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German Pages VIII, 215 [214] Year 2020
Michael Hermes Miriam Lotze Hrsg.
Bildungsorientierungen Theoretische Reflexionen und empirische Erkundungen
Bildungsorientierungen
Michael Hermes · Miriam Lotze (Hrsg.)
Bildungsorientierungen Theoretische Reflexionen und empirische Erkundungen
Hrsg. Michael Hermes Kolpingwerk Deutschland Köln, Deutschland
Miriam Lotze Universität Osnabrück Osnabrück, Deutschland
ISBN 978-3-658-28186-1 ISBN 978-3-658-28187-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung in den Band. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Michael Hermes und Miriam Lotze Theoretische Reflexionen Bildungsorientierungen in Theorie und Empirie – Methodologie und Rekonstruktion von Bildungsorientierungen aus wissenssoziologischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Michael Hermes und Miriam Lotze Habitus, Bildung und Bewährung – Anfragen und Differenzierungen zum Konzept der kulturellen Passung von Familie und Schule aus subjekttheoretischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Sven Thiersch Bildungsorientierungen oder Ordnungsbildungen? Forscherische Blicke auf Bildung in Familien in der meritokratischen Wissensgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Dominik Farrenberg Empirische Erkundungen Kinder an institutionellen Übergängen – immanente Bedeutung(en) von Peers und Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Janine Stoeck
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Passung und Anpassung. Zur Dynamik von Bildungsorientierungen in den Verhältnissen zwischen Familie und Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Dominik Krinninger und Kaja Kesselhut Zur Passung der Bildungsorientierungen von Eltern und professionellen Akteurinnen und Akteuren beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Sarah Schmenger Von gymnasialen und gesamtschulischen Bildungsorientierungen bei Lehrkräften – Einblick in ein „fuzzy concept“?!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Katharina Graalmann Geflüchtete Jugendliche zwischen subjektiven Bildungsorientierungen und gesellschaftlich begrenzten Berufsoptionen. . . . . . . . 163 Katharina Wehking Bildungsorientierungen und Milieuzugehörigkeiten von Studierenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Janika Grunau Ausblick Bildungsorientierung(en): Abschließende Reflexionen und Kommentierung zu einem vielschichtigen Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Michael Hermes und Miriam Lotze
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Hermes, Michael, Dr. phil., war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule NRW und arbeitet seit seiner Promotion als Fachreferent für Familie und Generationen bei einem Sozialverband. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. E-Mail: michael. [email protected] Lotze, Miriam, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Übergänge im Bildungssystem, Öffnung des Hochschulsystems, Bildungsungleichheiten und Bildungsorientierungen. E-Mail: [email protected]
Autorenverzeichnis Farrenberg, Dominik, Prof. Dr., Abteilung Aachen, Katholische Hochschule NRW, Aachen, Deutschland Graalmann, Katharina, M.Ed., Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schulpädagogik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Grunau, Janika, Dr. phil., Paderborn, Deutschland Hermes, Michael, Dr. phil., Referat Familie & Generationen, Kolpingwerk Deutschland, Köln, Deutschland
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Kesselhut, Kaja, M.A., Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Krinninger, Dominik, Prof. Dr., Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Lotze, Miriam, Dr. phil., FB 03 Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Schmenger, Sarah, Dr. phil., Mainz, Deutschland Stoeck, Janine, Dr. phil., Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Thiersch, Sven, Prof. Dr., Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Wehking, Katharina, M.A., Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland
Einleitung in den Band Michael Hermes und Miriam Lotze
„Es mögen ja nicht immer die Wünsche sein, die eines Menschen Schicksal und Sendung bestimmen, sondern anderes, Vorbestimmtes“ (Hesse 2018, S. 11).
Was bestimmt den Lebensverlauf, die Entwicklung eines Menschen? Sind es die „Wünsche“ und „Vorbestimmtes“, wie es Novize „Narziß“ in Hermann Hesses Erzählung seinem Abt gegenüber äußert? Mit Blick auf die eigene Bildungsgeschichte fragt der Begriff der Bildungsorientierungen danach, ob und wie genau Menschen an (individuellen) Bildungsprozessen orientiert sind. Vor dem Hintergrund rekonstruktiver Forschung werden Verflechtungen – und damit auch möglicherweise „Vorbestimmtes“ – des eigenen Involviert-Seins in Bildungsprozesse deutlich, die durch das Zusammenspiel von sozialer Eingebundenheit, Erfahrungsräumen und (Bildungs-)Institutionen generiert werden. Aktuelle Diskurse attestieren Eltern eine hohe Orientierung an formaler Bildung. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine gezielte Förderung der eigenen Kinder von vielen Eltern so gedeutet wird, dass damit ein Höchstmaß an formaler Bildung einhergeht beziehungsweise gehen muss. Lange und Thiessen (2018) sprechen gar von einer „Bildungsoffensive im Kinderzimmer“ (Lange und Thiessen 2018, S. 282). Doch sind Familien von weiteren Erfahrungsräumen umgeben und mit diesen verwoben (vgl. Hermes 2017), womit neben den Eltern M. Hermes (*) Referat Familie & Generationen, Kolpingwerk Deutschland, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Lotze FB 03 Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_1
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weitere Akteure in den Blick geraten. Individuelle Bedeutungszuweisungen gehen mit Leitbildern der Gesellschaft – und dem was als Common Sense der Gesellschaft individuell wahrgenommen wird – einher. Bildungsorientierungen speisen sich auch aus Erfahrungsräumen institutioneller Bildung sowie jenen der Peers und lassen sich im Rahmen dieser rekonstruieren (vgl. etwa Busse 2010 sowie Stoeck in diesem Band). Erziehungswissenschaftliche Forschung hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt mit den Bedingungen befasst, die im Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Erfahrungsräumen (vgl. Mannheim 1980) Bildungsprozesse zwischen den Generationen moderieren. Ausgehend von der Familie, die als primärer gruppenbezogener Erfahrungsraum eine wesentliche Sozialisationsinstanz darstellt, weitet sich der Blick auf Erfahrungsräume institutionalisierter Bildung – also der jeweiligen Bildungsinstitutionen entlang der Bildungsbiographie – sowie damit verbunden auch auf die Peergroup. Vor dem Hintergrund rekonstruktiver qualitativer Forschung werden Bildungsorientierungen als eng verwoben mit den jeweiligen Erfahrungsräumen betrachtet, denen Eltern und ihre Kinder angehören. Sie konkretisieren sich in je spezifischer Weise im familialen Umgang mit Anforderungen formaler und informeller Bildung (vgl. Hermes 2017, S. 40). Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge bauen auf dieser Forschungsperspektive auf und entfalten daraufhin unterschiedliche Facetten. Berücksichtigt wird dabei, dass sich Bildungsorientierungen in inter- und intragenerationaler Interaktion dokumentieren und dabei nicht losgelöst von milieuspezifischen bzw. strukturidentischen sozialen Lagerungen zu betrachten sind. Zu den Beiträgen Die Beiträge des vorliegenden Bandes versammeln einenteils theoretische Reflexionen sowie andernteils empirische Erkundungen zum zentralen Begriff des Herausgeberwerkes. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes sind entsprechend ihrer Verortung an bildungsbiographischen Übergängen sowie der damit einhergehenden (Re-)Konstruktion von Bildungsorientierungen der beteiligten Akteure – Eltern und Familie, pädagogische Fach- und Lehrkräfte und Bildungsinstitutionen sowie der Peer-Group als weiterer Sozialisationsinstanz – angeordnet. Der Band wird eingeleitet durch einen Beitrag der HerausgeberInnen, in dem eine methodologisch-methodische Einordnung zur Rekonstruktion von Bildungsorientierungen vorgenommen wird. Eine weitere theoretisierende Perspektive nimmt der Beitrag von Sven Thiersch ein, der den Begriff der Passung und seine dualistische Verwendung innerhalb erziehungswissenschaftlicher Forschung kritisch hinterfragt und auf diese Weise den Begriff
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der Bildungsorientierung systematisiert. Der subjekttheoretischen Perspektive von Thiersch schließt sich der Beitrag von Dominik Farrenberg an, der auf einer makroperspektivischen Ebene gesellschaftliche Ordnungsbildungen in den Blick nimmt. Er beleuchtet eine theoretisierende Perspektivierung familialer Bildungsorientierungen mit Blick auf ihre Anrufung (bildungs-)politischer Diskurse und dessen Konsequenzen für die Stabilisierung von (Bildungs-)ungleichheiten vor. Der zweite Teil des Bandes versammelt entlang bildungsbiographischer Übergänge empirische Erkundungen zum Begriff der Bildungsorientierung. Den Auftakt bildet der Beitrag von Janine Stoeck, in dem sie die Bedeutung von Peers aus der Perspektive von Kindern in (nicht-)stattgefunden Übergangsprozessen in elementar- und primarpädagogische Bildungsinstitutionen retrospektiv beleuchtet. Stoeck zeichnet in ihrem Beitrag nach, dass positiv konnotierte Peerbeziehungen von Kindern als relevant gerade in Übergangsprozessen erachtet werden und auch Geschwister – innerfamiliale Peers – insbesondere bei familienbasierten Betreuungsmodellen eine besondere Bedeutung einnehmen. Der Beitrag von Dominik Krinninger und Kaja Kesselhut ist verortet am Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule. Die AutorInnen rekonstruieren aus Daten eines ethnographischen Forschungsprojektes familiale Bildungsorientierungen und fragen nach der familialen Bewältigung dieses bildungsbiographischen Übergangs in das schulische Bildungssystem. Der Beitrag von Sarah Schmenger fragt vor dem Hintergrund der bildungspolitischen Diskurse zur Anschlussfähigkeit elementar- und primarpädagogischer Bildungsinstitutionen nach der Passfähigkeit der Bildungsorientierung der erwachsenen Akteure – pädagogische Fach- und Lehrkräfte sowie Eltern. Katharina Graalmann rekonstruiert Bildungsorientierungen von Gymnasial- und Gesamtschullehrkräften und ordnet diese in den Kontext der Diskurse um B ildungs(un-)gleichheit ein. Sie beschreibt dabei die „Doppelfunktion von Bildungsorientierung“ und fragt danach, inwiefern sich herkunftsbedingte Lagerungen der Bildungsorientierungen bei Lehrkräften auf die Schul- und Bildungslaufbahn von SchülerInnen auswirken. Der Beitrag von Katharina Wehking beschäftigt sich mit Bildungs- und Berufsorientierungen von geflüchteten Jugendlichen in Berufsvorbereitungsklassen am Übergang zwischen Schule und Beruf. Sie zeigt die Begrenzung von Berufswahloptionen junger Geflüchteter auf und spricht in diesem Zusammenhang daher von einem Berufspragmatismus anstelle einer tatsächlichen Berufswahl. Janika Grunau rekonstruiert und typisiert am Übergang in das hochschulische Bildungssystem Bildungsorientierungen von Studierenden entlang ihrer bildungsbiographischen und milieuspezifischen Erfahrungen. Den Abschluss des Bandes bildet ein Resümee der HerausgeberInnen, indem der Begriff „Bildungsorientierungen“ in seiner – wie der Band zeigt – Vielschichtigkeit reflektiert und bearbeitet wird.
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Literatur Buse, M. (2017). Eltern zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule. Rekonstruktion interaktionaler Prozesse und transitionstheoretische Reflexionen. Wiesbaden: Springer VS. Busse, S. (2010). Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule. Die Bedeutung der Sekundarschule als Bildungsort. Wiesbaden: Springer VS. Hermes, M. (2017). Bildungsorientierungen im Erfahrungsraum Familie. Rekonstruktionen an der Schnittstelle zwischen qualitativer Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. Opladen: Budrich. 2018 Hesse, H. (2018). Narziß und Goldmund. Berlin: Suhrkamp (Erstveröffentlichung 1930). Lange, A., & Thiessen, B. (2018). Eltern als Bildungscoaches? In K. Jergus, J.-O. Krüger, & A. Roch (Hrsg.), Elternschaft zwischen Projekt und Projektion. Aktuelle Perspektiven der Elternforschung (S. 273–294). Wiesbaden: Springer VS. Mannheim, K. (1980). Strukturen des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stoeck, J. (2020). Kinder am Übergang – Immanente Bedeutung(en) von Peers und Familie. In M. Hermes & M. Lotze (Hrsg.), Theoretische Reflexionen und empirische Erkundungen zu einem vielschichtigen Begriff. Wiesbaden: Springer VS.
Hermes, Michael, Dr. phil., war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule NRW und arbeitet seit seiner Promotion als Fachreferent für Familie und Generationen bei einem Sozialverband. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. Lotze, Miriam, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Übergänge im Bildungssystem, Öffnung des Hochschulsystems, Bildungsungleichheiten und Bildungsorientierungen.
Theoretische Reflexionen
Bildungsorientierungen in Theorie und Empirie – Methodologie und Rekonstruktion von Bildungsorientierungen aus wissenssoziologischer Perspektive Michael Hermes und Miriam Lotze Zusammenfassung
Bildungsorientierungen stellen zentrale Weichen für bildungsbiographische Lebensverläufe und sind daher Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung zu Bildungs(un-)gleichheit und ihrer (Re-)Konstruktion im Bildungssystem. Der vorliegende Beitrag zielt auf eine Einordnung in der Perspektive qualitativ-rekonstruktiver Forschung – genauer der Dokumentarischen Methode – und Begriffsbestimmung und -abgrenzung des überaus heterogen verwendeten Begriffs der Bildungsorientierung.
1 Einleitung Nicht nur im privaten Umfeld entsteht der Eindruck, dass Eltern einen „Druck“ verspüren, ihren Kindern eine möglichst gute Bildung zu ermöglichen und in diesem Zusammenhang u. a. höhere Bildungsabschlüsse für ihre Kinder M. Hermes (*) Referat Familie & Generationen, Kolpingwerk Deutschland, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Lotze FB 03 Erziehungs- und Kulturwissenschaften FB 03 Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_2
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anstreben. Mit Blick auf das formale Bildungssystem wird durch den steigenden Anteil an Schülerinnen und Schülern, die ein Gymnasium besuchen und dieses mit dem Abitur verlassen nicht selten von einem Rückgang der Wertigkeit des Abiturs gesprochen (vgl. Gerhards et al. 2016, S. 33). Auch in den Medien und der Forschungsliteratur schlägt sich dies nieder. So überschreibt Stefanie Maeck im Jahr 2013 ihren Artikel in der Tageszeitung „Die Zeit“ mit dem Titel „An der Förder-Front“. Darin heißt es: „Für Förderprogramme geben Eltern Millionen aus. Experten sprechen von „Bildungspanik“ (ebd.). Damit rekurriert sie auf Bude (2011) der mit seiner gleichnamigen Publikation den in Deutschland lebenden Eltern eine „Bildungspanik“ unterstellt. Ihm zufolge ist die Panik der Eltern das Resultat der „Inflation von Bildungszertifikaten durch Bildungsexpansionen“ (ebd., S. 80).1 Marginalisierungs- und Exklusionsrisiken durch fehlende schulische und insbesondere berufliche Bildungszertifikate werden – so die Vermutung – von vielen Eltern antizipiert und artikulieren sich in einem Bildungsauftrag an die heranwachsende Generation. In diese Richtung zielt auch Thompson (2015) mit ihrer These. Ihr zufolge werden Eltern zu „Unternehmern beziehungsweise Unternehmerinnen der Schullaufbahn ihrer Kinder“ (ebd., S. 14). Laut ihr vollziehen sich individuelle Optimierungsstrategien in Zusammenhängen, die sich in elterlichem Handeln, beispielsweise der Schulwahl beziehungsweise in Prozessen von Bildungsentscheidungen, zeigen. Im Rahmen einer „pädagogischen Verantwortungszuschreibung“ (ebd., S. 22) im gesellschaftlichen Diskurs, versuchen Eltern ihren Kindern an Übergängen im Bildungssystem eine möglichst optimale Schullaufbahn zu ermöglichen. Es ist – so Jergus (2018) – eine Fortschreibung der modernen generationalen Ordnung, „indem die Herausstellung der Bildungsbedeutsamkeit (früher Kindheit) gleichermaßen Eltern wie öffentliche Bildungseinrichtungen mit Erwartungen und Aufgaben adressiert“ (ebd., S. 123). Die Zeit zwischen Geburt und dem (ersten) Schulabschluss ist damit (familiär und institutionell) geprägt durch eine intensive Auseinandersetzung mit Bildungsentscheidungen und Bildungsorientierungen: Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Generationen treffen hier aufeinander und werden im alltäglichen Familienleben intra- und intergenerational miteinander ausgehandelt (vgl. Hermes 2017). Doch das Familienleben ist nicht isoliert von weiteren Erfahrungsräumen beziehungsweise Sozialisationsinstanzen zu betrachten.
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diesen milieuübergreifend festzustellenden Bildungsdruck verweisen auch die Studien „Eltern unter Druck“ (Merkle und Wippermann 2008) und „Eltern, Lehrer, Schulerfolg“ (Wippermann et al. 2013).
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So werden im vorliegenden Band Erfahrungsräume institutionalisierter Bildung sowie jener der Peergroup ebenfalls in das Blickfeld gerückt. Und auch dieses wird deutlich: Bildungsorientierungen, Bildungsaspirationen oder Bildungsentscheidungen sind Forschungsthemen für zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen. Dazu zählen insbesondere die Erziehungswissenschaft, Psychologie sowie die ( Bildungs-)Soziologie. Es ist daher von großer Bedeutung, den Begriff der „Bildungsorientierungen“ genau zu umschreiben und diesen von weiteren Begriffen (insbesondere dem der „Bildungsaspiration“) abzugrenzen. Der vorliegende Beitrag wagt den Versuch einer solchen Differenzierung.
2 Bildungsorientierung(en) – Begriffsbestimmung Was genau ist unter dem Begriff „Bildungsorientierung(en)“ zu verstehen? Nachfolgend wird dieser Frage nachgegangen, indem zunächst der Begriff der „Bildungsorientierung(en)“ bestimmt und anschließend von „Bildungsentscheidungen“ sowie „Bildungsaspirationen“ abgegrenzt wird. Abschließend wird exemplarisch auf den Begriff des „Schulengagements“ eingegangen. An dieser Handlungspraxis des Schulengagements, in der sich Bildungsorientierungen nachzeichnen lassen, soll der Begriff der Bildungsorientierung aus der Perspektive qualitativ-rekonstruktiver Forschung weiter spezifiziert werden. Bildungsorientierung(en) Bildungsorientierungen – also Orientierungen an Bildung – dokumentieren sich in jeglicher Interaktion, etwa der Familienerziehung, der Interaktion und Sozialisation von Akteuren in Bildungsinstitutionen sowie der Auseinandersetzung mit spezifischen Anderen in der Peer-Group. Zusätzlich ist festzuhalten, dass Bildungsorientierungen sich im Sinne lebenslanger Entwicklungs- und Veränderungsprozesse individuell verändern können und daher nicht von der einen Bildungsorientierung gesprochen werden kann. Vielmehr sind es Bildungsorientierungen, die jeweils rekonstruierbar sind. Was wie eine fast banale Feststellung klingt, hat jedoch methodische und methodologische Konsequenzen. Denn zu fragen ist insbesondere danach, welches Verständnis von „Bildung“ zugrunde gelegt wird. Als richtungsweisend kann in diesem Sinne folgende Kritik Winklers (2012) gelten: „Ein Missverständnis, das mit den ausufernden Bildungsstudien der letzten Jahre entstanden ist. Sie befassen sich mit Wissen und manchmal mit Fähigkeiten, weniger mit Haltungen und Einstellungen, wie sie in familiärer Erziehung entstehen. Letztlich reduzieren diese Studien Bildung auf Schule und Curriculum […] womit das Geschehen in der Familie ausgespart bleibt“ (ebd., S. 69).
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Festzuhalten ist demnach zunächst: Einstellungen zu Bildung und Schule lassen sich auf zahlreiche Faktoren zurückführen, insbesondere jedoch auf das, was Eltern und Kinder sich mit Blick auf Bildung wünschen und erwarten. Die familiären Bezüge sind auch in diesem Zusammenhang als primäre Sozialisationsinstanz zu bezeichnen. Bildungsorientierungen entstehen durch „Vermittlungsprozesse innerhalb von individuellen familienspezifischen Bildungseinstellungen mit milieuspezifischer Rahmung“ (Hermes 2017, S. 29). Verwiesen wird mit dem Begriff der „Orientierung“ darauf, dass Bildungsorientierungen als habituelle und milieuspezifische Haltungen aufscheinen und als solche – im Rahmen qualitativer Forschung – rekonstruierbar sind (vgl. Busse 2010, S. 32 sowie Buse und Hermes 2019). Im Bereich der qualitativen Forschung hat Busse (2010) den Begriff der „Bildungsorientierung“ geprägt. Sie rekonstruiert in ihrer Studie Bildungsorientierungen auf drei Ebenen und verdichtet diese zu Typen. In den Blick nimmt sie die Ebene der Schule, der Jugendlichen sowie die Ebene der Familie (vgl. ebd., S. 48 ff.). Deutlich wird, wie sich in der Schule vermittelte Bildungsorientierungen insbesondere an Übergängen im Bildungssystem dokumentieren. An Übergängen stellt sich demnach die Frage, ob es zu einer Passung familialer und schulischer Bildungsorientierungen kommt, denn Übergänge im Bildungssystem gelten als Schaltstellen der Bildungsbiographie von Kindern und Jugendlichen. Hier dokumentieren sich Bildungsorientierungen in konkreter Handlungspraxis. Bildungsentscheidungen sind dabei als Aushandlungsprozess zwischen den Akteuren unterschiedlicher Erfahrungsräume (etwa Familie, Schule und Peers) zu verstehen. Laut Busse (2010) ergeben sich an Bildungsübergängen „Transformationspotentiale“ (ebd., S. 194), was bedeutet, dass ein Übergang im Bildungssystem ein Ermöglichungspotential bereitstellen könnte, um Bildungsorientierungen alltagspraktisch umsetzen zu können. In Busses empirischem Material zeigt sich jedoch eine gegenläufige Tendenz: Auf der Ebene der Familie sowie jener der Schule rekonstruiert sie eine „Abwehrhaltung in Bezug auf transformatorische Bildungsprozesse“ (ebd., S. 201), sodass entsprechende Bildungsorientierungen in der Familie verhindert oder blockiert werden (ebd., S. 216). Vor dem Hintergrund der Frage nach Bildungsentscheidungen rekonstruieren Helsper et al. (2010) vier habituelle Haltungen, anhand derer die Autorinnen und Autoren Divergenzen im Passungsverhältnis zwischen der Habitusgenese in der Familie sowie den normativen schulischen Anforderungen aufzeigen. Maßgeblich ist die Unterscheidung zwischen dem Habitus der Bildungsexzellenz und Bildungsdistinktion, dem Habitus der Bildungsstrebenden, dem Habitus der Bildungskonformität und Bildungsnotwendigkeit sowie dem Habitus der Bildungsfremdheit (vgl. ebd., S. 131 ff. sowie Kramer und Helsper 2011).
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ierbei handelt es sich um qualitative Studien, jedoch fällt auf – nehmen wir das H eingangs erwähnte Zitat von Winkler (2012) wieder auf – dass das Verständnis der Autorinnen und Autoren durch die quantitative Bildungsforschung geprägt ist, rekonstruieren sie die Typen doch anhand formaler Bildungsabschlüsse sowie der Passung mit spezifischen Schulformen. Die Autorinnen und Autoren arbeiten die Bedeutung des „Bildungshabitus“ (etwa Helsper et al. 2010) für die Antizipation und Bewältigung schulischer Übergänge heraus. Für die anhand empirischen Materials begründete begriffliche Ausdifferenzierung von Bildungsorientierungen hat Hermes (2017) die Unterscheidung von Graßhoff et al. (2013) aufgenommen und neben formalen und informellen Bildungsorientierungen auch zwischen bewahrenden und vorausschauenden Bildungsorientierungen unterschieden (vgl. Hermes 2017, S. 225 ff.). Aus Interviews mit zehn Familien (interviewt wurden Jugendliche und mindestens ein Elternteil derselben) rekonstruiert er die Bildungsorientierungen beider Generationen. Bei zahlreichen Eltern dokumentiert sich eine formale Bildungsorientierung. Diese umfasst Aspekte des formalen Bildungssystems, die explizit auf den Erwerb spezifischer Bildungstitel gerichtet sind. Sie zeigen sich explizit – und nicht selten in mit Nachdruck geäußerten Aspirationen – oder dokumentieren sich im Handeln der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern. Dazu zählen beispielsweise die Strukturierung des Lernens (Hausaufgaben, Klausurvorbereitung, etc.), Organisation von Nachhilfe und weiteres Schulengagement der Eltern (vgl. Buse und Hermes 2019 sowie Hermes 2017, S. 228 ff.). Doch Eltern fördern ihre Kinder auch in jenen Bereichen, die nicht der formalisiert-standardisierten Bildung zuzurechnen sind. Hinter der Förderung informeller Lernbereiche lässt sich bei zahlreichen Eltern eine entsprechende informelle Bildungsorientierung rekonstruieren: „Informelle Bildungsorientierungen dokumentieren sich in elterlichen Aktivitäten und Interaktionen in der Familie. Neben unbewussten Formen informeller Lernaktivitäten sprechen einige Eltern an, dass sie ihre Kinder ganz gezielt in spezifischen Bereichen gefördert haben.“ (Hermes 2017, S. 233 f.).
Im Rahmen ihrer Erziehung sehen es zahlreiche Eltern als Ermöglichungsstruktur, zur freien Entfaltung der Fähigkeiten ihrer Kinder beizutragen. Ganz konkret zu nennen sind in diesem Bereich etwa die Förderung sprachlicher Fähigkeiten, Vorlesen, gemeinsames Hören von Musik, gemeinsames Malen und Basteln oder das Näherbringen gesellschaftlicher und politischer Themen (vgl. ebd., S. 234). Lässt sich eine bewahrende Bildungsorientierung rekonstruieren, liegt dem eine Art und Weise der Handlungspraxis zugrunde, bei der eine
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Orientierung am Status Quo den Bewertungs- und Handlungsmaßstab darstellt. In der Empirie zeigt sich, dass jene Jugendliche mit einer bewahrenden Bildungsorientierung zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung die Orientierungen ihrer Eltern reproduzieren und am Status Quo ihrer aktuellen schulischen Situation orientiert sind, unabhängig davon, ob ihre schulischen Leistungen formal gut oder ungenügend bewertet werden (vgl. ebd., S. 235). Den Gegenpol dazu bilden vorausschauende Bildungsorientierungen. Eine Orientierung am Status Quo wird hier durch eine Orientierung an Entwicklung und zukünftigen Zielsetzungen abgelöst. Vorausschauende Bildungsorientierungen zeichnen sich durch ihre eingelagerte Perspektivität aus: Menschen mit entsprechenden Orientierungen antizipieren zukünftige Entwicklungen. So beschäftigen sich Jugendliche mit der Zeit nach der Schule und damit, wie sie ihre Leistungen verbessern können. Dies kann sich auf die Bereiche formaler sowie informeller Bildung beziehen (vgl. ebd., S. 236). Homologien zeigen sich an dieser Stelle zur Erziehung durch die Eltern in einem ausgeprägten Selbstvertrauen (vgl. ebd., S. 280 ff.) sowie zu frühen lebensweltlichen Anerkennungserfahrungen (vgl. Soremski 2019, S. 262 ff.). Auch Buse (2017) zeichnet in ihrer Studie zu elterlichen Orientierungen am Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule nach, dass Eltern bereits an diesem Übergang in das formale Bildungssystem die zukünftige Bildungsbiographie ihres Kindes mitdenken und die Grundschule als bedeutsame Bildungsinstitution für den weiteren bildungsbiographischen Erfolg ihrer Kinder markieren (vgl. ebd., S. 353 ff.). In ihrer Genese sind Bildungsorientierungen stets an die Familie als primäre Sozialisationsinstanz gebunden. Sie speisen sich aus biographischen Erfahrungen einzelner Familienmitglieder. Diese müssen sich stetig neu – als Familie – zu Anforderungen des Bildungssystems ins Verhältnis setzen. So ist zuletzt auf folgende Zusammenhänge hinzuweisen: Lässt sich die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern als stabil und vertrauensvoll bezeichnen und werden Kinder autonomiefördernd durch eine wertschätzende Kommunikation unterstützt, so wirkt sich dies positiv auf die Autonomie, Motivation und Entwicklung der Kinder aus (vgl. Dornes 2012; Zimmermann und Spangler 2001). Im Anschluss an diese Erkenntnisse zeigt sich, dass eine entsprechende autoritative Erziehung, die durch Empathie und Vertrauen gekennzeichnet ist, die Entstehung individueller Bildungsorientierungen bei Kindern bzw. Jugendlichen fördert (vgl. Hermes 2017, S. 282). Zudem lassen sich vorausschauende Bildungsorientierungen bei jenen Jugendlichen rekonstruieren, die an Übergängen keine/wenige Situationen der Diskontinuität erleben mussten und anstehende Schulwechsel aktiv gemeinsam mit ihren Eltern antizipieren und bearbeiten konnten (vgl. ebd. sowie Hermes 2018). In diesem Sinne fungiert Familie als
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öglichkeitsraum (vgl. etwa Büchner und Brake 2006) mit Blick auf die Genese M und Realisierung individueller Bildungsorientierungen. Bildungsaspirationen Der Begriff der „Bildungsorientierung“ kann als Modifikation des an zahlreichen Stellen verwendeten Begriffs der „Bildungsaspiration“ angesehen werden. Bildungsaspirationen sind Forschungsgegenstand der quantitativen Forschung. „Anders als Bildungsorientierungen, die sich etwa in Aussagen von Eltern dokumentieren, sind Bildungsaspirationen als Wünsche und Erwartungen mit Blick auf Bildung(-stitel) unmittelbar explizierbar und als solche in der quantitativen Forschung weit erforscht“ (Hermes 2017, S. 17).
In der Bildungssoziologie werden Bildungsaspirationen als ein möglicher Aspekt für die Erklärung von Bildungsentscheidungen herangezogen. Zumeist rekurrieren entsprechende Arbeiten auf zwei theoretische Modelle: die R ationalChoice-Theorie (vgl. etwa Boudon 1979) sowie den soziokulturellen Ansatz (vgl. etwa Helsper et al. 2010 sowie Paulus und Blossfeld 2007). Paulus und Blossfeld (2007) verweisen auf einen dritten Ansatz und darauf, dass es im zeitlichen Verlauf zu einer Anpassung der Bildungsaspirationen kommen kann. So ist ihnen zufolge zwischen idealistischen und realistischen Bildungsaspirationen zu unterscheiden. Idealistische Bildungsaspirationen sind nicht mit sozioökonomischen Kosten für Bildung oder der Schulleistung des Kindes in Verbindung zu bringen. Es handelt sich bei ihnen um den gewünschten oder erhofften Bildungsabschluss, der „das Ideal der Handelnden darstellt“ (ebd., S. 493). Bei realistischen Bildungsaspirationen hingegen steht der Bildungsabschluss der Handelnden im Fokus, der vor dem Hintergrund der eigenen sozialen und ökonomischen Position als auch vor dem Hintergrund der eigenen (schulischen) Leistung als realisierbar eingestuft wird (vgl. ebd., S. 494). Den Autorinnen und Autoren zufolge werden Bildungsentscheidungen wesentlich von Bildungsaspirationen geprägt. Grundsätzlich lassen sich aus Perspektive der Bildungssoziologie folgende Einflussfaktoren auf die Bildungsaspirationen von Lernenden benennen (vgl. Stocké 2010, S. 261 ff. sowie Fend 2014 et al.): • Hohe Bildungsaspirationen von Schülerinnen und Schülern gehen mit hohen Schulleistungen einher. • Es lassen sich signifikante Unterschiede zwischen Bildungsaspirationen von Kindern und Jugendlichen sowie dem formalen Qualifikationsniveau ihrer Eltern feststellen.
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• Leistungsansprüche wichtiger Bezugspersonen beeinflussen die Bildungsaspirationen von Lernenden. • Mit signifikanter Häufigkeit lassen sich Bildungsaspirationen auf die tatsächlich erbrachte Schulleistung von Kindern und Jugendlichen zurückführen. • Einen wesentlichen Einfluss auf die Bildungsaspirationen von Kindern und Jugendlichen stellt zudem die Geschwisterreihung dar. So zeigen Schulze und Preisendörfer (2013), dass ältere Geschwister statusniedriger Eltern, die bereits das Gymnasium besuchen, positive Effekte auf die elterliche Bildungsaspiration für das jüngste Kind von bis zu 25 % ausmachen (vgl. ebd., S. 352). Grgic und Bayer (2015) konstatieren einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen hohen Bildungsaspirationen von Eltern und Kindern und dem Vorhandensein älterer Geschwister (ebd., S. 184). Bildungsaspirationen sind explizierte individuelle Wünsche und Erwartungen im Hinblick auf Bildung. Aus Perspektive qualitativ-rekonstruktiver Forschung lässt sich jedoch festhalten, dass sich elterliche Bildungseinstellungen und -aspirationen nicht ausschließlich im Wunsch der Schulform erschöpfen können, sondern dass auch Aspekte außerschulischer Bildung wichtige motivationale Faktoren darstellen können. Mit der Frage nach dem „Wie“, also danach, wie Bildungsorientierungen die Art und Weise der Handlungspraxis beeinflussen und sich im Rahmen intra- und intergenerationaler Interaktion vollziehen, gerät die Rekonstruktion von Bildungsorientierungen in den Mittelpunkt. Dann ist insbesondere die Unterscheidung zwischen idealistischen und realistischen Aspirationen nicht mehr haltbar, da – abseits der Bewertungskriterien formaler Bildung – kaum Kriterien benannt werden können, anhand derer entsprechende Unterscheidungen im empirischen Material getroffen werden können. Ohnehin würde diese der familiären Alltagspraxis und der hier eingelagerten Interaktionen kaum gerecht. Zudem verweisen Untersuchungen auf der Ebene elterlicher Bildungsaspirationen häufig auf den Rational-Choice-Ansatz, womit den Eltern eine bewusste Entscheidung unterstellt wird. Auf der Ebene konjunktiven, handlungsleitenden Wissens werden Bildungsorientierungen jedoch im Zusammenspiel mit „milieuspezifischen Präferenzen und Lebensstilen“ (Deppe 2013, S. 224) beziehungsweise konjunktiven Erfahrungsräumen rekonstruiert, wie in Kap. 3 weiter ausgeführt wird. Bildungsentscheidungen Übergänge im formal strukturierten Bildungssystem sind durch Bildungsentscheidungen der Akteure – hier zumeist durch die Stärkung des Elternrechts auf die Schulwahl ihres Kindes – bestimmt. Jedoch nehmen auch
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die jeweils begleitenden pädagogischen Fach- und Lehrkräfte Einfluss auf die Bildungsentscheidungen – beispielsweise durch Empfehlungen.2 Dass Bildungsentscheidungen sozial selektive Prozesse darstellen, ist in der bildungswissenschaftlichen Forschung hinreichend dargestellt worden (vgl. u. a. Becker 2009; Maaz et al. 2009). Theoretisch erklärt wird die soziale Selektivität ebenfalls mit Rational-Choice-Ansätzen und damit verbundenen primären und sekundären Herkunftseffekten nach Boudon, die auf die Bildungsentscheidungen einwirken. Thiersch (2014) sieht in Bildungsentscheidungen einen spezifischen Ausdruck des familiären Bildungshabitus – also jenen innerfamilial vermittelten Werthaltungen und Praktiken in Bezug auf Bildung (vgl. ebd., S. 72). Bildungsentscheidungen und deren vorangehende (Entscheidungs-)Prozesse sind als Handlungspraxis also rekonstruierbar. Sie stellen das Ergebnis des Entscheidungsprozesses, also die Wahl des Bildungsganges an Übergängen im formalen Bildungssystem dar und sind dabei auf der Ebene des kommunikativen Wissens explizierbar. Der Entscheidungsprozess, welcher der Bildungsentscheidung voraus geht, ist dagegen auf der Ebene des konjunktiven Wissens zu verorten (siehe hierzu detaillierter Kap. 3). Habituelle Prägungen, Bildungsorientierungen sowie milieuspezifische Wertorientierungen liegen diesem Entscheidungsprozess zugrunde und können durch die Analyse und Rekonstruktion von Narrativen erschlossen werden. In der Folge zunehmender Wahloptionen für Eltern rücken deren Bildungsentscheidungen bereits im jungen Alter ihrer Kinder in den Blick. Etwa dann, wenn bildungsorientierte Eltern mit der Grundschule bereits eine Schule auswählen, die – abseits der Schuleinzugsgebietsregelung – eine vermeintlich hohe Qualität verspricht. So wird Elternschaft zu einem Projekt, bei dem neben dem gelingendem Aufwachsen der Kinder insbesondere eine optimale Bildung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Jergus 2018 sowie Roch et al. 2019). Schulengagement als Handlungspraxis und Dokumentation von Bildungsorientierungen Schulengagement ist im Sinne dieses Beitrages als praxeologische Wendung des Begriffs der Bildungsorientierung zu verorten: Bildungsorientierungen
2Die Empfehlungen für die Bildungslaufbahn sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt. In den meisten Bundesländern herrscht das Elternwahlrecht, sodass den Eltern die Verantwortung für die Schulform nach Klasse 4 obliegt. In einigen Bundesländern gibt es weiterhin Laufbahnempfehlungen, die den Eltern von den Lehrkräften ausgehändigt werden. In Bayern gibt es zudem Notengrenzen, die für den Übertritt in die jeweilige Schulform geltend gemacht werden (Ditton und Krüsken 2009).
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dokumentieren sich nicht nur im Schulengagement von Eltern. Vielmehr demonstrieren diese mit ihrer Praxis eine je spezifische soziale bzw. nach außen gewendete familiale Realität. Nicht zuletzt werden – wie einleitend bereits dargestellt – Eltern medial wie gesellschaftspolitisch im Sinne einer „guten Elternschaft“ adressiert. Den Kindern im Hinblick auf die Bildungskarriere möglichst gute Bildungswege zu ermöglichen damit diese hochwertige Bildungszertifikate erreichen, ist dabei eine Prämisse, die als Erwartung an die Eltern gestellt wird. Unter anderem schlägt sich dies in der Debatte um den Aufbau einer „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ zwischen Eltern und frühkindlichen wie schulischen Bildungsinstitutionen nieder, um – so die Argumentationsfigur – den Bildungserfolg von Kindern zu erhöhen (vgl. u. a. Buse 2017). In den Blick einer vertieften Zusammenarbeit geraten hier alle Eltern, insbesondere werden aber auch sogenannte ‚schwer erreichbare Eltern’ adressiert (Betz und Kayser 2016, S. 109). Eltern werden hohe Bildungsorientierungen nahegelegt – zusätzlich konnten Buse und Hermes (2019) zeigen, dass sich diese auch in ihrem Schulengagement nachzeichnen lassen: „Im Bemühen von Eltern, ihre Kinder im Hinblick auf ihre schulische Laufbahn zu unterstützen, dokumentiert sich ihre formale Bildungsorientierung in je individuellen und familienspezifischen Facetten.“ (ebd., S. 30).
Zu diesem Bemühen zählt beispielsweise ein Engagement von Eltern im Setting Schule (also beispielsweise die Übernahme des Amtes der Schulpflegschaft oder die ehrenamtliche Betreuung der Schulbibliothek im Sinne des „School Decision Making and Advocacy“ bzw. „Volunteering“ nach Epstein 1992, S. 1140 ff.) sowie ein Engagement für schulische Bildung im Sinne des homebased Learning (vgl. ebd.), in dem Eltern etwa gemeinsam mit ihren Kindern lernen oder außerfamiliäre Förderung organisieren.
3 Bildungsorientierungen – methodologische Verortung in der praxeologischen Wissenssoziologie Neben einer begrifflichen Bestimmung ist es Ziel des Beitrags, eine methodologische Einordnung in die Wissenssoziologie vorzunehmen und die Rekonstruktion von Bildungsorientierungen dadurch näher zu bestimmen. In seiner praxeologischen Wissenssoziologie unterscheidet Bohnsack (2017)
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mit Bezug auf Karl Mannheim in seiner Dokumentarischen Methode der Interpretation, die er 2008 als Habilitationsschrift veröffentlicht und seither stetig weiterentwickelt hat, zugrunde liegende handlungsleitende Wissensebenen. Dabei unterscheidet er kommunikatives von konjunktivem Wissen. Auf der Ebene kommunikativer Wissensgehalte werden „propositionale Logiken“ (Bohnsack 2017, S. 61) entschlüsselt – auf dieser Wissensebene wird explizit kommunizierbares Wissen geteilt. Auf der Ebene des atheoretischen, konjunktiven Wissens verortet Bohnsack solche Logiken, die das Handeln der Subjekte strukturiert, es ist ihnen jedoch nicht explizit zugänglich, da es sich auf dieser Ebene um habituelle – in den Körper eingeschriebene – Praktiken, „performative Logiken“ (ebd.), handelt. Exemplarisch zeigt dies das von Nohl (2009) dargestellte Beispiel des Schuhebindens – es ist eine alltägliche Praktik dessen Herstellungsprozess intuitiv vollzogen wird und inkorporiert ist, sodass es schwerfällt, diesen Prozess der Herstellung eines Schuhknotens kommunikativ zu vermitteln. Die performative Logik, die diesem Prozess zugrunde liegt, ist als atheoretisches Wissen zu bezeichnen. Um ein weiteres Beispiel anzufügen – jedes Subjekt kann explizit darstellen, was unter Familie zu verstehen ist. Gleichzeitig jedoch hat jedes Subjekt unterschiedliche Erfahrungen, die dieses explizite Verständnis von Familie prägen und die in Familie gemachten, inhärenten Erfahrungen speisen als konjunktiver Erfahrungsraum dieses Wissen. In Familie bilden sich milieuspezifische Orientierungen und habituelle Alltagspraktiken aus, die Orientierungen an Bildung einschließen: Im explizit Machen von Bildungsaspirationen, -entscheidungen sowie in der Praxis des Schulengagements dokumentieren sich Bildungsorientierungen, die als atheoretische implizite Wissensbestände, als konjunktives Orientierungswissen (Stichworte: Milieuspezifik, Geschlechtsspezifik, Generationenspezifik) zu rekonstruieren sind. Mit Blick auf den Bezug zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen verweist Bohnsack (2018, S. 105) auf ein „Spannungsverhältnis“, womit auf jenes Verhältnis zwischen „Habitus und Norm“ (ebd.) abgestellt wird (siehe Abb. 1). Für Bohnsack rückt so der konjunktive Erfahrungsraum als ‚übergreifende Kategorie‘ in den Blickpunkt, vor dessen Hintergrund das Spannungsverhältnis zwischen Habitus und Norm die Grundlage für Entwicklungen bzw. Transformationen des Habitus bildet: „Die Norm und Regel mit ihrer propositionalen Logik geht niemals in ihrer performativen Logik der Praxis auf, sodass wir es hier mit einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis, einer notorischen Diskrepanz, zu tun haben, welche eine Basis für Habitusmodifikationen- oder -transformationen ist (ebd., Hervorhebungen i. O.).
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Abb. 1 Konjunktiver Erfahrungsraum (Bohnsack 2017, S. 103)
Hermes (2017) rekonstruiert in seiner Arbeit Bildungsorientierungen von Jugendlichen und ihren Eltern und nimmt dabei das von Bohnsack genannte „Spannungsverhältnis“ der Wissensebenen in den forschenden Blick. Damit erfolgt zudem eine Abgrenzung vom Begriff des (Bildungs-)Habitus, da Familie als konjunktiver Erfahrungsraum und damit die Binnenstruktur jeweiliger Familien (biographische Erfahrungen der Angehörigen unterschiedlicher Generationen, Erziehung, inter- und intragenerationelle Interaktionsmuster, etc.) im Mittelpunkt stehen. Damit erfolgt eine Abgrenzung zu forschungsleitenden Fragestellungen, welche die Genese des Habitus anhand von Kapitalkonfigurationen zu erklären suchen, oder – als Ungleichheitsforschung – sogenannte Passungsverhältnisse3 ergründen. Zu nennen sind diesbezüglich 3Vor
dem Hintergrund der Rekonstruktion bildungsförderlicher Passungsverhältnisse zwischen Familie und Schule, meint der Begriff der „Passung“, dass die Orientierungen und Praktiken, wie sie im Erfahrungsraum Familie erworben werden, „in der schulischen Wirklichkeit einen Resonanzboden finden und eine Existenzberechtigung erfahren“ (Kramer 2002, S. 223; siehe hierzu auch Thiersch in diesem Band).
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etwa die Arbeiten von Helsper et al. (2010) sowie Busse (2010). Hier werden die häufig getrennt voneinander untersuchten Bildungs- und Erziehungsfelder der Familie und Schule miteinander verbunden. Herausgearbeitet werden Passungsverhältnisse zwischen dem in der Familie erworbenen primären Habitus sowie dem schulisch geforderten sekundären Habitus. Entsprechende methodologische Reflexionen sind also anzustellen, insbesondere deshalb, weil daraus methodische Konsequenzen erfolgen, die für die empirische Erforschung von Bildungsorientierungen von hoher Relevanz sind. So kann etwa die Kritik formuliert werden, dass nicht selten a priori ein sogenannter kollektiver Habitus angenommen wird. Deppe (2013, S. 225) verweist auf einen „Familienhabitus“ und betont zugleich, dass „Eltern in Bezug auf die mikroanalytische Untersuchung von Bildungsungleichheiten nicht als Einheit verstanden werden dürfen“ (ebd., S. 237). In eine ähnliche Richtung zielt Zschach (2012) mit ihrer Kritik, die sich an Studien richtet, in deren Rahmen kollektive Orientierungen in Peergroups untersucht werden: „Eine vorschnelle Homologie zwischen der Haltung Einzelner und jenen ihrer Gruppe anzunehmen, ist also zu vermeiden. Dies trifft besonders auf jene Untersuchungsdesigns zu, welche unter Verzicht auf Triangulation aus individuellen Aussagen über Peers einen Gruppenhabitus behaupten, ohne die Peers an sich methodisch als Forschungsgegenstand zu berücksichtigen.“ (ebd., S. 275).
Folgen wir mit Blick auf die Rekonstruktion von Bildungsorientierungen sozialisationstheoretischen Annahmen, so lässt sich zunächst festhalten: Eltern sind zentrale bildungsrelevante Akteure bei der Sozialisation ihrer Kinder. Folgerichtig spricht Busse (2017) bei in Familie erworbenen Bildungsorientierungen von „primären familialen Bildungsorientierungen“ (ebd., S. 205). Diese entwickeln sich vor dem Hintergrund des konjunktiven Erfahrungsraums Familie (vgl. Hermes 2017) und sind ebenfalls im Lebensverlauf in den Blick zu nehmen, wie dies in der Arbeit von Soremski (2019) geschieht. In ihrer Studie beleuchtet sie den Bildungsweg ihrer Interviewpartnerinnen und Interviewpartner als „gesamtbiografische Angelegenheit“ (ebd., S. 11). In den Blick gerät damit das Zusammenwirken lebensweltlicher und institutioneller Praktiken im Lebensverlauf. Eindrücklich wird aufgezeigt, welche hohe Relevanz der biographischen Kontinuität von Handlungspraktiken – beispielsweise ermöglicht durch eine kulturelle Vermittlung von Organisationen – an Übergängen im Lebensverlauf zuzuschreiben ist, sodass Bildungsorientierungen aufrechterhalten werden und so zu einem Bildungsaufstieg beitragen können. Aus einer gesamtbiographischen Perspektive sind Bildungsorientierungen eingebettet in den Erfahrungsraum Familie (vgl. Hermes 2017), institutionelle Strukturen, die sich
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in der Beziehungsgestaltung – etwa zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Eltern – dokumentieren (vgl. Buse 2017) sowie biographisch-lebensweltlicher Handlungsspielräume (vgl. Soremski 2019).
4 Resümee: Gleichzeitig ungleich?! Es wird eine der empirischen Forschung zugängliche Formel sichtbar, die einerseits als grundlegende Orientierung eine Wirkmächtigkeit entfaltet, jedoch eine Heterogenität beinhaltet: Bildungsorientierungen stellen (I.) in der Rekonstruktion keine empirische Entität dar und werden (II.) im Rahmen verschiedenster wissenschaftlicher Professionen sowie diverser wissenschaftstheoretischer und methodologischer Perspektiven zum Reflexionsgegenstand. Alleine die in diesem Beitrag vorgenommene Untersuchung anhand einer wissenssoziologisch geprägten rekonstruktiven Perspektive, macht diese Heterogenität deutlich. Demnach generieren sich Bildungsorientierungen aus den Wissensbeständen lebensweltlicher Erfahrungsräume wie der Familie sowie der Peer-Group. Zugleich kann die Familie als Lern- und Bildungsmilieu gefasst werden, welches (prekäre) Balancen zwischen dem familialen Binnenraum sowie weiteren Erfahrungsräumen auszugleichen hat (vgl. etwa Euteneuer und Uhlendorff 2020 sowie Hermes 2017), was mit Blick auf die Ungleichheitsforschung im Begriff der „Passung“ fokussiert wird (vgl. Thiersch in diesem Band). Schließlich – und darauf verweist ebenfalls Thiersch in diesem Band – bildet das Zusammenspiel des familiären und schulischen Erfahrungsraums eine „dritte Erfahrungsdimension“ (Thiersch 2020, S. 29) von Bildungsorientierungen, die als Schulengagement (vgl. Buse und Hermes 2019) in der empirischen Forschung aufgegriffen wird.
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Hermes, Michael, Dr. phil., war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule NRW und arbeitet seit seiner Promotion als Fachreferent für Familie und Generationen bei einem Sozialverband. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. Lotze, Miriam, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Übergänge im Bildungssystem, Öffnung des Hochschulsystems, Bildungsungleichheiten und Bildungsorientierungen.
Habitus, Bildung und Bewährung – Anfragen und Differenzierungen zum Konzept der kulturellen Passung von Familie und Schule aus subjekttheoretischer Perspektive Sven Thiersch Zusammenfassung
Der Beitrag systematisiert und bilanziert zunächst in einer würdigenden als auch kritischen Auseinandersetzung die bisherigen Forschungsarbeiten zum Theorem der kulturellen Passung. Trotz einiger Ansätze, die Subjektperspektive für die Frage der Habitusgenese und -transformation zu integrieren und damit verbunden das Passungsmodell neu zu justieren, werden in den Analysen – so ein Ergebnis – die Bildungserfahrungen in Familie und Schule letztlich auf den Dualismus der milieuspezifischen Passung bzw. Nicht-Passung reduziert, um Bildungserfolge und -ungleichheiten beschreiben zu können. Zur Erweiterung eines Passungskonzepts, das die sozialisatorisch eigensinnigen und differenzerzeugenden Prozesse in den Interaktions- und Handlungsräumen zu beobachten und somit auf- und absteigende Bildungsverläufe zu erklären vermag, wird die Kategorie der Bewährung eingeführt. Bewährungen zeigen sich auf der Ebene der Passung von Familien- und Schulmilieus im sozialen Raum und auch auf Ebene des Subjekts in der adoleszenten Selbstpositionierung zu dieser Milieu-Passung und zum eigenen Bildungsverlauf.
S. Thiersch (*) Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_3
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1 Einleitung Zur Beschreibung des Verhältnisses der Bildungserfahrungen in Familie und Schule ist Bourdieus Modell der kulturellen Passung nach wie vor als die Referenz auszumachen. Inzwischen differenzieren unterschiedliche Ansätze und Befunde der Sozialisations- und Bildungsforschung die analytische Statik dieses Konzepts und die empirische Evidenz an Übergängen im Bildungssystem zur Erklärung der (Re-)Produktion sozialer Bildungsungleichheit bezüglich der Prozesshaftigkeit (Kramer 2002; Kramer et al. 2009, 2013), außerschulischer Lern- und Bildungsräume wie Peers (Grundmann et al. 2003; Krüger et al. 2010; Deppe 2015) und der Frage der subjektiven Aneignung und Bearbeitung (Silkenbeumer et al. 2017; Labede et al. 2020) aus. Insbesondere die Ergebnisse und Bestimmungen zur eigensinnigen Struktur von Familie, Schule und Peer-Group als Interaktionsräume leisten einen Beitrag zur Differenzierung kultureller Passungsverhältnisse, da sie die über das Milieu assimilierten sozialen Zusammenhänge und Ordnungen nicht nur in funktionaler Hinsicht konzipieren (Müller 2007, S. 148; Silkenbeumer und Wernet 2012; Scherr 2014). Mit dem Fokus auf die Sozialisationspraktiken der Akteure können sie das Zustandekommen und die Transformation von Passungsverhältnissen beschreiben und erklären. Bourdieu (1993) selbst weist immer wieder auf die Dignität einer praxisgenerierenden Seite der strukturierenden Struktur des Habitus und einer damit verbundenen Dynamik zwischen Habitus und sozialen Strukturen hin. Der Habitus ist nicht nur durch soziale Existenzbedingungen (z. B. kulturelles Kapital) als opus operatum strukturiert, er muss sich in neuen Handlungsund Erfahrungsräumen immer wieder auch praktisch bewähren bzw. transformieren und bringt so neue Ausdrucksgestalten einer sozialen Praxis hervor. Eine Perspektive auf die „Bewährung des Habitus in konkreten Feldern und an konkreten Strukturen“ (Kramer 2014, S. 183) ist somit gerade auch für die Frage der Passung von Familie und Schule aufschlussreich. In einer Systematisierung der Diskurse und Untersuchungen zur kulturellen Passung fragt dieser Beitrag nach einer Vermittlung von Milieu- und Subjektperspektive in einem erweiterten Konzept der kulturellen Passung, das eben diese handlungspraktische und subjektive Seite des Habitus stärker als bislang berücksichtigt, um neben statusreproduzierenden auch auf- bzw. absteigende Bildungsverläufe erklären zu können. Kulturelle Passungen sind demnach als ein kontinuierliches Aushandlungs- und Positionierungsgeschehen auf zwei Ebenen zu betrachten: Erstens müssen sich Familien und ihre Heranwachsenden in der Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Erbe sozial situieren und Abweichungen und Diskontinuitäten (z. B. Auf- und Abstiege) bearbeiten.
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Zweitens stellen sich in diesem Prozess Fragen der subjektiven Realisierung und Integration des schulischen Bildungsverlaufs und der Passung in das werdende Selbst der Kinder und Jugendlichen in der Dialektik von Individuation und Generativität. Nach der Darstellung zentraler Befunde zum Verhältnis familialer Orientierungen und schulischer Erwartungen in Bildungsverläufen (Abschn. 2) wird für ein Konzept kultureller Passungsverhältnisse, das die Subjektivität der Akteure einbezieht, der Bewährungsbegriff eingeführt (Abschn. 3) und argumentiert (Abschn. 4), dass dieser kategorial geeignet erscheint, sowohl die Milieu- als auch die Subjektperspektive im Passungsverhältnis zu beschreiben. Abschließend werden die zentralen Thesen zusammengefasst und darauf bezogene Forschungsperspektiven entwickelt (Abschn. 5).
2 Forschungen zur kulturellen Passung von Familie und Schule – Würdigung, Ausdifferenzierung und Kritik Das Theorem der kulturellen Passung ist das zentrale Konzept zur Beschreibung des Zusammenhangs familial erworbener Orientierungen und schulischer Feldund Anforderungsstrukturen und damit verbundener Fragen der (Re-)Produktion sozialer Bildungsungleichheiten. Basierend auf dem grundlagentheoretischen Verhältnis von Habitus und Feld beschreiben Bourdieu und Passeron (1971, S. 40) in ihren Analysen des französischen Hochschulsystems als „kulturelle Passung“ dabei die „mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens und dessen Erfolgskriterien“. Sie haben – kurz gesagt – in erster Linie die Passung des kulturellen Kapitals und die diesbezügliche Anerkennung bzw. Abwertung der milieuspezifischen Alltagspraxen und Bildungsinhalte im Blick, wenn sie, über die sozioökonomischen Merkmale der Bildungsbeteiligung hinaus, den aus ersten Prägungsarbeiten und Konditionierungen hervorgebrachten primären Habitus zu den Feldanforderungen des Bildungssystems relationieren (ebd.; ausführlich z. B. Kramer 2011, 2014).1 Zur Stützung der These einer schulischen
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Untersuchungen inzwischen dauerhaft herausstellen und belegen, ist die Sprache für die Teilhabe an der (schulischen) Lebenswelt besonders relevant. Die elaboriertere Ausdrucksfähigkeit und sprachliche Virtuosität der Kinder aus akademischen Milieus muss nicht nur als anschlussfähiger im schulischen Feld betrachtet werden, sie erfährt auch
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Verschleierung ungleicher sozialer und kultureller Voraussetzungen durch die Eliminierung in pädagogischer Arbeit wird gezeigt, dass die Milieus, die zur schulischen Anforderungs- und Anerkennungsstruktur kompatibel sind, weiteres Kulturkapital im Feld akkumulieren können, hingegen sich die nicht-passförmigen Milieus eliminieren und ihre Selektion selbst legitimieren (Bourdieu und Passeron 1971, S. 175). Seit Anfang der 2000er Jahre wird an das Modell der kulturellen Passung in der ungleichheitsorientierten Bildungs- und Sozialisationsforschung angeschlossen. Die Forschungszugänge, Gegenstandsfelder und theoretischen Weiterführungen sind dabei durchaus divers und beleuchten unterschiedliche Ebenen des Passungsverhältnisses (Grundmann et al. 2006; Kramer und Helsper 2010; Bauer 2011; Betz und Eunicke 2017). In der Kritik an der schichtspezifischen Sozialisationsforschung der 1960er Jahre besteht aber Einigkeit darin, am Paradigmenwechsel von einer auf Ergebnisungleichheit orientierten sozialstrukturellen Analyse der Reproduktion hin zu einer am Subjekt orientierten Perspektive zur Produktion von Bildungsungleichheit festzuhalten (Grundmann et al. 2006; Bauer 2011, S. 99 f.). In erster Linie werden in diesen Zugängen die milieuspezifischen Bildungsorientierungen und -praktiken in den Familien in den Blick genommen und zu den schulischen Leistungs- und Verhaltenserwartungen in ein Verhältnis gesetzt. Grundmann et al. (2003, 2004, 2006) weisen in ihren Analysen nach, in welch enger Beziehung die lebensweltlichen Handlungsbefähigungen und Bildungserfahrungen in der Familie zu den institutionalisierten Bildungsprozessen und Praktiken der Anerkennung in der Schule stehen und wie auf dieser Grundlage milieuspezifische Bildungsstrategien und „Passungschancen“ hervorgebracht werden (Grundmann et al. 2006, S. 36). In dieser Lesart der kulturellen Passung werden die impliziten bildungsbezogenen Wissensbestände, die außerhalb der Schule erworben werden, in dreifacher Hinsicht bestimmt: Erstens stützen sich Bildungsorientierungen demnach auf die lebensweltlichen Erfahrungsräume in der Familie und in Peer-Groups. Zweitens gehen diese handlungsleitenden
symbolisch mehr Anerkennung (z. B. in der mündlichen Leistungsbewertung) als die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder aus nicht-privilegierten Milieus (Oevermann 1972; Liebau 1987; Bourdieu 2001; Kaesler 2005). Darüber hinaus werden im Gesamtkomplex des Habitus grundlegende Praktiken und Haltungen von Erziehung bzw. Erziehungsstil, Status- und Leistungsorientierung oder Wissens- und Informationskommunikation als ungleiche Ausgangslagen für das Passungsverhältnis beschrieben (zsf. Thiersch 2014, S. 283 ff.).
