeitserleichterung. Sie kann auf moderne Geräte in einem elektrifizierten Haushalt zurückgreifen und ist nicht mehr für die Produktion von Nahrungsmitteln zuständig. Nachteilig wirkt sich jedoch aus, dass sie über keine institutionalisierte Bildung verfügt und keine Angebote gemacht werden, durch die sie ihre Bildungsdefizite nach der Migration ausgleichen kann.

64 „In der Erziehung herrschen entweder absolute Strenge oder absolute Grenzen- und Regellosigkeit vor. Diese Mischung aus autoritärem Erziehungsstil und Laisser-faire führt zu einer unsicher-gebundenen Bindung.“ (Atabay 2010: 71) 65 Daraus resultiert beispielsweise die ambivalente Situation, dass Herr N. die abendlichen Freizeitaktivitäten und kurzen Röcke seiner erwachsenen, unverheirateten Töchter toleriert, sich aber durchaus kritisch zu den damit einhergehenden Herausforderungen als Vater äußert. Er nimmt wahr, dass sein Einfluss schwindet und er sich damit abfinden muss, dass seine Kinder eigenständige Entscheidungen treffen. Gleichzeitig aber präsentiert er sich als stolzer Vater, der die beruflichen Erfolge der Töchter besonders herausstellt und ihre ökonomische Unabhängigkeit als überaus positiv hervorhebt.

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Insgesamt beschreibt Mehmet Oktay seine Mutter als eine fürsorgliche, aber auch abhängige Frau, die außerhäusliche Angelegenheiten nicht eigenständig regeln kann. Die Erwartungen an sie beschränken sich auf die häusliche Versorgung. Als Gegenleistung wird ihr Respekt entgegengebracht und Begleitung bei Angelegenheiten außer Haus zur Verfügung stellt. Bei wichtigen Entscheidungen ist sie keine direkt benannte Akteurin und alle wesentlichen familiären Entscheidungen präsentiert er aus der Perspektive seines Vaters. Als jüngster Sohn verbringt er viel Zeit mit seiner Mutter, da die Brüder bereits wesentlich älter als er sind; sie sind bei seiner Geburt bereits zehn, zwölf und vierzehn Jahre alt. Dieser erhebliche Altersunterschied ist für seine Stellung innerhalb der Familie biographisch relevant. So verbringt er nur einen relativ kurzen Zeitraum gemeinsam mit seinen Brüdern. Der älteste Bruder heiratet als Mehmet Oktay vier Jahre alt ist und zieht in eine eigene Wohnung. Als Mehmet Oktay sechs Jahre alt ist, heiratet der zweite Bruder und der dritte Bruder heiratet zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch nicht zehn Jahre alt ist. Der Vater arbeitet im Schichtdienst mit langen Fahrzeiten, so dass Mehmet Oktay als behütetes „Einzelkind“ seiner fürsorglichen Mutter aufwächst. Dies bringt Nähe, aber auch Verpflichtungen und die Erfahrung, dass die Mutter in der Öffentlichkeit als fremd wahrgenommen wird. [...] wenn meine Mama dahin kommt mit Kopftuch und bedeckt und alle anderen Frauen sind ganz normal und meine Mama hat mir dann immer irgendwo leidgetan, die konnte nicht lesen, konnte nicht schreiben, war immer auf vieles angewiesen von uns und so weiter. Am Anfang hab ich mich- wollte ich immer nicht, dass meine Mama mitgeht, weil ich mich, schon eher sagen wir mal- als Kind geschämt habe. (10:46-11:1)

Er nimmt die Differenz aufgrund der Kleidung der Mutter überaus stark war und reagiert mit Scham und Angst vor den Reaktionen der Umgebung. Darüber hinaus hat er Mitleid mit der Mutter, die in der Öffentlichkeit als schwache und hilfsbedürftige Frau auftritt, nicht kommunizieren kann und damit auch nicht für ihn eintreten kann. Gleichzeitig ist er emotional an sie gebunden und auch in der ersten Zeit aufgrund seines Alter noch nicht in der Lage, seine Freizeittermine selbst zu organisieren. Trotzdem begleitet ihn seine Mutter zu seinen Freizeitaktivitäten, auch deshalb, da die das deutschsprachige Umfeld seiner Mutter überaus aufmerksam und aufgeschlossen begegnet.

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4.4.3 Frühe Kindheit und Schullaufbahn Kindheit im ländlichen Raum Die Migration des Vaters und die daraus folgenden Entscheidungen und Erfahrungen für die gesamte Familie thematisiert Mehmet Oktay im Kontext seiner Eingangserzählung bezogen auf das subjektive Erleben von Zugehörigkeit und Differenz. Dabei spielen zwei Entscheidungen des Vaters eine entscheidende Rolle, mit denen sich Mehmet Oktay bereits in den ersten Sequenzen der biographischen Selbstpräsentation auseinandersetzt. Zum einen beschließt der Vater, nach Deutschland zu gehen und dauerhaft mit der Familie dort zu leben. Zum anderen trifft er nach der Familienzusammenführung die Entscheidung, in ein Dorf im Münchner Umland zu ziehen. Mehmet Oktay konstruiert davon ausgehend seine Lebensgeschichte um insgesamt drei Verneinungen herum, durch die zentrale Differenzerfahrungen mit verschiedenen Bezugspunkten markiert werden. Während für die Mehrheit seiner Kernfamilie die Türkei als sozialer Bezugsrahmen von Bedeutung ist und damit erste Erfahrungen und Sozialisationsprozesse dort begonnen oder abgeschlossen wurden, ist er das einzige in Deutschland geborene Familienmitglied. Darüber hinaus besteht die Erfahrung von ethnischer Differenz aufgrund der äußeren Erscheinung in Kombination mit dem Namen, wodurch er äußerlich nicht als „Oberbayer“ identifiziert wird, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt, auch wenn er sich individuell als sozial und habituell zugehörig positioniert. Ja, wie Sie gesagt haben, jetzt nicht unbedingt eh- von Türkei hierher gezogen, sind ja meine Eltern, genau- (.) ich bin ja selber hier geboren, in Oberbayern, was (langgezogenes s) natürlich für viele dann, eh- die mich halt auch kennen oder so, wenn man da sehr viel bayerisch dann redet und so weiter, dann ist es schon so (.) für die Leute gewöhnungsbedürftig, weil die das nicht gleich so uns ansehen, weil viele denken, dass ich auch von der Türkei hierhergekommen bin- [...] Ja ich bin hier geboren, wie gesagt 1980 (.), bin nicht in den Kindergarten gegangen, wie viele es getan haben in meinem Alter, weil (.) wir hier in einer kleinen Ortschaft gewohnt haben mit damals glaube 2000 Einwohnern war das, mein Vater wollte uns einfach nicht in einer Großstadt uns aufziehen. (2:12-20)

Die offene Eingangsfrage, die alle Menschen einschließt, die „selbst bzw. deren Eltern, Großeltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind“ versteht er als Aufforderung zur Richtigstellung und Konkretisierung. Für Mehmet Oktay ist das Dorf in Oberbayern der zentrale soziale Bezugsrahmen seiner Selbstverortungen. Darüber hinaus ist er der erste seiner Kernfamilie, der biographisch re-

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levante Erfahrungen mit der Konstellation – in Deutschland, im ländlichen Raum in Oberbayern, mit türkischem Namen und Phänotypus geboren – macht. Diese biographische Spezifik begleitet ihn im Alltag und führt dazu, dass er sich mit Differenzerfahrungen auseinandersetzen muss. Dementsprechend nimmt er wahr, dass seitens der mehrheitsdeutschen Umgebung unterschiedliche Einordnungen vorgenommen werden, je nachdem, ob jemand aus der Türkei eingewandert oder aber in Oberbayern geboren ist. Durch seinen Geburtsort in Bayern entsteht die ambivalente Konstellation, dass er sich als sprachlich und kulturell zugehörig betrachtet, andererseits aber durch seinen türkischen Namen und Phänotypus „Irritationen“ entstehen, mit denen er sich immer wieder auseinandersetzen muss. Das Dorf seiner Kindheit ist das Dorf in Oberbayern, während es für die anderen Familienmitglieder das Dorf in der Türkei ist. Gemeinsam ist die Erfahrungsebene Landleben, auch wenn dabei hinsichtlich der Art und Qualität des Lebens große Unterschiede bestehen. Die Differenz ergibt sich für Mehmet Oktay allerdings auf der Vergleichsebene zur Mehrheit der Migranten aus der Türkei, die in der Öffentlichkeit generell mit Ballungszentren und damit einhergehender wohnräumlicher Segregation in Verbindung gebracht werden. Die Entscheidung des Vaters, in ein Dorf zu ziehen, präsentiert Mehmet Oktay zunächst als etwas Besonderes, auch wenn dies im Münchner Umland keine Seltenheit war und ist.66 Das Dorf hat zum Zeitpunkt seiner Geburt etwa 2.000 Einwohner.67 Der Vater ist aufgrund der Fahrtzeiten länger außer Haus, doch begründet er die Wahl vor allem damit, dass die Kontrolle der Söhne im Dorf einfacher ist. Mehmet Oktay argumentiert zudem damit, dass die Eltern „Dorfmenschen“ sind, denen ein Bezug zur Natur und zur Landwirtschaft wichtig ist. Diese positive Identifikation mit dem Landleben ist bei ihm selbst aber nicht durchgängig vorhanden. Vor allem in der Adoleszenz nimmt er die Nachteile wahr, wie zum Beispiel die eingeschränkten Möglichkeiten, verschiedene Sportarten ausprobieren zu können.

66 Die hohen Mieten in München führen dazu, dass Beschäftigte von BMW und anderen Unternehmen in günstigere Wohnungen im Umland ziehen und dauerhaft zur Arbeit zu pendeln. Dies ist, wie weitere Gespräche mit Verwandten ergeben haben, bis in die Gegenwart die gängige Praxis der Mitarbeiter bei BMW. Der Pendelverkehr wird passend zum Zweischichtsystem von Busgesellschaften angeboten. 67 Nach Recherchen im Internet heute fast 3.000 Einwohner, die zu über 70% katholisch sind und in überaus zahlreichen Vereinen (gegenwärtig über 50) organisiert sind. Es gibt eine Schule (in der Gegenwart nur noch als Grundschule) und einen Kindergarten in katholischer Trägerschaft, darüber hinaus zahlreiche Kirchen und Kapellen.

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Eine weitere Ebene besteht aus der Erfahrung von Exklusion durch den Ausschluss bzw. des Nichtbesuchens einer Kindertagesstätte. Damit präsentiert er sich als abweichend vom Normalfall, der in einem „natürlich“ organisierten Kindergartenbesuch besteht.68 Aufgrund der seit einiger Zeit medial überpräsenten Bildungsdiskussion kann vermutet werden, dass ihm diese Exklusion im Rückblick besonders deutlich wird, darüber hinaus ist seine Partnerin als Erzieherin in einer Kindertagesstätte tätig. Trotzdem zeigt sich, dass diese frühe Exklusionserfahrung biographische Relevanz hat und bis in die Gegenwart konkret erinnert wird. [...] ich kann mich erinnern, mein ältester Bruder, der M., der hat mich an einem Tag, da hat es geheißen, ja- jetzt können die Vorschulkinder angemeldet werden- Mama hat mir den schönsten Anzug angezogen, da sind wir hinaus, mich noch hingehauen, alles Dreck, nass, hingekommen und dann hat es geheißen, alle Plätze sind wieder voll. (2:30-33)

Die Bemühungen der Familie sind vorhanden und Mehmet Oktay kann zumindest äußerlich gut vorbereitet werden. Der Vater ist in dieser Situation nicht anwesend, der Bruder ist mit der Organisierung beauftragt und die Mutter kann für die entsprechende Ausstattung mit Kleidung sorgen. Damit beschränkt sich die Darstellung auf den äußeren Rahmen des Ereignisses, die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern und ihre Reaktionen werden nicht sichtbar. Es erfolgt eine formale, distanzierte Ablehnung, ohne weitere Erklärungen. Mehmet Oktay ist enttäuscht über die Ablehnung, nimmt jedoch eine eher fatalistische Haltung ein, die eine Kritik am Bildungswesen und die Suche nach den Verantwortlichen nicht zulässt. Er macht weder seine Familie noch die Institutionen für dieses erste Scheitern verantwortlich. Vor dem Hintergrund der weiteren Bildungslaufbahn wird jedoch deutlich, dass diese Sequenz zur Erklärung der schulischen Defizite herangezogen wird. Er selbst verortet damit auch den Grund seiner diskontinuierlichen beruflichen Laufbahn in der frühen Kindheit. Die erste Erfahrung von Exklusion aufgrund fehlender Ressourcen seiner sozial und ethnisch marginalisierten Familie setzt sich in den darauffolgenden Stationen der Bildungslaufbahn fort. Dies wird auch daran deutlich, dass die zweite Zurück-

68 In einem engen Zusammenhang mit dieser Negierung von Kontexten steht das Adjektiv „natürlich“, dass er in seinen ersten Ausführungen zweimal verwendet. Bezogen auf den Kindergarten bezeichnet er es als „natürlich“, dass Kinder im Dorf in den Kindergarten gehen, wenn er auch ausführt, dass es sich um „viele“ gehandelt hat und vermutlich nicht flächendeckend war. Weiterhin bezeichnet er die Irritation um seinen Dialekt als „natürlich“.

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weisung, die Mehmet Oktay in der Kindheit erlebt, wiederum erfolgen kann, ohne dass die Eltern intervenieren oder Alternativen einfordern können. Ja, so habe ich dann einen Aufnahmetest gemacht für die Schule, ob wir mit- mit sechs Jahren anfangen können. [...] Hätten wir- Ich kann mich noch erinnern, so- so Bilder zuordnen und eh- ja Tiere zuordnen (.) das war für mich nicht so schwierig, nur ich habe halt die Lehrerin nicht ganz verstanden damals, ich habe schon einigermaßen- (.) und dann war noch ein Junge dabei, der war im Kindergarten, der hat es (.) nicht geschafft, ich habe es auch nicht geschafft, somit durften wir erst mit sieben Jahren in die Schule, also nicht mit eh- sechs, sondern sind dann erst mit sieben eingeschult worden. (2:33-41)

Erneut erlebt Mehmet Oktay Zurückweisung, ohne dass alternative Angebote für eine sprachliche Förderung bis zur Einschulung gemacht werden. Somit wird er in seine Familie zurückgeschickt, die nicht über die Ressourcen verfügt, um ihn in sprachlicher Hinsicht auf die Einschulung vorzubereiten. Die marginalisierte Position der Familie innerhalb des lokalen Sozialgefüges wird damit zementiert.69 Er macht damit bereits im Vorschulalter zweimal die Erfahrung, dass er von Institutionen der Bildung ausgeschlossen wird, während andere Kinder in der Nachbarschaft, auch Kinder aus Migrantenfamilien, einen Zugang erhalten. Zwar ist dadurch belegt, dass kein systematischer Ausschluss der ausländischen Kinder erfolgt, trotzdem ist er selbst überaus umfassend von dem Ausschluss betroffen, so dass die negativen Folgen für seine Motivation zu lernen und auf sein Selbstwertgefühl als kleiner Junge biographisch relevant sind. Dabei präsentiert er durchaus auch die Anstrengungen des Vaters, der Marginalisierung entgegenzuwirken, indem er ihn im örtlichen Fußballverein anmeldet. [...] da war ich nur mit deutschen Kindern, da war kein einziger türkischer Junge dabei, keine anderen Ausländer, das waren nur deutsche, bayerische und das war auch gut für meine Eltern, weil die da- dadurch sehr viel in Kontakt mit- mit die Deutschen gekommen sind, sehr- sehr, also ich- ich weiß nicht, wie es in anderen Dörfern ist, aber dort, wo wir halt- in A. ist das gewesen, aufgewachsen sind, haben die Leute uns sehr akzeptiert, vielleicht, weil wir nicht so viele waren, vielleicht noch keine Vorurteile gehabt oder eh- wegen Fußball und so weiter [...] (2:44-49)

69 Auch in den Ballungszentren gibt es in dieser Zeit keine flächendeckenden Angebote zur frühkindlichen Bildung wie die Zahlen beispielsweise von Siegmar Geiselberger (1972) aus dem Jahr 1972 erkennen lassen, denen zufolge lediglich 30% der Kinder in eine Kindertagesstätte gehen.

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Am Beispiel Fußballverein präsentiert er seine alternative Integration in die lokalen Netzwerke, von denen er und auch seine Eltern profitieren, da sie dadurch Kontakt zu anderen Eltern knüpfen können. Im Bereich Fußball erfährt er Anerkennung und Akzeptanz und erinnert sich nicht an Vorurteile und Diskriminierungen. Insgesamt erscheint ihm aber auch das Medium Fußball als geeignet für interkulturelle Kontakte, die er am Beispiel von Geburtstagseinladungen bei Freunden und gemeinsamen Feiern mit den Eltern konkretisiert, ohne sie erzählerisch auszugestalten. Er benennt keine engeren Freunde, die er seit der Kindheit im Dorf hat, erzählt nicht von Erlebnissen mit anderen Kindern, so dass der Eindruck entsteht, dass die Integration in die dörfliche Vereinslandschaft nur partiell erfolgt. Insgesamt bleiben die Darstellungen von Erfahrungen und Erleben damit auf die Kernfamilie beschränkt. Die deutschstämmige Mehrheit im Mikrokosmos Dorf ist nur bedingt zugänglich für die neu dazu kommende Migrantenfamilie. Dies kann ein Grund dafür sein, dass zunächst die älteren Brüder im Zuge ihrer Eheschließungen vom Dorf in die nächstgelegene Kleinstadt mit ca. 25.000 Einwohnern ziehen und schließlich auch die Eltern und Mehmet Oktay das Dorf verlassen. Insgesamt wird in der Eingangserzählung von Mehmet Oktay überaus deutlich, dass er sich in einer sehr persönlichen Weise mit den öffentlichen Debatten um Migration, Bildung und Integration auseinandersetzt. Dies veranlasst ihn dazu, seine Kindheit und Jugend im Kontext von Migrationsdiskursen, denen er im Alltag der Gegenwart als Erwachsener begegnet, erzählerisch auszugestalten. Reflexionen von Erinnerungen an die Kindheit bewegen ihn emotional stark und dies erfolgt auch vor dem Hintergrund seiner aktuellen Lebenssituation, sowohl in beruflicher wie in familiärer Hinsicht. Schwierige Bildungslaufbahn Die Schulzeit ist für Mehmet Oktay insgesamt mit negativen Erinnerungen verbunden, es ist eine Zeit, in der er sich „schwergetan“ hat. Die ersten negativen Erfahrungen macht er dabei bereits in der Grundschulzeit, wenn er auch zunächst feststellt, dass seine Defizite gegenüber den Kindergartenkindern, auch denen mit Migrationserfahrung, nicht besonders groß sind. Trotzdem realisiert er in der Retrospektive, dass sein Wissen über Strukturen und Abläufe in den ersten Schuljahren gering waren. Durch seine Ehefrau, die Erzieherin in einer Kindertagesstätte ist, hat er in der Gegenwart einen größeren Wissensstand über die Aufgaben der frühkindlichen Bildungsinstitutionen und analysiert seine Probleme in der Vergangenheit auf der Grundlage dieser Informationen.

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Ja, allgemein, dass ich überhaupt mit diesen Regeln klarkommen musste dann in die Schule gehen, Hausaufgaben machen sich hinsetzten, warum das überhaupt so wichtig ist, dass man lesen, und das Lernen tut und so weiter, diesen Ablauf habe ich gar nicht gekannt. (11:38-40)

Die familiäre Unterstützung gestaltet sich ebenfalls schwierig. Insgesamt resümiert er in der Eingangserzählung, dass es keine Hilfestellung durch Vater und Brüder gegeben hat und betont, dass sie entweder mit Erwerbsarbeit oder der Adoleszenz und eigenen Schulproblemen beschäftigt waren. Allerdings erinnert er sich, dass der Vater zumindest zu Beginn der Grundschule hilft, später ist er dann von den Inhalten überfordert. Eine Unterstützung von außerhalb wird nicht organisiert, so dass Mehmet Oktay sich selbst helfen muss. Er benennt auch keine Lehrer oder weitere Bekannte im Wohnumfeld der Familie, die ihn ermutigt oder gefördert haben. Dies unterstreicht die Feststellung, dass die Familie im Dorf eher marginalisiert war.70 Somit fühlt er sich überfordert und allein gelassen. Beim Übergang auf die weiterführende Schule, die im Fall von Mehmet Oktay die Hauptschule ist, werden die Schwierigkeiten größer, auch wenn er es schafft, ohne die Wiederholung von Klassenstufen durchzukommen. Dass er lediglich auf die Hauptschule gehen kann, thematisiert er vor dem Hintergrund der bereits dargestellten Probleme nicht weiter. Da keine Förderung vorhanden ist, erscheint dieser Weg so der einzig mögliche und benötigt deshalb aus der Perspektive von Mehmet Oktay keine weitere Begründung. Angesichts der größer werdenden Probleme ist er aber zumindest zufrieden, dass er nicht sitzenbleibt. Insgesamt hat Mehmet Oktay in der Schulzeit wenig Selbstvertrauen und ist Teil der Gruppe derjenigen, die sich „durchmogeln“. Dieser Gruppe gehören vor allem die wenigen Kinder mit Migrationshintergrund an, die im Dorf die Schule besuchen. Die besondere Situation in der Dorfschule mit nur wenigen Kindern aus Migrantenfamilien verbessert die schulischen Aussichten nicht. Er und die anderen ausländischen Kinder werden von deutschen Mitschülern „gehänselt“, wenn sie Fehler machen. Der Umstand, dass er mit seinen Sorgen nicht allein ist, verringert seinen Probleme allerdings nicht, sondern verstärkt die Frustration derart, dass seine Motivation zu lernen noch geringer wird. [...] es gab viele Zeiten, wo ich dann gesagt habe, die Schule, ich will da überhaupt nicht mehr hin, so viele Schulaufgaben, so viele schlechte Noten, Diktate geschrieben mit 150

70 Im Gegensatz dazu hatten sowohl Cemal Akkaya als auch İlhan Uysal engagierte Nachbarinnen oder Lehrerinnen, die geholfen haben, während Sinan Koç ebenfalls keine Mentoren oder Unterstützer hatte.

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Wörtern wo 130 Rechtschreibfehler, das war schon extrem, da, wo einen deprimiert, man will echt nicht mehr, wenn der Lehrer austeilt alle haben drei, vier Fehler und wir haben fast bei jedem Wort einen Fehler drin gehabt, dann denkt man sich, nein, ich will da nicht mehr hin, ich habe einfach die Schnauze voll, ich will das nicht mehr, diesen Ganzen da ausgesetzt sein, diesem Stress, diesem Druck, ja, irgendwie hat man es dann doch hinbekommen Deutsch immer Fünfer, Vierer und irgendwo ist man dann durchgekommen… (12:9-15)

Parallel dazu hat er aber zahlreiche deutsche Freunde und ist ein aktiver und engagierter Fußballer in einer überwiegend deutschen Mannschaft. Da er alle diese Erfahrungen in die Zeit der Adoleszenz einordnet, spielt auch der Wettbewerb um eine möglichst gute Position innerhalb der Peergroup eine Rolle. Seitens der Familie bestehen keine besonderen Erwartungen an seine Schullaufbahn. Die Eltern erwarten eigene Anstrengungen in dem Maße, wie es ihm möglich ist, da sie keine Hilfe anbieten und die Brüder sie ebenfalls nicht leisten können. Die Minimalerwartung der Eltern besteht darin, die Pflichtschulzeit zu erfüllen und mit einem Abschlusszeugnis die Voraussetzung für eine Ausbildung zu erfüllen. So bemüht sich Mehmet Oktay darum, die Prüfung für einen qualifizierten Hauptschulabschluss zu bestehen, auch wenn er damit scheitert und lediglich ein Abgangszeugnis der neunten Klasse erhält. Diese schlechteste schulische Ausgangslage ist jedoch aus der Perspektive der Eltern akzeptabel, da auch die älteren Brüder mit vergleichbaren Voraussetzungen Ausbildungen abgeschlossen haben und von ihrem Einkommen ihre Familien versorgen können. Angesichts der geringeren Arbeitslosenzahlen in Oberbayern (im Vergleich mit anderen Regionen in Bayern und Deutschland insgesamt) und der Erfahrung, dass die älteren Brüder alle eine Ausbildung machen konnten, sind die Befürchtungen der Familie weniger groß. Die Darstellung seiner Schulzeit erfolgt im Kontext der Reflexionen über die Ablehnungserfahrungen in der frühen Kindheit. Der von ihm als Vorteil präsentierte Umstand, in Deutschland geboren zu sein, verhilft ihm nicht zu einer günstigeren schulischen Ausgangslage. Genau wie seine Brüder, die ebenfalls nicht über ein Abgangszeugnis der Hauptschule hinauskommen, wirkt sich die strukturelle Benachteiligung der Kinder mit Migrationserfahrung im Bildungssystem deutlich aus. Vor dem Hintergrund der aktuellen Bildungsdiskurse werden Mehmet Oktay diese Zusammenhänge besonders deutlich. Trotz der gravierenden schulischen Misserfolge beinhaltet seine Darstellung aber weder Kritik noch Verbitterung über die Institutionen und ihre Akteure.

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Ausbildung und Rassismuserfahrungen Trotz der relativ geringen Jugendarbeitslosigkeit in der Region gestaltet sich die Suche nach einem Ausbildungsplatzes über die offiziellen Wege der Berufsberatung und Vermittlung durch das Arbeitsamt schwierig. Sein Schulversagen wird ihm besonders deutlich, als er realisiert, dass seine Wahlmöglichkeiten durch den einfachen Hauptschulabschluss stark eingeschränkt sind. Somit orientiert er sich bei der Berufswahl an Berufen und Tätigkeiten im handwerklichtechnischen Bereich, in dem die Brüder und der Vater arbeiten. Über formale Wege, durch Bewerbungsschreiben, erhält er zunächst keinen Ausbildungsplatz, und bekommt schließlich erst über einen Bekannten der Familie einen Ausbildungsplatz als Schlosser vermittelt. In der Eingangserzählung kommentiert er den Umstand, dass er die Ausbildung abgeschlossen hat, zunächst sehr knapp mit der Bemerkung „komischerweise“, so als ob es sich um eine fragwürdige Entscheidung gehandelt hätte. Im Nachfrageteil stellt er dann die Hintergründe ausführlicher dar und berichtet von Diskriminierung und Schikane. Am Abend haben wir uns alle eine Linie am Boden ziehen müssen von unserem Chef, Hände an die Hosennaht, wie in der Bundeswehr, aufstellen und mussten so still stehen, dann ist der dadurch gegangen, hat unsere- ja, uns gefragt, wir haben unsere Ausbildung, in der Schule sind, Noten und was wir gearbeitet haben, hat uns richtig zusammengeschissen, (.) niedergemacht, dann hat er die deutschen Kinder heimgehen lassen, uns hat er dabehalten, ist durch die Werkstätten gegangen wenn da Flaschen rum gelegen sind, hat er die auf den Boden geschmissen, kaputt, aufräumen, aber nicht gleich, erst wenn die ganzen- wir haben zwei große Hallen gehabt, Stahlbauhallen (.) (13:24-30)

Die Erfahrung mit rassistisch motivierter Sonderbehandlung durch einen despotischen Vorgesetzten stellt für Mehmet Oktay eine einschneidende Erfahrung dar. Während er die Diskriminierungen in der Schule durch ein ethnisch heterogenes Netzwerk in der Freizeit ausgleichen kann, ist er nun in der Arbeitswelt seinem Chef ausgeliefert. Die Schikanen bestehen dabei in einer ethnischen Selektion der Auszubildenden und dem Zwang zu unnützer und vorsätzlich herbeigeführter Arbeit, die darüber hinaus keinen Bezug zum Ausbildungsberuf hat.71 Die Demütigungen passieren in einer Lebensphase, in der er noch sehr jung ist, und sich selbst zusammen mit den anderen betroffenen Auszubildenden in die

71 Aufgrund der Darstellungen ist eine Nähe zu Erniedrigungen und Demütigungen in Arbeitslagern und der „Erziehung zur Arbeit“ im nationalsozialistischen Deutschland durchaus herzustellen.

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Kategorie „Kind“ einordnet, die einem Erwachsenen hilflos ausgeliefert sind. Er hält zunächst durch, findet jedoch nach einem Jahr einen anderen Ausbildungsplatz in einem ähnlichen Beruf. Der Wechsel wird jedoch von seinem Vater und den Brüdern verhindert. Sie zeigen Verständnis für die Frustration und die Wut angesichts der Ungleichbehandlung, halten aber einen Wechsel für wenig hilfreich. Die Begründung, dass er Zeit verlieren würde, überzeugt Mehmet Oktay und er setzt die Ausbildung trotz der gravierenden Probleme fort. Die Widrigkeiten des Arbeitsalltags werden damit zunächst einmal als nicht abwendbar hingenommen. Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund ethnischer Zuschreibungen werden zu einem Bestandteil der Arbeitsrealität erklärt, gegen die es keine Mittel gibt, außer sie zu ertragen. Diese Haltung erweist sich als handlungsleitend für die Männer der Familie und verhindert, dass Widerstand und Unterstützung bereitgestellt und organisiert werden. Mehmet Oktay erhält männliche Solidarität und Verständnis für seinen Unmut, was aber insgesamt darauf gerichtet ist, ihn zum Aushalten zu motivieren. Auch hier zeigt sich, dass die Familie bemüht ist, Schwierigkeiten eigenständig anzugehen. Hilfe von außen wird nicht erwartet bzw. nicht als hilfreich betrachtet. Es besteht kein Zugang und Vertrauen zu Institutionen, zum Beispiel einer Gewerkschaft, die Hilfe beim Umgang mit diskriminierenden Vorgesetzten leisten könnte. Stattdessen werden diskriminierende und beschwerliche Situationen in der Arbeitswelt zu einer Art Reifeprüfung uminterpretiert, die Mehmet Oktay zu absolvieren hat. Dadurch wird die Ausbildung zu seiner zentralen Bewährungsprobe und Initiation in eine ethnisch segregierte Arbeitsrealität. Gott sei Dank die Eltern dahinter, dass man das richtig gemacht hat, man ist aufgestanden hingegangen. Ja, und wirklich, nach dieser Ausbildung, es war auch körperlich schwer, ist mir keine Arbeit schwer gefallen und das hat mein Vater mir auch gesagt, du hast s-e-h-r viel Glück gehabt, dass deine Arbeit seelisch, psychisch, körperlich, schwer war, gut, dass du es überstanden hast, weil, wer einmal am Anfang ganz schwer gearbeitet hat, dem fallen die anderen Arbeiten immer leicht. (15:39-42)

Im Rückblick ist er überaus zufrieden mit sich, dass er die Aufgabe erfolgreich bewältigt hat. Er hat der Familie gegenüber seine individuelle Leistungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft bewiesen und kann nun als gleichwertiges erwachsenes Mitglied seinen Platz in der Arbeitswelt einnehmen. Darüber hinaus lernt er in der Zeit seine heutige Ehefrau kennen und geht eine dauerhafte Liebesbeziehung mit ihr ein. Da sie nicht-türkischer Herkunft ist, befürchtet er die Ablehnung durch die Familie und hält die Beziehung mehrere Jahre vor den Eltern geheim.

