Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand: Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie 9783534272884, 9783534272891, 9783534272907

Die COVID-19-Pandemie stellt Familien und Bildungseinrichtungen vor besondere Herausforderungen. So ist z.B. zu erwarten

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German Pages 178 Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand – Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie: Einleitung
Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?
„Not hat kein Gebot“: Fundstücke über Erziehung, Not und Unglück
Über den Unterschied zwischen politischer Urteilsfähigkeit, Gehorsam und staatsbürgerlicher Souveränität
Demokratie Lernen in Coronazeiten
„Ausnahmezustand“ und „Krise“ – Perspektiven der Demokratiebildung während und nach der Epidemie aus rechts- und sozialphilosophischer Sicht
Verschwörungsmythen, politische Bildung und die Covid-19-Pandemie
Bildungsraum Quarantäne – Die transformatorische Bildungstheorie auf dem Prüfstand
Der Stachel der Melancholie – Philosophische Bildung in pandemischen Zeiten
Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie
Vom Hörsaal ins Kinderzimmer – Ethisch-theologische Überlegungen zur Familie als Zufluchtsort in Krisenzeiten
COVID-19 als Bildungsherausforderung – Gefahren und (vertane) Chancen
Schule und Chancengleichheit: Lehren aus der COVID-19-Pandemie
Schulschließung – eine Chance für die Grundschule?
Bildung in humanitären Krisen: Zu den globalen Folgen von COVID-19
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Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand: Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie
 9783534272884, 9783534272891, 9783534272907

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wbg Drerup / p. 1 / 29.6.2020

Johannes Drerup / Gottfried Schweiger (Hrsg.) Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand

wbg Drerup / p. 2 / 29.6.2020

wbg Drerup / p. 3 / 29.6.2020

Johannes Drerup / Gottfried Schweiger (Hrsg.)

Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie

wbg Drerup / p. 4 / 29.6.2020

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Umschlagabbildung: Frida (8 Jahre alt) Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-534-27288-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27289-1 eBook (epub): 978-3-534-27290-7 Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

wbg Drerup / p. 5 / 29.6.2020

Inhalt

Johannes Drerup und Gottfried Schweiger Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand . . . . . .

7

Burkhard Liebsch Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein? . . . . . .

14

Jürgen Oelkers „Not hat kein Gebot“: Fundstücke über Erziehung, Not und Unglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Anja Besand Über den Unterschied zwischen politischer Urteilsfähigkeit, Gehorsam und staatsbürgerlicher Souveränität . . . . . . . . . . . .

42

Rico Behrens Demokratie Lernen in Coronazeiten

. . . . . . . . . . .

55

Christian Thein „Ausnahmezustand“ und „Krise“ – Perspektiven der Demokratiebildung während und nach der Epidemie aus rechts- und sozialphilosophischer Sicht . . . . . . . .

64

Johannes Drerup Verschwörungsmythen, politische Bildung und die Covid-19-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Johannes Giesinger Bildungsraum Quarantäne – Die transformatorische Bildungstheorie auf dem Prüfstand . . . . . . . . . . . .

86

5

wbg Drerup / p. 6 / 29.6.2020

Inhalt

Vanessa Albus Der Stachel der Melancholie – Philosophische Bildung in pandemischen Zeiten . . . . .

96

Gottfried Schweiger Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Caroline Teschmer / Katrin Lohse Vom Hörsaal ins Kinderzimmer Ethisch-theologische Überlegungen zur Familie als Zufluchtsort in Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Krassimir Stojanov COVID-19 als Bildungsherausforderung – Gefahren und (vertane) Chancen . . . . . . . . . . . . . 132 Kirsten Meyer Schule und Chancengleichheit: Lehren aus der COVID-19-Pandemie . . . . . . . . . . . 143 Uta Hauck-Thum Schulschließung – eine Chance für die Grundschule? . . 154 Cyril Brandt & Johannes Drerup Bildung in humanitären Krisen: Zu den globalen Folgen von COVID-19 . . . . . . . . . . 161

6

wbg Drerup / p. 7 / 29.6.2020

Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie: Einleitung Johannes Drerup und Gottfried Schweiger

Die COVID-19-Pandemie hat unseren Alltag innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Das soziale und wirtschaftliche Leben wurde auf ein Minimum reduziert, Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Hochschulen wurden geschlossen. Die Familie ist dadurch (wieder) zum zentralen Lernund Lehrort geworden, zum räumlichen Mittelpunkt des beruflichen und sozialen Lebens vieler Menschen. Das stellt Familien und die Bildungseinrichtungen vor besondere Herausforderungen. Eltern müssen Homeschooling, Kinderbetreuung und Home Office unter einen Hut bringen 1. Von der Hilfe durch Großeltern und andere Verwandte, die nicht im selben Haushalt wohnen, wird mit guten Gründen abgeraten. Lehrer*innen stehen unter dem Druck, oft ohne medientechnologische Ausbildung und ohne Vorlaufzeit Lernmaterialen neu zu planen und zur Verfügung zu stellen. Die technischen Mittel dafür sind aber nicht in allen Schulen und auch nicht in allen Familien ausreichend vorhanden. Es ist daher zu erwarten, dass ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheiten sich in Folge der Krise vergrößern und verfestigen. Die Situation in manchen Familien ist prekär. Eltern wurden arbeitslos oder in Kurzarbeit geschickt und kämpfen nun mit Zukunftsängs7

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Johannes Drerup und Gottfried Schweiger

ten. Gewalt gegen Frauen und Kinder, so eine oftmals geäußerte Befürchtung, nimmt in Familien zu und das in einer Zeit, wo der Kontakt zu Vertrauenspersonen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen reduziert oder gänzlich eingestellt wurde. Die kurzen Essays und Stellungnahmen in diesem Band beschäftigen sich mit dem Themenfeld Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand, mit dem sich in Folge der COVID-19Pandemie Bildungs- und Sozialsysteme weltweit konfrontiert sehen. Es sind in diesem Kontext selbstverständlich keine Patentrezepte und auch nur in seltenen Fällen Handlungsempfehlungen zu erwarten. Selten, so scheint es, waren die Grenzen unseres Wissens und auch die Probleme im Umgang mit Nichtwissen größer als heute und selten war es schwieriger, auch nur halbwegs empirisch informierte Zeitdiagnosen vorzulegen. „So viel Wissen“, so Jürgen Habermas, „über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“ 2. So können derzeit viele der anstehenden relevanten normativen Fragen z. B. bezüglich der Abwägung von Gütern und Prinzipien ohne empirisch hinreichend abgesicherte Diagnosen und Prognosen der Folgen von (bildungs-)politischen Entscheidungen kaum bzw. nur sehr schwer angemessen beantwortet werden. Auch deshalb ist Skepsis geboten bezüglich prätentiösen, zeitdiagnostisch ambitionierten Deutungen, deren Fallstricke und Risiken auch in teilweise ressentimentgeladenen öffentlichen Äußerungen von Philosoph*innen festzustellen sind 3, die gegenwärtige Zustände nur als Bestätigung ihrer vorgefassten kulturkritischen Vorurteile deuten. Insbesondere aus historischer Perspektive scheint es zudem eher unplausibel und voreilig, anzunehmen, dass wir es heute mit einer historischen Singularität zu tun haben 4, und es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob die Pandemie tatsächlich als epochale weltgeschichtliche Zäsur zu deuten ist. Zugleich kann und sollte man, trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber zeitdiagnostischen Schnellschüssen, dazu beitragen, sich abzeichnende Problemvorgaben und -felder systematisch zu bearbeiten 5, und 8

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Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand