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Orientierungen in die Aneignung und Auseinandersetzung mit der Schule ein. Schließlich bildet drittens die direkte Konfrontation (z. B. bei Hausaufgaben, Elternsprechtagen usw.) von Elternhaus und Schule eine dritte Erfahrungsdimension bildungsbezogener Handlungsmuster (Grundmann et al. 2003). Stärker als bei Bourdieu und Passeron wird somit das Passungsverhältnis aus der Perspektive der Familienmilieus betrachtet und betont, „dass jedes Milieu eigene alltagsrelevante Rationalitäten entwickelt“ (Grundmann et al. 2004, S. 129 f.) und Bildung in der Schule nicht immer für diese kulturellen Erfahrungen und Gewohnheiten anschlussfähig ist und dazu befähigt, sich dort zurechtzufinden und zu behaupten (Grundmann et al. 2003, S. 36; Grundmann et al. 2004, S. 129 f.). Diese Überlegungen der ungleichheitsorientierten Sozialisationsforschung beschreiben die Passungskategorie – wenn man so will – als einen Kreislauf von Ab- bzw. Aufwertungen der Bildungsorientierungen und -praktiken in Relation zum jeweils anderen Sozialisationsraum und hinterfragen in diesem Zusammenhang die Analysen der Ungleichheitsforschung zu Bildungsentscheidungen und -beteiligungen. Die dort in Anlehnung an Boudon (1974) entworfenen Handlungstheorien modellieren Bildungsentscheidungen als ökonomische Kosten-Nutzen-Überlegungen und sekundäre, sich reproduzierende Herkunftseffekte der Familien an den institutionellen Übergangspassagen im Bildungssystem. Sie reduzieren damit die sozialisatorischen und biographischen Prozesse und Erfahrungen in Familie und Schule auf eine punktuelle und zweckrationale Entscheidung (König 2003; Thiersch 2014). Demgegenüber verstehen kulturelle Passungsmodelle Bildungsentscheidungen im Sinne einer impliziten und handlungspraktischen Strategie, die als „Ausdruck eines zugrundliegenden Generierungsprinzips (…) rekonstruiert und expliziert werden muss“ (Kramer 2017, S. 194). Grundsätzlich greifen Untersuchungen zu kurz und erzeugen „Erklärungslücken“, wenn sie Familie und Schule als zwei in sich geschlossene Sozialisationsräume und abzugrenzende Gestalten an Übergangspassagen betrachten, um zwischen Bildung und sozialer Herkunft kausale Wirkungszusammenhänge messen und daraus Wahrscheinlichkeiten ableiten zu können und so die sozialisatorischen und subjektbezogenen Dynamiken ausblenden (Rademacher und Wernet 2014, S. 170; Scherr 2014, S. 295 f.). Schon länger wird hier in der subjektorientierten Übergangsforschung (Stauber et al. 2007) und jüngst im diskursanalytischen Forschungsprogramm eines „doing transition“ auf die Konstruktion, Herstellung und Gestaltung von Übergängen und Passungsverhältnissen in der Verwobenheit von diskursiven, milieuspezifischen, institutionellen und biographischen Praktiken verwiesen (Cuconato und Walther 2015; Walther und Stauber 2018).
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Die erziehungswissenschaftliche Forschung erweitert in diesem Sinne das bei Bourdieu und Passeron ebenfalls relativ dichotom gedachte Modell feldkonformer bzw. -abstoßender Passungen um eine schul-, familien- und biographietheoretische Perspektive. Die mit diesen Ansätzen in überwiegend qualitativen Untersuchungen herausgearbeiteten Ausdifferenzierungen beziehen sich einerseits auf unterschiedliche schulkulturelle Anforderungsstrukturen und ihre Passung zu differenten Familien- sowie Schülermilieus. Andererseits werden die biographischen Prozess- und Verlaufsdynamiken im Passungsverhältnis ausgearbeitet (Kramer 2002; Kramer et al. 2009, 2013). In einer Untersuchung zu pädagogischen Generationsbeziehungen in Familie und Schule konnten bspw. auf der Grundlage ausgearbeiteter Fallstudien von der jeweiligen Schulkultur abhängige „je spezifische Schule-Milieu-Passungen bzw. Schule-Milieu-Abstoßungen“ empirisch rekonstruiert (Helsper et al. 2009; Kramer und Helsper 2010, S. 110) und darauf bezogene Bestimmungen von „Institution-Milieu-Verbindungen oder Komplexe[n]“ abgeleitet werden (Helsper et al. 2009, S. 276). Andere Analysen zur intergenerationalen Weitergabe des familialen Erbes belegen, wie die sozialen und kulturellen Transmissionsprozesse in Herkunftsfamilien in ihrer Bedeutung für die Ausgestaltungen der Passungsverhältnisse zu institutionellen Lernorten einzubeziehen sind (Ziegler 2000; Büchner und Brake 2006; Ecarius und Wahl 2009, S. 17). Diese Untersuchungen zeigen zwar in der Fokussierung auf einzelne Familien und Schulen psychosoziale Konflikte und auch Widersprüchlichkeiten in der Übermittlung und Aneignung auf, diese werden aber in der analytischen Abstrahierung milieutheoretisch homogenisiert und assimiliert. Familien- und schülerbiographische Betrachtungen fokussieren darüber hinaus das Passungsverhältnis in seiner diachronischen und transformatorischen Prozessstruktur. Hier werden noch deutlicher die Differenzen und Abweichungen innerhalb der Familie zwischen den Erfahrungen und Selbstpositionierungen der Kinder und Jugendlichen und dem familialen Bildungshabitus bestimmt (Thiersch 2014). So geraten Habitustransformationen und Ambivalenzen in Familien- und Schülerbiographien für das Passungsverhältnis in den Blick. Bereits Bourdieu (1997) hat auf diese psychosozialen Dynamiken in der widersprüchlichen Aneignung und Weitergabe des familialen Erbes hingewiesen, jedoch diese Prozesse aus einer biographie- bzw. sozialisationstheoretischen Perspektive (z. B. in einer Familienstudie) empirisch nicht verfolgt und erforscht. Kramer sieht in seinem Modell des schulbiographischen Passungsverhältnisses in „Selbstkrisen und biographisch generierten Bearbeitungsstrategien (…) Brechungsmöglichkeiten“ (2002, S. 226) in der Vermittlung des Habitus und geht davon aus, dass eine identische Inkorporation elterlicher Orientierungen eher die
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Ausnahme darstellt. So muss ein „innerer Zusammenhang zwischen familialer Sozialisation, Selbstgenese und biographisch selektierten Ausformungen individueller Habitusformationen und Bearbeitungsstrategien der Selbstkrisen als Voraussetzungen für die Ausformungen eines schulbiographischen Passungsverhältnisses“ gesehen werden (ebd., S. 227). Er schließt damit an Bourdieus Idee einer „Einprägungskraft“ der familialen Sozialisation an, jedoch betont er zugleich die Eigendynamiken „der Selbstgenese als Ausgangspunkt für alle folgenden kulturellen Ausformungen“ (ebd., S. 229). In der Untersuchung Nittels (1992) wird ebenfalls auf der Grundlage schülerbiographischer Analysen auf die frühe Vermittlung eines Bildes von Schule in der antizipatorischen Sozialisation der Familie und damit auf die Hervorbringung der Passung von Familie und Schule in der familialen Interaktion durch Differenzbildung bzw. -bearbeitung hingewiesen. Bereits in der Familie ist von einer Genese schulaffiner bzw. -distanzierter Haltungen auszugehen, die sich in inter- und intragenerationellen Beziehungskonstellationen im Spannungsverhältnis von Transformation und Reproduktion ausformen. Je stärker sich die Familie an Schule und ihre Anforderungen – bspw. auf der Grundlage der bildungsbiographischen Erfahrungen der Eltern – habituell orientiert, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich das Kind implizit mit schulischen Anforderungen und Erwartungen schon in der Familie symbolisch auseinandersetzen wird (Helsper 2014, S. 146). Auf dieser Grundlage konfrontieren dann – wiederum prozessanalytisch gedacht – erst die Erfahrungen mit schulischen Praktiken und Anforderungen in der Grundschule und in der weiteren Schullaufbahn (z. B. mit Übergängen und Selektionen) den Heranwachsenden permanent mit diesen familialen Konstellierungen und Selbstproblematiken, die einer Integration und Bearbeitung bedürfen. Mit Bezug auf diese Bestimmungen werden in einer längsschnittlich angelegten Studie zur biographischen Verarbeitung schulischer Selektionsereignisse empirisch die Prozesse und Praktiken typologisch bestimmter Formationen des individuellen Bildungshabitus in der Auseinandersetzung mit den Normen unterschiedlicher schulkultureller Felder nachgezeichnet (Kramer et al. 2013). In dieser Untersuchung wird herausgearbeitet, wie sich im Übergangsgeschehen die Orientierungen der Kinder unter den Bedingungen neuer Erfahrungsräume transformieren, aber auch an diese anpassen (Thiersch 2014, S. 67). Als ein zentrales Ergebnis wird so der bislang kaum thematisierte „innerschulische“ Übergang in das 7. Schuljahr als entscheidend für die Passung von familial vermittelten Orientierungen und neuen schulformspezifischen Leistungsund Lernanforderungen (z. B. Fremdsprachen, Naturwissenschaften) – gerade im gymnasialen Segment – herausgearbeitet. Im Kontext frühadoleszenter Erfahrungsräume werden neue „eigene“ Positionierungen und Bewährungen
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der Schülerinnen und Schüler sowohl gegenüber den Orientierungen der Eltern als auch gegenüber schulischen Erwartungen in den Interviews deutlich (Kramer et al. 2013, S. 268). Zusammengefasst werden in diesen Modellen und Untersuchungen Ausdifferenzierungsprozesse des Habitus durch praxis- und prozessorientierte Sozialisationsmodelle beschrieben, die eine Engführung auf Klassen-, Schichtund Milieumodelle auf einer anderen Abstraktionsebene zu überwinden versuchen. In den dargestellten biographie- und sozialisationstheoretischen Überlegungen zur Habitusgenese und -transformation wird implizit und ohne einen konkreten Bezug auf das Konzept der kulturellen Passung deren alleinige milieubedingte Konstellierung infrage gestellt. Diese Perspektiven beleuchten die Transformationspotentiale des Passungsverhältnisses zwischen Familie, Schule und kindlichen bzw. jugendlichen Individuationsprozessen. Sie stellen Entwürfe dar, die kulturtheoretischen Konzepte Bourdieus zum Habitus und zur kulturellen Passung mit einer strukturtheoretisch gefassten Sozialisationsperspektive eines Krisenbewältigungsprozesses des Subjekts (Oevermann 2004) zu vermitteln. Schon Liebau (1987) sah diese Ansätze in einem sich ergänzenden Verhältnis und verwies auf das Problem der „jeweilige[n] Einseitigkeit der Perspektivenwahl“ (ebd., S. 130 f.). Im Anschluss an strukturtheoretische Ansätze können so die ontogenetischen Individuations- und Ablösungskrisen und ihre Bewältigung in Familie, Schule und anderen Sozialisationsräumen als Phasen der Habitustransformation bestimmt werden (Helsper 2014). Auch wenn davon auszugehen ist, dass der Habitus insgesamt stabil ist, so muss er sich als eine generative Struktur immer wieder neu in der Praxis und neuen Feldern im „Kampf“ um Positionen bewähren und bringt in der Auseinandersetzung mit neuen Handlungskontexten neue Ausdrucksgestalten hervor (Thiersch 2019, S. 284). So sind es diese Ablösungsphasen, insbesondere die Adoleszenzkrise, in denen alte Handlungsroutinen durch neue Erfahrungen zerbrechen und sich neue Praktiken erst etablieren müssen.
3 Subjekt, Bewährung und Sozialisation Das – bezogen auf Leistung und Status – zentrale Bewährungsfeld für Jugendliche in modernen Gesellschaften ist die Schule (Flitner 2001). Bislang wird in der Bildungsforschung folgerichtig in erster Linie auch die schulische Leistungs- und Statusbewährung erforscht. Aus sozialisationstheoretischer Sicht ist diese Thematisierung der Bewährung unter sozialstrukturellen Gesichts-
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punkten – analog zur Einbettung der kulturellen Passung – jedoch in einen umfassenderen subjekttheoretischen Zusammenhang zu stellen. Das Bewährungskonzept scheint diesbezüglich grundlegende Überlegungen zu beinhalten, die Bearbeitung und Integration von Bildungsverläufen des Subjekts und deren Transformationsdynamiken im Rahmen der milieuspezifischer Orientierungen und Anforderungen in den Sozialisationsräumen zu beschreiben, wenngleich ein diesbezügliches Bewährungskonzept noch nicht ausgearbeitet worden ist (grundlegend Oevermann 1995, 2004; Zizek 2012, 2015). Entsprechend des Erkenntnisinteresses der Relation der Bildungserfahrungen in Familie und Schule kann an dieser Stelle aber weder auf die religionssoziologischen Implikationen des Bewährungsbegriffs noch auf dessen Bedeutung im Kontext gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse in Gänze eingegangen werden. Für die Frage von kulturellen Passungsverhältnissen in Bildungsverläufen und deren Analyse sind hier drei knapp umrissene Überlegungen aber relevant: Erstens verweist der in der Religionssoziologie beheimatete Bewährungsbegriff bei Weber (1976) und Oevermann (1995) auf ein Sinn- und Identitätsproblem des modernen Subjekts. Die ehemals in Form der jenseitigen Erlösungshoffnung ethisch-religiös beantwortete Frage nach einem sinnerfüllten Leben geht in der modernen Gesellschaft in der Berufung auf eine Arbeits- und Leistungsethik auf. Strukturell betrachtet steht die Bewährung damit als Sinnquelle für Selbstverwirklichung in der säkularisierten und rationalisierten Bildungs- und Berufswelt für den Erlösungsglauben in der religiösen Welt. Jede Lebenspraxis hat sich diesem universalen Bewährungsproblem in Form von lebenspraktischen, diesseitigen Sinn- bzw. Identitätsfragen zu stellen und ist auf einen Bewährungsmythos angewiesen (ebd.)2. Während in der religiösen Bewährung eine Gnadengewissheit verbürgt ist, ordnet sich das moderne Subjekt in Form einer protestantischen Leistungsethik als aktive Bewährung der Arbeit asketisch unter, um stellvertretend diese Gnadengewissheit zu erlangen (Weber 1976, S. 105). Auf der anderen Seite der Medaille der Selbstverwirklichung und „rastlosen Berufsarbeit“ (ebd.) werden so Leistungs-
2Auch
wenn Bewährungsmythen in Oevermanns Strukturmodell von Religiosität zentral sind und Bewährungsfragen des Diesseits begründen, kann darauf nicht weiter eingegangen werden. An dieser Stelle soll lediglich der Hinweis genügen, dass sich auch der religiös Indifferente auf eine säkularisierte Form des religiösen Bewährungsmythos berufen muss (Oevermann 1995; Oevermann und Franzmann 2006).
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druck und Anpassungszwang erfahren (Silkenbeumer und Wernet 2012, S. 7). Dieser gesellschaftliche Rationalisierungsprozess dokumentiert sich in einer methodischen Lebensführung in der dialektischen Struktur der Selbstformung und Selbstbildung auf der einen und der (Selbst-)Kontrolle, (Selbst-)Steuerung und (Selbst-)Disziplinierung des Subjekts auf der anderen Seite, die im Anschluss an Foucault als „Techniken der Subjektivierung“ gefasst werden (Gelhard et al. 2013). „So hinterließ das Leistungsethos des Erfolgs einerseits eine soziale Normierung des gesellschaftlichen Aufstiegs und der persönlichen Bewährung, die sich als Befreiung von den ständischen Fesseln der Herkunft und als Unterpfand persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit verstand. Andererseits aber lud es dem Individuum die besonderen Belastungen der Arbeitsethik, des Leistungswettbewerbs und der Versagensangst auf“ (Neckel 2002, S. 106). Die Herauslösung des Subjekts aus religiösen und ständischen Strukturen geht in modernen Gesellschaften mit einer neuen diesseitigen Bindung an eine Berufs- und Leistungsbewährung vor allem im Kontext von Fragen zum Statuserhalt bzw. zur Statusaufwertung aller sozialer Milieus einher. Bewähren muss sich, um Missverständnissen vorzubeugen, aber nicht nur der Einzelne. Nicht zuletzt die Analysen und Diskurse bspw. um die Prekarisierungsprozesse in globalen und beschleunigten Gesellschaften legen nahe, dass sich gleichermaßen kollektive Praktiken und Mentalitäten der Milieus immer wieder (neu) bewähren und transformieren müssen. Im Anschluss daran ist zweitens, wie schon in Bourdieus praxeologischer Sicht oder jüngst in subjektivierungstheoretischen Diskursen thematisiert, festzuhalten, dass Bewährungen des Subjekts immer und nur durch Andere hervorgebracht werden. Bewährungen führen hier nicht im aufklärerischen Sinne zum autonomen und souveränen Subjekt, sondern sind in der „Figur relationaler Subjektivität“ und gegenseitiger Hervorbringungen zu denken (Ricken 2013, S. 69). In dieser sozialen Konstitution und Konstruktion stellt das Anerkennungsbzw. (Re-)Adressierungsgeschehen eine zentrale Voraussetzung und Bedingung der Bewährung dar. Bewährung ist an diese sozial-interaktive, situative und gesellschaftliche Rahmung (Titel, Prestige) gebunden. Insbesondere soziale Adressierungen in familialen, schulischen und peerbezogenen Kontexten strukturieren die Bewährungsprozesse des Subjekts und sind zentral für bildungsbezogene Integrations- und Positionierungsfragen. Zizek (2012, 2015) hat in seinen Rekonstruktionen Formen von Bewährung schon bei kleinen Kindern herausarbeiten können. Im Anschluss daran geht er von einem „universalen
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Bewährungsdrang“ aus, da – unabhängig vom Alter, der sozial-historischen Rahmung und der jeweiligen Kultur – jeder Mensch als soziales Wesen eine intrinsische Motivation besitzt, einen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen zu wollen. In Bewährungen und deren Anerkennung wollen sich Menschen also als ein wertvolles und einzigartiges Mitglied der Gemeinschaft erfahren bzw. integrieren und sind als „Bewährungssucher“ zu bestimmen (Zizek 2015, S. 74 ff.). Auch wenn man sich in anderen Lebensphasen bewähren muss und ein universaler Bewährungsdrang besteht, muss aus strukturtheoretischer Sozialisationsperspektive der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen als der zentrale Ort der Bewährung des Subjekts bestimmt werden (Oevermann 2009, S. 41). Eine dritte zentrale Implikation von Bewährungsprozessen in der Moderne ist damit ihre sozialisatorische Funktion in der Adoleszenzphase. Im Kontrast zur Identifikation mit den Orientierungen und Praktiken der Eltern und signifikanter Anderer im transfamilialen Raum in der Kindheit, müssen sich Adoleszente zu diesen angeeigneten Haltungen zwischen den Polen einer Anknüpfung und Abgrenzung nun selbst verorten (Helsper 2014, S. 141). Im adoleszenten Individuationsprozess stellen sich – strukturell betrachtet – Jugendliche den zentralen Sinnfragen des Lebens eigenständig, gleichwohl kulturelle und historische Wandlungsprozesse veränderte Ausdrucksformen bedingen. In dieser Phase werden die Weichen für den beruflichen und sozialen Status gestellt und diesbezügliche Entscheidungen in Schule, Beruf und Studium getroffen bzw. hervorgebracht. Daneben müssen Antworten auf Fragen der Familienbildung und Elternschaft sowie der Partizipation am Gemeinwesen als staatsbürgerliche Bewährungskarriere gefunden werden (Oevermann 2001, S. 112). Oevermann (2004) hat vor dem Hintergrund dieser Bewährungsherausforderungen die Sozialisation in der Adoleszenz als Prozess der Krisenbewältigung beschrieben. Insofern könnte man hier auch von Bewährungskrisen sprechen, da sich jede Lebenspraxis zu den drei ausgemachten Bewährungsfeldern positionieren und diese Entscheidung mit eigenem Sinn füllen muss. Obwohl man sich dabei nicht auf Routinen und bewährte Krisenlösungen beziehen kann, besteht die Verpflichtung, die Entscheidung für sich und das soziale Umfeld zu begründen. „Denn die Adoleszenzkrisenbewältigung ist genau dann beendet, wenn der Adoleszent sich grundsätzlich dem Problem der Bewährung gestellt und es sich zu eigen gemacht hat“ (Oevermann 2009, S. 40). Konstitutionstheoretisch zentral für den Bewährungsbegriff sind damit das
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dialektische Verhältnis von Krise und Routine und der Zusammenhang, wie aus Altem Neues entsteht.3 Vor dem Hintergrund radikalisierter Leistungsansprüche und damit verbundener Platzierungs- und Selektionsprozesse in der Jugendphase, sodass Analysen dem kennzeichnenden Ausprobieren und Experimentieren des jugendlichen Bildungsmoratoriums inzwischen einen funktionalen Bildungszwang eines Optimierungsmoratoriums gegenüberstellen (Reinders 2016; Harring und Schenk 2018, S. 119), nimmt auch der Druck der Positionierung und Bewährung des Selbst zu. In der Aneignung und der Bewältigung dieser strukturellen Herausforderung des modernen Subjekts sind Jugendliche aller Milieus mit Passungsfragen als Bewährungsproblem und der damit einhergehenden Arbeit am Selbst konfrontiert (auch Deppe 2020). Auf der Grundlage des subjekttheoretischen Konzepts der Bewährung kann – so bleibt zu resümieren – die Genese von Bildungsverläufen in Familie, Schule und Peergroup und ihre Deutungen jenseits von Bildungsbeteiligung und -erfolg beschrieben werden. Anders als Zizeks kultur- und literaturhistorische Analyse universaler Bewährungsdränge und -figuren und Oevermanns religionssoziologische Bestimmung eines strukturellen Bewährungsproblems und dessen Bewältigung im Bewährungsmythos muss sie dabei im Spannungsfeld von Generativität und Individuation oder Bindung und Ablösung empirisch bestimmt werden (ausführlicher dazu Silkenbeumer et al. 2017; Labede et al. 2020). Bewährung darf dabei nicht als eine aktive Suche des Subjekts zur Autonomie verstanden werden. Sie beschreibt die soziale Konstitution des Subjekts und einen immer subtiler werdender Bewährungszwang in modernisierten Gesellschaften. Empirisch zu rekonstruieren sind
3Auf
Oevermanns grundlagentheoretische Überlegungen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Nur kursorisch sei darauf hingewiesen, dass dabei das Spannungsverhältnis und Zusammenspiel von Krise und Routine im Zentrum steht, um die Bildung des Subjekts im Sozialisationsprozess zu fassen. Weniger geht Oevermann in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Bewährungsprozessen ein. Gerade bildungstheoretisch scheint mir aber nun entscheidend, dass sich zwar in der Krise neue Selbst- und Weltbilder entwickeln, von Bildung m. E. aber nur dann gesprochen werden kann, wenn sich diese auch bewähren. Auf diese Bedeutung der Bewährung neuer Praktiken und Entwürfe in der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen verweisen auch empirische Untersuchungen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Nohl (2006) bspw. hat in seiner Theorie spontaner Bildungsprozesse, in der er sich kritisch mit der Krise als Bildungsimpuls auseinandersetzt, auf die biographischen und gesellschaftlichen Bewährungsphasen für die Verankerung neuer Praxen und Orientierungen hingewiesen.
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vor diesem Hintergrund die Muster des Umgangs mit strukturell notwendigen Positionierungen in bzw. zur Familie und ihrem sozialen und kulturellen Erbe. Im Gegenstandsfokus sind dann sowohl die Integrations- und Anpassungsleistungen im Bildungssystem (in neuen Schul- und Peermilieus) als auch die Relevanz sozialisatorisch-interaktiver Dynamiken für Bildungsverläufe und für die intergenerationale Weitergabe zwischen Transformation und Reproduktion in der Familie.
4 Bewährung, Habitusbildung und kulturelle Passung Die Implikationen der der bewährungstheoretischen Überlegungen sind in einem nächsten Schritt für das Konzept der kulturellen Passung zu bestimmen. Bis hier hin sollte deutlich geworden sein, dass Passungsverhältnisse als analytische Konstrukte immer nur Momentaufnahmen beschreiben. Im Sinne Bourdieus relationaldynamischen Verständnisses des Habitus unterliegen sie einer permanenten Transformation. In dem hier vorgeschlagenen erweiterten Sinne werden sie im Alltag immer wieder neu hergestellt: Die früh vermittelten Orientierungen der Familie müssen sich in der Schule bzw. in der Schülerbiographie aber auch in der PeerGroup handlungspraktisch bewähren. Umgekehrt stellt sich gleichermaßen die Frage, wie institutionelle (einzel-)schulische Normen und Erwartungen überhaupt an die Traditionen und das Erbe der Familie anschlussfähig sind. Bewährungen und Bewährungsanforderungen im Passungsverhältnis entstehen so als implizite und handlungspraktische Wissensbestände in den interaktiven, biographisch relevanten und differenzbildenden Erfahrungs- und Handlungsräumen der Familie, Schule und Peer-Group (Kramer 2013, S. 21f.). Die für Erziehungs- und Bildungsprozesse konstitutive Sozialität ist hier komplexer zu erfassen, „als Darstellungen, die das Soziale auf eine Ordnung von Klassen, Schichten, Milieus sowie Geschlechtern und Ethnien reduzieren. Die Erfahrungszusammenhänge in Familien, Gleichaltrigengruppen, sozialen Netzwerken und Organisationen, in denen Individuen zu ihren mehr oder weniger bewussten Annahmen über für sie mögliche Bildungswege gelangen und in denen sich ihre motivationalen Dispositionen formen, sind zwar zweifellos nicht unabhängig von den jeweiligen sozialstrukturellen Positionen und soziokulturellen Milieus, durch diese aber auch nicht determiniert“ (Scherr 2014, S. 305).
Insofern können Analysen zu kulturellen Passungskonstellationen nicht an den institutionellen Ablaufstrukturen oder Schul(form)milieus ausgerichtet werden.
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Die Alltagspraktiken besonders in den Ablösungs- und Individuationsphasen im Zusammenspiel von Familie, Peer-Group und Schule sind für die Genese und Bildung des Habitus indes nicht zu unterschlagen. Auch wenn dabei in strukturtheoretischer Hinsicht für die Habitusbildung im sozialisatorischen Prozess der Krisenbewältigung für den Verlauf und die Ausgestaltung alle vier Phasen die Grundlage bilden (Helsper 2014, S. 143), müssen in der Krise der Triangulation und in der Adoleszenzkrise die zentralen Bewährungsphasen für kulturelle Passungskonstellationen gesehen werden. In der Betrachtung sind somit zunächst die partikular-diffus und eigenlogisch strukturierten familialen Dynamiken und Adressierungen von Interesse. Sie konstituieren ein Bildungsselbst, das eine kategoriale Antwort auf die Frage der Integration bzw. Desintegration der milieubezogenen Passung in das kindliche und jugendliche Selbst gibt, die weit über die Milieueinbindung hinausweisen kann (Labede et al. 2020). Die Schule wirkt wiederum nicht nur als Sphäre der Öffentlichkeit auf die diffus-exklusiven Sozialbeziehungen der Familie. Sie stellt zugleich in der Ablösungskrise der Triangulation „einen nach außen, über die (…) Familienbeziehungen hinausweisenden Raum der Bewährung (…) bereit“ (Helsper 2014, S. 147). Die partikularen Orientierungen der Familie werden in der Bewährung gegenüber universalistischen Handlungsstrukturen der Schülerrolle und feldspezifischen Anforderungen damit im Sinne einer „transfamiliären Erweiterung der Habitusbildung“ irritiert (Kramer et al. 2013, S. 47). Neben dieser ersten Bewährungsphase im Passungsverhältnis in der sozialisatorisch bedeutsamen Krise der Triangulation muss die Adoleszenzkrise, die in der Ablösung Entscheidungen und Verortungen in Richtung der weiteren Bildungs- und Berufslaufbahn vor dem Hintergrund des familialen Erbes erfordert, als Bewährungsraum für die Habitusbildung und damit für das Passungsverhältnis betrachtet werden (Oevermann 2001). Auch hier ist die Schule in zweifacher Hinsicht Ort der Auseinandersetzung: Einerseits bieten schulische Erfahrungsräume in einer identifikatorischen Bezugnahme darauf (z. B. auf Lehrkräfte, Fächer usw.) Möglichkeitsräume der Positionierungen und Distanzierungen gegenüber dem sozialen und kulturellen Erbe der Eltern. Anderseits gilt es, sich im schulischen Feld und den schulkulturell je spezifischen Anforderungen selbst – bspw. auch in der Anknüpfung an Peers und Jugendkulturen – zu verorten (Helsper 2014, S. 151). Die vierte Individuationskrise der Adoleszenz muss so als zentrale Phase der impliziten und handlungspraktischen Auseinandersetzung mit dem Habitus der Eltern gefasst werden. „In der Auseinandersetzung mit dem familiären,Habituserbe‘ können Jugendliche aus schulischen Quellen schöpfen und den schulkulturell geforderten Habitus dem
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Familienerbe entgegen setzen. Zugleich wird die Schule als die Repräsentanz gesellschaftlicher Anforderungen und Anerkennungsordnungen gegenüber Jugendlichen zu einem bevorzugten Ort der Auseinandersetzung und der Neupositionierung“ (ebd., S. 152). Neben dem Eigensinn familialer Interaktion stellt der Bewährungs- und Positionierungsprozess in der Adoleszenzphase damit eine bislang wenig thematisierte Sollbruchstelle der Reproduktion einer milieuspezifisch konstellierten Passung dar. Für die Schülerinnen und Schüler sind in dieser Konzeption zwei Positionierungen zur Passung verbunden: Erstens ist in der adoleszenten Auseinandersetzung mit dem sozialen Milieu und kulturellen Praktiken der Familie die Platzierung im sozialen Raum zu finden. Zugleich stellt sich zweitens in diesem Positionierungsprozess die Frage, wie es dem Subjekt gelingt, diese familialen Erwartungen oder Ablösungsstrategien im Bildungsverlauf auch zu realisieren und in das Selbst zu integrieren. Das Modell des Passungsverhältnisses muss – wie auch die Konzeptualisierung eines Schülerhabitus – Milieu und Subjekt in einer verschränkten Weise bestimmen (Kramer 2014, S. 184 f.). Besonders erforderlich und notwendig scheint so eine Perspektive zur Beschreibung von Bildungsaufstiegen bzw. -abstiegen. Diese Verläufe können nun gerade nicht mit den etablierten Reproduktions- und Zuschreibungstheorien erklärt werden. Jugendliche entfernen sich aus ihrem Milieu bzw. lösen sich aus ihrer Gemeinschaft ab, stellen die Haltungen und Überzeugungen des Milieus infrage und müssen einen kulturell alternativen Bezug zur neuen Gemeinschaft herstellen (Behrend und Zizek 2019, S. 14). Sie sind mit dem Spannungsverhältnis von vertrauter Lebensweise und neuen Praktiken konfrontiert. In verschiedenen qualitativen Studien werden diese Herausforderungen der Bewährung im Bildungsaufstieg aber auch im Bildungsabstieg als permanente kritisch-reflexive Distanzierung zum Selbst und Kontrolle habitueller Irritationen und Unsicherheiten aufgezeigt (z. B. Schmeiser 2003; El-Mafaalani 2012, S. 313 ff.; Silkenbeumer et al. 2017). Bildungsauf- und -absteiger sind in besonderem Maße Bewährungssituationen ausgesetzt, müssen sie sowohl nach innen Fragen der familialen Anschlussfähigkeit durch die Entfernung aus dem Herkunftsmilieu als auch nach außen durch die Fremdheiten in für sie neuen Milieus bearbeiten (King et al. 2011; El-Mafaalani 2012, 2014). Auch diese möglichen Transformationspotentiale und Verwerfungen von aufsteigenden Kindern, die aus ehemals schulfernen Milieus kommend als Erste in Ihren Familien nach einem mühevollen Bildungsweg ein Abitur anstreben, hatten Bourdieu und Champagne (1997) in der Figur der „intern Ausgegrenzten“ bereits im Blick, ohne sie selbst theoretisch und empirisch systematisch zu würdigen.
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5 Fazit und Perspektiven Die bisherige Forschung und Theoriebildung zur kulturellen Passung in der ungleichheitsbezogenen Bildungs- und Sozialisationsforschung hält insgesamt beharrlich an der Suggestivkraft des Milieubegriffs fest, indem „das familiale Erfahrungs- und Handlungsmilieu vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, als Ort der Transmission sozialen und kulturellen Kapitals in seinen funktionalen Bezügen zu den Bildungserwartungen des institutionellen Bildungssystems und zu den Prozessen der (späteren) sozialstrukturellen Platzierung ihrer heranwachsenden Mitglieder betrachtet wird (…)“ (Müller 2007, S. 148). Obwohl die beschriebenen qualitativen Längsschnittstudien und sozialisationstheoretischen Reinterpretationen des Habituskonzepts auf die permanenten Abstimmungs-, Bearbeitungs- und Transformationsprozesse hinweisen, wird das Passungsverhältnis als „Idealzustand“ aufeinander abgestimmter und sich gleichbleibender Herkunftsmilieus und Schulmilieus bzw. -kulturen konzipiert (Rademacher und Wernet 2014, S. 173). Die funktionalen, am sozialen Raum orientierten Analysen verkennen, dass die Bildung und Genese eines Habitus nicht allein einer milieuspezifischen Prägung unterliegen und sich eigenständig in der familialen und schulischen Interaktion strukturieren müssen (ebd., S. 176). Diese Strukturbildungsprozesse sind zwar nicht unabhängig und außerhalb des Milieus zu konzipieren, stellen aber mehr dar als eine identische Inkorporierung des Milieus (Müller 2007; Krinninger und Müller 2016). „Der Zusammenhang von Sozialisationsprozessen und aktuellen Lebensbedingungen einerseits mit individueller und kollektiver Subjektivität andererseits umfasst die soziale Genese von Subjektivitätsformen, die jedoch – anders, als sozial-deterministische Lesarten von Konzepten wie Sozialcharakter und Habitus es nahelegen – kein Effekt eindeutiger sozialer Prägungen sind und den Eigensinn lebendiger Subjektivität und die Fähigkeit zur Bewertung, Kritik und denkenden Überschreitung der gegebenen Verhältnisse einschließen“ (Scherr 2014, S. 304).
Die Art und Weise, sich auf der Grundlage habitueller Orientierungen auf Bildung und den eigenen Bildungsverlauf zu beziehen, versteht sich als ein sozialer Prozess der Binnendifferenzierungen und Eigendynamiken in Generationsund Geschlechterbeziehungen im Rahmen der Familie, Schule und im Kontext adoleszenter Transformation, der dem Habitus damit auch einen subjektiven Ausdruck verleiht (Rademacher und Wernet 2014). Andererseits können Transformationsprozesse, wie sie für Bildungsaufstiege bzw. -abstiege anzunehmen sind, nicht erklärt werden (Labede und Thiersch 2015). Die kulturellen Praktiken der Familien- und Schulmilieus passen in diesen Bewegungen eigentlich nicht
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zueinander und verweisen auf andere Prozesse zur Herstellung einer Bezogenheit, wenn man diesen Schülerinnen und Schülern nicht von vornherein eine milieuspezifische Fremdheit unterstellen will (Labede et al. 2020). Aber auch Bildungsverläufe, die den objektiven Daten wie Bildungs- und Berufsabschlüssen nach als Reproduktion des Herkunftsmilieus aufzufassen sind und die anscheinend eine „harmonische“ Passung aufweisen, müssen aus der skizzierten subjekttheoretischen Perspektive der Bewährung genauer betrachtet werden. Ebenfalls hier – und möglicherweise noch viel mehr als beim Auf- oder Abstieg – stellt sich in der Statussicherung ein bisher unterschätztes und kaum erforschtes, strukturelles Bewährungsproblem des Subjekts, das dem objektiven Bildungserfolg die Arbeit am Selbst, die Ablösungs- und Individuationsprozesse in Beziehungsdynamiken und damit verbundene subjektive Anstrengungen der Positionierungen gegenüberstellt. Der Fokus auf Bewährungsprozesse im Passungsverhältnis ermöglicht es somit, Bildungsverläufe zwischen Familie und Schule jenseits von Bildungsbeteiligung und -erfolg in den Blick zu nehmen und Erkenntnisse zu den Dynamiken und Prozessen der Aneignung und Bewältigung zu gewinnen. Sie richten sich damit gegen Vorstellungen einer souveränen Reflexivität, die rationale Handlungen und Entscheidungen der Familien zum Ausgang der Erklärung von Bildungsentscheidungen und -beteiligung machen (z. B. Rational Choice Theorien). Habituell verbürgt können sich Akteure die Bewährung im Passungsverhältnis in Schulwahlen nicht explizit und reflexiv verfügbar machen (Behrend und Zizek 2019, S. 14). Angesichts einer höheren Bildungsbeteiligung (z. B. Abiturientenquote) aller sozialen Milieus bei gleichzeitiger Entwertung der formalen Zertifikate (schon Bourdieu und Champagne 1997) ist zu fragen, wie verlässlich Untersuchungen zur schulischen Bildungsbeteiligung Passungsverhältnisse noch bestimmen können. Umso wichtiger erscheint, biographische und handlungspraktische Bewährungsprozesse und die damit verbundenen Mühen, Belastungen und Bewältigungen für das werdende Selbst empirisch in Bildungsverläufen zu untersuchen.4 Die darin liegenden
4In
der Familie, deren Intergenerationalität nach wie vor überwiegend „in individuellen Narrationen retrospektiv durchgeführter Einzelinterviews mit den Jugendlichen oder den Eltern“ rekonstruiert wird (King 2017, S. 21), sind bspw. die eigensinnigen Differenzziehungen, Positionierungen und Abgrenzungen in der unmittelbaren Adressierung der familialen Interaktion zu eruieren. In der Schule scheint ein Forschungsdesiderat immer noch darin zu liegen, die handlungspraktische Herstellung der Passungsverhältnisse selbst in den Blick zu nehmen (z. B. in Elterngesprächen und -beratungen usw.).
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Erkenntnispotentiale, die folglich auch Fragen nach den Mikroprozessen der (Re-) Produktion sozialer Differenz und Ungleichheit berühren, sollten gerade für den erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs von Interesse sein.
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Bildungsorientierungen oder Ordnungsbildungen? Forscherische Blicke auf Bildung in Familien in der meritokratischen Wissensgesellschaft Dominik Farrenberg Zusammenfassung
Der Beitrag setzt die auf familiale Bildungsorientierungen abzielende Forschungsperspektive der bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung ins Verhältnis zu einer regierungstheoretischen Forschungsperspektive, welche den gegenwärtigen Blick auf Bildung in Familien als Ausdruck gesellschaftlicher epistemischer Ordnungsbildungen interpretiert. Hierbei wird davon ausgegangen, dass der Fokus auf familiale Bildungsorientierungen zwar die Reproduktion von Ungleichheiten zu beschreiben vermag, jedoch vielfach unberücksichtigt lässt, dass die Bildungsbedeutsamkeit von Familien einen Normierungseffekt jener wirkmächtigen, bürgerlichen Ordnungsbildungen darstellt, die in der Verwobenheit von Familie, Bildung und meritokratischer Wissensgesellschaft sowohl eben jene Ungleichheiten stabilisieren als auch gleichzeitig die Familien selbst hierfür responsibilisieren.
1 Der gegenwärtige Blick auf Bildung in Familien Derzeitig sehen sich Familien mit hohen gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert. Zusätzlich zu ihrer Verantwortung für das materielle und leiblich-emotionale Wohlbefinden von Kindern werden sie im 21. Jahrhundert vermehrt in ihrer Bildungsbedeutsamkeit angerufen (vgl. Richter und Andresen 2012, S. 250; Fegter et al. 2015, S. 3; Kutscher und Richter 2011, S. 191). D. Farrenberg (*) Abteilung Aachen, Katholische Hochschule NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_4
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Diese Anrufung lässt sich unter den Vorzeichen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung als ‚meritokratische Wissensgesellschaft‘ unschwer als deren Ausdruck und Effekt deuten. Bildung fungiert als Antrieb, sowohl für die Umsetzung des meritokratischen Prinzips mittels des eigenen (Leistungs-)Vermögens Erfolg, Aufstiegschancen oder zumindest den Erhalt des Status Quo sicherzustellen (vgl. Solga 2008), als auch für die Generierung, Transformation und Anwendung von Wissen im Verständnis der entscheidenden gesellschaftlichen Ressource (vgl. die Beiträge in Müller und Stravoravdis 2007). Dabei ist der gegenwärtige Blick auf Bildung in Familien, so wie er das Interesse an Familie mit einer Idee von Bildung verbindet, sowohl hochnormativ als auch indifferent. Denn die Bildungsidee wird in der Regel nur indirekt und kaum offen im Verständnis einer eindeutigen Bestimmung kommuniziert. Bildungstheoretischen Überlegungen zufolge ist es Teil der paradoxalen Struktur des Bildungsbegriffs selbst, dass jener in seiner „semantische[n] Elastizität“ (Ehrenspeck und Rustemeyer 2016, S. 374) und in seiner kontinuierlichen Selbstüberschreitung ausschließlich als Differenz, d. h. als „Evokation des Abwesenden lebt“ (ebd., S. 376). Diskurstheoretisch gesprochen gibt die Rede von ‚Bildung in Familien‘ damit ein Beispiel für die „Produktion ‚leerer Signifikanten‘, das heißt inhaltlich unterbestimmter und höchst bedeutungsoffener Begriffe“ (Moebius 2009, S. 433), welche eben gerade dadurch machtvoll und produktiv sind, dass sie im Diskus vielfältig anschlussfähig und einsetzbar sowie für alle Diskursteilnehmenden irgendwie ausdeutbar und damit identifikationsstiftend sind. Entsprechend wird die „Leerstelle“ Bildung (Ehrenspeck und Rustemeyer 2016, S. 378) im gegenwärtigen Blick auf Bildung in Familien mit so unterschiedlichen Praktiken wie dem Vorlesen von Geschichten, der Unterstützung bei den Schulaufgaben, der Teilhabe an kulturellen Angeboten wie Museums- und Theaterbesuchen, der Begleitung und Moderation von nachhaltigen Bildungsentscheidungen im Kontext der Bildungslaufbahn sowie insgesamt dem Schaffen einer lernanregenden Umgebung zusammengebracht. Dieser Heterogenität zum Trotz wird Bildung darin als ein Sujet bürgerlicher und damit irreduzibel distinktiver, soziokultureller Praktiken erkennbar. Indem der gegenwärtige Blick auf Bildung in Familien implizit bildungsbürgerliche Ideale adressiert, wird eine Norm installiert, welche die einzelne Familie allein schon aufgrund ihres habituellen Selbstverständnisses sowie ihrer Platzierung innerhalb des sozialen Raums – d. h. aufgrund ihrer soziokulturellen und sozioökonomischen Zugehörigkeit zu einem bestimmen sozialen Milieu – als mehr oder weniger gebildet ausweist (vgl. Bourdieu 2001a; 2001c; Ecarius und Wahl 2009, S. 21 ff.). Was in einigen (bürgerlichen) Familien ohnehin Regel der tagtäglichen soziokulturellen Praxis ist, findet in vielen anderen (nicht-bürgerlichen)
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Familien nicht nur (noch) nicht statt, sondern ist vielmehr auch nicht oder nur mit hohem Anstrengungen erreichbar, da diese Form der Bildungsbedeutsamkeit in der ordnungsbildenden Praxis dieser Familien nicht angelegt ist. Entsprechend lassen Familien unter dem gegenwärtigen Blick auf Bildung unterschiedliche Bildungsorientierungen erkennen. Diese familialen Bildungsorientierungen stehen im Fokus einer ungleichheitssensiblen, vorrangig erziehungswissenschaftlichen Forschungsperspektive1, welche im 21. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und sich als Reaktion auf den gegenwärtigen Blick auf Bildung in Familien lesen lässt (vgl. exemplarisch Büchner und Brake 2006a; Ecarius und Wahl 2009; Farrenberg 2013; Thiersch 2014). Vorliegend wird dabei die These vertreten, dass diese Forschungsperspektive zwar einerseits die Ungleichheiten zu analysieren vermag, die infolge der auf Bildung fokussierten Inblicknahme von Familien zutage treten. Andererseits jedoch lässt sie dabei die wirkmächtigen, bürgerlich gesellschaftlichen Ordnungsbildungen zumeist unberücksichtigt, welche in der Verwobenheit von Familie, Bildung und meritokratischer Wissensgesellschaft diskursiv aufgerufen und transportiert werden und hierdurch jene Ungleichheiten erst bedeutsam werden lassen und stabilisieren. Der vorliegende Beitrag reflektiert vor dem Hintergrund dieser These den gegenwärtigen Blick auf Bildung in Familien aus einer regierungstheoretischen Perspektive, welche (u. a. gesellschaftliche, wissenschaftliche und familiale) Praktiken als epistemische Ordnungsbildungen begreift, mittels derer Akteurinnen und Akteure wie beispielsweise Familien normiert, normalisiert, kontrolliert und diszipliniert und hierüber regiert werden (vgl. Foucault 2005, S. 28; 2008, S. 1647; Farrenberg 2018, S. 50 ff.). Seinen Anfang nimmt der Beitrag in der derzeitigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion über Bildung in Familien. Fokussiert wird dabei die soeben skizzierte Forschungsperspektive einer ungleichheitssensiblen „bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung“ (Thiersch 2014, S. 46), welche sich für die Herausbildung unterschiedlicher, milieuabhängiger Bildungsorientierungen in Familien interessiert. Zur Explikation der hier formulierten These wird die für diese Forschungsperspektive charakteristische Konstruktionsweise des Forschungsgegenstandes einer kritischen Reflexion unterzogen. Dies geschieht am Beispiel einer eigenen, in dieser Forschungsperspektive argumentierenden Forschungsarbeit (Abschn. 2).
1Der
hiermit angesprochene Forschungszusammenhang zeigt sich durchlässig hinsichtlich seiner disziplinären Verortung. Zwar dominieren Forschungen, die genuin der Erziehungswissenschaft zuzurechnen sind, darüber hinaus gehören ihm jedoch auch familien- und bildungssoziologische Studien an.
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Ausgehend von den Leerstellen, die diese Kritik offenbart, wird der gegenwärtige Blick auf Bildung in Familien sodann in eine regierungstheoretisch perspektivierte Analyse überführt. Anhand einiger heuristischer Schlaglichter werden Familie, Bildung und meritokratische Wissensgesellschaft darin als miteinander verwobene Elemente weit verästelter, bürgerlicher Ordnungsbildungen sichtbar (Abschn. 3). Ein kurzes Resümee beschließt den Beitrag (Abschn. 4).
2 Bildung in Familien als Bildungsorientierungen 2.1 Bildung in Familien im Kontext erziehungswissenschaftlicher Forschung Nachdem erziehungswissenschaftliche Inblicknahmen der Familie lange Zeit im Verständnis eines Erziehungshaushaltes (vgl. Mollenhauer et al. 1975) oder einer primären Sozialisationsinstanz (vgl. Hurrelmann 2006, S. 127) konturiert wurden, richtet sich der Blick in den vergangenen fünfzehn Jahren zunehmend auf die Familie als Bildungsort. Zwar gilt einerseits als strittig, inwiefern der Familie eine (eigene) Bildungsfunktion im engeren Sinne zugesprochen werden kann– vollzieht sich das Aufwachsen in der gesellschaftlichen (Post-)Moderne doch zunehmend in institutionellen (Aus-)Bildungseinrichtungen, welche sich, anders als die Familie, an einem expliziten Bildungsauftrag orientieren (vgl. Böhnisch 2010, S. 340). Andererseits jedoch fand eine Ausweitung des Bildungsbegriffs statt, die, unter anderem eingespeist durch die Akzentuierungen der EU-Strategie des ‚Lebenslangen Lernens‘, in Form einer Unterteilung in formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse und -Orte eine inhaltliche Ausdifferenzierung und Neuordnung erfuhr (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, S. 9 f.). Gerade das Konzept informeller Bildung erlaubt es, alltägliche Gelegenheitsstrukturen, Widerfahrnisse und Routinen gleichermaßen als Bildungsprozesse zu definieren und damit die soziokulturelle Praxis insgesamt zum Ausgangspunkt von Bildung zu machen. Entsprechend lässt sich auch die transgenerationale Weitergabe von Kultur in Familien als Bildungsprozess verstehen (vgl. Stecher und Zinnecker 2007). Familie ist damit nun als Bildungsort perspektivierbar (vgl. Büchner und Brake 2006a; Ecarius und Wahl 2009, S. 14 ff.). Diese veränderte Optik ist nicht nur Abbild der Konjunktur unterschiedlicher erziehungswissenschaftlicher Kernbegriffe. Sie ist vielmehr ein Spiegelbild der aktuellen gesellschaftlichen Diskurse (vgl. Karsten und Otto 1987, S. IX; Müller und Krinninger 2016, S. 146). In ihr spiegeln sich Anforderungen
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an- und Normalitätsvorstellungen von Familie. Nicht zufällig stellt die Bildung in Familien ein derzeit stark nachgefragtes Forschungsinteresse dar, welches vor allem über das Produzieren und Analysieren von empirischen Daten zu bestehenden Bildungsungleichheiten aktuell gehalten wird. Es lässt sich vielmehr rückbinden an die epistemische Ordnung einer postindustriellen meritokratischen Wissensgesellschaft. Spätestens seit der Veröffentlichung der für Deutschland katastrophalen Ergebnisse der ersten PISA-Vergleichsstudie sind die Bemühungen beachtlich, empirische Daten über die Bildung in Familien zu erzeugen und damit Indikatoren, Prävalenzraten und Zusammenhänge bildungsbezogener Ungleichheiten auszuweisen. Neben einer vornehmlich quantitativ operierenden Forschungsrichtung, welche die expliziten Bildungsentscheidungen in Familien, etwa bezogen auf Schul-, Studien- und Berufswahl als „Ergebnis einer subjektiven Bewertung von Erfolgswahrscheinlichkeit sowie [von] Nutzen und Kosten der Folgen“ (Kotitschke und Becker 2015, S. 744) untersucht und damit auf ein rationales Entscheidungshandeln in Familien abstellt, nimmt eine zweite Forschungsperspektive für sich in Anspruch, die impliziten Orientierungen von Familien und ihren Mitgliedern sowie deren inkorporierte Erfahrungen, Einstellungen und Gewohnheiten über die Teilnahme an einer entsprechenden sozialen bzw. kulturellen Praxis aufzuschließen. Auf der Grundlage der empirischen und methodologischen Arbeiten Pierre Bourdieus wird Bildung in Familien hier in Gestalt voneinander unterscheidbarer Bildungsorientierungen interpretierbar, welche sich in Abhängigkeit zur familialen Kapitalausstattung, zur Platzierung der Familie im sozialen bzw. symbolischen Raum und vor allem zum familialen Habitus generieren (vgl. Bourdieu 1987; 1992). In dieser methodologischen Ausrichtung einer ‚bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung‘ werden konkrete Bildungsentscheidungen lediglich als ein Element von sehr viel breiter angelegten und habituell verankerten Bildungsorientierungen betrachtet. Im Folgenden soll diese Forschungsperspektive und vor allem die Art und Weise, wie Sie ihren Gegenstand konstruiert, in Augenschein genommen werden.
2.2 Zum Erforschen familialer Bildungsorientierungen Als eine der ersten im deutschsprachigen Raum erkundet die Studie „Bildungsort Familie. Transmission von Bildung und Kultur im Alltag von Mehrgenerationenfamilien“ (Büchner und Brake 2006a) die spezifischen Bildungsleistungen von Familien. Familiale Transmissionsprozesse werden dort als ein „habitualisiertes Tun in Alltagsroutinen“ (Büchner und Brake 2006b, S. 255) rekonstruiert,
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welches Bildung und Kultur in einem Zusammenspiel von sichtbaren wie unsichtbaren Bildungsleistungen hervortreten lässt (vgl. Brake 2006). In zahlreichen weiteren Forschungsarbeiten wie etwa in der Studie „Bildungshabitus und Schulwahl“ (Thiersch 2014) erfolgt eine Konzentration auf die kulturelle Passung von Schule, Familienhabitus sowie den Bildungsbiographien der einzelnen Familienmitglieder, sodass die familialen Bildungsleistungen zum einen in Gestalt unterschiedlicher Bildungsorientierungen- sowie zum anderen über die Relation zur Schule als Bildungsungleichheiten sichtbar werden. Ausgehend von den verschiedenen Passungsverhältnissen zwischen Familie und Schule lassen sich milieuspezifisch drei verschiedene Familienhabitus unterscheiden (vgl. Ecarius und Wahl 2009, S. 26 ff.), welche sich als ‚Habitus der Bildungselite‘, ‚Habitus der Strebenden‘ und ‚Habitus der Bildungsnotwendigkeit‘ beschreiben lassen (vgl. Thiersch 2014, S. 47 f.). An diese Milieutypik schließen auch die Ergebnisse der eigenen, explorativ angelegten Forschung „Bildungsorientierungen als Charakteristika eines intergenerationalen Familienhabitus“ (Farrenberg 2013) an. Sie wird im Folgenden nun detaillierter dargestellt, um die Konstruktionsweise des Forschungsgegenstandes, wie sie für die Perspektive ‚bildungs- und habitusbezogener Familienforschung‘ kennzeichnend ist, exemplarisch zu veranschaulichen. Ziel der Forschung war es, intergenerationale Homologien und Differenzen in den Bildungsorientierungen von Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft herauszuarbeiten. Hierfür wurden Kinder und Eltern in sieben Familieninterviews gemeinsam zu ihren Bildungsaspirationen, Bildungsbiografien und Berufswahlentscheidungen befragt. Im Zuge der Auswertung der Interviews gemäß der Dokumentarischen Methode zeigten sich sowohl in den explizit geäußerten Bildungsaspirationen und Berufswahlentscheidungen, als auch in den implizit aufscheinenden rekonstruierten Orientierungen, strukturierte Dispositionen und strukturierende Praktiken eines je spezifischen Familienhabitus (vgl. zur Methodik der Forschung Farrenberg 2013). Innerhalb der Familien ließen sich über Geschlechts- und Generationszugehörigkeiten hinweg gemeinsame Bildungsorientierungen rekonstruieren. Des Weiteren konnten die sieben analysierten Fälle zu drei Typen einer ‚Orientierung der Bildungskonformität‘,2 einer ‚Orientierung der Bildungsbeflissenheit‘ und einer ‚Orientierung der
2Aufgrund
der hohen inhaltlichen Übereinstimmung mit einem namensgleichen Typus aus der Studie „Bildungshabitus und Übergangserfahrungen bei Kindern“ von Werner Helsper et al. (2009) wurde diese Typenbezeichnung für die vorliegende Typik familialer Bildungsorientierungen übernommen.
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Bildungsselbstverständlichkeit‘ verdichtet werden (vgl. im Folgenden und vertiefend hierzu Farrenberg 2013). Der Typus ‚Orientierung der Bildungskonformität‘ lässt eine pragmatischfunktionale Bildungsorientierung erkennen. Einerseits wird versucht Konformität zu den Anforderungen und Regularien der Bildungsinstitutionen herzustellen. Eine abgeschlossene Berufsausbildung gilt hierbei als Ausweis einer gelungenen Erziehung der Kinder. Andererseits lassen sich nur in einem überschaubaren Rahmen Bildungserfolge über Schulleistungen und deren Zertifizierung herleiten ebenso wie innerhalb der Familie nur wenig Unterstützungsmöglichkeiten für eine Förderung der Schulleistungen vorliegen. In ihrer Bildungskonformität wird sichtbar, dass den Familien die Allokations- und Auswahlfunktion von Schule sehr bewusst ist, gleichwohl sie nicht hinreichend kulturelles Kapitel aufbringen (können), um dies in Erfolge umzuwandeln. Gleichzeitig wird in den Familien ihr soziales Kapital in Gestalt ‚familialer Verbundenheit‘ in einer derart expressiven Weise hervorgehoben, dass diese als eine die Familien nachhaltig strukturierende Orientierung wirkt. Anders ist der Typus ‚Orientierung der Bildungsbeflissenheit‘ gekennzeichnet von einem Bildungsstreben, welches nicht allein p ragmatisch-funktionalen Gesichtspunkten folgt, sondern sich mehr oder weniger explizit an ideell-humanistischen Vorstellungen orientiert. Auch diese Bildungsorientierung ist von Ambivalenzen und Spannungen gekennzeichnet. Dem postulierten Selbstzweck humanistischer Allgemeinbildung steht die Konfrontation mit einem schulischen Leistungsdruck gegenüber, der über die Bildungsaspirationen, welche die Elterngeneration auf die Generation der Heranwachsenden projiziert, weiter verstärkt wird und einen zumindest schwelenden und immer wieder aufflammenden Konflikt im familialen Alltag markiert. Einerseits unterstützt die ideologische Nähe zu einem humanistischen Bildungsentwurf eine Passung zu den meritokratischen Leistungserwartungen der Bildungsinstitutionen. Andererseits wird der Selbstzweck humanistischer Allgemeinbildung durch die alltäglichen schulleistungsbezogenen Konflikte und die Bildungsanstrengungen, die erforderlich sind, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden, immer wieder infrage gestellt. Demgegenüber repräsentiert der Typus ‚Orientierung der Bildungsselbstverständlichkeit‘ das Vermögen, die über die Bildungsinstitutionen adressierten Leistungserwartungen größtenteils ohne Anstrengungen oder größere Aufwendungen einzulösen, wobei die Bildungsorientierung von der selbstsicheren Gewissheit getragen wird, die (hohen) beruflichen Ziele nicht nur erreichen zu können, sondern tatsächlich erreichen zu werden. Dabei ist den Familienmitgliedern in paradoxer Weise ebenso ihre privilegierte Situation bewusst, wie sie gleichzeitig eine postmaterielle Kritik formulieren, welche der Bedeutungshoheit von Zertifikaten formeller Bildung
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und dem damit verbundenen Leistungsstreben eine Absage erteilt. Obwohl das eigene kulturelle Kapitel seinen Wert im sozialen Raum vor allem über die Gratifikationen der Bildungsinstitutionen erhält, wird diese Form der Auszeichnung (zumindest vordergründig) abgewertet. Schon in der Sekundarstufe I werden Inhalte und Anforderungen einzelner Schulfächer in Bildungsangebote übersetzt, die dann gemäß den jeweiligen eigenen Interessen engagierter oder weniger engagiert wahrgenommen werden. Eine Verortung der einzelnen Familien im sozialen Raum, die anhand der Angaben zu Bildungsabschlüssen und Lohnerwerbstätigkeiten in der Elterngeneration vorgenommen wurde, verdeutlicht, dass die hier dargestellte Typik familialer Bildungsorientierungen mehr oder weniger aufgeht in einer Milieutypik sozioökonomischer und soziokultureller Zugehörigkeiten. Eine heuristische Einteilung der Familien in das statistisch erhobene Modell, welches Michael Vester (vgl. Vester 2008, S. 51) für die sozialen Milieus in Westdeutschland aufgestellt hat, zeigt an, dass die Familien, die dem Typus ‚Orientierung der Bildungskonformität‘ zugrunde liegen, in der unteren Mittelschicht der ‚respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus‘ verortet werden können, während die Familien, welche die Typen ‚Orientierung der Bildungsbeflissenheit‘ und ‚Orientierung der Bildungsselbstverständlichkeit‘ fundieren, in den ‚oberen bürgerlichen Milieus‘ verortbar sind (vgl. Farrenberg 2013). Analog zu den Erkenntnissen Pierre Bourdieus sowie zu denen einer Vielzahl weiterer Studien der ‚bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung‘ bildet sich auch hier ab, dass familiale Bildungsorientierungen mit den sozioökonomischen und soziokulturellen Zugehörigkeiten der Familien korrespondieren und dass die soziale Herkunft, vermittelt über die Dispositionen des Familienhabitus, entsprechend ihrer Passgenauigkeit zu den Anforderungen des Bildungssystems Bildungserfolge wahrscheinlich oder unwahrscheinlich werden lässt, sodass von herkunftsbezogenen Bildungsungleichheiten gesprochen werden kann (vgl. Bourdieu 1987; 2001a; 2001c; Bourdieu und Passeron 1971). Beispielhaft machen die hier dargestellten Erkenntnisse auf eine Konstruktion des Forschungsgegenstandes aufmerksam, wie sie für die auf Bildungsorientierungen abstellende ‚bildungs- und habitusbezogene Familienforschung‘ charakteristisch ist. Indem der Fokus auf eine Rekonstruktion der Schemata der Familienhabitus gelegt wird, welche dann als Bildungsorientierungen analysiert, verglichen und typologisiert werden, wird die Familie in ihrer Bildungsbedeutung unmittelbar angesteuert und als Gegenstand von Forschung konzipiert. Bildungsungleichheiten werden damit – auch wenn methodologisch-argumentativ auf das
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Passungsverhältnis zu den Bildungsinstitutionen und auf die Milieugebundenheit des Familienhabitus abgestellt wird – nicht mit Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Ordnungen, sondern mit Blick auf die Familie selbst rekonstruiert. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Normen, Regeln sowie Verantwortungszuschreibungen, welche an Familie andressiert werden, bleiben hingegen weitestgehend unbeleuchtet. Damit konzentriert sich die Analyse auf die Effektseite und die Reproduktion von Ungleichheiten, während die Seite der diese Effekte erzeugenden Ungleichheitsproduktion kaum Berücksichtigung findet. Zwar erlaubt der Blick auf Bildung in Familien, so wie er in dieser Forschungsperspektive aufgenommen wird, Bildungsungleichheiten zu analysieren und zu thematisieren, jedoch geraten die gesellschaftlichen Ordnungen und Verhältnisse, welche diese Ungleichheiten begründen und legitimieren, selbst nicht in den Fokus der Analyse. Vor diesem Hintergrund wird vorliegend vorgeschlagen, die Perspektive der ‚bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung‘ um eine gesellschaftskritischere Perspektive zu ergänzen, welche dazu imstande ist, die gesellschaftlichen Ordnungsbildungen selbst in den Blick zu nehmen, die an der Hervorbringung von Bildungsungleichheiten beteiligt sind. Im folgenden Abschnitt wird daher der Versuch unternommen, Bildung in Familien sowie den gegenwärtigen Blick hierauf als miteinander verwobene epistemische Ordnungsbildungen zu fassen. Dies kann an dieser Stelle lediglich exemplarisch in Form einiger heuristischer Schlaglichter erfolgen. Ordnungsbildungen lassen sich dabei sowohl in ihrer diskursiven Verwobenheit analysieren, als auch bezogen auf die subjektivierenden und objektivierenden Effekte, mit denen sie Akteurinnen und Akteure wie beispielsweise Familien adressieren, positionieren und (de-)legitimieren und jene damit als Teil der jeweiligen Ordnung konstituieren (vgl. Kessl 2011; Farrenberg 2018, S. 57 ff.). Mit dem Begriff der Ordnungsbildungen wird dabei der Annahme Rechnung getragen, dass eben jene fortlaufend (re-)produziert und wiederholt hervorgebracht werden. Auch wenn sich Ordnungsbildungen gerade aus ihrer diskursiven Verwobenheit heraus machtvoll reproduzieren, werden die Topoi ‚Familie‘, ‚Bildung‘ und ‚meritokratische Wissensgesellschaft‘ zwecks einer besseren analytischen Darstellbarkeit im Folgenden einzeln nacheinander anvisiert. Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes wird dabei von der methodologischen Vorannahme angeleitet, dass sich über die repetitive Teilnahme an einer spezifisch situierten und insofern geordneten Praxis Normen und Normalitäten in Familien einschreiben (vgl. Foucault 1994). Die Familie selbst wird aus dieser Perspektive betrachtet nur indirekt zum Forschungsgegenstand.