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4.4.4 Fließbandproduktion, Zeitarbeit, berufliche Umorientierung „Affenarbeit“ am Fließband Nach Abschluss der Ausbildung arbeitet er nicht im erlernten Beruf, sondern erhält durch die Vermittlung einer seiner Brüder einen Arbeitsplatz in einer Fließbandproduktion. Dadurch sammelt er allerdings auch keine Berufserfahrung im erlernten Beruf. Für die Fließbandtätigkeiten benötigt er die Kenntnisse seiner Ausbildung nicht und wird angelernt. In der Eingangserzählung thematisiert er diesen Übergang ins Berufsleben als unbedingt erforderlich, da Arbeitslosigkeit eines „Ausländers“ von der Umgebung als diskreditierender Makel wahrgenommen wird. [...] dann habe ich eigentlich eh- sofort, ohne arbeitslos zu sein, was für mich sehr wichtig war, weil man- wie eben vorhin im Gespräch auch schon gesagt, das sehr, sehr belastend ist, wenn man hört, Ausländer arbeiten schon wieder nicht, sind wieder arbeitslos, also, da war sehr wichtig, dass wir immer arbeiten, ne- [...] (.) und eben nach der Ausbildung habe ich gesagt, ja, ich darf- ich will nicht arbeitslos sein [...] (3:23-40)

Damit wird deutlich, dass Arbeit zu haben und die Vermeidung von Kontakt zur Arbeitsverwaltung als absolutes Ziel aller beruflichen Anstrengungen betrachtet wird. Diese Prämisse ist handlungsleitend für ihn selbst wie auch für den Vater und die Brüder, da er unbedingt zu vermeiden hat, der Umgebung Anlass für diskriminierende Bemerkungen zu geben. Der Vater ist das zentrale Vorbild in Bezug auf das Erwerbsarbeitsmuster, da er über einen jahrzehntelangen Zeitraum bei BMW beschäftigt war, ohne arbeitslos zu sein. Seinem Beispiel zu folgen bedeutet „immer zu arbeiten“. Mehmet Oktay bemüht sich, diese Prämisse einzuhalten und konstatiert in der Eingangserzählung noch seinen Stolz über den ersten „festen“ Arbeitsvertrag. Weitere Nachfragen ergeben dann aber, dass er von der täglichen Arbeitspraxis und den monotonen Arbeitsabläufen schnell frustriert ist. [...] und dann war ich halt in der Firma, habe dann auch im Schichtbetrieb gearbeitet, Dreischicht- und das war aber eine Tätigkeit, da habe ich mich dann zu Tode gelangweilt, das war im Sitzen, manchmal im Stehen, da sind so kleine Airbags gekommen und du hast Teile- Maschine reinlegen, drücken, reinlegen, drücke-, also es ist wirklich eine richtige Affenarbeit gewesen, natürlich, dann habe ich (Wort) gewechselt, das ist was anderes, viel

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rumgekommen mit der Firma, irgendwann habe ich gesagt, ich will das nicht machen bis 65 [...] (14:11-16)

Damit erkennt er innerhalb kurzer Zeit, dass die Form der Arbeit, die alle Männer seiner Familie dauerhaft ausführen, in keiner Weise seinen Vorstellungen von Erwerbsarbeit entspricht. Nach der überstandenen schwierigen Ausbildungszeit, mit sowohl großer physischer als auch psychischer Beanspruchung, erweist sich die Fließbandarbeit als langweilige und intellektuell wie körperlich anspruchslose „Affenarbeit“. Die Wahl des Begriffs, der eher der Jugendsprache zuzuordnen ist, verdeutlicht sein Bestreben, sich als Jugendlicher von den pragmatischen Arbeitseinstellungen seiner älteren Brüder abzugrenzen. Darüber hinaus enthält diese Wortbildung eine „emotional-stilistische Komponente“.72 Die Aussicht, diese und vergleichbare Tätigkeiten bis zum Erreichen des Rentenalters machen zu müssen, erscheint ihm unerträglich und stellt die Sinnhaftigkeit des innerfamiliär vermittelten Erwerbsarbeitsmodells der Männer seiner Familie grundsätzlich in Frage. Auch wenn die Brüder mit vergleichbarer Arbeit die Grundlage für die Versorgung einer Familie schaffen, weichen Mehmet Oktays Vorstellungen davon grundlegend ab. Trotzdem bemüht er sich, zumindest den Vater und seine Verdienste als „Opfer“ im Interesse der Familie einzuordnen und wertzuschätzen. Der fleißige und selbstlose Vater wird zu einer Figur, die als Vorbild alle positiven Merkmale in sich vereint, die mit dem Bild des idealtypischen „Gastarbeiters“ verbunden werden. Mehmet Oktay stellt für sich selbst fest, dass er an dieses Vorbild niemals herankommen wird, so sehr er sich auch bemüht. Trotz der Unzufriedenheit hält er auch die „Affenarbeit“ am Fließband über einen Zeitraum von drei Jahren durch, bevor er sich für einen anderen beruflichen Weg entscheidet. Damit unterstreicht er seine Bemühungen, sich an das in der Familie favorisierte Erwerbsarbeitsmodell anzupassen, das unter dem Motto „Hauptsache Arbeit“ steht.

72 Der Begriff „Affenarbeit“ ist auf die Wortbildung „Affengeschrei“ in der Bedeutung „ein Geschrei wie es Affen machen“ zurückzuführen, hat aber mit dem Zusammenhang „wie ein Affe“ inhaltlich nichts mehr gemeinsam. Weitere Wortbildungen in dieser Reihe sind Affenhitze, Affenschande, Affenspektakel, Affenkomödie, Affentheater, Affensehnsucht und Affenliebe (Elsen 2011: 68). Interessant ist allerdings, dass Mehmet Oktay die Bezeichnung „Affenarbeit“ nicht im Sinne von „furchtbar viel Arbeit“ verwendet, sondern die Anspruchslosigkeit und Langeweile der Bezeichnung zugrunde legt.

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Selbständigkeit, Arbeitslosigkeit, Leiharbeit Seinen vorübergehenden Ausstieg aus der Arbeit am Fließband begründet er mit seinem Alter und dem damit zusammenhängenden Gefühl einer Lebensphase „wo man denkt, man könnte Bäume ausreißen.“73 Da die Eheanbahnung aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem ältesten Bruder durch die Eltern in seinem Fall nicht forciert wird, ist nicht mit einer frühen Heirat und der Gründung eines eigenen Haushalts zu rechnen. Aber auch der Umzug in eine eigene Wohnung ist als jüngster und von der Mutter umsorgter Sohn in dieser Lebensphase kein Thema.74 Er verfügt damit über einen großen Gestaltungsspielraum und bekommt die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter. Aufgrund seiner festen Beziehung mit einer nicht-türkeistämmigen Partnerin realisiert er, dass seine Pläne nicht denen entsprechen, die von seinen Brüdern umgesetzt wurden. Gleichzeitig sind seine beruflichen Möglichkeiten aufgrund nicht vorhandener Qualifikationen jedoch eingeschränkt. Trotzdem ist die Desillusionierung durch die monotone Fließbandtätigkeit hoch und führt dazu, dass Mehmet Oktay sich auf eine überaus riskante und verlustreiche Selbständigkeit als Finanzberater einlässt. Die Versicherungsbranche entdeckt in dieser Zeit die Migranten als neue Kundengruppe.75 Die Möglichkeit, als Quereinsteiger über Provisionen durch die Vermittlung von Versicherungsverträgen Einkommen zu erwirtschaften, wird von Migranten der zweiten Generation als neuer Haupt- und Nebenerwerb genutzt. Die Zugangsbarrieren sind niedrig, da es wenig gesetzliche Regelungen über Ausbildung und Berufsbezeichnungen gibt. Gleichzeitig ist das Risiko schwankender Einkünfte hoch. Mehmet Oktay verfügt über keine beruflichen

73 Wie bereits bei Sinan Koç präsentiert sich Mehmet Oktay als junger Mann voller Energie, womit wieder die Lebensphase des delikanlı thematisiert wird, wenn auch hier bezogen auf die berufliche Neuausrichtung. 74 Dazu passen die Ausführungen von İlhan Uysal zum Thema eigene Wohnung. 75 Dazu sagt Schmidt-Fink (2007): „Die wohl erste Branche, die Türken als interessante Käufergruppe erkannt hat, war die Versicherungswirtschaft. Allerdings hatten unseriöse Firmen mit den unlauteren Methoden des sogenannten Strukturvertriebs ab Anfang der 1990er Jahre vor allem daran Interesse, Drückerkolonnen für den schnellen Gewinn auf Türken anzusetzen. Die türkische Sprache und Umgangsformen öffneten findigen, aber nur rudimentär ausgebildeten türkischen Versicherungsvertretern die Türen vieler Landsleute. Sie nutzten ihren Vertrauensvorsprung und deren Unkenntnis der schwierigen Materie von Bauspar- und Lebensversicherungen zum Abschluss manch unnötiger oder überteuerter Verträge aus.“

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Erfahrungen in dem neuen Bereich und wird zunächst selbst Kunde eines Bekannten, der ihn überzeugt, selbständig tätig zu werden. Die gesamte Familie ist dagegen, während Mehmet Oktay darin eine Chance sieht, sich selbst und anderen zu beweisen, dass er eigene Pläne entwickeln und erfolgreich umsetzen kann. Im Gegensatz zur Ausbildungszeit lässt er sich nicht vom Gegenteil überzeugen. Er hat bereits bewiesen, dass er problematische Phasen aushalten kann und darüber hinaus familiäre Normen und Regeln beachtet. Allerdings fehlen berufliche Perspektiven jenseits der Tätigkeiten in der Fließbandproduktion, die ihn mit den ökonomischen Ressourcen ausstatten, die er für seine ökonomische Eigenständigkeit benötigt. Deshalb wird er trotz der Kritik seiner Familie freier Außendienstmitarbeiter und beginnt mit dem Verkauf von Versicherungen sowie diversen „Finanzprodukten“. Er wird lediglich angelernt und in Seminaren geschult. Sehr schnell erweist sich die Selbständigkeit als Verlustgeschäft. [...] nach drei Jahren, muss ich sagen, ich habe immer noch bei den Eltern gelebt, meine Frau hat zum Glück gearbeitet, die hat mich finanziell unterstützt und irgendwann mal habe ich bemerkt, dass es nicht so funktioniert, also, man hat immer weniger verdient, null, null, null Euros und dann sagt man: Ok, das ist nicht der Sinn und Zweck. (.) Ja, da packt einen dieser- diese- wie soll ich sagen, diese Ehre, man kann nicht aufhören, man muss immer wieder weitermachen, und so weiter, und da hab ich gesagt, nee, jetzt funktioniert es gar nicht mehr, und dann habe ich irgendwann mich arbeitslos gemeldet. (3:35-40)

Um überhaupt Umsätze zu erzielen, ist er gezwungen, Menschen gegen seine Überzeugung „anzulügen“. Trotzdem hält er an dem Projekt weiter fest und bemüht sich, den eingeschlagenen Weg zu rechtfertigen und hofft auf den Erfolg. Das Eingeständnis des Scheiterns seiner ersten gegen alle Widerstände in der Familie durchgesetzten beruflichen Entscheidung fällt ihm schwer. Er fühlt sich angetrieben von einem Gefühl, dass er als „Ehre“ beschreibt. Er beharrt auf den Erfolgsaussichten des begonnenen Projekts und verkennt seine ökonomisch aussichtslose Lage. Er kann seiner Familie und seiner Freundin nicht beweisen, dass er eigenständig beruflich erfolgreich werden kann und muss auf staatliche Hilfe zurückgreifen. Dies führt zum dem Gefühl, erniedrigt und entwertet zu werden und die „Ehre“ verloren zu haben. Da seine Berufsausbildung als Schlosser bereits mehrere Jahre zurückliegt und er keine Berufserfahrung vorweisen kann, ist er als Schlosser nicht zu vermitteln. Für die Tätigkeit in der Versicherungsbranche hat er keine in anderen Branchen anrechenbare Qualifikation erworben. Er bemüht sich um Umschulungen und entwickelt alternative Ideen, wie Taxifahrer, LKW-Fahrer etc. um anschließend eine Arbeit zu finden. Das Arbeitsamt lehnt

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seine Anträge ab, kann ihm aber auch keine Stellen im erlernten Beruf vermitteln. [...] wo ich mich als Schlosser immer nebenbei beworben habe, bei anderen Firmen, habe immer dann zu hören bekommen von denen: Sie sind jetzt halt schon länger als vier Jahre aus dem Beruf des Schlossers, weil Sie in der Produktion waren, oder weil Sie so Hilfsarbeiterjobs gemacht haben. Sie sind quasi jetzt schon berufsfremd, als Schlosser sozusagen, obwohl ich eine Ausbildung habe, hat mich keine Firma eingestellt, weil ich keine Erfahrung als Schlosser habe, die können mich nicht brauchen. Dann habe ich gesagt, ja was soll ich denn machen- Arbeitsamt, genau dasselbe, die haben das auch zu mir gesagt, ja wir finden Ihnen Schlosserstellen, ganz sicher, wenn- keine einzige haben sie mir vermitteln können, ich hab meine Bewerbungen- ich hab ungelogen, 40 Bewerbungen in drei Monaten geschrieben, nicht eine Stelle wurde mir vom Arbeitsamt vermittelt [...] (15:816)

Hier zeigt sich der wesentliche Nachteil seiner ersten beruflichen Entscheidungen im Anschluss an die Ausbildung. Er orientiert sich nach Abschluss der Ausbildung nicht an Arbeitsbereichen, für die sein Abschluss erforderlich ist, sondern arbeitet in Positionen, die er auch ohne die Schlosserausbildung hätte ausführen können. Da für ihn im Vordergrund steht, einen Arbeitsplatz zu haben, kalkuliert er die Folgen für seine weitere Berufslaufbahn nicht mit ein. Dadurch erlebt er, dass seine berufliche Weiterentwicklung durch die Arbeitsverwaltung wieder auf null gestellt und die erlernte berufliche Qualifikation wertlos wird, abgesehen von der Tatsache, dass er eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen kann. Er reagiert mit Wut und Enttäuschung und versucht sich vergeblich neu zu orientieren. Bereits in der Eingangserzählung macht er deutlich, dass ihn die Erfahrungen mit dem Arbeitsamt während dieser Lebensphase bis in die Gegenwart stark emotional beschäftigen. Als eine weitere Niederlage nimmt er wahr, dass er die Phase der Arbeitslosigkeit nur dadurch beenden kann, indem er über eine Leiharbeitsfirma eingestellt und bei BMW in der Produktion eingesetzt wird. Damit ist er wiederum in der Industrieproduktion angekommen, wenn auch in dem Konzern, in dem sein Vater und einer seiner Brüder tätig sind. Ihm wird aufgrund der familiären Netzwerke eine Festanstellung in Aussicht gestellt, auch da er über eine entsprechende abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Trotz der früheren rebellierenden Haltung gegen die Fließbandarbeit, erscheint ihm die Aussicht auf einen dauerhaften Arbeitsplatz in einem angesehenen Großunternehmen in dieser Lebensphase durchaus attraktiv. Ein Grund dafür liegt in der Wertschätzung der religiösen Vielfalt, die sich darin ausdrückt, dass es einen Gebetsraum für die mus-

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limischen Mitarbeiter gibt. Angesichts der Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung während der Ausbildung präsentiert er diesen Aspekt als überaus positiv. Die starke Präsenz von Migranten führt allerdings nicht dazu, dass die Behandlung durch seinen deutschen Meister und Schichtführer weniger diskriminierend ist. [...] so Gruppenleiter, wie man halt sagt und der hat mich dann zu einem Arbeiter mitgebracht, der war aus Niederbayern, aus Passau, also der war bayerisch, hat gesagt: Ja, das ist der M., den arbeitest du ein. Und, ja, hat mich bei ihm gelassen. Hat er die Maschinen genommen, dann sagt er zu mir, sagt er: Nimmst du diese Maschine, machst du diese so und so. Redet mit mir so, weil die das gewohnt sind, dass sie einfach diese Ausländer, die viele da drin arbeiten, dass sie nur mit ihnen so reden, erst dann verstehen sie, wenn er normal bayerisch- oder normale Sätze reden anfängt, dann verstehen die Leute die meistens nicht. Hab so angefangen, da hab ich gesagt: Du kannst mit mir schon richtig Deutsch auch reden, ich verstehe. Ach so, ach, du kannst deutsch, ach super, und so weiter. Aber keine fünf Minuten später hat er genauso wieder mit mir geredet (lacht). (8:39-48)

Erneut erlebt Mehmet Oktay Diskriminierung im Arbeitsalltag aufgrund seines Namens und Phänotypus. Als in Bayern geborener Mann aus einer türkeistämmigen Familie wird seine Zugehörigkeit immer wieder durch die andere äußere Erscheinung und den türkischen Namen in Frage gestellt. Seine geringen Möglichkeiten der Einflussnahme im Umgang mit in der Hierarchie über ihm Stehenden verdeutlicht, wie gering seine Handlungsmacht in dieser Frage ist. Der Vorgesetzte ist aufgrund von Alter, ethnischer Zugehörigkeit und seiner beruflichen Position mit der Macht ausgestattet, die es ihm erlaubt, Mehmet Oktay so zu behandeln wie er es „gewohnt“ ist. Sein Zugang zum Konzern BMW erfolgt im Rahmen schlechter bezahlter und vertraglich befristeter Zeitarbeit. Er bekommt immer wieder neue Arbeitsverträge und wird an unterschiedlichen Positionen in der Produktion eingesetzt. Die lange Fahrtzeit ist belastend und die Kosten für die Fahrten zum Arbeitsplatz verringern das Nettoeinkommen noch weiter. Trotzdem verlässt er sich darauf, dass die Aussicht besteht, in eine direkte Anstellung bei BMW zu wechseln. Nachdem mein Vater in der Rente war. Also, wo mir dann versprochen wurden, dass ich übernommen werde, und das hat immer noch nicht funktioniert eh- , bin ich dann eben misstrauisch geworden, habe mal noch überlegt, wie geht das, wie funktioniert d- das kann doch nicht sein, das- man wartet so lange drauf und ist mein Vater in Rente, wieso werde ich nicht übernommen? Und an meinem Arbeitsplatz (.) habe ich alle Arbeitsstellen gelernt, ich war wirklich so fleißig, ich habe von meinen Schicht- von den Gruppensprechern

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die Arbeit übernommen, als Leiharbeiter, wenn er nicht da war, Sachen gemacht, also, und das war wahrscheinlich der Hintergrund, dass sie einfach einen tüchtigen Arbeiter, dahin motivieren, aber die haben von Anfang an gewusst, dass ich es- nicht übernommen werde. Und irgendwann mal- man hat auch von Leuten gehört, die schon 4.000, 5.000 Euro bezahlt haben und dann nicht fest wurden und so weiter. (19:14-23)

Das informelle Verfahren der Übernahme des Arbeitsplatzes eines ausscheidenden Familienmitglieds wird ihm von Entscheidungsträgern indirekt in Aussicht gestellt. Allerdings wird die Festanstellung immer wieder hinausgezögert und Mehmet Oktay erhält weiterhin befristete Zeitarbeitsverträge. Die Praxis der Zahlung von Bestechungsgeldern schreibt er Neuzuwanderern aus der Türkei zu, die sich auf diesem Weg einen sicheren Arbeitsplatz erkaufen. Diese Konkurrenzerfahrung nimmt er als überaus bedrohlich war und hebt dadurch die Tatsache positiv hervor, dass er ein in Deutschland geborener Oberbayer türkischer Herkunft ist, der keine illegalen Praktiken anzuwenden bereit ist. Demgegenüber ordnet er sein Vorgehen, um den Arbeitsplatz des Vaters zu übernehmen als legitime Möglichkeit ein, während alle anderen Praktiken nicht legitim sind. Letztlich scheitert er aber mit seinen Bemühungen, sich durch familiäre Vorleistungen und eigenen hohen Arbeitseinsatz, eine Festanstellung bei BMW intergenerativ zu erarbeiten. An diesem Punkt zeigt sich, dass er dazu durchaus bereit gewesen wäre, auch wenn er die „Affenarbeit“ zuvor abgelehnt hat. Diese Haltung ist durchaus mit dem „Opfer“ des Vaters vergleichbar, der sich im Interesse der Versorgung der Familie die Prämisse „immer zu arbeiten“ dauerhaft erfüllt. Krise und berufliche Umorientierung Als er nach insgesamt fünf Jahren Zeitarbeit für BMW keine Verlängerung seines Vertrages erhält und damit „ausgestellt“ wird, muss er sich erneut arbeitslos melden. Dabei besteht die Möglichkeit nach einer Übergangszeit von einem Monat die Leiharbeit bei BMW fortzusetzen, was er aber ablehnt. [...] wenn ich jetzt noch mal fünf Jahre rein und werde wieder nicht übernommen, wie alt bin ich dann? Irgendwann muss ich mal was (.) haben, wo ich mich zurücklehnen kann. (4:44/45)

Die Erfahrung der langjährigen Unsicherheit seines beruflichen Status wird in dieser Lebenssituation zu einer existenziellen Frage. Der Wunsch nach Stabilität bezieht sich auf ein regelmäßiges Einkommen im Rahmen einer Festanstellung. Damit geht der Anspruch einher, sich nicht laufend auf berufliche Wechsel und

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Veränderungen einstellen zu müssen. Die Arbeitsinhalte sind aber durchaus verhandelbar. Dieser Wunsch wird in dem Zeitraum besonders deutlich sichtbar, als er gemeinsam mit seiner Partnerin eine Wohnung kauft und erstmals über Heirat und Kinder nachdenkt. Die Umsetzung der gemeinsamen Pläne erfordern allerdings finanzielle Grundlagen, für deren Bereitstellung er sich in der Verantwortung sieht. Die Unsicherheiten, die mit der Zeitarbeit einhergehen, stehen diesen Plänen entgegen, so dass sich Mehmet Oktay gegen eine Fortsetzung dieser Form der Erwerbsarbeit entscheidet. Auch in der zweiten Phase von Arbeitslosigkeit muss er sich mit der Arbeitsverwaltung auseinandersetzen, die erneut keine Angebote macht und seine Vorschläge für Umschulungen schroff zurückweist. Das Verhalten der Behörde nimmt er in beiden Zeiträumen identisch wahr, so dass es ihm passiert, dass er die beiden Zeiträume und die Erfahrungen mit den jeweiligen Arbeitsvermittlern in der Darstellung im Interview zusammenbringt, und in der Analyse unklar bleibt, wann welche Situationen und Dialoge stattgefunden haben. Insgesamt bedeutet die Rekapitulation der Erfahrungen mit dem Arbeitsamt, dass sich Mehmet Oktay überaus stark aufregt und in Wut darüber gerät, dass ihm die Unterstützung verwehrt wurde. Vor allem die Empfehlung, „zu Hause abzuwarten“ empfindet er als besonders erniedrigend, zumal er eine Vielzahl von Überlegungen anstellt und recherchiert, welche Umschulungen und alternativen Berufe für ihn geeignet sein könnten. Sein Engagement läuft jedoch ins Leere, so dass er sich als abgelehnt und unerwünscht wahrnimmt. Angesichts der neuen Regelungen zur Grundsicherung im Falle von Arbeitslosigkeit von länger als einem Jahr, die in dieser Phase in Kraft treten, fürchtet er zudem den Verlust der gemeinsam mit der Partnerin erworbenen Wohnung. Das Interesse an einem Beruf im sozialen Bereich wird durch die Frauen seiner Familie besonders gefördert. Eine seiner Nichten arbeitet als Krankenschwester, die Mutter seiner Partnerin ist ebenfalls im Krankenhaus tätig. Somit erhält er erste Informationen aus dem Bereich der sozialen Berufe von den Frauen der Familie, die im Gegensatz zur Mutter einen Beruf erlernen und erwerbstätig sind. In der Darstellung seiner Entscheidung werden die Männer der Familie und auch seine Mutter nicht genannt. Während sie bei früheren beruflichen Entscheidungen, als es um die handwerklich-technischen Berufe geht, eine Rolle spielen, ist der Wechsel in den sozialen Bereich eingebettet in Einschätzungen und Ratschläge von Frauen mit Berufserfahrung. Den Einstieg in einen Pflegeberuf begründet er dabei auch mit den beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, die ihm vom männlichen Leiter des Krankenhauses bereits vor Beginn der Ausbildung in Aussicht gestellt werden. Er bekommt umgehend die Zusage für einen Ausbildungsplatz. Zudem profitiert er jetzt auch davon, dass er bereits eine abgeschlos-

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sene Ausbildung hat, da dadurch sein Hauptschulabschluss zu einer Mittleren Reife hochgestuft wird und der die formalen Voraussetzungen für den Beruf des Krankenpflegers erfüllen kann. Während er in der Industrieproduktion trotz abgeschlossener Ausbildung überwiegend ungelernte Tätigkeiten ausgeführt hat, und er durch die Ausbildung keine Aufstiegsvorteile hatte, erleichtert ihm die abgeschlossene Berufsausbildung den Zugang zum Krankenpflegeberuf. Die Beschäftigungsaussichten sind angesichts des Fachkräftemangels und der demographischen Entwicklungen in einem körperlich und inhaltlich anspruchsvollen Beruf günstig. Zudem nimmt die Bedeutung der transkulturellen Pflege zu, so dass er als Oberbayer türkischer Herkunft durchaus erwünschte Fähigkeiten mit in den Berufsalltag einbringen kann. Sein Ziel, möglichst bald eine Festanstellung zu erreichen, ist durch die berufliche Neuorientierung überaus aussichtsreich.76 Zudem kennt er sich mit der Arbeit im Schichtsystem bereits aus und wird von seiner Umgebung als „sozialer Mensch“ wahrgenommen. Eine Kritik durch die Männer der Familie an dem Ausstieg aus den männlich besetzten Feldern der handwerklich-technischen Berufe wird nicht thematisiert. Da das Arbeitsamt die Ausbildung nicht als offizielle Umschulung fördern will, muss Mehmet Oktay sich finanziell einschränken und mit dem üblichen Ausbildungsgehalt auskommen. Neben den finanziellen Risiken stellt die Ausbildung im medizinischen Bereich ihn aber auch vor inhaltliche Herausforderungen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt, es ist schon eine Umstellung, wenn man vom industriellen da vom Metallberuf in einen Medizinbereich kommt, ich hatte am Anfang sehr schwergetan, aber lernen, lernen, lernen anders ging es nicht, bis halt sich selber in den Arsch getreten, dann hat es halt funktioniert. Ich muss sagen, im ersten Jahr Notendurchschnitt von 1,8 gehabt und da habe ich gesagt, es geht doch wenn man, hätte ich früher nie gedacht weil ich war ja immer der Dreier- Vierer- Fünferschüler. (4:25-30)

Aufgrund seiner negativen Erfahrungen mit Schule ist er zu Beginn der Ausbildung stark verunsichert, da er seine Kenntnisse und Fähigkeiten als gering einschätzt. Wie bereits in der Schulzeit zeigt er körperliche Symptome und bekommt „Bauchschmerzen“, weil er sich überfordert fühlt. Positiv wirkt sich aus, dass er im Gegensatz zur Schulzeit eine kompetente Unterstützung in seiner Partnerin findet, die ihm beim Lernen hilft. Innerhalb kurzer Zeit macht er die

76 Allerdings liegen die Gehälter unter denen, die er im handwerklich-technischen Bereich erreichen kann, was jedoch angesichts der Leiharbeit und der prekären Beschäftigungssituationen wiederum durch die Aussicht auf Arbeitsplatzstabilität ausgeglichen werden kann.

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Erfahrung, dass ihn intensives Lernen zum Erfolg führt und nimmt dies als Zuwachs an Selbstwertgefühl wahr. Zudem wird ihm deutlich, dass er entgegen seiner bisherigen geringen Meinung von sich selbst durchaus über die erforderliche Intelligenz und ein ausreichendes Durchhaltevermögen auch in Bezug auf den Erwerb institutionell vermittelten Wissens verfügt. Er erhält Anerkennung von seiner Familie und seinen Mitschülern, die ihn zum Schulsprecher wählen. Partnerwahl und Eheschließung Aufgrund der bikulturellen Ehe von Mehmet Oktay und der Anwesenheit seiner Ehefrau am Ort unseres Gesprächs, thematisiert er seine Partnerschaft und die damit zusammenhängenden Problemfelder ausführlich. Er stellt mir seine Ehefrau als Tochter deutscher Einwanderer aus der Sowjetunion vor. Im Anschluss daran wird die ethnische Differenz der Paarbeziehung erst dann wieder aufgegriffen, als es um die komplizierte Ausrichtung einer türkisch-russischen Hochzeit geht. Im Kontext der Paarbeziehung erfolgt eine Einordnung seiner Partnerin als Deutsche. Diese Positionierung ist biographisch relevant und liegt vor allem darin begründet, dass er sich mit Vorbehalten seiner Familie und der türkeistämmigen Umgebung mit einer interethnischen Paarbeziehung auseinandersetzen muss, die dabei auch eine Einordnung seiner Partnerin als aus Russland kommend vornehmen. Mehmet Oktay thematisiert vor allem die Problemfelder, die er im Zusammenhang mit seiner eigenen Familie sieht, so dass die Eltern seiner Partnerin lediglich am Rande vorkommen. Er selbst ist nach einer kurzen Phase des Kennenlernens sicher, dass er die richtige Partnerin gefunden hat und setzt sich mit der befürchteten Ablehnung der Beziehung durch seine Familie auseinander. Vor allem das Ansehen der Familie, besonders das des Vaters als dem Außenrepräsentanten der Familie im Rahmen der türkeistämmigen Familiennetzwerke, betrachtet er als gefährdet, wenn er eine offizielle und auf Dauer angelegte Beziehung zu einer nicht türkeistämmigen Frau eingeht. Und das war- das fängt schon damit an, wenn- als ich meine Freundin damals kennengelernt hab- jetzige Frau kennengelernt habe, ja, meine Mutter kam nicht und hat nicht- oder mein Vater ist nicht gekommen und hat nicht zu mir gesagt, ja, hier wirst du vielleicht mal Schwierigkeiten haben, sei es der Glaube, sei es die Sunna, was werden die anderen Leute sagen? Wenn du mit einer Frau da- mit einer Blonden da zusammen bist, und so- was werden die anderen sagen? Dann ist halt- ich hab- bin dem Gespräch dann halt ausgewichen, ausgewichen. (6:17-22)

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Er geht davon aus, dass die türkisch sozialisierte Umgebung seine Beziehung verurteilen und ablehnen wird und auch die Eltern die Partnerin nicht akzeptieren werden. Die „blonde Frau“ symbolisiert unabhängig vom tatsächlichen Verhalten eine Frau, deren Aktivitäten nicht der strengen Selbst- und Fremdkontrolle unterliegen und die damit grundsätzlich für alle Männer als Sexualpartnerin verfügbar ist. Sie kommt damit, normativ betrachtet, als Ehefrau nicht in Frage.77 Darüber hinaus ist die ethnische Einordnung seiner Partnerin als aus Russland stammend ein weiterer Anlass für rassistische und sexistische Vorbehalte des türkeistämmigen Umfeldes.78 Seine Positionierung in der Frage der ethnischen Einordnung seiner Ehefrau erfolgt, indem er zwischen ihr und ihren Eltern differenziert. Zwar sind ihre Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert, die Familie ist allerdings deutscher Abstammung, so dass seine Partnerin auch aufgrund ihrer überwiegenden Sozialisation in Deutschland von ihm als deutsch eingeordnet wird. Sie spricht akzentfreies Deutsch, hat in Deutschland die Schule besucht und eine Ausbildung als Erzieherin gemacht. Sie wird zudem aufgrund ihres Namens und ihrer äußeren Erscheinung im Gegensatz zu ihm selbst in der Umgebung nicht als fremd eingeordnet. In der Zeit, als sich Mehmet Oktay für seine Partnerin entscheidet, auch wenn dies noch nicht offiziell und öffentlich erfolgt, erweisen sich die Disziplinierungsstrategien der Eltern teilweise als gescheitert. Der älteste Bruder wurde früh in eine Eheschließung mit einer normkonformen Türkin gedrängt, da die Eltern seine Phase, in der er „jeden Mist“ macht, beenden wollen. Nach dreizehn

77 Während in der Lebensphase als unverheirateter junger Mann sexuelle Beziehungen Frauen toleriert werden können, die nicht den Kriterien von Ehre und Scham unterliegen, kann eine feste nichteheliche sexuelle Beziehung mit anschließender Eheschließung zu einer potenziell konfliktreichen Angelegenheit werden. 78 Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion stehen seit der Grenzöffnung zur Türkei zu Beginn der 1990er Jahre in der besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Medien. Dabei werden vor allem sexuelle Dienstleistungen seitens der Männer in der Türkei stark nachgefragt, sowohl in den Grenzregionen als auch in den Großstädten der Türkei. Darüber hinaus gibt es Zwangsprostitution und Heiratsvermittlung. Seit den 1990er Jahren sind die Medien angereichert mit Berichten und Geschichten über Frauen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die stets mit Fotos von leicht bekleideten „blonden“ Frauen bestückt werden. Aufgrund des einfachen Zugangs zu Medien in türkischer Sprache aus der Türkei ist davon auszugehen, dass die dargestellten Bilder von der „blonden“ Frau sowohl in der Familie wie auch der türkeistämmigen Umgebung der Familie bekannt sind und weitgehend unkritisch übernommen werden.