Vorschläge machen, wie die Ereignisse aus wissenschaftlicher und philosophischer Sicht zu beschreiben und einzuordnen sind. Die derzeit diagnostizierte Krise 6, die weniger als Krise im Singular, sondern eher als Konglomerat von ökonomischen, politischen und sozialen Krisen zu verstehen ist, wirft unweigerlich auch Fragen nach der angemessenen Gestaltung, gesellschaftlichen Funktion und Rechtfertigung von Erziehung und Bildung auf und lässt uns anders und neu auf tradierte Probleme blicken. Bei allen mehr oder weniger begründeten und berechtigten Befürchtungen und Spekulationen 7 über die Auswirkungen der aktuellen Krisen darf nicht aus dem Blick geraten, dass wir es in vielen Fällen nicht so sehr mit radikal neuen Problemen, sondern eher mit Problemkontinuitäten zu tun haben, die sich im Ausnahmezustand – ein Begriff mit politisch fragwürdigen Konnotationen, die auf seine Prägung und Verwendung durch Carl Schmitt zurückzuführen sind 8 – auf spezifische Art und Weise manifestieren. So zeigen gerade in der aktuellen Krisensituation rechtspopulistische und -autoritäre Politiker*innen aus der Sicht ihrer Kritiker oftmals deutlicher ihr ‚wahres Gesicht‘, wenn sie den Ausnahmezustand und die damit verbundenen Ängste für die Durchsetzung der eigenen Agenda nutzen, rassistische Vorurteile bedienen – auch das ist historisch nichts Neues 9 – und aus politischem Kalkül geballte Irrationalitäten unter das ‚Volk‘ bringen, das zu vertreten, sie advokatorisch beanspruchen. So schien der brasilianische Präsident Bolsonaro die Debatte über das Virus als eine Art Witz abtun zu wollen – ‚eine kleine Erkältung‘ 10 –, Vertreter*innen der hindunationalistischen BJP – und das ist leider kein Witz – empfahlen den indischen Bürger*innen als probates Mittel gegen das Virus Kuhurin zu trinken 11 und Trump hatte bekanntlich die Idee, dass man sich ggf. Desinfektionsmittel spritzen könne. Diese real-satirisch anmutenden Äußerungen, die jedoch ebenso wie derzeit kursierende Verschwörungstheorien reale politische Folgen haben 12, sind nicht nur blanker Hohn für die Opfer der Pandemie, sie zeigen auch an, vor welchen Problemen 9

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Johannes Drerup und Gottfried Schweiger

und Herausforderungen liberale Demokratien im Allgemeinen und (politische) Bildung im Besonderen vor, nach und während des Ausnahmezustands stehen. In jedem Fall scheinen diese Entwicklungen im Umgang mit dem Virus eine Sichtweise zu stützen, die Odo Marquard – Carl Schmitts Ausführungen zum Ausnahmezustand souverän persiflierend – auf die Sentenz gebracht hat: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“ 13. Die kurzen Essays in diesem Band entwickeln unterschiedliche Perspektiven auf philosophisch relevante Probleme und Fragen einer Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Zu den von Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen diskutierten Fragen gehören u. a. die folgenden: Wie lassen sich die pädagogischen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise angemessen historisch einordnen und kontextualisieren (hierzu der Beitrag von Oelkers in diesem Band)? Welche Herausforderungen stellen sich Familien in der Krise und wie kann ihnen bei der Bewältigung geholfen werden (hierzu der Beitrag von Teschmer und Lohse)? Was kann (politische) Bildung in diesen Zeiten bedeuten, kann die Krise nur als Störfaktor oder auch als Chance gesehen und genutzt werden (hierzu die Beiträge von Besand, Albus, Behrens, Thein, Drerup und Giesinger)? Wie steht es mit anderen Formen der Sorgearbeit, insbesondere im Umgang mit besonders vulnerablen Gruppen (hierzu der Beitrag von Schweiger)? Welche Folgen könnte die Krise für die Beziehungen zwischen den Generationen haben? Wie können LehrerInnen auf die neuen Herausforderungen reagieren, welchen Beitrag können sie leisten, um die Zeit der Krise zu bewältigen (hierzu der Beitrag von Hauck-Thum)? Was bedeutet die Krise aus Sicht von Kindern im Kontext der sehr unterschiedlichen sozialen Lagen, in denen sie von ihren Auswirkungen betroffen sind? Wie sollte die COVID-19-Pandemie im Unterricht und in der außerschulischen Interaktion mit den Schüler*innen berücksichtigt werden (hierzu der Beitrag von Stojanov)? Wie verändern sich die tradierten pädagogische Alltags- und Interaktionskulturen 14 und neuen digitalen 10

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Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand

Bildungswelten im Rahmen der Krise und in Folge der Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird? Welche Konstruktionen und Bilder von Kindern und Kindheit – etwa als potentielle ‚superspreader‘ oder harmlose Fürsorgeempfänger, als selbstbestimmte Akteure und Konstrukteure der eigenen Lebenswelt oder als passive Adressaten pädagogischer Interventionen kursieren in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte? Wie sind die aktuellen Entwicklungen aus Sicht der Debatte über Bildungsgerechtigkeit zu bewerten (hierzu der Beitrag von Meyer)? Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich im Kontext von unterschiedlichen Bildungssystemen (hierzu der Beitrag von Brandt und Drerup)? Was können wir – ganz grundsätzlich – aus den gesellschaftlichen Reaktionen auf Covid 19 und der Art und Weise, wie diese in der Debatte thematisiert werden, über den gegenwärtigen Zustand des gesellschaftlichen Zusammenlebens lernen (der Beitrag von Liebsch in diesem Band)? Als eine Form der ‚public philosophy‘ richtet sich der Band an Eltern, Lehrer*innen, Menschen, die mit Familien und Kindern arbeiten und an alle, die sich für philosophische Fragen zu den Themen Kindheit, Bildung und Erziehung interessieren. Bedanken möchten wir uns bei Tim Isenberg für die Hilfe bei der Erstellung des Bandes.

Anmerkungen 1

Hierzu: Giesinger 2020. Der Begriff des Homeschoolings, hierauf weisen Giesinger und auch Stojanov in diesem Band hin, wird in der aktuellen Debatte auf irreführende Art und Weise genutzt, da er, so Stojanov, „traditionell eigentlich eine in Deutschland nicht zulässige Alternative zur Beschulung der Kinder darstellt, bei der sie überhaupt nicht an öffentlichen oder privaten Schulen angemeldet werden, sondern ausschließlich zuhause von ihren Eltern unterrichtet werden.“ 2 Habermas 2020. 3 Hierzu: Amlinger/Nachtwey 2020.

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Johannes Drerup und Gottfried Schweiger 4

Carl 2020. So z. B. hierzu die Beiträge auf dem Blog praefaktisch: https:// www.praefaktisch.de/covid-19; sowie aus risikoethischer Perspektive: Mukerji/Mannino 2020; aus der Perspektive pädagogischer Ethik: Levinson 2020, aus bildungs- und erziehungstheoretischer Perspektive: Wigger/Platzer/Bünger 2017; und aus bildungshistorischer Perspektive: Tenorth 2020. 6 Zu Fragen eines angemessenen Umgangs mit individuellen und gesellschaftlichen Krisen: Diamond 2019. 7 Z. B. Mishra 2020; Klein 2020; sowie die Kritik von Dörre 2020. 8 Hierzu: von Lucke 2020. 9 Wiegeshoff 2020. 10 Souza 2020. 11 Ehmke 2020, 77. 12 Renner/Wehrhahn 2020. 13 Marquard, zitiert nach Lucke 2020, 96. 14 Hierzu aus kulturhistorischer Perspektive der Beitrag von Koschorke 2020. 5

Literaturverzeichnis Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Sie haben noch etwas zu sagen, in: FAZ, 27. 05. 2020, N3. Horst Carl, Pandemie und Hexenverfolgung als Versicherheitlichung, in: Soziopolis, online unter: https://www.soziopolis.de/beobach ten/gesellschaft/artikel/pandemie-und-hexenverfolgung-als-ver sicherheitlichung/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Jared Diamond, Upheavel. How Nations Cope With Crisis and Change, Allen Lane (2019). Klaus Dörre, Nicht jede Krise ist eine Chance, in: Jacobin Magazin, online unter: https://jacobin.de/artikel/klaus-dorre-corona-krisechance/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Johannes Giesinger, Wenn Fernunterricht zu Homeschooling wird: Bildungsgerechtigkeit und elterliche Pflichten, online unter: https://www.praefaktisch.de/bildung/wenn-fernunterricht-zuhomeschooling-wird-bildungsgerechtigkeit-und-elterlichepflichten/#more-1831 (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Jürgen Habermas, Jürgen Habermas über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, In: Frankfurter Rund-