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3 Bildung in Familien als Ordnungsbildungen 3.1 Ordnungsbildungen im Kontext von Familie Eindrucksvoll schildert Jacques Donzelot am Beispiel Frankreichs des 19. und 20. Jahrhunderts, wie im Zusammenspiel der Emanzipationsbewegung, der Herausbildung von Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie den damit einhergehenden Familienpolitiken sukzessive eine neue „Ordnung der Familie“ (Donzelot 1980) hervorgebracht wird, die zumindest in ihrer grundsätzlichen „sozialen Architektur“ (ebd., S. 106) auf die zeitgenössischen bundesrepublikanischen Verhältnisse übertragbar ist. An die Stelle der einstigen patriarchalen Autorität des Vaters über die Familie treten Rechtsvorschriften und Maßnahmen der Familienförderung, welche Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, den Erhalt von Privateigentum, eine Förderung des (vorrangig kindlichen) Wohlergehens und Unterstützung bei Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsaufgaben offerieren, solange sich die Familie nur am gesellschaftlichen Ideal eines moralisch-sittlichen, ökonomisch-nachhaltigen und kulturell-bildungsbürger lichen Familienlebens ausrichtet. Über das Schaffen von Anreizen sollen Familien aller Klassen und Milieus zu einer Selbstführungsweise angeleitet werden, welche die in Teilen vorherrschende Zügellosigkeit und Sittenlosigkeit der Erwachsenen und die Verwahrlosung der Kinder unterbindet und sich an sittlicher Enthaltsamkeit, Fleiß, Produktivität und Aufstiegswillen orientiert. Mit diesem Übergang „von einer Regierung der Familien zu einer Regierung durch die Familie“ (ebd., S. 104) wird die Familie zu einem „Mechanismus“ (ebd., S. 106), welcher bewirkt, dass individuelle Interessen zurückgestellt und hinter einem Familieninteresse versammelt werden, welches wiederum mit dem gesellschaftlichen Interesse zusammenfällt, nach Ordnung, Zusammenhalt und Aufstieg zu streben (vgl. ebd., S. 103 ff.). Diese bis heute wirksame Neuordnung der Familie normiert familiale Werthaltungen und sensibilisiert für eine Orientierung an Bildung. Nach dem Vorbild eines ursprünglich bürgerlichen Familienentwurfes stellt sie die Sorge um das gelingende Aufwachsen des Kindes, um sein Wohlergehen, seine Entwicklung und Förderung und um seine erfolgreiche Bildungsbiographie in den Mittelpunkt (vgl. Schmid 2014, S. 42 ff.). Aktuell zeigt die ambivalente Diskussion um die diskursive Figur der sogenannten ‚Helikopter-Eltern‘ – welche allzeit über ihren Kindern kreisen, um sie vor Gefahren zu schützen und ihnen zu Bildungserfolgen zu verhelfen – dass eine solche Erziehungspraxis zwar vielfach als übersteigert, kontrollierend und überengagiert wahrgenommen wird, gleichzeitig wirkt jedoch allein diese Debatte insofern ordnungsbildend, als hierüber implizit Bezug auf
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das normativ aufgeladene (bürgerliche) Idealbild von Familie genommen wird. Die Vorstellung von Eltern, welche optimale Lern- und Bildungsangelegenheiten für ihre Kinder vorhalten sowie Fürsorge und Förderung in den Mittelpunkt der familialen Aktivitäten rücken, schreibt sich somit erneut als Leitvorstellung guter Elternschaft ein (vgl. Fegter et al. 2015, S. 4; Nave-Herz 2015, S. 85). Dass sich das Aufwachsen junger Menschen in zunehmendem Maße in öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen fernab der Familie vollzieht, begrenzt die normierende Wirkmacht, die von der Adressierung einer verantwortungsvollen ‚guten‘ Elternschaft ausgeht, dabei in keiner Weise. Im Gegenteil erlaubt die Zunahme an Kontakten zwischen den Familien und den Lehr- und Fachkräften des öffentlichen Bildungs- und Erziehungswesens, Eltern nun ganz individuell in die Pflicht für die Förderung ihrer Kinder zu nehmen und Verantwortungszuschreibungen individualisiert auf der Basis der jeweilig vorherrschenden Bildungsleistung der Familie zu adressieren (vgl. Fegter et al. 2015, S. 4). So wie der normierende und kontrollierende Blick auf Bildung in Familien hier exemplarisch sichtbar wird, findet insgesamt „eine stärkere Veröffentlichung von Fragen des privaten Lebens statt, die zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Diskurse, medialer Inszenierungen und politischer Steuerungsversuche werden“ (Kutscher und Richter 2011, S. 196). Indem die Familie einen wesentlichen „Bestandteil der sozialen Ordnung einer Gesellschaft“ (Karsten und Otto 1987, S. IX) verkörpert und dabei „gleichzeitig problemhafte Aspekte, die den Prozeß [sic] der Modernisierung begleiten“ (ebd.) zu bündeln versteht, avanciert sie zum vorrangigen Zielobjekt politischer Interventionen und Programme (vgl. Karsten und Otto 1987, S. XIX ff.). Hierbei lassen sich durchaus milieuspezifische Unterscheidungen in der Art der Adressierung ausmachen. „So liegt der Schwerpunkt der Programme, die Eltern eines ‚mittleren Sozialmilieus‘ fokussieren, eher darauf, Wahlmöglichkeiten zu stärken und Selbstverwirklichung sowohl der Eltern als auch der Kinder zu eröffnen, während Konzepte, die auf Eltern ‚unterer Sozialmilieus‘ abzielen, eher grundlegende Notwendigkeiten sowohl der Versorgung durch Erwerbsarbeit als auch der Bildungsteilhabe im Blick haben“ (Kutscher und Richter 2011, S. 197). Zusammenfassend ist jedoch zu konstatieren, dass Eltern milieuübergreifend als verantwortlich für die Bildungsleistung und das Wohlergehen ihrer Kinder adressiert werden, wobei sie dieser Zuschreibung von Verantwortung in Abhängigkeit ihrer Ressourcenausstattung in unterschiedlicher Weise begegnen (vgl. ebd.). ‚Gute Elternschaft‘ wird damit – gleich den Erkenntnissen der ‚bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung‘ – auch zu einer Frage der familialen ökonomischen und kulturellen Kapitalausstattung.
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3.2 Ordnungsbildungen im Kontext von Bildung Nicht nur das Familienideal und die damit verbundenen Vorstellungen von guter Elternschaft, sondern auch die Bildungsidee selbst haben ihre Herkunft in tradierten bürgerlichen Vorstellungen (vgl. Schmid 2014, S. 42 ff.; Ricken 2006, S. 205). So ist unstrittig, „dass ‚Bildung‘ insgesamt als eine historisch an die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland gebundene und insofern spezifisch moderne Form“ (Ricken 2006, S. 205) der Subjektivierung und Objektivierung gelesen werden kann. Bildung entfaltet sich zu einer gesellschaftlichen Leitfigur, welche sich als Norm und Normalität in die Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse der Subjekte einschreibt (vgl. ebd.): Erstens ist die Orientierung an Bildung sowohl Ausdruck des gesellschaftlich ‚Gesollten‘ als auch des unhinterfragt als selbstverständlich Rationalisierbaren, wenn es darum geht, sich zur Welt ins Verhältnis zu setzen. Verstärkt wird die Wirkmacht dieser Wissensordnung durch das meritokratische Versprechen, über entsprechende Bildungsleistungen gesellschaftliche Teilhabe, Aufstieg und möglicherweise Wohlstand generieren zu können (vgl. Solga 2008). Zweitens strukturiert die „Ordnung der Bildung“ (Ricken 2006) Anderenverhältnisse insofern, als die je spezifische familiale Bildungsorientierung im Vergleich mit anderen Familien ebenso wie im Kontakt mit dem Bildungssystem auf den Prüfstand gestellt wird (vgl. Fegter et al. 2015, S. 4). Ob über symbolisches Kulturkapital in Form von Leistungsbewertungen und Bildungszertifikaten oder über die vermeintlichen Bildungsgehalte soziokultureller Praktiken – wie sie beispielsweise in Form von Diskussionen über die Tagespolitik, Museumsbesuchen oder dem Fachsimpeln über Literatur in Erscheinung treten –, als Ordnungsbildungen entfalten die unterschiedlichen Bildungsorientierungen eine objektivierende Wirkmacht, indem beständig ein vergleichendes Zonen zwischen einem ‚Mehr-‘ und ‚Weniger-Gebildet-Sein‘ aufgerufen wird. Forciert wird dies einmal mehr in den bewertenden und zertifizierenden Praktiken der Schule (vgl. Bourdieu 2001a; 2001b). Drittens schreibt sich die Ordnung der Bildung in Gestalt der je eigenen (familialen) Bildungsaspirationen, Bildungsanforderungen und Bildungsleistungen subjektivierend in das Selbstverhältnis der einzelnen Familienmitglieder ein. Grundsätzlicher noch ordnet die Ordnung der Bildung die gesellschaftliche Formation des Sozialen neu. An die Stelle eines solidarisch verantworteten ‚Gemeinsamen‘, in dem sich der Mensch in erster Linie als Teil von Familie und Gemeinwesen wahrnimmt, tritt das Konstrukt des ‚Allgemeinen‘. Der Mensch wird zunehmend dahingehend subjektiviert und objektiviert, dass er sich als ein nach Individualität und Selbstentfaltung strebendes Subjekt generiert, welches anstelle von Gemeinschaft eine eher allgemeine Beziehung zu den unterschied-
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lichen gesellschaftlichen Instanzen und Akteurinnen und Akteuren unterhält (vgl. Ricken 2006, S. 284). Auch wenn Beziehungen innerhalb der Kernfamilie hiervon zumeist unberührt bleiben, verändert diese Neuordnung des Sozialen das Normen konstituierende Verhältnis von Familie und Gesellschaft. Beispielhaft hierfür lässt sich die sehr präsente Orientierung ‚familialer Verbundenheit‘ des hier vorgestellten Typus’ ‚Orientierung der Bildungskonformität‘ als Ausdruck konkurrierender Ordnungsbildungen lesen, bei der die Normen des individualistischen modernen Bildungssubjektes in Konflikt geraten mit den Normen der Familie als einer auf Verbundenheit basierenden Solidargemeinschaft.
3.3 Ordnungsbildungen im Kontext meritokratischer Wissensgesellschaft Zunächst ist die Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft, eine (meritokratische) Wissensgesellschaft zu sein, einerseits erst einmal nur eine „Behauptung“ (Dörpinghaus 2007, S. 35), welche sich zunehmend als „Mythos“ (Liessmann 2017) entlarvt und „(ideologie-)kritischer Befragungen“ (Ricken 2006, S. 15) zu stellen hat. Andererseits lassen sich mit der stark gesunkenen „‚Halbwertszeit‘ des Wissens“ (Ruhloff 2007, S. 22), der Hervorhebung der praktischen Funktion von Wissen Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen sowie der damit in Verbindung stehenden Machbarkeitsillusion, über den Einsatz des ‚richtigen‘ Wissens den Faktor Natur beherrschen und soziale Faktoren kontrollieren zu können, auch wesentliche Akzente benennen (vgl. Ruhloff 2007, S. 21 ff.), welche für die Ordnungsbildungen der Wissensgesellschaft kennzeichnend sind. Des Weiteren dokumentiert sich in diesen Ordnungsbildungen vor allem eine veränderte „Zeitgestalt von ‚Bildung‘“ (ebd., S. 23): „Unter dem Leitbild der Wissensgesellschaft wird aus der Allmählichkeit der Bildung und der pädagogischen Rechtzeitigkeit, das ‚just in time‘ des Lernens mit darauf abgestimmtem Coaching“ (ebd., S. 28). Bezogen auf die Bildung in Familien schreiben sich diese Ordnungsbildungen ein als Sorge, wichtige Lerngelegenheiten zu verpassen und möglicherweise gesellschaftlich hierfür responsibilisiert zu werden (vgl. Fegter et al. 2015, S. 3 f.; Nave-Herz 2015, S. 85). Exemplarisch wird dies vor allem am zuvor vorgestellten Typus ‚Orientierung der Bildungsbeflissenheit‘ deutlich. Dabei lassen die Verantwortung transportierenden Anrufungen der Familie vergessen, dass die veränderte Zeitgestalt selbst ein Resultat machtvoller Ordnungsbildungen darstellt. „Das Problem des Zeitdruckes und des beschleunigten Wandels ist keines einer physikalischen Zeit,
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sondern vielmehr eines, das mit der ‚Regierung‘ von Menschen, Normierung und Kontrolle von Lebenszeitverläufen und Formen der Organisation und Steuerung sozialer Verhältnisse zusammenhängt“ (Dörpinghaus 2007, S. 35). Beispielhaft deutlich wird eine solche Regierung, Normierung und Kontrolle in der Aktivierungsrhetorik des EU-Strategiepapiers zum Lebenslagen Lernen: „Leben und arbeiten in der Wissensgesellschaft erfordert aktive Bürger, die selbstmotiviert ihre eigene persönliche und berufliche Entwicklung in die Hand nehmen“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, S. 20). Dabei läuft diese Aktivierung zusammen mit einer Betonung von Wettbewerbsfähigkeit, welche die Weiterqualifizierung von Einzelnen, Familien, Regionen und Staaten(-Gemeinschaften) einem Zugriff durch neoliberale Ordnungsbildungen aussetzt (vgl. ebd., S. 18 ff.). Lernen und Bildung „werden unter den Gesichtspunkt marktabhängiger Produktivität gestellt“ (Ruhloff 2007, S. 29 f.). Gemäß der meritokratischen Leitidee werden soziale Ungleichheiten hierbei in individuelle Unterschiede transformiert, „die Bildung, Verdienst und Leistung honorieren, um so individuelle Aufstiegshoffnungen und -bemühungen als Anreize für immerwährende Lernprozesse seitens der Gesellschaftsmitglieder zu stimulieren und die vorhandenen Bildungstalente und -ressourcen möglichst umfassend zu aktivieren“ (Solga 2008, S. 22). Bildungserfolge werden als Ausdruck individuellen Vermögens interpretiert, statt dass ihre Korrespondenz mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse, Ethnie oder einem Geschlecht thematisierbar werden (vgl. ebd., S. 28 f.). Dabei stellt das meritokratische Versprechen durch Eigenleistung den Aufstieg verwirklichen zu können nach wie vor eine „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu und Passeron 1971) dar – „Jeder könnte, aber nicht alle können“ (Bröckling 2002). Die Frage, die sich darin mitteilt, lautet: Welche Allokationsund Auswahlmechanismen greifen, wenn sich alle gleichermaßen anstrengen? Vordergründig mögen das meritokratische Leistungsversprechen und die Allokation durch den regulativen Markt angesichts dieser Frage in einen Widerspruch geraten. Doch bei eingehenderer Betrachtung ist diese Widersprüchlichkeit bereits dem meritokratische Leitbild selbst inhärent: Zwar suggeriert es einerseits die Belohnung von Fleiß, anderseits greift es jedoch ebenso auch auf biologische Begabungsunterschiede zurück, welche argumentativ quasi an die Stelle milieuabhängiger Bildungsorientierungen treten (vgl. Solga 2008, S. 22 ff.). Unter allen ‚Fleißigen‘ setzen sich demnach vorrangig die ‚natürlich begabten Fleißigen‘ durch. So wie das meritokratische Versprechen die Verantwortlichkeit für den Bildungserfolg individualisiert subjektiviert es Familien in Form eines endlosen Regresses, sich nur noch mehr anzustrengen, um schlussendlich Erfolge für sich verbuchen zu können. Hierbei stehen meritokratisches Versprechen und neoliberaler Marktmechanismus keinesfalls in einem Wider-
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spruch zueinander. Vielmehr ergänzen und verstärken sie sich in dialektischer Weise: Während das meritokratische Versprechen die Radikalität der allgemeinen und höchst unsolidarischen Gesetzlichkeit der Märkte zu beschwichtigen vermag, springt der Wettbewerbsgedanke neoliberaler Ordnungsbildungen hilfreich zur Seite, um die Angewiesenheit der meritokratischen Argumentationsweise auf natürliche Begabungsunterschiede umlenken zu können auf das Prinzip der Chancengleichheit. Dabei operieren die meritokratischen und neoliberalen Ordnungsbildungen insofern auf der Basis bürgerlicher Normen und Normalitätsvorstellungen, als sie sich der „Ideologie des bürgerlichen Individualismus“ (Meisenheimer 2009, S. 54) bedienen. Angesprochen ist hierbei vor allem die Selbstregierung moderner Bildungssubjekte „alles und ihr Glück hinge allein von ihnen selbst ab“ (ebd.). Diese „illusorische Vorstellung ihrer Unabhängigkeit“ (ebd., S. 55) verweist erneut auf die subjektivierende Responsibilisierung, mit der auch Familien in der Verwobenheit der verschiedenen Ordnungsbildungen angerufen werden, Bildungs(miss-)erfolge als Resultat der jeweils erbrachten familialen Bildungsleistung zu betrachten. Bei genauerer Inblicknahme erweist sich das meritokratische Versprechen „als eine normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten“ (Solga 2008, S. 23). Nicht nur wird über die Bezugnahme auf natürliche Begabungsunterschiede die Prämisse der Leistungsgerechtigkeit unterlaufen. Vor allem verschleiert das meritokratische Versprechen, die Persistenz eines nach wie vor herkunftsabhängigen Zugangs zu Bildung (vgl. ebd., S. 21) – wie er unter anderem in Gestalt milieuspezifischer Bildungsorientierungen in den empirischen Forschungsergebnissen der ‚bildungsund habitusbezogenen Familienforschung‘ nachgewiesen wird.
4 Resümee Die hier skizzierten, miteinander verwobenen Ordnungsbildungen erzeugen insgesamt ein machtvolles, die Familien responsibilisierendes Narrativ. In diesem wird Bildung in Familien sowohl als relevant markiert, als auch eine undurchsichtige Legitimationsfolie für das Aufrechterhalten von Bildungsungleichheiten bei einer gleichzeitigen Postulierung von Chancengleichheiten geschaffen. Bildungs(miss-)erfolge werden individualisiert und der familialen Verantwortlichkeit zugeschrieben, während zugleich der Bias des historischspezifisch Bürgerlichen verdeckt wird, welcher den Ordnungsbildungen zugrunde liegt und damit sozusagen immanenterweise Ungleichheiten hervorruft. Die hier vorgeschlagene regierungstheoretische Perspektivierung lenkt den forscherischen Blick von den Familien auf die gesellschaftlichen Ordnungsbild-
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ungen, mit denen Bildung in Familien erst als bedeutsam hervorgebracht- sowie die daraus ableitbaren Bildungsungleichheiten weiter legitimiert werden. Hierbei werden die diskursiven Entstehungsbedingungen der gegenwärtigen Bildungsbedeutsamkeit von Familie ebenso einer Analyse zugänglich wie die Effekte, welche die epistemischen Ordnungsbildungen sowohl bezogen auf die einzelne Familie als auch bezogen auf die Gesellschaft insgesamt zeitigen. Eine Ergänzung der ‚bildungs- und habitusbezogenen Familienforschung‘ durch diese regierungstheoretische Perspektive erlaubt es, den gesellschaftlichen wie forscherischen Blick auf Bildung in Familien kritisch und reflexiv auf die unaufhörliche Normierungs- und Normalisierungsarbeit epistemischer Ordnungsbildungen zu zentrieren. Hierdurch wird es möglich, familiale Bildungsorientierungen mit den an die Familie adressierten Anforderungen, Erwartungen und Zuschreibungen zusammenzudenken. Bildungsorientierungen lassen sich dann als milieuspezifische, habituelle Reaktionen auf die ordnungsbildenden Anrufungen verstehen, mit denen Familien regiert werden, um genau die Bildungsleistungen zu erzielen oder auch nicht zu erzielen, die der Reproduktion der bürgerlichen, meritokratisch und neoliberal verfassten Wissensgesellschaft zum Vorteil gereichen.
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Farrenberg, Dominik, Prof. Dr., Professur für Konzepte und Theorien der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen. Forschungsschwerpunkte sind u. a. erziehungswissenschaftliche Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit; macht-, anerkennungs- und subjekttheoretische Perspektivierungen von Erziehungs- und Fürsorgeverhältnissen; epistemologische, methodologische und ethische Fragen im Kontext Sozialer Arbeit; sozialpädagogische Kindheitsforschung.
Empirische Erkundungen
Kinder an institutionellen Übergängen – immanente Bedeutung(en) von Peers und Familie Janine Stoeck
Zusammenfassung
In diesem Beitrag steht die Bedeutung von Peers an Übergangsprozessen in Bildungseinrichtungen aus Sicht von Kindern im Zentrum. Hierbei werden maßgeblich empirische Ergebnisse vorgestellt, die den Forschungsstand betreffen und der Dissertation der Autorin zum Thema innerfamiliäre Betreuung von Kindern entstammen. Hier werden vor allem die (Bildungs-) Orientierungen der befragten Kinder fokussiert, die im Hinblick auf die Bedeutung von Peers relevant sind und im Zusammenhang mit den konjunktiven Erfahrungsräumen der Familien (insbesondere der Eltern) stehen. Wie die elterlichen und familiären Orientierungen die der Kinder, deren konjunktive Erfahrungsräume und die Übergangserfahrungen mitbestimmen, ist ebenso Gegenstand des Beitrags. Da es im Sample der eigenen Studie auch Kinder gibt, die teils keine eigenen Übergangserfahrungen gemacht haben, sondern ausschließlich in der Familie aufwachsen bzw. verbleiben (sollen), wird im Beitrag auch in gelingende, scheiternde sowie nicht stattfindende Übergangsprozesse in Bildungsinstitutionen unterschieden. Hierzu werden die jeweiligen Bedeutungen der Peers aus Sicht der Kinder und deren Umgangsweisen skizziert.
J. Stoeck (*) Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_5
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1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag stehen die peerbezogenen Bedeutungen von Kindern bei Übergangsprozessen von der Familie in den Elementar- und Primarbereich im Zentrum. Darüber hinaus werden die familiären Bedingungen und elterlichen Orientierungsrahmen skizziert, die die Orientierungen und Umgangsweisen der Kinder in Bezug zu Peers mitbestimmen (können). Dazu werden eigene Rekonstruktionsergebnisse vorgestellt, die der eigenen qualitativen Studie entstammen. In dieser Arbeit wurde maßgeblich die Frage verfolgt, vor welchem Hintergrund habitueller Orientierungen der Eltern und deren Kinder es dazu kam, dass die Kinder innerfamiliär betreut werden. In Anlehnung an den kulturalistischen Ansatz nach Bourdieu (1987) wurden Eltern(teile) und ihre Kinder in anvisierten Einzelinterviews insbesondere (retrospektiv) zur Betreuungsentscheidung und zur aktuellen Aufwachs- und Lebenssituation befragt. Um überhaupt an Familien zu gelangen, deren Kinder nicht öffentlich betreut werden, wurden verschiedene Zugänge gewählt und in Summe über 100 Akteure kontaktiert.1 Das Sample umfasst 12 Familien und resultiert aus einer Fallauswahl, die Familien umfasst, die sich über Aufrufe bei mir meldeten, mindestens ein (Ziel-) Kind im Alter von rund sechs Jahren hatten, und schließlich am Forschungsvorhaben teilnahmen. Von diesen 12 Familien wurden sechs Familien im Sinne minimaler und maximaler Kontraste (auf Basis der Elterninterviews) ausgewählt, um diese rekonstruktiv mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2017, Nohl 2009) zu analysieren. Hierzu wurde auf das Konzept des individuellen Orientierungsrahmens (Helsper et al. 2007; Kramer et al. 2009) zurückgegriffen, wobei in der eigenen Arbeit nicht schul- und bildungsbezogene Aspekte des Habitus der Befragten im Zentrum standen, sondern bildungs-, beziehungsund erziehungsbezogene Aspekte des Habitus (Stoeck, i. E.) der Eltern und der
1Zusammengefasst
bezogen sich die bundesweiten Akquiseversuche auf Mitarbeitende und Schnittstellenpersonen, die im Wesentlichen in Grundschulen, Horten, kinder- und jugendärztlichen Diensten, Gesundheitsämtern (auch Amtsärztinnen und Amtsärzte im Rahmen von Schuleingangsuntersuchungen), Jugendämtern, Familienzentren, Familienbildungsstätten, Migrationsstellen, Wohlfahrtsverbänden, Au-Pair-Agenturen usw. tätig waren. Diese Personen wurden um eine Mithilfe und das Auslegen oder Überreichen von Anschreiben gebeten, die den Aufruf an innerfamiliär betreuende Familien meinerseits enthielten. Des Weiteren wurden Familien über digitale Plattformen wie Familienforen und Online-Communities gesucht, wenn möglich direkt angefragt oder über verschiedene Netzwerkakteure, zum Beispiel mit einem Zugang zu „Homeschoolern“ gesucht.
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Kinder. In der Dissertationsschrift wurden umfassende Familienportraits erstellt sowie eine Typenbildung zur Betreuungsentscheidung aus Eltern- und Kindersicht generiert und dabei ins Zentrum gerückt, welcher modus operandi zur innerfamiliären Betreuungsentscheidung vorliegt. Hierbei ging es auch darum, die jeweiligen Erfahrungszusammenhänge von Eltern und Kindern in den Blick zu nehmen, die die Familie und öffentliche Betreuung betreffen, um schließlich danach zu fragen, was sich vor dem Hintergrund der rekonstruierten Habitus zur innerfamiliären Betreuung und in Bezug zu Übergängen ergibt. Während ein Ergebnis der Arbeit beinhaltet, dass innerfamiliäre Betreuungsentscheidungen komplex und (familien-)fallbezogen zu rekonstruieren sind, stehen in diesem Beitrag kontrastive Erfahrungszusammenhänge der Kinder und ihrer Eltern mit Blick auf Peers im Zentrum. Das aus zwei Gründen: Zum einen zeigt sich in der eigenen Arbeit, dass Peers hoch bedeutsam für Kinder sein können, indem diese die institutionalisierten Übergänge, damit das Eingewöhnen und Wohlfühlen von Kindern mitbestimmen. Dabei lässt sich konstatieren, dass für den Elementarbereich inzwischen relevant ist, dass Übergänge von Kindern über den Aufbau von Bindungsbeziehungen zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften verlaufen (müssen) (Ahnert 2009), damit Bildungsprozesse der Kinder möglich werden. Die Rolle anderer Kinder dabei ist bislang nicht im Fokus. Folgt man Krappmann (2013) dann können auch Peers für Kinder relevante Bindungs- und oder Beziehungsakteure sein. Daran anschließend sowie auf der Grundlage der eigenen Ergebnisse ließe sich weiterfragen, ob der Aufbau von Bindungs- oder Nahbeziehungen zu Peers ebenso eine Voraussetzung für Wohlbefinden und demnach auch Exploration(sverhalt)en von Kindern sein kann. Ein weiterer Grund für die Thematisierung der Bedeutung von Peers an Übergängen in diesem Beitrag ist, dass Eltern eine öffentliche Betreuung ihrer Kinder auch aufgrund von Peers ablehnen, weil diese als bedrohlich angesehen werden. Wenngleich ein peerbezogener Fokus in diesem Beitrag bedeutet, lediglich einen (Familien-)Ausschnitt zu betrachten, der weder den Gesamtfällen, noch der fallbezogenen Komplexität der eigenen Arbeit gerecht werden kann, so werden in diesem Beitrag kontrastive Erfahrungszusammenhänge mit Peers von Kindern aus fünf Familien fokussiert, die zwischen fünf bis sieben Jahre alt sind. Die Gliederungsstruktur des Beitrags beinhaltet einen kurzen Einblick in den Forschungsstand zu Übergängen von Kindern, die einen Bezug zu Peers bieten. Während sich der Forschungsstand eher als lebensphasenspezifische Übergangsforschung (unter Dreijährige, unter Sechsjährige, über Sechsjährige usw.) unterscheiden lässt, enthalten die im vorliegenden Beitrag vorgestellten Fälle vor allem die retrospektiv ermittelten Übergangserfahrungen oder -bedeutungen, die in
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Bezug auf die Familie, den Elementarbereich und/oder die Schule vorliegen. Dem Beitrag liegt eine fallbezogene Darstellung zugrunde, die in lebensphasenspezifische Übergänge (von der Familie in den Elementar- und/oder Primarbereich) sowie ausbleibende Übergangsphasen (im Sinne innerfamiliärer Betreuung und Homeschooling) differenziert. Hierzu lassen sich im Sample unterschiedliche Übergangsphasen und Übergangserfahrungen der Kinder feststellen. In den jeweiligen vorzustellenden Fällen werden die jeweiligen Übergangserfahrungen in den Primarbereich, insofern diese gegeben sind, mitthematisiert. Kinder, die Übergangserfahrungen im Elementarbereich gemacht haben und im Anschluss innerfamiliär betreut wurden, werden in Abschn. 3.1 vorgestellt. In Abschn. 3.2 stehen Kinder im Zentrum, die keine Übergänge in den Elementarbereich erfahren haben, somit ausschließlich innerfamiliär aufwuchsen und bereits den Übergang zum Primarbereich bewältigt haben. In Abschn. 3.3 erfolgt ein Blick auf ein Kind, das keine Übergangsphasen erlebt hat und im Rahmen von Homeschooling zu Hause bleiben (soll). Der Beitrag endet mit einer ergebnisbezogenen Bilanzierung zu (Bildungs-)Übergängen, die die gesamte Familie betreffen sowie peerbezogene Forschungslücken.
2 (Gelingende) Übergänge von Kindern – Bedeutung von Peers Ein (ausgewählter) Überblick zur internationalen Forschung zu Übergängen, die den Primarbereich betreffen und auch an den Perspektiven der Kinder selbst ansetzen, findet sich bei Griebel/Niesel (2018). Wie die Veröffentlichung auch zeigt, liegen zu Kindern unter drei Jahren bislang eher Übergangsstudien zum Elementarbereich vor, die die Beziehungen zwischen Kindern und ihren Erzieherinnen und Erziehern untersuchen sowie Gruppen von Kindern mit in den Blick nehmen (vgl. ebd., S. 74 ff.). Studien, die insbesondere Peers fokussieren oder auch Übergänge von Kindern über drei Jahre in den Blick nehmen, sind dabei kaum vorhanden (vgl. ebd., S. 97). Während sich unter Verweis auf Grossmann und Grossmann (2014) erst einmal darauf schließen lässt, dass Übergänge in den Elementarbereich für Kinder stressbedingte Ereignisse sein können (vgl. ebd.), zeigt sich im Material von Beobachtungsstudien (wie bspw. Datler et al. 2012; Mohn und Hebenstreit-Müller 2008), dass andere Kinder auch als ‚Übergangshelfer‘ fungieren können (vgl. das Fallbeispiel der tröstenden Emily bei HebenstreitMüller und Karkow 2008, S. 13 oder durch Geschwister das Fallbeispiel Paulina bei Datler et al. 2012, S. 71 f.). Inwiefern andere Kinder auch als stressbedingte
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Verhinderungsfaktoren gelingender Übergänge gelten könnten, bleibt bislang eher ungewiss. Ebenso bleibt im Elementarbereich noch weitgehend unbestimmt, wie Kinder die Übergänge im Zusammenhang mit anderen Kindern wahrnehmen. Auch liegen bislang m.W. keine retrospektiven Befragungen von Kindern zu ihren K indergarten-Übergängen vor, die insbesondere Peerbezüge beinhalten. Für schulische Übergänge und mit Blick auf die Bedeutung von anderen Kindern zeigt sich forschungsbasiert vor allem, dass Freunde für Kinder relevante Akteure bei Übergängen sind. Beispielsweise zeigt sich in australischen Studienergebnissen zum „Starting School Project“ von Dockett und Perry (2004) dass Übergänge aus Kindersicht andere Bedeutungen aufweisen können als aus Erwachsensicht ermittelte (hier aus Sicht von Eltern und Lehrenden). „While all groups indicated that it was important that children be happy at school, children were the ones who emphasized the role of friends and friendships in this process.“ (ebd., S. 187)
Wie auch Befragungssausschnitte mit Kindern zeigen, können Freunde in der eigenen Deutung relevant für das Wohlbefinden und den schulischen Erfolg sein. „Children’s positive dispositions about school were often associated with friends. Several children seemed to measure their success and happiness at school by whether or not they had friends: ‘I like school cause I like playing and finding some friends’; ‘Big school is better than preschool cause you can make up lots and lots of friends’“ (ebd., S. 180)
Dass Freunde sowie der Erhalt von Freundschaften relevant für Kinder sind, sodass sie Übergänge positiv erleben, zeigen bspw. auch die empirischen Fallbeispiele von Hochstetter und Wagener (2011), die Kinder selbst nach ihrem Erleben in schulischen Settings und an Übergangsstellen befragt haben (vgl. ebd., S. 150 ff.). Müller et al. (2011) gingen studienbasiert der Frage nach, inwiefern sich sechsjährige Grundschüler, die eine integrierte Vorschule besuchten, von Schülern ohne diese Erfahrung unterschieden – und zwar aus Sicht der Kinder selbst im Hinblick auf die Integration in der Kindergruppe, hinsichtlich des Lernverhaltens und bestimmter Kompetenzen. Dabei zeigte sich bspw., dass Kinder mit Vorschulerfahrung sich eher und besser in die Kindergruppe integriert fühlten, über ein positiveres Lernverhalten berichteten und höhere Werte beim Selbstkonzept zur kognitiven Kompetenz erzielten (vgl. ebd., S. 105). Vor diesem Hintergrund konstatierten die Autorinnen und Autoren,
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Während sich hier andeutet, dass gemeinsame Zeit mit Peers erst einmal das Integrationserleben von Kindern befördern kann, ließe sich auch fragen, inwiefern gemeinsame Zeit in der Vorschule zur Verbundenheit unter Peers beitragen kann. Darüber hinaus ließe sich weiterfragen, ob es auch Kinder gibt, die sich von der Gruppe exkludiert fühlen, und wie von Ein- und Ausschlüssen ausgehend wiederum Lernverhalten und Kompetenzerleben tangiert werden sowie was genau in Bezug auf Peers zu gelingenden Übergängen beitragen kann. Wann kann ein Übergang überhaupt als gelungen angesehen werden, und aus wessen Sicht, als erwachsenenzentrierter Blick auf Kinder oder durch die Kinder selbst? Folgt man Datler et al. (2010) dann lassen sich folgende Aspekte ‚gelungener‘ Eingewöhnung für Kinder im Elementarbereich bestimmen – und zwar, wenn Kinder zunehmend: • Situationen im Betreuungssetting als angenehm oder lustvoll erleben und sich zunehmend weniger negativen Affekten ausgesetzt fühlen • sich eigens und eigene Interessensbereiche (Menschen und Gegenstände) vor Ort erschließen • in dynamische soziale Austauschprozesse mit anderen Kindern und Erwachsenen treten (ebd., S. 162 ff.) Wie Wildgruber und Griebel (2016) auf Basis des internationalen Forschungsstands zu Übergängen in den Primarbereich in einer Expertise des WIFF konstatieren, kann ein Übergang als ‚gelungen‘ angesehen werden, wenn folgende kindbezogene Aspekte vorliegen: • • • •
sich in der Schule wohlfühlen sich zugehörig fühlen gute Beziehungen zu Erwachsenen und anderen Kindern unterhalten über Interesse, Motivation und eine bejahende Einstellung zum Lernen verfügen • Selbstwirksamkeit und die eigene Kompetenz erleben • Lernfortschritte erzielen (ebd., S. 11) Während die Gemeinsamkeiten der Kriterien (für Elementar- und Primarübergangsphase) vor allem auf Aspekten des Wohlfühlens von Kindern
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liegen und in Interaktionen mit anderen gründen, zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit, die im weitesten Sinne mit Lernen und Exploration gekennzeichnet werden kann. Griebel und Niesel (2018) betonen, dass auch Eltern relevante Akteure sind, „die selbst Übergänge bewältigen und parallel dazu Übergänge ihrer Kinder unterstützen“ (ebd., S. 174). Auch das Wohlgefühl von Eltern (vgl. ebd., S. 93) kann wichtig sein, ebenso wie Kooperationen mit Fachkräften in Kitas und Schulen (vgl. ebd., S. 163), demnach Eltern in Übergangsprozesse einzubeziehen sind (vgl. ebd., S. 172). Dabei zeigt sich mit Blick auf Familien auch empirisch, dass diese neben weiteren Bedingungen und Pädagoginnen und Pädagogen eine entscheidende Rolle für Übergänge spielen (vgl. bei Mohn und Hebenstreit-Müller 2008). Bei Datler et al. (2012) zeigt sich im Fallbeispiel um Paulina zum Beispiel, dass es vor allem ihre Mutter ist, die Schwierigkeiten hat, „den Schritt des Sich-Trennens setzen zu müssen“ (ebd., S. 71). Wie Grossmann und Grossmann (2014) auf Basis empirischer Arbeiten konstatieren, sind es vor allem (familienbedingt) bindungsunsichere Kinder, die im Kindergarten weniger handlungsfähig sind, „weil sie weniger darauf vertrauen, Zugang zu ihren Bindungspersonen oder anderen wohlwollenden Erwachsenen zu finden.“ (ebd., S. 315). Auch hier lägen innerfamiliäre Bedingungen und Schwierigkeiten vor, die auch die Eltern betreffen.
3 Elementar- und Primarpädagogische Übergangsphasen – Erfahrungen von Kindern und die Bedeutung der Familie und Peers In der eigenen Arbeit zeigen sich nicht nur aus Perspektive der Kinder Bedeutungen von Peers sondern insbesondere übergangsbezogene Zusammenhänge zu den Familien, die teils auch peerbezogene Bedeutungen betreffen. Dabei ist allen vorliegenden und im Folgenden präsentierten Fällen gemein, dass keine im obigen Sinne gelingenden Übergangsphasen in den Elementarbereich erfolgten. Dieser Umstand ist auch durch das Forschungsanliegen und die Forschungsanlage begründet. Das Sample beinhaltet demnach zwar Kinder, die eigene Übergangserfahrungen im Elementarbereich gemacht haben (die aber als nicht gelungen angesehen werden können und somit gescheiterte Übergänge darstellen) sowie Kinder, die über keine Übergangserfahrungen im Elementarbereich verfügen (indem keine Übergänge stattfanden und diese innerfamiliär betreut wurden). Das trifft in ähnlicher Weise auch für die lebensphasenspezifisch anschließende Übergangsphase in den Primarbereich zu. Im Sample gibt
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es Kinder, die zum Erhebungszeitpunkt bereits eigene Schulübergänge erfahren haben, die aus ihrer Sicht entweder als gelungen oder nicht gelungen gelten (können). Zudem gibt es Kinder, die innerfamiliär bedingt weder über elementarpädagogische noch schulische Übergangserfahrungen verfügen (sollen). Hier sind es die Eltern, die ihre Kinder ausschließlich in der Familie aufwachsen lassen wollen. Während in allen Kapiteln die habituellen Dispositionen und peerbezogenen Bedeutungen von Kindern während der Übergangsphasen an verschiedenen Fallbeispielen verdeutlicht werden, werden diese ggf. um soziodemographische Daten, familienbezogene Informationen und elternbezogene Hintergründe ergänzt. Wie bereits im ersten Fall zu zeigen sein wird, lassen sich die Übergangserfahrungen der Kinder nicht isoliert von deren Familien(zusammenhängen) begreifen. Dennoch werden zunächst die Übergänge kindbezogen thematisiert und dann an innerfamiliäre Bezüge rückgebunden. Aufgrund der Komplexität der Fallgeschichten können zudem nur ausschnitthafte und ergebnisbezogene Aspekte aus Sicht der Kinder und ihrer Eltern in Bezug auf verschiedene Zusammenhänge zu Peers innerhalb institutionenbezogener Erfahrungen in Kindergärten und/oder Schule sowie zum konjunktiven Erfahrungsraum Familie (Hermes 2017; Nentwig-Gesemann 2018) dargestellt werden. Dabei werden vor allem zwei Frageaspekte fokussiert: Zum einen, wie fallen Übergangs- und institutionenbezogene Erfahrungen der Kinder und ihrer Eltern im Zusammenhang mit Peers aus, zum anderen, welche Umgangsweisen bzw. Bewältigungsstrategien liegen jeweils vor.
3.1 Gescheiterte Übergangserfahrungen von Kindern in elementar- (und primar)pädagogischen Bildungsinstitutionen In den folgenden beiden (Familien-)Fallbeispielen verfügen die Kinder über Übergangserfahrungen in den Elementarbereich, die schließlich in einer innerfamiliären Betreuung münden. Während im ersten Fallbeispiel zu Jonas auch Übergangserfahrungen in den Primarbereich vorliegen, steht der schulische Übergang beim zweiten Fall zu Olliver zum Interviewzeitpunkt noch bevor.
3.1.1 Fallbeispiel Jonas Jonas ist zum Erhebungszeitpunkt sieben Jahre alt und bereits in der Schule. Vor der Schulzeit hat er verschiedene Betreuungserfahrungen gemacht. Seine erste frühpädagogische Übergangserfahrung, die in Bezug auf Jonas Alter unter Drei nicht genau beziffert werden kann, ist durch An- und Abwesenheitsphasen
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gekennzeichnet und dauerte circa ein halbes Jahr an. Aus den Beschreibungen der Mutter lässt sich entnehmen, dass Jonas zunächst in dieser einen öffentlichen Betreuungseinrichtungen angemeldet war, dort jedoch nach einer schwierigen Eingewöhnungsphase und zudem stets krank nur sporadisch vor Ort war. Im ungefähren Lebensalter von Drei war Jonas schließlich in einem anderen Kindergarten und auch dort eher zeitweise in Betreuung. Die eigene Kindergartenzeit, die für ihn nicht einfach war, scheint er im Interview lieber nicht thematisieren zu wollen. Jonas selbst stellt im Interview zu den jeweiligen Betreuungsorten und -phasen nur knapp resümierend Folgendes dar: „der erste war toll und der nächste nicht (3) weil ich da weil ich da lange war und plötzlich hab ich keine freunde mehr gef- freunde gefunden (.) ganz viel (.) und plötzlich musste ich dann gehen das war doof“ (Z. 78–80)
Jonas ordnet seine Erfahrungen in den jeweiligen Betreuungseinrichtungen in einen positiven und negativen Bedeutungszusammenhang ein. Während ihm die jeweiligen Freundschaftszusammenhänge, auch zum Bleiben und Verlassen der Einrichtungen unzugänglich sind und diese Beziehungen außerhalb seiner Handlungsmöglichkeiten des Suchens liegen, zeigt sich, dass die Kindergartenerfahrungen für ihn an die Peers gekoppelt sind. Positive Erfahrungen in den Betreuungseinrichtungen ergeben sich für ihn dann, wenn er Freundschaftsbeziehungen vorfindet. Diese Relevanz von Kindern, im Kindergarten nicht ‚nur‘ mit Peers zusammen sein, sondern dort Freunde zu haben und mit diesen Zeit zu verbringen, zeigt sich auch in der Studie von Nentwig-Gesemann/Thedinga/ Walther (2017) zur (Kita-)Qualität aus Kindersicht: „Auf die Frage, worauf sie sich am Morgen auf dem Weg zur Kita besonders freuen, nannten fast alle Kinder ihre Freundinnen und Freunde.“ (ebd., S. 27). Dem gegenüber birgt ein Nichtvorhandensein an Freunden Risiken des Wohlbefindens und stellt wie in Jonas Fall ein Übergangs- und Bewältigungsrisiko dar. Von der Erzählung seiner Mutter ausgehend, war Jonas „kein wirkliches kindergartenkind“ (Z. 295), sondern stets krank. Während die Eingewöhnungsphase im ersten Kindergarten aus ihrer Sicht scheiterte, war auch der erneute spätere Versuch einer Eingewöhnung im zweiten Kindergarten schwierig und dauerte sehr lange (zu diesem Zeitpunkt war Jonas rund drei Jahre alt). Jonas war bis zum sechsten Lebensjahr eher zu Hause bis seine Mutter die Betreuung im Kindergarten offiziell beendete, sodass Jonas rund ein Jahr vor Schulbeginn ausschließlich innerfamiliär betreut wurde. In ihrer Darstellung zeigt sich im Vergleich zu Jonas eigenem Erfahrungsbericht keine Bedeutsamkeit anderer Kinder. Aus ihrer Perspektive ist das Übergangsscheitern in ihrem Sohn verankert und ihr
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mangelte es in Folge vor allem an einer Zusammenarbeit zwischen ihr und den Pädagoginnen und Pädagogen. Jonas brüchige Kindergartenphase(n), seine ambivalenten Erfahrungen und seine institutionenbezogene Peerorientierung im Sinne von Freundschaftsbeziehungen setzen sich auch im schulischen Feld fort. Auch hier macht er Erfahrungen des Peersausschlusses, unter denen er leidet, sodass er die Schulbesuche (ver-)meiden möchte. Auch dieses Thema möchte er im Interview eher unthematisiert lassen und verstummt beinah. Jonas ist zur Zeit der Erhebung seit einem Vierteljahr in der Schule. Doch aufgrund peerbezogener Ausschlüsse im schulischen Raum und seinem Wunsch nach Freunden, der ihm versagt bleibt, wünscht er sich, dass die „schule weg ist“ (Z. 311). Jonas leidet. Dabei nicht nur unter dem Ausschluss durch die Peers, sondern auch unter Bullying, indem er offenbar Beleidigungen und dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt ist. So ist er im schulischen Raum mit seinem negativen Gegenhorizonten des Alleinseins, des Ausschlusses, der (Beziehungs-)Distanz und mit Missachtungserfahrungen durch Peers konfrontiert, was er nicht be- und verarbeiten kann. Während er mit schulischen Anforderungen und den Lehrenden eher keine Probleme hat, ist das Wohlfühlen in der Schule vor allem an seine Peerorientierung und an entsprechend negative Peererfahrungen gebunden. Diese negativen Erfahrungen Jonas’ wiederum ordnet seine Mutter der Behinderung ihres Sohnes zu. Im Hinblick auf die innerfamiliären Beziehungen lässt sich zunächst feststellen, dass sich diese auf drei Akteure beziehen. Jonas lebt mit seiner zehnjährigen Schwester und seiner Mutter zusammen. Weder zu seinem Vater, noch zu weiteren Familienmitgliedern hat er Kontakt. Während weitere signifikante Andere nicht vorhanden sind, fällt die für ihn relevante Beziehung zur Mutter krisenhaft aus. Seine Mutter selbst wuchs in einer Pflegefamilie und schließlich öffentlichen Betreuungseinrichtung auf. Als Mutter arbeitet sie sich an den Konventionen einer Liebes- und Fürsorgebeziehung zu den Kindern ab. Während sie die alltäglichen Versorgungen der Kinder funktional bestreitet, ist sie vor allem in Bezug auf Nähe zu den Kindern überfordert. Während sie Ruhe vor den Kindern sucht und verschiedene Betreuungsoptionen für ihre Kinder durch Kirche und Jugendamt nutzt, ist sie mit einem Zertifizierungskampf zur (von ihr) vermuteten Behinderung ihres Sohnes beschäftigt.2
2Hierbei
geht es um Auseinandersetzungen der Mutter mit Ärztinnen und Ärzten, die die Behinderung ihres Sohnes nicht attestier(t)en und somit die Sicht der Mutter zur Krankheitsdiagnose nicht anerkennen bzw. nicht bestätigen.
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Vor dem Hintergrund schwieriger Bindungsbeziehungen zwischen Mutter und Sohn scheint erst einmal ein Zusammenhang zu schwierigen Eingewöhnungsphasen im Elementarbereich naheliegend, wie Grossmann und Grossmann (2014) im Hinblick auf bindungsunsichere Kinder feststellten (ebd., S. 315). Zudem ließen sich im vorliegenden Fall einesteils Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen der Mutter und den Pädagogen und Pädagoginnen feststellen, anderenteils stellen Bring- und Abholphasen der Kinder für die Mutter anstrengende Prozesse dar. Vor dem Hintergrund Jonas’ sporadischer Kindergartenphasen ließe sich fragen, wann Übergänge als abgeschlossen gelten können. Der finale erwachsenenzentrierte Betreuungsabbruch durch die Mutter steht zudem im Zusammenhang mit einer eigens anvisierten Therapie für Jonas. Aus der Sicht der Mutter ist Jonas behindert – „der ist nen autist“ (Z. 668) – und das seit Geburt an. Ihre Diagnose wird jedoch von Fachärztinnen und Fachärzten nicht geteilt und die Mutter ist in ständiger Auseinandersetzung mit verschiedenen Expertinnen und Experten – nicht zuletzt auch mit den Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule. Während sie einem Anerkennungskampf der Behinderung ihres Sohnes (und dem Selbstbild einer ‚guten‘ Mutter) unterliegt, bestehen Jonas’ Probleme des Mangels an Verbundenheit zur Mutter sowie des Peerausschlusses und Bullyings fort. Jonas wünscht sich im innerfamiliären Raum vor allem eine Mutter, deren Nähe er spüren kann. Doch für ihn ergeben sich neben dem Spielen und Kuscheln mit seiner Schwester als Peer, kaum Möglichkeiten entsprechend seiner Orientierungen zu handeln. Die Familie stellt für ihn dennoch einen Rückzugsraum dar, innerhalb dessen sich für ihn ebenfalls eine resignative Haltung rekonstruieren lässt. Während Jonas in den Bildungsinstitutionen des Elementarbereichs ambivalente Erfahrungen mit Peers gesammelt hat, sind die Erfahrungszusammenhänge im schulischen Feld für ihn so problematisch, dass er weitere Besuche meiden will. Sowohl im Elementar- als auch im Primarbereich ist das Wohlbefinden für ihn vor allem an Peer(ein)bindungen gekoppelt. Da für ihn diesbezüglich kaum positive Erfahrungen vorliegen, müssen die jeweiligen Übergangsphasen auch daher als nicht gelungen angesehen werden. Seine Familie kann dabei kaum als Stütze gelten und benötigte eigens Unterstützung im Sinne einer Zusammenarbeit aller Beteiligten bei Transitionsphasen wie Griebel und Niesel (2018) nahelegen (ebd., S. 174) sowie zum Verbleib in einer Einrichtung.
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3.1.2 Fallbeispiel Olliver Im folgenden Fallbeispiel zeigen sich ähnliche peerbezogene Erfahrungszusammenhänge aus Kindersicht, die die Übergangsphase in den Elementarbereich mitbestimmen. Olliver ist zum Interviewzeitpunkt sechs Jahre alt, steht kurz vor dem schulischen Übergang und machte im Alter von drei Jahren die ersten Kindergartenerfahrungen. Wie Jonas hat auch Olliver ambivalente Erfahrungen mit anderen Kindern gesammelt und ihm ist im Hinblick auf einen Kindergartenbesuch ebenso an einer Peereinbindung und am Spielen mit anderen Kindern gelegen. Diesbezüglich hat er im Kindergarten sowohl positive „das war richtig toll“ (Z. 489) als auch negative Erfahrungen mit „total doof[en]“ (Z. 493) Peers gemacht. Während er seine ersten Erfahrungen zum Betreuungsbeginn noch recht positiv einordnet – als „ganz gut“ (Z. 8) –, kennzeichnet er diese im Verlauf der anfolgenden Kindergartenerfahrungen als „doof“ (ebd.). Hinzu kommt, dass Olliver „heimweh“ (Z. 14) hatte. Aus der Erzählung seiner Mutter geht hervor, dass Olliver (nach bereits schwierigen Phasen während der rund halbjährigen Betreuung, einschließlich eines Wechsels der Einrichtung) auch Probleme mit Peers hatte, schließlich gar nicht mehr in den Kindergarten und stattdessen Zeit mit seinem Vater verbringen wollte. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal wieder zu Hause. Zu dieser Zeit und die Jahre zuvor war sein Vater im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit stets für mehrere Wochen an- oder abwesend. Olliver selbst ordnet sein anschließendes Verbleiben und Erleben zu Hause als positives Geschehen ein. Zwar hat er dort kaum Spielpartner, aber er kann seinen eigenen Interessen selbstbestimmt nachgehen. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass der konjunktive Erfahrungsraum der Familie bei Übergangserfahrungen von Kindern relevant ist. Neben vielfältigen innerfamiliären Bedingungen verweist bereits die hochselektive Betreuungswahl Ollivers Mutter auf Nicht-Passungsverhältnisse zu öffentlichen Betreuungsarrangements, wenn diese Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern kaum ermöglichen. Vor dem Hintergrund vermeintlich passförmiger Betreuungseinrichtungen sind die Übergangsphasen hier als doppelt exklusiv anzusehen, welche im Sinne einer kindzentrierten Entscheidung seitens der Mutter schließlich in einer innerfamiliären Betreuung münden, nachdem sich aus Sicht der Mutter verschiedene Passungsschwierigkeiten vor allem im Hinblick zu den Pädagoginnen und Pädagogen und Prozessen vor Ort ereigneten. Zwar sind der Mutter andere Kinder als Spielpartnerinnen und Spielpartner und im Hinblick auf soziale Umgangsweisen ihres Sohnes wichtig und auch Ollivers Peerbezüge und -erfahrungen beim Übergang stellen einen wesentlichen akteursbezogenen Aspekt dar, der sein Wohlfühlen vor Ort und seine Eingewöhnung mitbestimmt, aber ebenso sind es innerfamiliäre Prozesse und
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mangelnde Passungen zwischen Familie und Kindergarten, die das Scheitern des Übergangs bedingen.
3.2 Nicht vorhandene Übergangserfahrungen in elementarpädagogischen Bildungsinstitutionen In den folgenden beiden Fallbeispielen liegen auf Seite der Kinder keine Übergangserfahrungen von der Familie in den Elementarbereich vor. Hier werden die jeweiligen Bezüge zu Peers dargestellt, die sich im Rahmen der Familie vor allem in Bezug auf Geschwister, weitere circa gleichaltrige Spielpartnerinnen und Spielpartner zu Hause sowie aus Sicht der Eltern ergeben. Darüber hinaus werden auch die schulbezogenen Erfahrungen thematisiert.
3.2.1 Fallbeispiel Liora Als Kontrastbeispiel für peerbezogene (Vergemeinschaftungs-)Orientierungen, die in Bezug auf die Außenwelt nur vermutet werden können und sich innerfamiliär nur andeuten, dient im Folgenden Liora. Sie ist zum Interviewzeitpunkt sechs Jahre alt und seit circa einem Vierteljahr in der Schule. Eigene kindergartenbezogene Erfahrungen hat sie nicht gemacht, diese sind in ihrer Familie nicht vorgesehen, weil ihre Eltern sich bewusst gegen eine öffentliche Betreuung entschieden haben. Nach dem Erleben des Aufwachsens in der (Groß-)Familie gefragt, werden durch Liora kaum positive Bezüge hergestellt, stattdessen wird (vorsichtig) Kritik an den Privilegien und Möglichkeiten der erwachsenen Familienmitglieder deutlich, die den Kindern nicht zuteilwerden. Eigene positive Bezüge stellt sie lediglich zum gemeinsamen Spielen mit einer ihrer Schwestern her, welches für sie bedeutsam war und als positive Erinnerung an die vorschulische, innerfamiliäre Phase abgespeichert ist. In Bezug auf die aktuellen (zum Interviewzeitpunkt) jeweiligen Lebenswelten sind es vor allem schulische Themen und Erfahrungen, die Liora positiv rahmt – im Gegensatz zu den Akteuren und Bedingungen in der Binnenwelt der Familie. Das zeigt sich in sequenziellen Interaktionen zwischen Mutter und Tochter, wie beispielsweise in der Folgenden: Mutter Antonia: └und was machst du hier zu hause gerne Liora: Der Anschluss von Liora (inkl. erst einmal 6 Sekunden Pause erfolgt nach gerne. Das Zeichen für den Anschluss muss demnach in der Zeile, in der Liora spricht, am Ende des Wortes „gerne“ (Zeile darüber) gesetzt werden └(6) °weiß ich nich° (Z. 182–183)
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Den schulischen Übergang hat Liora als positiv erlebt. Sie hat eine Klasse übersprungen und fühlt sich in der Schule wohl. Peerbezogene Bedeutungsgehalte, die sich auf die Mitschülerinnen und Mitschüler beziehen und jenseits von Leistungsvergleichen liegen, können bei Liora nur vermutet werden. Sie ist eine leistungsorientierte Schülerin, der leistungsschwächere Mitschülerinnen und Mitschüler als Abgrenzungsfolie dienen. Darüber hinaus stellt die Schule für sie positiv besetzte Lern- und Teilhabemöglichkeiten bereit, scheint jedoch keine peerrelevante Vergemeinschaftungsoption zu sein. Zudem nutzt sie den schulischen Erfahrungsraum, um sich von der Familie und insbesondere den elterlichen Abgrenzungspraxen von der Außenwelt zu distanzieren. Dass Peerbedeutungen durch Liora nicht deutlich werden, könnte auch daran liegen, dass sie dieses innerfamiliär brisante Thema nicht noch als weitere Provokation einbringen will, derweil die Eltern zum Interview mit Liora anwesend sind und dieses mitstrukturieren. Möglicherweise sind hinsichtlich anderer Kinder jedoch auch intergenerational (re-)produzierte Dispositionen verbunden. Denn Lioras Mutter sieht nicht nur die Welt außerhalb ihrer Familie als potentielle Gefahr an, sondern auch Peers stehen im Verdacht eine negative Einflussgröße für die Entwicklung der eigenen Kinder und nicht zuletzt auch des Familienkollektivs darzustellen.