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Ehejahren trennt er sich von seiner Ehefrau und zieht mit seinen beiden Söhnen übergangsweise bei seinen Eltern ein. Die Trennung bedeutet den Verlust von Ansehen für die Familie, in erster Linie für den Vater, der als Initiator der Eheschließung für das Scheitern mitverantwortlich gemacht wird. Die ethnische Homogenität der Partner als Garant für eine lebenslange Ehe kann von nun an nicht mehr zur alleinigen Prämisse bei der Partnerwahl zugrunde gelegt werden. Somit hat Mehmet Oktay die Möglichkeit, eine feste Beziehung zu einer Frau einzugehen, die nicht türkeistämmig ist. Angesichts der Überschaubarkeit des Lebens im ländlichen Raum, bzw. in einer Kleinstadt, in der die gesamte Familie zu dem Zeitpunkt lebt, ist nicht anzunehmen, dass die Beziehung über Jahre hinweg geheim gehalten werden konnte. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Beziehung von der türkeistämmigen Umgebung als sexuelle Beziehung zu einer Frau eingestuft wird, die spätesten durch die Anbahnung einer ethnisch homogenen Ehe mit einer türkeistämmigen Frau beendet wird. Dadurch wird aus dem Geheimhalten ein „Nicht-offiziell-Machen“ einer Beziehung, die für Mehmet Oktay selbst bereits seit längerer Zeit einen bindenden Charakter hat. Allerdings kann er sich nicht vorstellen, die Partnerschaft ohne Zustimmung und gegen den Willen der Eltern aufrechtzuhalten. Damit verlangt er sich selbst aber vor allem seiner Partnerin ein überaus hohes Maß an Einsatz und Disziplin ab. Bei der Präsentation dieser Lebensphase wird sichtbar, dass er implizite Erwartungen der Eltern wahrnimmt und sie erfüllen möchte, gerade da er als jüngster Sohn kaum mit explizit formulierten Erwartungen konfrontiert wurde. Die Strategie, seine Partnerin zu einem Zeitpunkt offiziell einzuführen, als die innere Verfasstheit der Familie durch die Trennung des Bruders und die Erkrankung der Mutter kritisch geworden ist, erweist sich als erfolgreich. Über die Mutter erhält die Freundin Zugang zur Lebenswelt der einzigen Frau der Kernfamilie, deren Meinung zusammen mit dem Vater Gewicht hat. Vorhandene Vorbehalte können mit dem Hinweis auf die gescheiterte Ehe des Bruders mit einer türkeistämmigen Frau ausgeräumt werden und einer Beziehung und anschließenden Eheschließung werden keine weiteren Hindernisse in den Weg gestellt. Mehmet Oktay zieht sogar zusammen mit der Freundin in die gemeinsam gekaufte Wohnung bevor die offizielle Hochzeit stattgefunden hat. Da der Vater allerdings in dem Zeitraum in die Rente geht und die Eltern damit nur noch zeitweise Aufenthalte in Deutschland planen, erleichtern die Eltern Mehmet Oktay durch ihre Zustimmung den Auszug und die Loslösung aus dem elterlichen Haushalt. Die Trennung von der Mutter fällt ihm allerdings durchaus schwer. Zwar ist er bereits 25 Jahre alt, präsentiert sich aber durchaus selbstironisch als „Muttersöhnchen“ und weint bei Telefonaten mit der Mutter, obwohl er nicht weit weg von den Eltern lebt.

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Die offizielle Feier zur Eheschließung, die er als eine gelungene Kombination aus türkischen und russischen Traditionen ausführlich präsentiert, stellt den Höhepunkt seines bisherigen Lebens dar. Dabei gab es eine Vielzahl konkreter Befürchtungen angesichts der gegensätzlichen Regeln und Normen, die auf einer solchen türkisch-russischen Großveranstaltung aufeinandertreffen könnten. Das war so ein- so ein Problem dann, irgendwann- irgendwas muss man machen, hin und her und mein Gedanke war halt immer, oh Gott, wenn die Russen zu trinken anfangen und die türkischen Frauen auf der Tanzfläche, das gibt- das endet nur in einem Fiasko, nur ehSchlägereien habe ich da gesehen und oah- (.) aber zum Glück haben sich- also ich- ich weiß nicht, wie wir es angestellt haben, zum Glück haben sich alle so zusammengerissen, da war nichts, das war also, von den- von den Gästen her, also, wir haben natürlich viele ausladen müssen, also da, oder gar nicht eingeladen, weil erst mal haben wir nicht so einen großen Saal hier gefunden, wo tausende Leute reinpassen, haben wir gesagt, wir begrenzen uns auf 353, trotzdem sind es über 400 geworden... (7:1-8)

Die gelungene Durchführung der Feier besiegelt seine Entscheidung für seine Partnerin und bedeutet auch eine Legitimierung ihrer Beziehung durch die beteiligten ethnischen Gruppen. Dies ist umso bedeutsamer, als dass er sein Erwachsenwerden in den Zusammenhang mit der offiziellen Hochzeit stellt. Er ist bereits 30 Jahre alt als die Feier stattfindet und nimmt gerade deshalb umso mehr wahr, dass er mit der Heirat den endgültigen Abschluss der Jugend vollzieht und von da ab von der Umgebung als Erwachsener anerkannt wird. Diese Erkenntnis überrascht ihn selbst, da er sich aufgrund der zahlreichen beruflichen und sozialen Erfahrungen durchaus als erwachsen verstanden hat, bis zu dem Zeitpunkt als ihm die Erwachsenen signalisieren, dass er es wirklich ist. Nein, das ist nicht so gewesen, wie mein Bruder vorhin gesagt hat: Du hast viel geredet, du hast viel geredet, du redest viel. eh- aber mittlerweile ist es wieder ganz anders, da wo man dann sagt, ok, man redet viel, aber man hat das Gefühl, man wird angehört und das wird auch angenommen von den Leuten. Vielleicht macht das auch, dass man älter jetzt ist, aber, ich habe das Gefühl schon seit wir geheiratet haben [...] (7:42-46)

Die bireligiöse Konstellation der Partnerschaft zwischen einem sunnitischen Muslim und einer katholischen Christin bringt im Arbeitsalltag seiner Ehefrau Komplikationen mit sich. Seine Partnerin arbeitet in einer katholischen Kindertagesstätte, die für ihre Mitarbeiter spezifische Anforderungen und Normen festlegt. Ihr Arbeitsvertrag verpflichtet sie zu einer kirchlichen Trauung, die aber in der Praxis nicht mit einem muslimischen Partner vollzogen werden kann. Auf-

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grund der großen „Toleranz“ des zuständigen Pfarrers gibt es in ihrem Fall zwar aktuell keinen Druck, es ist aber möglich, dass es nicht immer so bleibt. Mehmet Oktay signalisiert im Konfliktfall zwar verbal die Bereitschaft, im Interesse des Arbeitsverhältnisses seiner Partnerin die Konfession zu wechseln, versteht sich aber als durchaus überzeugten Muslim, auch wenn er seine Religionsausübung als Privatangelegenheit bezeichnet. Vor allem angesichts seines Arbeitsalltags in einem katholischen Krankenhaus begegnet er dem katholischen Personal, das das Vorhandensein christlicher Symbole verteidigt. Umso größer ist sein Stolz, dass er trotz der religiösen Verschiedenheit in die „christliche Krankenpflege“ integriert wird. Dies geht so weit, dass er als Sprecher der Krankenpflegeschule in der Weihnachtszeit für die Ausrichtung einer Weihnachtsfeier verantwortlich ist. Die Verantwortung erfüllt ihn mit Stolz und der Gewissheit, dass Veränderungen möglich sind und er aktiv daran teilhaben kann. 4.4.5 Zusammenfassung und Analyse der thematischen Felder Die Auseinandersetzung mit Diskursen um Zugehörigkeit, wie sie in der Öffentlichkeit thematisiert und in der Alltagspraxis ihre Wirkung zeigen, bilden eine zentrales thematische Feld in den biographischen Selbstpräsentationen von Mehmet Oktay. So entwirft Mehmet Oktay seine Lebensgeschichte als positiven Gegenentwurf zum in den Medien reproduzierten Bild vom bildungsfernen Migranten der zweiten Generation, der als Bewohner städtischer Ballungszentren identifiziert wird. Damit ist die Grundlage geschaffen, auf der sich Mehmet Oktay als verschieden, anders und fremd, bzw. nicht fremd präsentiert, was einem Spiel mit Identitäten, Selbstwahrnehmungen und Fremdperspektiven gleichkommt. Er erörtert in argumentativer Weise, wann Irritationen bei wem vorliegen und welche Lesarten er diesen Fremdwahrnehmungen auf die eigene Person zuweist. Die Bewertung erfolgt dabei in durchaus ambivalenter Weise, durch die unterschiedlichen Varianten von Außenseiterpositionen negative und positive Deutungen erfahren. Aufgrund der Aneignung von Alltagssprache, kultureller Alltagspraxis und habituellen Techniken, die für die sozialen Interaktionen erforderlich sind, nimmt sich Mehmet Oktay als zugehörig zur Geburts-, Sozialisations- und Wohnumgebung wahr. Die institutionelle Integration erfolgt in der frühen Kindheit über den Fußballverein, nicht aber durch die Bildungsinstitutionen. Dabei präsentiert er sich in der Minderheitenposition „als einziger Türke im deutschen Verein“ als besonders engagiert und motiviert, den Angehörigen der Mehrheit seine Leistungsbereitschaft zu zeigen. Trotz der von Mehmet Oktay vertretenen offensiven Perspektive auf die eigene Person als oberbayerisch, lebt die Familie außerhalb der geschlossenen

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Dorfgemeinschaft und findet im Dorf ein Zuhause, aber keine auf Dauer angelegte Heimat. Aufgrund seiner besonderen Rolle als jüngster Sohn, der darüber hinaus stolz darauf ist, in Deutschland geboren zu sein, nimmt Mehmet Oktay die Außenseiterposition der Familie weniger wahr als seine älteren Brüder, die durch ihre Umzüge in die nächst gelegene Kleinstadt die Verlagerung des Lebensmittelpunktes aller weiteren Familienmitglieder in die Wege leiten. Für Mehmet Oktay ist dieser Wechsel weniger relevant, da er sich als zu Oberbayern als Region gehörig positioniert. Dabei ist das Thema Diskriminierung in seiner biographischen Selbstpräsentation immer dann relevant, wenn er damit konfrontiert wird, dass Außenstehende die Diskrepanz zwischen seiner äußeren Erscheinung und seinem Namen nicht mit seinem Sprechstil und Habitus in Einklang zu bringen bereit sind. Die Irritationen und Fragen der anderen irritieren ihn selbst vor allem deshalb, da er sich selbst als von Geburt an zugehörig betrachtet und eine Differenz nicht ohne weiteres herzustellen bereit ist. In der Auseinandersetzung mit den Herkunftsoptionen, die sich aus den Selbst- und Fremdwahrnehmungen ergeben, versteht er sich als erster Angehöriger einer neuen Generation, die sich in einen neuen sozialräumlich zu verstehenden Bezugsrahmen verortet. Dies gilt auch für die Positionierung zur Herkunft seiner Familie und ihrer Migrationsgeschichte, mit der er einen Umgang findet, der emotionale Nähe und Respekt ermöglicht, ohne sich den in der Familie vermittelten Wertvorstellungen ungefragt zu unterwerfen. Dabei ist er als der jüngste Sohn der einzige seiner Familie, der keine Erinnerung an ein Leben in der Türkei hat, so dass er auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen ist, die ihn, wie das Beispiel des Vaters mit seinen phantasievollen Geschichten zeigt, nicht immer überzeugen können. Daraus entsteht auch eine Art Sehnsucht nach Material über die Vergangenheit der Familie, mit dem er sein Defizit ausgleichen kann und seine durchaus positive Selbstverortung als Türke ausstatten kann. Dabei erfolgt gerade im Hinblick auf Werte und Normen eine Umorientierung innerhalb der Familie, die sich in der veränderten Haltung der Eltern gegenüber der Partnerwahl ihrer Söhne ausdrückt. Dieser Wandel ist das Ergebnis negativer Erfahrungen, von denen Mehmet Oktay als jüngster Sohn profitiert, so dass er weder großen Druck zu heiraten erfährt, noch die Eheschließung mit einer nichtmuslimischen Partnerin scheitert. Im Vergleich mit den bereits vorstellten Analysen beschäftigt sich Mehmet Oktay im Interview explizit auch mit dem muslimischen Glauben. Er versteht sich in der Erweiterung zum Türken aus Oberbayern, als muslimischer Türke aus Oberbayern. Diese besondere Betonung der Religion erfolgt auch vor dem Hintergrund seiner derzeitigen Tätigkeit in einem katholischen Krankenhaus, aber auch aufgrund seiner interreligiösen Ehe. Die institutionelle Verbindung von

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Kirche und karitativen Einrichtungen in Bayern führt dazu, dass sich Mehmet Oktay mit dem Thema Katholizismus konfrontiert sieht und seine Positionierung als Muslim in einer Diasporakonstellation an Bedeutung gewinnt. Insgesamt versteht sich Mehmet Oktay in seinem Lebensumfeld als Vertreter einer Minderheitenposition, die eingebettet ist in biographisch relevante Erfahrungen seit der frühen Kindheit und die dazu führt, dass er sich im Rahmen seiner Selbstwahrnehmung als „einziger“ seiner Art oder auch als „einziger Türke“ besonders anstrengt, um anderen zu gefallen und seine Leistungsfähigkeit besonders unter Beweis zu stellen. Ein weiteres thematisches Feld besteht in der Beschäftigung mit der Erwerbsarbeit als konstitutiver Bestandteil der individuellen Zugehörigkeit. Mehmet Oktay geht davon aus, dass Zugehörigkeit erarbeitet werden kann. Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung mit rassistischen Alltagsdiskursen, die Türken als arbeitsunwillig zu stigmatisieren. Davon ausgehend zeigt sich in der Fallstruktur von Mehmet Oktay eine biographische Kodifizierung der „Pflicht zur Arbeit“ und dem damit einhergehenden Bemühen um die Vermeidung der Inanspruchnahme von Transferzahlungen des Wohlfahrtsstaates. Diese Haltung wird intergenerativ über das Vorbild des Vaters weitergegeben. Nichtarbeit und Arbeitslosigkeit rechtfertigen damit im Umkehrschluss den Ausschluss von Teilhabe an der Gesellschaft, denn die Deutungshoheit der Mehrheitsgesellschaft führt dazu, die Zugehörigkeit zur Gesellschaft entlang der Erfüllung einer Arbeitspflicht zu definieren und wenn diese sagen kann: „Ausländer arbeiten schon wieder nicht“, so liegt ein Verstoß gegen diese Prämisse vor. Dies kann schon dadurch gegeben sein, dass einer nicht arbeitet, wie es in der Familie von Mehmet Oktay auch passiert ist, so dass dann alle anderen, die dieser homogen geschlossenen Gruppe der Türken von der Mehrheitsbevölkerung zugerechnet werden, ebenfalls von der Infragestellung ihrer Zugehörigkeit betroffen sind. Die fatale Verknüpfung signalisiert, dass die diskursiven Verschränkungen von rassistischer Berichterstattung und den rassistischen Vorurteilen der Mehrheitsbevölkerung über das Bild vom arbeitsunwilligen Türken in der Familie überaus stark verinnerlicht worden sind. Mehmet Oktay positioniert sich als Angehöriger einer ethnisch türkisch eingegrenzten Wir-Gruppe rund um ein leistungsorientiertes Erwerbstätigkeitsparadigma. Die Bekräftigung und Überhöhung der individuellen Leistungsbereitschaft erfolgt als Schutz gegen die rassistisch konnotierte Stigmatisierung durch die hegemonialen Diskurse der Mehrheitsgesellschaft. Unabhängig von den Arbeitsinhalten ist eine „Festanstellung“ das Ziel der Erwerbslaufbahn. Den Nachteilen, die diese Zielsetzung mit sich bringt, begegnet Mehmet Oktay aber bereits zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn. Er setzt sich mit den monotonen Abläu-

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fen der Fabrikarbeit auseinander und ist nicht bereit, die Nachteile der innerfamiliär vertretenen und praktizierten Arbeitspflicht unhinterfragt zu akzeptieren. Dies geschieht auch deshalb, da er seine „Initiation“ in die rassistische Arbeitswelt absolviert hat. Dabei ist die berufliche Umorientierung eine Folge der verweigerten Festanstellung bei BMW. Trotzdem besteht eine Sehnsucht nach der Sicherheit eines stabilen Arbeitsverhältnisses, von dem er annimmt, dass es in erster Linie in einem Großunternehmen wie BMW zu finden ist. Im Vergleich der Arbeitssituationen bei BMW und aktuell im Krankenhaus ist Unsicherheit festzustellen. Während bei BMW klar war, dass die Mehrheit ebenfalls einen Migrationshintergrund hat, findet sich Mehmet Oktay im christlichen Krankenhaus in einer Minderheitenposition wieder. Die Wahrnehmung religiöser Differenz führt zu Verunsicherung über die eigene Position als Angehöriger einer Minderheit und macht eine individuelle Bearbeitung erforderlich. Angesichts des schwierigen Starts in die Bildungslaufbahn allerdings entwickelt er ein thematisches Feld, indem er sich bis in die Gegenwart mit seiner schwierigen Bildungslaufbahn auseinandersetzt. Dabei legt er besonderen Wert darauf, zu betonen, dass er aus problematischen Situationen immer wieder einen Ausweg gefunden hat und sich als fähig gezeigt hat durchzuhalten. Er ist immer wieder bereit, einen hohen Einsatz zu zeigen, an sich zu arbeiten und Neuorientierungen vorzunehmen. Dabei kann er sich vor allem auf die emotionale Stabilität verlassen, die er in der Familie und bei seiner Partnerin findet. Er ist eng in das familiäre Netzwerk von Eltern, Brüdern und deren Familien eingebunden und fühlt sich angenommen und geborgen. Dies gilt seit der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter, so dass er sich darauf verlassen kann, dass die stabilen sozialen Beziehungen ihn unterstützten, wenn er sich in Krisensituationen befindet. Aus dieser sicheren Position heraus zeigt er einerseits Verständnis für die schwierige Situation der Eltern und kann andererseits ihre Haltungen und Entscheidungen bzw. ihre Passivität in der Vergangenheit kritisieren, ohne die Lebensleistung der Eltern zu entwerten. Er macht ihnen keine Vorwürfe, dass sie sich nicht ausreichend für ihn eingesetzt zu haben und verzichtet ebenso auf eine Kritik der strukturellen Rahmenbedingungen, die seine Bildungslaufbahn beeinflusst haben. Auch die problematischen Erfahrungen mit Zeitarbeit und prekären Lebenslagen stellt er nicht in den größeren ökonomischen Zusammenhang struktureller Krisen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Verantwortlichkeit für Diskontinuitäten in seiner Biographie nicht anderen übertragen werden kann, sondern vielmehr die Aufgabe der Bearbeitung individuell bei ihm liegt. Eine Ausnahme bildet dabei lediglich die Institution der Arbeitsverwaltung, mit deren Weigerung er sich ausführlich beschäftigt.

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Als jüngster Sohn mit Brüdern, die ihre eigenen Familien und damit eigene Sorgen haben, präsentiert er sich als umsorgt und verwöhnt. Der Vater und die Brüder sind als männliche Vorbilder vorhanden, sind aber insbesondere Vertreter von traditionellen männlichen Rollenbildern, arbeiten in technischhandwerklichen Berufen (bei BMW und in weiteren Industriebetrieben im Umland) und haben früh geheiratet. Sie verstehen sich als Alleinverdiener und Versorger von Ehefrau und Kindern, so dass die Partnerin zumindest so lange nicht erwerbstätig ist, so lange die Kinder zur Schule gehen.79 Vor diesem Hintergrund hat Mehmet Oktay es schwer, sich aus der Bevormundung herauszulösen und sich und vor allem den anderen zu beweisen, dass er seine beruflichen und privaten Entscheidungen eigenständig treffen kann. Dabei profitiert er jedoch erheblich davon, dass die Erwartungshaltung der Eltern gering ist und er damit einen größeren Gestaltungsspielraum zur Verfügung hat. So kann er sich auf das gewagte Experiment der Selbständigkeit einlassen, ohne dass er befürchten muss, die ökonomische Situation einer ganzen Familie zu gefährden. Auch seine Eheschließung mit einer nicht-türkeistämmigen Frau und die besonders enge Beziehung zur Mutter weisen darauf hin, dass er sich ein hohes Maß an sozialer Kompetenz aneignet und über ein flexibleres Rollenverständnis als Mann verfügt, als dies für die älteren Brüder der Fall ist. Gleichzeitig führen die veränderten strukturellen Bedingungen in der Arbeitswelt dazu, dass er als der Nachzügler der Familie bedeutende Nachteile beim Zugang zu einem stabilen und dauerhaften Arbeitsverhältnis hat.80 Im Hinblick auf sein Arbeitsverständnis präsentiert er den Grundsatz des Vaters, „…da war wichtig, dass wir immer arbeiten“ als handlungsleitend. So ist es eine zentrale familiär verinnerlichte und intergenerativ weitergegebene Prämisse, dass außerhäusliche, entlohnte Erwerbsarbeit die Pflicht aller männlichen Familienmitglieder ist. Die Arbeitsinhalte und auch die Zufriedenheit am Arbeitsplatz spielen eine untergeordnete Bedeutung. Auch Mehmet Oktay wählt im Anschluss an den Hauptschulabschluss einen Ausbildungsberuf im handwerklich-

79 Dazu Michael Meuser (1998: 142): „Die traditionell verbürgte Männlichkeit ist eine fraglos gegebene. Männliches ‚Geschlechtsbewusstsein‘ äußert sich gewissermaßen en passent.“ 80 Die Region weist geringe Arbeitslosenquoten auf, sowohl im Vergleich zur gesamten Bundesrepublik Deutschland, als auch im Vergleich innerhalb Bayerns. Nach Auskunft des älteren Bruders gab es nie einen ernsten Grund zur Sorge um Arbeitsplätze in der Industrie, da in der Region eine Vielzahl von Zulieferbetrieben der Automobilindustrie ansässig sind, die ein breites Spektrum an Tätigkeiten in der Produktion anbieten.

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technischen Bereich, in dem auch die weiteren Männer seiner Familie tätig sind. Zudem wird erwartet, dass er sich während der Ausbildung diszipliniert und angepasst verhält. Rebellion gegen Erniedrigungen sind nicht erwünscht, vielmehr wird erwartet, dass er seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit beweist und somit der Anerkennung seiner Familie würdig zu sein. Dabei liegt der Fokus allerdings weniger auf dem „eigenen Auskommen“, was bei Sinan Koç von größter Wichtigkeit ist, sondern vielmehr in der umfassenden Vorbereitung auf die von den Brüdern und dem Vater prognostizierte fortdauernde Diskriminierung in der Arbeitswelt. Mehmet Oktay erfüllt auch zunächst die an ihn gestellten Erwartungen, ist aber anschließend zunächst nicht bereit, die vorgegebenen Stationen seines Berufslebens weiterzugehen. Er rebelliert gegen die „Affenarbeit“ am Fließband und ist erst nach dem gescheiterten Versuch der Selbständigkeit mit anschließender Arbeitslosigkeit bereit, mit den bestehenden Erwerbsmöglichkeiten pragmatisch umzugehen. Das von Mehmet Oktay verinnerlichte Spannungsverhältnis zwischen der familiär auferlegten Verpflichtung zu Erwerbsarbeit und der Realisierung eigener Wünsche jenseits der Fabrikarbeit verdeutlicht sein hohes Maß an kritischer Analyse und Reflexion aber auch seine widersprüchlichen Positionierungen. So stellt er im Rückblick fest, dass die stabile Anstellung bei BMW bis zum Erreichen des Rentenalters abgesehen von stabilem Einkommen wenig Inhalte und Selbstverwirklichung gebracht hätte. Trotzdem arbeitet er sich am Migrationserfolg des Vaters ab, indem er darauf beharrt, den Arbeitsplatz des Vaters bei BMW zu übernehmen, um ganz pragmatisch einen langfristig stabilen Arbeitsplatz zu erhalten. Angesichts seiner Heiratspläne und Investitionen in eine gemeinsame Wohnung mit der Partnerin, ist er bereit, seine persönliche Abneigung gegen die Arbeit in der Industriemontage abzulegen und seine Wünsche nach einer anderen Tätigkeit, die er in dem Moment inhaltlich noch nicht beschreiben kann, zu opfern. An dieser Stelle zeigt sich, dass so, wie der Vater seine Wünsche für die Versorgung der Familie geopfert hat, er in gleicher Weise seine Bereitschaft dazu signalisiert. Durch die vorübergehende Reduzierung seiner Wünsche darauf, dem Vorbild des Vaters zu folgen, verliert er jedoch den Blick für andere berufliche Möglichkeiten. Er geht er wie selbstverständlich davon aus, dass jeder Mensch das Ziel hat, eine Lebensstellung bis zur Rente zu erreichen, indem er die rhetorische Frage „Wer nicht?“ hinzufügt. Erst als er realisiert, dass die Lebensstellung nicht erreichbar sein wird, ist er bereit sich umzuorientieren. Allerdings muss er sich damit eingestehen, dass an den Vater mit seiner Opferbereitschaft und Arbeitsdisziplin, „keinen Tag arbeitslos zu sein“ nicht heranreichen wird. Mehmet Oktays Arbeitsverständnis ist überaus pragmatisch und ausgerichtet auf Stabilität und Arbeitsplatzsicherheit. Die Diskreditierung der Fließbandarbeit

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als „Affenarbeit“ kann er aufgrund seines Scheiterns mit der prekären Selbständigkeit nicht aufrechterhalten und orientiert sich im Spektrum der ihm zugänglichen Tätigkeiten. Dabei ist er gerade aufgrund der Schichtarbeit und ihrer Folgen für die körperliche Leistungsfähigkeit als aktiver Fußballer desillusioniert und wechselt in der Zeit, in der er im Dreischichtsystem arbeitet, in den vom Bruder gegründeten türkischen Verein, was dazu führt, dass seine Laufbahn als aktiver Fußballer kurz darauf zu Ende geht. Damit ist dann auch sein Wunsch, Profifußballer zu werden, vorbei, auch wenn er in seiner Vorstellung als Traum weiterlebt. Jenseits des Traumberufs Fußballer jedoch kann sich Mehmet Oktay keine weiteren Tätigkeiten vorstellen, mit denen er kreativ und ausgefüllt seinen Berufsalltag gestalten könnte. Alle anderen Tätigkeiten sind „nur Arbeit“, die allerdings in „gute“ und „schlechte“ Arbeit zu unterteilen sind. Dabei bemüht sich Mehmet Oktay um eine überaus positive Reflexion seiner Ausbildung im Krankenhaus. Vor dem Hintergrund seiner vergeblichen Bemühungen um einen stabilen Arbeitsplatz stellt die berufliche Umorientierung einen biographischen Wendepunkt dar, an dem er sich selbstbewusst mit seinen Chancen als Mann im sozialen Beruf auseinandersetzt. Die Vorstellung von Pflegetätigkeit als schlecht bezahltem Frauenberuf hat für ihn eine untergeordnete Relevanz, während die langfristige Einkommenssicherung im Vordergrund steht, wenn ihm bereits bei Ausbildungsbeginn die Übernahme in Aussicht gestellt wird. Zudem sieht er sich als Mann in einem sozialen Beruf durch den ebenfalls männlichen Chef aufgewertet, der ihm gerade aufgrund seines Geschlechts gute Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Damit erfährt er eine Aufwertung als Mann gegenüber der Mehrheit der Frauen in einem klassischen Frauenberuf, die nicht über die gleichen Chancen verfügen. Dies motiviert ihn, dem Vertrauensvorschuss seines männlichen Vorgesetzten gerecht zu werden, so dass er sich überaus motiviert auf das hohe Lernpensum einlässt.

5. Biographien der Arbeit – Arbeit an Biographien

Die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse erfolgt auf der Grundlage der ausführlich vorgestellten Fallrekonstruktionen im Rahmen eines strukturellen Vergleichs, in den die weiteren Fälle aus der Gruppe der türkeistämmigen Männer der zweiten und dritten Generation einbezogen werden. Die rekonstruierten Fälle vermitteln ein differenziertes Bild der Konstruktionen von Identitäten, bei denen die Erwerbsarbeit eine zentrale Stellung einnimmt. Die sozialen Positionierungen und Selbstverortungen erfolgen in einer komplex strukturierten Arbeits- und Sozialwelt, in der arbeitsethische Orientierungen in einem Spektrum zwischen Pragmatismus und der Umsetzung von Karrierezielen anzusiedeln sind. Einen weiteren Fokus der vergleichenden Analyse bilden die intergenerativen Positionierungen, die in den Fallrekonstruktionen deutlich werden. Vor allem die Väter aber auch die Großväter erweisen sich in den Identitätskonstruktionen als die Personen, die im Mittelpunkt intergenerativer Auseinandersetzungen und Positionsbestimmungen stehen. In einem weiteren Analyseschritt erfolgt eine Ausdifferenzierung von Zugehörigkeitskonstruktionen und translokalen Positionierungen. Besonderen Raum nimmt auch die Analyse von Haltungen gegenüber aktuellen Identitätsdiskursen ein. Hier wird besonders deutlich, dass Diskriminierungserfahrungen biographisch eingebettet sind und ein breites Spektrum von Haltungen und Strategien entwickelt wird, um stereotypen Zuschreibungen gegenüber Türken und Muslimen entgegenzuwirken.

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5.1 ARBEITSETHISCHE O RIENTIERUNGEN UND INTERGENERATIVE P OSITIONIERUNGEN „The typical figure of the early twentieth century was the miner working the coal-face or the steel foundry man toiling away in the factory; more typical today is the office worker sitting at a desk.“ (Giddens 1993: 233)

Dieses Zitat von Anthony Giddens gibt als Einstieg in die Formulierung zusammenfassender Ergebnisse einen Eindruck von den subjektiven wie kollektiven Folgen der krisenhaften sozioökonomischen Umbrüche für die biographisch relevanten Strategien der Individuen im Interesse einer optimalen Positionierung und Selbstverortung in einer global ausgerichteten Arbeitswelt. Die Identitätskonstruktionen wie sie in den Fallrekonstruktionen herausgearbeitet wurden, weisen drei Dimensionen auf, die in horizontaler Ebene parallel zueinander verlaufen aber durch vertikale Interferenzen miteinander verknüpft sind. So erfüllt Erwerbsarbeit grundsätzlich die Funktion, den individuellen Anspruch zu haben, für sich selbst und insbesondere für andere Personen zu sorgen. Dies bedeutet in der Praxis, dass den nicht erwerbstätigen Haushaltsmitgliedern die finanziellen Mittel für die notwendigen Lebensgrundlagen und Konsum zur Verfügung gestellt werden. Die Gründung einer Familie wird als unhinterfragte Selbstverständlichkeit und als zentrale Grundlage für die Selbstverortung als erwachsener Mann wahrgenommen. Unhinterfragte Selbstverständlichkeiten verstehe ich im Sinne von Anthony Giddens (1997) als das Ergebnis routinisierter Handlungsabläufe, die von den „sozialen Akteuren“ fortlaufend produziert werden.1 Dies führt zu der Haltung, alle vorhandenen Ressourcen bei der Umsetzung dieses Ziels strategisch einzusetzen und sich als Ehemann und Vater für die ökonomische Versorgung von Ehefrau und Kindern umfassend und allein zuständig zu fühlen. Entscheidungen über die berufliche Ausrichtung, die Ausschöpfung von potenziellen Einkommensmöglichkeiten sowie die Einkommenserweiterung durch Investitionen werden dadurch maßgeblich beeinflusst. Gleichzeitig ist zu beobachten ist, dass berufliche Entscheidungen den Interessen der gegründeten Kernfamilie untergeordnet werden, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz in der Nähe des Wohnorts der Familie zu bevorzugen und Tätigkeiten mit häufigen Dienstreisen zu vermeiden. Andererseits besteht aber auch die Erwartung, dass familiäre Belange den beruflichen Interessen untergeordnet

1

Die Handelnden selbst sind sich aufgrund des „repetitiven Charakters“ ihrer Handlungen nicht immer bewusst, und entwickeln kein „theoretisches Verständnis“ der rationalisierten Abläufe (Giddens 1997: 55/56).