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wbg Drerup / p. 13 / 29.6.2020

Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand

schau, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juer gen-habermas-coronavirus-krise-covid19-interview-13642491. html (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Naomi Klein, Screen New Deal, online unter: https://theintercept. com/2020/05/08/andrew-cuomo-eric-schmidt-coronavirus-techshock-doctrine/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Albrecht Koschorke, Aus Berührung wird Rührung, in: DIE ZEIT vom 20. 05. 2020, 52. Meira Levinson, Educational Ethics During a Pandemic, online unter: https://ethics.harvard.edu/files/center-for-ethics/files/17edu cationalethics.pdf (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020) Pankaj Mishra, Get Ready, a Bigger Disruption is Coming, online unter: https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-03-16/co ronavirus-foreshadow-s-bigger-disruptions-in-future (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020) Nikil Mukerj/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt, Stuttgart: Reclam (2020). Martina Renner/Sebastian Wehrhahn, Die neue Rechte: Corona als Tag X, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 41–44. Heinz-Elmar Tenorth, Voll digital in die pädagogische Regression, online unter: https://deutsches-schulportal.de/stimmen/voll-digitalin-die-paedagogische-regression/ (Letzter Zugriff: 17 .06 .2020) Albrecht von Lucke, Demokratie in der Bewährung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 89–99. Lothar Wigger/Barbara Platzer/Carsten Bünger, Nach FukushimaZur erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexion atomarer Katastrophen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt (2017).

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wbg Drerup / p. 14 / 29.6.2020

Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein? Burkhard Liebsch Arm kann man an vielem sein bzw. werden: an Gedanken, an Vorstellungskraft und Ideen, nicht nur an Liquidität, Ersparnissen für den Notfall und anderen Ressourcen, über die niemand von Geburt an verfügt. Es sei denn dank Anderer, die Nachkommen präventiv vor Verarmung bewahren; zumindest vor solcher Verarmung, die kein Leben in Würde mehr gestattet, das man in jüngster Zeit wiederzuentdecken beginnt, nachdem man begriffen hat, dass der virologisch und epidemiologisch angeleitete politische Kampf gegen die Corona-Pandemie nicht nur dem ‚bloßen‘ oder ‚nackten‘ Leben gelten kann. Nackt kommen wir zwar zur Welt; aber normalerweise doch so, dass wir zugleich aufgenommen werden in ein soziales Leben, das versprechen muss, den Nachkommenden Bedingungen zu ersparen, die das Leben geradezu unlebbar zu machen drohen. Zu diesen Bedingungen gehören in erster Linie Umstände entwürdigender Armut. Einer Gesellschaft, die nicht einmal Grundvoraussetzungen eines ‚lebbaren‘ Lebens gewährleistet, kann man nur ein Armutszeugnis ausstellen, was auch immer man in ihr an Werten und Normen im Munde führt von der Gerechtigkeit über das Gute bis hin zur menschlichen Würde, die zur puren Ideologie zu degenerieren droht, wenn sie nur auf dem Papier einer Verfassung steht. Deshalb ist nach konkreten Bedingungen eines würdigen Lebens zu verlangen und zu vermeiden, Leben und Würde auf abstrakte Weise gegeneinander auszuspielen, wie es gegenwärtig oft geschieht. 14

wbg Drerup / p. 15 / 29.6.2020

Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?

Stehen nun diese Bedingungen gegenwärtig infolge der Corona-Krise auf dem Spiel, insofern sie einen globalen Ausnahmezustand heraufbeschwört, in den auch pädagogische Institutionen zu geraten drohen? 1 Im Umgang mit diesem Begriff ist besondere Vorsicht angebracht. Nicht nur ruft er eine hochproblematische politische Theorie auf den Plan, derzufolge der Ausnahmezustand nur die Souveränität eines ‚Führers‘ beweist, der ihn eigenmächtig erklären kann. Er zieht auch leicht Nivellierungen nach sich, wenn nicht gefragt wird, wovon dieser ‚Zustand‘ jeweils die ‚Ausnahme‘ sein soll und wie er wen betrifft. Leben etwa die einen ständig in einem entwürdigenden Ausnahmezustand, während die anderen allenfalls vorübergehend eine Irritation ihres weitgehend normalisierten Lebens erfahren, in dem bereits stärkerer Schneefall ausreicht, um einen angeblich ‚chaotischen‘ Ausnahmezustand (Verkehrsinfarkt etc.) heraufzubeschwören? Wird dieser Zustand stets ‚erklärt‘ oder gerät man unter ‚unnormalen‘ Umständen in ihn herein – gegebenenfalls mit dem Effekt, dass man sich an ihn gewöhnt, sodass er zur ‚neuen Normalität‘ werden kann? Können unterschiedlich gelagerte Ausnahmesituationen und Normalitäten auf diese Weise gewissermaßen ihre Vorzeichen vertauschen oder ununterscheidbar werden? Diese Fragen beziehen sich nicht zuletzt darauf, in welcher Situation wir uns gegenwärtig überhaupt befinden, wer ‚wir‘ ist und wen diese Situation betrifft: jeden Menschen, die Bewohner des sog. Westens, die Europäer, die BürgerInnen der BRD allgemein oder speziell diejenigen, die im Rahmen dieses Gemeinwesens so gut wie nie ‚gesehen‘ oder ‚gehört‘ werden: Obdachlose, Alte, besonders Gefährdete, deren Immunsystem geschwächt ist, Kinder sowie anscheinend „Systemrelevante“, aber normalerweise wie jene, die sich nun mit ihrer „Irrelevanz“ konfrontiert sehen, geradezu politisch Unsichtbare – sei es hier, sei es weltweit. Schon der oft unwidersprochen durchgehende Befund, die aktuelle Pandemie „herrsche“ derzeit global und infolgedessen 15

wbg Drerup / p. 16 / 29.6.2020

Burkhard Liebsch

überall gleichermaßen virulent, ist empirisch falsch. Nicht weniger anfechtbar ist der Übergang von diesem Befund zur Statuierung eines allgemeinen Ausnahmezustands, der unlängst auch den ganzen Komplex erfasst haben soll, den Pädagogen als „Bildung und Erziehung“ bezeichnen – von dem manche behaupten, v. a. in vernachlässigten Schulen habe längst vor der gegenwärtigen Krise ein untragbarer Ausnahmezustand geherrscht. In den failed states Afrikas und des Nahen Ostens, in den Flüchtlingslagern auf den ägäischen Inseln, in Italien und Deutschland liegen wiederum gewiss ganz verschiedene ‚Ausnahmezustände‘ vor. Bei uns beurteilen ihn Zukunftsforscher in diversen Szenarien insoweit als harmlos, dass eine „dauerhafte Depression“ nicht zu befürchten steht, wie sie meinen 2. Was sollte also einer Rückkehr zum status quo ante im Wege stehen? Zu diesem Zweck werden allerdings ökonomische Mittel in „unvorstellbaren“ Größenordnungen aufgewandt, wie es bei Wirtschaftsfachleuten heißt, die beteuern, diese Praxis sei keinesfalls über einige Wochen hinaus fortsetzbar 3. Droht unserem Staat, der EU oder gar der Weltwirtschaft danach ein finaler (apokalyptischer) Ausnahmezustand? Auch in diesem Fall würden wir aber doch weiter leben bzw. „existieren“, wie der Literaturwissenschaftler Harrison mit Heidegger sagt. Merken wir nicht, dass uns gegenwärtig „die Welt […] abhanden“ kommt? Beginnen wir nicht „in Angst“ zu „schweben“ und uns selbst zu verlieren? 4 – fragt er unter Verweis auf Texte des Philosophen, die den beschriebenen Zustand gerade als einen ‚normalen‘, nämlich in der menschlichen Existenz selbst angelegten auszugeben scheinen, ohne eklatant ungleichen Bedingungen des In-der-Welt-seins gerecht zu werden. Andere, u. a. der Papst und der amtierende Bundespräsident, sprechen ebenfalls allgemein von „unserer Verwundbarkeit“, über die wir uns in der abwegigen Meinung hinweggetäuscht hätten, „dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden“ 5. Steinmeier schlägt in die gleiche Kerbe: „Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind.“ Aber die Welt werde bald „eine andere 16

wbg Drerup / p. 17 / 29.6.2020

Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?