3.2.2 Fallbeispiel Linos Ähnliche negative Vorstellungen von Peers, die diese aus Perspektive der Eltern eher als Entwicklungsrisiko kennzeichnen, liegen auch im folgenden Fall vor. Diese elterlichen Dispositionen finden eventuell ihren Niederschlag in den peerbezogenen Erfahrungen und Haltungen des Sohnes Linos. Linos ist zur Erhebung sieben Jahre alt und bereits in der Schule. Er war nicht im Kindergarten, da dieses von seinen Eltern nicht gewollt ist. Eigene Kindergartenerfahrungen hat er somit nicht, wobei für die vorschulische Phase zu Hause zum einen deutlich wird, dass ihm vor allem das Spielen mit anderen Kindern wichtig war sowie die Nähe zu und Zeit mit seiner Mutter. Spielmöglichkeiten mit anderen Kindern hatte er zu dieser Zeit beispielsweise im Mutter-Kind-Kurs sowie im eigenen Zuhause, da seine Mutter zeitweise auch andere Kinder als Tagespflegemutter betreute. Neben der Bedeutung des Spielens mit anderen Kindern sind ihm Werte der Ehrlichkeit und Bescheidenheit wichtig, welche auch innerfamiliäre Bildungs- und Entwicklungsziele der Mutter im Hinblick auf ihre Kinder darstellen. In einer kurzen Beleggeschichte berichtet Jonas vom wöchentlichen Arrangement eines Bibelkreises zu Hause mit anderen Kindern, auf das er sich stets gefreut hat. Dazu bilanziert er jedoch auch eine weniger schöne Erinnerung, die er mit dem Verhalten eines Mädchens in Verbindung bringt:
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„°aber eines war auch doof (2) (…)3 die magarete hat uns immer geärgert (…) die hat uns angelogen und so weiter (…) auch angegeben“ (Z. 642–652)
Von ihr und diesem Verhalten distanziert sich Linos. Wie seiner Mutter sind ihm Ehrlichkeit und Bescheidenheit im Umgang miteinander wichtig. Dieses tugendhafte Verhalten erwartet er auch in der Schule, findet es jedoch nicht immer so vor. Trotz krisenhafter Auseinandersetzungen mit Peers fühl er sich dort recht wohl. Auf die Nachfrage der Interviewerin, wie er den schulischen Übergang erlebt hat, beginnt er mit einer positiven Bilanzierung „schön“ und schließt mit einer bis in die Gegenwart reichenden Bezugnahme an: „˚da konnte ich mit freunden spieln (.) hab freunde gekriegt (.) und u- der unterricht und die buchstaben gefallen mir˚“ (Z. 685–686)
Wichtig sind ihm vor allem andere Kinder, mit denen er spielen kann. Schulische Schwierigkeiten, die seinen Übergang (mit)flankieren, bereiten ihm am ehesten Mitschülerinnen und Mitschüler, mit denen er Konflikte hat, die er nicht alle allein lösen kann. Während sein Orientierungsrahmen so angelegt ist, dass er Konflikten lieber aus dem Weg geht, sucht und findet er in Konfliktfällen auch Hilfe bei Pädagoginnen und Pädagogen und seiner Mutter. Diesen (Familien-)Fall kennzeichnet, dass die familiären Bedingungen für Linos unproblematisch sind und intergenerational ähnliche Orientierungen vorliegen. Ihm sind vor allem harmonische Nahbeziehungen wichtig, in dessen positiven Gegenhorizont er sich im innerfamiliären Erfahrungsraum wiederfindet. Die Familie, einschließlich aller Familienmitglieder und der innerfamiliär gelebte religiöse Glaube stellen für ihn die relevanten Parameter dar. Während seine Geschwister vor allem Spielpartner für ihn darstellen und sich innerfamiliär keine zu bearbeitenden Probleme für ihn ergeben, stellt sich das in der Außenwelt teils anders dar. Linos Orientierungsrahmen weist Peers als relevante Spielpartnerinnen und Spielpartner und als Akteure harmonischer Vergemeinschaftungszusammenhänge vor, wobei er in der Schule soziale Konflikte zu bearbeiten hat, die er allein nicht lösen kann. Es steht zu vermuten, dass die ambivalenten Erfahrungen in der Schule die Desintegrationsund Bullyingerfahrungen mit Peers bedeuten, ihn an die ausschließlich positiv besetzte Binnenwelt Familie binden.
3Die Klammern beziehen sich auf Interaktionen mit den weiteren Anwesenden (Interviewerin, Linos Mutter und Schwester), die im Originaltranskript enthalten, aber hier ausgespart sind.
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3.3 Nicht vorhandene Übergangserfahrungen in elementar- und primarpädagogischen Bildungsinstitutionen am Fallbeispiel Alice Im letzten hier vorgestellten Fall liegen intergenerationale Differenzen vor, die nicht nur die jeweiligen Bedeutungen von Peers betreffen, sondern auch den Ausschluss von/aus Bildungseinrichtungen. Alice ist zum Zeitpunkt des Interviews fünf Jahre alt, war nicht im Kindergarten und soll nicht in die Schule gehen. Ihre Mutter lehnt öffentliche Betreuungs- und Bildungseinrichtungen ab, da diese aus ihrer Sicht das Risiko in sich bergen die Entwicklung der Kinder, vor allem durch Peers und schließlich im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern zu gefährden. Um der in Deutschland geltenden Schulpflicht zu entgehen, gibt es mehrere Möglichkeiten, die allesamt ein Gefahrenpotential für die Familie bergen. Doch trotz der Gefahren und ungewissen Zukunft, die die Mutter nicht planen kann, hält sie am Vorhaben fest. Das größere Übel für sie und ihre Familie wären Peerinteraktionen, die sie nicht kontrollieren kann. Dabei hat sie eigene biographische Ausschlusserfahrungen in Bildungseinrichtungen gesammelt und fühlte sich in ihrer Herkunftsfamilie nicht anerkannt, die die negativen Bezüge zu Peers im Hinblick auf ihre Kinder und die hohe Bedeutung der engen Beziehungsgestaltung zu den eigenen Kindern sicherlich mitbedingen. Generalisierend konstruiert die Mutter Schulen als Gefahrenraum aufgrund der Peers und deren potentieller Zerstörkraft der E ltern-Kind-Bindungsbeziehung. Nicht nur die Eltern-Kind-Bindung stünde in Gefahr durch Peerbeziehungen und -einflüsse unterlaufen zu werden, sondern die Prägekraft der Eltern käme ebenfalls zu kurz. Während der Mutter an der Aufrechterhaltung einer engen Eltern-Kind-Beziehung gelegen ist, will sie ihre Kinder auch vor Enttäuschungserfahrungen und Problemen durch andere Kinder beschützen. Denn die Schule stellt für sie einen Gefahrenraum dar, in dem sich potentielle Schwierigkeiten durch die schulischen Akteure konzentrieren. Die Familie hingegen ist ein ‚Schutzraum‘, den sie gegenüber den Kindern und der Außenwelt verteidigt. Tochter Alice erweist sich jedoch als nicht zufrieden mit den familiären Bedingungen. Während durch sie selbst keine Bezüge zu Bildungsinstitutionen und damit Übergängen deutlich werden, geht aus dem Interview mit der Mutter hervor, dass Alice in die Schule möchte. „die alice hat den wunsch geäußert in die schule zu gehen // mhm // ähm schule is ja grad (.) natürlich total großes thema weil es gehen ja alle in die schule, ja und wir sprechen ja natürlich auch total viel von schule und in büchern und überall
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kommt das vor und is auch ganz wichtig wir thematisieren da auch so oft es aufkommt bei den kindern und ich will da auch heraus, fühlen und so und will halt auch beschreiben (.) und so wie das is“ (Z. 1630–1635)
Während die Mutter nicht nur im Hinblick auf die Schule, sondern in Bezug auf alltägliche potentielle Gefahren diese von den Kindern abzuwenden und mögliche Krisen mit ihnen gemeinsam zu durchleben bestrebt ist, ist Alice mit einer permanent begleitenden Krisenmanagerin – ihrer Mutter – konfrontiert. Die familiären Bedingungen erlebt Alice als unzureichend und unveränderbar. Ihr familiärer Bedeutungszusammenhang erweist sich als negativ akzentuiert. Lediglich ihren Bruder kennzeichnet sie als relevanten und positiv wahrgenommenen innerfamiliären Interaktionspartner. Ihre Mutter nimmt sie als Wächter wahr, die über Alices Wünsche und Bedürfnisse entscheidet. Als handlungsmächtig sieht Alice sich nicht. In ihren Erzählanteilen wird eine resignierende Haltung deutlich, insbesondere dann, wenn Alice eigene Wünsche, Interessen und Bedürfnisse artikuliert, die innerfamiliär nicht anerkannt werden. Divergenzen zwischen den Generationen spricht Alice im Interview an und blendet diese teilweise ab. Dabei werden Orientierungen deutlich, die auf autonome Handlungspraxen – ohne die Mutter – verweisen und konventionelle Teilhabe fokussieren. Insgesamt fällt die Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten innerhalb der Familie krisenhaft aus. Alice findet sich in ihren negativen Gegenhorizonten der Ignoranz eigener Wünsche und Bedürfnisse wieder. Die innerfamiliären, fremdbestimmten Gegebenheiten bewältigt sie, indem sie sich arrangiert und Negatives für sich umdeutet, denn Einflussmöglichkeiten und Veränderungspotentiale sieht sie nicht. Die Außenwelt könnte für sie in einem positiven Zusammenhang stehen, der Möglichkeiten der Selbstbestimmung und des Verfolgens eigener Interessen enthielte. Für Alice lassen sich keine Orientierungsgehalte in Bezug auf eine außerfamiliäre Betreuung ermitteln, auch für die Schule bleibt das eine Leerstelle. Es lassen sich lediglich Orientierungen rekonstruieren, die die Außenwelt im Gegensatz zu den innerfamiliären Mängeln als positiv markieren, die sie aber kaum kennt. Für Alice bleibt die Außenwelt vornehmlich ein diffuser Sehnsuchtsort. Das auch deshalb, weil sie sich an Peerzusammenhängen orientiert erweist. Doch sie findet sich in ihrem negativen Gegenhorizont der Einsamkeitserfahrungen wieder. Zumindest hat sie eine Freundin, die unweit wohnt, aber sie konstatiert: „°sonst hab ich eigentlich niemand°“ (Z. 109)
Bezieht man das Wissen um ihre Einsamkeitserfahrungen und Wünsche nach gemeinsamen Zeiten mit Peers – ohne ihre Mutter – auf die Bildungsinstitutionen
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Kindergarten und Schule, steht zu vermuten, dass die peerbezogenen Sozialisationsbedingungen vor Ort Alices Vergemeinschaftsorientierung erst einmal entsprechen würden. Hier bleibt das Fazit, dass die Ausweglosigkeit von Alice an den Bau einer Familienenklave4 seitens ihrer Mutter gekoppelt ist.
4 Bilanzierung und Ausblick Es lässt sich konstatieren, dass Peers bedeutsame Akteure für Kinder sind, die ihnen Übergangserfahrungen erleichtern oder erschweren können oder bei ausbleibenden Übergängen relevante Personen darstellen, die ihnen innerfamiliär durch die Exklusion von Bildungsinstitutionen verwehrt bleiben (können). Dabei scheint das Wohlbefinden der befragten Kinder in Bildungseinrichtungen (bis auf den hier präsentierten Fall Liora) an das Gefühl des Eingebundenseins in Peerbeziehungen gebunden zu sein. Andere Kinder stellen für Kinder wichtige Akteure dar, mit denen sie gemeinsam spielen und sich von diesen angenommen fühlen wollen. Dabei zeigt sich auch, dass Peers im Fall von Konflikten, die (allein) nicht gelöst werden können, zur Exklusionsgefahr werden können. Schwierige Peerbeziehungen können wie im Fall von Jonas nicht nur mit Unwohlsein verbunden sein und im Wunsch resultieren sich die Schule weg zu wünschen. Ebenso ist Griebel und Niesel (2018) zu folgen, die Eltern als relevante Akteure ansehen, die die Übergänge ihrer Kinder selbst bewältigen müssen (ebd.). Forschungsbezogen ließe sich hier erst einmal an den innerfamiliären und biographischen Erfahrungen (in Bildungsinstitutionen) der Eltern anschließen, die generationenübergreifend zu schwierigen und oder scheiternden Übergangsprozessen der Kinder führen (können), wie sich in der eigenen Arbeit in
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dem Hintergrund eigener innerfamiliärer und in Bildungsinstitutionen gemachter Erfahrungen konstruiert Mutter Serafine für die Kinder Probleme und Schwierigkeiten, die sich für ihre Kinder ereignen könnten. Sie antizipiert eine Wiederholung ihrer eigenen Erfahrungen und will ihre Kinder vor den potentiellen Gefahren – insbesondere durch öffentliche Institutionen und Peers – schützen. Ihre Enaktierung besteht in einer Vermeidung: der Vermeidung von Krisen, negativen Erfahrungen und der eigenen Entwicklungsaufarbeitung, die möglicherweise durch die Anwesenheit der Kinder in Institutionen – und damit der Abwesenheit der Kinder zu Hause, mit damit einhergehender Bindungsverlustgefahr – entstehen könnte. Schließlich begrenzt sie die Erfahrungsmöglichkeiten ihrer Kinder in der Außenwelt (wie bspw. im Rahmen von Alltagserfahrungen des Einkaufens) auf einen vornehmlichen Verbleib dieser im innerfamiliären Raum.
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den Fällen Jonas und Alice zeigt. Darüber hinaus verweist (nicht nur) das Fallbeispiel Alice, dass Eltern Peers außerhalb der Familie als Entwicklungsrisiko (für die Kinder und das enge Familiengefüge) ansehen können, sodass Bildungsmöglichkeiten in Bildungseinrichtungen, die über die Familie hinausgehen, auch vermieden werden können. Wie Übergangserfahrungen erlebt werden und ob überhaupt, hängt jedoch nicht nur an Peers und an den Bedeutungen dieser. Während sich für Eltern, die sich gegen Bildungsinstitutionen entscheiden, verschiedene (Hinter-)Gründe ergeben (vgl. Spiegler 2008), stellen Peers für Kinder einen relevanten Aspekt bei Übergängen dar, die deren Wohlbefinden mitbestimmen. Hierbei wäre zu fragen, welche Möglichkeiten von Peers ausgehen, damit Übergänge gelingen. Des Weiteren ließe sich fragen, wann Übergänge als abgeschlossen gelten können. Vor dem Hintergrund des Fallbeispiels Jonas, einem Jungen, der sporadische Betreuungsphasen, Betreuungsabbrüche und Wechsel der Institutionen erlebte, stellt sich die Frage, wie sich Übergänge ausdifferenzieren lassen. In Jonas Fall lässt sich von wiederholenden Übergängen und zeitlich gestreckten Übergangsphasen ausgehen, die ein Eingewöhnen wiederkehrend erforderlich machen. Hier ließe sich auch fragen: Wann endet eine Übergangsphase und wann beginnt eine Bewältigung des Alltags in Bildungsinstitutionen? Darüber hinaus ist das Zusammenspiel verschiedener akteursbezogener Bedeutungen, Erfahrungen und Kontexte an Übergängen noch relativ unbestimmt. Während hier peerbezogene Orientierungsgehalte und deren innerfamiliäre Zusammenhänge skizziert wurden, bedarf es Forschungen, die beziehungs,- erziehungs- und bildungsrelevante Erfahrungen intra- und intergenerational als Familienmitglieder-Institutionen-Komplex eingehender erörtern (ähnlich Brake und Büchner 2013).
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Stoeck, Janine, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen Fakultät III, Institut für Pädagogik im Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt soziokulturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Kindheits- und Jugend- sowie Familienforschung, rekonstruktive Forschungsmethoden.
Passung und Anpassung. Zur Dynamik von Bildungsorientierungen in den Verhältnissen zwischen Familie und Schule Dominik Krinninger und Kaja Kesselhut Zusammenfassung
Der Beitrag greift das von Karl Mannheim konturierte Theorem des Erfahrungsraums (Mannheim 1980) auf und plädiert auf der Grundlage eines ethnographischen Forschungsprojekts zur familialen Bearbeitung des Übergangs in die Grundschule dafür, neben sozial spezifisch situierten Logiken – wie der des konjunktiven Wissens in Familien – auch gesellschaftliche bzw. institutionelle Diskurse und ihre Wirkungen auf Familien zu berücksichtigen. Nach einer theoretischen Perspektive auf die Einbindung von Familien in Diskurs-Praxis-Formationen (1) und einer Vorstellung des Forschungs projekts (2) werden drei Fälle dargestellt, um unterschiedliche Konstellationen zwischen Familie und Schule zu veranschaulichen, die sich im Kontext des Übergangs in die Grundschule ergeben (3). Ein spezifisches Augenmerk liegt dabei auf der Entwicklung familialer Bildungsorientierungen im Kontext dieser Konstellationen.
D. Krinninger (*) · K. Kesselhut Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Kesselhut E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_6
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1 Einleitung Die bildungspolitischen Großwetterlagen der jüngeren Vergangenheit sind nicht zuletzt geprägt durch Verschiebungen im Verhältnis zwischen Familie und Institutionen. Nicht nur die erhöhte gesellschaftliche Aufmerksamkeit für herkunftsbedingte Bildungseffekte (Stichwort: PISA-Schock), sondern auch der Ausbau frühpädagogischer Bildung und Betreuung stehen in diesem Zusammenhang. Für die erziehungswissenschaftliche Arbeit an den in diesen Kontexten aufgeworfenen Fragen stellt sich die Aufgabe, Konzepte zur Erfassung der relationalen Verhältnisse zwischen der Familie als Lebenswelt und den Einrichtungen des Bildungssystems als Institutionen (weiter) zu entwickeln. Das im vorliegenden Band zur Diskussion gestellte Konzept des Erfahrungsraums (Mannheim 1980) gewinnt vor diesem Hintergrund ein neues heuristisches Gewicht. Der folgende Beitrag greift das von Mannheim konturierte Theorem auf und plädiert auf der Grundlage eines Forschungsprojekts zur familialen Bearbeitung des Übergangs in die Grundschule dafür, neben sozial spezifisch situierten Logiken – wie der des konjunktiven Wissens in Familien – auch gesellschaftliche bzw. institutionelle Diskurse und ihre Wirkungen auf Familien zu berücksichtigen. Nach einer theoretischen Perspektive auf die Einbindung von Familien in Diskurs-Praxis-Formationen (1) und einer Vorstellung des Forschungsprojekts (2) werden drei Fälle dargestellt, um unterschiedliche Konstellationen zwischen Familie und Schule zu veranschaulichen, die sich im Kontext des Übergangs in die Grundschule ergeben (3). Ein spezifisches Augenmerk liegt dabei auf der Entwicklung familialer Bildungsorientierungen im Kontext dieser Konstellationen.
2 Die Familie als Erfahrungsraum und als Resonanzraum gesellschaftlicher Diskurse Einerseits spricht viel dafür, die Familie als Erfahrungsraum zu beschreiben. So heißt es bei Mannheim zur Frage, wie sich die Gewöhnung zweier Menschen aneinander auf weitere Personen ausweiten kann: „Der Dritte gerät in eine spezifische existenzielle Beziehung zu mir und zum anderen, und nimmt im Zusammenleben auch unserer beiden Beziehung in sich auf. Durch ein Zusammenleben mit uns, durch nunmehr zu dritt gemeinsam erlebten Strecken des Lebens, lernt er unser Sehen der Dinge kennen und mitzumachen; er nimmt teil an unserem Erfahrungsraume und bildet sich dadurch allmählich einen erweiterten, durch uns drei fundierten Erfahrungsraum.“ (Mannheim 1980, S. 215).
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Das beschriebene Schema lässt sich leicht auf Eltern-Kind-Verhältnisse übertragen. Und nicht nur an dieser Stelle fügt sich die Familie in Mannheims klassisches Konzept, weswegen sich einige entsprechende Perspektivierungen finden lassen (Bohnsack 1998; Hermes 2017). Auch in Bezug auf die Funktion impliziten Wissens in der Familienerziehung stellt die Wissenssoziologie Mannheims eine wichtige Referenz dar (Müller 2017; Krinninger 2020 i. E.). Dabei spielen nicht zuletzt die Hinweise Mannheims auf die Verschränkungen von explizitem und implizitem Wissen eine Rolle. So platziert er etwa zwischen immanentem und allgemeinem Verstehen die sog. „Kennerschaft“ (Mannheim 1980, S. 240), die sich einer Erfahrungsgemeinschaft schon allein durch „unartikulierte Gesten, sogenannte ‚Fingerzeige‘“ mitteilen kann. Dieses praxisnahe Wissen kann im Modus der Praxis zur Praxis sprechen; zugleich kann es – wenn erforderlich – auch in der Form einer „ausführlichen Analyse“ (ebd.) wirksam werden. Entsprechende Gesten lassen sich in Familien zwischen Eltern und Kindern z. B. als mahnende Blicke beobachten, denen – wenn sie keine Wirkung zeigen – explizite Regulierungen nachgeschoben werden können (Krinninger 2015). Bildungsorientierungen – verstanden als Haltungen und Einstellungen von Akteurinnen und Akteuren, die nicht allein auf institutionelle Bildungsverläufe, sondern in einem weiten Sinn auf Bildung bezogen sind und, implizit oder explizit, Praktiken, Themen sowie gegenwärtige und zukünftige Zwecke (mit-) tragen (Graßhoff et al. 2013) – fungieren nun mit Sicherheit auch auf der Ebene eines erfahrungsgeleiteten Wissens in der Familie. Einschlägige Forschungen nehmen in diesem Kontext etwa habituelle Passungsverhältnisse zwischen Familie und Schule in den Blick (ebd., auch Kramer 2017). Zusammengefasst bildet das Konzept des Erfahrungsraums eine erprobte Plattform, um nach familialen Bildungsorientierungen im Sinne von Passungsverhältnissen zwischen familialer Binnenlogik und der Schule als Bildungsinstitution zu fragen. Gegenüber dieser theoretischen und heuristischen Kompatibilität erscheinen – andererseits – jedoch auch Differenzierungen angebracht. Die Familie fungiert nicht nur als eine Gemeinschaft mit spezifischer Binnenlogik und als relativ eigenständiger Erfahrungsraum. Sie ist darüber hinaus auch – insbesondere in Bezug auf ihre Bildungsfunktion – auch Adressatin eines breiten Spektrums von Anforderungen, die vielfältige Akteure im öffentlichen, bildungspolitischen und pädagogisch-programmatischen Diskurs an sie richten. Signifikanten Aufschwung haben diese Diskurse und ihre Fokussierung des Bildungsgeschehens in der Familie durch die international vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA oder IGLU sowie deren öffentliche Wahrnehmung erfahren. In der Folge ergibt sich eine spezifische Sicht auf die Familie und ihre Effekte auf die institutionelle Bildung. Familie wird zunehmend daran
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gemessen, „wie gut sie in der Lage ist, das gebildete und leistungsstarke Kind hervorzubringen“ (Andresen 2012, S. 78). Eltern im Besonderen werden so in dichotomischer Tendenz als kompetente Bildungsbegleiter ihrer Kinder oder als unterstützungsbedürftige Adressaten von Elternbildung markiert, also als „gute“ oder „schlechte“ Eltern wie Betz u. a. zugespitzt formulieren (Betz et al. 2013). Andreas Lange (2010) sieht dazu im Kontext wohlfahrtsstaatlichen Wandels ein „Bildungsdispositiv“ (ebd., S. 101) am Werk, das nicht nur sozial benachteiligte Schichten trifft, sondern alle Eltern für den institutionellen Bildungserfolg ihrer Kinder in die Pflicht nimmt. Kommen die Eltern dem nicht oder ungenügend nach, greifen Zuschreibungen, die ein „elterliches Verantwortungsversagen“ (Oelkers 2012, S. 164) herausstellen. Diese gesellschaftlichen und bildungspolitischen Zugriffe schlagen sich auch in pädagogischer Programmatik nieder. Hier dominiert die Figur der ‚Partnerschaft‘ den Diskurs. Kritische Analysen (Betz et al. 2017, 2019a, 2019b) arbeiten heraus, dass mit dieser Figur aktive Kooperation mit Institutionen für Eltern zu einem nicht mehr hinterfragbaren Normativ wird und dass dabei die Interessen der Institutionen maßgeblich sind. Diese hier nur kursorisch benannten Beiträge sollen ausreichen, um zu verdeutlichen, dass sich ein spezifisches gesellschaftlich-diskursives Klima um die Familie gebildet hat (Krinninger 2019). Wie Eltern und Kinder Familie leben erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur eine Frage ihres Zusammenlebens im Erfahrungsraum Familie zu sein, sondern auch eine Frage, in welcher Weise gesellschaftliche Anrufungen von Familien aufgegriffen und bearbeitet werden (können). Insofern verknüpfen wir an dieser Stelle eine theoretische Perspektive auf Familien als Orte eines eigenen praktisch-impliziten Wissens mit einer Perspektive, die die Affizierung von Praktiken durch Diskurse aufnimmt. Aufbauend auf einer grundsätzlichen Modellierung von Familie als Konfiguration (Müller und Krinninger 2016), die in der prozessualen Konstituierung einer familialen Ordnung zugleich deren gesellschaftliche Bedingtheit und Gestaltungsleistungen der familialen Akteure sieht, greifen wir dafür auf das Konzept der Diskurs-Praxis-Formation (Reckwitz 2008) zurück. Damit lässt sich die soziale Wirklichkeit der Familie sowohl durch symbolisch-diskursive Prozesse vorstrukturiert beschreiben, als auch hervorgehend aus materiell-praktischen Arrangements und Vollzügen. Auf dieser heuristischen Basis können Dynamiken und Verschränkungen zwischen eher habitusnahen und eher konzeptuellen Wissensformen empirisch in den Blick genommen werden, um so die Interferenzen zwischen familialen Konzepten und Praktiken sichtbar zu machen, die ihrerseits jeweils ein je spezifisches Verhältnis zu institutionellen Anforderungen ausprägen.
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3 Das Forschungsprojekt zur familialen Bearbeitung des Übergangs in die Grundschule Das ethnographisch angelegte Projekt greift ein Desiderat sowohl der Übergangs- als auch der Familienforschung auf. Hier dominieren institutionelle Perspektiven, die sich etwa darauf richten, wie sogenannte Erziehungs- und Bildungspartnerschaften so gestaltet werden können, dass schulisches Lernen gelingt (Haase 2012; Killus und Paseka 2014). Wenige qualitative Studien machen explizit die Perspektive von Eltern zum Thema (Graßhoff et al. 2013; Andresen et al. 2015; Buse 2017; Cloos 2017). Wie die Familie den Übergang von Kindern in die Schule praktisch bearbeitet und welche Resonanzen das in den Familien hat, dazu gibt es bislang kaum empirisches Wissen. Die Bearbeitung entsprechender Fragen, wie sie unser Forschungsprojekt vornimmt, kann indes in mindestens zweierlei Hinsicht dazu beitragen, die eingangs angesprochenen diskursiven Verengungen zu korrigieren. Mit der theoretischen und empirischen Aufmerksamkeit darauf, wie die Familie als Akteursgemeinschaft sozialer Praktiken ihren Alltag und die sich ihr aus der gesellschaftlichen Umgebung stellenden Aufgaben bearbeitet, überschreitet das Projekt zum einen den in den bildungspolitischen und auch wissenschaftlichen Diskursen feststellbaren „Hyperfokus auf Eltern“ (Waterstradt 2015, S. 3). Gegenüber dieser dominanten Blickweise, in der die Eltern als maßgebliche Protagonisten des Familialen erscheinen, ist unser Zugang weiter gefasst. Wir fragen danach, wie intergenerationale Verhältnisse und Vollzüge in familiale Praktiken eingelagert sind, an denen sowohl Eltern als auch Kinder als Akteure beteiligt sind und in denen sich eine praktische Logik ausbildet, die auch jenseits individueller Intentionalität fungiert und die eine spezifische familiale Gemeinschaftlichkeit mit hervorbringt. Wenn wir also danach fragen, wie die Familie den Übergang des ersten Kindes in die Grundschule bearbeitet, dann geht es in dieser Hinsicht zum einen um Reaktionen der Familie als Akteursgemeinschaft von Eltern und Kindern auf institutionelle Ansprüche. Darüber hinaus ist der Fokus zum zweiten auf die Umgestaltung der Familie als Erfahrungsraum für Kinder sowie die Formen und Themen einer originär familialen Bildung und Erziehung gerichtet. Wir folgen dabei dem familientheoretischen Ansatz des ‚doing family‘ (Schier und Jurczyk 2007; Morgan 2011; Jurczyk et al. 2014; Müller und Krinninger 2016) – ein konzeptioneller Ansatz, der den Fokus auf familiale Aktivitäten und Praktiken lenkt – und dem Konzept des ‚displaying family‘ (Finch 2007) welches den familialen Repräsentationspraktiken Aufmerksamkeit widmet. Unter Betrachtung aller Akteure der Familie gehen wir so der Frage nach, wie sich entlang des
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Übergangs in die Grundschule die praktische Gestaltung der familialen Ordnung vollzieht. Dabei gehen wir mit Dockett et al. (2017) auch davon aus, dass die Familie als Ganze den Übergang durchlebt und sich selbst in einem Übergang befindet. Grundlegend verbinden wir ethnographische und rekonstruktive Vorgehensweisen. Ein multi-methodisches Design aus Beobachtungen und leitfadengestützten Gesprächen sowie videographischen und fotographischen Selbstdokumentationen der Familien ermöglicht uns Einblicke in den familialen Binnenraum. Die Familien wurden durch die Verteilung von insgesamt ca. 1000 Flyern in Kindertageseinrichtungen auf das Projekt aufmerksam gemacht. In zwei aufeinander folgenden Erhebungsdurchgängen wurden insgesamt zwölf Familien begleitet. Das Sample verfügt über eine breite Streuung der Familienformen und der sozialen Situierungen der Familien (Familien mit hohem, mittlerem und niedrigem monatlichem Einkommen; Single-Parents, Patchwork-Familien, Kernfamilien, transnationale Familien). Bei den Familien zuhause fanden jeweils fünf Forschungsbesuche durch Tandems aus einem Mitglied des Projektteams und einer wissenschaftlichen Hilfskraft statt. Die Erhebungen erstreckten sich auf einen Zeitraum zwischen zwei bis drei Monaten vor bis ca. acht Monate nach der Einschulung. Über teilnehmende Beobachtungen und leitfadengestützte sowie fokussierte Gespräche mit Eltern und Kindern wurde durch die Forscherinnen und Forscher empirisches Material gewonnen. Darüber hinaus wurden die Familien gebeten, fotographische und videographische Selbstdokumentationen bestimmter Szenen aus dem Alltag (also etwa der morgendliche Aufbruch zur Schule oder die Erledigung von Hausaufgaben) mit zur Verfügung gestellten Videokameras und Stativen zu erstellen. Mit den genutzten Erhebungsinstrumenten konnten Daten aus dem Alltag der Familien generiert werden, die anders kaum zu gewinnen gewesen wären. Allerdings ist das von den Familien selbst erhobene Material im Umfang limitiert und kann nicht nach Belieben ergänzt oder neu erstellt werden. Als Reaktion auf diese Beschränkungen verknüpfen wir in der Analyse der Daten ethnographische Strategien (Breidenstein et al. 2013) mit Verfahren der Rekonstruktiven Sozialforschung (Bohnsack 2014) und identifizieren nach dem Prinzip der Fokussierung in den familialen Selbstdokumentationen typische Interaktionssequenzen. Aus diesen Sequenzen rekonstruieren wir familiale Praxismuster und deren soziale Logik (zu dieser Verknüpfung auch Krinninger 2018). Konkret bedeutet dies, dass wir in unserem analytischen Vorgehen ethnografische Fallbeschreibungen aus dem Gesamt der jeweils vorhandenen Datenkonvolute durch s ozial-rekonstruktive Analysen ergänzen. Diese ermöglichen es, auch in Kontexten, zu denen nur begrenztes Material vorliegt und anhand eher schmaler Ausschnitte aus den videografisch dokumentierten Vollzügen, soziale Orientierungen herauszuarbeiten,
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deren empirische Triftigkeit dann auch an anderen Materialien (Interviews, Fotographien, Feldnotizen) geprüft werden kann. Die Kompilation von in unterschiedlichen Materialien vergleichbar auftretenden sozialen Sinnfiguren ist in zweierlei Hinsicht hilfreich: Zum einen erleichtert sie es, im eher dünnen ethnographischen Material zentrale Ordnungsmomente zu entdecken. Zum zweiten erlaubt sie eine Einordnung der mikroanalytischen Blicke auf einzelne Szenen und situationsspezifische Akteurskonstellationen in den Gesamtzusammenhang der Beschreibung der Familien als ganzheitliche Fälle.
4 Konstellationen zwischen Familie und Schule als Hintergrundfolie der Entwicklung familialer Bildungsorientierungen Im folgenden Abschnitt werden drei typische Konstellationen von Familie und Schule, die in den Analysen des Projekts herausgearbeitet werden konnten, in ihrem Verhältnis zu den familialen Bildungsorientierungen betrachtet. Die Konstellationen von Differenz, Kohärenz und Konflikt1 werden anhand von drei Familien dargestellt, in denen die Muster besonders prägnant zutage treten. Der Fokus liegt auf dem Verlauf des Übergangs der Kinder in die Grundschule. Im Anschluss an die empirischen Rekonstruktionen erfolgt ein jeweils kurzes analytisches Zwischenresümee, dass die Einbettung der familialen Praktiken in ein sozialkulturelles Milieu diskutiert.
4.1 Kohärenz: Familie Feltz Familie Feltz, das sind die Eltern Fritz (28) und Frauke (32) und der Sohn Finn (6); zum Zeitpunkt von Finns Einschulung ist Frauke mit ihrem zweiten Sohn Fridolin schwanger. Beide Eltern besitzen akademische Abschlüsse: Fritz hat Pharmazie studiert und arbeitet in Vollzeit in einer Apotheke, Frauke hat nach ihrem ersten Staatsexamen in Grundschulpädagogik noch einen Diplomstudiengang in Pädagogik abgeschlossen; über Einjahresverträge ist sie in der örtlichen, katholischen Familienbildungsstätte beschäftigt. Die Familie wohnt in einem freistehenden Einfamilienhaus zur Miete, dass sich am Stadtrand einer kleinen norddeutschen Großstadt befindet.
1Siehe
hierzu auch: Krinninger et al. 2020 (i. E.).
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Für die Familie ist eine Affinität zu schulischen Themen kennzeichnend – auch auf Ebene der familialen Praktiken, die die institutionellen Anforderungen friktionslos aufnehmen. In dieses Bild fügt sich sowohl der subtil lenkende Erziehungsgestus der Eltern, als auch die materielle Strukturierung der familialen Umgebung. Entsprechend blickt die Familie mit erkennbarer Souveränität auf den bevorstehenden Übergang. Die angemessene Unterstützung ihres Sohnes bei der Bewerkstelligung seiner (Lern-)Aufgaben scheint binnenfamilial keine Anforderung darzustellen, die sie überlasten würde. Frauke meint: Vom Lernen mache ich mir keine Sorgen, weil ich mir immer denke, wenn man zuhause danach guckt, dann wird ein Kind noch lernen, was es in der Grundschule lernen muss oder sollte.
Fritz ergänzt: Aber für mich ist es halt auch eben nur Grundschule. Also das was man da lernt, dass bekommt man schon mit. Und das können ja auch so ziemlich die Eltern, das meiste davon auch irgendwie.
Die Gestaltung des Übergangs findet bei Familie Feltz bereits ein dreiviertel Jahr vor Schulbeginn ihren Auftakt. Zum einen gibt es ein institutionelles Vorschulprogramm: Die Kindertageseinrichtung bietet eine „SchubiDu-Gruppe“ (‚Schulkind bist Du!‘) für Vorschulkinder an, in der die Kinder an schulische Tätigkeiten herangeführt werden und die örtliche Grundschule organisierte über den sogenannten „Brücken-Club“ Schnupperstunden für die Kinder des Einzugsgebiets. Flankiert wird das institutionelle Angebot zum anderen durch ein privates Programm der Eltern. Mehrere Monate vor Schulbeginn erlebt Finn aus Sicht seiner Eltern im Kindergarten regelrecht eine „Durststrecke“, er habe sich gelangweilt und in die Schule gehen wollen. Daraufhin melden sie ihn bei einem Blockflötenkurs an der Musikschule an. Ihnen scheint es jedoch nicht lediglich darum zu gehen, Finn eine beliebige Art von Ablenkung zu verschaffen, sondern auch darum, diese ‚Leerlauf‘-Phase effizient zu nutzen und vorausgreifend Formen institutionellen resp. schulischen Lernens anzubahnen. Frauke erklärt: „So ja dann auch jeden Tag üben, ist ja schon ein bisschen wie Hausaufgaben machen“. Die elterliche Aktivität bei der Anmoderation des Übergangs richtet sich auch auf die Umgestaltung von Finns Kinderzimmers. Sein Schreibtisch, der bis dato als „Ablage“ fungierte, wird „entrümpelt“ und vor das helle Kinderzimmerfenster gerückt. Dazu schaffen die Eltern einen Kinderdrehstuhl an, dessen Ergonomie ausdauerndes Sitzen möglich macht, außerdem erhält Finn schon jetzt seinen
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Schulranzen. Das Arrangement im Kinderzimmer mit Schreibtafel und frontaler Ausrichtung des Schreibtisches weist starke Anklänge an einen Klassenraum auf. Die elterliche Adressierung als künftiger Schüler wird von Finn entsprechend beantwortet, er hängt seinen neuen Ranzen an den Haken seines Schreibtisches, weist dem Objekt einen festen Platz in seinem Kinderzimmer zu, und übt sich bereits mehrere Monate vor Eintritt des Übergangs in eine schulische Norm ein, die den Kindern überwiegend stilles und konzentriertes Arbeiten in sitzender Körperhaltung abverlangt. Die Eltern nehmen die ‚korrekte‘ Bespielung der von ihnen vorbereiteten Umgebung honorierend zur Kenntnis: „Und jetzt sitzt er jetzt da auch tatsächlich mal dran, und malt halt …“, erklärt Frauke zufrieden. Der Übergang in die Grundschule vollzieht sich sodann (weitestgehend) entsprechend der elterlichen Erwartungen. Finn zeigt eine hohe Kompetenz darin, diese aufzugreifen und in eigene Praktiken zu übersetzen, wie seine Schilderungen seines strukturierten Umgangs hinsichtlich der Erledigung seiner Hausaufgaben zeigen. Auf die Frage der Ethnographin, was er denn als Erstes täte, wenn er nach der Schule nach Hause komme, beschreibt er detailliert einen den Ablauf des Heimkommens und Hausaufgabenmachens: „Also, erstmal mache ich ja immer die Hausaufgaben […]. Als allererstes stelle ich den Schulranzen erstmal hin … da direkt neben den Stuhl. […] dann hole ich die Postmappe raus, weil da steht nämlich immer, was ich aufhabe, muss ich immer abschreiben von der Tafel“. „Helfen dir deine Eltern bei deinen Hausaufgaben?“, will die Forscherin wissen. Finn entgegnet: „Ich mache die alleine und meine Eltern kontrollieren immer was, und wenn ich was irgendwie, dann gehe ich zu denen und frag die“. Und wenn er seine Hausaufgaben erledigt habe, sagt er klar, bringe er seine Schultasche „wieder [start]bereit für den nächsten Tag in die Küche“, damit er diese „am nächsten Tag direkt wieder nehmen kann“. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gelingt es Finn, den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Das Feedback der Lehrerin beim Elternsprechtag fällt durchgehend positiv aus. Einzig in einem Punkt stellen sich insbesondere aufseiten der Eltern episodisch Irritationen ein: Die Aufnahme neuer Peerkontakte in der Schule geschieht nicht so zügig und letztlich auch nicht so sozial selektiv, wie sich die Eltern dies für Finn erwünscht oder auch erwartet hatten. Es wird deutlich, dass es den Eltern nicht nur darum geht, dass Finn in Kontakt mit beliebigen Kindern tritt, sondern ihnen scheint umgekehrt daran gelegen, dass Finn Beziehungen knüpft, die ihrerseits als „zu ihm passend“ klassifiziert werden. Dieses aus Sicht der Eltern bestehende Problem scheint sich jedoch im Verlauf zu regulieren. Finn fällt durch distinguierende Sprechweisen auf, mit Vorliebe berichtet er seinen Eltern detailliert vom „schlimmen Quatsch“ seiner Mitschüler und dem Tadel der Lehrerin. Einige
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Monate nach Schulbeginn hat Finn nun mindestens eine Verabredung mit einem Klassenkameraden in der Woche. Frauke erzählt von den „Lego-Jungs“, sie sagt, sie sei so froh, dass er „seine Lego-Leute gefunden hat“. Zum Abschluss des Feldkontaktes hat sich ein stabiles (Passungs-)Verhältnis von Schule und Familie etabliert, welches von Finns Orientierung maßgeblich mitgetragen wird. Das friktionslose Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Ordnung und das ebenso geräuschlose Wechseln des Kindes zwischen den zwei Sphären erzeugt bei den Eltern den Eindruck von Beiläufigkeit: „Die Schulbildung läuft halt einfach so“, findet Frauke. Die Familie hat von ihrer anfänglichen Gelassenheit, mit der sie in die Schulzeit eingetreten ist, nichts eingebüßt. Anders gesagt: Seitens der Familie scheinen kaum Neujustierungen notwendig. Vielmehr scheinen die Eltern durch die durchgehend anerkennende Resonanz des Feldes eine Bestärkung ihrer souveränen Positionierung zu erfahren. So überrascht es auch wenig, dass die Eltern sich zufrieden zeigen und sich prospektiv wünschen, dass „es so bleibt, wie es ist und dass es so weiterläuft und so funktioniert“. Bei Familie Feltz stehen die Bildungsorientierungen dicht in Relation zur Lebensform der neuen akademischen Mittelklasse in der – neben ökonomischen Ressourcen – institutioneller Bildungserfolg ein zentrales Kapital darstellt (Reckwitz 2019). Intergenerationaler Statuserhalt erfolgt über die „Transmission von Bildung und Kultur“ (Büchner und Brake 2006). Vor diesem Hintergrund neigt sich die familiale Sphäre stark der schulischen entgegen, sodass sich insgesamt ein enges Passungsverhältnis von Familie und Schule ergibt. Auch Finn unterwandert diese Ordnung nicht. Ihm gelingt es, die von den Eltern präskribierte Subjektform des kompetenten Mitspielers bruchlos auszufüllen. Im Fallverlauf zeigen sich aufseiten des Kindes lediglich minimale Verzögerungen (vgl. Kesselhut und Krinninger 2019), dies ist zum Beispiel der Fall, wenn es um die Etablierung von Peerbeziehungen bzw. die Akkumulation sozialen Kapitals geht. Hier reagieren die Eltern mit impliziten Hinweisen, die offenkundig ausreichen, um Finn an die internalisierte soziale Ordnung (Büchner 2019) zu erinnern. Insgesamt kann hier von einer gelungenen Subjektvierung des Kindes als ‚guter Schüler‘ gesprochen werden. ‚Gut‘ meint in diesem Fall nicht lediglich die Erfüllung schulbezogener Leistungsanforderungen, sondern auch die Einnahme einer privilegierten Position im sozialen Raum.
4.2 Differenz: Familie Behrens Familie Behrens lebt wenige Kilometer außerhalb einer kleinen norddeutschen Großstadt in einem Einfamilienhaus mit eigenem Hof und Garten, das von
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landwirtschaftlich genutzten Feldern umgeben ist. Zu Familie Behrens gehören die beiden Kinder Bennet (6) und Britta (4), sowie der Tischlermeister und Objektleiter Bernhard (43) und die Floristin Beate (42), die zusätzlich zu ihrer vorwiegenden Tätigkeit als Hausfrau im Nebenerwerb auf dem Hof der Familie ein „Kreativstudio“ betreibt, in dem sie Schnittblumen, Gestecke und Kränze verkauft. Die familiale Ordnung bei Familie Behrens ist im Kontrast zu Familie Feltz durch eine praktisch-reflexive Trennung der Sphären Schule und Familie gekennzeichnet. Während die Schule als Ort des Lernens gilt, dessen strukturelle Rahmung ebenso wie die Zuständigkeit für die Umsetzung schulischer Anforderungen letztlich den Lehrkräften überantwortet ist, wird im familialen Binnenraum darauf geachtet, schulbezogene Erfordernisse klar einzugrenzen. Die praktische und konzeptuelle Herangehensweise der familialen Akteure verweist kongruent auf eine Differenzierung beider Domänen und auf ein darauf aufbauendes Grenzmanagement zwischen schulischen und familialen Belangen. In ihrem Erziehungsgestus grenzen sich die Eltern in ihren Narrationen selbstbewusst von städtischen Eltern ab. Ihre Kinder seien im Unterschied zu Stadtkindern – die „eben anders wohnen und mehr drinnen mit Computern machen“ – keine „Schönwetterkinder“. Bernhard und Beate setzen die urbane Kindheit in Differenz zu ihrer eigenen Präferenz des Spielens im Freien. Dieses normative Konzept autonomer ‚Dorfkindheit‘ spiegelt sich nicht nur in den Erzählungen der Eltern, sondern auch in der ausgedehnten Spielpraxis von Bennet wieder: Forscher: Spielt ihr dann, spielst du lieber draußen oder lieber drinnen mit deinen Treckern? (Bennet zeigt nach draußen) Draußen. Und was machst du dann so mit dem Bergcar2 und deinen Freunden? Bennet: Ich fahre dann, ich mache damit Ausflüge. Ich arbeite. Wir haben schon mal Heu von der Wiese geklaut. Forscher: (schmunzelt) Von welcher Wiese denn? Bennet: Da vorne. Da sind doch ganz viele Wiesen drum herum. Forscher: Ja das stimmt. Bennet: Von jeder ein paar. Und dann haben wir die hier hingefahren, hier getrocknet, wieder zurückgefahren und einfach da hingelegt als
2Gemeint
herstellt.
ist ein Pedal-Gokart der Firma Berg, die hochpreisige Outdoorspielzeuge
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Schwad3. Ja dann kam der Trecker, oh da liegt schon Schwad. Und dann hat der den gepresst, als alle anderen auch geschwadert waren. Forscher: Also habt ihr quasi geholfen? Bennet: Mhm, wir haben Stroh geklaut und geholfen dann. […]. Forscher: Und was heißt Ausflüge? Wo geht es dann hin? Bennet: Mit dem Bergcar hier die Straße herauf und herunter. Dann suchen wir uns meistens hier im Wald einen schönen Ort oder da hinten bei den Bäumen einen schönen Ort und halten an und machen da, suchen da etwas und experimentieren ein bisschen von alleine. Forscher: Und was macht einen schönen Ort aus? Bennet: Wir bauen Hütten, Regenhütten. Wir machen richtig etwas da. Das Spiel und seine Materialitäten nehmen für Bennet eine zentrale Rolle ein, dies wird auch anhand der Feldnotizen nachvollziehbar, die in Anschluss an einen Forschungsbesuch kurz vor Schulbeginn angefertigt wurden: Bennet ist von unserer Aufforderung, sein Kinderzimmer zu zeichnen, ein wenig irritiert und will uns sein Zimmer viel lieber zeigen. Wir gehen hoch und bekommen seine Trecker- und Landmaschinen-Sammlung präsentiert. Trecker sind sein Thema, er hat eine ganze Zimmerecke voll mit Spielzeugtraktoren, entsprechende Poster von Landwehrmaschinen an den Wänden und auch ein Sammelalbum für Klebebildchen. Beim Gespräch mit ihm fällt es uns schwer, ihn auf das Thema Schule zu lenken. Er zeigt uns zwar seinen Schulranzen, aber für was die Dinge, die da schon drin sind (Mäppchen, Turnbeutel) in der Schule gebraucht werden, dazu sagt er nichts.
Mit dem Beginn der Schule kommt es zu erheblichen strukturellen Transformationen im Alltag von Bennet. Beate konstatiert, die Zeit zum Spielen sei „drastisch wenig geworden“. Die Spielepisoden finden nun verdichtet an den Wochenenden statt. Schulische Aufgaben werden zwar nicht systematisch aus dem familialen Binnenraum ausgeschlossen, ihnen wird jedoch eine spezifische Zone zugewiesen, innerhalb derer sie bearbeitet werden (oder eben auch ruhen dürfen). Diese Differenzierung wird von allen Akteuren gemeinsam geleistet.
3Hierbei
handelt es sich um einen Terminus aus der Landwirtschaft. Heu, Stroh und Erntegut werden in sog. Schwaden, also kleinen Anhäufungen, auf dem Feld abgelegt, sodass sie anschließend zügig abtransportiert werden können.
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Das zeigt sich nicht nur am Beispiel der Bewahrung des Kinderzimmers als genuiner Ort des Spiels; der Schreibtisch, der in einer Ecke des Kinderzimmers steht, findet keine Verwendung als Ort der Erledigung schulischer Aufgaben: Forscher: Lernst du eigentlich auch hier oben an diesem Schreibtisch oder? Bennet: Nö, warum glaubst du denn sonst, dass hier alles vollgestellt ist.
Dies bildet sich ebenfalls in subtiler Weise in den Videographien ab, in denen Bennet in Anwesenheit seiner Mutter die Hausaufgaben erledigt. Sie finden außerhalb des Kinderzimmers am Küchentisch statt. Die Mutter begleitet das Geschehen, legt dabei jedoch eine erkennbare Zurückhaltung an den Tag. Es kommt wiederholt zu kleinen Szenen, in denen Bennet ausschert, nach einem Spielzeug greift oder Grimassen in Richtung Kamera schneidet. Beate duldet dies weitestgehend. Allerdings zeigt sie dabei eine dezente Gereiztheit, deren implizite Botschaft lautet, dass eigentlich andere Verhaltensweisen von Bennet erwartet werden. Zuletzt wartet sie ab, bis Bennet sich ‚ausgetobt‘ hat und sich wieder seinen Aufgaben zuwendet. Weil sie Bennet diese dynamischen Wechsel zwischen der Subjektposition des Schulkindes und der des Spielkindes prinzipiell zugesteht, scheint es kaum einen Ansatzpunkt für Spannungen zu geben. Entgegen der Sorge der Eltern, Bennets Affinität zu eher praktischen Beschäftigungen („er baut lieber und tüftelt“) und die Verringerung seiner Spielzeit könnten im Verhältnis zur Schule ein Problem darstellen, zeigt sich Bennets adaptionsfähig. Er nutzt nun die Wochenenden intensiv zum Spielen mit seinen Freunden und geht wochentags gerne zur Schule. Die Eltern sind sichtlich überrascht von der positiven Resonanz der Klassenlehrerin, die Bennet als eine ausgewiesene Stütze der schulischen Ordnung beschreibt („Ruhepol“ der Klasse). Bei genauerer Betrachtung fällt ins Auge, dass Bennets ‚komplizenhafte‘ Performance in der Schule durchaus mit dem Erziehungskonzept seiner Eltern („Streng aber gerecht“) und ihren Ansprüchen an die Schule als eine mit Autorität ausgestattete Instanz, der sich auch ihr Sohn (zumindest in Teilen) unterzuordnen hat („keine Larifarilehrer“), korrespondiert. Die Bildungsorientierung der Eltern ist maßgeblich von der kulturellen Lebensform auf dem Land bzw. einer handwerklichen und landwirtschaftlichen Kultur geprägt, in der traditionale Werte und die Anerkennung bestehender Ordnungen eine Rolle spielen. Bei Familie Behrens geht es im Unterschied zu Familie Feltz daher kaum um eine souveräne Entgrenzung sozialer Felder, vielmehr um eine funktionalistische Trennung der verschiedenen Anforderungsbereiche. Ein (strategischer) Vorteil dieser Parzellierung (Natur vs. Kultur, Freizeit vs. Arbeit, Entfaltung vs. Disziplinierung) besteht gewissermaßen darin,
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dass die Subjekte Ansprüche zurückweisen und sich temporär Entlastung verschaffen können, ohne dass bestehende Verhältnisse prinzipiell kritisiert werden müssten. Weder muss so schulischer Erfolg mit der Loslösung vom Herkunftsmilieu bezahlt, noch die Institution Schule und der damit in Aussicht gestellte gesellschaftliche Erfolg infrage gestellt werden. Gemäß der differenzierenden Logik firmiert die Schule bei Familie Behrens als komplementärer Gegenpart zum familialen Erfahrungsraum. Wesentlich für das Gelingen des symmetrischen Nebeneinanders der differenten Ordnungen ist auch, dass Bennet die Wechsel zwischen den Positionen des spielaffinen Familienkindes und des disziplinierten Schülers offenkundig beherrscht und imstande ist, das familiale Konzept der Trennung in der Praxis zu realisieren.
4.3 Konflikt: Familie Jansen Familie Jansen lebt in einem kleinen Eigenheim im Bungalowstil, zu dem ein Garten mit Terrasse gehört. Im Garten sind ein Trampolin und eine Schaukel aufgestellt. Vater Jens (51) leitet gemeinsam mit einem Kompagnon eine kleine IT-Firma und hat akademische Abschlüsse in Betriebswirtschaftslehre und Physik. Mutter Jana (47) arbeitet als ausgebildete Heilerziehungspflegerin in einem integrativen Kindergarten. Julian (7) kam kurz nach seiner Geburt als Pflegekind in die Familie und wurde zwei Jahre später adoptiert. Angesichts der Adoption Julians sind Jana und Jens schon früh dazu aufgerufen, ihre Elternschaft in besonderem Maß auch gegenüber öffentlichen Institutionen zu leben und gleichzeitig besondere Bedürfnisse Julians in den Blick zu nehmen. So sehen sich die Eltern von Beginn an auch stark in der Verantwortung, die „mangelnde Impulskontrolle“, die sie bei Julian sehen, mit pädagogischen Mitteln zu bearbeiten: Vater: Wir wissen ja, dass er schwierig ist, das ist klar, das wissen wir ja schon seit Jahren, aber … Mutter: … deswegen machen wir auch ganz viel! Vater: Ja, genau.
Entsprechend besucht Julian zunächst einen integrativen Kindergarten4 und wird auf eine Schule mit dem Schwerpunkt zur Förderung der motorischen
4Hierbei
arbeitet.
handelt es sich jedoch nicht um dieselbe Einrichtung in der auch Julians Mutter
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Entwicklung eingeschult. Die Eltern formulieren vorab klare Erwartungen an die pädagogische Praxis der Förderschule. Einerseits wünschen sie eine individuelle Orientierung an den Stärken Julians („sehr liebenswert, hilfsbereit, freundlich“) und insgesamt einen von Anerkennung getragenen Blick. Gleichzeitig richtet sich ihre Erwartung auch auf eine Kompensation von wahrgenommenen Defiziten. Die Einpassung von Julian in eine institutionelle Ordnung bildet aus ihrer Sicht eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Julian prospektiv im Stande sein wird, den Anforderungen des regulären Schulsystems zu entsprechen. So formuliert Jens an die Lehrerinnen und Lehrer die Erwartung: Die haben [.] die richtige Schulform ihm dann so bisschen auch beizubringen. […] Und vielleicht kriegen die das dann hin, ihn dann auch so in die Richtung zu bringen, dass er dann auch normal dem Unterricht folgen kann dann auch. Was momentan eher doch schwierig sein könnte.
Auch in der Phase des Übergangs zeigt sich eine deutliche Orientierung an institutionell-professioneller Pädagogik. Dies wird zum einen in einem aktiven Zugehen auf professionelle Akteure (Kinder- und Jugendtherapeut, sozialpädagogische Familienhilfe, Lehrkräfte, Schulleitungen) sichtbar, die die Eltern bei Problemen ansprechen, und tritt ebenso in pädagogischen Praktiken in der Familie zutage. Auch Julians Kinderzimmer wird im Sinne einer Pädagogisierung durch die Eltern strukturiert; im Laufe des Forschungskontaktes werden sukzessive mehr und mehr Spielzeuge aus dem Zimmer entfernt, sodass sich nur noch wenige Spielutensilien im Zimmer befinden („damit er sich im Kopf besser sortieren kann“). Trotz des intensiven Engagements der Eltern verläuft Julians erstes Schuljahr insgesamt sehr problematisch. Nachdem in der Schule Verhaltensprobleme auftreten, wird Julian stundenweise vom Unterricht ausgeschlossen und den Eltern wird eine Ritalin-Medikation nahegelegt. Schließlich erwirkt die Familie im laufenden Schuljahr einen Wechsel auf eine andere Schule mit sozial-emotionalem Förderschwerpunkt. Aber hier erleben die Eltern ein „Déjàvu“, Julian wird abermals vom Unterricht suspendiert, was die Eltern, die beide berufstätig sind, nicht nur vor erhebliche logistische Probleme stellt. Zudem wird den Eltern die Wiederholung der ersten Klasse angeraten. Auch für Julian stellt sich die Schule kaum als ein Ort sozialer Anerkennung dar, die negativen Erfahrungen scheinen sich zu verdichten. „Julian: Die eine Schule schimpft und die jetzt auch. Bei der einen schimpfen die, bei der anderen haben die nicht so geschimpft aber da wird man zum Rektor geschickt“ […].
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Forscher: Und was machen die sonst da in der Schule? Außer schimpfen, machen sie, machen sie bestimmt andere Sachen noch oder? [Pause]. Julian: Mehr will ich darüber nicht reden.
Ebenso wenig stellen sich freundschaftliche Beziehungen zu Peers ein, die ein positives Gegengewicht zu den konfliktgeladenen Erfahrungen mit dem pädagogischen Personal bilden könnten. Julian bekundet: „Meine Freunde sind ähm, Scheiß-Freunde, die immer Blödsinn machen“. Die Eltern sind sichtlich in Mitleidenschaft gezogen, die Mutter ist während unserer Forschungsbesuche mehrmals den Tränen nahe. Auch binnenfamilial kommt es nun immer wieder zu spannungsreichen Konflikten zwischen Julian und seinen Eltern, etwa wenn es um das korrekte Erledigen der Hausaufgaben geht. Zuletzt erwägt die Familie einen weiteren Schulwechsel auf eine heilpädagogische Waldorfschule. Diese Neuausrichtung auf ein anthroposophischsonderpädagogisches Schulkonzept würde eine stärkere Orientierung an Julians spezifischen „Bedürfnissen“ nach Spiel und Bewegung bedeuten. Mit dieser Abkehr vom staatlichen Schulsystem, von dem die Eltern wesentlich enttäuscht sind („wir hätten mehr Pädagogik erwartet“), ist die Hoffnung verbunden, dass Julian in diesem neuen Kontext und entgegen seiner bisherigen Erfahrungen „Schulfreude“ entwickeln kann. Gleichwohl markieren die Eltern ein Risiko: Die eher liberale Ausrichtung des reformpädagogischen Konzepts entspricht kaum ihren Vorstellungen von einer eher regelgeleiteten und auf die Einhaltung von Ordnung bedachten Erziehung („liebevolle Konsequenz“). Zuletzt deuten sich hier erhebliche Verschiebungen in den Bildungsansprüchen an, die Eltern räumen dem ‚guten‘ Leben mehr Gewicht ein. Damit gehen sie nicht zuletzt (sichtlich erschöpft) in Distanz zu der Idee einer erfolgreichen institutionellen Bildungsbiografie und den damit verbundenen Versprechungen aber auch Enttäuschungen. Die familiale Ordnung bei Familie Jansen ist stark pädagogisch-diskursiv aufgeladen. Die Bildungsorientierung, so ließe sich sagen, richtet sich vor allem auf die „Verheißungen“ (Diehm 2018) des frühpädagogischen Förder-Diskurses, dass die Natur des Kindes verfügbar und schulischer Erfolg (ungeachtet einer sozialen Platzierung) durch Anstrengung (Elternmitarbeit) erreichbar sei. Das intensive elterliche Engagement und die Wahl einer Förderschule stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Ideen. Letztlich aber funktioniert die praktische Bearbeitung des Übergangs nicht, das Verhältnis von Schule und Familie ist von Konflikten geprägt. Es griffe jedoch zu kurz, den Misserfolg individuell dem Kind zuzuschreiben, noch ist es angeraten, den Eltern an dieser Stelle ein unangemessenes Bemühen zu unterstellen. Vielmehr lässt sich hinsichtlich der Lage
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der Eltern konstatieren, dass das pädagogische Versprechen einen aktivistischen Gestus nahezu alternativlos erscheinen lässt. Die Wahl eines optimalen pädagogischen Ortes, der Julians Idiosynkrasie in Richtung ‚Schulfähigkeit‘ verschiebt, wird so betrachtet zur Pflicht. Mit Blick auf Julians Verhalten, das in schulischen Kontexten als störend markiert wird, ist nicht entscheidbar, ob es ihm an Dispositionen mangelt, um die von ihm erwartete Subjektposition des pädagogisch gefügigen Kindes auszufüllen oder ob die Anrufung vonseiten der Schule als ‚Problemschüler‘ überwiegt und ihm der Spielraum genommen wird, dieser stigmatisierenden Adressierung zu entgehen. Was jedoch rekonstruiert werden kann, ist, dass das beharrliche Festhalten der Eltern an institutionellen Bildungsansprüchen in Konflikten mit der Schule mündet. Das Versprechen der Förderschule, gesellschaftliche Mitspielfähigkeit aufzubauen, entpuppt sich gewissermaßen als „Mythos“ (Weishaupt 2017). Zuletzt bedeutet die mögliche Entscheidung für eine anthroposophische Förderschule für die Eltern einerseits einen Ausstieg aus einem von erfahrener Missachtung geprägten Verhältnis zum öffentlichen Schulsystem, andererseits weist diese Emanzipation eine gewisse Ambivalenz auf, da sie aus familialer Sicht auch mit einer (weiteren) Relativierung von Bildungsansprüchen assoziiert ist.