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werden. Dies ist in erster Linie dann der Fall, wenn im Interesse der Stabilität des Arbeitsplatzes oder aufgrund von Aufstiegsabsichten, die einen besseren sozialen Status erwarten lassen, vorausgesetzt wird, dass sich das familiäre Zeitmanagement an der Vollerwerbstätigkeit des männlichen Alleinverdieners orientiert. Damit verknüpft ist eine zweite Dimension, die in den Fallrekonstruktionen deutlich geworden ist. Arbeit ist Ausdruck von Männlichkeit, in dem Sinn, dass die Erwerbstätigkeit in Vollzeit als selbstverständliche Basis für eine Selbstverortung als erwachsener Mann betrachtet wird. Die Fähigkeit, eine Familie ökonomisch versorgen zu können, nimmt eine zentrale Rolle für die Konstruktionen von Identität ein. Damit geht auch eine besondere Betonung der Bereitschaft zu harter, zeitintensiver und körperlich anstrengender Arbeit einher. Dies erfolgt in erster Linie aufgrund einer Orientierung an spezifischen Vorstellungen von männlicher Arbeit. Zwar wird auf der einen Seite die grundsätzliche Bereitschaft zu Schichtarbeit mit Akkordentlohnung signalisiert, dennoch wird die Arbeit in mehreren Schichten in der gelebten Alltagspraxis als körperlich belastend und gesundheitsgefährdend wahrgenommen. Gerade sportliche Aktivitäten leiden unter dem asymmetrischen Arbeitsrhythmus, wenn Wechselschichten oder Nachtschichten über einen längeren Zeitraum geleistet werden müssen. Die Kombination von Schichtarbeit und Tätigkeiten in der Fließbandproduktion wird als besonders ungünstigste Arbeitskonstellation angesehen. Im Zuge der sozioökonomischen Umstrukturierungen vollziehen sich berufliche Positionierungen in einem Spannungsverhältnis zwischen dem grundsätzlichen Wunsch nach einem nicht-technischen Angestelltenberuf und den in der Praxis umsetzbaren Berufswünschen. Eine zentrale Rolle spielen dabei auch intergenerativ tradierte Männlichkeitsvorstellungen. Der Arbeiterstatus des Vaters hat dabei eine überaus starke biographische Relevanz, die sich in einer positiven Selbstverortung in der Nachfolge der Arbeitertradition des Vaters ausdrücken kann, um davon ausgehend sozialen Aufstieg zu realisieren. Dies impliziert den Auftrag, das von den Eltern oder Großeltern begonnene Familienprojekt Migration zu konsolidieren und durch eine angesehenere berufliche Position mit besseren Einkommensperspektiven erfolgreich fortzusetzen. Die handwerklich-technischen Berufe werden in erster Linie deshalb favorisiert, weil sie angesichts der strukturellen und sozialen Benachteiligungen einen beruflichen Einstieg und die Erzielung eines stabilen Einkommens überhaupt möglich machen. Darüber hinaus bilden sie einen inhaltlichen Anschluss an berufliche Vorerfahrungen, die in der Familie vorhanden sind. Demgegenüber erfordern die nicht-technischen Angestelltenberufe eine Fortsetzung der bereits als schwierig erfahrenen Bildungswege und verlängern die ökonomische Abhängigkeit von den mit Erwerbsarbeit überlasteten Eltern.

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Die dritte Dimension der Fallrekonstruktionen besteht darin, dass Arbeit als die zentrale Rolle für die Vermittlung von Status und sozialer Anerkennung betrachtet wird. Erwerbstätig zu sein bedeutet, an der Gesellschaft und ihren Institutionen teilhaben zu können und innerhalb der Institutionen Anerkennung für individuell erbrachte Leistungen zu erhalten, die durch einen monetären Gegenwert zum Ausdruck gebracht werden. Sich selbst als Arbeitskraft auf dem Markt erfolgreich anzubieten, bedeutet, in der Konkurrenz mit anderen individuelle Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, auszubauen und in Form von Positions- und Berufswechseln für andere Gesellschaftsmitglieder sichtbar werden zu lassen. Dabei ist der Gelderwerb ein zentraler Fokus, der die Teilhabe an der Konsumgesellschaft mit ihren Statussymbolen ermöglicht und die individuelle soziale Position im Vergleich mit anderen erkennbar macht. Darüber hinaus spielt aber im Zuge des Umbaus der Arbeitsgesellschaft die inhaltliche Ausrichtung der beruflichen Tätigkeiten eine zunehmend wichtige Rolle. Nicht nur der monetäre Wert, der für die geleistete Arbeit gezahlt wird, sondern auch die Arbeitsinhalte, die erreichten beruflichen Positionen und Qualifikationen haben für den Ausbau der sozialen Positionen in der Arbeits- und Sozialwelt eine Bedeutung. Das Selbstverständnis als guter Vater, Ehemann, Sohn, Bruder, Kollege und Freund entsteht in einer engen Verbindung mit dem Verständnis von Arbeit und der Rolle, die der Arbeit in der Biographie zugewiesen wird. 5.1.1 Zwischen Pragmatismus und Karriereorientierung Die Typisierung der arbeitsethischen Orientierungen erfolgt im Rahmen einer Abgrenzung von zwei Bereichen. So kann ein erster Typus durch eine pragmatische Ausrichtung beschrieben werden, während der zweite Typus davon durch eine spezifische Karriereorientierung abgegrenzt werden kann. Abbildung 7 Typisierungen der arbeitsethischen Orientierungen Pragmatismus

Karriereorientierung

Pragmatisch – monetäre Ausrichtung mit einer starken Betriebs- und Arbeitsplatzidentifikation

Karriereorientierung – monetäre Ausrichtung mit Fokus auf potentiell erreichbaren sozialen Status

Pragmatisch – aufgabenorientiert mit einer stark ausgebildeten Berufsidentität

Karriereorientierung – bezogen auf das erreichte Qualifikationsniveau und den daraus abzuleitenden sozialen Status

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Der Typus der als Pragmatismus beschriebenen Arbeitsorientierung umfasst Haltungen und Einstellungen, die eine monetäre Ausrichtung von Erwerbsarbeit vornehmen. Es wird eine hohe Betriebsidentität ausgebildet, und es besteht eine überaus starke Identifikation mit dem jeweils aktuellen Arbeitsplatz. Davon abzugrenzen ist die Variante dieses Typus, bei der die inhaltliche Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeiten eine zentrale Rolle spielt, so dass davon ausgehend eine starke Berufsidentität ausgebildet wird, die weniger an den konkreten Betrieb gebunden ist. Die Identifikation mit der aktuellen Arbeit erfolgt auf der Basis der erreichten beruflichen Qualifikationen. Für den Typus der Karriereorientierung liegen ebenfalls zwei Varianten vor. Die erste Variante fasst Haltungen und Einstellungen zusammen, bei denen strategisches Karrierehandeln auf der Grundlage des erreichten oder potenziell erreichbaren sozialen Status charakteristisch ist, an dem sich die beruflichen Entscheidungen ausrichten. Darüber hinaus ist die Karriereorientierung stark monetär ausgerichtet und zielt auf die Umsetzung von theoretisch unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten ab. Demgegenüber ist die zweite Variante durch eine Karriereorientierung entlang von Arbeitsinhalten gekennzeichnet. Der soziale Status wird vom erreichten und erreichbaren Qualifikationsniveau abgeleitet. Im Hinblick auf das Zeitmanagement bildet ein Gleichgewicht zwischen Erwerbsarbeit, Familie und Freizeitgestaltung die Grenzmarkierung der Interessen an einem weiteren beruflichen Aufstieg. Pragmatismus – monetäre Ausrichtung mit einer starken Betriebs- und Arbeitsplatzidentifikation Eine überaus pragmatische Arbeitsorientierung zeigt sich in der Fallrekonstruktion von Sinan Koç. Die Arbeitsplatzsicherheit erfährt eine besondere Aufmerksamkeit und steht im Mittelpunkt seiner biographischen Selbstpräsentationen. In der Perspektive von Sinan Koç werden Sicherheit und Stabilität in erster Linie durch einen „festen Vertrag“ hergestellt. Die Wahl des Arbeitsplatzes erfolgt vor dem Hintergrund finanzieller Erwägungen. Dies zeigt sich bereits bei der Wahl des Ausbildungsberufs des Maurers, den er sich aufgrund der hohen Ausbildungsvergütung aussucht. Die Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben sind dem untergeordnet. Arbeitszufriedenheit entsteht einerseits über ein entsprechendes Einkommen für die geleistete Arbeit und darüber hinaus durch die Aussicht auf ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis. Diese Aussicht jedoch wird durch die Entlassung im Zuge der Werksschließung schwer enttäuscht, so dass die Verunsicherung hinsichtlich der Stabilität des Beschäftigungsverhältnisses am aktuellen Arbeitsplatz einen größeren Raum einnimmt. Eine positive Selbstverortung erfolgt über die Arbeitsplatz- und Betriebsidentität, indem er sich als Teil einer

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Belegschaft wahrnimmt, die dem Unternehmen loyal gegenübersteht und einen kollegialen solidarischen Umgang miteinander unterhält. Auch Herr E., der in Nordrhein-Westfalen für ein Unternehmen in der Industriereinigung arbeitet, zeigt eine pragmatische Arbeitsorientierung. Monetäre Faktoren spielen eine große Rolle und auch er bildet eine starke, allerdings ebenso ambivalente Betriebsloyalität aus. Durch die Eheschließung mit einer Türkin kommt er von Österreich, wo er mit seinen Eltern lebt seit er 16 Jahre alt ist, nach Deutschland. Nach einer zweijährigen Wartezeit, in der er aus aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen nicht arbeiten darf, hat er große Schwierigkeiten, überhaupt eine Arbeit zu finden. Die Einkommensasymmetrie zwischen ihm und seiner Partnerin wie auch die Geburt des ersten Kindes setzt ihn unter großen Druck, seiner Rollenerwartung als männlicher Ernährer gerecht zu werden. Somit entscheidet er sich pragmatisch für ein Zeitarbeitsverhältnis und arbeitet auf Baustellen und in der Industriereinigung. Seine Tätigkeiten haben mit dem Beruf des Kaufmanns, den er in Österreich erlernt hat, und zusätzlichen berufspraktischen Erfahrungen in einer Schlosserei und einer Schreinerei, nichts gemeinsam. Sein Arbeitsplatz in der Hochofenreinigung im Schichtdienst ist körperlich anstrengend, allerdings kann er durch das Erlernen der Bedienung von Geräten und Maschinen seine berufliche Position im Unternehmen stabilisieren und wird unbefristet bei der Reinigungsfirma angestellt.2 Seine beruflichen Wünsche, die Arbeit mit Holz oder eine Tätigkeit im Verkauf, um mit Menschen zu tun zu haben, kann er im Arbeitsalltag nicht realisieren. Dies hat einerseits strukturelle Gründe, die im Familiennachzug und den Problemen bei der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse begründet liegen, resultiert aber auch aus seinem Selbstverständnis als Mann und Alleinversorger von Ehefrau und Kindern. Trotzdem präsentiert er sich als engagierter migrantischer Arbeiter, der seinen Einsatz vor allem dadurch zeigt, dass er sich für die Interessen der Belegschaft im Betriebsrat einsetzt. So zeigt er eine überaus starke Identifikation mit dem Betrieb und dem Arbeitsplatz. Allerdings gerät er dadurch in ein Dilemma. Kurz bevor das Gespräch stattfindet, wird er in seiner Funktion als Betriebsrat damit konfrontiert, über Entlassungen entscheiden zu müssen. Dieses Ereignis führt dazu, dass er seine Rolle und seine Selbstverständnis als politisch aktiver Arbeiter in einem gewinnorientiert arbeitenden Unternehmens überdenken muss. Herr H. in Berlin verfolgt bei seinen ersten beruflichen Entscheidungen ebenfalls pragmatisch eine monetäre Ausrichtung. Seine Arbeitsplatzsuche im

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Ein filmisches Dokument seines Arbeitsbereichs findet sich im Film „Ganz unten“ (1985), in dem Jörg Gförer und Günter Walraff die schlechten Arbeitsbedingungen von illegalen Arbeitern in der Hochofenreinigung zeigen.

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Anschluss an den Hauptschulabschluss orientiert sich jenseits betrieblicher Bindungen an den jeweils besten Einkommensmöglichkeiten. Eine Ausbildung macht er nicht, sondern arbeitet zunächst als Hilfskraft im Gartenbauamt und wechselt dann mehrmals in andere Branchen und Positionen (Bau von Lüftungsanlagen, Transport, Lagerverwaltung, Gartenbau). Seinen pragmatisch auf Einkommensmaximierung ausgerichteten Weg begründet er mit familiären Erwartungen an ihn als den ältesten Sohn mit mehreren jüngeren Geschwistern, der den allein verdienenden Vater unterstützt. Ich hätte auch zum Beispiel studieren können oder Berufsschule, Beruf lernen können, aber ich habe einen anderen Weg gewählt, weil ich damals, für damalige Zeit richtig gefunden habe, dass ich als ältere, nach meinem Vater ältere Familienmitglied am besten schnell arbeiten gehe, damit ich meiner Familie helfen kann. Deswegen bin ich sofort zum Arbeitsmarkt gegangen, habe ich eine Arbeit gefunden, bin ich arbeiten gegangen und dann, dann ging es natürlich uns auch finanziell als Familie, Großfamilie etwas besser. Ja, das hat sich so einfach weiter entwickelt und bis 1992 habe ich, verschiedene Firmen, bei verschiedenen Firmen gearbeitet. Ich war nur ganz kurz, bis jetzt ganz kurz arbeitslos gewesen, ansonsten nur noch gearbeitet. (Herr H.)

Es entsteht der Eindruck, dass der Pragmatismus in erster Linie vor dem Hintergrund bestehender sozialer und struktureller Barrieren entsteht. Zudem vermittelt seine Haltung ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl. Gleichzeitig gestaltet er die theoretisch vorhandene Bildungsoption weiter aus und zieht sie als nicht umgesetzte Vergleichsfolie heran, was unter anderen Umständen möglich gewesen wäre, aber nicht eingetreten ist. Auch die Gründung einer eigenen Familie steht unter den Vorzeichen seiner pragmatischen Arbeitseinstellung und bedeutet, dass seine Ehefrau nicht erwerbstätig ist, während er verschiedene Arbeitsstellen antritt, die er jeweils aufgrund der besseren Einkommensmöglichkeiten auswählt. Eine vergleichbare Position nimmt auch Sinan Koç ein, der ebenfalls hohe Bildungsziele hat, zu deren Umsetzung in die Praxis er allerdings keine Schritte unternimmt. Auch der beruflichen Weiterbildung steht er überaus skeptisch gegenüber, da er sich durch die tägliche Arbeitsbelastung im Zwei-Schicht-System nicht dazu in der Lage sieht, einen Kurs zu besuchen, der ihm einen innerbetrieblichen Aufstieg ermöglichen könnte. Er zieht sich auf die Position des pflichtbewussten aber überlasteten Arbeiters zurück, der trotz wachsender Schwierigkeiten als Alleinverdiener seiner Familie daran arbeitet, die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und an der geschlechtlichen Arbeitsteilung festhält. Aufgrund der Bedeutung, die er seiner Erwerbsarbeit zumisst, und die sie aufgrund ihrer Funktion als alleiniger Einkommensquelle für die gesamte Familie

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hat, steht seine Erwerbsarbeit im Zentrum des familiären Zeitmanagements. Auch Herr H. stellt seine Erwerbstätigkeit in den Mittelpunkt der familiären Aufmerksamkeit. So trifft er an einem biographisch relevanten Wendepunkt die Entscheidung, seine Tätigkeit als LKW-Fahrer aufzugeben. Nach einer mehrmonatigen Phase der Arbeitslosigkeit wagt er eine riskante Unternehmensgründung in der Fleischverarbeitung zur Dönerproduktion, ohne über die entsprechende Qualifikation zu verfügen. Diese Entscheidung erfordert über mehrere Jahre seinen vollen Arbeitseinsatz, so dass er kaum noch Zeit für seine Familie hat. Der Vergleich mit den in Kapitel 2.1 dargestellten Forschungsergebnissen zum Arbeitsverständnis und zu beruflichen Orientierungsmustern zeigt Übereinstimmungen zum „instrumentellen Arbeitsverständnis“, wenn die Arbeit als „Last und Mühsal“ wahrgenommen wird (Brock/Otto-Brock 1992). Diesem Arbeitsverständnis kann diese Variante des Typus Pragmatismus zugerechnet werden, wenn die Erwerbsarbeit vorrangig als Notwendigkeit zur Beschaffung von Einkommen betrachtet wird. Die Versorgung einer Familie, unabhängig davon, ob es sich um die Eltern und Geschwister oder die Partnerin und Kinder handelt, bringt einen spezifischen Erwerbsarbeitspragmatismus hervor. Zudem zeigt sich sowohl bei Sinan Koç als auch bei Herrn H. eine „Idealisierung des Unerreichbaren“, da sie sich als potenziell für höhere Bildung geeignet präsentieren, aber keine praktischen Schritte zur Umsetzung in die Wege leiten (Giegel/Frank/Billerbeck 1988: 346/347). Als Ausgleich zu den unbefriedigenden Arbeitssituationen werden inhaltlich interessante Aufgaben außerhalb der Arbeitswelt übernommen. So ist Sinan Koç seit dem Ende seiner Laufbahn als aktiver Amateurfußballer im Vorstand eines türkischen Fußballvereins aktiv. Herr E. ist neben seiner Betriebsratstätigkeit Mitglied in einem linken Netzwerk von exilpolitischen türkischen Organisationen ehrenamtlich tätig. Pragmatismus – aufgabenorientiert mit einer stark ausgebildeten Berufsidentität In der Fallrekonstruktion von Mehmet Oktay zeigt sich eine zweite Variante des Pragmatismus, bei der Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben im Vordergrund stehen. Im Zuge seiner beruflichen Laufbahn werden in pragmatischer Weise Zielsetzungen formuliert, die darauf ausgerichtet sind, Arbeitslosigkeit unbedingt zu vermeiden und die Erwerbssituation stabil und sicher zu halten. Mehmet Oktay positioniert sich über die Haltung, dass Arbeit eine Verpflichtung darstellt und folgt damit den männlichen Vorbildern der Familie. Die ersten Erfahrungen mit rassistisch motivierter Diskriminierung und monotoner Fließbandtätigkeit führen jedoch dazu, dass er die Arbeitsinhalte stärker reflektiert und die Arbeitsaufga-

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ben verstärkt in den Mittelpunkt seiner beruflichen Entscheidungen stellt. Damit ist er zunächst nicht erfolgreich, da er sich für eine riskante Tätigkeit als freier Finanzberater entscheidet, mit der er scheitert. Über einen längeren Zeitraum hinweg befindet er sich der ambivalenten Situation, zwar eine Festanstellung im Großunternehmen BMW anzustreben und alle möglichen Ressourcen dafür zu mobilisieren, obwohl er bereits aufgrund seiner beruflichen Vorerfahrungen erkannt hat, dass die Arbeit in der Fließbandproduktion nicht seinen inhaltlichen Ansprüchen gerecht wird. So entwickelt er im Zuge seiner beruflichen Praxis eine Vorstellung von dem, was er als „gute Arbeit“ betrachtet. Somit kann davon gesprochen werden, dass Arbeit als „Pflichtethik“ (Brock/Otto-Brock 1992: 360) und „duty“ aufgefasst wird (MOW International Research Team 1987: 166). Allerdings zeigt er die Tendenz zu „postmaterialistischen Haltungen“, da er die Inhalte über das Einkommen stellt (Inglehart 1995: 208). Herr L. lebt in Nordrhein-Westfalen und arbeitet als Lehrer für Türkisch an einem Gymnasium. Seine Bildungskarriere verläuft transnational zwischen Deutschland und der Türkei. Er besucht die fünfte Klasse als seine Eltern ihn zu sich nach Deutschland holen. Wegen fehlender Sprachkenntnisse wird er in die erste Klasse der Grundschule zurückgestuft, erreicht den qualifizierten Hauptschulabschluss und macht anschließend den Realschulabschluss an einem Berufskolleg. Anschließend geht er in die Türkei und erreicht dort das Abitur. Diese Entscheidung erfolgt aus pragmatischen Gründen, als er feststellt, dass der Weg zum Abitur in der Türkei kürzer und einfacher ist als in Deutschland. Anschließend arbeitet er im Lokal der Eltern, möchte aber gern studieren. Dabei interessieren ihn Aufgabenbereiche jenseits der Berufsfelder, in denen seine Eltern tätig sind. Vorbilder hat er in der Türkei und unterhält enge Kontakte zu den dort lebenden Verwandten. Und dann habe ich gemerkt, dass ich im Lokal verblöde. Und studieren war hier nicht zu denken, hat nicht geklappt. Habe ich an der Aufnahmeprüfung in der Türkei teilgenommen.“ (Herr L.)

Er geht in die Türkei und studiert Germanistik, anschließend ist er an einer Universität als Dozent tätig. Seine Partnerin hat ebenfalls als Kind Migrationserfahrungen in Deutschland gemacht und ist wie er als Hochschuldozentin in der Türkei tätig. Als sie ein Angebot bekommt, in Nordrhein-Westfalen als Lehrerin zu arbeiten, zieht das Paar mit den zwei Töchtern nach Deutschland. Seine pragmatische Arbeitsorientierung bezieht sich in erster Linie auf die praktische Umsetzung der beruflichen Vorstellungen innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums, wobei die Umgehung struktureller Barrieren durch die transnationale Ausrich-

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tung seiner Bildungslaufbahn im Zentrum steht. Die inhaltlichen Ziele der Bildungskarriere werden bereits früh deutlich, ebenso die Erkenntnis, dass die Alternativen in Deutschland entweder inhaltlich uninteressant oder aber schwer zu erreichen sind. Im Anschluss an die Familiengründung allerdings erfolgt eine ebenso pragmatische Neuorientierung und er entscheidet sich für Deutschland, auch wenn er dadurch Einkommenseinbußen als Lehrer ohne deutschen Abschluss hinnehmen muss. Er identifiziert sich jedoch überaus stark mit seinem Beruf, den er durchaus als Berufung versteht. So fühlt er sich in besonderem Maße für die Bildungslaufbahnen seiner türkeistämmigen Schüler verantwortlich. Die strukturellen Barrieren begegnen ihm in dem Moment, als er seine berufliche Ausbildung als abgeschlossen betrachtet und sich weitere Qualifizierungen auch aufgrund seiner umfangreichen Lebens- und Berufserfahrung nicht mehr vorstellen kann. Herr N. in Oberbayern ist seit mehr als zehn Jahren in einem Unternehmen der Automobilzulieferindustrie in einer Facharbeiterposition als „Meisterstellvertreter“ tätig und blickt auf eine lange Phase in einem unbefristeten und stabilen Arbeitsverhältnis zurück. Er hat einen einfachen Hauptschulabschluss und eine Ausbildung als Industrieschlosser abgeschlossen. Seine ersten beruflichen Tätigkeiten waren jeweils nur von kurzer Dauer, da entweder die Unternehmen Konkurs machten oder aber die Standorte verkleinerten und er aufgrund von befristeten Verträgen entlassen wurde. Erwerbsarbeit in einer stabilen und angemessen entlohnten Position ist von zentraler Bedeutung für seine soziale Positionierung. Er identifiziert sich in hohem Maße mit seinen Arbeitsaufgaben in einem überschaubaren Verantwortungsbereich. Dabei ist er durchaus stolz auf seinen bescheidenen aber kontinuierlichen beruflichen Aufstieg innerhalb des Unternehmens. Einen weiteren Aufstieg strebt er aus pragmatischen Gründen aber nicht an. Er befürchtet eine Überforderung durch den Zuwachs an Verantwortung, wenn er zum „Meister“ aufsteigen würde. Herr N. hat sich in eine stabile Position hochgearbeitet und betont, dass individuelle Leistung ausschlaggebend ist für den beruflichen Erfolg. Dies kommt dem nahe was Hans-Joachim Giegel, Gerhard Frank und Ulrich Billerbeck (1988: 346/347) mit „Lohnarbeit als moralische Veranstaltung“ meinen. Karriereorientierung – monetäre Ausrichtung mit Fokussierung des erreichten und potentiell erreichbaren sozialen Status Cemal Akkaya präsentiert sich als überaus stark an der Karriere orientiert, die er in einem linearen und kontinuierlichen beruflichen Aufstieg verwirklicht sieht. Seine arbeitsethische Orientierung erfolgt auf der Grundlage des im Verlauf die-

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ses Karriereprozesses erreichten sozialen Status und dem darauffolgenden potentiell erreichbaren höheren Status. Er identifiziert sich überaus stark mit der Berufsgruppe der Akademiker, vor allem aber mit denjenigen, die eine der seinen vergleichbare Berufsbiographie haben. Dabei geht er davon aus, dass soziale Herkunft und ethnische Abstammung grundsätzlich keine Aufstiegsbarrieren darstellen, sondern vielmehr die individuelle Leistungsbereitschaft ausschlaggebend für den beruflichen Erfolg ist. Aufgrund dieser Haltung gerät er in die Situation, seinen gescheiterten Aufstieg ins mittlere Management vor sich selbst und anderen rechtfertigen zu müssen, gerade da er von einer Linearität des sozialen Aufstiegs ausgeht.3 Die ethnische Barriere dient im Fall von Cemal Akkaya als Rechtfertigungsgrund für seinen Ausstieg aus dem Angestelltenverhältnis. Die Einstufung der zunächst einmal riskanteren freiberuflichen Tätigkeit als Unternehmensberater, die er zudem in Folge einer Entlassung beginnt, deutet er dahingehend um, dass sie innerhalb der angestrebten Karriere die nächste höhere Stufe seines individuellen beruflichen Aufstiegs verkörpert. Im Interesse seines Aufstiegs ordnet er das familiäre Zeitmanagement seiner Karriereorientierung unter, vor allem da er sich als alleiniger Versorger von Ehefrau und Kindern sieht. Im ambivalenten Verhältnis von Karriere und Familienverantwortung ist er bereit, einen Kompromiss zu schließen, der sich auf seinen beruflichen Aufstieg überaus negativ auswirkt. Indem er häufige berufliche Reisen als Belastung für das familiäre Zeitmanagement und seine sozialen Repräsentationsaufgaben wahrnimmt, geht er das Risiko ein, dass die von ihm linear entworfene berufliche Karriere diskontinuierlich wird. Für Cemal Akkaya steht die „berufliche Selbstverwirklichung“ durch die Erwerbsarbeit im Mittelpunkt seines Karrierehandelns (Brock/Otto-Brock 1992: 360). Darüber hinaus kann der dem „aufstiegsorientierten Milieu“ zugerechnet werden (Wippermann/Flaig 2009: 8). Herr B. arbeitet bei Opel in Rüsselsheim und weist ebenfalls Haltungen und Einstellungen auf, die der Variante einer monetär ausgerichteten Karriereorientierung auf der Grundlage des erreichbaren sozialen Status zuzuordnen sind. Sein Vater war in der Fließbandproduktion bei Opel tätig, sein älterer Bruder arbeitet ebenfalls dort. Sein erstes berufliches Ziel, eine Lehre in der Bank, erreicht er nicht, da er keinen Ausbildungsplatz am Wohnort der Eltern erhält und nicht von

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Dorothy Lee (1984: 186) analysiert die Probleme des Scheiterns anhand der Annahme, dass lineare Bewegungen positiv konnotiert sind. „Ein Großteil unseres heutigen Denkens und ein Großteil unserer Wertmaßstäbe basieren auf der Prämisse der Linie und auf der Linie als etwas Gutem. [...] Unsere Auffassung von Persönlichkeitsbildung, unsere Bedeutung von Erfolg und Misserfolg und von Frustration im Allgemeinen basiert auf der axiomatisch postulierten Linie.“

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dort wegziehen möchte. Also entscheidet er sich im Anschluss an den Realschulabschluss für eine Ausbildung als Industriemechaniker bei Opel. Als dominierender Arbeitgeber in der Region bestehen im Anschluss an die Ausbildung keine weiteren beruflichen Alternativen. Einen dauerhaften Umzug an einen anderen Opelstandort kann Herr B. umgehen und bekommt das überraschende Angebot, in einem Testzentrum des Unternehmens als Fahrtrainer zu arbeiten. Nach einer Phase der Skepsis erkennt er die beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die sich daraus für ihn ergeben können. Innerhalb kurzer Zeit erreicht er als einer der ersten jüngeren Mitarbeiter einen beruflichen Aufstieg zum Fahrtrainer und ist für die Ausbildung von Testfahrern zuständig. Dabei setzt er sich gegenüber älteren Kollegen ohne Migrationserfahrung durch und bekommt darüber hinaus Personalverantwortung übertragen. Durch unternehmensinterne Fortbildungen, für die er von Vorgesetzten gezielt vorgeschlagen wird, erweitert er seine beruflichen Qualifikationen um IT-Kenntnisse und Englischkenntnisse, so dass er sein Aufgabenfeld erheblich erweitern und seine berufliche Position verbessern kann. Zum Interviewzeitpunkt ist er Koordinator für Testfahrten, die das Unternehmen in Regionen mit extremen Wetterlagen durchführt und macht er unter anderem Dienstreisen nach Alaska. Er ist überaus stolz auf den beruflichen Erfolg, der ihm einen hohen Statuszuwachs einbringt. Der Wunsch nach einem Beruf, bei dem er im Büro am Schreibtisch arbeitet, ist somit für ihn in Erfüllung gegangen. Herr B. wird aufgrund des emotionalen Rückhalts, den er in seiner Herkunftsfamilie vor allem durch seinen älteren Bruder und den Vater erfährt, motiviert, die beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die ihm seitens des Unternehmens angeboten werden, anzunehmen und im Sinne eines sozialen Aufstiegs für sich zu nutzen. Es macht mir Spaß zu arbeiten, auch für Opel zu arbeiten, auch Opel zu repräsentieren. Ich bin auch keiner der sagt, ich habe jetzt Feierabend, ich schließ mit Opel ab, bis zum nächsten Morgen, wenn die Schicht wieder beginnt. Ich bin auch mit Opel groß geworden, durch meinen Vater, ja- Es ist nicht nur mein Arbeitgeber, sondern es liegt mir schon auch am Herzen, die Firma. (Herr B.)

Sein Aufstieg erfolgt in einer Phase informationstechnologischer Umstrukturierungen, in der Rationalisierungsmaßnahmen erhebliche Unsicherheiten für die Beschäftigten in der Produktion mit sich bringen. Herr B. kann die Leistungsanreize der Führungsebenen, die zudem den Faktor Ethnizität zumindest in seinem Fall nicht als Ausschlusskriterium anwenden, in einen Zugewinn an Einkommen und sozialen Status umwandeln. In seinem direkten Vorgesetzten hat er einen Mentor, der ihm Zugang zu Qualifizierung und beruflichem Aufstieg verschafft.