sein“ 6 – vorausgesetzt, die Mitbürger solidarisieren sich mit ihren europäischen Nachbarn, überwinden Angst, Misstrauen und Rücksichtslosigkeit nach der Krise. Ein Soziologe will es besser wissen: „Keine Weltverbesserung! Aber eine Rückkehr zur Normalität“ sei zu erwarten 7. Arundhati Roy erscheint genau diese Aussicht als der eigentliche worst case: das Weitermachen mit jener „Weltvernichtungsmaschine, die wir für uns gebaut haben“ 8. Tatsächlich spüren „besonders vulnerable Gruppen“, die wieder andere jüngst entdeckt haben wollen, die Außerkraftsetzung noch des Wenigen, worauf sie sich glaubten bislang verlassen zu können, in einer sich dramatisch verändernden politisch-ökonomischen Wirklichkeit, die durch unkontrolliertes Bevölkerungswachstum, unerhörte Steigerung ökonomischer und kommunikativer Interdependenz und deren verheerende ökologische Folgen gewiss nur grob ‚global‘ zu kennzeichnen ist. Diese Wirklichkeit lässt „auch nur halbwegs empirisch informierte Zeitdiagnosen“ als außerordentlich schwierig erscheinen 9. Zugleich sind wir Zeugen einer „Weltpremiere“ wissenschaftlicher Politikberatung, wie Schellnhuber, der Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, feststellt 10. Dabei haben wir es allerdings nicht nur mit Versuchen einer möglichst raschen Renormalisierung destabilisierter Gesellschaften, sondern auch mit irritierender Erinnerung an eine massenhafte Sterblichkeit zu tun, die viele in Boccaccios Decamerone, in Defoes Die Pest zu London, in Manzonis Klassiker Die Brautleute oder auch in Camus’ Roman Die Pest meinen treffend als Triumph des Schwarzen Todes beschrieben zu finden. „In Kenntnis der langen Seuchengeschichte des Homo sapiens“ glaubt Schellnhuber jedoch, dass wir allen Grund zu Optimismus haben. Es handle sich eben nicht mehr um „das Ende der Welt“, als das manche Zeitgenossen die 1347 auf genuesischen Handelsschiffen nach Europa eingeschleppte Pest empfanden. Zumindest im Westen ist man heute keineswegs auch nur annährend so verwundbar, wie es die Menschen in im Spätmittelalter waren. Sowohl der ärztlichen Diagnostik 17

wbg Drerup / p. 18 / 29.6.2020

Burkhard Liebsch

(wenn sie nicht wie in China durch einen autoritären Staatsapparat unterdrückt wird) als auch der Therapie stehen heute nicht zuletzt dank international vernetzter Forschung und einer Politik, die sich nicht populistisch über wissenschaftlichen Rat erhebt, ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung. Keineswegs aber überall auf der Welt in gleicher Weise. Die im Anthropozän vom Schicksal zur gemeinsamen Herausforderung mutierte Seuche schlägt jeweils vor Ort ganz unterschiedlich durch. Während aus verseuchten Metropolen geflohene Eliten „gutgelaunte Durchhalteparolen von ihren Privatinseln versenden“, bleiben andere sich selbst überlassen und mit Infizierten scheinbar ähnlich eingeschlossen, wie man es einst mit jenen armen Seelen und ihren Angehörigen gemacht hat, die dem Schwarzen Tod zum Opfer gefallen sind. Ist uns so das Mittelalter doch noch nahe, allen medizinischen Fortschritten zum Trotz? Von „klassenloser Solidarität“ sind wir jedenfalls weit entfernt 11. Muss infolgedessen eine umfassende Renaturalisierung der menschlichen Gattung triumphieren, die uns nichts anderes lehren würde, als dass ‚wir‘ nach wie vor massenhaft sterblich sind – unter Umständen, über die biologische Wesen entscheiden, welche uns unter jenen Bedingungen der Globalisierung im Prinzip jederzeit wieder heimsuchen können, sei es infolge von Biozönosen, sei es infolge permanenten Missbrauchs von Antibiotika, durch den man die stärksten verfügbaren Waffen gegen lebensgefährliche Erreger selbst aus der Hand gibt, nur um noch eine Weile höchst profitable Landwirtschaft betreiben zu können? Wäre es so, dann wäre der angemessene Rahmen für die Interpretation dessen, was unter dem Obertitel ‚Corona-Pandemie‘ gerade vor sich geht, nur die Naturgeschichte, von der ‚das Leben‘ profitiert, das aus dem Tod aller Lebewesen verjüngt hervorgeht, um zu neuen Ufern aufzubrechen, wie es jedem besseren Biologieunterricht zu entnehmen ist. Dazu passt scheinbar Agambens Diagnose des Ausnahmezustands, in dem wir uns seiner Meinung nach befinden: Die 18

wbg Drerup / p. 19 / 29.6.2020

Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?

„Panikwelle, die ganz Italien zum Erliegen brachte“, habe deutlich gezeigt, „dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt außer an das nackte Leben“, dem man sogar die sozialen Beziehungen zu opfern bereit sei. Agamben will uns glauben machen, auf diesen inzwischen zum Normalzustand gewordenen Ausnahmezustand wollten uns „die Regierungen“ einstimmen, um uns daran zu hindern, sich frei zu bewegen, zu versammeln und die Toten würdig zu bestatten. Ergebnis dieser Verschwörung: „Der Mitmensch wurde ausgelöscht“ und es gehe nur noch um das eigene biologische Überleben, das sich einem „ständigen Angst- und Unsicherheitszustand“ überlassen sieht 12 – in dem Wissen, rückhaltos einer gleichgültigen Naturgeschichte überantwortet zu sein. Sind Seuchen nicht ein ‚ganz normaler‘ Teil des Lebens? Davon will sich der amerikanische Optimist Pinker jedoch nicht entmutigen lassen. „Wir fahren Verluste ein, aber wir werden siegen“, lautet seine Schlagzeile. Wir – das sind in diesem Fall diejenigen, die ungezählten Anderen im eigenen Land und erst recht anderswo eines voraus haben: dass sie nicht nur einen abstrakten Anspruch auf gleiche Würde haben, sondern es offenbar auch ‚wert‘ sind, dass man ihr (krankenversichertes) Leben schützt. So zeigt sich: „Das menschliche Leben ist tragisch, und wir müssen damit fertigwerden, jeder auf seine Art und Weise“ 13; d. h.: der eine im Wohlstand, der Andere im Elend. Auch so kann der Ausnahmezustand unversehens wieder den Anschein der Normalität erwecken, wenn auch auf ‚tragische‘ Weise. Tatsächlich wird so jedoch renormalisiert, was keineswegs von sich aus einfach normal ist. Es handelt sich nicht einfach um Tatsachen, wenn behauptet wird, das (offenbar höchst vieldeutige) Leben sei eben tragisch, als auf seine biologische Verfassung reduziertes könne es nur am eigenen Überleben interessiert sein, oder als normalisiertes warte es auf die Rückkehr zu einem komfortablen status quo ante, der sich vor einer allgemein-menschlichen Verwundbarkeit möglichst fern halte, die als ‚existenzielle‘ eben auch eine Art Normalität darstellt. 19