5 Schluss Im Überblick über die dargestellten Fälle zeigen sich sowohl die Tragfähigkeit einer heuristischen Perspektive, die die Familie als Erfahrungsraum erfasst, als auch Dynamiken, die auf weiterreichende Kontexte verweisen, aus denen sich die familialen Bildungsorientierungen speisen. Eine primär auf den familialen Erfahrungsraum fokussierte Sichtweise ließe sich bei Familie Behrens durchaus mit analytischem Gewinn in Anschlag bringen. In diesem Fall wird eine deutliche Korrespondenz zwischen der Familie und ihrer Einbindung in das ländlich-handwerkliche Milieu sowie dem daraus gespeisten Kindheits- und Bildungskonzept sichtbar, das zu einem stabilen Nebeneinander von Familie und Schule mit je unterschiedlichen Funktionszuschreibungen durch die Familie führt. Bei Familie Feltz allerdings scheint in der Souveränität, mit der die Familie durch den Übergang gleitet, auch auf, dass nicht nur Institution und Familie sich passgenau als Teile eines Milieus fügen. Darüber hinaus zeigen sich die Eltern sensibilisiert für Fragen der Ergonomie als wesentlicher Bedingung des Arrangements für Finns selbstständiges Bearbeiten der Hausaufgaben und sie überbrücken eine Phase vermeintlicher Unterforderung durch ein non-formales Bildungsangebot. Wie selbstverständlich reichen hier Diskurse um die Förderung
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kindlichen Lernens (und um Gesundheit) in die Familie und sind integriert in familiale Wissens- und Praxiskonstellationen. Bei Familie Jansen schließlich korrespondiert der krisenhafte Verlauf von Julians erstem Schuljahr maßgeblich mit einer Enttäuschung auf Seiten der Familie über das mit hohem Einsatz entlang diskursiver Erwartungen betriebene und dennoch fruchtlose Engagement. Natürlich sind für die Affinität dazu, ‚alles richtig‘ zu machen, auch familienspezifische Interessen und Wertungsmuster von Bedeutung, sodass auch in diesem Fall konjunktives Wissen relevant ist. Die Dynamik des Falles entfaltet sich indes wesentlich in der familialen Adaption gesellschaftlich-institutioneller Erwartungsmuster. Vor dem Hintergrund dieser fallstrukturierenden Verschränkungen der Ebenen des familialen Erfahrungsraumes mit der Ebene bildungspolitischer und pädagogischer (sowie in weiteren Fällen auch weiterer) Diskurse erscheint es uns in theoretischer Hinsicht angebracht, mit der Relationalität der Familie als Konfiguration zwischen Lebenswelt und Institutionen (Müller und Krinninger 2016) auch eine Relationalität von Wissensformen aufzunehmen. Nicht zuletzt kann in dieser Perspektive, die nicht nur Passungen und Differenzen zwischen familialen Orientierungen und institutionellen Anforderungen erfassen kann, sondern auch die sich zwischen Familie und Institutionen entwickelnden Dynamiken, die Beteiligung der Kinder an der Konstitution der Verhältnisse zwischen Familie und Schule als ein weiteres dynamisierendes Element berücksichtigt werden. Dies auszuführen wäre allerdings Gegenstand eines weiteren Beitrags.
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Krinninger, Dominik, Prof. Dr., Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Kindheits- und Familienforschung an der Universität Osnabrück, Institut für Erziehungswissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Kindheits- und Familienforschung, Übergangsforschung, Kooperation zwischen privaten und öffentlichen AkteurInnen, Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Kesselhut, Kaja, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück, Institut für Erziehungswissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Ethnographie, Praxistheorien (insbes. Subjektivierungs- und Akteur-Netzwerktheorie), pädagogische Kindheitsund Familienforschung, früheste Kindheit (Säuglinge und Kleinstkinder).
Zur Passung der Bildungsorientierungen von Eltern und professionellen Akteurinnen und Akteuren beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule Sarah Schmenger Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der seit der PISA-Studie aus dem Jahr 2001 gewachsenen Bedeutung, die dem Kindergarten als Bildungsinstitution zugeschrieben wird, werden im vorliegenden Beitrag Ergebnisse aus der Studie der Autorin zur Passung der Bildungsorientierungen von Eltern, pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften zum Zeitpunkt des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule vorgestellt. In einem qualitativ-rekonstruktiven Untersuchungsdesign wurden Interviews mit Eltern sowie eine Gruppendiskussion mit Erzieherinnen und Lehrerinnen mittels der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Der Vergleich zeigt, dass sowohl innerhalb der Elternschaft als auch zwischen Eltern und Fachkräften unterschiedliche (milieuspezifische) Vorstellungen von Bildung im Vorschulbereich vorherrschen. Übereinstimmend weisen die professionellen Akteurinnen wahrgenommene schulähnliche Erwartungen der Eltern an den Kindergarten zurück und betonen stattdessen seine kompensatorische Funktion. Dies entspricht den Erwartungen von Eltern mit weniger hoch ausgeprägten Bildungsorientierungen, die sich von den Institutionen in erster Linie Unterstützung in ihrem als belastet erlebten Alltag wünschen. Gleichzeitig wird deutlich, dass
S. Schmenger (*) Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_7
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abweichende Bildungsorientierungen u. a. durch vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Fachkräften kompensiert werden können und dem Kindergarten hierbei eine Brückenfunktion zur Schule zukommt.
1 Einleitung Der Kindergarten1 als Ort der (frühen) Bildung ist seit Beginn der 2000er Jahre verstärkt in den Mittelpunkt des politischen und (fach-)öffentlichen Interesses gerückt. Ein Auslöser hierfür war die PISA-Studie aus dem Jahr 2001, die für Deutschland im internationalen Vergleich unterdurchschnittliche schulische Leistungen der Schülerinnen und Schüler sowie einen überdurchschnittlich großen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft belegte (vgl. Stanat et al. 2003, S. 51 ff.). Politisch wurde daher die Notwendigkeit gesehen, das Potenzial, das in einer möglichst frühen Bildung und Förderung im Elementarbereich gesehen wird, besser zu nutzen (vgl. z. B. Arbeitsstab Forum Bildung 2001). Die Folge waren zentrale Weiterentwicklungen im Elementarbereich, wozu die Stärkung des Bildungsaspektes im Kindergarten u. a. durch die Entwicklung von Bildungs- und Erziehungsplänen für den Elementarbereich in allen Bundesländern gehört. Zudem kam es zu einem massiven Ausbau von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren (vgl. Rauschenbach und Meiner-Teubner 2019, S. 5) und der Einführung des „Gute-KiTa-Gesetzes“ im Jahr 2019, das auf die Steigerung der Qualität in Kindertageseinrichtungen zielt (vgl. BMFSFJ 2019). Mit der Stärkung der Bildungsfunktion des Kindergartens einher ging ein verstärkter Blick auf den Übergang vom Kindergarten in die Schule in Politik und Forschung. Seitens der Politik wurde die Notwendigkeit einer angemessenen Gestaltung dieser Transition, insbesondere die Kooperation von Eltern, pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften sowie die inhaltliche und pädagogisch-methodische Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule als wichtige Kooperationsgrundlagen unterstrichen (vgl. JMK/KMK 2004a, JMK/KMK 2004b). Der in der frühpädagogischen Forschung zum Übergang vom Elementar- in den Primarbereich derzeit dominierende Transitionsansatz
1Im
vorliegenden Beitrag wird hauptsächlich der Begriff des „Kindergartens“ verwendet, jedoch wird der Begriff „Kindertageseinrichtung“ synonym gebraucht.
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beschreibt die Herstellung der Schulfähigkeit als „Ko-Konstruktion“ (Griebel und Niesel 2003, S. 134) aller am Übergang beteiligten Akteurinnen und Akteure, wozu neben Kindern und Eltern auch die pädagogischen Fachkräfte im Kindergarten und die Lehrkräfte gezählt werden. Der Ansatz geht davon aus, dass mit dem Übergang vom Kindergarten in die Schule eine Anhäufung von Belastungsfaktoren verbunden ist, was Bewältigungsleistungen der ganzen Familie notwendig macht. Die Zusammenarbeit und inhaltliche Abstimmung aller am Übergang beteiligten Akteurinnen und Akteure ist eine Möglichkeit, potenziellen Risiken entgegenzuwirken und die Transition erfolgreich zu bewältigen (vgl. ebd., S. 144 f.). Auch in der frühpädagogischen Übergangsforschung wird angenommen, dass eine zu große Distanz zwischen den Institutionen Probleme beim Übergang wahrscheinlicher macht (vgl. z. B. Roßbach 2006, S. 285 f.). Insofern gehen sowohl Politik als auch Forschung davon aus, dass eine „Passung“ der jeweiligen Vorstellungen von Bildung einen erfolgreichen Übergang vom Kindergarten in die Grundschule befördert. In der frühpädagogischen Forschung herrscht allerdings die Annahme vor, dass durchaus unterschiedliche Sichtweisen der am Übergang beteiligten erwachsenen Akteurinnen und Akteure gegenüber dem Kindergarten als Bildungsinstitution bestehen (vgl. Herrmann 2007, S. 211, Fried 2003, S. 64, Betz 2010, S. 138, Andresen et al. 2011, S. 212, Roßbach 2006, S. 285). Die Studie „Eltern unter Druck“ zeigt, dass die Mehrheit der befragten Eltern dem hiesigen Bildungssystem wenig Vertrauen entgegenbringt und im Anschluss an die PISA-Debatte den Eindruck hat, das zeitlich kurze Entwicklungsfenster der frühen Kindheit intensiver nutzen zu müssen. Insbesondere Eltern aus der Mittel- und Oberschicht fühlen sich daher genötigt, die Bildung ihrer Kinder so früh wie möglich – bereits im Kindergarten – durch zusätzliche Förderangebote selbst in die Hand zu nehmen (vgl. Henry-Huthmacher 2008, S. 3 ff.; Merkle und Wippermann 2008, S. 3 ff.)2. Die Studie von Graßhoff et al. (2013) zeigt, dass die Mehrheit der befragten Eltern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, den Kindergarten ihres Kindes als Ort wahrnimmt, an dem vorrangig gespielt wird. Die Schule wird dagegen als Ort des Lernens antizipiert, an dem (endlich) der „Ernst des Lebens“ beginnt (vgl. Graßhoff et al. 2013, S. 123 ff.).
2Hinweise
auf schichtspezifische Bildungsvorstellungen von Eltern finden sich auch in anderen einschlägigen Studien für Deutschland, vgl. hierzu z. B. Wolf 2002, Stuck und Wolf 2004, Faust 2013.
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Die Studien liefern folglich Hinweise darauf, dass es sowohl zwischen Eltern und Bildungsinstitutionen als auch innerhalb der Elternschaft unterschiedliche Vorstellungen von frühkindlicher Bildung und damit den Aufgaben des Kindergartens zu geben scheint. Der vorliegende Beitrag3 befasst sich mit der Frage, welche Bildungsorientierungen bei Eltern mit unterschiedlichem sozialstrukturellem Hintergrund sowie pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften zum Zeitpunkt des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule vorherrschen. Darin impliziert sind Fragen danach, ob Bildung überhaupt als eine primäre Aufgabe des Kindergartens gesehen wird, wie die Rolle des Kindergartens im Hinblick auf die Schule eingeschätzt wird und welche generellen Vorstellungen von Bildung bei den Akteurinnen und Akteuren bestehen. Außerdem wird herausgearbeitet, inwiefern die jeweiligen Orientierungen zueinander „passen“. Die Frage des Passungsverhältnisses zwischen den Orientierungen der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure ist nicht nur im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule und eine erfolgreiche Übergangsgestaltung von Relevanz. Studien belegen, wie entscheidend eine gelungene Passung zwischen familiären Bildungsorientierungen und der Schulkultur für den schulischen Erfolg eines Kindes ist.4 Gerade am Übergang in das Schulsystem gilt es im Kontext sozialer Ungleichheit die Fragen in den Blick zu nehmen, welche Rolle dem Elementarbereich als „erster Station“ in der institutionellen kindlichen Bildungskarriere hinsichtlich der Herstellung von Nähe und Distanz der Familie zu öffentlichen Bildungsinstitutionen zukommt bzw. zukommen kann und inwieweit er schulische Anschlussoptionen ermöglicht bzw. verhindert. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kinder heute früher und länger institutionell betreut werden (vgl. BMFSFJ 2013, S. 100), nimmt die Bedeutung dieser aufgeworfenen Fragen zu.
3Der vorliegende Beitrag basiert auf der Dissertation der Autorin: Schmenger, S. (2016): Der Kindergarten als Bildungsinstitution!? Zur Passung der Bildungsorientierungen zentraler Akteure beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Die Studie ist im Rahmen eines Projekts zur Rolle der Eltern im Übergangsprozess ihrer Kinder vom Kindergarten in die Grundschule entstanden, dessen Ergebnisse unter Graßhoff et al. 2013 veröffentlicht wurden. 4Vgl. z. B. Bourdieu 2001, Bourdieu und Passeron 1971. Für Deutschland vgl. z. B. die Ergebnisse der PISA-Studie (Baumert et al. 2001) sowie Auswertungen des DJIKinderpanels (Betz 2006 und 2007).
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2 Zu den Begriffen „Bildungsorientierung“ und „Passung“ Der vorliegende Beitrag arbeitet mit den Begriffen Bildungsorientierung und Passung, weswegen es zunächst einer theoretischen Verortung beider Begrifflichkeiten bedarf.
2.1 Der Begriff der Bildungsorientierung Um Einstellungen gegenüber Bildung zu beschreiben, wird in der Forschung oftmals der Begriff der Bildungsorientierung verwendet. Von einigen Autorinnen und Autoren wird der Begriff eher eng gefasst und als Interesse der Eltern an der Schulbildung ihrer Kinder (vgl. Tiedemann und Billmann-Mahecha 2004, S. 114 ff.) oder mittels des Grades der Verpflichtung der Schülerinnen und Schüler gegenüber dem Ausbildungssystem und der Bedeutung, die sie Bildung im Allgemeinen zuschreiben (vgl. Crosnoe 2001, S. 211), operationalisiert. Von anderen Autorinnen und Autoren wird der Begriff der Bildungsorientierung breiter gefasst und um lebensweltliche Erfahrungen und Handlungen erweitert. Busse verwendet den Begriff „im Sinne einer grundlegenden habituellen Haltung“ (Busse 2010, S. 43) und macht deutlich, dass mit diesem Begriff „neben dem schulisch und familial erwünschten Schulabschluss auch die habituellen Haltungen der jeweiligen Akteure, die auf der Ebene der Rekonstruktion der Interaktion sichtbar werden […]“ (ebd.), gemeint sind. Anstelle des Begriffes der Bildungsorientierung verwendet Stecher den Begriff des Bildungsehrgeizes und fasst darunter „habitualisierte Statuserwerbsphilosophien, Schulorientierungen und Bildungsaspirationen“ (Stecher 1999, S. 339) von Eltern. Er betont die Bedeutung eigener sozialisatorischer Erfahrungen bei der Herausbildung solcher Habitualisierungen (vgl. ebd.). In der Studie von Schmenger (2016) wird auf das von Graßhoff et al. (2013) entwickelte Verständnis des Begriffes rekurriert. In Übereinstimmung mit Bourdieu wird Bildungsorientierung als Bestandteil des milieuspezifischen Habitus gesehen (vgl. Graßhoff et al. 2013, S. 29). Dabei umfasst Bildungsorientierung drei zentrale Aspekte: 1) Die Bildungsbedeutsamkeit, d. h. die Einschätzung darüber, wie wichtig Bildung ist, sowie das vorherrschende Bildungsverständnis, z. B. ob Bildung eher unter ganzheitlichen Aspekten gesehen wird oder instrumentelle Funktionen im Vordergrund stehen. 2) Die Bildungsaspirationen, im Kontext der Schule also vor allem die Frage, welche
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kindlichen Bildungsabschlüsse von den Eltern erwünscht bzw. erwartet werden. 3) Die motivationale Partizipation, also die hinter den jeweiligen Ansichten stehenden Motive und Begründungen für die Bedeutung von Bildung vor dem biografischen Hintergrund der Eltern sowie das Maß, in dem sich die Eltern als Mitakteure in der Bildungskarriere ihres Kindes fühlen und aktiv Einfluss darauf nehmen.
2.2 Der Begriff der Passung Das Konzept der Passung ist ein geeignetes Konstrukt, um die möglichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Bildungsorientierungen verschiedener Akteurinnen und Akteure sichtbar zu machen. Der Begriff (engl. „fit“) kann mit Übereinstimmung oder Konformität übersetzt werden (vgl. Vernaleken 2006, S. 49). Tenorth und Tippelt (2012, S. 551) sprechen von Passung im Sinne einer „Entsprechung zwischen Merkmalen des Individuums und Umweltanforderungen, z. B. zwischen kindlichem Temperament und elterlichem Erziehungsstil oder zwischen individuellem Vorwissen und pädagogischem Konzept.“ In der psychologischen Forschung wurden im Kontext von Passung verschiedene Modelle entwickelt, mit denen jeweils wichtige Grundannahmen zur Passung einhergehen. So geht das Goodness of Fit-Modell (vgl. Thomas und Chess 1980, S. 10 ff.) davon aus, dass die individuelle Entwicklung weder allein von der Anlage des Kindes, also z. B. dessen Temperament, noch von der Umwelt, z. B. elterlichen Einstellungen und Erziehungspraktiken, bestimmt wird, sondern von der Übereinstimmung oder Passung beider Komponenten. Auch das Person-Environment Fit-Modell nimmt an, dass Haltungen und Verhalten eines Menschen auf die Übereinstimmung zwischen den Eigenschaften und Merkmalen der Person selbst sowie deren Umwelt zurückzuführen sind (vgl. Cable und Edwards 2004, S. 822). Von Maurice konkretisiert dieses Modell mit der Annahme, dass die Beziehung zwischen Person und Umwelt ein interaktiver, „dynamische[r] Prozess“ (von Maurice 2004, S. 11, Herv. i. O.) sei, sodass Veränderungen in einem Bereich immer auch Veränderungen im anderen Bereich mit sich bringen. Außerdem wird Passung nicht als passives Anpassen der Person an die Umwelt, sondern als aktiver beidseitiger Prozess gesehen; obgleich die Person gegenüber der Umwelt stärker zu einer Veränderung gezwungen ist (vgl. ebd., S. 9 ff.).
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Das von Kramer im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Forschung entwickelte Modell des schulbiografischen Passungsverhältnisses fasst die Schülerbiografie einerseits und die Schule andererseits als „eigenständige, sinnstrukturierte Gebilde der sozialen Wirklichkeit“ (Kramer 2008, S. 285) auf, die in einen „wechselseitigen Abstimmungsprozess“ (ebd.) zueinander treten, sobald ein Kind in die Schule kommt. Nach Kramer äußert sich das Passungsverhältnis in einem Wechselverhältnis zwischen der Schulkultur einerseits, die sich im Handeln der innerschulischen Akteure auf der Grundlage der Strukturprinzipien des Bildungssystems ausdrückt, und der symbolischen, biografischen Ordnung des Schülers und dessen Lebenslauf andererseits. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Einfluss der Schulkultur auf die Schülerbiografie größer ist als umgekehrt (vgl. ebd., S. 285 f.). Das Verhältnis zwischen Schule und Familie spielt in diesem Modell insofern eine Rolle, als davon ausgegangen wird, dass das jeweilige Passungsverhältnis des Schülers bzw. der Schülerin zur Schule grundsätzlich von den habituellen Orientierungen der Familie bestimmt wird, die entweder affin zu oder abweichend von den habituellen Orientierungen der Schule sind. Die harmonische bzw. konflikthafte Passung von Familie und Schulkultur ist somit Ausgangspunkt bzw. Rahmen für die weitere Ausgestaltung des schulbiographischen Passungsverhältnisses des Schülers bzw. der Schülerin (vgl. Kramer und Helsper 2000, S. 223 f.). Zusammenfassend beschreibt der Passungsbegriff das Maß der Übereinstimmung, Entsprechung oder Konformität zwischen zwei Komponenten im weitesten Sinne, in einem engeren Sinne zwischen einer Person und deren Umwelt (z. B. Institutionen wie die Schule und der Kindergarten). Mit dem Konzept können sowohl die Übereinstimmungen, die zwischen den Orientierungen der am Übergang beteiligten Akteurinnen und Akteure bestehen, als auch die Diskrepanzen („Nichtpassung“) aufgezeigt werden. Sowohl das Konzept der Bildungsorientierung als auch das der Passung spielen in der Forschung vor allem im Hinblick auf Fragen sozialer Ungleichheit eine Rolle; insbesondere dann, wenn es um den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg geht.5 Erforscht wird daher also letztendlich die Frage der Passung von familiären und schulischen Orientierungen. Insofern findet sich an dieser Stelle eine Verbindung zwischen beiden Konzepten.
5Vgl.
hierzu z. B. Kramer und Helsper 2000; Andresen et al. 2011.
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3 Anlage und Methoden Das Datenmaterial, das die Grundlage für den vorliegenden Beitrag bildet, entstammt der Studie von Graßhoff et al. (2013). Im Rahmen dieser Studie wurden leitfadengestützte Interviews mit 74 Elternteilen, überwiegend Müttern, kurz vor dem Übergang ihrer Kinder vom Kindergarten in die Grundschule geführt. Ein Teil der Eltern wurde einige Monate nach Schulbeginn ein zweites Mal interviewt, um Veränderungsprozesse im Kontext des Übergangs beschreiben zu können. In die Studie einbezogen waren sechs Netzwerke aus Kindertageseinrichtungen und Grundschulen aus drei unterschiedlichen Bundesländern, die im Rahmen des Übergangs kooperieren. Die Interviews mit Eltern sowie die Gruppendiskussion mit professionellen Fachkräften aus Kindergarten und Grundschule, die im Rahmen der Studie von Schmenger (2016) ausgewertet wurden, entstammen einem Netzwerk, das in einem Stadtteil einer Großstadt in Rheinland-Pfalz angesiedelt ist. Dieser Stadtteil ist durch eine große Heterogenität hinsichtlich des sozialstrukturellen Status und des Bildungsniveaus der Bewohnerinnen und Bewohner gekennzeichnet. Gleichzeitig ist der Stadtteil Teil des Städtebauförderungsprogramms „Soziale Stadt“ des Bundes, das städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligte bzw. strukturschwache Stadt- und Ortsteile unterstützt6. Gründe, die hierfür angeführt werden können, sind vor allem der im Vergleich zur Gesamtstadt hohe Anteil an Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationshintergrund, eine überdurchschnittliche hohe Arbeitslosenquote, insbesondere bei Jugendlichen und Menschen mit Migrationshintergrund, sowie ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Personen, die soziale Leistungen beziehen, wenngleich die Zahl der Erwerbstätigen ebenfalls über dem städtischen Durchschnitt liegt. Ein weiterer Faktor ist die große Zahl an Interventionen im Bereich der Hilfen zur Erziehung, die in diesem Stadtteil fast dreimal so häufig durchgeführt werden wie im städtischen Durchschnitt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangsbedingungen wurde vor einigen Jahren in diesem Stadtteil ein Projekt zur Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule ins Leben
6Vgl.
hierzu die Homepage des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (2019): Soziale Stadt. https://www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/ SozialeStadt/soziale_stadt_node.html. Zugegriffen: 09. September 2019.
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gerufen, an dem eine Grundschule sowie die Mehrheit der umliegenden Kindertageseinrichtungen teilnehmen. Auf der Grundlage gemeinsam entwickelter Grundsätze und Ziele wurden folgende Schwerpunkte der Zusammenarbeit festgelegt: regelmäßige Kooperationstreffen, gemeinsame Veranstaltungen zum Übergang in die Schule im letzten Kindergartenjahr, z. B. ein- bis zweiwöchentlich stattfindende Besuche der Vorschulkinder in der Schule, Elternnachmittage in der Schule, gemeinsame Informationsveranstaltungen von Kindergärten und Schule für die Eltern der neuen Erstklässlerinnen und Erstklässler sowie Übergabegespräche zwischen Erzieherinnen und Lehrkräften. Im Rahmen der Studie von Schmenger wurden die individuellen Bildungsorientierungen von fünf Müttern mit unterschiedlichem soziodemografischem Hintergrund mit Hilfe von leitfadengestützten Interviews erhoben, kontrastierend miteinander verglichen und systematisiert. Die Methode des leitfadengestützten Interviews ermöglichte einerseits eine Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Orientierungen, da mit denselben Fragen an die Eltern herangetreten wurde. Andererseits war die Methode offen genug, sodass die Eltern eigene Themensetzungen vornehmen konnten. Die kollektiven Bildungsorientierungen der professionellen Akteurinnen7 aus Elementar- und Primarbereich wurden mittels einer Gruppendiskussion erhoben. Die Gruppendiskussion eignete sich besonders gut als Erhebungsmethode, da die Akteurinnen über ein „gemeinsames Thema“, nämlich die gemeinsame Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule in einem Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf, und damit über einen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Bohnsack 1997, S. 53, Herv. i. O.) verfügen. Einschränkend muss angemerkt werden, dass der gemeinsame Erfahrungsraum dadurch begrenzt ist, dass die Akteurinnen eine unterschiedliche professionelle Zugehörigkeit und damit sehr unterschiedliche Ausbildungswege haben. Sowohl die Elterninterviews als auch die Gruppendiskussion mit den professionellen Akteurinnen aus Kindergarten und Grundschule wurden mithilfe der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack8 ausgewertet, die auf die Rekonstruktion von Orientierungen zielt.
7Im
Folgenden wird in Bezug auf die professionellen Akteurinnen aus diesem Netzwerk die weibliche Form verwendet, da sämtliche am Kooperationsprojekt beteiligten Personen weiblich sind. 8Vgl. hierzu z. B. Bohnsack 2014, Bohnsack 2006, Bohnsack et al. 2013 Nohl 2013.
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4 Gegenüberstellung der Bildungsorientierungen zentraler Akteurinnen und Akteure beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule Im Folgenden werden die aus den Elterninterviews sowie der Gruppendiskussion rekonstruierten Bildungsorientierungen von Eltern und professionellen Fachkräften aus Elementar- und Primarbereich skizziert und hinsichtlich ihrer Passung betrachtet.
4.1 Bildungsorientierungen von Eltern In der Studie von Schmenger (2016) wurden die Bildungsorientierungen von fünf Müttern rekonstruiert und kontrastierend betrachtet, die im Folgenden zusammenfassend vorgestellt werden: • Frau A. immigrierte zum Zeitpunkt des ersten mit ihr geführten Interviews vor acht Jahren aus Bosnien nach Deutschland und studiert derzeit. Ebenso wie ihr Ehemann hat sie die Mittlere Reife und absolvierte eine Ausbildung im medizinischen Bereich. Gemeinsam haben sie eine sechsjährige Tochter. Frau A. hat eine offensive Bildungs- und Leistungsorientierung und misst Bildung einen großen Stellenwert für die Zukunft ihrer Tochter bei. Bildung ist für sie ein wichtiges Mittel, um Anerkennung von anderen zu erhalten, worauf sie großen Wert legt. Die Schule ist für Frau A. ein hochakzeptierter Ort, dem sie nicht nur im Hinblick auf den Erwerb von Wissen und für die berufliche Zukunft ihrer Tochter, sondern auch im Hinblick auf deren Persönlichkeitsentwicklung und Sozialkontakte eine große Bedeutung zuschreibt. Schule markiert für sie den Beginn des „Ernstes des Lebens“ und ist mit dem Risiko des Scheiterns verbunden, dem entgegengewirkt werden muss. Dabei ist die motivationale Partizipation von Frau A. ausgeprägt, d. h. sie sieht sich selbst als Mitakteurin in der Bildungskarriere ihrer Tochter und ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren. Ihre Vorstellungen von einem guten Kindergarten sind von ihrem Wunsch geprägt, dass ihre Tochter inhaltlich und in sozialer Hinsicht angemessen auf die Schule vorbereitet wird. Vom Kindergarten erwartet sie – neben der Betreuung der Kinder – vor allem eine gezielte, eher technisch-instrumentelle Schulvorbereitung durch das Einüben von Buchstaben und Zahlen. Sie empfindet die inhaltliche Arbeit des Kindergartens ihrer Tochter als unzureichend und wünscht sich eine stärkere Fokussierung der (inhaltlichen) Vorbereitung auf die Schule. Ihr Verhältnis
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zur Klassenlehrerin ihrer Tochter beschreibt Frau A. als von gegenseitigem Respekt und inhaltlicher Übereinstimmung geprägt, während sie von Schwierigkeiten im Verhältnis mit den ehemaligen Erzieherinnen erzählt, von denen sie sich hinsichtlich ihrer hohen Leistungsansprüche zu Unrecht kritisiert fühlt. • Frau B. ist Amerikanerin und immigrierte zum Zeitpunkt des ersten mit ihr geführten Interviews vor einem Jahr gemeinsam mit ihrem deutschen Ehemann und ihren beiden Söhnen im Vorschulalter aus den USA nach Deutschland. Beide Eltern sind Akademiker. Während Frau B. derzeit Hausfrau ist, ist ihr Ehemann berufstätig und promoviert. Ihre Bildungsorientierung kann ebenso wie die von Frau A. als offensiv beschrieben werden. Auch sie sieht die Schule als zentralen Bildungsort an und schreibt dieser eine große Bedeutung hinsichtlich der kognitiven und sozialen Entwicklung und der Zukunft ihrer Kinder zu. Ihre Bildungsaspirationen sind hoch; der spätere Besuch des Gymnasiums ist für ihre Kinder bereits vor Schulbeginn gesetzt. Bildung ist für Frau B. ein Mittel zur Statusreproduktion der Familie. Sie erwartet vom Kindergarten, dass dieser auf die kommende Schulzeit, insbesondere auf schulische Inhalte wie Buchstaben und Zahlen, vorbereitet. Gleichzeitig erlebt sie den Kindergarten ihres Sohnes als Ort, an dem in erster Linie gespielt und nicht im Sinne schulischer Inhalte gelernt wird, was sie ausdrücklich bedauert. Dies führt aber nicht dazu, dass sie die Bedeutung des Kindergartens generell herabsetzt; stattdessen betont sie dessen Bedeutung hinsichtlich des sozialen Lernens und lobt die Professionalität der Erzieherinnen. Die von ihr als unzufriedenstellend wahrgenommene Schulvorbereitung im Kindergarten bewertet Frau B. nicht als zentrale Voraussetzung für den Schulerfolg ihres Sohnes. Stattdessen sieht sie sich selbst und ihren Ehemann als entscheidend dafür an, die entsprechenden Voraussetzungen für das Gelingen der Bildungskarriere ihrer Kinder zu schaffen und zeigt eine hohe Motivation, sich hier zu engagieren. Die Anforderungen der Grundschule ihres Sohnes erlebt sie als angemessen und ist zufrieden mit der Klassenlehrerin und ihrer Arbeit. • Frau C. ist deutsche Staatsbürgerin, verheiratet und Mutter von zwei Kindern im Vorschul- bzw. Säuglingsalter. Beide Elternteile sind Akademiker. Während Frau C. derzeit Hausfrau ist, ist ihr Ehemann berufstätig. Gemeinsam ist die Familie vor einem halben Jahr aus dem deutschsprachigen Ausland zurück nach Deutschland gezogen. Frau C. hat wie Frau A. und Frau B. eine offensive Bildungsorientierung. Sie schreibt Bildung einen hohen Stellenwert zu und assoziiert mit dem Schulbeginn die Zeit, in der die Grundlagen für ein erfolgreiches Leben gelegt werden können. Die Schule stellt für sie eine Selbstverständlichkeit da; ihre Funktionsweise wird vorbehaltlos akzeptiert. Frau C.
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fühlt sich als Mitakteurin für die Bildungskarriere ihres Sohnes und möchte die Voraussetzungen für deren Gelingen schaffen, indem sie sich beispielsweise dafür einsetzt, dass ihr Sohn eine Grundschule mit einem „guten Ruf“ besucht. Frau C. geht im Vorfeld der Einschulung von deutlichen inhaltlichen und strukturellen Unterschieden zwischen Kindergarten und Grundschule aus. So geht die Schule ihrer Ansicht nach u. a. mit steigenden (intellektuellen) Anforderungen und klareren Strukturen für die Kinder einher, was sie sehr begrüßt. Der Schule als „Start ins richtige Leben“ schreibt sie im Vergleich zum Kindergarten als primärem Ort des Spielens eine übergeordnete Bedeutung für die Zukunft des Kindes zu. Aufgrund der von ihr antizipierten Differenzen zwischen beiden Institutionen befürwortet Frau C. eine gezielte, inhaltliche Förderung und Schulvorbereitung der Kinder im Kindergarten, während sie die „emotionale“ Vorbereitung der Kinder als Aufgabe der Eltern ansieht. Obwohl sie im Kindergarten ihres Sohnes hinsichtlich der inhaltlichen Schulvorbereitung Mängel wahrnimmt, betont sie dennoch die gute pädagogische Arbeit der Erzieherinnen, die als „Teil eines defizitären Systems“ Restriktionen unterworfen seien. Auch wirkt sich dies nicht negativ auf ihre Zuversicht aus, dass ihr Sohn schulisch erfolgreich sein wird; insofern ist die inhaltliche Schulvorbereitung im Kindergarten für sie ein „Bonbon“, aber keine zwingende Notwendigkeit. • Frau D. ist ledig und lebt mit ihrem sechsjährigen Sohn und dessen Vater in einem Haushalt. Sie hat einen Hauptschulabschluss, keine Berufsausbildung und ist derzeit Hausfrau. Ihr Lebensgefährte hat ebenfalls einen Hauptschulabschluss, keine Berufsausbildung und ist derzeit arbeitssuchend. Frau D. vertritt konventionelle Erziehungsziele wie Anstand und Rücksichtnahme, die auf Anpassung ausgerichtet sind. Ihr ist es wichtig, gesellschaftlich nicht negativ aufzufallen und dementsprechend nicht ausgegrenzt zu werden. Insofern kann man von einer konformistischen Orientierung sprechen, die auch ihre Sicht auf Bildung prägt. Die Schule und insbesondere deren inhaltliche Anforderungen an Kinder und Familien sind für Frau D. mit antizipierten zunehmenden Belastungen und Stress verbunden. Sie befürchtet, dass ihr Sohn den gestiegenen Anforderungen nicht gerecht werden und von anderen Kindern ausgegrenzt werden könnte. Zwar sagt sie aus, dass ihr Lernen – „wie allen Eltern“ – wichtig sei und wünscht sich, dass ihr Sohn in der Schule gute Leistungen erzielen wird. Allerdings wird deutlich, dass es ihr dabei vor allem darum geht zu verhindern, dass ihr Sohn aufgrund von schlechten schulischen Leistungen ausgelacht wird. Aus diesem Grund kann man von einer eher defensiven Bildungsorientierung sprechen. Frau D. möchte ihren Sohn in der Schule gerne unterstützen, schätzt ihre Möglichkeiten hierbei aber
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als begrenzt ein und setzt daher auf die Unterstützung der Lehrkräfte. Frau D. ist personalistisch orientiert, d. h. sie orientiert sich nicht an abstrakten Institutionen, sondern an konkreten Personen. So stellt sie bei allgemeinen Fragen nach den Aufgaben eines Kindergartens auch die Erzieherinnen ihres Kindes in den Mittelpunkt und bewertet deren Arbeit. Kindergarten und Schule schätzt Frau D. als gänzlich unterschiedliche Institutionen ein, weswegen aus ihrer Sicht eine inhaltliche Schulvorbereitung notwendig ist, die sie in Form von Vorschulheften selbst in die Hand nimmt. Frau D. hat zwar nicht den Eindruck, dass der Kindergarten ihren Sohn auf die Schule vorbereitet, aber sie kritisiert dies auch nicht, was belegt, dass sie Bildung nicht als Aufgabe des Kindergartens wahrnimmt. Der Kindergarten ist für sie in erster Linie eine Betreuungs- und Unterstützungsinstanz für Kinder und Eltern, die dazu da ist, den Alltag der Familie organisatorisch zu erleichtern und auf deren Bedürfnisse einzugehen. Zwar deutet sie auf vorhandene Konflikte mit den Erzieherinnen hin, was aber nicht zu einem generellen Misstrauen oder zu Kontaktbarrieren führt. • Frau E. hat die türkische Staatsbürgerschaft und ist in Deutschland aufgewachsen. Nach der Scheidung von ihrem Ehemann lebt sie mit ihrem sechsjährigen Sohn allein in einem Haushalt. Frau E. hat die Mittlere Reife und brach eine Ausbildung vorzeitig ab. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie selbstständig und betreibt einen kleinen Laden. Ebenso wie für Frau D. stellen die konkreten Personen, die Frau E. in ihrer Lebenswelt antrifft, und nicht Institutionen und deren Strukturen, ihren zentralen Bezugspunkt dar. Insofern kann ebenfalls von einer personalistischen Orientierung ausgegangen werden. Diese Orientierung beeinflusst Frau E.s Sicht auf Kindergarten und Grundschule, die sie vor allem im Hinblick auf die dort tätigen Fachkräfte bewertet. Ihre guten, persönlichen Beziehungen zu den Erzieherinnen sind maßgeblich für ihre positive Sicht auf den Kindergarten ihres Sohnes. Für Frau E. ist der Kindergarten ein Ort des Spielens und des Sich-Wohlfühlens, der Familien in deren Alltagsbewältigung Unterstützung bietet. Zwar ist sie positiv überrascht, wie viel ihr Sohn durch die Übergangsveranstaltungen im Kindergarten bereits vor der Schule gelernt hat und empfindet dies vor dem Hintergrund ihrer als eingeschränkt erlebten Ressourcen als eine Entlastung im Alltag, allerdings erwartet sie dies nicht vom Kindergarten. Im Unterschied zum Kindergarten stellt sie den Pflichtcharakter von Schule heraus, die für sie mit instrumentellem Lernen und hohen Bewältigungsanforderungen verbunden ist. Im Vorfeld der Einschulung ihres Sohnes ist Frau E. aufgeregt und unsicher und befürchtet, dass dieser den schulischen Anforderungen nicht gerecht wird. Gleichzeitig sorgt sie sich, dass die größere Selbstständigkeit
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ihres Sohnes, die sie in der Schule erwartet, dazu führt, dass er ihrer elterlichen Kontrolle entgleitet und „auf die schiefe Bahn“ gerät. Insofern kann die Bildungsorientierung von Frau E. als eher defensiv bewertet werden. Zwar schreibt sie der Schule eine große Bedeutung zu, allerdings erwartet sie von ihrem Sohn lediglich, dass er irgendwann einmal eine Ausbildung abschließt. Auch in der Gestaltung der gemeinsamen Freizeit stehen ausschließlich pragmatische Überlegungen im Vordergrund; die beschriebenen Aktivitäten haben keinen Anforderungscharakter im Sinne schulischen Lernens. Bei der Wahl der zukünftigen Grundschule steht im Vordergrund, dass der Sohn mit seinen Freunden aus dem Kindergarten in eine Klasse gehen und er weiterhin den Hort des Kindergartens besuchen kann. Zusammenfassend zeigt die Analyse der Elterninterviews, dass die Aufgaben, die die befragten Eltern mit dem Kindergarten verbinden, eng damit zusammenhängen, welche grundsätzlichen Einstellungen gegenüber Bildung bei ihnen vorherrschen. Dabei konnten recht heterogene generelle Bildungsorientierungen rekonstruiert werden; es zeigten sich sowohl offensive als auch eher defensiv ausgeprägte Bildungsorientierungen. Für die Interviewten mit offensiven Bildungsorientierungen stellt Bildung in erster Linie ein Mittel dar, um im Leben weiterzukommen. Dabei lässt sich unterscheiden zwischen Eltern, für die Bildung vor allem ein Mittel der Statusreproduktion (Frau B. und Frau C.) und Eltern, für die Bildung ein Mittel zur Statuserhöhung, zu gesellschaftlichem Aufstieg durch Leistung darstellt (Frau A.). Erstere verfügen über hohe Bildungsabschlüsse, die sie fast obligatorisch auch für ihre Kinder vorsehen; sie sind sich bezüglich des Bildungserfolgs ihrer Kinder sehr sicher. Letztere verfügen über mittlere Abschlüsse und wünschen sich für ihr Kind, dass es die Abschlüsse der Eltern übertrifft; Bildung ist hier auch mit sozialer Anerkennung verbunden. Beiden Gruppen von Eltern ist ein großes, selbstverständliches elterliches Engagement in der kindlichen Bildungskarriere gemein. Zudem stellt für diese Eltern die Schule der zentrale Ort dar, an dem die hohen Bildungsaspirationen umgesetzt, die Weichen für die erfolgreiche Zukunft der Kinder gestellt und gleichzeitig soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung befördert werden. Die Schule ist für diese Eltern somit eine besonders bedeutsame, überwiegend positiv konnotierte Institution, deren Funktionslogik vorbehaltlos akzeptiert wird. Diese Eltern sehen den Kindergarten potenziell als einen Ort, an dem schulischer Erfolg bereits vorbereitet und angebahnt werden sollte. Da der Kindergarten diese an ihn gestellte Aufgabe aus Sicht dieser Eltern aber nur unzureichend erfüllt, verliert er als Bildungsinstitution für sie an Bedeutung. Während die nicht erfüllten Erwartungen bei Frau A. zu einem negativen Verhältnis zum Kindergarten
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führen, bleibt das Verhältnis bei Frau B. und Frau C. unbelastet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich Frau A. – im Unterschied zu Frau B. und Frau C. – des Bildungserfolgs ihres Kindes nicht gewiss ist und den Kindergarten hier als inhaltliche Unterstützungsinstanz ansieht, von der sie diesbezüglich aber enttäuscht ist. Für die Interviewten mit eher defensiven Bildungsorientierungen stellt Bildung ein Mittel dar, um gesellschaftlich „mitzukommen“. Diese Interviewten verfügen über niedrige Bildungsabschlüsse und deuten z. T. eigene negative Bildungserfahrungen an, deren erlebte Konsequenzen sie ihren Kindern ersparen möchten. In Bildung in Form von schulischen Zertifikaten sehen sie eine Möglichkeit, ein gesellschaftlich anerkanntes Leben zu führen, soziale Konformität herzustellen und soziale Ausgrenzung und Delinquenz zu vermeiden. Die Schule stellt für sie eine unumgängliche Notwendigkeit dar, die potenziell mit der Gefahr des Scheiterns und damit der gesellschaftlichen Ablehnung verbunden ist. Aufgrund ihrer als belastet erlebten Lebenslage sehen diese Eltern aber nur eingeschränkte eigene Möglichkeiten, um die Bildungskarriere ihrer Kinder zu begleiten, weswegen sie sich institutionelle Unterstützung erhoffen. Dabei kommt dem Kindergarten eine besondere Funktion als Betreuungs- und Unterstützungsinstanz zu. Diese Eltern fühlen sich dadurch, dass der Kindergarten Bildungsaufgaben wie eine gezielte Gestaltung des Übergangs in die Schule übernimmt, in ihrem als herausfordernd erlebten Alltag entlastet. Für diese Eltern stehen aber im Hinblick auf den Kindergarten Aspekte der Alltagsbewältigung im Vordergrund, während Bildungsaspekte eine untergeordnete Rolle spielen: Der Kindergarten ist für sie in erster Linie ein vom Leistungsdruck (noch) unabhängiger Ort des Wohlfühlens, der für Kinder und Eltern Unterstützung bieten kann. Diese Eltern legen auch stärker als die befragten Eltern mit offensiveren Bildungsorientierungen besonderen Wert auf ein persönliches, informelles Verhältnis zu den Erzieherinnen.
4.2 Bildungsorientierungen von professionellen Akteurinnen Die Gruppendiskussion mit den professionellen Akteurinnen aus Kindergarten und Grundschule aus dem in Abschn. 3 beschriebenen Stadtteil mit sozialstrukturellen Herausforderungen ist von einer dichten Form der gegenseitigen Bezugnahme geprägt. Die Akteurinnen nehmen sich im Verlauf der Diskussion mehrfach „das Wort aus dem Mund“ und vervollständigen die Sätze der Vorrednerin. Dies spricht für eine hohe inhaltliche Übereinstimmung und das Vorhandensein homologer Erfahrungen. Insofern handelt es sich bei dieser
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Gruppendiskussion um einen inkludierenden Modus der Diskursorganisation, worin sich gemeinsame Orientierungen der Teilnehmerinnen dokumentieren (vgl. hierzu Przyborski 2004, S. 96). Auch inhaltlich demonstrieren die Akteurinnen Konsens; im Vordergrund steht ihre gemeinsame Überzeugung, dass ihre Klientel institutionellen Unterstützungsbedarf hat und die Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule hierbei von großer Relevanz ist. Den Eltern wird eine große Bedeutung für den Bildungserfolg der Kinder zugeschrieben, weswegen eine institutionelle Unterstützung der Eltern als notwendig erachtet wird, um den Bildungserfolg der Kinder nicht zu gefährden. Sowohl der Kindergarten als auch die Grundschule werden von den Akteurinnen als Unterstützungsinstanzen gesehen, denen die Aufgabe zugeschrieben wird, Hilfestellung für förderbedürftige Kinder und deren Eltern zu geben. Besonders herausgestellt wird vor allem von den Erzieherinnen die große Bedeutung, die dem Vertrauen zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften zukommt. Der angenommene Unterstützungsbedarf bleibt nicht auf den institutionellen Kontext beschränkt, sondern reicht, beispielsweise in Form von Erziehungsberatung, bis in die Alltagsgestaltung der Familie hinein. Die professionellen Akteurinnen entwerfen das Bild des Kindergartens als Unterstützungsinstanz und Brückeninstitution zur Schule insbesondere für sozialstrukturell weniger privilegierte Familien. Insofern stellen sie implizit dessen Bedeutung hinsichtlich der Verminderung sozialer Ungleichheit heraus. In der Gruppendiskussion zeigen sich Unterschiede dahin gehend, wie weit der angenommene Unterstützungsbedarf der Eltern reicht. Während die professionellen Akteurinnen aus dem Kindergarten eher von einer engen, erzieherischen Unterstützung im Sinne eines „Aufzeigen des richtigen Weges“ ausgehen, plädieren die professionellen Akteurinnen aus der Schule stärker für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern, die auf die „Hilfe zur Selbsthilfe“ und die Herstellung von Handlungsfähigkeit zielt. Die Akteurinnen sehen selbst Unterschiede zwischen Kindergarten und Grundschule und nehmen an, dass dies auch von den Eltern so gesehen wird. Vor dem Hintergrund ihrer als unterstützungsbedürftig wahrgenommenen Klientel gehen die Akteurinnen davon aus, dass der Schulbeginn für die Eltern mit Sorgen und Unsicherheiten verbunden ist, denen durch die Arbeit des Kindergartens und die gemeinsame Übergangsgestaltung mit der Schule entgegengewirkt werden kann. Aus Sicht der professionellen Akteurinnen ist der Kindergarten jedoch nicht als „Vorschule“ zu sehen, der die Kinder im letzten Kindergartenjahr gezielt inhaltlich-kognitiv auf die Schule vorbereitet, sondern erhält als Ort der Förderung der kindlichen Gesamtentwicklung besondere Bedeutung. Der Kindergarten ist für sie ein Ort, an dem die Entwicklung von grundlegenden,
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alltagspraktischen Fähigkeiten und der kindlichen Persönlichkeit während der gesamten Kindergartenzeit unterstützt wird und damit grundsätzliche Lernund Lebensbewältigungskompetenzen gefördert werden. Dabei verwenden die Akteurinnen den Begriff der „Alltagstauglichkeit“ der Kinder, deren Entwicklung der Kindergarten unterstützen müsse. Grundsätzlich nehmen die professionellen Akteurinnen an, zwischen ihren eigenen Ansichten und denen der Eltern bestünde eine Nichtpassung. Dies betrifft vor allem die von ihnen angenommenen schulähnlichen Erwartungen der Eltern an den Kindergarten, die eine Schulvorbereitung im Sinne eines Übens von Zahlen und Buchstaben implizieren. Die Akteurinnen weisen diese Orientierungen übereinstimmend als unangemessen zurück und warnen vor einer „Überförderung“ der Kinder. Darüber hinaus nehmen die professionellen Akteurinnen eine Dominanz sowohl vernachlässigender als auch überbehütender Erziehungsstile der Eltern wahr, von denen sie sich ebenfalls deutlich distanzieren. Ausgegangen wird also von elterlichen Einstellungen, die von einer nicht näher definierten Norm abweichen. Erklärt werden diese inkongruenten Orientierungen insbesondere mit den Erfahrungen von Eltern in schwierigen Lebenslagen oder mit mangelnden Kenntnissen des deutschen Bildungssystems aufgrund eines Migrationshintergrundes.
4.3 Vergleich der Bildungsorientierungen und Schlussfolgerungen Der Vergleich der jeweiligen Bildungsorientierungen von Eltern und professionellen Akteurinnen im vorgestellten Stadtteil belegt zentrale Annahmen der Fachkräfte und verweist auf eine teilwFrankfurt eise diskrepante Passung zwischen Eltern und Kindergarten bzw. Schule. Insbesondere die interviewten Eltern mit offensiven Bildungsorientierungen erwarten tatsächlich eine stärker kognitiv-instrumentell ausgerichtete Schulvorbereitung im Kindergarten und sehen diesbezüglich in den Einrichtungen ihrer Kinder Mängel. Während dies das wahrgenommene Passungsverhältnis zu den Institutionen mehrheitlich nicht beeinträchtigt, fühlt sich ein Elternteil zu Unrecht von den Erzieherinnen für seine hohen Bildungserwartungen kritisiert. Andererseits kommt die Zuschreibung einer kompensatorischen Funktion des Kindergartens durch die professionellen Akteurinnen Eltern mit weniger offensiv ausgeprägten Bildungsorientierungen entgegen, für die Aspekte der Lebensbewältigung im Vordergrund stehen und die sich von den Institutionen Unterstützung in ihrem als belastet erlebten Alltag wünschen.
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Die Rekonstruktion der elterlichen Bildungsorientierungen zeigt, dass diese heterogen sind und mit unterschiedlichen Erwartungen an den Kindergarten einhergehen. Dies macht deutlich, dass über die Frage nach der Bildungsaufgabe des Kindergartens, insbesondere nach dessen schulvorbereitenden Aktivitäten, immer nur mit einem Teil der Eltern eine inhaltliche Übereinstimmung erreicht werden kann. Gleichzeitig unterstreicht der Vergleich der Bildungsorientierungen aber auch, dass inhaltliche Differenzen nicht zwangsläufig zu negativ wahrgenommenen Passungsverhältnissen führen müssen, sondern z. B. durch positive Beziehungen zwischen Eltern und professionellen Akteurinnen und Akteuren kompensiert werden können. Darüber hinaus wird deutlich, dass mit unterschiedlichen Bildungsorientierungen auch ein unterschiedliches Maß an institutionellem Unterstützungsbedarf der Eltern einhergeht. So wünschen sich vor allem Eltern in herausfordernden Lebenslagen, die sich in ihrem Alltag belastet fühlen und das Gefühl haben, nicht genügend Ressourcen zur Unterstützung ihrer Kinder aufbringen zu können, eine enge institutionelle Unterstützung für sich und ihre Kinder. Diese betrifft weniger eine instrumentelle Schulvorbereitung als vielmehr eine grundsätzliche Hilfestellung und Beratung in Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsfragen. Eltern mit offensiven Bildungsorientierungen und der Gewissheit des Bildungserfolgs ihrer Kinder schätzen zwar ebenfalls einen professionellen fachlichen Austausch mit den pädagogischen Akteurinnen und Akteuren, fühlen sich aber nicht auf institutionelle Unterstützung angewiesen. Bei diesen Eltern besteht die Gefahr, dass eine recht enge, weitreichende Form der institutionellen Unterstützung als Eingriff in ihre Privatsphäre zurückgewiesen wird. Aus diesem Grund ist eine passgenaue Ausrichtung der Unterstützungsmaßnahmen an den Bedarfen der heterogenen Elternschaft von zentraler Bedeutung, die wiederum eine genaue Kenntnis der jeweiligen Bedarfe durch die Institutionen voraussetzt. Darüber hinaus zeigt die Rekonstruktion der Bildungsorientierungen, dass offensive, schulnahe elterliche Bildungsorientierungen mit einer guten Passung zur Schule einhergehen, während defensivere Bildungsorientierungen eher mit einer positiven Passung zum Kindergarten und einer negativeren Passung zur Schule verbunden sind. Entscheidend für die Passung ist jedoch in erster Linie, wie die jeweiligen Akteurinnen und Akteure mit möglichen inhaltlichen Differenzen persönlich umgehen und in welcher Weise die Differenzen gemeinsam bearbeitet werden. Darüber hinaus wird auch ersichtlich, dass inhaltliche Differenzen durch verschiedene Faktoren kompensiert werden können, sodass inhaltliche Aspekte allein nicht maßgeblich für eine gelungene oder nicht gelungene Passung sind. Dazu gehört der Aspekt der Bildungsgewissheit der Eltern: Eltern, die davon überzeugt sind, dass ihr Kind Bildungserfolg haben
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wird, fühlen sich weniger abhängig von den Bildungsinstitutionen als Eltern, die den Bildungserfolg ihrer Kinder mit dem Vorhandensein institutioneller Maßnahmen und Rahmenbedingungen verbinden. Bei Eltern, die sich bezüglich des Schulerfolgs ihrer Kinder Sorgen machen, besteht die Gefahr, dass sich insbesondere zur Schule bereits im Vorfeld der Einschulung ein von Ängsten und Unsicherheiten geprägtes Verhältnis entwickelt, das sich durch die formelle, weniger dichte Form des Kontakts in der Schule nicht mehr auflösen lässt. Als besonders wichtige Faktoren für eine gelungene Passung können Wertschätzung und Vertrauen herausgestellt werden, die sowohl von den professionellen Akteurinnen als auch von den Eltern als wichtige Aspekte in der Beziehung zueinander genannt werden. Eltern, die sich wertgeschätzt fühlen, sind eher bereit, sich mit den Institutionen über inhaltliche Differenzen auszutauschen. Insbesondere für Eltern mit personalistischen Orientierungen sind persönliche, informelle Beziehungen zu den Akteurinnen und Akteuren von großer Relevanz und können dazu beitragen, Barrieren abzubauen. Der Kindergarten hat durch seine weniger formellen Strukturen und der Möglichkeit niedrigschwelliger Kontakte, z. B. in Form von „Tür- und Angelgesprächen“, hier besonderes Potenzial. In Bezug auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Rolle des Kindergartens im Hinblick auf die Verminderung oder Verstärkung bzw. Herstellung von Distanz zu den Bildungsinstitutionen kann festgehalten werden, dass dem Kindergarten als „erster Station“ in der institutionellen kindlichen Bildungskarriere hier eine besondere Bedeutung zukommt und ihm daher durchaus eine kompensatorische Funktion zugesprochen werden kann. Diese Erkenntnisse sind insbesondere im Hinblick auf die Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule von zentraler Bedeutung. Der Kindergarten spielt hier eine entscheidende Rolle, da das vertrauensvolle Verhältnis, das die Eltern im Idealfall hier aufbauen konnten, dazu genutzt werden kann, eine Brücke zur Schule und insbesondere zu den schulischen Akteurinnen und Akteuren zu schlagen. Eine enge Kooperation zwischen beiden Institutionen kann insbesondere für Eltern mit eher schulfernen Orientierungen hilfreich sein, um Ängste und Fremdheitsgefühle in Bezug auf die Einschulung ihrer Kinder zu verringern oder abzubauen. Wenn es gelingt, die positiven und vertrauensvollen Kontakte zum Kindergarten zu nutzen und durch eine gemeinsame Übergangsgestaltung mit der Schule eine frühzeitige, weniger formelle Kontaktaufnahme zu den schulischen Akteurinnen und Akteuren herzustellen, besteht die Chance, Barrieren zur Schule abzubauen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. Besonders wichtig ist hierbei gerade für Eltern mit personalistischen Orientierungen, dass bereits erste Kontakte zwischen den Eltern und der zukünftigen Lehrkraft geknüpft werden können. Dies wird durch
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die Ergebnisse der Studie von Graßhoff et al. (2013, S. 341) bekräftigt, die zum einen belegen, wie wichtig es vielen Eltern ist, den zukünftigen Klassenlehrer bzw. die zukünftige Klassenlehrerin ihrer Kinder bereits im Vorfeld der Einschulung kennenzulernen, und zum anderen, wie wichtig dies für den Abbau von Unsicherheit sein kann. Insofern ermöglicht der Kindergarten nicht nur strukturell-inhaltliche, sondern vor allem auch emotional-ideelle Anschluss optionen an die Schule. Die besondere Aufgabe des Kindergartens, zur Nähe von bildungsungewohnten Eltern zum Bildungssystem beizutragen und damit auch eine Brücke zur Schule zu schlagen, gilt es zukünftig stärker in den Mittelpunkt von Politik, pädagogischer Praxis und Forschung zu rücken.
5 Ausblick Der Kindergarten kann nicht nur im Hinblick auf den Übergang in die Schule, sondern auch im Hinblick auf weiterführende Unterstützungsmaßnahmen im Sozialraum eine entscheidende Brückenfunktion einnehmen. So werden im Jahr 2019 93 % aller drei- bis fünfjährigen Kinder in Deutschland in einer Kindertageseinrichtung bzw. im Rahmen der Kindertagespflege betreut (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Der derzeit in Deutschland beobachtbare Trend der Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren nutzt das Potential des Kindergartens, gerade auch die Familien zu erreichen, die mit klassischen, oft hochschwelligen Angeboten der Familienbildung und Familienunterstützung eher schwer erreicht werden können. Wie der vorliegende Beitrag gezeigt hat, benötigen insbesondere die Eltern, die sich in ihrem Alltag stark belastet fühlen, und bildungsungewohnte Eltern, die mit dem deutschen Bildungssystem nicht oder wenig vertraut sind, häufig zusätzliche Unterstützung, um ihren Familienalltag gut bewältigen und ihre Kinder im Hinblick auf die Schule unterstützen zu können. Für sie stellen der Kindergarten bzw. die hier tätigen professionellen Akteurinnen und Akteure wichtige potenzielle Unterstützungsressourcen dar. Insbesondere Eltern mit personalistischen Orientierungen profitieren in besonderer Weise von persönlichen, vertrauensvollen Beziehungen zu den pädagogischen Fachkräften im Kindergarten. Diese können dann als Lotsinnen und Lotsen zu weiterführenden Angeboten der Familienberatung, Familienbildung und Familienunterstützung fungieren. Zentrale Voraussetzung hierfür sind im Sozialraum gut vernetzte Einrichtungen sowie gut ausgebildete Fachkräfte. Mit der Einführung des so genannten „Gute-KiTa-Gesetzes“ („Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung“) im Jahr 2019 wurden erste Voraussetzungen
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geschaffen, um diese Entwicklung zu unterstützen. So werden im Gesetz unter § 2 u. a. die „Gewinnung und Sicherung qualifizierter Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung“ sowie „die Nutzung der Potentiale des Sozialraums“ als wichtige grundsätzliche Handlungsfelder zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Verbesserung der Teilhabe in der Kindertagesbetreuung benannt. Es bleibt abzuwarten, inwiefern dies in der Praxis umgesetzt werden wird und kann.
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Von gymnasialen und gesamtschulischen Bildungsorientierungen bei Lehrkräften – Einblick in ein „fuzzy concept“?! Katharina Graalmann
Zusammenfassung
Im Beitrag werden verschiedene Bildungsorientierungen von Lehrerinnen und Lehrern an Gymnasien und Gesamtschulen mithilfe der dokumentarischen Methode rekonstruiert. Es lassen sich gymnasial- und gesamtschultypische Orientierungen auf Bildung nachzeichnen, die vor allem im Kontext von Habitusforschung als auch vor dem Hintergrund einer begrifflichen Klärung von Bildungsorientierung im Kontext eines fuzzy concepts verhandelt werden. Dabei wird explizit, warum das Forschungsfeld um Bildungsorientierungen bei Lehrerinnen und Lehrern besonderer Aufmerksamkeit bedarf – was insbesondere in deren Doppelrolle als einerseits in Lehrerinnen und Lehrern habituell verankert und andererseits konstitutiv für den Weg von Schülerinnen und Schülern durch Anwendung auf diese begründet ist.