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Daraus entsteht ein reziprokes Verhältnis. Seine Vorgesetzten fördern seine berufliche Entwicklung und er zeigt im Gegenzug seine Wertschätzung für die Förderung, indem er seine große Loyalität dem Unternehmen gegenüber zeigt, dass ihn mit Arbeit und Einkommen versorgt. Herr M. kommt im Alter von acht Jahren zu seinen Eltern, die bereits seit einigen Jahren in der Nähe von Nürnberg arbeiten. Sie organisieren seine Betreuung während ihrer Arbeitszeiten durch ein deutsches Ehepaar, die zu seinen „zweiten Eltern“ werden. Er wird bei der Einschulung unterstützt und nicht wegen fehlender Sprachkenntnisse in eine untere Klasse zurückgestuft. Die Bildungserwartungen seitens des Vaters an Herrn M. als dem ältesten Sohn sind groß. Der Vater kann keine direkte Hilfestellung geben, nimmt aber regelmäßig an Elternabenden teil und organisiert bei schlechten Noten umgehend Nachhilfe. Als die Lehrer Herrn M. einen Hauptschulabschluss prognostizieren, schreitet der Vater aktiv ein, und organisiert einen anderen Schulplatz, an dem Herr M. das Fachabitur macht. Nach einem Fachhochschulstudium der Feinwerktechnik arbeitet er zunächst Messprüftechniker und bewirbt sich dann als Quereinsteiger im Projektmanagement bei Audi in Ingolstadt. Er ist zunächst skeptisch, ob er die Erwartungen seiner Vorgesetzten erfüllen kann, verzeichnet aber einen schnellen beruflichen Aufstieg in einer Entwicklungsabteilung des Unternehmens und strebt einen weiteren beruflichen Aufstieg ins Management an. Dies geschieht vor allem, da er sich davon einen Zuwachs an Einkommen und sozialem Prestige verspricht. Ja und ich bin stolz auch drauf und ja und jetzt geht es in Richtung Management, ich hoffe, ich gelange auch dahin. (Herr M.)

Allerdings ist die Konkurrenz um die wenigen höheren Positionen groß und die Verantwortungsbereiche anspruchsvoller, als dies in seiner aktuellen Position der Fall ist. So weist auch Herr M. wie schon Cemal Akkaya darauf hin, dass er seine ethnische Herkunft als möglichen Grund für den Ausschluss von weiterem beruflichem Aufstieg ansieht. Da er allerdings keine konkreten Hinweise dafür hat, bzw. sie nicht im Gespräch benennen möchte, verwendet er ethnisierende Zuschreibungen, um auch für sich selbst die Selbständigkeit als eine Möglichkeit für den Aufstieg ins Management neu zu denken. Wenn sich der Türke nicht selbständig macht, dann ist er auch kein Manager. [...] Deswegen machen sich viele Türken selbständig, damit sie nicht ehm- Management, von sich aus dahinkommen, sonst kommen sie nicht rein, das merkt- das spür ich, ich weiß nicht- (Herr M.)

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Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zeigt sich auch bei Herrn M. die Tendenz, seinen weiteren sozialen Aufstieg nicht ausschließlich im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als leitender Angestellter zu sehen, sondern eine eventuell zu befürchtende ethnisierte Auswahl zu umgehen, indem er alternative berufliche Positionen, beispielsweise als Unternehmer, in Erwägung zieht, die im Hinblick auf Verantwortung und Eigenständigkeit dem Managerberuf am nächsten kommt. Dabei konstruiert er einen positiven Zusammenhang zwischen der Ethnizität als Türke und dem Managerberuf. Er verlässt sich nicht ausschließlich auf die Zukunft als Angestellter, auch wenn er grundsätzlich seine Karriere fortsetzen kann. Ein Zusammenhang dieser Variante des Typus Karriereorientierung kann in erster Linie zu Arbeitsorientierungen hergestellt werden, in denen Erwerbsarbeit als Mittel zur „Selbstverwirklichung“ betrachtet wird. Die Arbeit gibt „Befriedigung“ und ganz im Gegensatz zu denjenigen, die Arbeit als Last empfinden und den Sinn des Lebens jenseits der Arbeitswelt suchen, wird der Sinn des Lebens (auch) in der Arbeitswelt verortet (Brock/Otto-Brock 1992: 360). Damit verbunden ist ein besonderer „Arbeitsstolz“, der sich durch die „Freiheit in der Arbeit“ ausdrückt, so dass die Erwerbsarbeit als „wichtigste Tätigkeit des Menschen“ betrachtet wird (Jaufmann/Pfaff 2000: 505). Karriereorientierung – bezogen auf das erreichte Qualifikationsniveau und den daraus abzuleitenden sozialen Status İlhan Uysal zeigt in seinen Haltungen und Einstellungen, dass er eine Karriereorientierung auf der Grundlage der erreichten beruflichen Qualifikationen umsetzt, sich aber vor allem an den Arbeitsaufgaben und inhaltlichen Anforderungen der Erwerbsarbeit orientiert. Anspruchsvolle Aufgaben vermitteln eine Zufriedenheit mit der Arbeit und dem sozialen Status, der aufgrund der beruflichen Qualifikation erreicht wurde. Weitere Karrierepläne werden im Interesse eines Gleichgewichts zwischen der Zeit für die Erwerbsarbeit, die Familie und die Freizeit zurückgestellt. An der Fallstruktur von İlhan Uysal wird deutlich, dass die Konkurrenzverhältnisse in anspruchsvollen Angestelltenverhältnissen als durchaus belastend wahrgenommen werden. Der Druck, den Vorgaben der Vorgesetzten zu entsprechen, die Verantwortung für das Budget und das Personal sind Bereiche, in denen İlhan Uysal seine Grenzen wahrnimmt und realisiert, dass ein lineares Verfolgen der Karriere zu Stress und Einbußen an Lebensqualität führen kann. Er vertritt deshalb die Haltung, dass die Position, die er erreicht hat, bereits für die finanzielle Absicherung sorgt, die er für die Versorgung seiner Familie benötigt. Darüber hinaus nimmt er vor allem die im mittleren Ma-

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nagement erforderlichen Dienstreisen als belastend wahr, so dass er einen weiteren sozialen Aufstieg nicht anstrebt. Auch die Einstellungen und Haltungen von Herrn H. sind im Anschluss an den bereits angedeuteten biographischen Wendepunkt dieser Variante des Typus Karriereorientierung zuzurechnen. Seine Unternehmensgründung führt zu hoher Arbeitsbelastung, die seine Freizeitgestaltung über einen Zeitraum von mehreren Jahren erheblich einschränkt. Als Selbständiger ohne Berufsausbildung setzt er alle zeitlichen Ressourcen ein, um die anstehenden Arbeitsaufgaben, die die Unternehmensführung mit sich bringt, optimal zu erledigen. Dieser hohe Arbeitseinsatz ist allerdings nur bis zur Etablierung und Konsolidierung des Unternehmens gerechtfertigt. Da die Konzentration seiner Zeit auf die Unternehmensführung zu Lasten der Familie und seiner sozialen Kontakte geht, verändert er im Arbeitsalltag seine Haltung dahingehend, dass der durch die Auslagerung von Aufgaben an „externe Fachleute“ Zeit für Familie und Freunde gewinnt. Ich möchte nicht ganz groß werden, ich lege viel Wert darauf, dass ich eine gesunde Basis von meiner Arbeit habe. Das ist für mich sehr, sehr wichtig. Und weil ich denke, eine langlebige Zeit hängt damit zusammen, dass es eine gesunde Basis hat. (Herr H.)

Somit modifiziert Herr H. seine zunächst pragmatische Arbeitsorientierung dahingehend, dass er eine vernunftgeleitete Selbstbeschränkung auf einen soliden wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens vor sich und seinem sozialen Umfeld rechtfertigen kann. Damit stellt er sein wachsendes Interesse an Zeit für seine Familie, Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte über seine Gewinninteressen als Unternehmer. Diese Variante des Typus Karriereorientierung, bei der vor allem Arbeitsinhalte im Vordergrund stehen, entspricht am ehesten dem „Postmaterialisten“ im Sinne Ronald Ingleharts (1995). Verdeutlicht wird dies insbesondere dadurch, dass der soziale Status und die Lebensqualität gleichwertig nebeneinanderstehen und das berufliche Handeln im Interesse einer Balance zwischen Arbeits- und Sozialwelt ausgerichtet wird. Zusammenfassung Die Typologie der arbeitsethischen Orientierungen hat gezeigt, dass sowohl die pragmatischen wie auch die an der Karriere orientierten Türkeistämmigen mit einem höheren Qualifikationsniveau als Akademiker am Ausbau ihrer sozialen Positionen arbeiten. Dies erfolgt einerseits durch eine hohe Risikobereitschaft, die darin besteht, eine berufliche Position zu erreichen, in der Managementverantwortung übernommen werden kann. Darunter wird eine umfassende Eigen-

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verantwortlichkeit verstanden, um die Abhängigkeit von Weisungen und Entscheidungen zu minimieren. Dies kann durch einen Aufstieg ins mittlere Management bzw. durch eine selbständige Tätigkeit erfolgen. Diese Haltung entwickelt sich auch aufgrund der Annahme, dass die ethnisch von Deutschen dominierte Führungsebene diskriminierende Entscheidungen trifft, durch die Türkeistämmigen der Zugang zu mittleren und höheren Managementpositionen verwehrt wird. Im Rahmen einer Unternehmensgründung oder freiberuflichen Tätigkeit selbst Chef zu werden, wird als ein Zuwachs an Eigenständigkeit betrachtet, durch den über die Ausrichtung der Arbeit, Budget und Personal selbst entschieden werden kann. Mit der Einnahme einer Managementposition geht eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit einher, ein Motivationsschub in Richtung Selbstbestimmtheit und Eigenständigkeit, jenseits einer als diskriminierend erlebten Arbeitswelt. Dies ist auch dann der Fall, wenn Diskriminierungen in der Arbeitswelt nicht erlebt, aber als potentiell vorhanden und latent im Hintergrund ablaufend wahrgenommen werden. Subtile Formen der Diskriminierung werden deutlich, wenn İlhan Uysal sich anhören muss, dass er „nicht wie ein Türke“ sei und Cemal Akkaya sich mit dem Sozialneid seiner Nachbarn konfrontiert sieht. Gerade ein schneller sozialer Aufstieg innerhalb einer Generation in eine Position als Akademiker führt zur grundsätzlichen Skepsis, ob die erreichte Position wirklich von Dauer sein kann. Dies hat zur Folge, dass gerade in einer sozial und beruflich stabilen Lebensphase Überlegungen in Richtung Selbständigkeit angestellt werden, wie es Herr M. tut, oder aber anspruchsvolle Nebentätigkeiten aufgenommen werden, wie es İlhan Uysal macht, wenn er in Wohneigentum investiert, umfangreiche Investmenttätigkeiten in die Wege leitet und Gästewohnungen einrichtet und vermietet. Diese Aktivitäten als „zweites Standbein“ zu präsentieren, bedeutet, dass der Status als Angestellter in einer leitenden Position mit dem Risiko der Entlassung verbunden sein kann, sowie damit, dass die nächsten Karrierestufen durch „negative Klassifizierungen“ aufgrund der ethnischen Herkunft nicht erreichbar sind.4 So zeigen die Fallrekonstruktionen eine allgemeine Verunsicherung gerade der gut ausgebildeten türkeistämmigen Akademiker und eine „gläserne Decke“, die im Fall der Türkeistämmigen gerade in der Konkurrenz um leitende Positionen in den Unternehmen wirksam wird.

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Ferdinand Sutterlüty und Sighard Neckel (2010: 143; 150) definieren „negative Klassifikationen“ als „abwertende oder diskriminierende Klassifikationen von besonderer Relevanz“, die sich auf „Merkmale vertikaler Ungleichheit (Beruf, Einkommen, Bildung) oder [...] eher auf Merkmale horizontaler Ungleichheit (Ethnizität, Generation, Geschlecht) beziehen“

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Bei denjenigen, die über eine geringere berufliche Qualifikation verfügen, zeigt sich hingegen, dass die Unabhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen von zentraler Bedeutung für die arbeitsethischen Orientierungen ist. Phasen von „Nichtarbeit“ beeinträchtigen das positive Selbstbild in gravierender Weise. Die Abhängigkeit von der Institution der Arbeitsverwaltung, überhaupt schon der Kontakt und die Konfrontation mit deutschstämmigem Personal führen zu Verunsicherung und dem Gefühl, aufgrund der Herkunft aus der Türkei degradiert und stigmatisiert zu werden. Die Gefahr von Entlassung aufgrund von Werksschließungen und die Prekarisierung durch Zeitarbeit sind bei diesen Männern besonders präsent. Vor diesem Hintergrund bedeutet eine Festanstellung mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag, dass Stabilität und Einkommenssicherheit für einen längeren Zeitraum planbar werden. Die Überbetonung der individuellen Leistung und Leistungsbereitschaft bietet dabei einen Schutz gegen Prekarisierungserfahrungen und den rassistischen Diskurs, durch den Türkeistämmige generell als arbeitsunwillig stigmatisiert und abgewertet werden. 5.1.2 Intergenerative Positionierungen Neben den Haltungen und Einstellungen, die im Zusammenhang mit Arbeit aus den Fallrekonstruktionen und den ergänzenden Fällen herausgearbeitet wurden, sind die intergenerativen Positionierungen biographisch relevant. Eine Thematisierung erfolgt dabei in erster Linie bezogen auf die Väter und Großväter. Dabei können biographisch relevante Überhöhungen, Auseinandersetzungen und Negierungen voneinander abgegrenzt werden. Im Mittelpunkt steht die Beschäftigung mit den sozialen Positionierungen, arbeitsethischen Orientierungen und der Zufriedenheit mit der Arbeit, wie sie über den Vater bzw. Großvater intergenerativ vermittelt wird. So kann die intergenerative Positionierung zum einen darin bestehen, dass die Arbeitsrealitäten und Leistungen der Vorgenerationen überhöht und kritiklos bewundert werden, andererseits sind Formen biographisch relevanter Auseinandersetzungen und kritische Reflexionen zu beobachten. Davon abzugrenzen sind Positionierungen, die darin bestehen, die berufliche Laufbahn der Vorgenerationen zu negieren und deren Arbeitsleistungen grundsätzlich abzulehnen und abzuwerten. Die Überhöhung des Vaters oder Großvaters erfolgt in Form einer Überbetonung und besonderen Aufwertung ihrer individuellen Arbeitsleistungen. Die Arbeitsdisziplin, Arbeitsleistungen und Motivationen werden als besonders herausragend präsentiert. Die arbeitsethische Orientierung wird als Vorbild der eigenen beruflichen Laufbahn herangezogen. Die Lebensleistungen des Vaters oder

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Großvaters werden dabei in den kollektiven Rahmen der Einwanderungsgeschichte aus der Türkei gestellt und als ein herausragendes idealtypisches positives Beispiel hervorgehoben. Dabei spielt auch die Aufopferung des Vaters oder Großvaters für die Familie eine bedeutsame Rolle, wenn er eigene Vorstellungen und Lebensentwürfe im Interesse der selbstlosen Versorgung der Familie zurückstellt, unter dem Vorsatz, dass es den nächsten Generationen besser gehen soll. Er wird so als zentrales aber gleichzeitig unerreichbares Vorbild konstruiert an dem Kritik nicht gestattet ist und tritt damit als reale soziale Bezugsperson in den Hintergrund. Damit verbunden ist auch die Vorstellung, auf der Grundlage des intergenerativ tradierten „Aufopferungsdiskurses“ eine besondere Verpflichtung und Verantwortung für die erfolgreiche Fortsetzung des „Familienprojekts Migration“, das von den Vorgenerationen initiiert wurde, übertragen bekommen zu haben. Sinan Koç sieht sich in diesem Zusammenhang als der unmittelbare Nachfolger der väterlichen Tradition, und sieht sich auch deshalb in der Verantwortung, die kollektive Arbeitsleistung der männlichen Angehörigen seines familiären Netzwerks besonders herauszustellen. Die Arbeitsleistungen des Großvaters und seine spezifische Migrationsstrategie werden in einer Weise betont, die dazu führt, dass er als der Idealtypus des fleißigen aber bescheidenen „Gastarbeiters“ erscheint, der seine Migrationsziele in stringenter Weise verfolgt und erfolgreich in die Praxis umsetzen kann. Die negativen Folgeerscheinungen der belastenden Arbeitsbedingungen mit gesundheitlichen Folgen der körperlich schweren Arbeit werden hingegen nicht thematisiert. Auch spielt eine kritische Reflexion emotionaler Belastungen durch getrennte Familien, ökonomische und politische Sorgen im Hinblick auf die Rückkehr in eine politisch unsichere Türkei keine Rolle bei der Präsentation der herausragenden Großvaterfigur. Während die persönlichen Erfahrungen mit Entlassung und Ängsten vor Konkurrenz ausführlich thematisiert werden, bleiben die Darstellungen zum Leben des Großvaters unantastbar geglättet ohne Bezug zur konkret gelebten Alltagspraxis. Auch Herr B. betont in überhöhender Weise die besondere Leistungsbereitschaft seines Vaters, im Rahmen der besonderen Loyalitätsverhältnisse, die sich zum in Rüsselsheim beheimateten Opelkonzern über zwei Generationen hinweg herausbilden. Alle Männer der Familie, zunächst der Großvater, dann sein Vater, sind durchgehend bei Opel beschäftigt. Während der Großvater nach kurzer Zeit in die Türkei zurückkehrt, entscheidet sich der Vater für die Familienzusammenführung nach Deutschland und lebt mit Ehefrau und beiden Söhnen dauerhaft in Rüsselsheim. Aus der intergenerativen Verbindung von Familie und Unternehmen folgt, dass über den Vater vermittelt eine starke Identifikation mit der Arbeitswelt im Mikrokosmos des Opelkonzerns gepflegt wird.

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Zu uns hat mein Vater eigentlich immer so- ehm- seid gut in der Schule, lernt, so dass ihr nicht wie ich eh- hart arbeiten müsst, und so, so hat er eigentlich auf uns dann gepredigt, aber er hat eigentlich (.) tagtäglich mit meiner Mutter immer (.) über seine Arbeit auch geredet. [...] wo man sich das Bild dann auch gemacht hat, ja er war im Karosseriebau. (Herr B.)

Herr B. betont den Einsatz seines Vaters für die Interessen der Familie in besonderer Weise, und hebt damit seine Rolle für den Erfolg des familiären Migrationsprojekts besonders hervor. Im Sinnes des Aufopferungsdiskurses vermittelt er die Haltung, dass sein vorrangiges Interesse darin besteht, den Kindern eine bessere Ausgangslage für ihre berufliche Laufbahn zu ermöglichen, so dass sie weniger harte körperliche Arbeit als er leisten müssen. Der Wunsch nach einem kontinuierlichen sozialen Aufstieg im Migrationsland wird von Herrn B. weiter getragen, auch indem er keine Kritik an den Entscheidungen des Vaters übt. Er verortet sich selbst in der Nachfolge eines erfolgreichen Arbeiters, der seine soziale Position im Migrationsland stabilisieren konnte und seinen Söhnen den Auftrag zur Fortsetzung dieses Projekts überträgt. Dabei blendet Herr B. die ökonomischen Krisen aus, in die der Konzern zuletzt 2008 geraten ist und leitet seine Loyalität dem Konzern gegenüber aus den positiven Erfahrungen der OpelArbeiter in der eigenen erweiterten Familie ab. Auch Herr P. präsentiert seinen Vater ein durchweg positives Vorbild, dem er gern folgen will, wenn er selbst Vater wird. Er ist zum Interviewzeitpunkt nicht verheiratet und mit 27 Jahren der jüngste der Interviewten Männer. Seit seiner Ausbildung arbeitet er bei BMW in der Fließbandproduktion und lebt in einer Kleinstadt in Oberbayern. Sein Vater spielt für ihn eine zentrale Rolle bei wichtigen beruflichen Entscheidungen. In der achten Klasse, hab ich mich mit meinem Zeugnis dann bei BMW beworben, hat mein Vater gesagt, bewirbst dich gleich bei BMW; hab mich als Konstruktionsmechaniker beworben. Leider waren da schon alle Stellen voll. Dann hat man mir gesagt, da wär noch Platz für ´nen Teilezurichter, ob ich den nehmen möchte. Dann hab ich mit meinem Vater geredet, er gemeint, ja, Hauptsache du bist bei BMW, ist ja egal, was für eine Ausbildung. Und jetzt im Nachhinein muss ich sagen, es ist so. (Herr P.)

Er sieht in der beruflichen Laufbahn des Vaters bei BMW ein positives Vorbild für die eigene Laufbahn und aktiviert alle notwendigen Ressourcen, um seinem Beispiel zu folgen. Eine Rebellion gegen die Vorgaben des Vaters erscheint nicht erforderlich zu sein, zudem übernimmt er die väterlichen Vorstellungen zur Kindererziehung und ist der Ansicht, dass der Vater alles richtig gemacht hat.

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Bei Herrn M. dagegen steht die große Bewunderung für die Arbeitsdisziplin, die sein Vater im Berufsalltag zeigt, im Mittelpunkt der intergenerativen Positionierung. Diese versteht er unabhängig von dessen sozialer Position als Arbeiter und Migrant als eine wesentliche Charaktereigenschaft. Die Mutter und ihre tägliche Fabrikarbeit im Schichtdienst finden dagegen keine besondere Erwähnung und Anerkennung. Die arbeitsethische Orientierung, die durch Fleiß und Disziplin gekennzeichnet ist, führt dazu, dass Herr M. gerade hier einen Anknüpfungspunkt für seinen persönlichen Einsatz im Arbeitsleben sieht. Der Vater wird als stetig im Einsatz befindlicher Hauptakteur der Familie präsentiert, der sich neben seiner Arbeit um die Kinderbetreuung kümmert, sich für die erfolgreiche Schullaufbahn einsetzt, Nachhilfe organisiert und bei Regelverstößen in der Adoleszenz disziplinierend eingreift. Dies führt dazu, dass sich Herr M. angesichts des ehrgeizigen Engagements des Vaters als dessen „Vorzeigeprojektkind“ präsentiert, das den Bildungsauftrag des ehrgeizigen Vaters in die Praxis umsetzt und erhebliche strukturelle Barrieren überwindet. Im Zentrum von individuellen Auseinandersetzungen und kritischen Reflexionen stehen die sozioökonomische Lage der Vorgenerationen sowie die Aushandlungsprozesse im Rahmen von intergenerativen Positionsbestimmungen. In der Fallrekonstruktion von Mehmet Oktay zeigt sich, dass die intergenerativen Positionierungen entlang eines Abarbeitens am Vater als dem Idealtypus eines „Gastarbeiters“ aus der Türkei erfolgen, der „keinen Tag arbeitslos“ war und seine eigenen Wünsche den familiären Interessen des Migrationsprojekts unterordnet. Der ökonomische Erfolg und die Arbeitsleistungen des Vaters werden respektvoll anerkannt und gewürdigt. Der Vater prägt als zentrales Vorbild die Arbeitseinstellung der Männer in der Familie maßgeblich mit, und hat damit während der Zeit seines Erwerbslebens innerhalb der Familie eine starke Position, die von seinen Söhnen, insbesondere von Mehmet Oktay, anerkannt wird. Trotzdem zeigt sich parallel dazu eine kritische Haltung dem Vater gegenüber, wenn es um seine Erzählungen über die Türkei geht, die seinen Söhnen als nicht immer verifizierbar erscheinen. Darüber hinaus verliert der Vater ein Stück weit die ungeteilte Bewunderung seiner Söhne, indem er sich zunehmend in eine Abhängigkeit begibt, wenn es um die Organisation von alltäglichen Aufgaben geht, für die deutsche Sprachkenntnisse erforderlich sind. Cemal Akkaya hingegen setzt sich mit der Vorgeneration dahingehend auseinander, dass er Verständnis für die von Arbeit überlasteten Eltern zeigt, vor allem da der Vater mit seinen beruflichen Vorerfahrungen durch die Migration abgewertet wurde. Im Rahmen seiner intergenerativen Positionierungen nimmt aber die Beziehung zur Mutter und ihre Arbeitsleistung eine herausragende Stel-

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lung ein. Darin unterscheidet er sich von den anderen Interviewten, da er sich bereits als Kind und Jugendlicher damit auseinandersetzen muss, dass sein Vater überwiegend arbeitslos ist und bereits früh aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Er bemüht sich, die Erfolglosigkeit des Vaters zu rechtfertigen, ohne ihm als Vaterfigur ablehnend zu begegnen. Trotz, oder gerade wegen des geringen beruflichen Erfolges sieht sich Cemal Akkaya in der Verantwortung, als ältester Sohn das von den Eltern initiierte Migrationsprojekt zum Erfolg zu führen und bezieht gerade aus diesem implizit weitergegebenen Auftrag wesentliche Ressourcen für seinen sozialen Aufstieg. An einem weiteren Beispiel zeigt sich zudem, dass die Auseinandersetzung mit dem Arbeiterstatus des Vaters in einen Begründungszusammenhang mit der Entwicklung und Modifikation eigener beruflicher Wünsche gestellt wird. So führt Herr B. die körperlich schwere Arbeit, die der Vater über einen langen Zeitraum ausführt, als Grund dafür an, dass er sich selbst einen Angestelltenberuf wünscht. Bereits nach seinem Realschulabschluss bemüht er sich deshalb um einen Ausbildungsplatz außerhalb der Montagehallen von Opel. [...] und die Sparkasse bei uns um die Ecke, das war immer so etwas besonders für mich, und das hat mich immer so beeindruckt, die Arbeiter dort, ja, also eh- ja, weil ich das ja eigentlich so von der Arbeiterklasse von meinem Vater her kenne, ja, er geht arbeiten, hart arbeiten, muss sich umziehen ja, hat eh- dreckige Finger, und so- ich hab immer gesagt, ich will einen Job machen, wo ich keine dreckigen Finger ja, schön mit dem Anzug sitzen und so und diese Sparkasse hat mich eigentlich immer so beeindruckt, ja- (Herr B.)

Die schwere Arbeit des Vaters ist ein Familienthema, mit dem sich Herr B. in seiner Lebensgeschichte und bei seinen ersten beruflichen Entscheidungen auseinandersetzt. Da er keinen Ausbildungsplatz in einer Bank findet, ist die Ausbildung im Opel-Konzern damit zunächst eine Notlösung, auf die er sich aufgrund fehlender erreichbarer Alternativen einlässt. Erst durch das Angebot, als Testfahrer zu arbeiten, ergibt sich die Möglichkeit, aus der Tätigkeit in Fließbandproduktion und Montagehallen auszusteigen. Im Beispiel von Herrn H. zeigt sich ebenfalls, dass die berufliche Laufbahn des Vaters dazu herangezogen wird, um die eigene berufliche Umorientierung zu plausibilisieren. Nachdem er erste berufliche Erfahrungen in ungelernten Erwerbspositionen gemacht hat, vergleicht er sich in seiner beruflichen Position mit dem Vater und konstatiert, dass er sich eine Verbesserung im Vergleich zum Vater als Ziel seiner beruflichen Laufbahn setzt, um der Stagnation zu entgehen.

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Da, da war für mich einer der entscheidendste Zeitpunkt gewesen, wo ich gesagt habe, ich werde mein Leb- Leben für die Zukunft ändern. Ja. Weil ähm- beim Lkw fahren hat man viel Zeit, wo man Gedanken im Kopf hat und einer der Gedanken kam damals, ich muss besser sein als mein Vater. Ich möchte nicht so sein wie mein Vater, ich möchte besser sein als er, nicht dass mein Vater schlecht war. Aber was die Entwicklung angeht, was Perspektiven angeht und ähm- Anpassung anbelangt und Denkweise anbelangt, alles. (Herr H.)

Dabei steht das Bemühen um eine Wertschätzung der Arbeitsleistungen des Vaters im Kontrast zum individuellen Wunsch nach inhaltlichen Veränderungen, die eine soziale und ökonomische Verbesserung im Vergleich zum Vater zum Ziel haben. In dem Moment, als Herr H. für sich selbst eine Verbesserung im Vergleich zum Vater erreichen möchte, ergibt sich die Frage, ob und wie die Leistungen des Vaters in diesem Verhältnis zu bewerten sind. Auch Herr E. nimmt eine biographisch relevante Abgrenzung von der Laufbahn des Vaters vor. Zwar entscheidet er sich zunächst für einen Beruf im Bausektor, da sein Vater dort bereits arbeitet und ihm über seine Kontakte einen Ausbildungsplatz verschaffen kann. Nach einem Praktikum entscheidet Herr E. jedoch, dass er nicht in der gleichen Branche arbeiten will wie sein Vater. Jetzt ich muss auswählen, Papa seine Firma, Baufirma oder andere Firma, Lebensmittelgeschäft. Ja, dann hab ich Papa gesagt, Papa war sauer, ne- ich hab wegen dir mit meinem Polier geredet, ich hab versprochen, dass du da arbeitest, wieso, hinter meinem Rücken machst du andere Sachen, ich hab gesagt, ja, Vater ich kann Deutsch lernen, ich kann da arbeiten. Ja, aber was soll ich meinem Polier sagen. (Herr E.)

Herr E. setzt sich mit seinem Berufswunsch durch und absolviert in Österreich eine Kaufmannslehre in einem Lebensmittelgeschäft. Seine Hauptmotivation ist, dass er im Kontakt mit Kunden Deutsch lernt, während er auf Baustellen überwiegend mit Migranten zu tun hätte. Obwohl er bei Beginn der Ausbildung keine guten Sprachkenntnisse vorweisen kann, bekommt er einen Ausbildungsplatz und ist mit seiner Wahl zufrieden. Eine Negierung und grundsätzliche Ablehnung des Vaters durch die Negierung seiner Arbeitsleistungen verdeutlicht vor allem die intergenerative Positionierung von İlhan Uysal. Die Dethematisierung der beruflichen Laufbahn des Vaters erfolgt in der Wahrnehmung, dass die Unterschichtenposition der Herkunftsfamilie ein Stigma darstellt. Die Abwertung der Leistungen des Vaters zielt dabei auf die Hervorhebung der eigenen Erfolge ab, die İlhan Uysal im Laufe sei-

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ner beruflichen Laufbahn zu verbuchen hat. Darüber hinaus präsentiert İlhan Uysal seinen Vater als Mann ohne wirkliche Interessen und Leidenschaften, der nicht in der Lage ist, seine freie Zeit mit sinnvollen Aktivitäten auszugestalten. Dies führt zu einer weiteren Abwertung des Vaters in seiner Rolle als mögliches positives Vorbild. Für İlhan Uysal ist der Vater das negative Vorbild, von dem er sich abgrenzt und dessen Einfluss auf sein Leben er sich bemüht zu minimieren, soweit dies möglich ist. Die einzigen positiven Bemerkungen gehen dahin, dass der Vater den jüngeren Geschwistern ein Studium finanziert, was bei den älteren nicht der Fall war. Insgesamt entwirft sich İlhan Uysal als Gegenbild zum Vater, indem er sich als beruflich erfolgreich, an Bildung und Sport interessiert und darüber hinaus als engagierten Vater und Ehemann präsentiert. In seiner biographischen Selbstpräsentation entmachtet er den Vater sowohl in ökonomischer wie in familiärer Hinsicht. Sein Erziehungsstil wird als autoritär kritisiert, er wendet Gewalt an, was dazu führt, dass sein Sohn sich als machtlos und ausgeliefert erlebt. Die Angst vor Strafe führt dazu, dass İlhan Uysal daran arbeitet, die Machtposition innerhalb der Familie für sich zu beanspruchen, was ihm durch den eigenen beruflichen Erfolg auch gelingt. Auch in der Lebensgeschichte von Herrn L. zeigt sich eine von intergenerativen Bezügen unabhängige Positionierung, in der eine Ablehnung der beruflichen Laufbahn des Vaters sichtbar wird. Herr L. trifft seine Bildungsentscheidungen und die damit einhergehenden Ortswechsel weitgehend autonom. Die Mitarbeit im Familienbetrieb der Eltern stellt allenfalls eine Überganslösung für einen zeitlich überschaubaren Übergang dar. Die Arbeit in der Gastronomie betrachtet er als zu anspruchslos und er ist gelangweilt von den Arbeitsaufgaben. Somit betrachtet er die Erwerbstätigkeit in keiner Weise als vorbildhaft für die eigene Berufslaufbahn. Demgegenüber findet er berufliche Vorbilder bei akademisch gebildeten Verwandten in der Türkei, denen er sich zuwendet, um seine beruflichen Ziele zu erreichen.