wbg Drerup / p. 20 / 29.6.2020

Burkhard Liebsch

Man könnte noch lange so fortfahren mit einem Bericht über die Diskussionslage, die einen gemeinsamen Nenner noch der konträrsten Positionen aufweist: ihre Vertreter sehen sich durchgängig bestätigt in dem, was ihres Erachtens längst zu erwarten war – einschließlich der Wiederkehr von Seuchen unter sie heute unvermeidlich potenzierenden Bedingungen: Im Vergleich zur Zeit der Spanischen Grippe ist die Bevölkerungszahl und -dichte heute allerdings um ein Mehrfaches höher, bei gleichzeitig massiv gesteigerter Mobilität und ökonomischer Interdependenz. So kann jederzeit wie aus dem Nichts wieder ein Erreger auftauchen, der jede Gesellschaft binnen Kurzem schachmattzusetzen droht. Erst recht, wenn man sich bedingungslos auf digitale Techniken verlässt, die ganz ähnliche Gefahren heraufbeschwören: Computer-Viren können ebenfalls pandemische Infektionen auslösen. Kaum auszudenken ist, wo heutige Gesellschaften stünden, könnten sie nicht wenigstens einen Teil der Arbeit, der Verwaltung und der Kommunikation notfallmäßig digital abwickeln. Währenddessen rast „unsere Zivilisation mit (nach geologischen Maßstäben) stark überhöhter Geschwindigkeit auf eine Heißzeit zu“ 14, in der die Existenzgrundlage von Milliarden Menschen gefährdet sein dürfte. Handelt es sich hierbei nur um eine der vielen gegenwärtig grassierenden Übertreibungen, obgleich laut Sloterdijk angesichts der C-Krise für Übertreibungen gar „kein Platz mehr“ ist 15 – so als ereigne sich derzeit bereits das denkbar Schlimmste, ungeachtet der Tatsache, dass als Vergleichsgrößen neben der Spanischen Grippe mit weltweit ca. 50 Millionen Toten auch die Pestwellen des ausgehenden Mittelalters infrage kommen? Ist nicht die Behauptung, es sei gar keine Übertreibung mehr möglich, selbst wieder eine effekthascherische Übertreibung, noch dazu eine, die unüberbietbar zu sein beansprucht? Auch dieser Autor findet sich jedoch allen bedrohlichen Aussichten zum Trotz nur bestätigt in der offenbar längst gehegten Erwartung, es gehe nunmehr nur noch um eine „immunologische Risikogemeinschaft“ bis auf Weiteres Überlebender. So 20

wbg Drerup / p. 21 / 29.6.2020

Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?

schwankt man wieder zwischen der Beschwörung eines Ausnahmezustandes und dessen Normalisierung, die man umstandslos zur neuen Normalität erklärt. Nichts Neues unter der Sonne, könnte man meinen, obgleich man seit 1989, 2001 und 2008 eigentlich mit Ereignissen gut versorgt ist, die sogar als Anwärter auf den Titel eines Geschichtszeichens in Betracht kommen könnten. Die neue, von Epidemiologen tatsächlich längst erwartete, aber noch vergleichsweise harmlose Seuche zieht jedoch nicht nur die Frage nach sich, ob es dergleichen aus der Normalität der Geschichte Herausragendes vorher gegeben hat oder wieder geben wird. Sie macht durch die Antworten, die sie hervorruft, auch unsere soziale Gegenwart sichtbar. So fragt der bulgarische Poet Gospodinov, was oder wer wir sind angesichts ‚unseres‘, in globaler Hinsicht allerdings höchst unterschiedlichen Ausgesetztseins an Ereignisse wie die aktuelle Pandemie: Am Ende der Corona-Krise „werden wir ärmer, aber menschlicher sein“, wenn wir uns nur auf das Wesentliche besinnen – auf scheinbar „einfache Dinge wie: nicht zu verletzen, mitzufühlen, demütig zu sein“ 16. So kann die Gegenwartsdiagnostik ohne Weiteres auch ins Utopische umschlagen 17, das in der vielfach geforderten Besinnung auf die Frage liegt, was ‚wir‘ überhaupt zu verlieren bzw. verteidigen haben (und wer ‚wir‘ ist). In diesem Sinne sollten wir uns auf den Schutz der besonders Gefährdeten (notfalls durch cocooning) besinnen. Denn ist es nicht so, dass eine Gesellschaft, die die Schwächsten nicht effektiv schützt, ihren Namen gar nicht verdient? 18 Darf man aber zu Mitteln vorbeugender Isolation einzelner Bevölkerungsgruppen zu deren eigenem Schutz greifen? Oder ist das als paternalistische Bevormundung abzulehnen, wie Di Fabio und andere argwöhnen? Lassen sich entsprechende Antworten aus der Verfassung ablesen oder wenigstens ableiten? Sind hier vor allem oder gar allein die Juristen zuständig? Oder die Philosophen mit ihrem abgenutzten Arsenal deontologischer und utilitaristischer Argumentationsstrategien? Wo kann überhaupt angemessen zum 21

wbg Drerup / p. 22 / 29.6.2020

Burkhard Liebsch

Thema werden, wie radikal ein Kontaktverbot in das soziale Leben Sterbender und in das ihrer Angehörigen eingreift, die sie nicht mehr besuchen dürfen? Muss die Öffentlichkeit nicht die Anmaßung von ‚Experten‘ zurückweisen, in diesen Dingen fachliche Auskunft zu geben? Verfügen wir überhaupt auch nur über einen einzigen wissenschaftlichen Diskurstyp, dem man in dieser Hinsicht Vertrauen schenken dürfte? Soll man sich an Pädagogen wenden, um von ihnen auf ‚wissenschaftlicher‘ Grundlage zu erfahren, was im Verhältnis der Generationen auf dem Spiel steht? 19 Werden die primär von massiven Einschränkungen sozialen Lebens Betroffenen – von den Sterbenden bis hin zu den Alleinerziehenden, weit überwiegend Frauen – nicht tatsächlich kaum ‚gesehen‘ und ‚gehört‘ ? Ändern daran etwas erfahrungsarme, verschulte Hochschulen, die längst nicht mehr in dem Ruf stehen, wirklich noch Wissenschaft aus und von menschlicher Erfahrung zu bieten? 20 Unter der Maßgabe, ‚das Leben‘ eines jeden zu schützen, wurde es Vätern untersagt, bei der Geburt ihres Kindes zugegen zu sein, wurden Familien in allen (un-)möglichen Lebenslagen sich selbst überlassen, wurden Maßnahmen sozialer Unterstützung für besonders Gefährdete (wie täglicher Gewalt ausgesetzte Kinder) weitestgehend zurückgefahren – und all das bei verordneter Kurzarbeit mit massiv gekürztem Einkommen oder – wie v. a. im kulturellen Bereich – gleich ganz wegfallendem Arbeitsplatz. All das hat soziale Verwerfungen zur Folge, von denen sich die Öffentlichkeit nur allmählich ein gewisses Bild macht. Während Akademiker in der Sekurität ihres homeoffice ihre Gegenwartsdiagnosen anfertigen, haben Zigtausende überhaupt keine Bleibe mehr, wo sie, krank oder gesund, bleiben könnten. Selbst Tafeln mussten vielerorts ihre Notversorgung einstellen. Demzufolge wird nun gehungert. Selbst der Literaturhistoriker Harrison, der sich mit seiner „Ohnmacht des reinen Daseins“ abplagt und dabei fürchtet, er müsste „wirklich fast verrückt“ werden, wenn er nicht in der Abgeschiedenheit seines privaten Lebens das Gegenmittel des Erzählens nach dem Vorbild Boccaccios zur Verfügung hätte, 22

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Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein?

erinnert sich schließlich daran, dass nur „das Teilen einer gemeinsamen Welt“ auch „zu psychischer Stabilität und Gesundheit“ verhilft 21. Aber kann das allein auf narrativem Wege geschehen? 22 Braucht der Einzelne nicht etwas zu essen und eine Bleibe, bevor er erzählen und zuhören kann? Gewiss ist das sogenannte nackte Leben kein Lebenszweck. Aber wie kann man übersehen, dass derzeit Millionen darauf reduziert zu werden drohen? Das nackte Leben, von dem hier, anders als bei Agamben, die Rede ist, ist allerdings nicht das des Neugeborenen, sondern ein gewaltsam desozialisiertes, das einer würdigen Bleibe im Zusammenleben mit Anderen beraubt zu werden droht. Und wir sehen nun, welche Folgen es hat, dass neo-liberales Denken die Sorge um ein nachhaltig verlässliches und jedem eine würdige Bleibe versprechendes Gemeinwesen für vernachlässigbar gehalten hat. Dumpinglöhne, von denen niemand leben kann, prekäre Arbeitsverhältnisse, die nur zu Rentenansprüchen unterhalb des Sozialhilfesatzes führen, maßlos überteuerte Mieten, die vor allem zur Kapitalvermehrung der ohnehin Besitzenden dienen, ein in vielen Ländern durch Kaputtsparen und Privatisierung beschädigtes Gesundheitswesen – all das sind längst sichtbare Menetekel, die jeden hätten warnen können: Entsprechend geschwächte Gesellschaften verfügen im Krisenfall über keine ausreichende Resilienz und können am Ende auf nichts anderes mehr zurückgreifen als auf die vernachlässigte Ressource des Sozialen, namentlich auf eine Solidarität, die sich nun allerdings unter unerwarteten Bedingungen bewähren soll: im bereits zur „neuen Lebensform“ in der Corona-Krise getauften social distancing. Nachdem man jahrelang naiv begeistert ‚ins Netz gegangen‘ ist, wo man eine weitgehend derealisierte, d. h. um ihre leiblichen Dimensionen gebrachte virtuelle Existenz ausleben konnte, und obwohl man die Schulen und Universitäten ohne Rücksicht auf Verluste immer weiter digitalisieren will, sieht man sich nunmehr zu einer unerwarteten Kehrtwende gezwungen: zur Rückbesinnung auf ‚analoges‘ Leben, das weder 23