1 Einführende Worte Wenn sich Bildungsorientierungen im Allgemeinen „als eingelagert in die familialen und schulischen Generationsbeziehungen betrachten [lassen], die in Vermittlungsprozessen zwischen Jugendlichen, Eltern und Lehrern sichtK. Graalmann (*) Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schulpädagogik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_8
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bar werden“ (Busse 2010, S. 15), aber in rekonstruktiv qualitativer Forschung der Fokus vor allem auf Erfahrungsräumen von Eltern, Kindern und Jugendlichen liegt, so stellt sich die Frage, inwiefern Bildungsorientierungen von Lehrerinnen und Lehrern in dieselbe semantische Kerbe schlagen, da sie einerseits selbst nicht von herkunftsbedingten Lagerungen frei und andererseits prägend für die Lauf- und Lebensbahnen ihrer Schülerinnen und Schüler sind. Im Vergleich zu Eltern und Schülerinnen und Schülern haben Lehrerinnen und Lehrern nicht nur eigene Bildungsorientierungen, sondern (re-)konstruieren als pädagogisch professionelle Akteurinnen und Akteure im Sinne der feldspezifischen illusio (vgl. Bourdieu 1987, S. 152) welche bei den anderen Personen im Feld. Genau dieser Doppelfunktion von Bildungsorientierungen soll in diesem Beitrag nachgegangen werden – einerseits mit der Frage danach, inwiefern die lehrpersoneigenen Bildungsorientierungen gegebenenfalls „Ausdrucksgestalt der Milieuzugehörigkeit“ (Busse 2010, S. 27) sind, womit ein gewisser Grad von habitueller Passung tangiert ist, wenn davon ausgegangen wird, dass von sich selbst und der eigenen Bildungsorientierung auf die von Eltern und Schülerinnen und Schülern geschlossen wird und sich daraus Konsequenzen in der interdependenten Interaktion ergeben. Andererseits stellt sich auch die Frage, ob eine derartige Trennung zwischen eigener Bildungsorientierung und der vermeintlichen von Schule und Unterricht überhaupt möglich ist beziehungsweise ob das Konstrukt von Bildungsorientierung dazu geschärft genug und nicht zu sehr ein fuzzy concept (vgl. Markusen 2003) ist. Ein Blick in die Biografie der Lehrerinnen und Lehrer scheint relevant, um ihre Bildungsorientierungen und im Nachgang ebenfalls rekonstruieren zu können, wie sie Bildungsorientierungen bei Eltern und Schülerinnen und Schülern sehen. Schon Thiersch (2014, S. 46) konnte herausstellen, dass Familie an sich eine immense Bedeutung in Bezug auf eine Vererbung von Bildungsorientierungen zukommt – diese können somit intergenerational übertragen werden. Gleichermaßen könne mit Bildungsorientierungen aber auch auf die „Sichtweise auf die eigene Bildungsgeschichte“ geschlossen werden (Grunau 2017, S. 61). Dies erinnert an Schütz, der davon ausgeht, dass Welterfahrung und damit Wissen und Tatsachen, Normen und Werte gleichermaßen genetisch und strukturell sozialisiert seien (Schütz 2004, S. 164). Der Bezug zur institutionalisierten Bildung im Kontrast zu familiärsozialisatorischen ist in diesem Beitrag zentral. Neuenschwander (2006, S. 245 ff.) folgend kann davon ausgegangen werden, dass Lehrerinnen und Lehrer beziehungs- oder bildungsorientiert seien – entweder also relevant ist, unter anderem den familiären Hintergrund der Schülerinnen Schüler zu kennen (Beziehungsorientierung), oder Freude am Lernen und insgesamt die Leistungsbereitschaft zu steigern (Bildungsorientierung). In Bezug auf Bildungsorientierungen von Lehrerinnen und Lehrern muss zunächst
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also einmal geklärt werden, was überhaupt unter diesem Begriff verstanden werden kann oder wird (Abschn. 2). Es handelt sich um ein „neutrales Kompositum“, das „bisweilen weniger stark theoretisch fundiert ist“ (Grunau 2017, S. 56). Wenn sich aber dem Begriff zumindest aus mehreren Perspektiven angenähert wurde, lässt sich anhand exemplarischen empirischen Materials aus der Dissertation1 illustrieren, welche Bildungsorientierung(en) bei den befragten Gesamtschul- und Gymnasiallehrerinnen und -lehrern relevant ist (sind) (Abschn. 3.2), bevor eben diese Interpretationen mit theoretisch-konzeptionellen Aushandlungen zusammengedacht werden, um in heuristischem Modus zu einer ersten Idee über Bildungsorientierungen von Lehrerinnen und Lehrern zu gelangen (Abschn. 4).
2 Bildungsorientierungen – eine fokussierte Begriffsklärung Lehrerinnen und Lehrer sind mehr noch als Eltern und Schülerinnen und Schüler selbst in einer Doppelrolle was das Thema Bildungsorientierung angeht. Einerseits liegt es bei ihnen, auf ihre Schülerinnen und Schüler (und in gewissem Maße deren Familien) zu blicken und eine Orientierung an oder auf Bildung zu erkennen und mit dieser umzugehen. Damit ist nicht nur gemeint, dass unter anderem Konzepte wie das von individueller Förderung auf einer solchen Einschätzung aufbaut, sondern auch, dass an manchen Stellen des Bildungssystems – beispielsweise in Übergangssituationen – mehr als sonst eben Einschätzungen über ein bildungsorientiertes Unterstützungspotenzial oder allgemeiner formuliert eine bildungsorientierte Atmosphäre im Umfeld der Schülerinnen und Schüler Gültigkeit und Relevanz erlangen (vgl. z. B. Graßhoff et al. 2013). Andererseits haben auch Lehrerinnen und Lehrer eine wie auch immer ausgeprägte Bildungsorientierung habitualisiert. Dies könnte sich auch darin äußern, dass Lehrerinnen und Lehrer schulinterne (sowohl schulform- als auch einzelschulintern) Bildungsorientierungen aneignen und diese inkorporieren und zur Anwendung kommen lassen, ähnlich wie Busse dies (2017, S. 204) ausformuliert. Um den Unterschied zwischen Bildungsorientierungen von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Schülerinnen und Schülern am empirischen Material entfalten zu können, muss zunächst expliziert werden, was hier überhaupt gemeint ist, wenn ‚Bildungsorientierung‘ als Fachterminus
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es in der Dissertation geht, wird in 3.1 in aller Kürze zur besseren Nachvollziehbarkeit zusammengefasst.
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verwendet wird. Deswegen wird nun überblicksartig das Verständnis der Begriffe Bildung und Orientierung umrissen, um diese dann in ihrem Kompositum als fuzzy concept zu erörtern. Dabei wird weder Vollständigkeit noch Setzung intendiert oder beansprucht, was im Rahmen des Umfangs auch anmaßend wäre. Vielmehr sollen zentrale Aspekte, die verschiedene Perspektiven auf den jeweiligen Begriff zusammendenken, an dieser Stelle gesammelt werden, um etwas leichter auf ein Verständnis des Begriffs ‚Bildungsorientierung‘ überleiten zu können.
2.1 Bildung – Umriss eines komplexen Begriffs Tenorth (1997) verweist auf die Komplexität des Bildungsbegriffs, der zudem eine lange historische Entwicklung innehat. Bildungstheoretische Perspektiven zusammengefasst ist dem Bildungsbegriff über diverse Epochen hinweg gemein, dass • er sowohl als Prozess als auch als Ergebnis betrachtet wird, das heißt Bildung kann sowohl „den Individualprozess der Personengenese [als auch] das sozial-kulturelle Konstrukt, das dazu dient, eben diesen Bildungsprozess zu befördern“ (Rekus 2017, S. 25), meinen, • durch ihn Teilhabe an der Gesellschaft sowie Selbstwertgefühl, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung (vgl. Kunze 2012, S. 16) aufgebaut werden können und • er die eigene Persönlichkeit vervollkommnet. Es existiert mindestens eine weitere interessante Perspektive, zuletzt von Boger (2015, S. 118 f.) fokussiert. Sie geht von mehreren gleichrangigen Zentren von Bildungen aus, zu denen sich Personen verhalten (können). In solcher Denkart gäbe es keine Unstimmigkeiten mit zum Beispiel Ausdrücken wie ‚bildungsnah‘ und ‚bildungsfern‘, da diese dann nicht unmittelbar mit unter anderem dem Bildungs- oder Berufsabschluss der Eltern (vgl. Bildungsbericht 2018, S. 232) konnotiert würden. Wird nämlich davon ausgegangen, dass es verschiedene Bildungen gibt, müsste für jeden dieser Bereiche eine spezifische Nähe oder Ferne existieren. Als Fazit kann festgehalten werden, dass Bildung „jeweils explizit oder implizit definiert oder verstanden [werden kann] als Grund-Kompetenz, Kompetenz-Schwellenkonzept oder Grundkompetenz-Schwellenkonzept, institutionalisiertes Kapital in Form von
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Zertifikaten und Zugangsberechtigungen, Subjektivierungsleistungen, Lebenskompetenz, Anerkennungskampf, gesellschaftliche Teilhabevoraussetzung oder ästhetisch-kulturell bedingte Selbstkonstruktion (usw.)“ (Vogel 2016, S. 117). Für diesen Beitrag ist wichtig, dass es eben derart diverse Zugänge zum Bildungsbegriff gibt und geben kann – wenn der Begriff also kompositorisch mit dem der Orientierungen zusammengedacht wird, ergibt sich daraus eine ebensolche Vielfalt an Auslegungsmöglichkeiten für das Kompositum. In der Interpretation kann dann entweder eine Auslegung des Begriffs vorherrschen oder auch eine Sammlung diverser Zugänge. Dies gilt es mit Blick auf die vorgenommenen Rekonstruktionen im Abschn. 3 im Hinterkopf zu behalten.
2.2 Orientierung – Umriss eines komplexen Begriffs Sowohl im erziehungswissenschaftlichen Kontext (vgl. z. B. Hermes 2017) als auch im alltagssprachlichen Gebrauch (vgl. Duden 2019a) können unter Orientierungen geistige Einstellungen, Haltungen oder Ausrichtungen verstanden werden. Wird dann noch die Perspektive der verwendeten Auswertungsmethode hinzugezogen, ergibt sich ein abgerundetes Bild über den Begriff Orientierung: Basal ist nämlich auch in diesem Kontext, dass „Einstellungen und Werte“ Akteurinnen und Akteure „grundlegend prägen, ohne dass diese immer expliziert werden“ (Brüggemann und Welling 2017, S. 182). Erfahrungen sind somit grundlegend für Orientierungen (vgl. 2017, S. 162), weshalb sich die Dokumentarische Methode als Rekonstruktionsverfahren optimal anbietet, um (Bildungs-)Orientierungen zu rekonstruieren, da eben der Zusammenhang zwischen Orientierungen und Erfahrungen im Fokus steht (vgl. ebd.). Dabei werden implizite und handlungsleitende Orientierungen rekonstruiert (vgl. z. B. Amling und Hoffmann 2013, S. 181), die „inkorporiertes Wissen“ (ebd., S. 195) repräsentieren. Brüggemann und Welling (2017, S. 188) ergänzen, dass im konjunktiven Erfahrungsraum „Orientierungen, Haltungen und Dispositionen auf dem Wege des (habituellen) Handelns erworben“ werden und dabei handlungsleitend sein können. Entstehen sie durch Einbindung in einen gemeinsamen Erfahrungsraum, so kann von geteilten Orientierungen die Rede sein, die auf „gemeinsamen (berufs-)biografischen und/oder strukturidentischen Erfahrungen“ (ebd., S. 183) basieren. Eine Orientierung steht also eng im Zusammenhang mit dem Habitusbegriff – Wissen, Haltungen, Werte und Weiteres sind inkorporiert und können Handlungen beeinflussen, leiten, intendieren.
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2.3 Bildungsorientierung als fuzzy concept Beide Begriffe zusammengebracht ergibt ein symbiotisches Verständnis von Bildungsorientierung. Diese Bildungsorientierungen sind also implizit und durch (gemeinsame) Erfahrungsräume entstanden, woraus die Annahme resultieren kann, dass sie sich bei Milieuzugehörigen ähneln (vgl. auch Grunau 2017, S. 42 ff.). Es lässt sich somit durchaus auf eine Genese von Bildungsorientierungen „im Zusammenspiel von Familie, Schule und Milieu” (Busse 2010, S. 13) schließen. Im Fokus steht also, wie Lehrerinnen und Lehrer an in diesem Falle Gymnasien und Gesamtschulen in Bezug auf Bildung (im Verständnis von 2.1) orientiert (im Verständnis von 2.2) sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch dieser Begriff, selbst wenn er, wie einführend erwähnt, noch nicht stark theoretisiert ist, eine lange Historie vorzuweisen hat. Schon lange sind Orientierungen in Bezug auf Bildung thematisch relevant – diese wurden beispielsweise als dem Herkunftsmilieu entsprechend verstanden, durch welches sie „verstärkt und multipliziert“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 32) würden. Zudem hielten Bourdieu und Passeron fest, dass Bildungsorientierungen eine Art „Kettenreaktion weiterer Determinanten aus[lösen]“ (ebd.) können, die der illusio des Bildungswesens untergeordnet scheinen. Bourdieu konstatiert also ebenfalls, dass Bildungsorientierungen als Teil eines milieuspezifischen Habitus verstanden werden, der wiederum primärsozialisatorisch erworben wird (vgl. Bourdieu 1987, S. 101). Bildungsorientierungen sind somit von der „Position im sozialen Raum“ sowie von der „eigenen erlebten Bildungsgeschichte“ abhängig. Für den Begriff ‚Bildungsorientierung‘ ist letztlich noch zentral, dass dieser durch diverse Attribute spezifiziert werden kann, so ist in einschlägiger Literatur beispielsweise die Rede von: islamischer Bildungsorientierung (Geier und Frank 2016, S. 222), familialer Bildungsorientierung (Graßhoff et al. 2013, S. 26), schulischer Bildungsorientierung (Busse 2017, S. 197) oder gleichgewichteter hoher und ambitionierter Bildungsorientierung (Helsper und Hummrich 2008, S. 64). Es gibt sicher noch weitere mehr – was zusammengedacht damit, dass es sich um ein Kompositum aus zwei eigenständig schon komplexe Begriffe handelt, zu der Annahme führt, dass der Begriff ein fuzzy concept darstellt: „A fuzzy concept is one which posits an entity, phenomenon or process which possesses two or more alternative meanings and thus cannot be reliably identified or applied by different readers or scholars. In literature framed by fuzzy concepts, researchers may believe they are addressing the same phenomena but may actually be targeting quite different ones.“ (Markusen 2003, S. 702)
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Eben weil es sich also um einen Begriff handelt, der durchaus mehrdeutig verstanden werden kann, ist es wichtig, diesen hier begrifflich einzuordnen, um eine Basis für Lesende zu schaffen, auf der die nachfolgenden Rekonstruktionen verstanden werden können. Folgend ist also wichtig, dass die Rede von Bildungsorientierung(en) bei den befragten Lehrerinnen und Lehrern ist, wenn sie • ihre Orientierung auf den Bildungsbegriff entfalten. • in Bezug auf ihre Schülerinnen und Schüler und ggf. deren Eltern oder Familie Wissen oder Haltungen oder Einschätzungen in Bezug auf Bildung preisgeben. • einen Bildungsbegriff in das Feld Schule, in welchem sie arbeiten, einordnen.
3 Bildungsorientierungen bei Gesamtschul- und Gymnasiallehrerinnen und -lehrern Bevor auszugs- und aspekthaft einige rekonstruierte Bildungsorientierungen verschiedener im Rahmen der Dissertation befragten Lehrerinnen und Lehrer ausgeführt werden, wird zunächst bündig das Forschungsdesign dieser Dissertation dargestellt.
3.1 Kurzzusammenfassung der zugrunde liegenden Dissertation In ihr stehen Orientierungen von Lehrerinnen und Lehrern an Gesamtschulen und Gymnasien im Fokus, die sich durch (Re-)Konstruktion der sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schüler in einem möglichen Beitrag zu Bildungs(un-) gerechtigkeit rekonstruieren lassen. Es wurden je acht leitfadengestützte Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern beider Schulformen geführt, die durch vier mittels einer Vorstudie konstruierten Vignetten (in Anlehnung an z. B. Paseka und Hinzke 2014) als Anreiz zur Themenauseinandersetzung strukturiert sind. Anschließend wurden und werden diese im Kontext der dokumentarischen Methode ausgewertet, um auch etwaige habitusspezifische ( Bildungs-) Orientierungen der Befragten rekonstruieren zu können, die sich im Wechselspiel von konjunktiv-handleitendem (in Form von Orientierungsrahmen) und kommunikativ-expliziertem Wissen (in Form von Orientierungsschemata) zeigen (vgl. Nohl 2017, S. 8). Es handelt sich in diesem Beitrag nicht um ausführliche Falldarstellungen oder Interpretationen der Interviews, sondern um eine eher
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heuristische Zusammenführung aussagekräftiger Interviewsequenzen in Bezug auf rekonstruierte Bildungsorientierungen einiger befragten Lehrerinnen und Lehrer. Die Einzelschritte der dokumentarischen Methode sind in Bohnsack (2014, S. 136 ff.) übersichtlich nachzulesen – im vorliegenden Falle wird vor allem die reflektierende Interpretation fokussiert.
3.2 Rekonstruktionen zentraler Bildungsorientierungen Insgesamt werden Auszüge aus sechs Interviews reflektierend interpretiert und durchaus auch miteinander kompariert. Es wurden zentrale Stellen und Interviews aus dem Datenmaterial gewählt, die ohne viel Kontextinterviewwissen zugänglich sind. Falls dieses nötig ist, wird es an entsprechender Stelle pointiert paraphrasiert. Die Reihenfolge ist zufällig gewählt und ergibt sich eher durch eine zu dem Aufsatz passende Argumentationslogik, denn aus Bezügen innerhalb der Interviews. Begonnen wird mit einem Auszug aus dem Interview mit der Gymnasiallehrerin Frau Wiedehopf: „ich find = s prinzipiell gut wenn man sagt man geht auch mal ins Museum und das ist ja auch ein Bildungsauftrag //hmh// den man als Schule hat, und dann haben sich die Schüler auch mal damit zu befassen“ (Z. 793–796)
Die Passage entstammt einem Diskurs um außerschulische Bildungsorte – Frau Wiedehopf kommt über eine Vignette im Interview auf Erfahrungen zu sprechen, die sie einerseits selbst erlebte und die sie andererseits von Kolleginnen und Kollegen mitbekommen hat. In der Vignette geht es um eine Klasse, die im Rahmen des Biologieunterrichts einen Ausflug in ein Museum unternimmt. Die Schülerinnen und Schüler werden von der begleitenden Lehrperson in drei Gruppen differenziert: Es gibt diejenigen, die interessiert alles erkunden und auch erzählen, dass sie schon häufiger im Museum waren, diejenigen, die stören und laut sind und mehrfach ermahnt werden müssen, und diejenigen, die zwar alle Aufgaben erledigen, aber sobald sie fertig sind teilnahmslos auf Ablauf der Ausflugszeit warten. Es dokumentiert sich insgesamt und mit diesem Auszug exemplarisch explizit, dass Frau Wiedehopf der Schule einen „Bildungsauftrag“ zuschreibt, der ihrer oder der Ansicht der Schule nach fehlende oder weniger ausgeprägte Bildungsorientierungen von zuhause aus oder in der Freizeit kompensieren kann oder sogar soll – immerhin müssen sich die Schülerinnen und Schüler durch einen von der Schule oder der Klasse veranschlagten M useumsbesuch „mal damit
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befassen“. „Damit“ steht platzhaltend für etwaige kulturelle Zugänge. „Prinzipiell“ und „auch mal“, gleich zwei Mal verwendet, schränken die Güte derartiger Bildungsexkursionen gleichermaßen ein – ein Besuch im Museum legitimiert sich über den schulischen Bildungsauftrag, übertrieben werden in Bezug auf die Quantität solcher Ausflüge sollte allerdings nach Frau Wiedehopf nicht. Andererseits könnte die Verwendung von „auch mal“ auch bestärkend fungieren, exakt solche außerschulischen Bildungsangebote anzubieten – nur so erhalten vielleicht einige Schülerinnen und Schüler überhaupt „mal“ die Gelegenheit, eine solche Institution zu erleben. Ob sich die Schülerinnen und Schüler dem Ausflug nicht entziehen können und von daher zwangsläufig mit dem Kulturgut des Museums in Berührung kommen oder ob sie dezidiert die entsprechende inhaltliche Bildung, die das Museum bietet, ‚aufsaugen‘ sollen, lässt sich auch mit Blick auf nachfolgende Passagen des Interviews nicht ausinterpretieren. Relevant ist und bleibt aber, dass durch Frau Wiedehopfs Lehrerinnenhabitus (vgl. Helsper 2018) eine Bildungsorientierung erwachsen ist, die klar dokumentiert, dass Bildung und deren vermeintliche Vermittlung in die Schule gehört. Im konkreten Fall kann ein Museumsbesuch also den Schülerinnen und Schülern Chancen ermöglichen, falls sie außerhalb von Schule nicht die Gelegenheit haben, ein Museum zu besuchen – sei es mit oder ohne intrinsische Motivation. Es kann sie aber auch in Situationen zwängen, in denen sie gegebenenfalls nicht selbstgewählt stecken (möchten). Über eine etwaige Übergriffigkeit sieht Frau Wiedehopf die Erfüllung des schulischen Bildungsauftrags und der sich daraus für die Schülerinnen und Schüler ergebende Chance priorisierend hinweg. Es dokumentiert sich, dass sich eine Bildungsorientierung der Schule über das Maß an Bildungsorientierung, das den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern zugeschrieben wird, hinwegsetzt und als Mittel für unter anderem Chancengleichheit und deren Erweiterung eingesetzt wird. Chancengleichheit wird aus dem Grunde hier thematisch, weil durch den äußeren Zwang, an genannten Bildungsausflügen teilzunehmen, alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen mit kulturellem Gut konfrontiert werden. Ob und wie sie den Besuch oder dessen Ertrag habitualisieren, bleibt offen. In eine etwas andere Dimension orientiert ist Herr Schwan: „((holt Luft)) ähm (.) sozial schwach äh (.) sind für mich (.) ähm oder vielleicht wäre bildungsferne (.) Schichten wäre vielleicht -n bisschen besser als (.) als Begriff ((holt Luft)) ist äh (.) wenn äh (.) die Eltern ähm (.) fü- de- (.) die Kinder (.) ähm ((schmatzt)) wenn die Eltern die Schule als (.) als unwichtig ansehe = n //Ok// und äh (.) das entsprechend den Kindern auch so vermittel = n ((holt Luft)) dann gibt es natürlich entsprechend sozial starke //mhm// oder (.) bildungs- (.) äh (.) nahe Familien ((holt Luft)) die Bildung als sehr sehr wichtig ansehen und entsprechend die Kinder auch unterstützen ((holt Luft)) //mhm// das äh zeigt sich zum Beispiel
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darin (.) äh: wie: (.) ähm (.) wie die Kinder zu Hause bei (.) ähm (.) Aufgaben unterstützt werden bei Hausaufgaben (.) oder wie die Kinder ähm (.) mit äh (.) Nachhilfe ausgestattet werden (.) das äh unterschei- (.) und da g- (.) gerade beim Nachhilfebereich ((holt Luft)) finde ich äh: (.) kommt das zusammen (.) also die bildungs (.) äh (.) fernen sind dann oft leider auch (.) sozial schwach //mhm// also auch mit weniger Geld ausge:(.)rüstet um dann entsprechend Nachhilfe zu bezahl = n zu können ((holt Luft)) ähm (.) auch wenn das natürlich nich- immer so ne? (.) is-es gibt natürlich auch ((holt Luft)) ähm (.) ja sozial äh (.) bildungs:- äh nahe Familien denen Bildung sehr wichtig is- aber die trotzdem wenig Geld hab = n dafür //mhm// ((holt Luft)) gerade sowas (.) äh halt ich für sehr unterstützenswert //mhm// dass man (.) dadurch irgendwelche Förderungen zum Beispiel (.) äh diese Familien unterstützt darin (.)“ (386–404)
Die Sequenz aus dem Interview mit dem Gesamtschullehrer liest sich aufgrund der Fülle an parasprachlichen Markern schwer – eben darin dokumentiert sich aber auch, dass ihm seine Ausführungen unbehaglich sind, er sich mit seinen verwendeten Begriffen schwer tut, es ihm widerstrebt, die Kausalitäten zwischen „bildungsnah“ und „sozial stark“ sowie „bildungsfern“ und „sozial schwach“ herzustellen2. Eine andere Lesart könnte sein, dass er die Begriffe in ihren kausalen Zusammenhängen, wie er sie darlegt, alltagstypisch nutzt und sie sich beispielsweise durch Gespräche mit anderen oder durch mediale Diskurse verselbstständigt haben und ihm nun in diesem Interviewkontext, der trotz aller Bemühungen zu einem asymmetrischen zwischen Befragten und Interviewenden führen kann, auffällt, dass seine Ausdrucksweise gegebenenfalls nicht wissenschaftlich korrekt oder von der interviewenden Person nicht sozial erwünscht sein könnte, sodass er sich anzupassen versucht. Wie dem auch sei – rekonstruieren lässt sich durch Schmatzen, Luftholen, Wortabbrüche und Pausen, dass ihm das Gesagte schwer zu formulieren fällt. Weil Herr Schwan ansonsten in der Hauptsache langsam und gewählt formuliert, fällt die gewählte Passage im gesamten Interviewverlauf auf. Die interviewende Person kommt ihm strukturierend und unterstützend zur Hilfe, indem sie an mehreren zentralen Stellen durch „mhm“ zum Weitersprechdenken anregt. Jedenfalls dokumentiert sich weiterhin, dass er als Lehrer die entsprechende Zuschreibung, ob ein „Kind“ im vermeintlich bildungsfernen oder
2Anders
als den Fokus auf eine verallgemeinerte Kopplung zwischen Bildungsnähe- und ferne mit sozioökonomischer Stellung zu legen – wie es beispielsweise auch aktuell in der Pädagogik 10’2019 praktiziert wird –, empfiehlt sich eine mehr soziologisch geprägte Perspektive auf die empirisch fundierten Tendenzen, wie sie in 2.1 angerissen wurde, um Pauschalisierungen, Stereotypisierungen und Vorurteilen entgegenwirken zu können. Falls das gelänge, könnte vielleicht sicherer mit den Begriffen umgegangen werden, weil sie geschärft und kontextualisiert verwendet werden.
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-nahen Elternhaus aufwächst, leisten kann über Beobachtung im Unterricht in Bezug auf „Hausaufgaben“. Damit positioniert er sich als jemand, der anhand der zuhause bearbeiteten Aufgaben diagnostizieren kann, ob Kinder diese mit oder eben ohne elterliche oder professionelle Unterstützung erledigt haben. Er stellt zudem hinsichtlich sozialer und Bildungs „schichten“ einen ausgeprägten Zusammenhang zum ökonomischen Kapital nach Bourdieu (vgl. 1983) her, denn diejenigen, die sich Nachhilfe finanziell nicht leisten können, seien „leider“ „oft“ Bildungsferne und damit auch sozial Schwache. Herr Schwan konstruiert sich anders als Frau Wiedehopf nicht als jemand, der der Schule und den Lehrerinnen und Lehrern einen Bildungsauftrag attestiert und die genannten Ungleichheiten zwischen Schülerinnen und Schülern und deren Bildungsorientierungen und -zugängen oder denen ihrer Eltern entgegenzukommen hat, sondern als jemand, der eben diese Missstände bedauernd erkennt und für den es Grenzen im Entgegenkommen und Kompensieren seitens der Schule gibt: „unterstützenswert“ seien diejenigen Familien, die zwar mit geringem ökonomischen Kapital ausgestattet sind, aber viel auf Bildung halten – wie auch immer sich im tatsächlichen unterrichtlichen Handlungsvollzug zeigt, wem „Bildung wichtig ist“. Im Umkehrschluss sind für Herrn Schwan damit Schülerinnen und Schüler, die aus weniger bildungsorientierten Umgebungen kommen, unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten weniger bis gar nicht förderungswürdig, auch wenn er dies bedauert. Ob er im Rahmen der illusio des Feldes Schule agiert oder aus seiner eigenen Bildungsorientierung heraus, ist zurzeit aus dem gesamten empirischen Material heraus noch unklar, wird aber im Rahmen der Dissertation weiterverfolgt. Eine vergleichbare Bildungsorientierung lässt sich im Interview mit Frau Adler nachvollziehen: einmal hat das was damit zu tun mit dem Background den man hat also von woher man kommt; Kinder die wenig Geld haben dass die halt schlechter von den Eltern unterstützt werden weil die vielleicht nicht die dementsprechende Bildung haben oder nicht die Zeit haben sich nochmal hinzusetzen und diejenigen die ganz viel Geld haben verfügen über unterschiedliche Medien sei es dass die nen PC zu Hause stehen haben irgendwelche Lernprogramme irgendwelche Nachhilfelehrer die nach Hause kommen können die nochmal extra Förderstunden kriegen und ganz tolle aufbereitete Materialien haben dann fällt es mir aber auch auf bei den Schulen dass die Schulen nicht alle (.) gleich gut ausgestattet sind wir sind sozusagen ähm das Sahnetörtchen wir sind hammermäßig ausgestattet (Z. 1224–1232)
Gerahmt wird die Passage durch Frau Adlers Ausführungen zum Bildungsgerechtigkeitsbegriff. Sie schließt an die Herausstellung der Sonderposition ihrer Schule in Bezug auf deren Ausstattung eine ausführliche Beschreibung
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der medialen Gegebenheiten an dieser an, um sie von anderen abzugrenzen und das Alleinstellungsmerkmal in Bezug auf das aktuelle Querschnittsthema Digitalisierung hervorzuheben. Für sie gehört eine Anpassung an die digitalen Bedingungen in der Gesellschaft zwingend in gerechte Schulentwicklungsprozesse, um eben einen gewissen Standard an Bildung für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen. In ihrer Bildungsorientierung ist dieser Punkt von daher zentral. Dies spiegelt sich auch in den sehr parallelen Ausführungen zur häuslichen Ausstattung ihrer Schülerinnen und Schüler. Wie auch Herr Schwan sieht Frau Adler einen Kausalnexus zwischen „wenig Geld“ und „schlechter von den Eltern unterstützt“. Ökonomisches Kapital wird unmittelbar mit kulturellem (vgl. Bourdieu 1983) verknüpft – Eltern mit wenig Einkommen wird, zwar unter Vorbehalt („vielleicht“), einerseits attestiert, wenig Zeit zu haben, um ihre Kinder bei Hausaufgaben oder Ähnlichem für die Schule zu unterstützen, andererseits aber auch fehlende Bildung. Die Wahl des Adjektivs „dementsprechend“ ist in diesem Falle interessant: in seiner Bedeutung bezieht es sich auf etwas vorher Gesagtes. Vorher geht Frau Adler allerdings auf den familiären „Background“ ihrer Schülerinnen und Schüler ein – und stellt dann gleich einen Bezug zu Kindern her, „die wenig Geld“ haben. Diese Kinder seien es, deren Eltern eine „dementsprechende“ Bildung fehle, um ihre Kinder schulisch zu unterstützen. Damit wird nicht erkennbar, um was für eine Art Zugang zu oder Form von Bildung es sich handelt, die für Frau Adler relevant ist – implizit ist aber erkennbar, dass für sie ein gewisser Grad an Bildung vorhanden sein muss, um überhaupt unterstützen zu können. Eine weitere Auffälligkeit liegt darin, dass für Frau Adler anders als für Herrn Schwan das Vorhandensein von Geld den Kindern zugeschrieben wird. Es sind explizit die Kinder, die wenig oder viel Geld haben, nicht ihre Eltern oder wie bei Herrn Schwan die Familien insgesamt. Es dokumentiert sich, dass für Frau Adler ähnliche diagnostischer Kompetenzen im Lehrerinnenund Lehrerberuf relevant zu sein scheinen – in Frau Adlers Fall in Bezug auf mediale Ausstattung, die unterstützend wirken kann für den Lernerfolg. Eben dafür sei der familiäre Hintergrund der Schülerinnen und Schüler relevant, den sie sich zu erkennen zutraut. Kontrastiv zu den Kindern, „die wenig Geld“ und Unterstützung haben, existieren dualistisch gedacht für Frau Adler diejenigen, die sich mit dem „vielen“ Geld, das sie besitzen, auf eine umfangreiche Lernund Leistungsunterstützung verlassen können – hier in Form von Computern, Nachhilfelehrerinnen- oder lehrern oder Lernprogramme und anderweitig „toll aufbereiteten“ Materialien illustriert. In diese Argumentation lässt sich auch nachfolgender Auszug aus dem Interview mit Herrn Hahn einordnen. Er wird vorab gefragt, was für ihn bildungsgerecht sei. Dazu führt er aus:
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„in sozial materieller Hinsicht = äh, was = äh Möglichkeiten Beruf Einkommenssituation von Eltern angeht, //mhm// ähm (.) das ist sicherlich der Fall, aber auch = ä:hm: in Bezug auf (2) ein intellektuelles; nein; vielleicht nicht intellektuelles aber in Bezug auf ein (2) kulturellakademisches (.) ä::hm: (3) auch nicht unbedingt Niveau, aber ähm in Bezug auf ein: kulturellakademischen Habitus der auch zuhause gepflegt wird. das heißt = ähm wie (.) hoch sind die Bildungsschwellen; (.) die das: (2) Elternhaus. (.) oder die Herkunft gelegt (.) hat (.) das heißt ähm (.) ähm ä- (.) es gibt Schüler, ähm die = ähm durchaus Erfahrung (.) machen, in der Fünften Sechsten oder gemacht haben, in der fünften sechsten oder siebten Klasse ähm für die es keine (.) Neuigkeit ist ins Theater zu gehen in ein Museum zu gehen (.) die FAZ: die Welt am Sonntag die Zeit den Spiegel zu Hause liegen zu haben, das ist = ähm ich sag mal so = ein = äh habituelles: (.) ähm: (3) eine- eine Frage des Milieus auch; ja, ein ein ein ein bildungsbürgerliches = äh Milieu ähm ähm und dann spielt natürlich, ähm: (.) ja; eine gewisse Herkunft eine gewisse Aufstiegsmentalität der eigenen Eltern ne Rolle, das ist ganz klar, ähm die materiellen finanziellen Möglichkeiten“ (Z. 911–924)
Für Herrn Hahn wird der Grundstock für oder von Bildung ebenfalls im „Elternhaus“ gelegt. Mit seinem Neologismus „kulturellakademisch“ orientiert er sich vorrangig auf Inhalte, die durchaus auf Bourdieus Kulturkapital (vgl. 1983) zurückgehen – für Herrn Hahn sind sie aber ausschließlich im akademischen Kontext denkbar. Für ihn geht das, was er meint und exemplarisch auch expliziert – wie beispielsweise die Lektüre von von ihm exponiert mit „kulturellakademischem“ Hintergrund in Verbindung gebrachten Zeitschriften – mit der „Herkunft“, dem „Milieu“, dem „Habitus“ einher. Dass Herr Hahn derartige soziologische Fachbegriffe verwendet, zeichnet seinen Duktus während des gesamten Interviews aus. An dieser Stelle kommt der Gebrauch des Vokabulars besonders zum Tragen, weil er die Begriffe in den Bildungskontext einordnet. Es dokumentiert sich dadurch eine Bildungsorientierung Herrn Hahns, die auf eine Klientel von Menschen passt und andere exkludiert. Für ihn hängen ökonomisches und kulturelles Kapital genau wie für Frau Adler unmittelbar miteinander zusammen – ersteres wird benötigt, um in zweiteres investieren zu können. Zudem liegen in seiner Orientierung eine hohe Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital unmittelbar mit einer „Aufstiegsmentalität“ zusammen. Hierin dokumentiert sich eine Relationierung von habituellen Prägungen mit Bildungsaspirationen. In gewissem Maße ist somit, wird vorausgesetzt, dass eine Zeitlang die Begriffe Bildungsaspiration und Bildungsorientierung synonym genutzt wurden (vgl. z. B. Busse 2010, S. 32, Grunau 2017, S. 56), für Herrn Hahn in seiner Bildungsorientierung der Anspruch an ein gewisses Maß an Bildungsorientierung im Elternhaus seiner Schüler*innen
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durchaus vorhanden. Auch die Verwendung des Wortes „Bildungsschwellen“ unterstützt dies. Im soziologischen Kontext ist in Bezug auf Bildungsgangwechsel von Bildungsschwellen die Rede (vgl. Isserstedt et al. 2010, S. 8 ff.). Eine Bildungsschwelle in dem von Herrn Hahn verwendeten Kontext bezieht sich auf den Begriff Habitus – für Herrn Hahn ist mit Habitus gemeint, dass eine Schwelle an Bildung als notwendiges Gut in Familien inbegriffen ist. Dies erinnert an Frau Adlers Formulierung mit der „dementsprechenden Bildung“ bei den Eltern als Grundstock, um Kinder in schulischen Belangen zeitlich und kognitiv unterstützen zu können. Auch damit geht Herrn Hahns eigene Bildungsorientierung einher, die er als Anspruch eins zu eins auf seine Schülerinnen und Schüler und deren Familien überträgt. Unmittelbar im Anschluss an die bisherigen Ausführungen Herrn Hahns kommt er aber zu folgendem Schluss: „von daher denke ich = ähm dass natürlich ähm die Familie die Eltern die Herkunft ähm ne Rolle spielen; aber = ähm bin weiterhin davon überzeugt dass = äh das keine ä:hm: ausschließliche Voraussetzung ist von Schülern um (.) das Gymnasium besuchen zu können. (2) oder um = äh Bildungs und = äh (.) äh oder an-an-n Bildung und = ähm an Chancen teilhaftig zu werden“ (Z. 936–940)
Einerseits sei „Familie“ voraussetzungsgebend, um ein Gymnasium besuchen zu können. Andererseits aber nicht ausschließlich. Was andere (limitierende) Faktoren sein könnten, darauf kommt Herr Hahn nicht zu sprechen. Wichtig scheint ihm, dass das Gymnasium als Schulform unmittelbar an Bildung gekoppelt ist – aber nicht ausschließlich an dieser Schulform Zugang zu Bildung stattfindet. Teilhabe an Bildung und Chancen – worauf auch immer sich diese beziehen – definiert sich nicht ausschließlich über das, was primärsozialisatorisch mitgegeben wurde und wird, worin durchaus ein Bildungsauftrag von Schule, wie eingangs Frau Wiedehopf formulierte, mitschwingt. Das Interview mit Herrn Hahn präsentiert aber auch noch einen anderen Zugriff auf Bildung, eine andere Bildungsorientierung, die Fachlichkeit im Gegensatz zur didaktischen Orientierung an Gesamtschulen pointiert und relevant macht: „ja weil Fachlichkeit ist ja ähm das = ähm: die Voraussetzung von Bildung //mhm// also rein- also in nem in nem geisteswissenschaftlichen Sinne; °auch ja° Bildung als Aneignung von Welt und als = äh Anstrengung in der Auseinandersetzung oder auseinandersetzen in Aneignung von Welt; und = ähm nur so kann es gehen denn = ähm (3) mhm (3) ich muss die nicht an jedem Spot der toll ist architektonisch künstlerisch kulturgeschichtlich = äh ich muss °die nicht bespaßen das sollen die untereinander machen“ (Z. 681–686)
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Ohne Fachlichkeit keine Bildung – diese Logik ergibt sich für Herrn Hahn durchaus auch aus der Semantik und dem Gegenstand seines Unterrichtsfaches Geschichte, wie sich im gesamten Interviewverlauf an mehreren weiteren Stellen abzeichnet. Herr Hahn liefert gleich sein Verständnis von Bildung mit – für ihn ist „Aneignung von Welt“ damit gemeint, welche durchaus anstrengend und ausdauernd sein darf und kann. Ohne Anstrengung „kann es [nicht] gehen“ – „es“ demonstrativ für Bildung beziehungsweise Fachlichkeit als Zugang zu eben dieser zu verstehen. Für Herrn Hahn steht fest: Er als Lehrer ist für den inhaltlich-fachlichen Bereich zuständig, für den Spaß dabei haben die Schülerinnen und Schüler innerhalb ihrer Peer-Gruppe zu sorgen. Er grenzt seinen Arbeitsbereich damit deutlich ab und vor allem ein. Er „muss“ seine Schülerinnen und Schüler fachlich bilden – mehr nicht. Für Herrn Hahns eigene Bildungsorientierung dokumentiert sich, dass er zwar den fachlichen Input liefern kann als Lehrer und damit einen Grundstock für Bildung bereitstellt – hier lässt sich treffend an seinen eigens gewählten Ausdruck „Bildungsschwelle“ erinnern. Ob und wie die Schülerinnen und Schüler mit dem gebotenen Input umgehen, sich diesen aneignen, das obliegt nicht mehr Herrn Hahn, hier endet seine Aufgabe. Für ihn und sein oberstes Anliegen – Fachwissen an Schülerinnen und Schüler zu bringen – gibt es keine besser passende Schulform. Er attestiert der Schulform Gymnasium damit eine andere Bildungsorientierung als anderen Schulformen, insbesondere der Gesamtschule und inbegriffen auch den in ihr befindlichen Schülerinnen und Schüler sowie anderen Akteurinnen und Akteure. Demgegenüber lässt sich Frau Kuckucks Interviewauszug lesen, in welchem sie als Gesamtschullehrerin mit der Schulform Gymnasium ‚abrechnet‘, nachdem sie aufgefordert wurde, die Unterschiede zwischen beiden Schulformen aufzuzählen – dieser Impuls der interviewenden Person kommt zustande, nachdem Frau Kuckuck die Vorteile ihres Schulkonzepts beschrieb und dabei wiederkehrend betonte, dass „wir“ an der Schule es anders machen, insbesondere anders als Gymnasien. „also ganz logisch dass die Leistungsorientierung am Gymnasium im Vordergrund steht (.) ähm (.) es geht am Ende immer darum dass (2) das Pensum auf jeden Fall in der Zeit mit der Note erreicht werden muss mh:: ((trinkt einen Schluck)) die Note ist das was im Mittelpunkt steht und nicht so sehr das was am Ende tatsächlich gekonnt wird ((schluckt)) ist ja häufig noch so (.) ähm kann man auch nicht alle immer über einen Kamm scheren ähm dann (.) immer noch in vielen Bereichen dieses etwas althumanistische (2) Bild von (.) Bildung was das bedeutet (.) also dass man diesen Bildungskanon nenn ich das mal Goethe gelesen haben muss und so = n Shit also das denke ich spielt da irgendwie mit rein dass es wenig Hands-on ist es – ist das doch eher theoretisch (.) ich mein mir fehlt manchmal ein bisschen (.)
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das geistige Niveau was äh am Gymnasium herrscht muss man auch mal so sagen das ist natürlich ein anderes Level (.) ähm: (.) also das erstmal und (.) dann (.) der größte Unterschied (2) Defizitorientierung vor (2) dem (.) ressourcenorientiertem Denken“ (Z. 1093–1104)
Zunächst sind es zusammengefasst zwei wesentliche Unterschiede, die sie zwischen den Schulformen Gymnasium und Gesamtschule ausmachen kann: der Unterschied zwischen Defizit- und Ressourcenorientierung sowie der Fokus auf das Produkt statt auf den Prozess. Sie widmet letzterem deutlich mehr Aufmerksamkeit und stellt ersteres als Fazit fest, wobei sie diesen Unterschied dabei auch als „größten“ superlativ markiert. „Logisch“ erscheint für sie, dass an Gymnasien eher Leistung vordergründig ist, der Fokus auf Lehrpläne und den „Bildungskanon“ (vgl. auch Neuenschwander 2006, S. 245) liegt für sie in der Gleichung von Note, Pensum und Zeit begründet. Darum scheint es ihrer Orientierung nach an Gymnasien zu gehen: Inhalte in der vorgeschriebenen Zeit an die Schülerinnen und Schüler zu vermitteln, damit sie für das Abrufen dieser Inhalte eine Note erhalten. Die Beschreibung erhält den Charakter einer routinemäßigen Abfertigung in theoretischer Hinsicht. Die Ausführung berührt Frau Kuckuck emotional, sie lässt sich dazu hinreißen – diese Interpretation legitimiert sich aus dem Hintergrund, dass im gesamten Interview nicht vergleichsweise abgewertet wird –, „Goethe lesen“ als Exemplum des ihrer Meinung nach gymnasialen Bildungskanons als „Shit“ abzuwerten. Obwohl Frau Kuckuck keine Deutschlehrerin ist, könnte ihr klar sein, dass auch an der Gesamtschule, an der sie arbeitet, im Rahmen des Zentralabiturs Texte von Goethe auf dem Lehrplan stehen und somit ebenfalls thematisiert werden könnten. Die Ablehnung kann also nicht ausschließlich an dem exemplarisch gewählten fachlichen Inhalt liegen. Das macht sie auch explizit deutlich, indem sie einerseits darauf verweist, dass ihr bei Gedanken an gymnasiale Bildung oder Herangehensweise eine gewisse Hands-on-Mentalität fehle, und andererseits indem sie selbsteinsichtig festhält, dass ihr persönlich das „geistige Niveau“, das gymnasiale fachliche „Level“ fehle. Einerseits resultiert ihre ablehnende Haltung also aus einem in ihren Augen Missstand an Gymnasien, nämlich daraus, dass dort auf fachliche Leistung statt auf praktische Fähigkeiten, aufs Anpacken fokussiert wird. Da sie in diesem Kontext einen Begriff verwendet, der dem Bereich Stellenanzeigen und Berufsanforderungen entlehnt ist, bekommt der Kontext noch eine interessante Akzentuierung: Sie sieht eine praktische Vorbereitung auf (berufliche) Anforderungen eher an Schul(form)en, an denen nicht das Theoretische – vielleicht das von Herrn Hahn so zentral gesetzte Fachwissen – Priorität hat; hier dokumentieren sich jedenfalls kontrastive Bildungsverständnisse (vgl. 2.1).
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Andererseits schreibt sie sich selbst einschränkend („manchmal“) fehlende Kompetenzen zu, um an einem Gymnasium tätig sein zu können. Es deutet sich hier ein Indiz an für etwas, das in der Dissertation vertieft Berücksichtigung findet: es gibt einen schulformspezifischen Habitus, der sich beispielsweise über selbstzugeschriebene fachliche Eignung, die unter anderem laut Herrn Hahn mit Bildung einhergeht, ergibt. Abschließend ist noch die Perspektive interessant, die Frau Skua als Gymnasiallehrerin auf Bildung verfolgt. Auf die Frage, ob ihr im Schulalltag Phänomene sozialer Ungleichheit begegnen – diesen Plot hat sie selbst propositional aufgemacht, es wird hier exmanent vertiefend gefragt, ob sie diese selbst kenne aus ihrem Alltag –, reagiert sie wie folgt3, unter anderem mit Rückgriff auf die Differenzierung zwischen Gesamtschulen und Gymnasien, wie Frau Kuckuck und Herr Hahn diese vornehmen: „(5) mh (4) ja. einmal äh::m: (2) Forderungen von Eltern, (.) (und) dass die Bildung gleichsetzen mit ähm Erreichen des Abiturs, //mhm// also Bildung heißt gleich der hat dann Abitur (.) ne? also dass das gleichgesetzt wird; es ist nicht das gleiche“
Ein Aspekt sozialer Ungleichheit bedeutet für Frau Skua in Bezug auf ihre Interaktion mit Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler, dass für diese teilweise eine Äquivalenz zwischen Abitur und Bildung herrscht. Dieses Denken in den Köpfen der Eltern lehnt sie ab, weil dadurch ein Anspruch an Bildung gestellt werde, der falsch ist und mit fatalen Konsequenzen einhergehen kann: Wenn Eltern ihren Kindern durch die eigene Bildungsorientierung, die auf das Erreichen des Abiturs ausgerichtet ist, mitgeben, dass ausschließlich dieser Schulabschluss erstrebenswert ist, so können damit nicht nur Schülerinnen und Schüler, die einen anderen Schulabschluss anstreben und erreichen, degradiert werden, sondern kann auch ein immenser Druck auf Schülerinnen und Schüler entstehen, um einem vermeintlichen Ideal zu genügen. „Bildung wird zur entscheidenden Voraussetzung für ein gelingendes Leben, zum Rohstoff jeder individuellen Biografie, zur Ressource der Lebensführung, zur Lebenskompetenz“ stilisiert (Münchmeier 2002, S. 17). Und wenn im Weiterdenken so immer mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur absolvieren, könnte dieses irgendwann seine Gültigkeit und seine Relevanz in der Gesellschaft verlieren und noch weiter: Da das Abitur die Aufnahme einer akademischen Laufbahn attestieren kann, könnten so bei
3Es macht Sinn, den langen Absatz (Z. 1728–1758) der formulierenden Interpretation folgend in Unterthemen zu gliedern, um dann einen Zugriff im Modus der reflektierenden Interpretation vorzunehmen.
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der Inflation abgehender Abiturientinnen und Abiturienten auf kurz oder lang „akademische Werdegänge zunehmend zu ‚Bildungsnormalität‘ avancieren“ (Grunau 2017, S. 212), was die angedeuteten negativen Konsequenzen potenziert. In Bezug auf soziale Ungleichheit kann durch ein derartiges Denken die vorhandene Schere zwischen diversen Klientelen in der Gesellschaft stetig auseinanderweichen, von daher ist es nicht verwunderlich, dass Frau Skua im Kontext der Frage auf diese Facette von elterlicher Bildungsorientierung zu sprechen kommt. Dass sie diese Form der Bildungsorientierung ablehnt („es ist nicht das gleiche“), lässt sich vor der Hintergrundinformation, dass eines ihrer drei Kinder nach einem Hauptschulabschluss mit viel intrinsischer Motivation auf weiteren Bildungsgängen das Fachabitur nachgeholt hat, noch besser nachvollziehen. Ihre eigene Bildungsorientierung ist also auch durch den Bildungsweg ihrer Kinder geprägt. Eine weitere Facette sozialer Ungleichheit wird für Frau Skua durch das Unterthema „Gesamtschule“ gerahmt: „dann (2) seh ich das in in: im Schulalltag und im politischen Alltag ähm von den Partei-n aus gesehen und auch von unserer Bundesministerin aus oder von dem was was die Landesregierung im Moment macht; ähm: (.) dass man uns in so = ne (.) äh: Gleichmacherschule quetscht (.) also dass man immer dieses äh Gesamtschulsystem so hervorhebt was mit Sicherheit auch viele Vorteile hat weil es einfach ein höheren Stundende- ein sehr viel höheren Stundendeputat bekommt als an einem Gymnasium; ähm (3) aber auch die Nachteile die dieses System mit sich bringt auch völlig ausblendet und ähm (.) das empfinde ich auch als Bildungsungerechtigkeit. also ein Gymnasialschüler braucht ein Gymnasium. also ich habe genügend Schüler da die brauchten noch mehr Futter. die sind so:: gut (.) […] ähm: alle die die in unserem Schulsystem schlecht sind, und alle die die richtig gut sind die fallen (.) unter den großen Pott und werden eingerührt (.) und das ist ungerecht. den schlechten gegenüber und den guten gegenüber (.) //hmh// (.) und das (.) find ich (2) kommt bei mir in Schule regelmäßig an“
Im gesamten Interview ist leitend, dass Politik und Bildung zusammengedacht werden. Wiederkehrend greift Frau Skua auf politische Entscheidungen im Kontext von Bildung und Schule zurück. So auch hier, wenn sie ihrem Unmut über das nicht zuende gedachte Konzept von Gesamtschulen Ausdruck verleiht. „Gleichmacherschule“ hat den Beigeschmack, dass Individualität nicht mitgedacht ist und auch nicht die Möglichkeit, differenzierende Maßnahmen zu ergreifen. Es handelt sich somit nicht nur um etwas, das die Schülerinnen und Schüler tangiert, sondern auch den Handlungsspielraum der Lehrerinnen und Lehrer beschneidet. Vor allem im Kontrast zu den Auszügen der anderen befragten Lehrerinnen und Lehrer in diesem Aufsatz fällt auf, dass Frau Skua gegensätzlich zu deren Aussagen in Gesamtschulen Gleichmacherei erkennt,
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statt Differenzierung im Fokus zu sehen. Für sie wird aus politischer Perspektive zwar hervorgehoben, wie viele Vorteile ein Gesamtschulsystem mit sich bringe – für Frau Skua ist hier vor allem oder auch lediglich ein höheres Stundendeputat nennenswert –, allerdings zu wenig auf die Nachteile eines solchen Konzepts eingegangen. Sie selbst bleibt dies ebenfalls schuldig, konstatiert aber beharrlich, dass Gymnasiasten auf ein Gymnasium gehören, vor allem, wenn sie signalisieren, dass sie fachlich unterfüttert im Sinne von unterfordert sind. Sie schließt ihre Argumentation damit, dass in der Programmatik der Gleichmacherschule, die bildungspolitisch gewollt sei, alle Guten und Schlechten hintenüberfallen. Auffällig ist, dass sie damit schließt, dass dies bei ihr „in der Schule regelmäßig an[kommt]“ – sie arbeitet an einem Gymnasium und hat bis dato hervorgehoben, dass es sich doch eben dadurch auszeichne, dass keine Gleichmacherei und kein „Eingerühre im großen Pott“ stattfinde. Letztlich handelt Frau Skua noch den Bildungsbegriff als Unterthema zum Oberthema „Phänomene sozialer Ungleichheit“ ab. Hier erlangt ihre Ausführung nun einen Charakter, der weg von den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern eher zu den Lehrerinnen und Lehrern führt: „also wir haben alle ein hohes höheres Ziel, wir sollen Bildung vermitteln damit wir dann ein gebildetes Volk sind, aber es werden gar nicht die Ressourcen dargestellt und es wird vor allem gar nicht (.) gewürdigt; (.) was ich glaube das ist auch noch ein zweiter Punkt noch, also die Ressourcen werden nicht bereitgestellt, ich glaube wir sind im Ranking ähm vom Bundesland her mit am schlechtesten ausgestattet; und und für die Aufgabe die wir in Bildung eigentlich zu tun haben sind wir (.) eigentlich nur gescholten. (.) ne?, das gehört auch mir dazu für mich; (.) aber man hat sich weit von diesem Begriff Bildungsungerechtigkeit oder von Bildung selber ganz weit entfernt. das war am Anfang als ich anfing (.) viel eher noch die Debatte um Bildung. welche:- welches Bildungsideal nehmen wir, wie wird Bildung überhaupt definiert, darüber hat man sich früher viel mehr Gedanken gemacht, auch im gymnasialen Bereich; nach welchem theoretischen Bildungshintergrund definieren wir unsere Arbeit; //hmh// das ist heutzutage (2) ähm (.) nur noch (2) Waschtisch“
Frau Skua fehlt eine schulinterne Auseinandersetzung damit, was Bildung bedeutet – das entsprechende Handeln sei „nur noch Waschtisch“. Assoziativ lässt sich damit das Substantiv „Wischiwaschi“ verbinden, das eine saloppe Abwertung demonstriert, die sich durchaus in dem Auszug dokumentiert. Wischiwaschi wird dem Duden zufolge vor allem für unklares, unpräzises und verschwommenes Gerede verwendet (vgl. Duden 2019b). Somit lässt sich festhalten, dass ohne definierten Bildungsbegriff die Arbeit an Schulen verklärt ist, was Frau Skua verurteilt, und gleichermaßen dokumentiert sich eine Sehnsucht nach frühen Zeiten ihrer Arbeit, in denen noch Wert auf ein solches begriffliche Klarheit
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schaffendes und Struktur gebendes Fundament gelegt wurde. Die bildungspolitische Perspektive hat sich also für Frau Skua eher zum Negativen gewandelt. Für sie ist soziale Ungleichheit, dies zeigt sich an mehreren Stellen hier und im gesamten Interviewverlauf, unmittelbar an Bildungsungerechtigkeit gekoppelt – ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen Zugang zu und Umgang mit Bildung und sozialer Positionierung. Und wenn dazu auch bei Lehrerinnen und Lehrern die Grundlage fehlt – nämlich in diesem Falle eine Klärung dessen, was das ausmacht, das sie an Schülerinnen und Schüler „vermitteln“ sollen –, dann kann mit und ohne den zudem noch fehlenden finanziellen Ressourcen Bildung nicht gerecht stattfinden.
4 Abschließende Worte Nach aspekthaftem Blick auf rekonstruierte Bildungsorientierungen einiger Lehrerinnen und Lehrer an Gesamtschulen und Gymnasien lässt sich festhalten, dass anders als einleitend vermutet in Narrationen, Beschreibungen oder Argumentationen über Bildungsorientierungen von Schülerinnen und Schülern und deren Familien oder Eltern nicht zwingend eigene Bildungsorientierungen der Lehrerinnen und Lehrer mitschwingen müssen. Viel zentraler ist die Erkenntnis, wie relevant die Position befragter Lehrerinnen und Lehrer für den Bildungsweg und damit auch für die Bildungsorientierungen der Schülerinnen und Schüler sein kann, ähnlich wie auch Busse (2017, S. 195) dies konstatieren konnte. Der Schule als Institution, in der die befragten Lehrerinnen und Lehrer professionell pädagogisch und fachlich tätig sind, kommt also eine wichtige Rolle zu für die Schülerinnen und Schüler. Sie knüpft „im Sinne eines Institutions-Milieukomplexes an die primären familialen Bildungsorientierungen an“ (ebd., S. 205). Weiterhin konstatiert Busse (ebd.): „Wenn Individuations- und Bildungsprozesse der Jugendlichen durch die familialen Bildungsorientierungen eingeschränkt oder blockiert werden, ist es der Bildungsauftrag der Schule – trotz der reflektierten Annahme der Familie-Schule-Differenz – Anregungspotentiale anzubahnen, die Autonomie und Individualität der Schülerinnen und Schüler anerkennen und damit transformatorische Bildungsorientierungen flankieren.“ Diesem Bildungsauftrag kommen die befragten Lehrerinnen und Lehrer in unterschiedlichem Maße nach: Diese ungleichen Bildungsorientierungen können Ungleichheit zwischen Schülerinnen und Schüler beeinflussen. Es wird weiterhin deutlich, inwieweit bildungspolitische Semantik, die Programmatik der eigenen Schulform und in Teilen durchaus auch die eigene Bildungsorientierung „unlösbar miteinander verwoben sind“ (Geier und Frank 2016, S. 229). In Abschn. 2.3
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wurde darauf verwiesen, dass es diverse Attribute gibt, die Bildungsorientierungen spezifizieren. Diese können durch vorliegende Rekonstruktionen um mindestens folgende ergänzt werden: gymnasiale und gesamtschulische Bildungsorientierungen4. • Die hier rekonstruierte gymnasiale Bildungsorientierung ist gerahmt durch Fachlichkeit und eine Orientierung an Fachwissensvermittlung. Dies wird als ein der Schule inhärenter Bildungsauftrag verstanden. Auch wenn Bildung nicht ultimat gesetzt wird, wird doch eine gewisse „Schwelle“, ein gewisser Grundstock an Bildung bei den Schülerinnen und Schülern erwartet. Im Ansatz könnte auch von fachlicher oder fachwissenschaftlicher Bildungsorientierung die Rede sein oder auch von einer schulsystemischen Bildungsorientierung, die gekennzeichnet ist dadurch, dass Schule als Institution und Organisation als politisch motiviert und gesteuert verstanden wird. Lehrerinnen und Lehrer sind in dem Falle als Mittlerinnen und Mittler in gewissem Maße ausgeliefert. Sie können in kleinem Spielraum individuell handeln, sind aber im Großen und Ganzen an die entsprechenden Richtlinien gebunden und ordnen ihre Handlungen, ihr Bildungsstreben diesen unter. • Eine gesamtschulische Bildungsorientierung fokussiert weniger diese theoretische Perspektive denn das Miteinander, den Blick auf die Schülerinnen und Schüler und deren Möglichkeiten, die durchaus auch external begrenzt sein können. In einem solchen Falle ist Diagnostik wichtig, um Unterstützung einzuleiten und gegebenenfalls selbst kompensatorisch tätig zu werden. Im Ansatz könnte auch die Rede von diagnostischer Bildungsorientierung sein, die durch Engagement und eine gewisse Erwartungshaltung an die Schülerinnen und Schüler und ggf. deren Eltern charakterisiert ist. Eine selbstzugeschriebene Beobachtungsgabe liegt bei den Lehrerinnen und Lehrern vor, sie trauen sich zu, ihren Schülerinnen und Schülern ein Maß an Bildung zu attestieren und handeln daraufhin kompensierend, fördernd oder fordernd. Es zeichnet sich eine ausgeprägte Schulformidentifikation ab – eine „Einbindung der Akteure in ein gemeinsames oder gleichartiges Schicksal“, gekennzeichnet durch „gemeinsame oder strukturelle Erfahrungen“ (Amling und
4Es
ist nicht ausgeschlossen, dass auch Gymnasiallehrerinnen und -lehrer sich dem Bildungsbegriff diagnostisch orientiert annähern und umgekehrt auch nicht, dass bei Gesamtschullehrerinnen und -lehrern eine politisch orientierte Sicht auf Bildung zugrunde liegt.