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5.2 I DENTITÄT

UND

Z UGEHÖRIGKEIT

5.2.1 Zugehörigkeitskonstruktionen Die in den Fallrekonstruktionen herausgearbeiteten Konstruktionen von Zugehörigkeiten können in vier Bereiche eingeteilt werden und grenzen Selbstbeschreibungen als • • • •

Erwerbstätiger und Steuerzahler, der Anzahl in der Summe der Generationen, durch Institutionennähe und Teilhabe und den sozioökonomischen Status

voneinander ab. Sie werden als nebeneinanderstehende Optionen vorgestellt, die teilweise inhaltliche und konzeptionelle Übergänge aufweisen. Sie weisen zudem auf Tendenzen hin, in die sich die individuellen Zugänge zum Thema Zugehörigkeitskonstruktionen entwickeln können. Der eigene ökonomische Beitrag zum Staat und seinen Institutionen als Erwerbstätiger und Steuerzahler steht im Zentrum dieser Form der Zugehörigkeitskonstruktion. Daraus wird in der Umkehrung Arbeitslosigkeit als Ausschlusskriterium für Zugehörigkeit gewertet. In dieser marktkonformen Perspektive, die Einwanderer aufgrund ihres volkswirtschaftlichen Nutzens für zugehörig zu erklären bereit ist, verortet sich Herr H. Er hebt seinen Beitrag als „Steuerzahler“ hervor, ebenso die Vermeidung von Arbeitslosigkeit, die er im Laufe seines Arbeitslebens strategisch verfolgt. Damit präsentiert er sich als überaus systemkonform und angepasst an das Wertesystem, muss aber dennoch enttäuscht feststellen, dass Wertschätzung dem türkeistämmigen Steuerzahler gegenüber fehlt. Wir haben doch Steuern bezahlt, er [Thilo Sarrazin] hat dafür seinen Lohn bekommen, dafür, damit er seine Aufgabe da macht und seine Aufgabe war, Probleme zu lösen, Problemen- wenn Probleme da sind Lösungen zu finden. Oder nicht? [...] So funktioniert das System. [...] Wenn jemand eine politische Verantwortung übernimmt, dann hat er Verantwortung, dann hat er diese Pflicht, Probleme von Gesellschaft zu lösen, oder, ja verbessern, wie auch immer, oder nicht? (Herr H.)

Auch Mehmet Oktay hebt die Bedeutung der „Pflicht zur Arbeit“ angesichts der rassistischen Zuschreibung „Ausländer arbeiten schon wieder nicht“ in besonde-

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rer Weise hervor. Vorbild ist dabei sein Vater, der „nicht einen Tag arbeitslos“ war. Die Inanspruchnahme von sozialen Transferzahlungen widerspricht dem Ziel, als Beiträger und damit Zugehöriger zum Wohlfahrtsstaat Deutschland anerkannt zu werden. „Nichtarbeit“ muss in besonderer Weise begründet und gerechtfertigt werden. Mögliche Begründungen, die es nachvollziehbar machen, wenn ein erwachsener Mann nicht arbeitet, können Charaktereigenschaften sein, wie sie Sinan Koç am Beispiel seines Vaters erläutert oder gesundheitliche Einschränkungen, die es dem Vater von Cemal Akkaya nicht ermöglichen, durchgehend einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Wichtig ist allerdings, dass der Ausstieg erst dann erfolgt, wenn umfangreiche individuelle Anstrengungen unternommen wurden, um den Erwartungen in Anlehnung an ein traditionelles Männerbild zu entsprechen. Von dieser Arbeitspflicht ausgenommen sind Frauen, vor allem dann, wenn sie als Ehefrauen für die in Vollzeit arbeitenden Ehemänner sorgen, den Haushalt führen und die Kinder beaufsichtigen. Die Erwerbstätigkeit der Mütter hingegen, die gemeinsam mit ihren Ehemännern das Migrationsprojekt in die Wege geleitet haben, steht in erster Linie unter dem Vorzeichen der Maximierung des Familieneinkommens. Eine Anerkennung der Erwerbstätigkeit erfahren die Mütter in erheblich geringerer Weise, es sei denn sie tragen wie im Fall von Cemal Akkaya die Hauptverantwortung für das Familieneinkommen. Die Aufenthaltsdauer in der Summe der Generationen stellt eine weitere Ausgangslage für eine Positionierung dar, aus der Zugehörigkeit abgeleitet und für rechtmäßig beanspruchbar erklärt wird. Dies erfolgt im Fall von Sinan Koç mittels der Aufrechnung von geleisteten Beiträgen in die Sozialversicherungen. Dabei erfolgt ein Vergleich mit Neuzuwanderern und Spätaussiedlern, deren Aufenthaltslänge zwar, in Generationen gerechnet, wesentlich kürzer ist, die aber im Gegensatz zu den Türkeistämmigen, mit seiner Meinung nach unverdienten, da nicht erarbeiteten Privilegien ausgestattet werden. Er kritisiert vor allem den Bezug von Altersrenten, unabhängig von der Einzahlungshöhe, wie auch die Bevorzugung verschiedener Einwanderergruppen durch die Arbeitgeber, so dass er eine ethnische Diskriminierung von Türkeistämmigen daraus ableitet. Dabei nimmt er eine kritische Bewertung der Zugehörigkeitsdiskurse vor, wie sie in der medialen Öffentlichkeit präsentiert werden und sieht in der Ethnizität das zentrale Kriterium für die Entscheidung über Zugehörigkeit. Darüber hinaus nimmt er eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der Türkeistämmigen vor, so dass er diejenigen, die seit mehreren Generationen in Deutschland lebenden von der Gruppe der Neuzuwanderer abgrenzt. Auch Mehmet Oktay nimmt diese Differenzierung vor und unterstellt den Neuzuwanderern aus der Türkei sogar, Bestechungsgelder zu zahlen, um einen Arbeitslatz zu erhalten.

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Diese Perspektive auf Zugehörigkeit führt dazu, dass sich beide zu den „etablierten“ und „alteingesessenen“ Migrantenfamilien zählen, deren Zugehörigkeit aufgrund langfristiger Niederlassungsprozesse rechtmäßiger erworben wurde, als dies für Neuzuwanderer gilt, selbst wenn sie einen gemeinsamen Herkunftskontext haben.5 Im Mittelpunkt der Zugehörigkeitskonstruktion über Institutionennähe und Teilhabe stehen Kenntnisse und Informationen über die Gesellschaft und ihre Institutionen. So bedeutet für Herrn B. Zugehörigkeit, dass er sich auskennt in der Gesellschaft, in der er lebt, und dass er im Kontakt mit Institutionen und ihren Akteuren keine Fremdheit wahrnimmt, sondern Prozesse und Strukturen kennt und nachvollziehen kann. Aufgrund des Bewusstseins, diesen Kriterien zu entsprechen, versteht er sich als an der Gesellschaft partizipierendes Individuum, verbunden mit dem daraus resultierenden eindeutigen Bekenntnis von Zugehörigkeit. Wir sind schon eigentlich der festen Überzeugung, dass wir nicht mehr zurückkehren, dass wir hier jetzt eigentlich unsere Wurzeln haben. Und- ich denke mal, für unsere Kinder ist es noch schwieriger, dann irgendwann zu sagen, ja- ich bin Türke in Anführungsstrichen. Ich bin Türke, ich geh wieder zurück in die Türkei. Ja, also, dass wir dann jetzt schon anfangen, hier zu investieren, weil mein Bruder hat gesagt, ja, ich bin hier geboren. Urlaub in der Türkei ist, ehm- Urlaub in der Türkei ist schön und gut, nur, das ganze System kommt uns dann ja letztendlich auch anders vor wie hier. (Herr B.)

Auch Herr E. versteht sich als aktives, an den Institutionen partizipierendes Gesellschaftsmitglied und hat in Deutschland nach der Türkei und Österreich seine „dritte Heimat“ gefunden. Er praktiziert eine Addition von „Heimaten“ und erweitert damit das Spektrum von tatsächlichen und potentiellen Orten, die er als Zuhause betrachten kann. Somit gibt er die vertrauten Lebenskontexte nicht auf, um sich neuen Umgebungen zuzuwenden. Vielmehr führt er die Wissensbestände symbolisch zusammen und erweitert seine ganz persönliche soziale Landkarte. Die Frage der Entscheidung für die eine oder andere ethnische Zugehörigkeit muss damit gar nicht gestellt werden, da an ihre Stelle Identitätskonstruktionen

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Allerdings kann nicht davon gesprochen werden, dass die verbalisierten Abgrenzungen dazu führen, dass zwei abgrenzbare Gruppen im Sinne der „EtabliertenAußenseiter-Konstellation“ gebildet werden, die sich sozial wesentlich unterscheiden, wie es Norbert Elias und John L. Scotson (1990) in ihrer Untersuchung feststellen.

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auf der Metaebene als „Migrant“ in austauschbaren gesellschaftlichen Systemen treten können.6 Ich bin Migrant, also ich bin kein Gast, mehr, ich bin kein Ausländer mehr, also ich bin der in einem Land geboren gewachsen und ausgewandert ist, nach Österreich und nach Deutschland gekommen ist, der jetzt hier lebt, ein Teil von diesem Leben, ein Teil von dieser Gesellschaft ist. Also deswegen sage ich, ich bin ein Migrant hier, aber ich betone immer noch, dass ich auch ein Teil von dieser Gesellschaft bin. (Herr E.)

Herr M. dagegen bietet eine Konstruktion von Identitäten im Feld der kulturellen Praxis an, einerseits auf der Ebene der materiellen Kultur und andererseits im Bereich der sozialen Interaktionen. Er ist gesellschaftlich aktiv und informiert, interessiert sich für die Angebote der Kulturinstitutionen, versteht sich als Förderer des interreligiösen Dialogs und präsentiert sich als Moderator zwischen verschiedenen sozialen, ethnischen, kulturellen und religiösen Interessengruppen. Die Wahrnehmung von Differenz erfolgt entlang einer dichotomen Einteilung in türkisch und deutsch, wobei er sich selbst in einer Position verortet, in der er über ein Handlungsspektrum im Sinne eines „Sowohl-als-auch” verfügt. Dabei kann er sich in homogen deutschen wie homogen türkischen Kontexten flexibel einfügen, da er sich mit informellen Kulturtechniken auskennt, die er als für Außenstehende schwer zugänglich einordnet. Ich kann, wenn ich mit deutschen Leuten unterwegs bin, den deutschen Humor verstehen und mitwirken und zum Lachen bringen und selber viel lachen. Und wenn ich- dann können die anderen, die Türken, die da nicht ein bisschen dabei sind, die gucken nur rum. Das merke ich und das ist mein Vorteil, das gehört einfach dazu, deshalb muss man ein bisschen Wissen aneignen. So, und wenn ich bei den Türken bin, und da ist ein türkischer Witz oder Humor jetzt gerade aktuell, und deutsche Freunde sind da, dann verstehen sie da diesen türkischen Humor nicht ganz, aber ich lach da herzlich mit und bin da wieder aktiv. Und das sind so meine Vorteile, die genieße ich. (Herr M.)

Der sozioökonomische Status und das Selbstverständnis „integrierter zu sein als manche Deutsche“, wie es İlhan Uysal äußert, bilden die Grundlage für eine wei-

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Diese Perspektive kommt dem nahe, was Georg Simmel in seinem „Exkurs über den Fremden“ beschreibt. Der Migrant ist flexibler als diejenigen, die in der Gesellschaft nicht neu dazugekommen sind. Er steht außerhalb und ist dennoch mittendrin und kann damit die Verhältnisse aus der „Vogelperspektive erleben und behandeln“ (Simmel 1958/1923: 510).

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tere Positionierung über die Zugehörigkeit konstruiert wird. Der hohe soziale Status führt dazu, dass stigmatisierende Faktoren von Ethnizität zunächst ausgeblendet werden. Dies erfolgt in der Annahme, dass die Konkurrenz um soziale Positionen unter den Bedingungen grundlegender Gleichwertigkeit erfolgt. Allerdings wird die Zurückverweisung auf ethnische Kategorien dann sichtbar, wenn der soziale Aufstieg in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft „nicht wie ein Türke“ stattgefunden haben kann. Auch Cemal Akkaya orientiert sich entlang seines sozioökonomischen Status innerhalb einer „Businesswelt“, die er zunächst als leistungsorientiert wahrnimmt und in der den ethnischen Grenzen keine Bedeutung zugestanden wird. In dem Moment jedoch, als er sich mit informellen homogen deutschen Netzwerken konfrontiert sieht, nimmt er seine ethnische Verschiedenheit als Makel wahr und befürchtet die Zurückweisung seiner Karriereinteressen. Dabei geht er von der Vorannahme aus, dass homogen deutsche Gatekeeper, die über den Zugang ins mittlere Management entscheiden, sich stets für die ethnisch Gleichen aber nie für die ethnisch Anderen entscheiden werden. 5.2.2 Translokale Positionierungen Die von den Eltern initiierten Ortwechsel in Folge der Migration, bedeuten zunächst einmal, dass die Familie innerhalb des Einwanderungslandes in einer unterschiedlich ausgestalteten Minderheitenkonstellationen lebt. Für die Kinder sind damit teilweise mehrfache Ortswechsel und Trennungen von den Eltern in der frühen Kindheit verbunden. Die Eltern erleben sich selbst in einer ethnisch, kulturell und sozial marginalisierten Position, die sie im Interesse kurzfristiger Migrationsziele in Kauf zu nehmen bereit sind. Die sozialen Beziehungen wie auch das Verhältnis zur Gesellschaft werden dabei vor allem durch individuelle und kollektive Erfahrungen von Nähe und Distanz beeinflusst. Fremdheitserfahrungen spielen für die zweite und dritte Generation in zweifacher Hinsicht eine Rolle, da sie sich einerseits auf den unbekannten Ort im Migrationsland aber auch auf die unbekannten und fremd gewordenen Eltern beziehen können. Damit ist die Herstellung von Nähe ein Thema, dass sich sowohl in privaten als auch beruflichen Entscheidungen niederschlagen kann. In dieser Konstellation ist die Konstitution eines sozialen Raumes, der als Heimat oder Zuhause bezeichnet werden kann, in überaus starkem Maße biographisch relevant. Die geographische Mobilität ist einerseits durch eine hohe Dynamik und die Überwindung großer räumlicher Distanzen gekennzeichnet, andererseits aber erfolgt in einem weiteren Schritt, im Zuge der Umsetzung der Familienzusammenführung, eine pragmatische Selbstbeschränkung der wichtigsten sozialen Beziehungen auf eine

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überschaubare Umgebung. Die geographische Nähe zwischen dem Wohnumfeld der ersten Kindheitserfahrungen (im Migrationsland der Eltern) und dem Wohnumfeld, in dem die eigene Familiengründung erfolgt, ist überaus hoch. Dauerhafte Ortswechsel und beruflich erforderliches Pendeln werden vermieden oder aber direkt abgelehnt, spätestens dann, wenn die eigene Familie gegründet wird. Ein möglicher Erklärungsansatz geht in die Richtung, dass in der Rückversicherung der räumlichen Nähe zu den Eltern und deren Wohnumfeld ein Versuch gesehen werden kann, die teilweise schwierigen emotionalen Bindungen zu den Eltern zu bearbeiten. So wächst Herr M. bei seiner Tante in der Türkei auf und seine Eltern sind die „Leute mit dem Benz“, die ihn in ihrem Urlaub in der Türkei besuchen kommen. Als er nach einem Ferienaufenthalt in Deutschland überraschend doch bei den Eltern bleibt, erlebt er die ersten zwei Jahre als Leben in einer „Zwangsgemeinschaft“ mit fremden Eltern. Er macht sein Fachabitur und studiert in Wohnortnähe zu den Eltern. Er heiratet während des Studiums eine Frau, die in der Türkei aufgewachsen ist und lebt bis zum Ende seines Studiums mit ihr bei den Eltern. Die Eheschließung führt dazu, dass er sich verstärkt mit seinen türkischen Wurzeln beschäftigt, die in der Schulzeit und während des Studiums eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Ich war viel deutsch, ich bin selber viel deutsch aber auch viel türkisch. Ehm, inzwischendamals war es aber nicht so viel türkisch wie heute. Ehm- aber durch meine Frau ist das halt eben entsprechend auch ehm- passiert, dass ich viel mehr türkisch heute bin. (Herr M.)

Während das Zusammenleben mit den in der Türkei sozialisierten Eltern in Richtung einer Distanzierung zur ethnischen Herkunft der Familie führt, dient die Eheschließung als Anregung zur Klärung der individuellen ethnischen Positionierungen. Auch İlhan Uysal verortet sich in einem Kontrastfeld aus Distanz und Ablehnung zum als erfolglos präsentierten Vater, betrachtet die dauerhafte räumliche Nähe zum Lebensumfeld der Eltern aber als unhinterfragte Selbstverständlichkeit. So kommt es für ihn nicht in Frage, wegzuziehen, wenn die Universität am Wohnort ist und auch der Auszug in eine eigene Wohnung erfolgt in einer unmittelbaren Nähe zur Wohnung der Eltern. Er ordnet sich in dieser Frage den normativen Erwartungen der Eltern unter, bis zur Eheschließung als ihr Kind unter ihrer unmittelbaren Kontrolle zu leben. Dies erfolgt trotz grundsätzlicher Kritik am Verhalten der Eltern. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sowohl der Auszug aus der elterlichen Wohnung als auch ein Ortwechsel durch besondere Gründe zu rechtfertigen sind. Ein Arbeitsplatz in einer anderen Stadt, ein Studi-

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um, das nur an bestimmten Orten möglich ist, oder aber ein Partner, der ortsgebunden ist, können dabei für die Eltern akzeptable Gründe darstellen. Ein Auszug aufgrund von Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und nicht überbrückbaren Gegensätzen wäre Anlass für einen grundsätzlichen Bruch zwischen Eltern und Sohn, was bereits durch die Realisierung des Wunsches nach einer eigenen Wohnung gegeben sein kann, wenn die Eltern die Gründe nicht nachvollziehen können. Eine weitere Dimension sozialräumlicher Positionierungen zeigen die bei Herrn L. biographisch relevanten transnationalen und transkulturellen Orientierungen. Er entwickelt ein hohes Maß an räumlicher und sozialer Mobilität bezogen auf die Umsetzung seiner schulischen und beruflichen Ziele. Trotz ungünstiger Startbedingungen erreicht er einen deutschen Schulabschluss und absolviert trotz hoher Zugangsbarrieren ein Hochschulstudium in der Türkei. Dies führt insgesamt zu einem sukzessiven Bildungsaufstieg, der eine transnationale Ausrichtung hat. Seine soziale Mobilität ist nicht an einen geographisch abgrenzbaren Raum gebunden, vielmehr ist der mehrmalige Ortswechsel ein langfristig angelegter Prozess der Rückversicherung und Bestätigung seiner transnationalen Positionierungen. Ebenfalls bezogen auf das Thema Nähe und Distanz im Raum entwirft Cemal Akkaya das Bild von der verzweigten transnationalen Vernetzung seiner sozialen Beziehungen. Er selbst übernimmt die Führung dieses transnationalen Netzwerks, in dessen Zentrum die Stadt Hamburg als „Headquarter“ liegt. Die Stadt ist der geographische Ankerpunkt seit seiner Migration nach Deutschland. Die Beziehung zu den durch die lange Trennung fremd gewordenen Eltern wird in einem kontinuierlichen Prozess bearbeitet, der in der Aneignung der Stadt Hamburg als Zuhause und Heimat besteht. Hamburg symbolisiert damit den sozialen Raum, zu dem er sich individuell als zugehörig wahrnimmt, unabhängig davon, ob eine räumliche und emotionale Nähe zu den Eltern besteht oder nicht. Sinan Koç legt seiner Positionierung im sozialen Raum eine kleinere geographische Einheit zugrunde, die einen biographischen Bezug zu ambivalenten Kindheits- und Jugenderinnerungen hat. Seine Kindheit im segregierten Stadtteil Gostenhof dient dabei auch als Erklärung für sprachliche Defizite und die daraus abgeleiteten Marginalisierungserfahrungen. Außerhalb des ethnisch segregierten Umfeldes, in dem er sich als Kind sicher verortet hat, nimmt er sich als fremd wahr. Auch wenn er sich erfolgreich aus der prognostizierten Kriminalitätsspira-

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le herausgelöst hat, verortet er sich auch als Erwachsener, der nicht mehr in dem Stadtteil der Kindheit lebt, symbolisch zum Sozialraum „Gostanbul“ zugehörig.7 Bei Mehmet Oktay stehen dagegen die familiären Beziehungen innerhalb eines überschaubaren Raumes im Zentrum der sozialräumlichen Positionierungen. Als der erste Bruder das Dorf in Oberbayern verlässt und in die nahe gelegene Kleinstadt zieht, ziehen die weiteren Haushalte ihm schrittweise nach, bis sogar die Eltern in der Kleinstadt eine Wohnung mieten. Daraus folgt, dass er sich aufgrund seines Geburtsortes in der Region Oberbayern zur lokalen Alltagskultur und gelebten Praxis als zugehörig konstruiert. Parallel dazu lebt er in einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen, die aus seinen türkischen Wurzeln und dem oberbayerischen Geburtsort resultieren. Die sprachliche und kulturelle Annäherung an eine spezifische regionale Alltagskultur verhindert nicht, dass er mit seinem abweichenden Phänotypus und dem türkischen Namen durch die deutschstämmige Umgebung als fremd konstruiert wird. Auch für Herrn P. spielt die Familie für die Selbstverortung in einem Sozialraum, der Sicherheit und Vertrauen bietet, eine zentrale Rolle. Dies erscheint ihm vor allem deshalb gegeben, da alle Familienangehörigen innerhalb eines überschaubaren geographischen Umfeldes leben. Er nimmt dies als Bereicherung seiner sozialen Beziehungen wahr, wenn Familienangehörige in unmittelbarer Nähe wohnen. Eine individuelle Herauslösung aus diesem Netzwerk kann er sich nicht vorstellen. Aber immer mit der Überlegung, kannst du das in der Großstadt? Kriegst du das hin, ganz alleine, ganz alleine dahin ziehen? Familie ist hier, von der Familie weg, weil Familie ist so ziemlich das wichtigste, was es gibt. Und das war mir- und das hab ich dann gesagt, nee- das ist mir nicht wert, dann fahr ich lieber die Stunde. (Herr P.)

Herr B. verortet sich dagegen in einem ebenfalls geographisch breit angelegten Kontext, als „Südhesse“ und präsentiert die Anekdote, dass er auf Fragen, wo er herkommt, antwortet, er sei ein „Südländer“, da er aus „Südhessen“ stammt. Damit setzt er begriffliche Irritationen bewusst ein, und übernimmt damit die Deutungshoheit über ihre Inhalte. Das Zusammenleben in einer Hausgemeinschaft mit den Eltern und der Familie seines Bruder ist über die ökonomische Dimension hinaus eine emotionale Entscheidung. Er versteht sich gemeinsam mit dem Bruder als der Verwalter der Immobilien und Vermögenswerte der er-

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Vergleichbare Haltungen zeigen sich in der Untersuchung von Rosemarie Sackmann (2004), in der 55% der Türkeistämmigen der zweiten Generation sich als zugehörig zur Stadt verorten, in der sie leben. Vgl. dazu Kap. 2.2, Seite 70.

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weiterten Familie. Ein Umzug innerhalb Deutschlands kommt für beide nicht in Frage. Diese familiäre Konstellation ist von emotionaler und sozialer Sicherheit geprägt, die auch dazu führt, dass er vor diesem Hintergrund die Entscheidung treffen kann, seine Zukunft in Deutschland zu sehen. Ich seh das wirklich als Staatsangehörigkeit, eh- das ist für mich noch kein Grund zu sagen, ich bin Deutscher, weil, ich bin kein Deutscher [...] nur, ich bin hier zu Hause. Ja, wirklich, hier in Rüsselsheim und in Deutschland bin ich zu Hause. Also, die Türkei ist (..) zu sagen, das ist mein Heimatland, ehm- ist auch nicht richtig in meinen Augen, meine Heimat, mein Zuhause ist hier, solange ich mich hier wohlfühle ist alles ok. (Herr B.)

Sein Mobilitätsverständnis bezieht sich nicht auf räumliche Veränderungen, aber auf sozialen Aufstieg und eine Etablierung, die familiär eingebettet ist in das ökonomische und soziale Netzwerk. Vor diesem Hintergrund entwickelt Herr B. begriffliche Differenzierungen zu Vorstellungen von Heimat und Zuhause ohne dabei auf ideologisierte Vorstellungen von Nation und Volk zurückzugreifen. Die Türkei stellt vor allem für die Elterngenerationen den zentralen sozialen Bezugsrahmen dar, der im Hinblick auf die Einordnung des Erfolgs des Migrationsprojekts relevant ist. Soziale Anerkennung, die sich durch das Erreichen eines größeren Wohlstands im Verhältnis zu denjenigen verzeichnen lässt, die in der Türkei geblieben sind, ist dabei das wesentliche Kriterium. Damit wird die Türkei zum Ort für Investitionen in Eigentum und Konsum, der durch die erste Generation begonnen und von den nachfolgenden Generationen fortgeführt werden kann. Zudem ist die Türkei Bestandteil des transnationalen Sozialraumes, in dem die Pflege der sozialen Beziehungen stattfindet und darüber hinaus ein Ort für Partnersuche, Urlaubsfahrten, Eheschließungen und Feierlichkeiten. Die Türkei kann zudem dann eine Rolle spielen, wenn die Angehörigen der ersten Generation sich nach dem Eintreten in den Ruhestand einen neuen oder zeitweisen Lebensmittelpunkt auswählen und dort nach ihrem Tod begraben werden möchten. Auch für die zweite Generation stellt sie damit den symbolischen und konkreten Erinnerungsort der Familiengeschichte dar und spielt eine Rolle bei individuellen wie kollektiven, ethnisch oder religiös konnotierten Positionierungen. Darüber hinaus ist die Türkei ein narrativer Fixpunkt im Kontext von Generationen übergreifenden Rückkehrdiskursen und wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Einwanderungsdiskursen und rassistischen Diskriminierungserfahrungen zum attraktiven Ort, an dem gut ausgebildete Türkeistämmige ihre berufliche Karriere fortzusetzen beabsichtigen.

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5.2.3 Identitätsdiskurse und Diskriminierung Erfahrungen, Aushandlungen und Auseinandersetzungen mit nationalen, kulturellen, ethnischen und religiösen Selbst- und Fremdzuschreibungen stehen im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts. Die Konfrontation mit stigmatisierenden Fremdzuschreibungen spielt im biographischen Material eine besondere Rolle. Soziale Positionierungen erfolgen in einem Spannungsfeld zwischen identifikativen Selbstverortungen und Abgrenzungen sowie der Herausforderung, den vorurteilsbeladenen Diskursen um die Bezeichnung „Türke“ zu begegnen. So weist Herr M. darauf hin, dass die Bezeichnung Türke in Deutschland als eine Art Schimpfwort gilt. Dies führt dazu, dass er sich mit rassistischen Zuschreibungen konfrontiert sieht, die ihn auf seine ethnische Herkunft reduzieren und verletzend sind. Wenn es heißt Spanier im deutschen Munde, dann ist das positiv, wenn es heißt Engländer, dann klingt es positiv, auch für mich, ja, wenn ich sag, Amerikaner, dann klingt positiv, auch Mexikaner klingt positiv, aber sobald Italiener, Grieche, Türke heißt, ehmkommt schon irgendwie ganz andere Gefühle oder Ebenen hoch, ehm- die ich nicht in der Ebene sehe, sondern die ist irgendwie in der unteren Ebene angesiedelt. Ich bin ein Türke, so, ich weiß, dass das ganz anders gesehen wird. Und ehm- deshalb kann ich nicht einfach sagen, ja sagen wir doch, ich bin Türke, weil es ein bisschen so einen negativen Touch hat dummerweise, leider, weil ich ne- so will ich mich eigentlich auch nicht bezeichnet haben, schade eigentlich ja, es tut eigentlich weh, aber ehm- muss man das so bezeichnen, kann man nicht ganz normal mit Namen, frag ich mich dann… (Herr M.)

Aufgrund der ethnischen Zuordnung als Türke wird ihm von der Mehrheitsgesellschaft weniger als anderen zugetraut, sozialen Aufstieg zu realisieren und beruflich erfolgreich zu sein. Im Alltag nimmt er sich selbst als weniger wertgeschätzt wahr, und schämt sich sogar teilweise dafür, sich als Türke zu präsentieren. Gerade im Zuge seiner beruflichen Karriere werden ihm die möglichen Grenzen, die ihn allein aufgrund seines türkischen Namens und den damit einhergehenden diskriminierenden Zuschreibungen einschränken könnten, besonders bewusst. Dabei ist er im Arbeitsalltag punktuell damit konfrontiert und bemüht sich um humorvolle Entgegnungen. Aber ich habe in der Arbeit eigentlich nie ein Problem, das ist eigentlich immer mit Humor verbunden. Ich akzeptier diesen Humor. (..) Ja, das ist jetzt wieder getürkt oder? Das heißt, das ist jetzt wieder getürkt, da sag ich ja, freilich ich bin doch ein Türke. (Herr M.)

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Herr N. sieht in Fleiß und Selbstdisziplin einen Ausweg aus dem Dilemma, immer wieder auf die nationale Kategorie reduziert zu werden. Er ist überzeugt, dass es unabhängig von der ethnischen Herkunft möglich ist, sich durch gute Leistung und Engagement bei anderen beliebt zu machen und damit bestehende Vorurteile zu überwinden. So hebt er hervor, dass seine guten Leistungen eine Grundlage für seinen beruflichen Erfolg waren. Wenn ich aufsteigen will, in einem Beruf oder irgendwo. Auch wenn die Umgebung mit Ausländer, sag ich einmal, nicht akzeptierenden Leuten umgeben ist, man kann aufsteigen, indem man immer besser ist als andere. Da können andere machen, was sie wollen. Weil, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Konzernchef, oder- oder ein Firmenchef oder eieiner, der ganz oben sitzt, der nicht die gute Leute fördert, dem ist es egal, ob einer Türke oder Deutscher ist oder andere Nation ist. Er will nur erwirtschaften, gut erwirtschaften, er will nur schwarze Zahlen schreiben, ihm ist es sehr, sehr selten- und so groß die Firmen sind, und so- so eh- global ist das Ganze. Und dann schaut man irgendwann einmal nicht mehr nach Nationen. Hauptsache, erfolgreich oder nicht. Da wird nicht nach Namen- nach Nationen [...] man muss immer besser sein. (Herr N.)

Diskriminierung und Benachteiligung betrachtet er gerade für die Arbeitswelt als den unternehmerischen Interessen entgegenstehend, so dass er sich, abgesehen von Vorurteilen innerhalb der Belegschaft, eine systematische Diskriminierung und Ausgrenzung entlang ethnischer Kriterien durch die Unternehmensleitungen in der Praxis nicht vorstellen kann. Darüber hinaus macht er sich keine Illusionen darüber, wie er erreichen kann, dass er als deutscher Staatsangehöriger von anderen Deutschen als deutsch akzeptiert werden kann. Ich brauch nicht sagen, ich bin Deutscher, oder was, ich sage, ich bin Türke, weil einfach dieser Mensch, der gegenüber von mir sitzt, mich als Türke sieht, auch wenn ich einen deutschen Pass habe. [...] sag ich, ich bin der Türke [...] also Türke sag ich zwar nicht, aber ich sag halt meinen Namen und der wird sich schon was dabei denken. (Herr N.)

Allerdings impliziert die Bezeichnung Türke für ihn zunächst einmal keine grundsätzliche Abwertung, wie sie Herr M. feststellt. Vielmehr geht es ihm darum, deutlich zu machen, dass in der Praxis nicht der Pass, sondern die äußere Erscheinung von Menschen als ethnisches und nationales Zuordnungskriterium herangezogen wird. Herr N. begegnet dieser Praxis, indem er die Zuordnung zum Herkunftskontext Türkei den anderen überlässt, während er selbst sich als Person mit Namen präsentiert und damit die Singularität jenseits homogenisierender Zuschreibungen hervorhebt.

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Im Zuge seines beruflichen Aufstiegs, bei dem er von seinen Vorgesetzten unterstützt wird, erfährt Herr B. in indirekter Weise, dass sich die in der Konkurrenz um die besseren Positionen unterlegenen Kollegen über seine Beförderung beschweren. Wo dann geredet wird, ja, jetzt muss ich mir vom Türken was sagen lassen, es ist, weil ich halt Türke war, es ging nicht darum, sich von einem Türken was sagen zu lassen, es war nur diese Bezeichnung, ich muss mir jetzt von dem Türken, was sagen lassen. [...] mir ins Gesicht nicht, ich mein, man hört ja dann irgendwann, da hört man das dann wieder, ja, ehm- der hat das über dich gesagt [...] (Herr B.)