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Burkhard Liebsch

digital substituierbar noch auch nur virtuell kompensierbar ist und elementar auf die Anwesenheit Anderer angewiesen zu sein scheint, wie es in der Familie, in Nachbarschaft und Freundschaft ursprünglich evident ist. So drängt sich der Eindruck auf, als müssten wir grundlegende Formen und Dimensionen des Sozialen wieder entdecken, angefangen beim leibhaftigen Dasein als Anwesendsein, als Beim-Anderen- und Für-ihn-dasein, statt all das lediglich als eine Art Ausfallbürgschaft aufzufassen, auf die man sich erst besinnt, wenn eine weitgehend desozialisierte Ökonomie ins Stocken gerät. Schon werden Stimmen laut, die fragen, ob auf die leibhaftige Präsenz und Nähe Anderer (bspw. von PädagogInnen) nicht weitgehend verzichtet werden kann, um das Beste aus der aktuellen Notlage zu machen. Sollte sich den seit über 200 Jahren geführten Diskussionen um die Frage, was das Soziale als solches ausmacht, nichts entnehmen lassen, was dagegen spricht, so wäre auch das eine Art Armutszeugnis. Diesmal über den Ertrag all jener Diskurse, die nicht erkennen lassen, was leibhaftiges Dasein für Andere in unverzichtbarer Art und Weise ausmacht.

Burkhard Liebsch lehrt Praktische Philosophie an der RuhrUniversität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialphilosophie und Ethik. Er hat zahlreiche Bücher zu diesen Themen veröffentlicht u. a. „Europäische Ungastlichkeit und ‚identitäre‘ Vorstellungen“ (Meiner 2019) und „Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale“ (Alber 2018).

Anmerkungen 1

Vgl. das Exposé von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger, Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie. 2 Jánszky 2020.

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Rückbesinnung auf ‚analoges‘ soziales Dasein? 3

Stichweh 2020. Harrison 2020. 5 Papst Franziskus 2020. 6 Steinmeier 2020. 7 Nassehi 2020. 8 Roy 2020. 9 Vgl. Anm. 1. 10 Schellnhuber 2020. 11 Siehe Anm. 10. 12 www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronaviruswie-es-unseregesellschaft-veraendert-ld.1547093 13 Pinker 2020. 14 S. o., Anm. 10. 15 Sloterdijk 2020. 16 Gospodinow 2020. 17 Hat die Gewaltforschung nicht gerade erst gezeigt, dass wir praktisch gar keine Aussicht auf ein vergesellschaftetes Leben haben, in dem man einander nicht verletzen müsste? 18 Liebsch 2020. 19 Liebsch 2016. 20 Liebsch 2018. 21 S. o., Anm. 4. 22 Vgl. Liebsch 2008; Irigaray 2010. 4

Literaturverzeichnis Giorgio Agamben, Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben, https://nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-corona virus-wie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093. Papst Franziskus, Predigt in der Pandemie, in: Vatican News, online unter: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-03/wort laut-papstpredigt-gebet-corona-pandemie.html (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Georgi Gospodinow, Wenn wir hier rauskommen – ein Kühlschrankzettel, in: Neue Züricher Zeitung vom 14. 04. 2020. Robert Harrison, Boccaccio als Immunabwehr, in: Neue Züricher Zeitung vom 09. 04. 2020. Luce Irigaray, Welt teilen, Freiburg: Karl Alber (2010).

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Burkhard Liebsch

Sven Gabor Jánszky, Ostern entscheidet es sich: 5 Corona-Szenarien für Deutschlands Zukunft, online unter: https://www.zukunft. business/fileadmin/content/downloads/pdf/Trendanalysen/ Janszky-Trendanalyse-Zukunft_mit_Corona.pdf (Letzer Zugriff am 01. 06. 2020). Burkhard Liebsch, Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg: Karl Alber (2008). Burkhard Liebsch, In der Zwischenzeit: Spielräume menschlicher Generativität, Zug: Die Graue Edition (2016). Burkhard Liebsch, Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale, Band 2. Elemente einer Topographie des Zusammenlebens, Freiburg: Karl Alber (2018). Burkhard Liebsch, Die neue soziale Frage, in: ZEIT Online, online unter: https://www.zeit.de/kultur/2020-04/corona-krise-sozialerzusammenhalt-ausnahmezustand (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Armin Nassehi, Soziologie der Krise, in: DER SPIEGEL vom 01. 04. 2020, online unter: https://www.spiegel.de/kultur/soziologeueber-corona-ich-freue-mich-wenn-die-normalen-krisenwieder-da-sind-a-72abdc71-b2a3-4bdf-9964-c34ff33e24b8 (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Steven Pinker, Psychologie in der Krise, in: Neue Züricher Zeitung vom 11. 04. 2020. Arundhati Roy, Durch das Tor des Schreckens, in: DIE ZEIT 16 (2020), vom 09. 04. 2020. Hans-J. Schellnhuber, Seuche im Anthropozän: Die Lehren der Corona-Krise, in: FAZ vom 16. 04. 2020. Peter Sloterdijk, Für Übertreibungen ist kein Platz mehr, in: DIE ZEIT 16 (2020), vom 09. 04. 2020. Frank-Walter Steinmeier, Fernsehansprache zur Corona-Pandemie: „Wir stehen jetzt an einer Wegschneide“, online unter: https:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-WalterSteinmeier/Reden/2020/04/200411-TV-Ansprache-CoronaOstern.html (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Rudolf Stichweh, Simplifikation des Sozialen, in: FAZ vom 07. 04. 2020.

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„Not hat kein Gebot“: Fundstücke über Erziehung, Not und Unglück Jürgen Oelkers

In einer Sammlung von Sprichwörtern und Alltagsweisheiten, die Sebastian Franck 1541 veröffentlichte und von der 1560 in Frankfurt einer von verschiedenen Nachdrucken erschienen ist, wird über „Not hat kein gebot“ festgehalten: „Not hat kein feiertag. Not bricht eisen. Die not macht auch ein alt weib traben. Es ist nicht über die not/die dienet dem nähsten/vnd bricht das gesatz. Die not nennen die Philosophi fatum. Die not sucht brot/Die not wirt ein weg finden/Die not fürdert den der will/wer nicht will/den zeucht is beim haar/Die not ist über alle waffen/Die not ist manbar/vnüberwindtlich“ 1.