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Hoffmann 2013, S. 181). Die befragten Gesamtschullehrerinnen und -lehrer (Fr. Adler, Hr. Schwan, Fr. Kuckuck) blicken individuell auf ihre Schülerinnen und Schüler, während die Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (Hr. Hahn, Fr. Skua, Fr. Wiedehopf) diese Brille zugunsten eines fachwissenschaftlichen, bildungsstrebenden Blicks suspendieren. Ersichtlich ist weiterhin, wie divers der Zugang zum Bildungsbegriff sein kann und was für Auswirkungen sich daraus für die jeweiligen Bildungsorientierungen ergeben. Relevant dafür sind eben nicht nur primär- und sekundärsozialisatorische Züge, sondern auch politische Einstellungen, das Einfügen in die illusio des Arbeitsfeldes sowie die Ausbildung schulform- und fachspezifischer Ausprägungen. Die Relevanz von Bildungsorientierungen bei Lehrerinnen und Lehrern kann somit immens sein, denn aus diesen können sich Umgangsweisen mit Schülerinnen und Schülern und deren Eltern oder Familien ergeben, die wegweisend sein und durchaus auch fatale Konsequenzen nach sich ziehen können. Vor allem im Kontext von Pauschalisierungen, Stereotypisierungen und Vorurteilen und somit im Kontext des Diskurses um habituelle und schulische Passung zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern könnte hier ein wegweisendes Forschungsfeld liegen. Letztlich bleibt mit Blick auf die einführenden Worte festzuhalten, dass sich aber Bildungs- und Beziehungsorientierungen definitiv nicht ausschließen müssen – sogar miteinander einhergehen können. Zu (hinter-)fragen ist, ob es sich bei den Bildungsorientierungen der Befragten um „gesellschaftliche oder sozial erwünschte Bildungsorientierungen“ (Grunau 2017, S. 71) handelt – hier ist weiterführende Forschung sicherlich interessant, vor allem im Kontext der Lehrerinnen- und Lehrerhabitus-, aber auch der Interviewforschung. Es bleibt abschließend festzuhalten, dass es sich durchaus um ein fuzzy concept (siehe Abschn. 2.3) handelt, wenn von Lehrerinnen- oder Lehrerbildungsorientierungen die Rede ist, insbesondere vor dem Hintergrund der noch offenen Fragen. Ansonsten lässt sich als heuristische Annahme formulieren, dass Bildungsorientierungen im Rahmen der hier interpretierten Daten durch das Selbstverständnis der jeweiligen Schulform gerahmt sind, aber eben auch durch eine Fachsozialisation und selbstverständlich auch durch weitere habituelle Prägungen. Eine exakte „Rekonstruktion der sozialen Genese“ (Amling und Hoffmann 2013, S. 194) der Bildungsorientierungen, wie sie beispielsweise bei Frau Skua in Bezug auf die Bildungswege ihrer Kinder anklang, wäre hier weiterführend spannend, um Bildungsorientierungen „in ihrer funktionalen Beziehung zu spezifischen Erfahrungsdimensionen, zur Sozialisationsgeschichte beziehungsweise zum ‚existentiellen Hintergrund‘ der Befragten“ herauszuarbeiten (Brüggemann und Welling 2017, S. 192). Bildungsorientierungen sind also von diversen soziogenetischen Differenzierungen abhängig, was die dokumentarische
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Methode in ihrer Bedeutung für die Erforschung von Bildungsorientierungen abermals bestärkt, und die weiterführende Beforschung dieses Themas unabdingbar erscheinen lässt, um es weniger ‚fuzzy‘ wirken und werden zu lassen.
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Graalmann, Katharina, M.Ed., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schulpädagogik der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Bildungs(un-)gerechtigkeit in Schule und Unterricht, Lehrer*innenhabitus, Dokumentarische Methode, Unterrichtsinteraktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, Schulische Übergänge und Transitionen. [email protected]
Geflüchtete Jugendliche zwischen subjektiven Bildungsorientierungen und gesellschaftlich begrenzten Berufsoptionen Katharina Wehking Zusammenfassung
Im Beitrag werden die Bildungs- und Berufsorientierungen junger Geflüchteter betrachtet, die sich gegenwärtig in Berufsvorbereitungsklassen befinden. Auf Basis der Ergebnisse einer qualitativen Studie wird aufgezeigt, dass junge Geflüchtete ausgeprägte subjektive Bildungsorientierungen aufweisen, aber diese aufgrund bestehender rechtlicher und struktureller Bedingungen am Übergang in den Beruf kaum realisieren können. Die beruflichen Handlungsund Möglichkeitsräume sind de facto und de jure begrenzt. Aufgrund ausgeprägter heteronomer Einflüsse lässt sich bei jungen Geflüchteten daher weniger von einer Berufswahl als vielmehr von einem Berufspragmatismus sprechen. Es wird jedoch deutlich, dass die Jugendlichen keinesfalls in Resignation verfallen, sondern der Ausbildungsabsolvierung hohe Funktionalität zuschreiben, um Passungsverhältnisse zum neuen Ankunftskontext herzustellen und Berufswünsche und Bildungsaspirationen in der Zukunft zu verwirklichen. Die Ergebnisse geben nicht nur Aufschluss über die subjektiven Berufs- und Bildungsziele junger Geflüchteter, sondern auch über die strukturellen Bedingungen der beruflichen Teilhabe und von Bildungsprozessen, die eng verknüpft sind mit ungleichen sozialen Lagerungen, in denen sich Geflüchtete in Deutschland wiederfinden.
K. Wehking (*) Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_9
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1 Einleitung Nach der hohen fluchtbedingten Migration mit vielen jungen Schutzsuchenden im ausbildungsrelevanten Alter (vgl. Brücker et al. 2017, S. 80) werden seit 2015 in den meisten Bundesländern Berufsorientierung und Deutsch-Sprachbildung für Geflüchtete1 mit ein- bis zweijährigen Berufsvorbereitungsklassen organisiert (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 196). Die Bildungsgänge an berufsbildenden Schulen stellen gegenwärtig das quantitativ wichtigste Angebot zur vorberuflichen Bildung junger Geflüchteter dar (vgl. Seeber et al. 2017, S. 56; Braun und Lex 2016, S. 44) und gelten auch als „Schlüssel zur Integration“ (Ruth und Stöbe-Blossey 2019, S. 99). Obgleich Berufsvorbereitungsklassen für die berufliche Inklusion junger Geflüchteter eine hohe Relevanz einnehmen, liegen jedoch kaum Studien vor, die sich mit dem individuellen Entscheidungsprozess der Berufswahl und den subjektiven Bildungszielen Geflüchteter in den Klassen des schulischen Übergangssektors auseinandersetzen. Dabei wird der Prozess der Berufswahl in der modernen Entwicklungspsychologie als eine der bedeutendsten Entwicklungsanforderungen der Adoleszenz betrachtet (vgl. Schmude 2011, S. 17). Schließlich hat die Berufswahl für junge Menschen aufgrund des Berufsprinzips, das im deutschen Arbeitsmarkt einen zentralen Stellenwert einnimmt, häufig langfristige und nicht selten lebenslange Konsequenzen (vgl. Mahl et al. 2014, S. 1; Dombrowski 2015, S. 11). Die Berufsspezifität des deutschen Ausbildungssystems trägt dazu bei, dass sich junge Menschen frühzeitig auf einen Beruf festlegen müssen (vgl. Dombrowski 2015, S. 11). Die relativ geringe berufliche Mobilität hat stabile Folgen für den Lebensverlauf, da die Ausübung eines Berufs auch Auswirkungen auf das später zu erzielende Einkommen, die Arbeitsplatzsicherheit, Karrieremöglichkeiten oder Gesundheit hat (vgl. ebd.). Somit sind gezielte Berufsorientierung und Berufsvorbereitung von jungen Geflüchteten besonders relevant, wenn ihnen auch langfristig die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland gelingen soll. So unterstreichen auch Stöbe-Blossey et al. (2019), dass „[…] Bildung Teilhabechancen eröffnen soll – und zwar nicht vordergründig im Hinblick auf eine möglichst schnelle (und wie auch immer geartete) Eingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern im Sinne einer möglichst chancengleichen Teilhabe
1In
diesem Beitrag wird der Terminus Geflüchtete verwendet, womit alle Personen, die in Deutschland Schutz suchen, unabhängig ihres aufenthaltsrechtlichen Status gemeint sind (vgl. ausführlich Wehking 2020, S. 98).
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der Zugewanderten an Bildung, die die Entfaltung individueller Potenziale ermöglicht und Berufswege eröffnet, die diesen Potenzialen entsprechen. Der Begriff ‚Berufsorientierung’ beinhaltet diesem Verständnis zufolge nicht das Ziel eines möglichst schnellen Übergangs in Erwerbstätigkeit; vielmehr geht es um eine Orientierung, die die individuellen Potenziale ermittelt und darauf aufbauend Bildungswege aufzeigt – vom erforderlichen Schulabschluss über Wege in Ausbildung oder Studium bis hin zu einem beruflich verwertbaren Abschluss.“ (ebd., Vorwort, S. V)
Allerdings wird gegenwärtig deutlich, dass die Berufsorientierung oftmals nicht ausschließlich die Potenziale und Ressourcen der jungen Menschen im Blick hat, sondern dass aufgrund der Zuwanderung überdurchschnittlich junger Menschen häufig „Überlegungen zur Verwertbarkeit von Immigrant*innen“ (Rüzgar und Schaft 2014, S. 70) dominieren, bei denen junge Geflüchtete als Chance gesehen werden, zur Deckung des Fachkräftebedarfs beizutragen (vgl. z. B. Bergseng et al. 2019, S. 3). Auch statistisch gesehen, verwundert es vor dem beschriebenen Hintergrund nicht, dass gegenwärtig besonders viele junge Geflüchtete in Ausbildungsberufe einmünden, die von Unterdeckung betroffen sind. Demnach zeigt der aktuelle Berufsbildungsbericht (vgl. BMBF 2019, S. 47) auf, dass Männer mit einem Fluchthintergrund überproportional häufig in Berufe mit starken Besetzungsproblemen eingemündet sind, wie z. B. Koch oder Bäcker (vgl. ebd.). Insgesamt wird deutlich, dass in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion die berufliche Teilhabe junger Geflüchteter in den deutschen Arbeitsbzw. Ausbildungsmarkt oftmals unter Nützlichkeitsaspekten diskutiert und an die Erwartung einer Milderung des Fachkräftemangels in den von Unterdeckung betroffenen Mangelberufen geknüpft wird. Dabei lässt sich feststellen, dass die Diskussion oft auf gesellschaftlicher Makroebene geführt wird, ohne die betroffenen Jugendlichen selbst zu involvieren. So wird wissenschaftlich wie politisch häufig über die berufliche Teilhabe Geflüchteter diskutiert, nicht aber mit ihnen (vgl. Held et al. 2018 S. 10). Seit den Arbeiten des Sonderforschungsbereichs von Neumann et al. (z. B. 2002, 2003) liegen daher auch nur wenige aktuelle Studien vor, die die Perspektive zur Berufswahl und den Bildungsorientierungen der betroffenen Jugendlichen mit einem subjektorientierten Forschungszugang selbst in den Fokus rücken (vgl. z. B. Held et al. 2018; Calmbach und Edwards 2019; Wehking 2020). In diesem Beitrag soll deutlich werden, dass Berufswahlentscheidungen als Teil von Bildungsentscheidungen gedeutet (vgl. Brändle und Gundermann 2013, S. 63) und damit berufliche Orientierungen auch als Bildungsorientierungen verstanden werden können. Schließlich ist mit dem hier zugrunde liegenden Verständnis von Berufswahl als lebenslanger Prozess (vgl. z. B. Butz 2008, S. 50),
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nicht nur gemeint, sich für einen Beruf zu entscheiden, sondern auch für eine Berufsausbildung (i. S. einer Berufsausbildungswahl) oder für andere Anschlussoptionen (bspw. weiterer schulischer Werdegang o. ä.) (vgl. Herzog et al. 2006, S. 39). Das heißt, es liegt bei anderen Anschlussoptionen u. U. auch eine Berufswahlentscheidung zugrunde, wenn sie beispielsweise auf zukünftige Berufsausbildungen vorbereitet und damit wichtige Weichen für die Zukunft gelegt werden (vgl. ebd.). Im Folgenden wird sowohl der Prozess der Berufswahl und die damit verbundenen beruflichen Orientierungsaktivitäten selbst, als auch die bei den Jugendlichen zugrunde liegenden Bildungsorientierungen betrachtet. Damit soll semantisch unter der Berufsorientierung die Handlung und Aktivität zur Berufsfindung selbst, unter Bildungsorientierung jedoch die subjektiven Haltungen und Einstellungen der Jugendlichen gegenüber Bildung verstanden werden (vgl. Einführungsbeitrag von Buse und Hermes in diesem Band). Bisher ist kaum etwas darüber bekannt, welche Bildungsorientierungen junge Menschen mit einer Fluchterfahrung in Deutschland haben und wie genau die beruflichen Orientierungsaktivitäten von jungen Geflüchteten aussehen, die vor dem Einmünden in die Berufsausbildung stattgefunden haben, um ihre Bildungs- und Berufswünsche umzusetzen (vgl. Wehking 2020, S. 185 ff.). Im Fokus dieses Beitrages stehen folglich die Fragen, wie junge Geflüchtete die Berufswahl in Deutschland erleben und wie sie glauben, ihre Berufs- und Bildungsvorstellungen im neuen Ankunftskontext umzusetzen. Dabei soll in diesem Beitrag deutlich werden, dass geflüchtete Jugendliche in Berufsvorbereitungsklassen oftmals eine pragmatische (Ausbildungs-)Berufswahlentscheidung vollziehen, dass bei ihnen jedoch andere Bildungsorientierungen zugrunde liegen können (vgl. Abschn. 3.1 dieses Beitrages). Angesichts des beschriebenen Forschungsdesiderats wird der Beitrag die Ergebnisse eines Dissertationsprojektes (vgl. ausführlich Wehking 2020) vorstellen, bei dem in einem subjekt- und biografieorientierten Forschungszugang junge Geflüchtete in problemzentrierten Interviews nach Witzel (u. a. 2000) befragt wurden. Insgesamt wurden hierbei acht Männer und vier Frauen im Alter von 17 bis 21 Jahren aus Syrien (5), Afghanistan (4), Irak (2) und Pakistan (1) an unterschiedlichen Erhebungsorten in Niedersachsen zu ihren (Bildungs-) Biografien befragt, die sich zum Zeitpunkt der Interviews als Schülerinnen und Schüler in diversen Beschulungsformen der Berufsvorbereitung an berufsbildenden Schulen befanden. Die mit dem Forschungsstil der Grounded Theory (vgl. Strauss 1998; Charmaz 2014) rekonstruierten Daten zeigen, dass sich in der beschriebenen Überproportionalität in Mangelberufen nicht nur die subjektiven Bildungswünsche der Jugendlichen widerspiegeln, sondern auch strukturelle Bildungsbenachteiligungen, die aus politisch-rechtlichen Einschränkungen sowie begrenzten Handlungsmöglichkeiten resultieren.
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Nach einer kurzen Skizzierung der Ausgangslage sowie einer theoretischen Verortung dieses Beitrages (Abschn. 2), wird der Blick auf ausgewählte empirische Ergebnisse gelenkt (Abschn. 3). Hierbei sollen zunächst einige zentrale Aussagen zu bestehenden Bildungs- und Berufsorientierungen von geflüchteten Jugendlichen getroffen werden (Abschn. 3.1). Anschließend wird der Fokus auf ausgewählte Einflussfaktoren gelegt und insbesondere die Rolle von Praktika (Abschn. 3.2) und des sozialen Umfeldes (Abschn. 3.3) auf die Berufsentscheidungen der Jugendlichen herausgestellt. Schließlich wird die hohe Zukunftsorientierung der Jugendlichen betrachtet, die sich aufgrund ausgeprägter Restriktionen am Übergang Schule – Beruf als eine zentrale Bewältigungsstrategie heteronomer Einflüsse auf die Berufswahl und Bildungsverläufe der Jugendlichen ergibt (Abschn. 3.3). Der Beitrag endet mit einer Diskussion und einem Ausblick, indem die Auswirkungen der heteronomen Einflüsse auf die Berufswahl reflektiert werden (Abschn. 4).
2 Der Übergang in die Berufsausbildung: Ausgangslage und theoretische Überlegungen Gegenwärtige Statistiken (vgl. z. B. BAMF 2018, S. 11; BAMF 2019, S. 8) zeigen zwar auf, dass quantitativ ein deutlicher Rückgang der Fluchtmigration nach Deutschland festzustellen ist, allerdings steigt die Ausbildungsbeteiligung von Personen mit Fluchterfahrung im selben Zeitraum in Deutschland merklich an. So wird gegenwärtig deutlich, dass geflüchtete Personen mit etwas Zeitverzug nunmehr nach und nach am Ausbildungsmarkt ankommen, sodass statistisch gesehen, die Zahl der Auszubildenden mit einer Staatsangehörigkeit aus einem nicht europäischen Asylzugangsland in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist (2008: 999; 2013: 1.569; 2014: 1.908; 2015: 2.925; 2016: 5.997; 2017: 15.402) (vgl. BMBF 2018, S. 59; BMBF 2019, S. 54). Die aktuelle Beteiligung von Personen aus nicht europäischen Asylherkunftsländern an Ausbildung ist aktuell folglich fünfzehn Mal so hoch wie 2008. Die steigende Beteiligung junger Geflüchteter ist aus struktureller Perspektive nicht verwunderlich, denn ausbildungsstrukturell gesehen, müssen die meisten Plätze in Berufsausbildung und weniger im Studium bereitgestellt werden, denn viele Geflüchtete, die nach Deutschland gekommen sind, sind besonders jung und haben zudem einen hohen Qualifizierungsbedarf (vgl. Granato und Junggeburth 2017b, S. 15; Brücker et al. 2017, S. 80). Viele der jungen Menschen sind ohne oder mit geringen formalen Bildungsqualifikationen nach Deutschland gekommen, da sie häufig aufgrund von Krisen, Kriegen oder z. T. jahrelangen
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Fluchtwegen häufig unterbrochene Bildungsbiographien aufzeigen (vgl. Schupp et al. 2017, S. 19). Aufgrund dieser Konstellation – niedriges Durchschnittsalter und hoher Qualifizierungsbedarf – ist bildungspolitisch bereits frühzeitig das duale System in den Fokus der Integrationsbestrebungen gerückt, da dem dualen System traditionell ein hoher „Integrationsfaktor“ (Hillmert 2010, S. 167) zugesprochen wird. So wird es gemeinhin als Stärke des dualen Systems herausgestellt, auch sogenannten „bildungsfernen“ Gruppen den Weg in eine qualifizierte Ausbildung und in den Arbeitsmarkt zu öffnen (vgl. Severing 2010, S. 96). Leider zeigt sich vermehrt, dass „diese integrierende Kraft des dualen Systems für ‚bildungsschwächere‘ Gruppen zunehmend verloren [geht]“ (ebd.). So wurde die Integrationsfähigkeit des dualen Systems nicht zuletzt dann bezweifelt, wenn es um die Partizipation migrantischer Jugendlicher an betrieblicher Ausbildung geht (vgl. Scherr 2015, S. 9 ff.). So haben nach wie vor junge Erwachsene mit einem Migrationshintergrund erheblich häufiger keinen anerkannten Berufsabschluss und das vor allem, wenn sie eine eigene Migrationserfahrung haben, sprich selbst migriert sind (vgl. Granato et al. 2016, S. 25 f.). Auch Geflüchteten war es in der Vergangenheit nur bedingt möglich, ihren Qualifikationserwerb so zu steigern, dass sie einen Berufsabschluss erreichen. So zeigen Studien über Geflüchtete früherer Kohorten, die vor 1995 und im Durchschnitt mit 26 Jahren nach Deutschland gekommen sind, dass mehr als die Hälfte (56 %) auch nach durchschnittlich 16 Jahren Aufenthalt in Deutschland keine anerkannte Berufsausbildung erwerben konnte (vgl. Fendel und Romiti 2016, S. 17; Granato et al. 2016, S. 4). Aus den Erfahrungen und vor allem strukturellen Versäumnissen der Vergangenheit wurde nach der aktuellen Fluchtmigration reagiert, was sich gegenwärtig in einer zunehmenden Pädagogisierung beruflicher Übergangsprozesse zeigt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 137), indem junge Geflüchtete durch intensive Deutsch-Sprachbildung und gezielte Berufsorientierung im Übergang stärker unterstützt werden (sollen). Dies zeigt sich in der Einrichtung von zahlreichen unterschiedlichen Bildungsangeboten zur Berufs(ausbildungs)vorbereitung und Berufsorientierung. So wurden in allen Bundesländern spezielle Vorbereitungsklassen für Geflüchtete eingerichtet (vgl. Braun und Lex 2016) und (vorhandene) Maßnahmen wie z. B. Instrumente der Bundesagentur für Arbeit (kurz: BA), Initiativen von Bund, Ländern und Kommunen u.v.m. neu geschaffen oder ausgebaut, die den Übergang in eine qualifizierte Berufsausbildung erleichtern sollen (vgl. ausführlich Wehking 2020; S. 68 ff.). Das Berufsbildungssystem in Deutschland bietet insgesamt günstige Voraussetzungen für die berufliche Inklusion von geflüchteten Jugendlichen,
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da berufsbildende Schulen „ein breites Spektrum verschiedener Bildungsangebote unter einem Dach vereinen“ (Stöbe-Blossey et al. 2019: 295). So bieten berufsbildende Schulen unterschiedliche berufliche Bildungsangebote von der Ausbildungsvorbereitung über die Ausbildung im dualen System, den vollzeitschulischen Ausbildungen bis hin zu unterschiedlichen Möglichkeiten zum Erwerb von Schulabschlüssen, einschließlich der Hochschulreife (vgl. ebd.). Einerseits bieten die Strukturen der beruflichen Bildung somit vielfältige Optionen der (beruflichen) Förderung geflüchteter Jugendlicher. Andererseits tragen diese unterschiedlichen Strukturen vor allem im Übergangsbereich, in dem sich viele junge Geflüchtete derzeit zur Berufsorientierung und Deutsch-Sprachbildung befinden, auch zu einer kaum zu überschaubaren Komplexität bei (vgl. ausführlich Wehking 2020, S. 68 ff.), sodass gerade im Bereich des Übergangs häufig auch von einem „Übergangsdschungel“ (BMFSFJ 2017, S. 432), einer „Black Box“ (Bojanowski und Eckert 2012) oder einem „Labyrinth“ (Münk et al. 2008, S. 31) gesprochen wird. Dabei sind die insgesamt vielfältigen Ausbildungswege und Fördermaßnahmen der beruflichen Bildung auch für einheimische Beobachterinnen und Beobachter oftmals nur schwer zu durchschauen (vgl. SVR 2017, S. 135). Das deutsche Bildungssystem kann daher aufgrund der hohen Anzahl an Bildungsgängen und der beruflichen Spezifizität als hoch stratifiziert charakterisiert werden (vgl. Hunkler und Tjaden 2018, S. 82). Allerdings wirkt sich die Komplexität und das Berufsprinzip als „typisch soziokulturelle Eigenart in den deutschsprachigen Ländern“ (Arnold et al. 2016, S. 77) mit seinem ausdifferenzierten Ausbildungssystem auch auf die Bildungsentscheidungen und Bildungsverläufe junger Menschen aus, wie im Folgenden deutlich wird. Insgesamt zeigen junge Menschen mit Fluchterfahrung zwischen 18 und 25 Jahren hohe Bildungsaspirationen im Hinblick auf den Erwerb von schulischen und beruflichen Abschlüssen sowie eine hohe Erwerbsorientierung (vgl. Motzek-Öz und Westphal 2019, S. 61; Granato 2017, S. 29 f.; Liebau und Siegert 2017, S. 61 ff.). In einer qualitativen Studie, die die Perspektiven pädagogischer Fachkräfte zur Sprach- und Berufsbildung junger Geflüchteter in Experten- und Expertinneninterviews erhoben hat (vgl. dazu ausführlich Tessmer und Wehking 2019) konnte allerdings aufgezeigt werden, dass bei einigen Lehrkräften stereotype Annahmen gegenüber den Berufsvorstellungen junger Geflüchteter vorherrschen (vgl. ebd., S. 219). Die folgenden der Studie entnommenen Zitate einer Lehrkraft sowie einer pädagogischen Fachkraft an berufsbildenden Schulen veranschaulichen die Einstellung der befragten Pädagoginnen und Pädagogen, dass junge Geflüchtete oftmals einseitige, unrealistische und undifferenzierte Berufswünsche mitbringen würden.
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Lehrkraft I1: „Also die fangen an und der Syrer an sich, sag ich mal, möchte gerne Arzt werden, ist ja so, und ein großes Problem […] Und dementsprechend arbeiten wir aktiv daran, dass die Ausbildung eine wunderbare Alternative ist, gerade für die Klientel, die vielleicht auch nie in der Lage sein werden zu studieren. Aber das sind so falsche oder so so Vorstellungen häufig der Zugewanderten“ (Z: 248–260; Hervorh. KW). Lehrkraft I2: „[...] also die kommen mit Berufswünschen, wenn Sie in einer Klasse sind mit 15 Schüler, da haben Sie Berufswünsche mindestens 12 Automechaniker und die restlichen drei wissen nicht ja? Also sehr wenig differenziert. Für die ist es nicht vorstellbar, dass wir 350 oder 400 Ausbildungsberufe haben, nur Ausbildungsberufe [...] UND die kennen diesen ganzen Prozess nicht, der bei uns abläuft – diesen ganzen Berufsorientierungsprozess“ (Z. 347–354; Hervorh. KW).
Die hohen Bildungs- und Berufswünsche, die in den Aussagen der pädagogischen Fachkräfte deutlich werden, sind jedoch oftmals Ausdruck der hohen Bildungsaspiration und Aufstiegsorientierung der Jugendlichen, was in der Forschung auch unter dem theoretischen Konstrukt des „Immigrant Optimism“, also Zuwandereroptimismus, bekannt ist (vgl. Granato 2014; Relikowski et al. 2012; Hunkler und Tjaden 2018). Demnach nehmen Migrierte der ersten Generation die Migration als Chance für den sozialen Aufstieg wahr und weisen eine hohe schulbezogene Motivation sowie hohe schulische und berufsbezogene Aspirationen auf (vgl. Blossfeld et al. 2016, S. 183). Es wird folglich darauf aufmerksam gemacht, dass in Familien mit einer Migrationsgeschichte höhere Bildungsaspirationen feststellbar sind, als bei einheimischen (vgl. Relikowski et al. 2012; Granato 2014). Zwar konnten Relikowski et al. (2012) aufzeigen, dass die Bildungs- und Ausbildungsaspiration und soziale Aufstiegsorientierung von Migrantinnen und Migranten höher ausfällt als bei autochthonen Jugendlichen mit einem vergleichbaren sozialen Hintergrund. Sie haben allerdings auch größere Schwierigkeiten, konkrete Bildungspläne zu entwickeln und diese umzusetzen, da sie (und ihre Eltern) das deutsche (Aus-)Bildungssystem und die damit verbundenen Anforderungen oftmals zu wenig kennen (vgl. ebd., S. 114; Blossfeld et al. 2016, S. 233). Das fehlende Wissen über das Bildungssystem des Aufnahmelandes wird in der Literatur unter dem Begriff des Informationsdefizits besprochen (vgl. Relikowski et al. 2012, S. 114; Hunkler und Tjaden 2018, S. 76 f.). Auch bei geflüchteten Jugendlichen, die als Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger in das Bildungssystem einmünden und sich innerhalb eines kurzen Zeitfensters von z. T. nur wenigen Monaten für einen Beruf in einem ihnen weitgehend unbekannten (Aus-)Bildungssystem entscheiden müssen, ist davon auszugehen, dass sie (und ihre Angehörigen) auch von einem Informationsdefizit betroffen sind. Wenn von geflüchteten Jugendlichen daher häufig auch akademisch orientierte Berufe als Wünsche genannt werden, liegt es zudem daran, dass es
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in den Herkunftsländern kaum Möglichkeiten gibt, formale Bildungszertifikate unterhalb der Hochschulebene zu erreichen, da ein institutionalisiertes Berufsbildungssystem wie in Deutschland in den Herkunftsländern nicht existiert (vgl. Granato 2018, S. 141; Brenzel und Kosyakova 2017, S. 21).
3 Empirische Befunde: Die Bildungs- und Berufsorientierungen geflüchteter Jugendlicher Im Nachfolgenden soll der Blick auf die empirischen Befunde der qualitativen Studie gelenkt werden, um vor dem Hintergrund der theoretischen Konzepte des Zuwandereroptimismus und des Informationsdefizits herauszustellen, welche Bildungsorientierungen bei den befragten Jugendlichen zugrunde liegen und welchen Einflussfaktoren die Jugendlichen bei ihren beruflichen Orientierungsaktivitäten am Übergang Schule – Beruf ausgesetzt sind.
3.1 Realisierung von Berufsvorstellungen? – Die begrenzten (Aus-)Bildungsoptionen Aktuelle Studien verweisen darauf, dass die meisten Geflüchteten Berufsvorstellungen oder konkrete Berufswünsche haben, die ihnen durch ihr alltägliches Leben oder durch ihr Herkunftssystem bekannt sind (vgl. Calmbach und Edwards 2019, S. 33; Wehking 2020, S. 352). Zudem fallen die Berufswünsche geschlechtsspezifisch aus. Bei den jungen Frauen überwiegen soziale und medizinische Berufe sowie Berufe im Dienstleistungssektor. Bei den jungen Männern hingegen Berufswünsche, die im dualen System realisierbar sind, wie der Kfz-Mechatroniker (vgl. Calmbach und Edwards 2019, S. 33). Entgegen der in Kap. 2 dargestellten Perspektive der pädagogischen Fachkräfte sind die Berufsvorstellungen und Berufswünsche geflüchteter Jugendlicher somit keinesfalls nur unrealistisch. Doch auch wenn realistische Berufswünsche und -vorstellungen vorhanden sind, sind diese für die Jugendlichen im neuen Ankunftskontext oftmals nicht umsetzbar, denn jungen Geflüchteten stehen zahlreiche Hürden und Restriktionen am Übergang in den Beruf gegenüber. Diese wahrgenommenen Restriktionen benennen die Jugendlichen in den qualitativen Interviews und zeigen sich vorrangig in ihren (noch) nicht vorhandenen Ressourcen. Dabei können die Ressourcen, die hier analysiert wurden (formale Schul- und Berufsabschlüsse, formale Sprachzertifikate) im Sinne Bourdieus als kulturelles Kapital in der institutionalisierten Form angesammelter Bildungszertifikate verstanden
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werden (vgl. Lang et al. 2016, S. 33; Bourdieu 2015, S. 53 f.). Demnach fehlen den Jugendlichen oftmals formale Qualifikationen in Form von Schulabschlüssen sowie deutsche Sprachkompetenzen und -zertifikate, die von den Betrieben jedoch als Zugangsvoraussetzungen für eine Berufsausbildung definiert werden. Emal: „[…] ‚du hast keinen Schulabschluss, du kannst nicht bei uns Ausbildung machen.’ Ich muss eigentlich einen Hauptschulabschluss haben.“ (Z. 134–135) Amin: „Ja, Sprachlevel und ich muss zur Ausbildung B2 haben.“ (Z. 352–354) Leyla: „Also jetzt ich habe mit meine Lehrerin gesprochen, Klassenlehrerin, sie hat gesagt, ich mach/ ich bekomme diese Jahre KEIN Zeugnis, wegen meine Sprache, weil Hauswirtschaft ein bisschen ist schwer und so (.) und da habe ich gesagt ‚ok’ dann mache ich einen Deutschkurs […]“ (Z. 86–93)
Es lässt sich jedoch gegenwärtig die Situation feststellen, dass den meisten Jugendlichen auch nicht die benötigte Zeit zur Verfügung gestellt wird, um diese Ressourcen (nachträglich) zu erwerben. Demnach ist ihnen die Zeit oftmals weder strukturell in zeitlich zu knapp bemessenen Berufsvorbereitungs- und Sprachfördermaßnahmen von i. d. R. ein- bis zwei-jähriger Dauer noch rechtlich durch oftmals prekäre Aufenthaltssituationen gegeben. Gerade für die Jugendlichen, die sich in unsicheren Aufenthaltssituationen befinden, steigt der Handlungsdruck schnell eine Berufsausbildung zu beginnen, um möglichst zeitnah eine sogenannte „Ausbildungsduldung“ (§ 60c AufenthG; auch „3 + 2 Regel“) zu erhalten. Demnach ist es vom Gesetzgeber vorgesehen, dass es Geflüchteten mit „negativer Bleibeperspektive“ unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Duldung zum Zwecke einer qualifizierten Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf zu bekommen. Die Ausbildungsduldung eröffnet Geflüchteten somit die Möglichkeit, für die Dauer des Ausbildungsverhältnisses (i. d. R. 3 Jahre) sowie zwei weitere Jahre bei anschließender Berufstätigkeit in Deutschland bleiben zu können (vgl. Degler und Liebig 2017, S. 9; Granato und Junggeburth 2017a, S. 422; Der Paritätische Gesamtverband 2018, S. 5). Vor allem die befragten Jugendlichen aus Afghanistan berichten wiederkehrend von ihren wahrgenommenen „schlechten Bleibeperspektiven“ und von ihrem eingeschränkten juridischen Kapital (vgl. z. B. Schroeder 2003, S. 261). Wie in den Zitaten der afghanischen Schüler Siar, Hamidullah und Emal deutlich wird, erhoffen sie sich durch die Absolvierung einer Berufsausbildung, möglichst schnell ihren Aufenthalt in Deutschland sichern zu können. Die Ausbildungsduldung wird damit zur erhofften „Sicherheit […] in Deutschland bleiben zu können“ (Hamidullah, Z. 152–153).
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Siar: „[…] Und diese [Ausbildung-] Vertrag ich brauch auch für nächste [BAMF-] Interview. Wenn ich Ausbildungsplatz in Deutschland dann darf ich hier bleiben“ (Z. 295–296; Hervorh. KW) Hamidullah: „[…] ich hab ein Negativbescheid bekommen, ich muss also ich wollte eigentlich schnell eine Ausbildungsstelle finden“ (Z. 283; Hervorh. KW) Emal: „Ich wollte eigentlich studieren, aber das passt nicht, wir müssen eigentlich eine Ausbildung machen. Deswegen können wir in Deutschland bleiben. Ich mache jetzt eine Ausbildung. Egal was (..) und danach will ich aber weiter machen“ (Z. 55–58)
Obgleich die Jugendlichen andere Bildungsorientierungen aufweisen, was hier exemplarisch am Zitat von Emal ganz deutlich wird, führt der ausgeprägte Zeitund Handlungsdruck zu der Situation, dass Jugendliche am beruflichen Übergang oftmals eine Berufswahlstrategie der nächstliegenden, situativen und schnellen Berufsfindung vollziehen. Gegenwärtig kann daher kaum von einer tatsächlichen Berufswahl gesprochen werden. Vielmehr vollziehen sich bei einer Vielzahl der Jugendlichen die Übergänge nach pragmatischen Gesichtspunkten, sodass kaum Neigungen, Interessen, Wünsche und Vorstellungen im Beruf realisiert werden. Gerade für den Übergang geflüchteter Jugendlicher in unsicheren Aufenthaltssituationen zeigt sich, dass „[…] die Anschlussmöglichkeiten teilweise stärker durch ausländerrechtliche Regelungen als durch den individuellen Bedarf der Jugendlichen beeinflusst werden […]“ (Ruth und Stöbe-Blossey 2019, S. 103).
Diese rechtlichen Restriktionen, unter denen sich viele Geflüchtete in unsicheren Aufenthaltssituationen befinden, stellen aus pädagogischer Perspektive ein großes Problem dar, schließlich werden zahlreiche Maßnahmen damit konterkariert und stellen den Erfolg der Berufsorientierung partiell infrage (vgl. ebd.). Schließlich gewinnt man in der Berufsfindung junger Geflüchteter nicht selten den Eindruck, dass sie froh sind, überhaupt eine Lehrstelle gefunden zu haben, wie der befragte Emal deutlich macht: „Ich mache jetzt eine Ausbildung. Egal was […]“ (Emal, Z. 55–58; Hervorh. KW).
3.2 Hauptsache eine Lehrstelle? – Die begrenzten (Aus-)Bildungswege Geflüchteter Da vielen Jugendlichen kaum Zeit zur Entscheidungsfindung bleibt, konnte in der qualitativen Untersuchung festgestellt werden, dass die Berufsfindung
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junger Geflüchteter oftmals eher durch Zufälle und den sich ihnen bietenden Gelegenheitsstrukturen geprägt ist. Dadurch dass in vielen Bildungsgängen und berufsvorbereitenden Maßnahmen Praktika vorgesehen sind, die die Jugendlichen in ihrer Berufsorientierung unterstützen sollen, lässt sich feststellen, dass die Jugendlichen sehr pragmatisch vorgehen und sich oftmals nächstliegend und situativ aus ihrem letzten Praktikum heraus für eine Berufsausbildung entscheiden. Somit sind deutliche Klebeeffekte (vgl. z. B. Gaupp et al. 2008, S. 15) zum letzten Praktikumsbetrieb feststellbar. Genau dieses pragmatische und nächstliegende Vorgehen in der Berufsfindung wird an dem folgenden Beispiel des afghanischen Schülers Siar deutlich. Er bringt aus Afghanistan den ausgeprägten Wunsch mit, Erzieher werden zu wollen. Da er jedoch einen ungesicherten Aufenthaltsstatus hat, entscheidet er sich situativ und nächstliegend für den Beruf des Kochs, in dem er in seinem kürzlich absolvierten Praktikumsbetrieb die Möglichkeit erhält, eine Ausbildung zu beginnen. Interviewerin: und wie kommst du jetzt auf Koch? Siar: mhm ich habe zwei Wochen Praktikum gemacht letzte Monat (…) [I: mhm] ja und dann war gut ja (..) und ich will jetz:t Koch werden und (…) und dann kann ich im Kindergarten […] auch kochen (Z. 142–156)
Bei dem Fall von Siar wird nicht nur deutlich, wie er sich durch die Absolvierung einer dualen Berufsausbildung erhofft, den Aufenthalt in Deutschland durch die sogenannte Ausbildungsduldung sichern zu können. Vielmehr wird auch die pragmatische Berufsfindungsstrategie deutlich, bei der aus dem letzten Praktikum heraus, der Zugang zu einer betrieblichen Ausbildung vollzogen wird. Diese Strategie der nächstliegenden, situativen Berufswahl aus dem letzten Praktikumsbetrieb zeigt sich bei vielen Jugendlichen mit einer Fluchterfahrung (vgl. Wehking 2020, S. 376 ff.), womit der persönliche Kontakt mit potenziellen Ausbildungsbetrieben eine entscheidende Rolle bei der Berufsorientierung einnimmt und damit eine Gelingensbedingung für den Übergang in den Beruf darstellen kann. Allerdings hat bereits Mey (2015) für Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Schweiz die ambivalente Rolle von Praktika betont. So bieten Praktika zwar einerseits die Chance, sich in einem Beruf oder Betrieb praktisch auszuprobieren und praktische Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und damit einen Zugang zum Ausbildungsmarkt zu erhalten. Andererseits funktionieren die Praktika häufig auch „als eine Art Trichter, der die Jugendlichen in jene Lehrstellen leitet, die als tendenziell unbeliebte Berufe noch nicht besetzt werden konnten“ (ebd., S. 252). So kann auch die vorliegende Studie nicht nur aufzeigen, dass Berufe aus dem letzten Praktikum nächstliegend gewählt werden,
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sondern dass es sich hierbei auch tendenziell um solche Berufe handelt, die einer geringeren Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt unterliegen (z. B. Koch, Pflegeberufe, handwerkliche Berufe, z. B. Tischler). Was bei dem o. g. Zitat von Siar ebenfalls deutlich wird, beginnt er zwar jetzt die Ausbildung als Koch, erhofft sich aber zumindest in der Nähe seines Traumberufs Erzieher, also im Kindergarten, kochen zu können. Was wiederkehrend in den Gesprächen mit den Jugendlichen deutlich wird, ist ihre ausgeprägte Kompromiss- und Anpassungsbereitschaft. So wird ihnen diese Anpassungsbereitschaft jedoch auch abverlangt, da die Ausbildungs- und Bildungswege in Deutschland de jure und de facto begrenzt sind. So ist de jure per Ausbildungsduldung eben gar nicht vorgesehen, dass Geflüchtete einen anderen Weg als den einer qualifizierten Berufsausbildung einschlagen können. Sie können somit nicht die Weiterführung der Schule und damit den Abschluss von (weiteren) Schulabschlüssen oder ein Studium verfolgen. Wenn dann noch hinzukommt, dass Jugendliche noch keine formalen Bildungs- und Sprachzertifikate mitbringen, ist ihnen auch de facto der Zugang zu vielen betrieblichen Ausbildungsplätzen versperrt, sodass die Jugendlichen nicht selten – wie das folgende Zitat von Samira verdeutlicht – in Berufe verwiesen werden, in denen eben noch Platz ist. Samira: „[…] also gab es eine von Agentur für Arbeit die Frau hat mir das gesagt […] ja sie also sie suchen überall wenn wir kein Plan haben mehr dann sie sagen gibt es hier ein freie Platz und […] uns gefragt, was wir wollen. Ich hab Journalistin geschrieben und so und alle Leute verschiedene Sachen, aber eigentlich gibt es nicht, was man will immer und (.) ja deshalb (.) äh wir haben andere Sachen en-entschieden“ (Z. 244–256; Hervorh. KW)
In der Analyse wird deutlich, dass Berufsoptionen beispielsweise durch die Lehrkräfte der Jugendlichen oder, wie im Zitat deutlich wird, durch Berufsberaterinnen und Berufsberater der Agentur für Arbeit vorgegeben und nicht selten per se limitiert werden. Allerdings wird aus den analysierten Gesprächen mit den Jugendlichen deutlich, dass Berufs- und Bildungswege primär von dem privaten Umfeld bestimmt und beeinflusst werden. Auf dieses Teilergebnis soll im nachfolgenden Kapitel eingegangen werden.
3.3 Auf sich allein gestellt? – Die Rolle der deutschen Mehrheitsgesellschaft in der Berufsorientierung Aus der Berufsbildungsforschung ist bekannt, dass vor allem die Eltern und Familie die wichtigsten Beratungsinstanzen junger Menschen bei Fragen zur
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Berufswahl sind (vgl. z. B. Beinke 2002, S. 191 ff.; Prager und Wieland 2005, S. 9; Petersen et al. 2015, S. 34). Demnach gaben in der McDonalds Ausbildungsstudie 86 % der befragten Jugendlichen an, ihre Eltern seien die wichtigste Informationsquelle für Berufswahlfragen (vgl. Hurrelmann et al. 2017, S. 67). Viele geflüchtete Jugendliche sind jedoch allein in Deutschland oder wenn sie in Begleitung sind, besitzen ihre Familienangehörigen oftmals noch keine Informationen zum neuen System. Wie theoretisch mit dem Informationsdefizit (vgl. Abschn. 2) beschrieben wird, haben es neu zugewanderte junge Menschen daher häufig schwer, sich in einem neuen Bildungssystem oder Arbeitsmarkt zurechtzufinden. In der vorliegenden Analyse wurde deutlich, dass aus diesem Grunde Akteurinnen und Akteure der deutsche Mehrheitsgesellschaft als wissensmächtige Wegweisende (in Anlehnung an Mahl et al. 2014, S. 8) in Bildungs- und Ausbildungsfragen eine besondere Rolle bei den Jugendlichen einnehmen. So betonen die befragten Jugendlichen wiederkehrend, dass es die deutsche Pflegefamilie des Cousins, der deutsche Vermieter, die deutschen Freunde, die deutsche Nachhilfelehrerinnen usw. waren, die ihnen als zentrale Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Informations- und Orientierungsgewinnung im Rahmen der Berufsorientierung in einem für die Jugendlichen weitestgehend unbekannten und neuen System dienten. Abbas: „[…] mein Cousin, er wohnt bei äh bei deutsche Familie (.) und war ich kann nicht ich weiß nicht wie das läuft hier in Deutschland die Schule oder der Beruf und so was und sie haben immer mir erzählen zum Beispiel was kann man machen [I: mhm] also kannst du äh zuerst zum Beispiel Hauptschulabschluss machen und du kannst auch Realschulabschluss danach machen oder Gymnasium wenn du hast bessere Noten gute Noten oder du kannst Ausbildung machen [I: mhm] so das dauert drei Jahre ungefähr [I: mhm] danach nach dem äh Ausbildung du kannst auch weiter lernen oder studieren wenn willst oder du kannst Meister werden […]“ (Z. 371–392; Hervorh. KW)
Den Akteurinnen und Akteuren der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird allein aufgrund ihres von den Jugendlichen zugeschriebenen Mitgliedschaftsstatus zur deutschen Gesellschaft Kompetenz und Wissen über das hiesige (Berufs-) Bildungssystem und mögliche berufliche Perspektiven zugesprochen (vgl. Wehking 2020, S. 365). Einerseits stellen diese wissensmächtigen Wegweisenden des sozialen Umfeldes der Jugendlichen eine wichtige Gelingensbedingung für den Übergang dar, da sie die Jugendlichen mit ihrem eigenen sozialen Kapital (vgl. Bourdieu 2015, S. 63) auch dabei unterstützen, kurzfristig und niederschwellig Zugänge zu Betrieben und beruflichen Positionen z. B. Praktika oder Ausbildungsplätze zu erhalten.
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Abbas: „[…] ich wohne bei auch eine deutsche Vermieter […] und äh ich frag ihn und er fragt die Leute zum Beispiel letzte Mal war ich hab mit ihm äh gefahren ich bin mit ihm gefahren zum Kfz hier in und wir haben gefragt, dass ich Aus-äh Praktikum machen kann hier (...) und ja sie haben gesagt ‚ja’“ (Z. 214–217 und 433–438; Hervorh. KW) Amin: „[…] Ich wohne mit meine Familie und deshalb kommen viele deutsche Familien auch zu uns und uns besucht und ja ich habe/zwei Familien hat uns viel geholfen […] Und sie hat uns/sie wohnt in eine Haus und die Vermieter, auch er arbeitet als Elektriker in Handwerkskammer und sie hat mich gefunden diese Firma für Ausbildung, äh, für Praktikum machen in Sommerferien“ (Z. 309–316; Hervorh. KW)
Andererseits kann auch konstatiert werden, dass von den privaten Wegweisenden oftmals unzureichende, irreführende oder sogar falsche Informationen an die Jugendlichen gegeben werden (vgl. auch Calmbach und Edwards 2019, S. 66 f.). Schließlich, so konnte in Abschn. 2 aufgezeigt werden, ist das hoch stratifizierte und sehr komplexe (Berufs-)Bildungssystem auch für die einheimischen Beobachterinnen und Beobachter oftmals nicht verständlich. Hinzu kommt, dass Jugendliche oftmals von dem sozialen Umfeld für bestimmte Berufsoptionen entmutigt werden, beispielsweise wenn ihnen aufgezeigt wird, dass ihre deutschen Sprachkenntnisse für einige Berufe vermeintlich noch nicht ausreichend seien oder formale Zertifikate und Schulabschlüsse für einige Berufswünsche benötigt werden. So übernehmen die Jugendlichen über die wissensmächtigen Wegweisenden ihres privaten Umfeldes auch einen gesellschaftlichen Diskurs über Bildungs- und Berufsoptionen, die gegenwärtig am Übergang in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt beruflich auch (noch) nicht umsetzbar sind (vgl. Wehking 2020, S. 363 ff.). Die von den Jugendlichen wahrgenommenen Einschränkungen werden in den Gesprächen sprachlich über direkte oder indirekte Zitate wiedergegeben und manifestieren sich in den wiederkehrenden Aussagen von „die haben gesagt“, „wir müssen“ oder „das geht nicht“. Emal: „[…] aber der große Chef sagt ‚nein, ohne Abschluss geht nicht’.“ (Z. 138–139) Emal: „[…] aber die haben gesagt ‚ne, geht das nicht’.“ (Z. 141–142). Siar: „[…] aber ich wollte auf jeden Fall machen aber leider das (...) geht nicht.“ (Z. 78–78) Leyla: „[…] dann sie haben gesagt ‚BBS auch geht nicht’. Ich weiß nicht warum.“ (Z. 182–183)
Die subjektiven Gestaltungsspielräume für die beruflichen Handlungsentwürfe der geflüchteten Jugendlichen sind folglich durch äußere Strukturen und Vorgaben gegenwärtig begrenzt und werden von den Institutionen und
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Akteurinnen und Akteuren der Mehrheitsgesellschaft determiniert (vgl. Wehking 2020, S. 363 ff.). Trotz eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten ist es jedoch bemerkenswert, „dass keiner der befragten Jugendlichen in Resignation oder Fatalismus verfällt. Vielmehr konnte eine ausgesprochen ausgeprägte Zukunftsorientierung rekonstruiert werden, aus der sich die Motivation zum Weitermachen speist und mit der die Hoffnung verbunden ist, in Zukunft selbstbestimmt agieren zu können.“ (ebd., S. 404).
3.4 Motivation zum Weitermachen? Zukunftsorientierung als kollektive Handlungsstrategie In der Analyse der Daten wurde deutlich, dass die Jugendlichen nicht nur die Restriktionen und Bedingungen der beruflichen Teilhabe in Deutschland über die Akteurinnen und Akteure ihres privaten und institutionellen Kontextes vermittelt bekommen, sondern dass sie auch die Vorteile der Berufsausbildung von ihrem sozialen Umfeld erfahren. Emal: „Die [Betreuerinnen und Betreuer der Wohngruppe] haben gesagt ‚du kannst erst normale Ausbildung machen’, ‚in/bei Ausbildung kannst du auch viele Deutsch lernen, dann für die Studieren ist gut’. Ich habe gesagt ‚ok’.“ (Z. 73–76)
Die Vorstellung, die hier im Zitat von Emal deutlich wird, verweist auf ein lineares Integrationsverständnis (erst, dann, dann), das wiederum auf eine Normalitätserwartung verweist, also einer Vorstellung, wie es in Deutschland normalerweise zu laufen hat (vgl. Wehking 2020, S. 367). Den Jugendlichen wird durch das Absolvieren einer Berufsausbildung nahegelegt, zunächst die deutsche Sprache zu lernen, dabei Schulabschlüsse zu erwerben und sich anschließend selbst zu verwirklichen (bspw. durch ein Studium). Somit strukturieren die Akteurinnen und Akteure im sozialen Umfeld der Jugendlichen nicht nur die Berufsfindung mit (s. o.), sondern über sie verinnerlichen die Jugendlichen auch die „Funktionalität von Ausbildung“. Es konnte rekonstruiert werden, dass die Jugendlichen am beruflichen Übergang zwar pragmatisch vorgehen, aber zeitgleich den funktionellen Charakter, den die Absolvierung der Berufsausbildung mit sich bringt, nutzen wollen. Das heißt, die Jugendlichen wollen mithilfe der Ausbildung den Aufenthalt in Deutschland sichern, sich auf ihren eigentlichen Wunschberuf vorbereiten, eine verlängerte Berufsorientierung in einem komplexen Berufs- und Bildungssystem
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wahrnehmen oder die Ausbildung als Chance zur Fortsetzung einer langen Bildungsunterbrechung nutzen (vgl. ausführlich Wehking 2020, S. 372 ff.). Zugleich können die Jugendlichen in der Berufsausbildung die deutsche Sprache weiter lernen und deutsche Sprachzertifikate erwerben, Schulabschlüsse nachholen und/oder erste Berufsabschlüsse erhalten, die sie als Zugangsvoraussetzungen für weitere Anschlussoptionen benötigen. Die Funktionalität von Ausbildung wird damit zu einer kollektiven Handlungsstrategie zur Herstellung von Passung zum Ankunftskontext (vgl. ebd., S. 372). Siar: „[…] ich mach jetzt vielleicht (..) Koch als Koch als Ausbildung weil mein Berufwunsch ist Erzieher mh immer noch (..) vielleicht mach ich später noch die Ausbildung [...]“ (Z.232–235; Hervorh. KW) Hamidullah: „ich mach gerade Pflegeassistenz ich gucke mal danach also ich eigentlich wollte IT machen und […] danach kann ich also IT machen ja.“ (Z. 87–93; Hervorh. KW) Hussein: „JETZT ich mach das, aber nach dem Ausbildung vielleicht meine Eltern kommen oder (.) ich lerne weiter und ich gehe zu Universität und ich mach was anderes.“ (Z. 209–213; Hervorh. KW)
Wie in den ausgewählten Zitaten deutlich wird, arrangieren sich die Jugendlichen mit der gegenwärtigen Situation beschränkter Optionen am beruflichen Übergang. Wie jedoch auch deutlich wird, erhoffen sich die Jugendlichen nach der Ausbildung, weiterzumachen und ihre eigentlichen Berufswünsche oder andere Bildungsorientierungen (z. B. Studium) umzusetzen. Die Jugendlichen nutzen nicht einfach den funktionellen Charakter der Ausbildung, sondern über die Absolvierung der Ausbildung speist sich auch gewissermaßen eine Motivation zum Weitermachen mit der Perspektive, die Zukunft selbstbestimmt und autonom gestalten zu können. Obgleich sich der ‚Zuwandereroptimismus‘, wie in Kap. 2 beschrieben, sich gegenwärtig aufgrund der heteronomen Einflüsse und rechtlichen Restriktionen kaum entfalten kann, wird in den Aussagen der Jugendlichen auch ihre ausgeprägte Bildungsaspiration und Bildungsmotivation sowie hohe Aufstiegsorientierung deutlich.
4 Diskussion und Ausblick: Auswirkungen einer fremdbestimmten Berufswahl Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass gegenwärtig bei geflüchteten Jugendlichen in Berufsvorbereitungsklassen eher von einem Berufspragmatismus als von einer tatsächlichen Berufswahl gesprochen werden kann.
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Schließlich befinden sie sich in einer stark fremdbestimmten Berufsfindung, da ihre Berufsoptionen de jure und de facto stark begrenzt sind. Die Jugendlichen haben ausgeprägte Berufswünsche oder Bildungsvorstellungen, die sich auch in ihrem ausgeprägten Zuwandereroptimismus zeigen. Allerdings sind diese subjektiven Bildungsorientierungen aufgrund ihrer rechtlichen Lage oder betrieblicher Zugangsvoraussetzungen oftmals nicht umsetzbar, sodass sie gesellschaftlich begrenzten Berufsoptionen entgegenstehen. Aus der Berufsbildungsforschung ist bekannt, dass die Realisierung von Berufswünschen, Vorstellungen oder zumindest berufswunschnaher Alternativen jedoch wichtig ist für den Ausbildungserfolg. Wenn die Jugendlichen, wie die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen, unter Zeit- und Handlungsdruck die nächstliegende – wenn nicht gar zu sagen irgendeine – Berufsausbildung wählen, laufen sie Gefahr, die „Zone akzeptabler Berufsalternativen“ (Ratschinski 2009, S. 60) zu verlassen. Dies könnte nicht nur zu Ausbildungsabbrüchen führen, sondern auch zu psychischen Belastungen einer ohnehin oftmals bereits traumatisierten Personengruppe, wie das Zitat von Hussein verdeutlicht: Hussein: „[…] Müllwerker ich habe gearbeitet drei Wochen Müllwerker (.) das war ganz, weiß ich nicht, was war das? Weil ich bin Hussein, was ist das? Warum mach ich das?“ (Z. 369–374; Hervorh. KW)
Bisher ist in der Forschung noch nichts darüber bekannt, welche Auswirkungen eine solch stark fremdbestimmten Berufswahl auf potenzielle Ausbildungsabbrüche von geflüchteten Jugendlichen haben kann. Es ist ferner kaum etwas darüber bekannt, wie sich das rechtliche Konstrukt der Ausbildungsduldung auf den Ausbildungsverlauf auswirkt. So wird vor dem hohen psychischen sowie Leistungsdruck gewarnt (vgl. z. B. Böhme 2018, S. 64; DGB 2019, 33), der durch eine solche Aufenthaltsperspektive, die allein an die Absolvierung einer Ausbildung gekoppelt wird, entsteht. Da die Jugendlichen unter dem starken Zeitund Handlungsdruck oftmals nächstliegend, situativ und schnell eine Ausbildung wählen und oftmals nicht den subjektiven Bildungsorientierungen, Interessen, Wünschen, Vorstellungen entsprechend, ist davon auszugehen, dass es zu Neujustierungen, Abbrüchen, Revidierungen von Berufsausbildungen kommt. Daher ist es wichtig, dass den Jugendlichen auch nach dem Übergang in eine Berufsausbildung verlässliche und vor allem professionelle Betreuung und Beratung niederschwellig zur Verfügung steht, beispielsweise im Hinblick auf potenziell entstehende rechtliche Unsicherheiten der Jugendlichen, was durch das private Netzwerk der Jugendlichen i. d. R. nicht geleistet werden kann. Ferner sollte auch darüber nachgedacht werden, was eigentlich ein erfolgreicher Übergang in den
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Beruf bedeutet. So gewinnt man oftmals den Eindruck, dass ein erfolgreicher Übergang für viele beteiligte Personen im Berufsorientierungsprozess bedeutet, dass die Jugendlichen „Hauptsache in irgendeiner Lehrstelle“ untergebracht sind und das stellt keine zufriedenstellende Perspektive für nachhaltige und erfolgreiche Bildungs- und Berufsverläufe für junge Geflüchtete dar.
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Bildungsorientierungen und Milieuzugehörigkeiten von Studierenden Janika Grunau
Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich der Frage nach der „Illusion von Chancengleichheit“ in der akademischen Bildung der Gegenwart. Ausgehend von der Perspektive der Studierenden, von ihren biographischen und milieuspezifischen Erfahrungen, werden Bildungsorientierungen rekonstruiert und typisiert. Als empirische Basis fungieren narrativ-fundierte Interviews, die anhand der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Durch minimale und maximale Kontrastierungen ließen sich vier Typen abstrahieren, die sich in ihren handlungsleitenden Orientierungen und habituellen Praktiken voneinander unterscheiden und die sich in der Landkarte der sozialen Milieus in Deutschland verorten lassen: Ein aufstiegsorientierter Typus, ein pragmatischer Typus, ein bildungsetablierter Typus und ein intellektualisierter Typus. Abschließend werden Konsequenzen für die hochschulische Praxis aufgezeigt und zur Diskussion gestellt.
1 Zur Illusion von Chancengleichheit in der hochschulischen Bildung In den 1970er Jahren veröffentlichten Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron ihr Werk zur „Illusion von Chancengleichheit“, in welchem, verkürzt dargestellt, folgende Thesen aufgeworfen werden: Das Bildungssystem, insbesondere J. Grunau (*) Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_10
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das höhere, trage wesentlich dazu bei, Chancenungleichheit aufgrund sozialer Selektionsmechanismen zu reproduzieren. Gedeckt würden die Mechanismen durch das scheinbar vorhandene Prinzip der Leistungsgesellschaft, sprich: die Vorstellung, dass Chancen aufgrund von erbrachter Leistung entstünden (vgl. Bourdieu und Passeron 1971). Auch wenn seit Veröffentlichung dieses Werkes inzwischen fast 50 Jahre vergangen sind, so sind die grundlegenden Gedanken auch heute noch hochaktuell, wie sich am Beispiel der hochschulischen Bildung in Deutschland zeigt. Angesichts der Tatsache, dass die Gesamtzahl der Studierenden seit Jahrzehnten stetig anwächst (vgl. Destatis 2018, S. 11) und Hochschulen aufgrund von Reformprozessen dazu angehalten sind, sich stärker für nichttraditionelle Zielgruppen zu öffnen (vgl. z. B. Buß et al. 2018), läge die Vermutung nahe, dass die Anzahl an Studierenden aus nichtakademischen Milieus in der Tendenz zunimmt. Betrachtet man jedoch die Zusammensetzung der Studierendenschaft im Jahresvergleich, so lässt sich feststellen, dass die Quote von Studierenden aus nichtakademischen Familien seit 2006 stagniert (vgl. Middendorff et al. 2017, S. 27 f.). Chancengleichheit in der hochschulischen Bildung scheint gegenwärtig also, trotz intensiver Bemühungen, mehr Illusion als Realität in unserer Gesellschaft zu sein. Diese These wird zusätzlich von Untersuchungen gestützt, die das Erleben des Studiums aus Studierendensicht thematisieren. So konnte z. B. festgestellt werden, dass das Studium von Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern insgesamt als größere Herausforderung wahrgenommen wird als von Studierenden, bei denen mindestens ein Elternteil studiert hat. Konkret bezieht sich diese Problemwahrnehmung auf die Studienorganisation und das soziale Gefüge an den Hochschulen, z. B. die als stärker empfundene Konkurrenz unter Studierenden und die ausgeprägte Distanz zu Lehrenden (vgl. Bargel und Bargel 2010, S. 20 f.). In der Konsequenz werden Studienabbrüche wahrscheinlicher. Für den Übergang vom Bachelor- in den Masterstudiengang bedeutet dies beispielsweise, dass „Studierende niedrigerer Schichten […] eher von einer Bildungsentscheidung für den Master abgehalten [werden], zum einen durch die objektiv bestehenden Auswahlmechanismen, die an sich schon sozial selektiv sein können, und zum anderen durch die ‚habituell bedingte Eliminierung‘ der Studierenden selber“ (Falkenhagen 2013, S. 81). Eine genauere Auseinandersetzung mit den biographischen Voraussetzungen der Studierenden, mit ihren habituell bedingten Praktiken und handlungsleitenden Orientierungen, scheint unerlässlich, um zu verstehen und zu kontextualisieren.
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In diesem Beitrag werden daher Bildungsentscheidungen, Bildungsverhalten und Milieuzugehörigkeiten von Studierenden einer Betrachtung unterzogen. Zwei theoretisch-konzeptionelle Zugänge werden hierzu zusammengeführt: Habitus und Milieuzugehörigkeit (→ 2). Kern des Beitrags bildet eine sinn- und soziogenetische Typisierung von Studierenden auf Basis von narrativ-fundierten Interviews (→ 3). Anschließend werden die theoretischen Bezugspunkte und die Empirie in Form einer Verortung von Studierendentypen in einer Milieustruktur verknüpft (→ 4), bevor Konsequenzen für die Forschung und die hochschulische Praxis aufgezeigt werden (→ 5).