Am Beispiel von Herrn B. wird der Zusammenhang von Missgunst und rassistischer Diskriminierung sichtbar, und zielt darauf ab, ihn als Person auf die ethnische Herkunft zu reduzieren und damit als Führungskraft für ungeeignet zu erklären. Die Kritik der Kollegen richtet sich gegen ein Aufbrechen von Hierarchien, die auf den Beginn der Anwerbung von Arbeitsmigranten aus der Türkei zurückgehen. Die Unterschichtung weist den Türkeistämmigen die untersten Positionen der Hierarchien in den Unternehmen zu. Die Deutschen rücken in höhere Positionen auf, von denen aus sie den angelernten Migranten aus der Türkei Weisungen erteilen. Im Fall von Herrn B. kommt hinzu, dass der Wechsel des Vorgesetzten dazu führt, dass neben ethnischen Hierarchien auch die Länge der Betriebszugehörigkeit und sein Alter nicht mehr als ausschlaggebend für eine Beförderung betrachtet wird. Somit erreicht Herr B. aufgrund dieser internen Veränderungen sowohl als Türkeistämmiger wie auch bereits nach kurzer Betriebszugehörigkeit innerhalb eines kurzen Zeitraums eine erhebliche Verbesserung seiner beruflichen Position. Die Missgunst, die ihm begegnet, ist jedoch nicht stark genug, um ihn aus der Position zu verdrängen. Trotzdem ist er wie bereits Herr N. der Ansicht, dass er aufgrund seiner Herkunft einen größeren Einsatz zeigen muss, um seine Fähigkeiten den anderen gegenüber unter Beweis zu stellen. Zudem nimmt er eine pragmatische Haltung ein, wenn es um die ethnische Selbstverortung geht. Und ehm- zu sagen, ich bin ein Deutsch-Türke oder Deutscher, das ist alles nur scheinheilig, weil letztendlich, ich bin ein Türke und eine andere Bezeichnung gebe ich mir selbst auch nicht, ja. Das ich mir sage, Türke mit, oder Deutscher mit und so, ich bin ein Türke mit deutscher Staatsangehörigkeit in Zukunft, bald, irgendwann. (Herr B.)

Herr P. macht Erfahrungen mit Diskriminierung, die auf ethnische Zuschreibungen zurückzuführen sind. Dabei zeigt sich eine Überlagerung von ethnischer

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Diskriminierung und Fragen von Alter und Länge der Betriebszugehörigkeit, mit denen er sich auseinandersetzen muss. In dem neuen Bereich, kannte ich mich am besten aus. Obwohl ich mich am besten auskannte, haben sie mir dann doch einen Deutschen vor mich gesetzt und ich musste ihm dann alles beibringen. Und wir haben ja zwei Schichten und in beiden Schichten war es dasselbe, die haben sich beide nicht ausgekannt, die Vorarbeiter, haben immer mich gefragt, ich sollte die unterstützen, hab ich ein, zwei Monate gemacht, und dann hab ich gesagt, ich versteh das nicht, warum sind die Vorarbeiter und ich bin ein Arbeiter und ich muss den alles beibringen. (Herr P.)

Die Tatsache, dass er sich schnell in seinen Bereich einarbeitet, führt nicht dazu, dass ihm Verantwortung übertragen wird, vielmehr wird er degradiert und seine Fähigkeiten entwertet, indem er zwar informell die anderen anleitet, dadurch aber keinen beruflichen Statuszuwachs erfährt. Konkrete rassistische Diskriminierung begegnet ihm, als er während der Ausbildung als letzter gefragt wird, welchen nächsten Arbeitsbereich er sich wünscht, so dass er, da inzwischen alle interessanten Bereiche besetzt sind, keine Wahl hat und nehmen muss, was übrig ist. Ja, das war in der Entwicklung, da bin ich eben gekommen und da hieß es dann, ja, ihr könnt euch jetzt aussuchen, wo ihr hinwollt, und dann hat er so durch die Reihe geschaut und hat gesagt, du, und du und du, wo wollt ihr hin, da warn das dann halt die Deutschen, die konnten sich halt noch was Besseres aussuchen und die wurden dann halt zuerst rausgepickt. Und dann ganz zum Schluss durfte ich mich dann entscheiden, da gabs keine Entscheidung mehr, es gab nur noch den einen Platz (lacht) und ich hab dann halt den bekommen. (..) Also da war noch ein Jugoslawe dabei, wir sind zum Schluss übrig geblieben. Und genau da hab ich ´s dann schon gemerkt. (Herr P.)

Er bemüht sich, der erfahrenen Diskriminierung entgegenzutreten, indem er sich trotz allem bemüht und „seine Arbeit macht“, nicht negativ auffällt und sich besonders um Arbeitserfolge bemüht. Dies gelingt ihm durchaus, so dass er mittlerweile Vorarbeiter in einem Bereich ist, indem er für zehn Arbeiter verantwortlich ist. Dies ist nach einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren inklusive Ausbildung für ihn ein Zeichen von Erfolg, den er ausbauen möchte, indem er sich zum Industriemeister weiterqualifiziert. Sein Erfolg unterliegt dabei der Gefahr, dass Wirtschaftskrisen und unternehmensinterne Umstrukturierungen zur Neuordnung von Produktionsabläufen führen, durch die Abteilungen aufgelöst und neu zusammengesetzt werden. Dadurch werden Positionen, wie die des

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Vorarbeiters in einem bestimmten Bereich unter Umständen wieder aufgehoben und es muss erneut anfangen, sich hochzuarbeiten. Auch Herr L. ist mit spezifischen Formen struktureller Diskriminierung konfrontiert, die für Desillusionierung im Berufsalltag sorgen. Sein Hochschulabschluss aus der Türkei ist aufgrund gesetzlicher Regelungen nicht dem deutschen Lehramtsabschluss gleichgestellt. Ich verdiene ein Drittel weniger als meine deutschen Kollegen. Ich darf die gleiche Arbeit machen, ich mache sogar mehr Arbeit, weil ich nicht nur den Beruf des Lehrers ausübe, weil ich für meine Schüler auch eine andere Funktion habe, ja, wenn irgendwas ist, dann kommen sie zu mir. Vermitteln, bin manchmal Bruder manchmal Onkel, manchmal- was weiß ich alles, dass ich diese Brücke mache. Und dann aber wenn’s ans Bezahlen kommt, dann bezahlen sie mir nicht das, was sie einem deutschen Kollegen zahlen, [...] Ob ich an einer Grundschule, einer Hauptschule arbeite oder an einem Gymnasium, das ändert nichts an meiner Bezahlung, jeder türkische Kollege bekommt das gleiche. [...] Das ist eine Unverschämtheit. (Herr L.)

Gerade aufgrund seines überaus großen Selbstmanagements, durch das er seinen Hochschulabschluss überhaupt erst erreicht, ist die Enttäuschung über die ungleiche Behandlung umso größer. Nach wie vor werden Bildungsabschlüsse aus der Türkei nicht als gleichwertig anerkannt und die beruflichen Vorerfahrungen abgewertet. Diese Entwertung kann nur teilweise durch die Betonung seiner besonderen Rolle ausgeglichen werden, die er als türkeistämmiger Lehrer an einer Schule mit einem großen Anteil Kindern mit ebenfalls türkischen Wurzeln innehat. Religiöse Zugehörigkeit spielt in den Fallrekonstruktionen, abgesehen von Mehmet Oktay, eine weniger zentrale Rolle. Deshalb fasse ich die Hinweise auf religiöse Praxis und Positionierungen als Muslim in einer Diasporakonstellation an dieser Stelle zusammen. So ist zunächst darauf einzugehen, dass Herr B., mit dem das Gespräch an einem Freitagvormittag stattfindet, gegen Mittag um eine Unterbrechung bittet, da er in die Moschee zum Freitagsgebet gehen möchte. Da er sich an seinem freien Tag, der zudem ein Freitag ist, mit mir verabredet hat, geht er davon aus, dass die Religionsausübung in seine Tagesplanung zu integrieren ist, eben in dem Maße, wie er es sonst an einem arbeitsfreien Freitag auch tun würde. Dies erscheint ihm zudem als ein Umstand, den er sich nicht genötigt fühlt, weiter zu begründen. Somit geht er in die Moschee und nach etwa eineinhalb Stunden setzen wir unser Gespräch fort. Für Sinan Koç hingegen ist Religion ein unangenehmes Thema. Er berichtet gegen Ende des Gesprächs, dass er

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einige Wochen vor unserem Treffen ein Interview mit einem Angehörigen einer anderen Universität geführt hat. Als er im Gesprächsverlauf bemerkt, dass Fragen zur muslimischen Religionspraxis gestellt werden, ist er nicht bereit, darauf einzugehen. Es ist egal, ob das jetzt christlich oder islamisch, ich bin der Meinung, da muss man mit den richtigen Leuten reden, nicht mit dem Bürger. Es gibt viele Sachen, die ich nicht kenne oder die ich nicht weiß über meine Religion und Sie, bei Ihnen ist es auch das gleiche denke ich mir und da muss man schon mit den richtigen Leuten reden darüber. (28:6-9)

Er betrachtet sich in religiösen Angelegenheiten bestenfalls als praktizierenden Laien, der in seiner Rolle als „Bürger“ nicht über die Kompetenz verfügt, über religiöse Normen Auskunft zu geben. Für Herrn N. spielt die individuell verinnerlichte alltagsrelevante religiöse Praxis eine Rolle bei der Entscheidung, welche Regeln und Normen gültig sind. Er überprüft zudem die kulturelle Praxis der Mehrheitsgesellschaft kritisch auf ihre Kompatibilität mit den von ihm verinnerlichten Normvorstellungen. Also, die guten Sachen, die für meine Familie gut sind, die tu ich mir raus, die tu ich mir aneignen, aber die anderen Verhaltensweisen, die nicht zu unserer Kultur reinpassen, die möchte ich nicht, wie zum Beispiel Schweinefleisch essen, oder auch wenn ich jetzt nicht so, vom Glauben her, das Tier, das ekelt mich. (Herr N.)

Auch Mehmet Oktay betont, dass seine Religionspraxis eine für ihn bedeutsame Angelegenheit ist, die eine Beziehung zu seinen „Wurzeln“ herstellt. Allerdings verortet er seine Religiosität im Privaten und lehnt die offensive öffentliche Zurschaustellung ab. Ich zeige es nach außen wenig, dass ich jetzt halt so an meinen Wurzeln hänge, muss nicht jeder erfahren, was ich- wie ich bete, was ich bete, wie ich daran glaube. Muss nichtich muss es nicht jedem auf die Nase binden, ich muss aber auch nicht nach außen extrem hier- unser Glaube lässt uns so viel Spielraum, dass wir das in unserer heutigen Zeit, in unserer modernen Zeit schön einplanen können, dass wir uns da richtig reinbringen können, aber viele wollen halt nach den Art und Weise so gehen, wie es vor tausenden von Jahren war, und das lässt sich in der heutigen Zeit einfach nicht, sage ich mal, regeln. (23:36-42)

Einen Gebetsraum am Arbeitsplatz betrachtet er als Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft, da er im Arbeitsalltag im katholischen Krankenhaus mit

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christlichen Symbolen konfrontiert ist, die mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit öffentlich präsentiert werden. Somit wertet er es als ein Zeichen zunehmender religiöser Toleranz, wenn Muslime im Krankenhaus ebenfalls einen Raum für Gebete zur Verfügung gestellt bekommen. Darüber hinaus führt seine bireligiöse Partnerschaft dazu, dass er sich mit religiösen Regeln konfrontiert sieht, die einen monoreligiösen Habitus der christlichen Mehrheit zum Ausdruck bringen. So arbeitet seine Partnerin unter dem moralischen und arbeitsrechtlichen Druck, keine dauerhafte nichteheliche Lebensgemeinschaft führen zu dürfen und kann zu einer kirchlichen Trauung als Voraussetzung für eine Weiterbeschäftigung in der kirchlichen Einrichtung, in der sie tätig ist, verpflichtet werden. Dieses Thema greift nach Meinung von Mehmet Oktay entschieden zu weit in die private Lebensführung des Paares ein. Ich muss nicht alles preisgeben von mir, aber ich kann genauso gut alle Forderungen, was mein Arbeitgeber von mir verlangt auch erfüllen, was ich dann daheim mache, was ich privat mache, ist dann (.) meine Sache. (Mehmet Oktay 26:25-27)

Cemal Akkaya dagegen setzt sich in den gesellschaftlichen Institutionen für einen respektvollen Umgang mit religiösen Themen ein, vor allem deshalb, da er sich als Muslim in einer Minderheitenposition wahrnimmt, die sich vor allem für seine Kinder als problematisch erweist. Als sein Sohn in der Schule ein Referat zu den „Mohammed Karikaturen“ hält und sich für den respektvollen Umgang mit der muslimischen Minderheit einsetzt, kommt es zu erheblichen Konflikten. In der Klasse musste er das dann auch präsentieren, darstellen und dann eh- und dann gab es plötzlich beleidigende und eh- ehm- ja, die- die Respektgrenzen überschreitende Momente, ehm- ja, Islam ist doch immer so, und hast du nicht gesehen und eh- ihr integriert euch ja so und so nicht und eh- wollt ja gar nicht und der Lehrer hat da- und der Klassenlehrer hat sich da auch eh- total rausgezogen und ganz im Gegenteil, er hat die Stimmung auch noch mal angeheizt, wo er selbst solche Art an Fragen in die Mitte geschmissen hat. Und da hat sich der Junge bei mir total diskriminiert gefühlt. Hat mir das auch erzählt, war auch total an dem Tag kaputt, und fertig. (24:40-47)

Cemal Akkaya fühlt sich durch die respektlosen Äußerungen persönlich verletzt. Die Minderheitenposition verstärkt die Sensibilisierung und Empfindsamkeit für Kritik an der religiösen Praxis, so dass darin eine Diskriminierungserfahrung zu sehen ist, gegen die sich die Adressaten aufgrund vorgenommener Homogenisierungen durch die Mehrheit, in dem Sinne, „Islam ist doch immer so“ nicht mit Argumenten zur Wehr setzen können.

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5.3 M ÄNNLICHKEIT UND DAS S ELBSTVERSTÄNDNIS ALS V ATER UND E HEMANN Das Material aus den Interviews zu den Themenfeldern Männlichkeit, Partnerschaft und das Selbstverständnis als Vater wird in diesem Kapitel zusammenfassend analysiert. Aufgrund der Fokussierung des Themas Erwerbsarbeit als Gesprächsanlass für die biographisch-narrativen Interviews können zu diesen Themenbereichen anhand von Beispielen lediglich Tendenzen vorgestellt werden wie sie in den biographischen Selbstpräsentationen sichtbar werden. So ist zunächst festzustellen, dass die binäre Geschlechterordnung grundsätzlich als nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Allerdings können hinsichtlich der biographischen Selbstverortung als Mann die folgenden Charakteristika herausgearbeitet werden.8 Männlichkeit wird dabei zum einen konstruiert über die Befähigung, eine Familie materiell zu versorgen. Dies erfolgt in einer sozialen Konstellation, in der Erfahrungen mit marginalisierter Männlichkeit über die Migrationsgeschichte des Vaters kopräsent sind, und trägt auch dazu bei, dass Männlichkeitskonstruktionen über die individuelle Erbringung von konkreten Arbeitsleistungen sowie die kontinuierliche Bereitschaft zu harter körperlicher Arbeit erfolgen.9 Darüber hinaus spielt die selbst erlebte Diskriminierung in Schule und Arbeitswelt ebenso eine Rolle, wie die sozialen Folgen einer Kindheit im ethnisch segregierten Wohnviertel. Eine weitere Ebene von Männlichkeitskonstruktionen ergibt sich im Bereich der Bildung, vermittelt über den sozialen Aufstieg. Die Überwindung von sozialen und strukturellen Barrieren bewirkt eine Aufwertung der eigenen Person aber auch der Familiengeschichte im Hinblick auf die erfolgreiche Umsetzung und Fortführung des von den Eltern begonnenen Migrationsprojekts. Angesichts der durch die beschwerlichen Tätigkeitsfelder in den Industrieunternehmen belasteten Eltern, vor allem der Väter, ist die Fortsetzung einer Laufbahn als Arbeiter mit weniger Prestige und Status verbunden, als dies für die Väter und Großväter der Fall war. Der soziale Be-

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„Während die Zuordnung nach Geschlecht zeitlich stabil zu sein hat, verlangt die biographische Logik gerade das Gegenteil. Mitglieder moderner Gesellschaften haben gelernt, sich als Personen zu präsentieren und zu reflektieren, die ‚geworden‘ sind und die Möglichkeit haben, sich zu verändern.“ (Dausien 2009: 170)

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„Marginalisierung entsteht immer relativ zur Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit der dominanten Gruppe.“ (Connell 1999: 102) Somit kann insgesamt davon gesprochen werden, dass die Männer der ersten Generation durch die strukturelle Unterschichtung, Bildungsferne und Erfahrungen von Fremdheit im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft marginalisiert waren.

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zugsrahmen ist für die Männer der zweiten und dritten Generation die Gesellschaft im Einwanderungsland der Eltern und Großeltern. Die Männlichkeitskonstruktionen orientieren sich damit an einer Informations- und Bildungsgesellschaft, in der sozialer Aufstieg über Bildung erreicht werden kann. Der soziale Status findet seinen Ausdruck in beruflichen Qualifikationen, die angemessenes Einkommen und Sozialprestige mit sich bringen, wobei anspruchsvolle Bürotätigkeiten im technologischen und im ökonomischen Bereich ein höheres Ansehen haben, als handwerklich-technische Arbeiterberufe. Darüber hinaus wird die Selbständigkeit als Alternative zu prekären Beschäftigungssituationen, als Erweiterung der Karriereperspektiven aber auch als Ausweg aus diskriminierenden Angestelltenverhältnissen betrachtet. Der Beruf des „Managers“ verspricht dabei sowohl in leitender Angestelltenposition wie auch als Freiberufler oder Unternehmer das höchste Ansehen und Aussicht auf ein den steigenden Konsuminteressen angemessenes Einkommen. Parallel dazu aber wird das Feld der Männlichkeitskonstruktionen um soziale und familiäre Interaktionsfelder erweitert. Soziales Engagement, Aktivitäten im Fußballverein und aktive Vaterschaft bilden neue Aufgabenbereiche, die für positive Selbstverortungen als Mann und Vater eine Rolle spielen. Die bloße Bereitstellung der ökonomischen Ressourcen für die Versorgung von Kindern durch die Mutter ist dabei nicht mehr ausreichend. Angesichts der Erfahrungen mit Diskriminierung und der Abwertung von Talenten und Fähigkeiten in einem Bildungssystem, das soziale Ungleichheit in hohem Maße reproduziert, stellt gerade die Adoleszenz eine kritische Phase für die Selbstpositionierung als heranwachsender Mann dar. Die medial dominanten Diskurse konstruieren gerade in diesem Feld den Prototypus des muslimischen türkeistämmigen jungen Mannes, der im ethnisch segregierten Wohnviertel lebt, über geringe Bildungsressourcen und Deutschkenntnisse verfügt, ein geringes Einkommen hat oder aber staatliche Transferleistungen bezieht, ein konservatives Frauenbild verinnerlicht hat, sich über einen traditionellen Ehrbegriff definiert und bereit ist, seine „Ehre“ durch riskante Praktiken gegenüber anderen zu verteidigen.10 Die Auseinandersetzung mit diesem Männerbild ist für die interviewten türkeistämmigen Männer biographisch relevant und spielt in den Präsentationen und Selbstverortungen eine zentrale Rolle. Die Strategien in der Positionierung im Interview gehen einerseits dahin, sich in den biographischen Selbstpräsentationen nicht mit den Themenfeldern Jugend und Erwachsenwerden aus

10 So stellt Ralf Bohnsack (2001: 67) fest, dass die „Auseinandersetzung mit dem tradierten sozialen Habitus der Ehre des Mannes ein zentrales Problem der Jugendlichen der zweiten und z.T. der dritten Migrations-Generation ist.“

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einer persönlichen Perspektive zu beschäftigen. Dies erfolgt, indem ein scheinbar nahtloser Übergang zwischen den Institutionen Bildung, Erwerbstätigkeit und Ehe präsentiert wird, um den Eindruck eines beispielhaften Lebenslaufs zu vermitteln. Das Thema Jugend wird ausgeklammert, auf die Ausbildung und erste Berufstätigkeit folgen unmittelbar Heirat und Vaterschaft. Eine weitere Präsentationsstrategie geht dahin, die strukturellen Barrieren zu betonen und die Marginalisierung seit der Kindheit als Rechtfertigung nicht erreichter Bildungsziele heranzuziehen. Damit werden persönliche Anteile am Scheitern beim Erreichen eines höheren Schulabschluss ausgeblendet und die gesellschaftliche Praxis der Diskriminierung und Ausgrenzung für das individuelle Scheitern verantwortlich gemacht. Eine weitere Präsentationsstrategie besteht darin, die erfolgreich überwundenen Gefahren der Adoleszenz als delikanlı11 hervorzuheben und mit den weniger erfolgreichen Angehörigen der eigenen Generation zu vergleichen. Insgesamt ist die Tendenz festzustellen, angesichts der rassistischen Zuschreibungen die Besonderheit der eigenen Laufbahn hervorzuheben. Dies entspricht der Strategie, die allgemeinen Probleme anzuerkennen und ihre sozialen und strukturellen Einbettungen zu erkennen und reflektieren zu können, sich persönlich aber als der ökonomisch und sozial erfolgreichere Aufsteiger zu präsentieren. Dies erfolgt einerseits im Vergleich mit dem Vater und zudem im Vergleich mit anderen türkeistämmigen Männern. Rollenbilder als Sohn und Vater In Anlehnung an die Typisierungen der intergenerativen Positionierungen lassen sich auf der sozialen und familiären Ebene weitere Faktoren ausmachen, die bei den Verhandlungen der intergenerativen Beziehungen zwischen Vater und Sohn eine Rolle spielen. Hinsichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Positionen finden Auseinandersetzungen und Reflexionen statt, die sich auf die Vorbildfunktion vor allem des Vaters in Bezug auf Sozialverhalten und die Integration in soziale Netzwerke beziehen. Dabei werden intensive interkulturelle Kontakte und Vereinsengagement des Vaters als positiv hervorgehoben. Die Söhne übernehmen die Rolle, die der Vater im Verein hatte, wenn sie selbst erwachsen sind. Dasselbe gilt für die Einführung in die sozialen Netzwerke, die über den Vater in der Phase der Adoleszenz erfolgen und den Söhnen einen Einblick in die Sozialwelt des Vaters vermitteln. Eine kritische Auseinandersetzung erfolgt im Hinblick auf die Eltern und vor allem den Vater in seiner Funktion als Vertreter der Kinder in den Bildungsinsti-

11 Vgl. dazu die Ausführungen zum Begriff in Kapitel 4.1.4, Seite 126.

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tutionen. Bereits der Umstand, dass die Kinder schneller Deutsch lernen als ihre Eltern, führt dazu, dass sie von den Institutionen und den Eltern als sprachliche Vermittler in Anspruch genommen werden. Die Kinder erhalten dadurch eine besondere Verantwortung, der sich nicht immer gewachsen sind. Die kommunikativen Defizite der Eltern werden besonders im Bildungssystem sichtbar, da dort angesichts der bestehenden sozialen Ungleichheit, Interesse und Engagement der Eltern für den Verlauf der Bildungslaufbahn entscheidend sein können. Wenn die Eltern wenig präsent sind, mit Erwerbstätigkeit überlastet sind und wenig Deutsch sprechen, haben die Söhne größere Probleme, Bildungsziele umzusetzen. Allerdings hat es positive Effekte, wenn die Eltern Unterstützung durch Nachbarn, Freunde und Bekannte organisieren. Diese Mentoren können durchaus wichtige Hilfestellungen geben und die Eltern entlasten. Ansonsten ist ein großes Maß an Selbstmanagement erforderlich, um Bildungsabschlüsse und berufliche Ziele in die Praxis umzusetzen. Die Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, ist gerade dann erforderlich, wenn die Eltern keine besonderen Bildungserwartungen formulieren und keine Initiativen ergreifen, um Unterstützung zu organisieren. Dabei wünschen sich die Eltern durchaus einen Schulabschluss, da sie die Notwendigkeit einer Ausbildung erkennen, sind aber mit einem Mindestmaß an schulischer und sich daran anschließender beruflicher Qualifikation als ausreichende Grundlage für eine ökonomisch eigenständige Existenz zufrieden. Darüber hinaus sind es in den intergenerativen Beziehungen die Erwartungen der Eltern an ein normengerechtes Sozialverhalten, mit dem sich die Kinder bis ins Erwachsenenalter auseinandersetzen. So werden im Interesse eine konfliktfreien Umgangs Grundsatzdiskussionen und die Austragung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten gemieden. Auch wenn der Sinn der durch die Eltern gesetzten Normen nicht logisch nachvollziehbar scheint, werden Kompromisse eingegangen, um die familiäre Einheit nicht zu gefährden. Die innerfamiliären Hierarchien zwischen Vater und Sohn werden dabei grundsätzlich nicht in Frage gestellt. So bemühen sich die Söhne, den vorgegebenen Rahmen zumindest solange zu akzeptieren, bis sie eine eigene Familie gründen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Vater als autoritärer Entscheider wahrgenommen wird. Gewalt als Mittel der Disziplinierung führt dazu, dass die Angst vor Strafen die emotionale Distanz vergrößert. Die Familiengründung und die darauffolgende Vaterschaft führt Ahmet Toprak (2005) zufolge dazu, dass die „die emotionale Seite des Mannes“ angesprochen wird. Während in der Arbeitsgesellschaft Konkurrenz und damit einhergehende Belastungen im Vordergrund stehen, verstehen sich die türkeistämmigen Männer als wichtige soziale Bezugspersonen ihrer Kinder. Das Selbstver-

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ständnis als Vater wie es in den biographisch-narrativen Interviews deutlich wird, grenze ich in fünf Aufgabenbereichen voneinander ab. Der erste Bereich besteht darin, sich im Rahmen der Vaterschaft als Versorger zu verstehen, der sich für die Bereitstellung der finanziellen Mittel, die Kinder und Partnerin benötigen, verantwortlich fühlt. Darüber hinaus ist er der Organisator, der sich um die individuelle Förderung der Kinder bemüht und ihren Zugang zu Bildung, Freizeit und sozialen Netzwerken maßgeblich mitgestaltet. In diesem Rahmen ist er auch ihr Unterstützer und setzt sich für die Kinder ein, wenn es um Partizipationschancen geht, gerade wenn Diskriminierungserfahrungen eine Rolle spielen. Darüber hinaus sieht sich der Vater als Regulierer, und nimmt eine soziale Funktion als Erziehender, der sich in der Verantwortung sieht, die Einhaltung von Regeln zu kontrollieren und die Sozialisation seiner Kinder zu begleiten. Ein Vermittler ist er aufgrund seiner Rolle als eine der Bezugspersonen, die sprachliche Kompetenzen, Werte und Normen sowie Kulturtechniken, die für ihn selbst eine Bedeutung haben, an seine Kinder weitergibt. Angesichts der hohen Arbeitsbelastungen, dem Leistungsdruck und den sich zuspitzenden Konkurrenzsituationen ist das Zeitmanagement in der Ausbalancierung zwischen der Zeit für Erwerbsarbeit und der Zeit für die Kinder ein problematisches Feld. Hinzukommt, dass die Anforderungen an die Vaterrolle gerade dann besonders groß sind, wenn die Ehefrau in der Türkei sozialisiert ist und sich nicht gut mit den Institutionen auskennt. Herr B. präsentiert sich als fürsorglicher Ehemann, der seine Partnerin bei der Kindererziehung entlastet, wenn es zeitlich umsetzbar ist. Sie kommt ihm entgegen, indem sie seinen Beitrag nicht zu festen Zeiten einfordert, sondern seiner Erwerbstätigkeit Wertschätzung entgegenbringt, während er ihr in seiner freien Zeit die Kinderbetreuung abnimmt. Ja, wenn ich mittags um vier daheim bin, dann sag ich den Kindern auch, wir gehen zusammen raus, dass die Mama mal zwei Stunden Ruhe hat, ja, die ist dann auch ganz froh, wenn sie dann mal allein zu Hause ist, zwei Stunden, kann mal abschalten. (Herr B.)

Sinan Koç reflektiert seine Vaterrolle in der Auseinandersetzung mit Erfahrungen, die er selbst mit seinem Vater gemacht hat. So zeigt er sein Bemühen um eine enge Bindung an den Vater, der als besonders emotional und angreifbar präsentiert wird. Andererseits beklagt er dessen häufige Abwesenheit, die zu einer Sehnsucht nach dem Vater führt. Anstatt sich mit seinem Sohn zu beschäftigen, gründet der Vater zusammen mit Freunden einen Fußballverein und ist darüber hinaus mit ökonomischen Sorgen belastet. In diesem Zusammenhang betont Sinan Koç seine eigene Vaterrolle in klarer Abgrenzung zum eigenen Vater. Er will als überaus informierter und engagierter Vater wahrgenommen und anerkannt

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werden, der sich gegen die wiederholt vorkommenden Benachteiligungen wehrt und andere ebenso dabei unterstützt. Bei der praktischen Umsetzung allerdings erweisen sich seine Arbeitsbelastungen als Alleinverdiener im Schichtdienst als problematisch. Darüber hinaus ist er wie sein Vater mit Vereinstätigkeiten beschäftigt und verbringt arbeitsfreie Sonntage in den Vereinsräumen. Herr E. widmet sich seinen Kindern lediglich in der Zeit, die er nicht mit Erwerbstätigkeit und sozialpolitischem Engagement verbringt. Er hat wenig Zeit und beschäftigt sich mit seinen Kindern, wenn es mal eine „Lücke“ in seinem Tagesablauf gibt. Ich hab in meinem Leben nicht so viele Lücken, ich bin immer mit was beschäftigt, wenn ich Lücke habe, dann beschäftige ich mich mit meinen Kindern. Das ist immer so. Mein Tag ist immer voll. (Herr E.)

Herr L. und Herr N. haben beide volljährige Töchter, die noch zu Hause leben. Sie treffen eigenständige Entscheidungen über Kleidung und Freizeitaktivitäten, wobei sie von den Vätern nur wenige Vorgaben erhalten. Allerdings sind beide Väter durchaus besorgt, möchten aber die Freiräume der Töchter nicht zu weit einschränken. Herr N. reflektiert seine Rolle als Vater und macht sich Gedanken über die Schwierigkeit, seinen Töchtern Werte zu vermitteln, die für ihn eine Bedeutung haben, deren Sinn seine Töchter aber nicht nachvollziehen können. Er zeigt sich unsicher darüber, welche Werte für die nachfolgenden Generationen überhaupt noch Gültigkeit haben werden. Er selbst sieht sich grundsätzlich im Wertesystem seiner Eltern verwurzelt. Am Beispiel des Respekts dem Vater gegenüber, dass er als Sohn sich erhebt, wenn der Vater den Raum betritt, verdeutlicht er, dass seine Töchter heute nicht aufstehen, wenn er in den Raum kommt, sondern sitzen bleiben. İlhan Uysal und Cemal Akkaya vertreten die Ansicht, dass berufliches Pendeln nur für einen begrenzten Zeitraum mit den familiären Interessen vereinbar ist. Die Nähe zwischen Arbeitsplatz und Wohnort ist ein wesentliches Kriterium für die familiäre Lebensqualität, so dass berufliche Entscheidungen dadurch maßgeblich beeinflusst werden. In der Praxis führt dies dazu, dass sich beide gegen eine berufliche Position entscheiden, die mit häufigen Dienstreisen verbunden ist. Wenn überhaupt ist die Türkei als Ort für einen Umzug mit der Familie interessant, wobei der Schulbesuch der Kinder als das wesentliche Hindernis für einen solchen Ortswechsel genannt wird.