„Not“ war materielle Not, das Sprichwort reagiert auf Lebenserfahrung und ist als fatale Erklärung gemeint, die angesichts der Erfahrungen sofort eingeleuchtet haben muss. Die Not durchbricht immer wieder und unvorhersehbar die Sicherheiten des Alltags und lässt Glück auf Dauer nicht zu. In diesem Sinne sind Glück und Unglück untrennbar, auch wenn man sich gegen die Not auflehnen kann, aber dann Gefahr läuft, dass nichts besser wird. Die Wankelmütigkeit des Glücks war seit der Antike ein starkes Thema der Literatur, was unabhängig von bestimmten Notlagen gelten sollte und als Maxime für die Lebensführung – in diesem Sinne pädagogisch – gemeint war. Mit Sprichwörtern allein lässt sich immer auch ein Ausweg 27

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Jürgen Oelkers

denken, etwa „Not sucht brot“ und die Vorstellung, sich selbst zu helfen.: „Wann eim das wasser ins maul geht/so lernet er schwimmen“ 2. Oder auch: „Wann das eisen glüet/soll mans schmiden“ 3, also die günstige Situation nicht verpassen. Ob das aber Glück bringt, ist nicht gesagt. Zwar gilt: Es liegt alles nur am Glück, aber „das ist an Gottes bescheren“. „Beschaffen Glück“ jedoch ist „vnversaumpt“ 4 und ohne Wert 5. Das Gegenteil ist immer möglich, deshalb soll man auch nicht auf das Glück vertrauen, heisst es etwa in einem Lied des Wiener Komponisten Heinrich Finck 6. Grosse Bucherfolge im 16. Jahrhundert waren Sebastian Brants Narrenschiff (1494) und Jean Bouchets Lehrgedicht Les renards traversant les périlleuses vois des folies fiances du monde (1503) 7. In einer der deutschen Ausgaben von Den losen Füchsen dieser Welt wird im Anschluss an eine Satire über die Dekadenz der höfischen Gesellschaft das Glück angesprochen. Die Kernmetapher ist das Glücksrad des Lebens. „So ist das Glück auch so sehr wanckelmuetig vnd vnstet/das es die jenige leichtlich erhoecht/die verworffen waren/ vnd die am hoechsten auff dem Glücksrat gesessen seind/thut es sehr verachtlich vnd schentlich herab fallen“ 8.

Dass Gott imstande ist, begleitet von der Göttin Fortuna, Hohes in Niederes zu verwandeln, das Glänzende zu stürzen und das in der Nacht Verborgene hervorzuziehen, geht auf Horaz zurück 9. Und dort wird auch gesagt, wer Fortuna vorangeht, nämlich die unvermeidliche „necessitas“ 10. Was die Göttin Fortuna bewirkt, sieht nur aus menschlicher Sicht wie Willkür aus 11. Sebastian Franck zitiert „Necessitati ne dii quidem resistunt“, was sich auf Livius bezieht 12. Der Spruch ist auch bei Platon überliefert und lässt sich weiterhin bei Ovid, Aischylos oder Plutarch 13 nachweisen. „Necessitas non habet legem“ ist zu einer römischen Rechtsregel geworden und verweist auf einen Notstand, in dem das Gesetz nicht mehr anwendbar ist, da die Ordnung, aus welchem Grunde auch immer, ausser Kraft gesetzt wurde. 28

wbg Drerup / p. 29 / 29.6.2020

„Not hat kein Gebot“

Für die Christen bedeutete der Notstand (favor necessitatis) aber nicht, dass die auch die Gebote des Glaubens ausser Kraft gesetzt werden können. Sie sollen umgekehrt die Mittel sein, mit der Not fertig zu werden. Die Seele soll aus der Not zu Gott geführt werden, in der Hinsicht kennt Not nur dieses eine Gebot. Damit verbunden ist Trost. Martin Opitz fasste das 1626 in seiner Auslegung der Klagelieder des Jeremias so: „Es ist ein köstlich ding in aller noth und pein//Vertrawen auff den Herrn/vnd recht geduldig sein“. Das wird sich lohnen, denn „Gott ist nicht ein Herr der ewig zürnen kann“ 14. Die Einstellung auf Glück und Unglück gleichermassen, vorausgesetzt beides geschieht und ist kann nicht vermieden werden, hat nicht erst Petrarca zum Problem der Erziehung erhoben. In Senecas moralischen Briefen heisst es: „Nullus autem contra fortunam inexpugnabilis est“ – Gegen Schicksalsschläge muss man sich wappnen, aber für das Schicksal ist keine Mauer unüberwindlich 15. Zu Ende gedacht trifft das auch auf Tugend (virtus) zu, die als Lebensziel und Grund von Erziehung genannt wird. Sie ruht nicht einfach in sich und kennzeichnet die erhabene Seele 16. Vermutlich gerät nichts schneller ins Wanken als die sittliche Vollkommenheit, wenn Katastrophen das Leben bestimmen, die keine stoische Haltung mehr zulassen. Nicht nur, wie Seneca wollte, die „schwache Seele“ (infirmus animus), sondern jede wird erschüttert, bevor sie vom Unglück überwältigt wird, wenn und soweit sie das Unglück kommen sieht. Und nicht nur „kranke Seelen“ (animus aegrus) suchen nach Anlässen für den Schmerz 17. Die christlichen Lehren betonten schon in der Antike den Wert der Erziehung, der aber nur dann besteht, wenn die Seele mit der Taufe auf den Glauben verpflichtet wird. „Heiden“, die seit der Antike so bezeichnet werden, sind davon ausgenommen. Entsprechend wird Glück dann auch zu einer heidnischen Grösse oder zur „Glückseligkeit der Sünder“. Augustinus schreibt an seinen Freund Marcellinus von Kar29

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thago: „Nihil est infelicius felicitate peccantium, qua poenalis nutritur impunitas, et mala voluntas velut hostis interior roboratur“ 18. Diese Stelle ist mit der Autorität des Kirchenvaters an verschiedenen Stellen der christlichen Predigtliteratur zitiert worden. Der katholische Prediger und Stiftsherr Franz Heffner übersetzt die Passage so: „Nichts ist unglückseliger/als die Glückseligkeit der Sünder/indem sie ihnen vormahlet/als wollte GOTT nicht straffen/und der böse Will als ein innerlicher Feind gestärckt wird“ 19. Aber auch und gerade dem Gläubigen ist kein dauerhaftes „Glück“ beschieden, nicht nur weil er lernen muss, die „Glückseligkeit der Sünder“ zu durchschauen, sondern weil er selbst Sünder ist und bleibt. Die augustinische Natur des Menschen jedoch kann nicht das letzte Wort der Erziehung sein, die sich dann von einem fatum nicht unterscheiden liesse, was gerade Augustinus nicht wollte. Den „inneren Lehrer“ des Glaubens 20 könnte es dann nicht geben. Die Abgrenzung wird auch in einem Gespräch über das Verhältnis von Erziehung und Schicksal deutlich, das 1544 in Augsburg gedruckt wurde 21. Wenn das Fatum fromme und böse Leute macht, warum erzieht ihr dann eure Kinder zur Ehrbarkeit und Güte? Warum lasst ihr sie zur Schule gehen, damit sie etwas lernen und fromm werden? Warum bezahlt ihr mit grossen Kosten die Schulmeister? Wenn alle Dinge vergebens sind, würde das Fatum die tugendsamen und die bösen Kinder erziehen und dann wäre es nicht nötig, sie zur Schule zu schicken (Ein gesprech 1544). Aber darauf verlässt sich niemand, gerade in der „Kinderzucht“ nicht, weil sie grosse Mühen und Entbehrungen verlangt, die aber die Eltern auf sich nehmen, damit die Kinder „nit nott leiden müssen“ 22. Andererseits darf die Erziehung dann auch nicht selbst Schicksal sein. Deswegen brauchte die Reflexion der Erziehung, wie immer konträr zu den Erfahrungen von Not und Unglück, einen festen Grund. Dafür gibt es historisch zwei Optionen, einerseits die Natur und andererseits den Glauben. 30