2 Bezugskonzepte: Habitus und Milieu Ausgehend von der habituellen Bedingtheit von Chancen auf ein und im Hochschulstudium gilt es zunächst, sich dem Habitusbegriff anzunähern. Dieser wurde maßgeblich durch die Arbeiten Pierre Bourdieus geprägt. Bourdieu rekurriert auf den Begriff der „hexis“, der von Aristoteles verwendet wurde, um Dispositionen und Haltungen zu umschreiben (vgl. Bourdieu 1987 [1979], S. 283). Diese sind von langfristiger Dauer, nicht leicht veränderbar und unterscheiden sich auf diese Weise von kurzzeitigen Gemütszuständen. Bourdieu betont in seinen Ausführungen die physische Seite des Habitus: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1993 [1980], S. 135). Der Habitus stellt folglich ein „psychosomatisches Gedächtnis“ dar (Rehbein 2011, S. 90). Er entsteht im Laufe des Lebens durch den Einfluss sozialer Strukturen, die Bourdieu als Klassengefüge umschreibt (vgl. ebd., S. 87; Krais und Gebauer 2013, S. 31 ff.). Neben der inkorporierten Form des Habitus, welche das menschliche Erscheinungsbild und die Denk- und Verhaltensweisen prägt, findet sich bei Bourdieu eine zweite, sozial konstituierte Form des Habitus, und zwar eine institutionelle: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure“ (Bourdieu und Wacquant 1987, S. 161). Die soziale Wirklichkeit ist für Bourdieu ein Raum von Ungleichheit bzw. von „feinen Unterschieden“ (Bourdieu 1987 [1979]). Es stellt sich folglich – auch für die hiesige Untersuchung – die Frage nach der Passfähigkeit von inkorporiertem und institutionellem Habitus.
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In der empirisch fundierten Weiterentwicklung des Habituskonzepts wird unter Bezugnahme auf den Milieubegriff1 von einer „Pluralität der Habitusund Milieuformen“ ausgegangen (Bremer und Lange-Vester 2014, S. 61). Auf einer Milieulandkarte, auf die an späterer Stelle in diesem Beitrag noch Bezug genommen wird (s. Abschn. 4, Abb. 1), werden Milieuzugehörigkeiten durch die Handlungsstrategien der jeweiligen Handlungstypen abgebildet (vgl. Vester 2002, S. 70 f., Bremer und Lange-Vester 2014, S. 61). Diese Landkarte bildet die fünf Traditionslinien der deutschen Gesellschaft ab, die sich über strukturelle Merkmale der sozialen Situation, über die Berufe und die Lebensführung sowie über den Habitus definieren. Ebenfalls als milieuspezifisch werden die bildungsbezogenen Wissensbestände und Handlungspraktiken als „mehr oder minder bewusste[.] Lebenspläne der Akteure“ identifiziert (Bremer und Lange-Vester 2014, S. 63; vgl. Vester et al. 2007, S. 36 ff.).
3 Typisierung von Bildungsorientierungen bei Studierenden Die Dokumentarische Methode zielt auf die Rekonstruktion milieuspezifischer Tradition im Sinne von Normalitätszuschreibungen. Die Rekonstruktion erfolgt auf der Basis konjunktiver Erfahrungsräume mittels Abgrenzung zu empirischen Gegenhorizonten in fallübergreifenden Vergleichen (vgl. Bohnsack 2003, S. 563 f.). Was sind handlungsleitende Bildungsorientierungen von Studierenden? Wie lassen sich diese bildungsbiographisch herleiten und habituell begründen? Diese Fragen standen in einer qualitativen Studie im Mittelpunkt, die den Fokus im Speziellen auf fortgeschrittene Studierende mit abgeschlossener
1Das
Verständnis des Milieubegriffs weist nach grundlagentheoretischer Perspektive Unterschiede auf: Hradil (vgl. 2005, S. 44 ff.) versteht ein soziales Milieu beispielsweise als eine Gruppierung von Menschen mit vergleichbaren sachlichen Bezugsrahmen, z. B. mit einer ähnlichen regionalen Zugehörigkeit oder mit demselben beruflichen, sozialen oder finanziellen Status. Darüber hinaus ähneln sich die Prinzipien der Lebensgestaltung bei den Milieuzugehörigen, so z. B. auch die grundlegenden Bildungsorientierungen. Im Rahmen der praxeologischen Wissenssoziologie wird der Begriff des Milieus als Strukturzusammenhang in Lebensgeschichten verstanden. Durch identische strukturelle Erfahrungen entstehen konjunktive Wissensbestände, die ein implizites wechselseitiges Verständnis erzeugen (vgl. Bohnsack 2014, S. 16 ff.).
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erufsausbildung richtete (vgl. Grunau 20172). Basierend auf fünfzehn narrativB fundierten Interviews wurden anhand der Dokumentarischen Methode implizite Wissensbestände und habituell bedingte Handlungspraktiken rekonstruiert. Die fünfzehn Fälle ließen sich zu vier Typen verdichten, deren Orientierungsrahmen sich grundlegend voneinander abgrenzen lassen. Im Folgenden werden a) der aufstiegsorientierte Typus, b) der pragmatische Typus, c) der bildungsetablierte Typus und d) der intellektualisierte Typus portraitiert. Zu Illustrationszwecken werden jeweils zunächst Eingangspassagen aus ausgewählten Interviews zitiert3, die charakteristisch für den Typus sind. Es folgen jeweils Typbeschreibungen anhand von zentralen Merkmalen und Charakteristika, die durch ein komparatives Vorgehen im Rahmen der Dokumentarischen Methode sowie durch minimale und maximale Kontrastierungen entwickelt wurden. Unter Hinzunahme von Erkenntnissen aus vorherigen Typisierungsansätzen, so z. B. aus der Schülerhabitus- oder der Weiterbildungsforschung, werden Analogien und Spezifika herausgearbeitet und diskutiert.
3.1 Der aufstiegsorientierte Typus Der aufstiegsorientierte Typus verhandelt seine Bildungs- und Lernerfahrungen im Kontext der familiären und sozialen Herkunft, wie sich am Beispiel von Janas4 Antwort auf den ersten Erzählimpuls zeigt. Ja: also ähm ich habe ja auf ’m zweiten Bildungsweg mein Abitur nachgeholt [Y: Mmh1.] (1) und ich komme auch aus einer Arbeiterfamilie. (1) Also meine Eltern haben nicht studiert oder auch allgemein aus die ganzen Verwandten keiner hat studiert ich war so die Erste. (1) Und ähm ja habe mich dann halt entschlossen nach der Ausbildung (.) weiter zu gehen (.) weil ich mir nicht vorstellen konnte für immer (1) Arzthelferin zu sein. [Y: Mmh1] Und=äh habe dann auf dem zweiten Bildungsweg mein Abitur nachgeholt hier in [A-Stadt] u::nd ja. [...]
Für den aufstiegsorientierten Typus nehmen das formale Lernen und Leistungsnachweise einen hohen Stellenwert in der eigenen Bildungsgeschichte ein. Die 2Aus
dieser Studie sind die weiteren Ausführungen entnommen. handelt sich jeweils um die unmittelbaren Antworten auf den ersten Erzählimpuls, der wie folgt lautete: „Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte – auch was Bildung und Lernen betrifft. Bitte erzähle mir doch etwas über deine persönliche Bildungs- und Lerngeschichte.“ 4Bei den Namen der Studierenden handelt es sich um Pseudonyme. 3Es
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Teilnahme an höherer Bildung wird als Besonderheit empfunden und ermöglicht die mehr oder weniger bewusste Abgrenzung von der eigenen sozialen Herkunft. Um den Anforderungen in den schulischen Bildungseinrichtungen und im Studium gerecht zu werden und Anerkennung für die erzielten Bildungsleistungen zu erhalten, zeigt sich bei dem aufstiegsorientierten Typus eine deutliche Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft. Die berufliche Ausbildung stellt einen positiven Erfahrungsmoment auf dem Bildungsweg dar, der Verbleib in dem erlernten Beruf wird jedoch unter anderem aufgrund mangelnder Aufstiegsoptionen nicht als langfristige Perspektive erachtet. Die abgeschlossene Berufsausbildung fungiert als sichere Basis während des Studiums, in welchem sich, insbesondere in der Eingangsphase, Unsicherheiten, Selbstzweifel und Passungsprobleme offenbaren. Angedeutet wird zudem eine gewisse Hilflosigkeit, die aus fehlender Unterstützung durch Dritte resultiert. Im Studium erfüllen die gleichaltrigen Kommilitoninnen und Kommilitonen in dieser Hinsicht eine Kompensationsfunktion. Seitens der Eltern deutet sich eine geringe Unterstützung im Hinblick auf das Studium an, seitens der Studierenden selbst ein Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf des akademischen Werdegangs. Die Habitusformation wurde bei Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern rekonstruiert. Die Studierenden, die dem aufstiegsorientierten Typus zugeordnet werden konnten, haben gemeinsam, dass keine Geschwister oder Verwandten vorhanden sind, die vor ihnen einen akademischen Werdegang eingeschlagen haben. Sie sind die ersten Studierenden in der gesamten Familie, was – wie das Beispiel von Jana und ihre Selbstpositionierung in dem Beispielzitat zeigt – mit einem gewissen Stolz verbunden ist. Beim aufstiegsorientierten Typus lassen sich Parallelen zum „Habitus der ‚Strebenden‘“ identifizieren, der für Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich I rekonstruiert wurde (vgl. Helsper et al. 2010, S. 134 ff.). Für diese Habitusformation ist charakteristisch, dass angestrebt wird, noch eine nicht selbstverständliche Bildungsleistung zu erreichen. In dem hohen Stellenwert der formalen Bildung deutet sich bereits eine „transformatorische Linie des Aufstiegs“ an (ebd., S. 134). Insbesondere die Facetten der Untertypen des „moderaten Strebens“ sowie des „(leidvoll) auferlegten Strebens“ spiegeln sich auch in dem aufstiegsorientierten Typus bei den Studierenden wider, beispielsweise bei der eigenen Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft sowie bei der Anerkennungsfunktion von formalen Leistungsnachweisen und guten Noten. Zugleich zeigen sich aber auch vermeintliche Unterschiede im Hinblick auf die Bildungserwartungen der Eltern: Während die Schülerinnen und Schüler mit der von Helsper et al. (2010) rekonstruierten Habitusform des Strebens in der Regel aus sehr bildungsambitionierten und aufstiegsorientierten Familien stammen,
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scheint bei dem aufstiegsorientierten Typus familiär eine gewisse Skepsis gegenüber höherer Bildung zu bestehen und das Motiv von beruflicher und finanzieller Sicherheit zu überwiegen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass es sich bei den typisierten Fällen um Studierende und nicht um Schülerinnen und Schüler handelt, so lassen sich scheinbare Differenzen der elterlichen Bildungsambitionen vor dem Hintergrund eines ‚mehrfachen Aufstiegs‘ deuten: Mit dem Erwerb der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung hat sich beim aufstiegsorientierten Typus bereits ein generationenübergreifender Bildungsaufstieg vollzogen. Das Studium stellt einen nächsten Schritt im Aufstiegsprozess dar, der seitens der Eltern gegebenenfalls nicht mehr nachvollzogen werden kann und Unsicherheiten erzeugt. Die Kinder entfernen sich durch den Eintritt in das akademische Milieu noch weiter von ihrem Herkunftsmilieu und zugleich von ihren Eltern. Auf diese Weise treten Akzeptanzprobleme im familiären Umfeld auf (vgl. hierzu auch 2009, S. 279; Grundmann et al. 2007, S. 47). Die spezifische Sicht auf die eigene Bildungs- und Lerngeschichte lässt auf korrespondierende Verarbeitungsmodi des Aufstiegs sowie auf das Verhältnis zum Herkunftsmilieu schließen. Bei dem aufstiegsorientierten Typus zeigt sich hierbei eine reflexiv-oppositionelle Haltung gegenüber der eigenen Herkunft; dieser Verarbeitungsmodus wird für einheimische Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteiger aus sozial benachteiligten Milieus als „exklusive Distanznahme“ beschrieben (ElMafaalani 2012, S. 305). Sinnbildlich für die Exklusivität der Distanzierung ist bei dem aufstiegsorientierten Typus die Selbstpositionierung als erste Studierende in der Familie. Die deutlich artikulierten Bildungsambitionen und -anstrengungen des aufstiegsorientierten Typus, die nach Wigger (vgl. 2009, S. 116) aufgrund der sozialen Bedingtheit ihres Habitus notwendig sind, stellen die Ausgangsbasis für Transformations- bzw. Weiterentwicklungsprozesse des Habitus dar. Zugleich wird anhand der empirischen Ergebnisse aber auch ersichtlich, dass individuelle Habitustransformationen durch Bildung nur bedingt gelingen können, da sich die Spuren der Anstrengungen des Aufstiegsprozesses im Habitus niederschlagen (vgl. hierzu auch Bourdieu und Passeron 1971, S. 40 f.). Insbesondere im Vergleich zum bildungsetablierten Typus, deren zugehörige Fälle vorwiegend eine akademische Bildungsherkunft aufweisen, offenbaren sich in diesem Zusammenhang eindeutige Kontraste: Während die Studierenden aus gehobenen und hohen Herkunftsmilieus die Anforderungen in den Bildungsinstitutionen problemlos bewältigen, fallen die Angehörigen der mittleren Schicht durch eine besondere Bindung an das formale Bildungssystem auf. Diese Bindung ist stabil, da sie durch die Hoffnung genährt wird, zu der oberen Schicht aufschließen zu können (vgl. Kramer 2011, S. 342). Der angestrebte Bildungsaufstieg fungiert in dieser Hinsicht als „virtueller Fluchtpunkt“ (Krais und Gebauer 2013, S. 45) aus dem sozialen Herkunftsmilieu.
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3.2 Der pragmatische Typus Der pragmatische Typus rahmt seine Bildungsgeschichte als spannungsvolles Feld zwischen erfolgreichen und problematischen Phasen, wie in dem Beispiel von Sandras Fall und ihrer Antwort auf den Eingangsimpuls ersichtlich wird. Ja also ich würde mal sagen es gibt bei mir wirklich so bergauf bergab. Also ich hab immer so::= bin nie straight (.) durchgelaufen. Ich hatte in der Grundschule so meine Probleme in weiß ich nicht Mathe und so was (1) ne? Das man immer sagt ooah wo schicken wir sie jetzt hin? Und dann bin ich dann auf Realschule gekommen. Da war’s dann auch manchmal so einige (.) Jahre waren super. Da ( ) war alles super zweier Durchschnitt und so und man= manche Jahren waren dann auch echt schlecht. [Y: Mmh1] Und ähm ich war nie so dass man sagen würde ja die ist immer gu::t. Und=hmm die ha= macht immer alles dafür und so sondern es war immer so (.) heikel. U:nd dann hab ich na:ch der Realschule wollte ich dann weil ich keinen Ausbildungsplatz bekommen hab wollte ich dann mein Abi weitermachen. Und hab mich dann beworben. (.) Und bin dann auch genommen wurden und hab dann=äh ’n halbes Jahr lang bin ich dann auf das Gymnasium gegangen. (.) Ähm in einem Nachbarort. Und das war aber (.) so: ’ne komplett andere Welt für mich. Also (.) ich konnte überhaupt nicht verstehen warum (.) die Anweisungen für bestimmte @ Sachen@ so kompliziert immer waren. [Y: Mmh1] Also ich hab das dann durchgelesen und ich so Hää? Was soll ich machen? Und hab mich dann gemeldet und dann sagte der M=Mathelehrer (.) Ja das und das. Ich sag warum steht das denn dann da nicht so? Und das war für mich total schwierig. [Y: Mmh1] [...]
Aus dem Beispiel wird ersichtlich, dass der pragmatische Typus Bildungsentscheidungen eher situativ und pragmatisch als planvoll und zielgerichtet trifft. In den formalen akademischen und akademisch ausgerichteten Bildungseinrichtungen treten Passungsprobleme auf, worauf entweder mit Anpassungsversuchen oder mit einer reflexiven Distanzierung von den Bildungsinstitutionen reagiert wird. Insbesondere die weniger anwendungsorientierten Bildungsinhalte, wie jene der höheren Mathematik, stoßen auf Unverständnis. In diesem Zusammenhang lassen sich zwar Anstrengungen zum Erzielen von akzeptablen Bildungsleistungen nachzeichnen, diese wirken im Gegensatz zum aufstiegsorientierten Typus jedoch weniger leidvoll auferlegt. Das praktische Lernen im Kontext der Ausbildung wird wertgeschätzt und der erworbene berufliche Abschluss stellt, analog zum aufstiegsorientierten Typus, eine Sicherheit während des Studienverlaufs dar, die auch für die Eltern von großer Bedeutung ist. Die elterliche Unterstützung hinsichtlich des Studiums ist ebenfalls durch eine gewisse Pragmatik, jedoch auch durch ein Grundvertrauen in die Entscheidungen und Handlungen ihrer Kinder gekennzeichnet. So wird einerseits deutlich, dass das akademische Milieu für die Eltern ein eher fremdes und unbekanntes Terrain
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ist, dass andererseits aber auch eine gewisse familiäre Bildungs- und Aufstiegsaspiration vorliegt. Eine pragmatische Bildungsorientierung konnte insbesondere bei Studierenden mittlerer Bildungsherkunft beobachtet werden, bei denen beide Elternteile einen Fachberuf erlernt haben. Im Gegensatz zum aufstiegsorientierten Typus werden beim pragmatischen Typus Geschwister oder nahe Verwandte mit Vorerfahrungen im akademischen Milieu erwähnt. Aufgrund von akademischen Vorbildern in der Familie, so lässt sich vermuten, manifestiert sich sowohl bei den Studierenden selbst als auch bei den Eltern ein grundlegendes Vertrauen in die akademischen Fähigkeiten. Die zusätzliche Absicherung durch den erworbenen Berufsabschluss und die hieraus resultierende, prinzipiell vorhandene finanzielle Unabhängigkeit fungiert darüber hinaus als Vertrauensbasis, sodass nicht von einem akademischen Werdegang abgeraten, sondern die Entscheidung diesbezüglich den Kindern selbst anvertraut wird. Hinsichtlich der rekonstruierten schulischen Erfahrungen zeigen sich Analogien zum „Habitus der Spannung zwischen schulischer Bildungskonformität und Fremdheit“, der sich durch gewisse, wenn auch moderate Bildungsambitionen charakterisieren lässt (vgl. Helsper et al. 2010, S. 141). Diese Ambitionen offenbaren sich nicht nur in den mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsversuchen der Individuen in den verschiedenen formalen Bildungseinrichtungen, sondern auch im familiären Kontext. Auf der anderen Seite zeigen sich aber auch Facetten einer angedeuteten Opposition gegenüber der gymnasialen und akademischen Kultur und die Fremdheit in den entsprechenden Bildungseinrichtungen, welche einen Gegenpol zur ‚realen‘ und berufsbezogenen Bildung darstellen. Das Spannungsverhältnis zwischen Bildungskonformität und -fremdheit beschreibt auch Bremer für den „leistungsorientierten Pragmatiker“ aus dem Arbeitnehmermilieu (vgl. Bremer 2009, S. 293 ff.; Bremer 2007, S. 187 ff.). Wie die Denomination des Typus bereits verdeutlicht, handelt es sich um eine Gruppe von Weiterbildungsaspirantinnen und -aspiranten mit einem funktionalen Bildungszugang, deren Lebenspraxis durch das Austarieren von Idealen und der realistischen Alltagspraxis in Form eines „abwägenden Pragmatismus“ (ebd., S. 188) bestimmt ist. Die reflexive Distanzierung von Inhalten der höheren Bildung, die auch für den pragmatischen Typus in der vorliegenden Arbeit beobachtet werden konnte, spiegelt eben jene Einforderung der Nutzbarkeit und des Gebrauchswerts von Bildung wider. Dass es sich hierbei, wie Bremer (vgl. 2009, S. 190) in seiner Studie feststellt, nur um ein vordergründiges Motiv handelt und das tatsächliche Verhältnis zu Bildung vielschichtiger ist, lässt sich aufgrund des eingeschlagenen akademischen Werdegangs auch für den rekonstruierten pragmatischen Typus vermuten.
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Die Verarbeitung der eigenen Bildungs- und Aufstiegsgeschichte erfolgt in Form von „empraktischen Synthesen“ (El-Mafaalani 2012, S. 203): Die soziale Herkunft und der Bildungsaufstieg werden nicht voneinander abgegrenzt; der Aufstieg findet vielmehr im Zuge einer mehr oder weniger normal empfundenen Entwicklung statt. Die elterliche Befürwortung des Entwicklungsprozesses, der sich im rekonstruierten Modus der pragmatischen und vertrauensvollen Unterstützung dokumentiert, ermöglicht die synthetische und in der Regel widerstandsfreie Verarbeitung des Aufstiegs bei denjenigen Studierenden, die dem pragmatischen Typus zugeordnet wurden. Habituelle Passungsprobleme in den akademischen und akademisch orientierten Bildungseinrichtungen werden zwar empfunden, führen jedoch nur teilweise zu Transformationsprozessen. Parallel hierzu wird eine implizite Forderung nach der Anpassung der akademischen Bildungseinrichtungen an neue Zielgruppen aus mittleren Herkunftsmilieus ersichtlich. Wenngleich sich die Forderung nach institutioneller Unterstützung auch beim aufstiegsorientierten Typus zeigt, führt die synthetisch-pragmatische Verarbeitung des individuellen Bildungsaufstiegs beim pragmatischen Typus zu einer deutlicher ausgeprägten Selbstsicherheit im Studium. In der Konsequenz werden eher die Anforderungen und Konventionen des akademischen Milieus als die eigene Herkunft infrage gestellt.
3.3 Der bildungsetablierte Typus Der bildungsetablierte Typus lässt sich zusammenfassend durch eine klare Zielorientierung im Hinblick auf den akademischen Werdegang umschreiben, wie das folgende Beispiel (Fall: Hannah) illustriert. Ich habe mein Abitur gemacht (1) ähm am allgemeinbildenden Gymnasium habe dann (.) weil ich=äh diesen Studiengang (.) auf jeden Fall machen wollte (.) [Studiengang], dann erstmal ein Jahrespraktikum (1) als (1) [Y] gemacht. Weil ich dachte das reicht vielleicht. Es reichte dann aber nicht weil ich nicht reingekommen bin. [Y: Mmh1] Und dann habe ich gedacht na ja gut was machst du dann? (2) Ähm und habe dann halt die Ausbildung [Y] gemacht. Und wenn man da einmal drin ist bricht man das auch nicht ab und da habe ich gedacht komm das machst du jetzt zu Ende. Habe mich dann parallel weiter beworben und äh (1) habe dann recht nahtlos war das=äh das Studium hier angefangen. [Y: Mmh1.] Genau.
Die Sichtweise des bildungsetablierten Typus auf Bildung und Lernen ist durch die Selbstverständlichkeit und Normalität der akademischen Laufbahn gekennzeichnet, die sich auch im familiären Umfeld durch eine entsprechend
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akademisch orientierte Unterstützung widerspiegelt. Bildungsentscheidungen werden im Hinblick auf eben jene Perspektive getroffen, und so erhält ein Praktikum oder eine Berufsausbildung tendenziell eine mittelbare Funktion und den Stellenwert einer Maßnahme zur Überbrückung von Wartezeiten oder als Findungsprozess im Hinblick auf die Studienentscheidung. Sie stößt in der Familie entweder als zielführende und gut begründete Zwischenstation auf Zustimmung oder wird als Umweg im Hinblick auf einen anvisierten akademischen Werdegang weniger akzeptiert. Letzteres zeigt sich in entsprechenden Widerständen und einer deutlich artikulierten, anders gelagerten Erwartungshaltung seitens der Eltern. In der Sichtweise auf Bildung und Lernen dominiert eine starke Formal- und Strukturorientierung, und so erhalten auch außerschulische Erfahrungen tendenziell erst dann einen Stellenwert, wenn sie eine unmittelbare Relevanz für den weiteren formalen Bildungsweg und die anvisierte Berufstätigkeit haben. Unsicherheiten und habituell bedingte Passungsprobleme in den akademischen oder in den akademisch orientierten Bildungseinrichtungen sind im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Typen kaum ersichtlich: Sowohl den schulischen Anforderungen am Gymnasium als auch dem Studium wird mit Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit begegnet. Die Studierenden, die den bildungsetablierten Typus repräsentieren, stammen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil zuvor studiert hat. Aufgrund der familiären Bildungserfahrungen sowie aufgrund der i. d. R. gehobenen beruflichen Stellungen der Eltern sind die Erwartungen an die Kinder entsprechend hoch und ein akademischer Werdegang erscheint geradezu alternativlos. Im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen Typen liegt die Motivation hier nicht in der Perspektive des Bildungsaufstiegs, sondern in der Reproduktion des Bildungsstands sowie in dem Erhalt des beruflichen und sozialen Status. Vor diesem Hintergrund lassen sich gegebenenfalls auch die vorhandenen elterlichen Widerstände im Hinblick auf die Berufsausbildung ihrer Kinder als Angst vor einem Bildungsabstieg sowie vor einem sozialen Statusverlust der Familie im Sinne „missratener Söhne und Töchter“ (Schmeiser 2003) deuten. Im Vergleich mit anderen Habitusstudien finden sich z. B. Hinweise auf eine kleinbürgerlich-ständische Herkunft mit einer ausgeprägten Status- und Stabilitätsorientierung (vgl. Bremer 2007, S. 203 ff.). Darüber hinaus weist der bildungsetablierte Typus in einigen Punkten Parallelen zu dem von Helsper et al. (2010, S. 134) beschriebenen „Habitus der Bildungsexzellenz und -distinktion“ auf, z. B. hinsichtlich der Tatsache, dass Bildungsübergänge unproblematisch absolviert werden. Als negativer Gegenhorizont formulieren die Autoren ein mögliches „Scheitern auf ‚hohem Niveau‘ [.], weil die eigenen Ansprüche und auch
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die familiären selbstverständlichen Exklusivitätserwartungen verfehlt werden und sich damit auch Risikobiografien […] anbahnen können“ (ebd., S. 134). Das Orientierungsmuster des bildungsetablierten Typus scheint, so lassen die typinhärenten Besonderheiten vermuten, eine besondere Habitusformation von Studierenden akademischer Herkunft mit Berufsausbildung zu sein. Die biographische Integration von beruflicher und akademischer Bildung gelingt zwar faktisch, die empfundene Höherwertigkeit der akademischen Bildung spiegelt sich jedoch in den eigenen Bildungsorientierungen sowie in den familiären Aushandlungsprozessen wider. Durch die elterlichen Erwartungen bezüglich der akademischen Reproduktion bzw. bezüglich des Erreichens eines höheren Berufsstandes lässt sich zwar das Selbstverständnis der akademischen Bildung erklären, die eigenen Vorerfahrungen in der beruflichen Bildung, die zum Teil auch bei den Eltern vorliegen, bedingen jedoch zugleich eine eher funktionalistische Sichtweise auf Bildung und Lernen. Diese Sichtweise entspricht eher einer pragmatischen Grundhaltung als einem klassischen akademischen Habitus. Eine naheliegende Deutungsperspektive für diese besondere Habitusformation ist, dass es sich bei den Studierenden um Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteiger der zweiten Generation handeln könnte. Aufgrund des eingeschränkten Datenmaterials in der vorliegenden Untersuchung, in welcher der Bildungsstand und die Berufe der Großelterngeneration nicht berücksichtigt wurden5, können hierzu jedoch lediglich Vermutungen aufgestellt werden.
3.4 Der intellektualisierte Typus Im Kontrast zu den zuvor beschriebenen Typen wird Bildung und Lernen bei dem intellektualisierten Typus im Kontext einer reflexiven Auseinandersetzung mit theoretischen Wissensbeständen und Elementen aus der eigenen Biographie verhandelt. Exemplarisch kann auf die Eingangspassage im Interview mit Nicole verwiesen werden.
5Dies
wäre darüber hinaus aufgrund der Tatsache, dass einigen Studierenden bereits die Bildungsabschlüsse der Elterngeneration nicht oder nur ungefähr bekannt sind, durch eine alleinige Befragung der Studierenden vermutlich recht schwer zu ermitteln. Eine interessante Erweiterung würde hier eine korrespondierende Befragung der Eltern darstellen.
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@Ä:hm@ Ja generell mmh=bei der Schule hab ich erstmal das Gymnasium besucht mein Abitur gemacht und ähm (.) ja m=klar da wird man ja auch Allgemeinbildung das ist (.) ja gehört alles dazu zur Schulbildung auf jeden Fall, aber ich würde sagen, dass ich me:::hr gelernt habe durch selbstständiges Arbeiten also weniger durch Schule, ähm (.) da werden halt die Grundlagen des Wissens vermittelt und beigebracht und wie man lernen kann, klar. Aber ähm ich hatte den Eindruck, dass ich zum Beispiel in der Ausbildung, ich hab ja dann erst eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin gemacht, dass ich da irgendwie schon bisschen selbstständiger gelernt hab und da vor allem in der (.) in der Praxisphase, ähm (1) [Y: Okay?] Ja also (2) ich weiß nicht mir hat Bildung me:::hr was gebracht, wenn ich das quasi selber nochmal ein bisschen verinnerlichen konnte, ausprobieren konnte, ähm (.) und auch muss ich sagen durch das Studium dann, also dann habe ich (.) nach meiner Ausbildung habe ich ja direkt angefangen zu studieren und ich finde da hat das nochmal so einen ganz anderen Stellenwert gekriegt. Bildung ist sehr viel weitreichender irgendwie definiert finde ich, nicht nur das was in den Schulbüchern steht und die Grundlagen sondern auch ähm ja persönliche Entwicklung oder ähm ja mehr Schwerpunkt auf Interessensgebiete, das wär so mein (1) Weg bisher @(1)@
Bildung und Lernen ist beim intellektualisierten Typus eng mit der Entfaltung des Selbst verknüpft, die sich nicht nur auf das berufliche Vorankommen, sondern auch auf die persönliche Entwicklung auswirkt. Erfahrungen jeglicher Art, seien sie in formalisierten Settings oder in informellen Zusammenhängen situiert, werden wertgeschätzt und im Hinblick auf die eigene Weiterentwicklung reflektiert. Hierzu zählt insbesondere auch das praktische und problemorientierte Lernen in der Berufsausbildung sowie im Beruf. Probleme und Herausforderungen des beruflichen und privaten Alltags stellen ertragreiche Lernanlässe aus der Perspektive des intellektualisierten Typus dar. Die Schulbildung fungiert zwar als Wissensbasis für weiterführende Lernaktivitäten, das selbstständige und erfahrungsbasierte Lernen wird jedoch als höherwertig für die eigene Entwicklung eingeschätzt. Insgesamt lässt sich eine ganzheitliche Bildungs- und Lernauffassung im Sinne des lebenslangen Lernens nachzeichnen, die ein breites Spektrum an Bildungs- und Lerngelegenheiten in formalen und informellen Settings abdeckt und an ein erfahrungsbasiertes Lernverständnis erinnert. Betrachtet man die soziogenetischen Erfahrungsräume des intellektualisierten Typus, so lässt sich hinsichtlich des schulischen Werdegangs kein eindeutiges Bild feststellen. Bei der Bildungsherkunft der Studierenden sind jedoch typinhärente Homologien zu verzeichnen: Sie stammen aus einem akademischen Elternhaus und weisen somit eine gehobene oder hohe Bildungsherkunft auf. Die Modi der familiären Unterstützung entsprechen jenen, die auch für den bildungsetablierten Typus zutreffen: Entweder sie ist vollumfänglich, entwicklungs-
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orientiert und fürsorglich in allen Statuspassagen auf dem Bildungsweg oder in erster Linie auf den akademischen Werdegang der Kinder ausgerichtet. Beim intellektualisierten Typus ist eine besondere Form der Verarbeitung der eigenen Bildungsgeschichte zu verzeichnen, die nicht unmittelbar mit jener der anderen identifizierten Typen vergleichbar ist: Durch die äußerst reflektierte und bewertende Sichtweise auf die eigene Bildungs- und L erngeschichte dokumentiert sich eine abstraktere und theoretisierende Form der Verarbeitung. Grundlegend für eine derart reflektierte Verarbeitungsform ist die Bewusstwerdung der unterschiedlichen Lernerfahrungen, wobei dem Studium eine wesentliche Rolle zugeschrieben wird6. Angesichts der Tatsache, dass Bildungsteilhabe ein elementares Bedürfnis für den intellektualisierten Typus darstellt, lassen sich Analogien zum „habituell-orientieren Typus“ feststellen, der im Rahmen einer Typisierung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickelt wurde (vgl. Schmidt 2009, S. 274). Es handelt sich hierbei um bildungsaffine Personen, für die Bildungsaktivitäten aufgrund von aktuellen Notwendigkeiten oder Problemlagen von Bedeutung sind. Bildungsteilhabe wird als Lebensstil und elementares Bedürfnis erachtet; der Ertrag von Bildung wird weniger in den erworbenen Zertifikaten oder Anschlussberechtigungen gesehen, sondern in erster Linie in dem Lernprozess selbst, der die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Wissensbeständen und Haltungen ermöglicht. Diese Sichtweise auf Bildung und Lernen wird auch in der Typisierung der „Selbstbestimmten“ ersichtlich (vgl. Bremer 2007, S. 191 ff.). Wenngleich Bildung stärker auf einer prozessualen Ebene und weniger vor dem Hintergrund der formalen Zertifikate und Anschlussberechtigungen reflektiert wird, ist für den intellektualisierten Typus der akademische Bildungsweg die Normalität, die zum einen durch das Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten konstruiert, zum anderen aber auch, wenn auch nicht so dominant wie beim bildungsetablierten Typus, durch familiäre Erwartungen hergestellt wird. Bildung wird, so verdeutlichen die Rekonstruktionen, von dem intellektualisierten Typus bewusster als von den drei anderen Typen als „Transformationsprozess von Selbst- und Weltverhältnissen“
6Zu
beachten ist hier, dass das Interview an einer Universität stattfand und von einer wissenschaftlich tätigen Person durchgeführt wurde. Die Art und Weise der Antworten, das theoretisch-reflektierende und abstrahierende Vorgehen sind ggf. als sozial erwünscht zu deuten. Bemerkenswert ist jedoch, dass dieser Effekt nur bei Studierenden auftrat, die dem intellektualisierten Typus zugeordnet wurden, obwohl in allen Fällen das gleiche Setting gewählt wurde.
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wahrgenommen (vgl. Marotzki 1990, S. 41 ff.). Ausgehend von der Annahme, dass sich eine derart abstrakte Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungs- und Lerngeschichte nur diejenigen leisten können, die sich ihrer akademischen Fähigkeiten sicher sind, ist hier von einem akademisch geprägten Habitus auszugehen. Betrachtet man die vier rekonstruierten Bildungsorientierungen und Typen in der Gesamtschau, wie in Tab. 1 dargestellt, so wird ersichtlich, dass sowohl der aufstiegsorientierte als auch der pragmatische Typus Züge des Strebens und der Leistungsorientierung aufweisen. Der pragmatische Typus ist dabei jedoch weniger angestrengt und handelt situativ und pragmatisch. Zudem unterscheiden sie sich hinsichtlich der Verarbeitung des Aufstiegsprozesses: Während sich beim aufstiegsorientierten Typus die Abgrenzung von der sozialen Herkunft zeigt, gelingt dem pragmatischen Typus eine Synthese von Herkunft und Bildungsaufstieg, die mit einer mehr oder weniger starken Abgrenzung von den Anforderungen in den formalen Bildungseinrichtungen einhergeht. Der bildungsetablierte Typus und der intellektualisierte Typus verbindet die Normalisierung der akademischen Biographie. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Sichtweise auf Bildung: Während beim bildungsetablierten Typus ein dominierendes
Tab. 1 Überblick über vier Studierendentypen Typik Studierende aus nichtakademischen Elternhäuserna
Studierende aus akademischen Elternhäuserna
Orientierungsrahmen Studierendenhabitus
(Leidvoll) leistungsAufstiegsorientierter Akademische orientiert-strebend Typus Bildung zur Distanzierung von der sozialen Herkunft Pragmatischer Typus Akademische Bildung als zweckdienliche Besonderheit
(Situativpragmatisch) strebend
Bildungsetablierter Typus
Akademische Bildung als zweckdienliche Selbstverständlichkeit
Formal-zielorientiert
Intellektualisierter Typus
Ganzheitlich-selbstAkademische Bildung als Persön- verwirklichend lichkeitsentwicklung
aDie Bildungsherkunft der Studierenden wurde zusätzlich in einem Fragebogen zu den soziodemographischen Daten erhoben. Diese Daten wurden aber erst nach der qualitativen Auswertung hinzugezogen und stützen die in den Interviews gewonnenen Erkenntnisse. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Grunau 2017, S. 91 ff.
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funktionales Verständnis ersichtlich wird, zeigt sich beim intellektualisierten Typus – und das grenzt ihn von allen anderen Typen ab – ein Verständnis von Bildung als Persönlichkeitsentwicklung.
4 Studierendentypen und Milieuzugehörigkeiten: Ein Projektionsversuch Angesichts der methodischen Vorannahme, dass handlungsleitende Orientierungen und entsprechende Habitusformationen auf kollektiven Erfahrungsräumen und Milieuzugehörigkeiten basieren, stellt sich nach der zusammenfassenden Betrachtung der rekonstruierten Typen in einem nächsten Schritt die Frage, inwiefern sich die vorliegenden Untersuchungsergebnisse in ein milieuspezifisches Analyseraster projizieren lassen und Milieuzugehörigkeiten im Gegenzug als Erklärungsansatz für die entwickelten Typen und die identifizierten Habitusformationen fungieren können. Als experimentelle Projektionsfläche dient hierbei die Landkarte zur ständischen Stufung von Bildungswegen der sozialen Milieus in Deutschland (vgl. Vester et al. 2007, S. 37; Bremer und Lange-Vester 2014, S. 64), bei der es sich um eine Weiterentwicklung von Bourdieus Ansatz zur Systematisierung des sozialen Raums handelt (vgl. 1987 [1979] S. 212 f.). Für dieses Modell wird erklärt, dass prinzipiell jeder Einzelfall auf der Basis seiner habituellen Muster einem sozialen Milieu zugeordnet werden kann (vgl. Bremer und Lange-Vester 2014, S. 67). Die Suche nach Übereinstimmungen und Differenzen sowie nach korrespondierenden milieuspezifischen Wissensbeständen und Handlungspraktiken erfolgt daher im Folgenden auf der Basis der typspezifischen Gemeinsamkeiten und der kollektiven Habitusformationen. Der aufstiegsorientierte und der pragmatische Typus zeigen Verhaltens- und Entscheidungsmuster, die auf eine familiäre Zugehörigkeit zur „Traditionslinie der Facharbeit und praktischen Intelligenz“ schließen lassen. Die Angehörigen zeigen sich skeptisch gegenüber Autoritäten und messen Gleichberechtigung und Leistungsorientierung in der Gesellschaft einen zentralen Stellenwert bei (vgl. Vester et al. 2007, S. 40). Im Detail lässt sich beim aufstiegsorientierten Typus eine habituelle Prägung durch das „leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu“ vermuten, welches vorwiegend aus modernen Facharbeitern und -angestellten besteht (vgl. ebd., S. 41) und in welchem sich Bildungsaufstiege häufig in der ersten Generation und unter Anstrengungen vollziehen. Die Wissensbestände, das selbstbewusste Bildungsverhalten und die korrespondierenden Handlungspraktiken des pragmatischen Typus deuten hingegen auf eine Zugehörigkeit zum „modernen Arbeitermilieu“ hin, in welchem Bildungsaufstiege
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und der Erwerb gehobener Bildungsabschlüsse selbstverständlicher sind (vgl. Bremer und Lange-Vester 2014, S. 66). Die mehr oder weniger deutlich artikulierten Passungsprobleme und Unsicherheiten in gymnasialen und akademischen Bildungseinrichtungen, die das akademisch-intellektuelle Milieu institutionell repräsentieren, verweisen auf die „Trennlinie der Distinktion“ zwischen den oberen bürgerlichen Milieus und den respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus. Wenngleich sich zunehmend Öffnungstendenzen des höheren Bildungswesens zeigen, lassen sich hier nach wie vor Abstoßungstendenzen zu den Studierenden aus den respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus nachzeichnen. Als traditionelle Bezugsmilieus von akademischen und akademisch orientierten Bildungseinrichtungen gelten das bildungsbürgerliche und das gehobene Dienstleistungsmilieu sowie das ihm nahestehende gehobene bürgerliche und das kleinbürgerliche Milieu. Die rekonstruierten und habituell bedingten Bildungsorientierungen des intellektualisierten Typus deuten auf eine Zugehörigkeit zum „gehobenen Dienstleistungsmilieu“ hin, welches in der „Traditionslinie der akademischen Intelligenz“ verortet ist. So wird das Milieu als „noch teilweise dem Habitus ihrer Herkunft aus dem Milieu der Facharbeiter und Fachangestellten verbunden“ (Vester et al. 2007, S. 40) charakterisiert, was sich beispielsweise in der affirmativen Haltung gegenüber der beruflichen Bildung spiegelt. In den Lebensstilen wird gegenüber dem „bildungsbürgerlichen Milieu“ eine Ablehnung übertriebener Selbstdarstellung deutlich (vgl. ebd.). Für den bildungsetablierten Typus lassen sich im Gegensatz hierzu tendenzielle Analogien zu den milieutypischen Ausprägungen und Verhaltensformen des „gehobenen bürgerlichen Milieus“ feststellen, deren Angehörige hinsichtlich ihrer Bildungsstrategien eher aus utilitaristischen, berufspraktischen und karriereorientierten Motiven handeln (vgl. Bremer und Lange-Vester 2014, S. 65). Die vorherigen Ausführungen verdeutlichen, dass der Versuch der Verortung der entworfenen Typologie im sozialen Raum prinzipiell gelingen kann (s. Abb. 1). Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass die Zuordnungsversuche aufgrund der exemplarischen Bezugnahme auf Einzelaspekte der rekonstruierten Bildungsorientierungen lediglich den Anspruch erheben können, Zugehörigkeitstendenzen zu sozialen Herkunftsmilieus aufzuzeigen. Ausgehend von dieser Prämisse zeigt sich in der vertikalen Abstufung, dass die befragten Studierenden eine unterschiedlich ausgeprägte Nähe zu den Bildungseinrichtungen der höheren Bildung, sprich den Gymnasien und hochschulischen Einrichtungen, aufweisen. In der horizontalen Dimensionierung lassen sich hingegen die ebenfalls rekonstruierten Haltungen zu formalen Lern- und Bildungsprozessen abbilden. Eine relativ deutliche Tendenz zur Orientierung an formalen Bildungsprozessen,
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Abb. 1 Bildungsorientierungen und Habitus von Studierenden im Raum der sozialen Milieus. (Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Landkarte Milieustruktur in Deutschland [Vester et al. 2007, S. 37; Bremer und Lange-Vester 2014, S. 64, s. auch Grunau 2017, S. 191])
welche sich unter anderem in dem hohen Stellenwert der Notengebung und dem Erwerb von Anschlussberechtigungen dokumentiert, konnten bei dem aufstiegsorientierten und dem bildungsetablierten Typus beobachtet werden. Der intellektualisierte Typus orientiert sich hingegen stärker an erfahrungsbasierten oder informellen Lern- und Bildungsprozessen, die nicht unmittelbar an die Institutionen des Bildungswesens gekoppelt sind, denen aber eine hohe Bedeutung im Hinblick auf die persönliche Entwicklung zugeschrieben wird. Die von Vester et al. (vgl. 2007, S. 37) vorgenommene vertikale Differenzierung in das Verhältnis zu Autoritäten ist hierdurch keinesfalls aufgehoben; vielmehr gehen die rekonstruierten Orientierungen in dieser auf: So deutet sich in der aus-
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geprägten Formalorientierung in Bildungs- und Lernprozessen eine grundlegende Orientierung an autoritären Strukturen an, während sich in dem hohen Stellenwert des erfahrungsbasierten Lernens eine selbstbestimmte Haltung gegenüber Lern- und Bildungsprozessen offenbart.
5 Studierende und Hochschulen – Anpassung oder wechselseitige Annäherung? Nun offenbaren die dargestellten Ergebnisse der empirischen Rekonstruktionen ja eine scheinbar ausweglose (und zugegebenermaßen recht betrübliche) Grundsituation: Bildungsorientierungen und Alltagspraktiken von Studierenden lassen sich auf ihre Milieuzugehörigkeit zurückführen. Passungsschwierigkeiten des institutionellen Habitus der Hochschulen und des inkorporierten Habitus von Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteigern werden ersichtlich und nachvollziehbar. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Auffassungen Bourdieus und Passerons, dass bestimmte Lebensstile und soziale Praktiken auf das Herkunftsmilieu schließen lassen und Bildungsaufstiege stets mit Anstrengungsleistung verbunden sind, die wiederum den Habitus zeichnen (vgl. Bourdieu und Passeron 1971, S. 40 ff.). Für die Studierenden aus nichtakademischen Milieus bedeutet dies, dass sie „unter dem Wechsel in das akademische, unvertraute Feld [leiden]. Verstärkt wird das Leiden dadurch, dass es sich nicht um einen einfachen Wechsel von einer Welt in die andere handelt, sondern genau genommen um ein Leben in zwei Welten, die oft kaum etwas miteinander gemein haben. Auf Dauer gesehen entfernen sich die Studierenden vom Herkunftsmilieu, also konkret von ihren Eltern, Geschwistern, Freunden. In die Welt der Bildung findet der studentische Außenseiter zugleich aber nur begrenzte Aufnahme“ (Lange-Vester 2009, S.276; Hervorhebung im Original). Es würde sich demnach um systemische Benachteiligungen von Studierenden handeln, die keiner akademischen Traditionslinie entstammen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang jedoch stellt, ist: Ist es legitim, die nichttraditionellen Studierenden und ihre Passungsschwierigkeiten zu problematisieren7? Sind sie es, die sich an das institutionelle Milieu anpassen
7Eine
Problematisierung beginnt bereits bei der Verwendung von Begrifflichkeiten wie z. B. „nichttraditionell“, „nichtakademisch“. Hierbei handelt es sich um eine Negativabgrenzung („nicht-“), was auf ein Fehlen von etwas ‚Normalem‘ hindeutet und somit dysphemistische Tendenzen aufweist.
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müssen, die Anforderungen und Gepflogenheiten der Hochschulen vollumfänglich inkorporieren müssen? Eine alternative Sichtweise wäre, von der Notwendigkeit eines wechselseitigen Annäherungsprozesses auszugehen. Ein Annäherungsprozess seitens der Institution Hochschule vollzieht sich jedoch nicht lediglich durch formale Öffnungsprozesse. Zusätzlich wäre erforderlich, dass sich die hochschulischen Akteure, z. B. die Beratungsinstanzen und die Lehrenden, den ‚nichttraditionellen‘ Studierenden annähern und eine Haltung entwickeln, die durch den sensiblen und wertschätzenden Umgang mit unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden geprägt ist. Auch wenn die Darstellung des Verhältnisses und des Rollenbilds des Professors und des Studenten in „Die Illusion der Chancengleichheit“ sehr drastisch erscheint, so gibt sie – gerade vor dem Hintergrund der Einführung des Bachelor- und Mastersystems mit seinen i. d. R. inhaltlich stark vorstrukturierten Curricula sowie einer engen Taktung von Prüfungen – doch gewissen Anlass zum Nachdenken: „Der Student hat keinerlei Mitspracherecht in der ‚Produktion‘ oder der Vermittlung des Wissens; der Professor befragt den Studenten nicht (oder kaum) nach seinen Bedürfnissen, und wenn er es versucht, stößt er im allgemeinen [sic!] auf Passivität oder Erstaunen. In seiner undifferenzierten Bereitschaft, Wissen zu absorbieren, erwartet der Student gerade vom Professor die Ausrichtung und Befriedigung von Bedürfnissen, die dieser erst dadurch geschaffen hat, daß [sic!] er sich entschloß [sic!], sie zu befriedigen.“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 58).
Eine an der Ausgangslage und an den Bedürfnissen von Studierenden ausgerichtete Hochschullehre erfordert neben einer sensiblen Herangehensweise auch entsprechende hochschuldidaktische Kenntnisse und Variationen. Das Bewusstmachen und ‚Normalisieren‘ von unterschiedlichen biographischen Erfahrungen, milieuspezifischen Prägungen und Alltagspraktiken i. S. von reflexiver Biographiearbeit würde hierbei eine Möglichkeit darstellen, die handlungsleitenden Bildungsorientierungen von Studierenden offenzulegen, Selbst- und Fremdverstehen zu fördern und eine „ungleichheitssensible Hochschullehre“ (Rheinländer 2015) anzubahnen.
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Grunau, Janika, Dr. phil., Vertretung der Professur für „Berufspädagogik und qualitative Forschung“ am Department Wirtschaftspädagogik der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte sind: Berufliche und hochschulische Bildung, Biographie und Habitus, Gesundheitsfachberufe.
Ausblick
Bildungsorientierung(en): Abschließende Reflexionen und Kommentierung zu einem vielschichtigen Begriff Michael Hermes und Miriam Lotze In einem abschließenden Beitrag wollen wir als HerausgeberInnen einen zusammenfassenden Ausblick wagen. In der Gesamtschau der Beiträge, die sich mit Bildungsorientierungen in Theorie und Empirie befassen, stellt sich für uns dabei zunächst die Frage: Wie fassen die jeweiligen AutorInnen Bildungsorientierungen und in welcher Art und Weise verorten sie diese theoretisch? Vor dem Hintergrund eines derartigen Vergleiches der Beiträge möchten wir Zusammenhänge erläutern, Differenzen beleuchten und Offenes benennen. Eine Betrachtung der Bezüge und Differenzen der Dokumentarischen Methode zur Kultursoziologie kann an dieser Stelle nicht erfolgen.1 Allerdings ergeben sich daraus Konsequenzen, die Theorie, Methodologie und Forschungsmethodik sowie letztlich (wissenschaftliche) Begriffe betreffen: So verwendet Hermes (2017) den Begriff der Bildungsorientierung in kritischer Distanz zum Habitusbegriff bei Bourdieu (vgl. ebd., S. 104). Rekurriert wird damit auf eine rekonstruktive Forschung, die den Habitusbegriff um den Aspekt erweitert, dass und wie sich konjunktives Erfahrungswissen
1Siehe
dazu Bohnsack (2013, S. 195 f.).
M. Hermes (*) Referat Familie & Generationen, Kolpingwerk Deutschland, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Lotze FB 03 Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Hermes und M. Lotze (Hrsg.), Bildungsorientierungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28187-8_11
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M. Hermes und M. Lotze
„in der Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata, also u. a. den normativen Anforderungen und denjenigen der Fremd- und Selbstidentifizierung, immer wieder reproduziert und konturiert“ (Bohnsack 2012, S. 126).
Zudem grenzt sich Hermes (2017) mit seinem Vorgehen von kausalen Erklärungsmustern ab, die beispielsweise im Rahmen der Rekonstruktion der Genese des Habitus Kapitalkonfigurationen zentral setzen (vgl. ebd. sowie Hermes und Lotze in diesem Band) und von einem eher starren Passungsbegriff ausgehen. Andere Lesarten – etwa im Hinblick auf den Milieubegriff – befinden sich etwa in den Beiträgen von Sven Thiersch und Janika Grunau in diesem Band. Gleichwohl zeigt sich bei Bohnsack eine Nähe der Begriffe Habitus und Orientierungsrahmen, die er teilweise – etwa mit Blick auf die von Menschen geteilte Handlungspraxis – gleichermaßen verwendet (vgl. ebd. 2013, S. 179). Daran anschließend zeigt der in der Forschung genutzte Begriff des Bildungshabitus Anschlüsse an Bourdieu und ist zentral in der Analyse von Passungsverhältnissen, der besonders im Rahmen der Ungleichheitsforschung von Bedeutung ist. Dominik Farrenberg setzt in seinem Beitrag genau an dieser Stelle an und reflektiert bildungspolitische Anrufungen als „Ordnungsbildungen“ (ebd., S. 47 ff.) an Eltern und Familie. Er arbeitet eine Dialektik des meritokratischen Leistungsversprechens der Gesellschaft sowie neoliberaler Marktmechanismen heraus. Die vom Autor skizzierten und miteinander verwobenen Ordnungsbildungen rufen Familien in der Weise an, als das Bildungsprozesse in der Familie letztlich individualisiert und der familialen Verantwortung zugeschrieben werden (vgl. ebd., S. 58 ff.). Letztlich berührt diese Perspektive die Frage danach, wie sich der familiale Binnenraum zu gesellschaftlichen Anforderungen ins Verhältnis setzt bzw. wie familiale Interaktion auf entsprechende Ordnungsbildungen reagiert. Ein Spannungsverhältnis, auf dem mit Bohnsack (2012, siehe vorangegangenes Zitat) bereits hingewiesen wurde und welches jüngst an anderer Stelle empirisch weiter ausdifferenziert wurde (vgl. Euteneuer und Uhlendorff 2020). Sven Thiersch (vgl. den Beitrag in diesem Band) verwehrt sich in Konsequenz seiner theoretischen Reflexionen gegen starre Lesarten des Milieuund Passungsbegriffs. Vielmehr legt er einen Fokus auf Bewährungsprozesse in Passungsverhältnissen, die – verstanden als Prozesse – der rekonstruktiven Forschung zugänglich sind. Vor dem Hintergrund dieser Lesart können Bildungsorientierungen (resp. der Bildungshabitus) als Bestandteile „biographische[r] und handlungspraktische[r] Bewährungsprozesse“ (Thiersch in diesem Band, S. 41) verstanden werden. Der Frage der Passfähigkeit oder Passung bzw. Nicht-Passung von Bildungsorientierungen (bei Schmenger in diesem Band
Bildungsorientierung(en): Abschließende Reflexionen …
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zwischen elterlichen Bildungsorientierungen und den Bildungsorientierungen von pädagogischen Fach- und Lehrkräften, bei Grunau von Studierenden an Anforderungen und Gepflogenheiten der Hochschule, bei Krinninger und Kesselhut die Frage nach „Passungsverhältnissen zwischen familialer Binnenlogik und der Schule als Bildungsinstitution“ (Krinninger und Kesselhut, S. 93 in diesem Band)) stellt Thiersch in seinem Beitrag kritische Überlegungen dieses „Dualismus“ entgegen. Krinninger und Kesselhut gehen von einem dynamischen Verständnis von Bildungsorientierungen aus und sprechen in diesem Sinne auch von einer Anpassungsleistung, einer „familialen Adaption gesellschaftlichinstitutioneller Erwartungsmuster“ (ebd., S. 108) am Beispiel des Übergangs von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule. Deutlich wird, dass die Verwendung der Begriffe „Bildungsorientierung“ und „Bildungshabitus“ auf unterschiedlichen Denktraditionen (Karl Mannheim sowie Pierre Bourdieu) beruhen, aus denen in der Folge für die empirische Forschung methodologische sowie methodische Konsequenzen beziehungsweise Differenzierungen erwachsen. In den empirischen Erkundungen dieses Bandes ist das Verständnis vordergründig, diejenigen Orientierungen zu berücksichtigen welche die individuellen Akteure zu Bildung haben und welches Verständnis von Bildung vorherrschend ist. Insbesondere in der Rekonstruktion von Bildungsorientierungen bei pädagogisch professionellen Akteuren (wie in den Beiträgen von Schmenger und Graalmann in diesem Band) ist zusätzlich die Frage gestellt, wie die intraindividuellen Bildungsorientierungen jener Akteure auf ihre professionelle Tätigkeit wirken und Einfluss auf diese nehmen. Sarah Schmenger fasst Bildungsorientierungen Graßhoff et al. (2013) folgend entlang drei zentraler Aspekte. Bildungsorientierungen umfassen demnach die Bildungsbedeutsamkeit – also die Bedeutungszuschreibung und das Verständnis von Bildung der Akteure, die Bildungsaspiration – d. h. die Erwartungen an die jeweilig anzustrebenden Bildungsabschlüsse – sowie die motivationale Partizipation an Bildung, d. h. welche Motive und Begründungen für Bildung sowie das Engagement welches Bildung entgegen gebracht wird. Katharina Graalmann (in diesem Band) spricht in diesem Zuge auch von einer „Doppelfunktion von Bildungsorientierungen“ (ebd., S. 138) – mit der zum einen das eigene orientiert sein und auf der anderen Seite das orientiert werden im soziokulturellen Erfahrungsraum angesprochen ist. Auch aus den Beiträgen, welche die (Re-)Konstruktion familialer Bildungsorientierungen betrachten (Stoeck sowie Krinninger und Kesselhut in diesem Band), stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich für die kindliche Bildungsbiographie ergeben. Verflechtungen zwischen Erfahrungsräumen (etwa denen der Familie und der Schule) sowie Diskursen werden im Rahmen
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M. Hermes und M. Lotze
familialer Interaktion rekonstruierbar und entfalten im jeweiligen Erfahrungsraum Familie eine spezifische Relevanz. Die Beiträge von Wehking und Grunau in diesem Band nutzen den Begriff der Bildungsorientierung zum einen zukunftsgerichtet und zum anderen retrospektiv – im Sinne von noch zu treffenden und bereits getroffenen Berufswahl- und Studienentscheidungen. Gleichzeitig trifft Wehking noch eine wesentliche Unterscheidung zwischen Bildungsorientierung und Berufsorientierung: Sie nutzt den Begriff der Bildungsorientierung wenn es um intraindividuell rekonstruierbare Orientierungen an Bildung geht. Der Begriff der Berufsorientierung findet wiederum Verwendung als Prozess, in dem Jugendliche und junge Erwachsene sich orientieren bzw. von Akteuren in der (Berufs-) Bildungslandschaft orientiert werden. Grunau stellt wiederum entlang bildungsbiographisch rekonstruierter und typisierter Bildungsorientierungen die Verbindung zu Borudieus Konzept der Habitus(-transformation) her und ordnet diese in die Milieulandkarte nach Lange-Vester ein. Bildungsorientierungen werden hier demnach in diesen Traditionslinien als milieuspezifisch geprägte, handlungsleitende (atheoretische) Wissensbestände verstanden und verortet. Die Gesamtschau der Beiträge bestätigt das Resümee unseres einleitenden Beitrages: Bildungsorientierungen entfalten einerseits als grundlegende Orientierung an dem was jeweils als „Bildung“ verstanden wird eine spezifische Wirkmächtigkeit. Andererseits zeigt sich in der Konsequenz eine Heterogenität, die letztlich auch den Gegenstandsbereichen entsprechender (qualitativer) empirischer Studien geschuldet ist. Krinninger/Kesselhut (in diesem Band) verweisen darauf, dass vor dem Hintergrund theoretische Reflektion „mit der Relationalität der Familie als Konfiguration zwischen Lebenswelt und Institutionen auch eine Relationalität von Wissensformen“ (ebd., S. 108) berücksichtigt werden muss. Damit ist letztlich auch darauf verwiesen, dass Bildungsorientierungen nicht per se handlungsleitend sind, sondern an unterschiedlichen Zeitpunkten der Bildungsbiographie eine spezifische Relevanz entfalten. Sie können in einem Moment Antriebskraft sein und schon wenig später, angesichts lebensweltlicher Anforderungen, völlig in den Hintergrund treten. Letztlich sind sie wechselseitig das Ergebnis der Rekonstruktion lebensweltlicher und institutioneller Bildungserfahrungen und jeweils lebensgeschichtlich mehr oder weniger strukturgebend.
Literatur Bohnsack, R. (2012). Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung. In K. Schittenhelm (Hrsg.), Qualitative Bildungs- und
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Arbeitsmarktforschung. Grundlagen, Perspektiven, Methoden (S. 119–154). Wiesbaden: Springer VS. Bohnsack, R. (2013). Dokumentarische Methode und die Logik der Praxis. In A. Lenger, C. Schneickert, & F. Schumacher (Hrsg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven (S. 175–200). Wiesbaden: Springer VS. Euteneuer, M., & Uhlendorff, U. (2020). Familie und Familienalltag als Bildungsherausforderung. Weinheim: Beltz. Hermes, M. (2017). Bildungsorientierungen im Erfahrungsraum Familie. Rekonstruktionen an der Schnittstelle zwischen qualitativer Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. Opladen: Budrich.
Hermes, Michael, Dr. phil., war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule NRW und arbeitet seit seiner Promotion als Fachreferent für Familie und Generationen bei einem Sozialverband. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungs-, Familien- und Übergangsforschung. Lotze, Miriam, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Übergänge im Bildungssystem, Öffnung des Hochschulsystems, Bildungsungleichheiten und Bildungsorientierungen.