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Verständnis von Partnerschaft Aufgrund der Selbstverständlichkeit, mit der die Themen Eheschließung und Familiengründung als Kennzeichen des Übergangs in die Lebensphase als erwachsener Mann präsentiert werden, besteht bei den interviewten Männern ein hoher Erwartungs- und Erfolgsdruck. Angesichts der ökonomischen Transformationen und den Risiken durch den Abbau von Leistungen der sozialen Sicherungssysteme wird es zunehmend eine Herausforderung, als Versorger von Ehefrau und Kindern erfolgreich zu sein. Eine stabile Partnerschaft ist deshalb ein Rückzugsraum in der Abgrenzung zu den komplexen Konkurrenzverhältnissen der Arbeitswelt. Die Partnerwahl erfolgt in einem transkulturellen Raum zwischen Deutschland und der Türkei. Dies hat Folgen für die soziostrukturelle Einbettung der Familie in ihr soziales Umfeld. So zeigt sich in der Fallrekonstruktion von İlhan Uysal, dass seine Ehefrau in gleicher Weise mit den sozialen Strukturen und Institutionen vertraut ist wie er selbst. Sie verfügt über eine Ausbildung und berufliche Erfahrungen und übernimmt zentrale organisatorische Aufgaben bei der Verwaltung des Familieneinkommens. Demgegenüber ist Cemal Akkaya für die Kontakte zu den Bildungsinstitutionen überwiegend selbst zuständig. Seine Ehefrau lernt er in der Türkei kennen und sie verfügt nicht über denselben Wissensbestand und Sprachkenntnisse, um die Interessen der Familie gegenüber den Institutionen eigenständig zu vertreten. Darüber hinaus folgt aus einer Eheschließung mit einer in der Türkei lebenden Partnerin, dass strukturelle Barrieren bei der Familienzusammenführung und beim Arbeitsmarktzugang wirksam werden. Hinzu kommen Erwartungen der Ehefrau aus der Türkei an die Versorgung durch den in Deutschland aufgewachsenen Ehemann. Eine türkische Frau, die aus der Türkei kommt, ja, die alles dort eh- hinterlässt, die hat natürlich irgendwie auch Ansprüche, Wünsche, die sie in Deutschland realisieren will, aber sie konnte viereinhalb Jahre lang diese Wünsche natürlich nicht eh- in Erfüllung bringen lassen, oder bringen, wie auch immer. Weil ich ja studiere und dass fand ich dann zum Beispiel auch ein Entgegenkommen. (Herr M.)

Herr M. steht unter hohem Erfolgsdruck als er noch während des Studiums heiratet und verfügt weder über ein eigenes Einkommen noch über eine eigene Wohnung. Er wohnt mehrere Jahre mit Ehefrau und Kleinkind in der Wohnung der Eltern, trotzdem betrachtet er die Unterstützung der Eltern und die Einschränkungen an Komfort und Privatsphäre, die seine Partnerin hinnehmen muss für einen Übergangszeitraum als akzeptabel. Auch Cemal Akkaya heiratet noch während der Ausbildung eine Frau in der Türkei, die jenseits der Eheschließung

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keine weiteren Bildungsziele in Deutschland verfolgt. Diese strukturell bedingte Ungleichheit zwischen den Partnern beeinflusst die innerfamiliäre Aufgabenverteilung, erhöht aber auch seine Verantwortung für die ökonomischen und sozialen Belange der Familie und damit seine Arbeitsbelastung. Die geschlechtliche Arbeitsteilung besteht darin, dass die Männer sich in erster Linie als die Versorger und Ernährer der Familie betrachten, während die reproduktiven Tätigkeiten im Haushalt von der Partnerin geleistet werden. In den Selbstpräsentationen der interviewten Männer wird dies als das Ergebnis von Aushandlungsprozessen präsentiert, die beispielsweise entlang von biographisch relevanten intergenerativen Auseinandersetzungen verlaufen oder aber durch verinnerlichte Familienbilder hervorgebracht werden.12 So vertritt Sinan Koç die Meinung, „einer sollte zu Hause sein, wenn Kinder da sind“ auch vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Kind mit überwiegend berufstätigen Eltern. Seine Eltern handeln die Anwesenheitszeiten im Haushalt entsprechend ihrer Arbeitszeiten aus und dies erscheint aus der Perspektive ihres Sohnes nicht das erstrebenswerte Familienmodell. Seine Partnerin ist seit der Geburt des ersten Kindes nicht mehr erwerbstätig. Dies führt zwar dazu, dass die Erwartungen an ihn als Alleinernährer hoch sind und der Druck, ein angemessenes Einkommen für die Konsumbedürfnisse der Familie bereit zu stellen, stetig anwächst. Im Gegensatz zu Sinan Koç, der keine weiteren Details seines Familienlebens präsentiert, spricht Herr M. offener und überaus liebevoll über seine Partnerin und die innerfamiliäre Arbeitsteilung. Während er in Vollzeit erwerbstätig ist, ist seine Ehefrau seit der Eheschließung nicht erwerbstätig. Ich kann zwei Dinge nicht. Das ist eh- Küche, Kochen und eh- Musik. [...] Meine Frau kann super toll kochen, deswegen fasse ich die Küche gar nicht an, ich geh schlimmstenfalls dahin und umarm sie von hinten und geb ihr ´nen Kuss aber mehr nicht [...] Und ehwenn sie sagt, sing mal, dann- dann sterbe ich. Ich hör gern Musik, ja, jede Kultur, das ist super, aber selber nicht. (Herr M.)

Er ist sich seiner Defizite überaus bewusst, kann sich im Alltag aber keine andere Organisation des Familienlebens vorstellen. Stattdessen betont er die heraus-

12 Da keine Gespräche mit den jeweiligen Partnerinnen geführt wurden, bleibt hier offen, inwieweit die Ehefrauen den Selbstbeschreibungen ihrer Partner zustimmen würden. Trotzdem ist zu berücksichtigen, dass Frauen grundsätzlich nicht den bestehenden Verhältnissen machtlos ausgeliefert sind, „sondern in jeweils unterschiedlich untergeordneten Formen in die gesellschaftliche Naturaneignung als Handelnde, als potentielle Subjekte eingebunden [sind]“ (Lenz 1995: 28).

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ragende Rolle, die seiner Partnerin für die familiäre Versorgung zukommt und bringt ihr große Wertschätzung entgegen. Seine Gegenleistung für ihren Einsatz besteht darin, den Mangel an Talent und Fähigkeiten durch seine Liebesbeweise auszugleichen. Die finanzielle Versorgung von Ehefrau und Kindern muss er als seinen Anteil am innerfamiliären Geschlechterarrangement nicht besonders betonen, da sie für ihn ebenfalls eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit darstellt. Herr H. ist ebenfalls mit einer Frau verheiratet, die nicht erwerbstätig ist, und hebt den Vorteil der Selbständigkeit für das familiäre Zeitmanagement hervor. Nachdem er das Unternehmen erfolgreich aufgebaut hat, kann er sich stärker um die Familie und die sozialen Netzwerke kümmern. Ich habe immer Wert darauf gelegt, dass ich jetzt eine Arbeit mache, wo ich auch viel Zeit für meine Familie habe, und demnach habe ich auch meine Arbeit, Firma sozusagen ja, dengeledim [dt. ins Gleichgewicht gebracht]. [...] Ja, so, damit ich zum Beispiel abends nach Hause gehen kann zu meiner Familie, mein Kind, mein sozial Leben mehr genieße, mit meinen Freunden, also wie auch immer. (Herr H.)

Durch eine Reduzierung seiner Arbeitszeit gewinnt er Zeit für die Familie, die er in der Gründungsphase seines Unternehmens nicht hatte. Die fehlende Freizeit hat er als besonders nachteilig für seine Ehe erlebt. Ein Grund für Konflikte war der Umstand, dass er nicht gemeinsam mit seiner Partnerin an sozialen Aktivitäten teilnehmen konnte und nicht genügend Zeit für die Pflege von Freundschaften und Freizeitaktivitäten hatte. Dies ist auch bei Cemal Akkaya der Fall, der aufgrund seiner beruflichen Reisetätigkeiten nicht anwesend ist, um mit seiner Ehefrau repräsentative Verpflichtungen wahrzunehmen. Diese spielen eine Rolle, wenn es um die Pflege und den Ausbau sozialer Beziehungen innerhalb einer türkeistämmigen Community geht. Mit der Familiengründung ist demzufolge auch die Bereitschaft zur Repräsentation der Familie nach außen verbunden, so dass neben einer aktiven Rolle bei der Beschaffung, Bewahrung und Erweiterung von ökonomischen Ressourcen auch die Akkumulation von dem für Ansehen und Status erforderlichen symbolischen Kapital erforderlich ist. Dies bedeutet, dass alle Mitglieder der Kernfamilie sich daran beteiligen, familiäre und soziale Beziehungen zu pflegen. Daraus bezieht die Familie als Einheit Anerkennung und sozialen Status auf der Ebene der erweiterten Familie wie der türkeistämmigen Community. Dies bedeutet gerade für die in Vollzeit arbeitenden Männer, dass sie Zeit für diese besonderen Formen der Beziehungsarbeiten freihalten müssen.

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Herr B. hebt darüber hinaus die Kontinuität der von ihm und seiner Partnerin vereinbarten Arbeitsteilung hervor, die bereits seine Eltern praktiziert haben und geht darauf ein, dass diese Rollenverteilung von außen als muslimisch-türkisch und damit traditionell kritisiert wird. Dass eh- sich natürlich die Türken etwas anders verhalten als die Deutschen, das ist auch klar, ja. Die haben eine andere Kultur, und alles. Dass sie nicht das gleiche Essen wie jetzt die Deutschen, ja. Dass ich jetzt eh- mit meiner Frau nicht hier um die Ecke laufe, Opelforum, und hier ´nen Kaffee trinke, ja, das eh- hat nichts damit zu tun, dass wir Türken oder Moslems sind, ja, das hat einfach was mit der Zeit zu tun, das hat was mit meiner Frau zu tun, die dann sagt, hier, was willst du im Café, ich koch dir ´nen Kaffee, wir sitzen daheim, wo es schön warm ist und trinken hier unseren Kaffee. Ja, das sind halt so Sachen, nur auch die Kultur und die Mentalität jetzt, von meinen Eltern, weil- die kannten das auch nicht. (Herr B.)

Angesichts der Beobachtungen der heterogenen Alltagspraxen seines Umfeldes nimmt er die Unterschiede zur Mehrheitsgesellschaft wahr und sieht sich unter Rechtfertigungsdruck. Dabei präsentiert er sich als offen und liberal und durchaus bereit, sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit als Paar zu zeigen. Dass es dazu in der Praxis nicht kommt, liegt seiner Darstellung zu Folge in der Verantwortung seiner Partnerin, die es aus verschiedenen Gründen vorzieht, den Kaffee im privaten Raum der Familie zu trinken. Eine überaus widersprüchliche Haltung gegenüber traditionellen Geschlechterrollen präsentiert Herr E., der in der Theorie keine Unterscheidung zwischen der Berufstätigkeit von Frau und Mann sieht, in der gelebten Alltagspraxis aber keine Veränderungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung anstrebt. Es ist nicht- diese wegen diese feudale Gründe, sondern anders ne- meine Frau geht arbeiten, ich bin zu Hause, ich muss von ihm das Geld alles bekommen, ja, das ist nicht meine Lebensart. ne- das ist nicht wegen feudale, oder so ma- Macho-Mann und so oder diese Patriarchat, sondern finde ich nicht gut, jeder soll selbst ökonomisch selbständig sein, für mich, ist das meine Lebensart. (Herr E.)

Auch Herr E. führt kulturelle Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft als Grund seiner Rechtfertigungsstrategien an. Allerdings spielt bei ihm die Erfahrung mit strukturellen Barrieren eine Rolle, da er nach der Familienzusammenführung die ersten Jahre in Deutschland nicht erwerbstätig sein durfte. Die Abhängigkeit vom Einkommen seiner Partnerin erlebt er als schmerzhafte Abwertung seiner Rolle als Mann, Ehemann und Versorger. Sobald die Auflagen

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nicht mehr gelten, ist er durchgehend in Vollzeit erwerbstätig, während seine Partnerin gar nicht oder nur stundenweise arbeitet. Damit steigt er innerhalb kurzer Zeit zum Hauptverdiener der Familie auf und betrachtet dies durchaus als erheblichen Statuszuwachs. Trotzdem präsentiert er sich als liberalen Mann, der einvernehmlich mit seiner Partnerin eine Erwerbstätigkeit in begrenztem Umfang vereinbart. Also, ich bin nicht so, dass meine Frau darf nicht arbeiten, also so was sag ich nicht- aber wenn Kinder- ich arbeite, Kinder zu Hause, deswegen haben wir gesagt, nur zwei Stunden reicht dann. (Herr E.)

Auch Herrn N.s Ehefrau arbeitet nach der Eheschließung nicht, sondern kümmert sich um die beiden Töchter. Mittlerweile ist sie selbständig und betreibt einen Backshop. Dies begründet Herr N. damit, dass die Töchter mittlerweile volljährig sind und eine ständige Anwesenheit der Partnerin zu Hause nicht mehr erforderlich ist. Allerdings kann er sich selbst nur schwer damit arrangieren, dass sie kaum noch Zeit für die Haushaltstätigkeiten hat, sondern bis zum späten Abend in ihrem Geschäft ist. Auch die Töchter sind erwerbstätig und tagsüber nicht zu Hause. Für ihn bedeutet es, dass er sich stärker eigenverantwortlich um den Haushalt kümmern muss. Da er mich zum Gespräch sich nach Hause eingeladen hat, muss er für Kuchen und Kaffee sorgen und kann nicht auf die Frauen der Familie zurückgreifen. Im Vorgespräch beklagt er sich darüber, dass im Haushalt alles liegen bleibt, da alle früh aus dem Haus gehen und keiner Zeit hat, sich zu kümmern.

6. Zusammenfassung und Ausblick

Transnationale Mobilitäten und ihre langfristigen Veränderungen der sozialen Beziehungen bringen globale Aushandlungsprozesse über individuelle und kollektiv geteilte Lebensentwürfe und Selbstverortungen in Gang. Doch nicht allein die individuellen Entscheidungen sind Motor dieser Entwicklungen, vielmehr werden sie eingerahmt und eingegrenzt durch strukturelle Dimensionen, die in den Gesellschaften soziale Ungleichheiten zementieren und die individuellen Gestaltungsspielräume erheblich verringern. Angesichts der in dieser Arbeit untersuchten Dimensionen von Marginalisierungserfahrungen, die in den biographischen Perspektiven auf die Zusammenhänge von Migration und Arbeit eine Rolle spielen, werden die strukturellen und sozialen Faktoren sichtbar, die besonders für die zweite und dritte Generation der Türkeistämmigen in der Bundesrepublik Deutschland relevant werden. Nach dem Anwerbestopp von 1973 wird die Frage, ob die dauerhafte Niederlassung erwünscht ist, sowohl seitens der politischen Akteure der Mehrheitsgesellschaft wie auch von der Elterngeneration diskutiert und führt gerade bei den Kindern zu großer Verunsicherung. Damit wachsen die Jugendlichen zwischen Rotation, Rückkehr und Diskriminierungserfahrungen auf, ohne dass ihre Perspektiven in den Mittelpunkt sozialpolitischer Maßnahmen und staatlicher Förderprogramme gestellt werden. Als Kinder sind sie von den Entscheidungen, der Fürsorge und dem Engagement ihrer Eltern sowie weiterer Einzelpersonen abhängig. Zudem sind vor allem die Bildungsinstitutionen lange Zeit darauf eingestellt, Kinder von vorübergehend in Deutschland arbeitenden Eltern auf die Rückkehr ins Herkunftsland vorzubereiten. Auch am Beispiel der Wohnsegregation in vielen westdeutschen Städten zeigt sich das Ausmaß des Zusammenwirkens staatlicher Ignoranz, familiärer Entscheidungen und ethnischer Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, die durch medial aufbereitete Bedrohungsszenarien eingerahmt werden und den Prozess der „unstrukturierten Niederlassung“ von Migrantenfamilien begleiten.

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Dies hat weitreichende soziale Konsequenzen, die sich in den Biographien niederschlagen. Es beginnt mit dem Fehlen qualifizierter Kinderbetreuung und endet mit der Praxis, Kinder aus Migrantenfamilien auf die Hauptschule zu schicken, die viele Jugendliche zudem vor dem Erreichen eines Abschlusses verlassen. Die langfristigen Folgen bestehen spätestens seit Beginn der 1980er Jahre in fehlenden Sprachkompetenzen und geringeren Chancen bei der Konkurrenz um einen Ausbildungsplatz in einer Zeit strukturell bedingter Jugendarbeitslosigkeit. Zudem werden Kinder aus Migrantenfamilien von den Gatekeepern in den Institutionen ausgebremst, indem bei Entscheidungen über Bildungswege die ethnische Herkunft und die soziale Situation der Familien eine überproportional große Rolle spielen. Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat steht darüber hinaus für eine konservative Familienpolitik, die sich in den Strukturen der Institutionen widerspiegelt. Das Idealmodell sieht vor, dass Männer als Alleinverdiener für das Familieneinkommen sorgen und Frauen überwiegend für die unbezahlten Reproduktionstätigkeiten in der Familie zuständig sind. Ihr Lohneinkommen besteht maximal aus einer Teilzeittätigkeit, die mit den geringen Kapazitäten und kurzen Betreuungszeiten in den Kindertagesstätten vereinbar ist. Die Migrantenfamilien praktizieren davon abweichende Erwerbsmodelle. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist hoch oder aber sie sind als Hausfrauen sprachlich nicht kompetent, um den Kindern das erfolgreiche Durchlaufen der Bildungsinstitutionen zu ermöglichen. Wenn die Eltern in Vollzeit und im Schichtsystem erwerbstätig sind, ergeben sich gravierende Betreuungsprobleme, die durch Verwandte in der Türkei, ältere Geschwister sowie bezahlte oder freiwillige Hilfskräfte kompensiert werden müssen. Dies führt dazu, dass Kinder früh Eigenverantwortung übernehmen, für jüngere Geschwister sorgen müssen, oder aber zeitweise von den Eltern getrennt aufwachsen. Die Folgen davon können Störungen in den Eltern-KindBeziehungen sein, aber auch ein Ungleichgewicht in der Eltern-Kind-Beziehung bedeuten, wenn die Kinder den Eltern sprachlich überlegen sind. Aufgrund der unklaren Haltung der Eltern zu Verbleib oder Rückkehr ist das Migrationsprojekt auf die Türkei orientiert. Ansparungen, Rücküberweisungen und Investitionen in der Türkei stehen im Zentrum der Familienökonomie. Der soziale Aufstieg der Elterngeneration wird im Vergleich zum Herkunftskontext Türkei angestrebt, und geht mit der Konservierung eines Türkeibildes einher, das stark idealisierte Züge trägt. Zum Gegenstand intergenerativer Konflikte werden insbesondere spezifische Erziehungs- und Moralvorstellungen, die von den Eltern favorisiert werden. Die Eltern leben überwiegend in Distanz zu den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und ihr Zeitmanagement orientiert sich in erster Linie an der Erwerbsarbeit. Die Inanspruchnahme von Transferzahlungen und Angeboten des Wohlfahrtsstaates werden vermieden. Darüber hinaus bestehen auf-

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grund der Segregation und geringen Sprach- und Kulturkenntnisse Unsicherheiten im privaten Kontakt mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Berufliche Tätigkeiten und Erwerbsarbeit stehen im Mittelpunkt der Identitätskonstruktionen der männlichen Autobiographen. Das Normalarbeitsverhältnis in Vollzeit mit unbefristetem Arbeitsvertrag ist die Grundlage, auf der ein positives Selbstbild als Mann, Ehemann, Vater und Familienversorger konstruiert wird. Der Verzicht auf die Familiengründung angesichts der zunehmenden Konkurrenz um finanzielle Ressourcen durch Erwerbsarbeit erscheint nicht als alternativer Lebensentwurf, vielmehr markiert die Familiengründung den Übergang in die Lebensphase als erwachsener Mann. Das individuelle Arbeiten an einem möglichst linearen Lebenslauf mit möglichst nahtlosen Übergängen von Schulzeit, Ausbildung, Erwerbsarbeit, Eheschließung und sich daran anschließender Vaterschaft stellt auch eine Absicherungsstrategie dar, mit der den sich zuspitzenden Verteilungskämpfen und Entsolidarisierungsprozessen begegnet wird. Somit kann gesagt werden, dass soziale Anerkennung nicht ausschließlich über die Erwerbsarbeit erlangt wird, sondern über das erfolgreiche und ganzheitliche Management von Beruf, Partnerschaft und Familie erreicht werden kann. Die Ausbalancierung der Interessen aller Beteiligten im Gesamtsystem der Familie steht im Vordergrund der Selbstpositionierungen als Ehemann und Vater über die ein positives Selbstbild konstruiert werden kann. Angesichts der aus diesem Lebensmodell resultierenden hohen Anforderungen an den männlichen Alleinverdiener werden Maßnahmen in die Wege geleitet, um das Familieneinkommen auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Die Erwerbstätigkeit der Ehefrau wird dabei weniger als Lösungsansatz verfolgt, als Investitionen in Wohneigentum und andere Formen von Kapitalanlagen. Außerdem werden nebenberufliche Tätigkeiten und die Selbständigkeit als Unternehmer oder Freiberufler attraktiver. Diese ökonomischen Absicherungsstrategien erfordern allerdings einen hohen Wissensstand oder aber sind nur dann umsetzbar, wenn entweder eine hohe berufliche Qualifikation erreicht wurde oder die Bereitschaft zu hohem Risiko vorhanden ist. Aufgrund konkreter Erfahrungen mit Einkommensverlusten, Entlassungen und prekären Beschäftigungsverhältnissen steht gerade für diejenigen, die diese erweiterten Qualifikationen nicht haben, der Fortbestand des Konzepts des männlichen Alleinverdieners zur Disposition. Die Aufgabenverteilung in der Familie folgt einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, in der sich der Mann als verantwortlich für die Bereitstellung der ökonomischen Ressourcen betrachtet. Erwerbstätigkeit der Partnerin soll im Interesse der Kinderbetreuung und ihrer umfassenden Förderung eher vermieden werden. Strukturell gesehen entspricht dieses Familienmodell der Mehrheit der

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Familien in den westdeutschen Bundesländern unabhängig von ethnischen Kriterien. Aufgrund der immer noch lückenhaften Kapazitäten der Kinderbetreuung und der steuerlichen Vorteile, die diese Form der innerfamiliären Aufgabenverteilung mit sich bringt, wird die Erwerbstätigkeit von Müttern in dieser Familienkonstellation nicht staatlich sanktioniert. Die Partnerwahl in der Türkei führt darüber hinaus dazu, dass strukturelle Barrieren beim Arbeitsmarktzugang und der Anerkennung von Berufsabschlüssen die Erwerbstätigkeit von einwandernden Ehefrauen behindern. Zudem wurden Mütter bis in die Gegenwart durch finanzielle Anreize dafür belohnt, wenn sie nach der Geburt von Kindern für einen mehrjährigen Zeitraum nicht als Erwerbstätige auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung treten. Die Reflexion der Marginalisierungserfahrungen in der eigenen Kindheit führt bei den interviewten Türkeistämmigen zu einem stärkeren Interesse an den Bildungslaufbahnen der eigenen Kinder. Darüber hinaus treten Themen wie die aktive Gestaltung von Freizeit mit Kindern und die Unterstützung der Kinder in den Bildungsinstitutionen stärker in den Vordergrund. Die qualitative Ausgestaltung von Lebenszeit mit der Familie nimmt breiten Raum ein. Die Aushandlung des Zeitmanagements zwischen Beruf und Familie wird zu einem zentralen Thema, mit dem sich die Väter beschäftigen. Inwiefern ihnen die Umsetzung in der Praxis gelingt, kann anhand des vorliegenden Materials nicht rekonstruiert werden. Trotzdem ist es wichtig zu betonen, dass die ausschließliche Bereitstellung von Einkommen für die Familie, in der die Mutter dann die zentrale Verantwortung für die Betreuung und Förderung der Kinder innehat, nicht als ausreichender Beitrag des Familienvaters angesehen wird. Vielmehr geht es um die Herstellung und Pflege von emotionalen Bindungen sowie dem gemeinsamen Erleben und Gestalten von innerfamiliärer Interaktion. Darüber hinaus sehen sich die Väter in der Verantwortung, Zeit für Betreuung und Förderung zur Verfügung zu stellen. Auch die Vermittlung von kultureller und religiöser Praxis wird als ein Tätigkeitsfeld betrachtet, das der Vater gemeinsam mit der Mutter ausfüllt. Gerade aufgrund der Skepsis gegenüber den Bildungsinstitutionen bedeutet die Rolle als aktiver Vater zudem, die Kinder in all ihren sprachlichen und kulturellen Kompetenzen zu fördern und ihre Interessen in den Bildungsinstitutionen engagiert zu vertreten. Neben den innerfamiliären Aktionsfeldern ist soziales Engagement und Unterstützungsleistungen für benachteiligte Mitglieder im ethnisch definierten sozialen Netzwerk eine mögliche Antwort auf die Erfahrung rassistischer Ausgrenzung in der eigenen Biographie wie auch im Zuge kollektiv tradierter Narrationen von Diskriminierung. Dies gilt insbesondere bezogen auf öffentliche Diskurse, in denen die Übermacht der hegemonialen Mehrheit sichtbar wird. Ethnisier-

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te Zuschreibungen von multiplen Defiziten führen dazu, dass sich auch die hoch qualifizierten Türkeistämmigen von rassistischen Türkenbildern in den dominanten Diskursen adressiert und stigmatisiert fühlen. Dies erfordert eine alltägliche individuelle Positionierung gegenüber diskriminierenden Zuschreibungen, um Handlungsstrategien zu entwickeln, erproben und zu modifizieren. In Abgrenzung von Untersuchungen, deren Ziel es ist, konkrete Handlungsvorschläge für den Umgang mit den Problemlagen der untersuchten Migrantengruppe zu unterbreiten, erfolgt als Abschluss der Arbeit eine Zuordnung von Erkenntnissen aus dieser Untersuchung zu bereits bestehenden Konzepten und Ideen. Gerade die Rolle, die ein erfolgreiches Selbstmanagement bei der Umsetzung von Bildungszielen spielen kann, ist ein wesentliches Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Eine Umsetzung dieser Vorstellung findet sich in Konzepten zum Empowerment. Dieser Ansatz will dazu beitragen, die Teilhabechancen von Angehörigen marginalisierter Gesellschaftsgruppen zu erhöhen und sie dazu befähigen, durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ihre individuellen Ziele in der Alltagspraxis umzusetzen. Was in den biographischen Selbstpräsentationen als eine Strategie im Umgang mit fehlender Förderung und Betreuung darstellt, bedeutet aus der Perspektive des Ressourcenansatzes ein Heraustreten aus einer von der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebenen Rolle als Opfer der schwierigen sozialen Verhältnisse. Zur Kompensation der sozialen Benachteiligungen setzt der Staat umfangreiche Hilfesysteme in Gang, die sich mit der Verwaltung der marginalisierten Gruppen beschäftigen, ohne dass die Probleme wirklich in Richtung einer Lösung gebracht werden können. Hier zeigt sich, dass die Stärkung von Individuen und Gruppen, wie sie Konzepte des Empowerment anbieten, alternative Lösungsansätze darstellen können.1 Darüber hinaus ist die Idee des Einsatzes von Mentoren eine Praxis, die in den Fallrekonstruktionen sichtbar wurde. Dies sind zum einen Lehrer, die sich besonders interessieren und engagiert sind oder aber Bekannte der Eltern, die Betreuungszeit und soziale Kompetenzen bereitstellen, während die Eltern arbeiten. Die Hilfe wird in der Regel informell organisiert oder aber von den Mentoren im Rahmen von Institutionen auf eigene Initiative bereitgestellt. Diese informell durch die Eltern organisierte Praxis wirkt als Unterstützung bei der Berufswahl und der Entscheidung über die weiterführende Schule. Darüber hinaus wird Hilfe bei den Hausaufgaben und weiterführenden Fragen zur Verfügung gestellt. Vor allem Familien, in denen beide Eltern erwerbstätig sind, profitieren von der Betreuung durch deutsche Bekannte, Freunde und Nachbarn, die darüber

1

Ein Beispiel für den Empowermentansatz in der Sozialen Arbeit in der deutschsprachigen Forschungsliteratur findet sich bei Norbert Herriger (2006).

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hinaus den Kinder bei ihren schulischen Aufgaben behilflich sein können. Daraus entwickeln sich zum Teil bis ins Erwachsenalter aufrechterhaltene soziale Bindungen. In den Fallrekonstruktionen sind es ausschließlich Frauen, die diese Funktion übernehmen. Das Konzept der Mentoren und Bildungspaten findet sich in den Programmen von Stiftungen, die eine Förderung marginalisierter Jugendlicher zum Ziel haben. Dabei werden unter anderem hoch qualifizierte Senioren dazu motiviert, Patenschaften zu übernehmen und Kinder aus sozial benachteiligten Familien mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen zu unterstützen. In struktureller Hinsicht wurden darüber hinaus Maßnahmen in die Wege geleitet, die einer größeren Zahl von Erwachsenen mit Berufsausbildung den Zugang zum Studium ohne ein Abitur ermöglichen. Auch die Erweiterung des Angebots dualer Studiengänge und Ausbildungen, in denen parallel die Fachhochschulreife erreicht werden kann, ermöglichen den Bildungsaufstieg von marginalisierten Gruppen. Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse zu Arbeitsorientierungen und Identitätskonstruktionen ergeben sich weitere Themen, die zur Untersuchung der Zusammenhänge von Migration und Arbeit von Interesse sind. So stellt sich die Frage nach partnerschaftlichen Aushandlungsprozessen, die in Familien in Gang gesetzt werden und auch der Vergleich mit Identitätskonstruktionen, die für Frauen in der Arbeitswelt von Relevanz sind, bietet sich an. Darüber hinaus erscheint ein Blick in andere europäische Staaten aufschlussreich im Hinblick auf die Ausweitung des Verständnisses und der Debatten um die Bedeutung von Arbeit. Auch bezogen auf die Türkei ergeben sich hinsichtlich der Bedeutung von Identitätskonstruktionen über Arbeit Anknüpfungspunkte. Nicht zuletzt ist das Thema Familie als Institution, Lebensmodell und Vergesellschaftungsform ein Forschungsfeld, in dem angesichts globaler Prozesse interessante Themenfelder zu finden sind.

7. Literatur

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Gesellschaft der Unterschiede Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? Mai 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6

Daniela Neumann Das Ehrenamt nutzen Zur Entstehung einer staatlichen Engagementpolitik in Deutschland Dezember 2015, ca. 500 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3278-1

Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen September 2015, 288 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5

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Gesellschaft der Unterschiede Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5

Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1

Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben 2013, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2193-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gesellschaft der Unterschiede Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang (unter Mitarbeit von Angela Berger, Theresa Silberstein und Julian Wenz) Dezember 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2088-7

Ilka Sommer Die Gewalt des kollektiven Besserwissens Kämpfe um die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen in Deutschland September 2015, 412 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3292-7

Gabriele Fischer Anerkennung – Macht – Hierarchie Praktiken der Anerkennung und Geschlechterdifferenzierung in der Chirurgie und im Friseurhandwerk August 2015, 232 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3062-6

Leiv Eirik Voigtländer Armut und Engagement Zur zivilgesellschaftlichen Partizipation von Menschen in prekären Lebenslagen Juli 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3135-7

Monika Windisch Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit Intersektionelle Perspektiven

Hannes Krämer Die Praxis der Kreativität Eine Ethnografie kreativer Arbeit 2014, 422 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2696-4

Franz Schultheis, Berthold Vogel, Kristina Mau (Hg.) Im öffentlichen Dienst Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel 2014, 296 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2770-1

Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger, Jonas Rugenstein, Franz Walter Wer organisiert die »Entbehrlichen«? Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren 2014, 290 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2731-2

Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie 2014, 184 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2386-4

Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen 2013, 538 Seiten, kart., 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2242-3

2014, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2663-6

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