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„Not hat kein Gebot“

Niemand kommt auf die Idee, eine Erziehung zum Glück zu fordern, wenn „Glück“ unerreichbar ist und deswegen auch das Streben nach Seelenheil keinen Erfolg haben kann. Aber „Glück“ war nicht vor Ende des 17. Jahrhunderts Erziehungsziel, zuvor ging es um den Glauben und so die Vermeidung von Schicksal. Nicht zufällig zitiert Rousseau 23 im ersten Buch des Emile einen Satz von Cicero aus den Gesprächen in Tusculum: 24 „Occupavi te, fortuna, atque cepi: omnesque aditus tuos interclusi ut ad me aspirare non posses“. „Ich habe dich gemeistert, o Schicksal, und halte dich gefangen; alle deine Zugänge halte ich verschlossen, sodass du mir nichts anhaben kannst“ 25. Unmittelbar danach steht der programmatische Satz: „Nôtre véritable étude est celle da la condition humaine“. Derjenige unter uns, der das Gute und das Böse dieses Lebens am besten zu ertragen weiss, „est à mon gré le mieux élevé“. Daraus folgt, „la véritable éducation consiste moins en preceptes qu’en exercices“ 26. Auf Übungen baut die Didaktik der ersten Erziehung im Emile auf, vorausgesetzt die gute Natur und ihre Verfügbarkeit, also die Überwindung des Lebens als Glücksrad, auf das sich keine Erziehung beziehen liesse. Andererseits ist das Leben auch kein Glücksversprechen, vielmehr soll die stoische Erziehung der Natur, die Rousseau vor Augen hat, auf die guten wie auf die bösen Seiten des Lebens vorbereiten, aber deswegen darf sie nicht selbst wechselhaft sein. „Natura non facit saltus“ war der Grundsatz für Rousseaus Pädagogik, der wie vieles im Emile antike Wurzen hat 27. Das Modell der Lebensalter wird bereits im „Manuscrit Favre“ des Emile konzipiert und geht auf Buffons Naturgeschichte der Kindheit zurück, verstanden als stufenförmige Entwicklung der Natur, der die Erziehung folgt. Nichts ist dann vor seiner Zeit möglich. Aber längst vor dem Emile war klar, dass Erziehung, die auf individuelles Leben eingehen kann, nur möglich ist, wenn ein zweiter Grundsatz befolgt wird, nämlich „nourriture passe 31

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nature“. In der französischen Moralliteratur wird nourriture körperlich wie seelisch verstanden und meistens in der Verbindung von „nourriture & instruction“ gebraucht. Weil die Folgen beherrscht und Verluste vermieden werden müssen, kommt alles darauf an, so früh wie möglich mit der Erziehung zu beginnen. Der Anfang legt den Grund für das Kommende 28, das also nicht unabhängig vom Anfang festgelegt ist und sich auch nicht selbst festlegen kann. Lockes Traktat über die Erziehung beginnt mit der Feststellung: „Mens Happiness or Misery is most part of their own making“, also weder Schicksal noch Fügung. Aber eben deswegen kommt alles auf die möglichst frühe Erziehung an. Sie hat die stärksten und dauerhaftesten Wirkungen 29. Das wird in einer Schrift über die Erziehung des Adels mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit, die 1700 in Wien erschienen ist, so gesagt: „Des premiers Jeux viennent les premieres idées; les premieres idées font les premieres pensées; les pensées font les inclinations; les inclinations les actions; des actions viennent les habitudes; l’habitude fait une coûtume, & une seconde nature, avec une necessité de bien ou mal faire, d’être serieux, & sage, ou badin, comme on s’y est accoûtumé: nourriture passe nature“ 30.

Die Natur soll den courant normal der Erziehung festlegen und letztlich auch sichern. Die gefestigte Haltung oder der habitus (ἕξιϚ) soll seit Aristoteles das Ergebnis der Erziehung sein, wenn von der Jugend an für die Richtung gesorgt ist 31. Das ist eine Normalerwartung, aber was geschieht in exzeptionellen Zeiten? Ausgeschlossen oder gar nicht erst gedacht wird, dass der Habitus zusammenbricht und das Ergebnis der Erziehung zunichte gemacht werden könnte. Gemäss dem Abbé de Saint Pierre (1728) soll „Glück“ (bonheur) das Ziel der Erziehung sein 32 und zu diesem Zweck wird das pädagogische Projekt als „perfectionner“ gedacht, was jede Form von Rückschritt oder Fatalität ausschliesst. Am Ende steht die gute oder die schlechte Erziehung, aber 32

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„Not hat kein Gebot“

beides ist nicht korrigierbar, auch deswegen wird seit Demokrit von der „zweiten Natur“ gesprochen, die die Erziehung schaffen soll. Ein Indikator für ihre Festigkeit sollte die Haltung des Menschen sein, die sich in der Krise zeigt und in der Not bewährt. Einer Predigt Friedrich Schleiermachers ist zu entnehmen, dass sich die Haltung eines Menschen gerade in der Grösse der Aufgabe zeigt. Die Predigt, überliefert durch eine Nachschrift 33, wurde im Jahre 1810 in der Berliner Dreifaltigkeitskirche gehalten, also in einer Zeit des Umbruchs. Die irdische Welt ist der „Schauplatz eines beständigen Wechsels“, der den Reiz des Neuen mit sich bringt und aber einer festen Haltung bedarf, um im Beweglichen das „Unveränderliche“ aufrecht zu erhalten 34. „Wie aber wenn der Wechsel nicht das einzelne und kleine, sondern die wichtigsten gemeinsamen Angelegenheiten der Menschen betrifft, wenn alte Ordnungen und Verfassungen untergehn, und eine neue Einrichtung der Dinge an ihre Stelle zu treten droht; wenn, was sich lange Zeit hindurch ruhig … fortentwickelt hat, plötzlich in sich selbst zerfällt“? 35

Unter „solchen Umständen“ – Durkheims Anomie – muss sich „bewähren“, „wieviel Herrschaft die Liebe zum wahren und guten über uns ausübt“, also ob sich im Zerfall der Ordnung die Erziehung bewährt. Daher sind es „auch solche Zeiten vorzüglich, in denen sich der volle Werth des Menschen zeigt, so dass jeder würdige sich von der edelsten und grössten Seite darstellen kann“. Und mehr noch: Die „schwierigsten und herrlichsten Tugenden offenbaren sich hier“ und in dem „göttlich gesinnten und handelnden Menschen entfaltet sich dann grade dasjenige, wovon aus den Schein der ungöttlich handelnde schwerlich hervorbringen kann“ 36. Am 15. November 1761, zwei Jahre nach dem „Mirakel des Hauses Brandenburg“, das ihn und seine Herrschaft rettete 37, schrieb Friedrich II. in der schlesischen Stadt Strehlen einen Text, der mit Der Stoiker überschrieben war 38. Dort heisst es: 33

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Jürgen Oelkers

„In der Welt (verschont) das Leiden selbst die Tugend nicht … und nicht die Macht … Sein Slav ist jeder, keiner frei davon. Was auch die Tugend, wie das Laster, trift, kann nur dem kleinen Geist ein Uebel sein. Was nützet kühner Muth, was Festigkeit, wenn sie dem Sturm des Missgeschicks nicht trotzt? Und dauert auch das Uebel lange Zeit – ertragbar wird es dann. Und ist es kurz – so endet es, und duldet leichter sich“ 39.

Das Heroische ist im Anschluss an Johann Joachim Winckelmann als das zentrale Merkmal des ersten grossen Zeitalters der Griechen verstanden worden und hat so im 19. Jahrhundert auch die Geschichten der Pädagogik beeinflusst. Die „heroischen Tugenden“ sollten diejenigen sein, „welche die menschliche Würdigkeit erheben“ 40. Das sollte sich unmittelbar auf die Erziehung auswirken. „Denn die Erziehung der alten war der unsrigen sehr entgegen gesetzet, und da diese, wenn sie gut seyn soll, vornemlich auf die Reinigkeit der Sitten fällt, und die Ausübung der äusseren Pflichten der Religion besorget, so war jene bedacht, das Herz und den Geist empfindlich zu machen gegen die wahre Ehre, und die Jugend zu einer männlichen grossmüthigen Tugend zu gewöhnen, welche alle kleinen Absichten, ja das Leben selbst, verachtete, wenn einer Unternehmung der Grösse ihrer Denkungs-Art nicht gemäss ausfiel. Bey uns wird die edle Ehrbegierde ersticket und der tumme Stolz genähret“ 41.

Aber die Erziehung liess sich nicht zurückverwandeln, auch wenn die Pädagogik das Heldentum von der Grösse der Aufgabe abhängig zu machen versuchte und gerade dann, wenn der Ausgang fatal war. Das spiegelte sich noch in den Heldensagen des 19. Jahrhunderts und war auch in der Militärerziehung lange präsent, aber blieb Literatur und pädagogische oder politische Rhetorik, die den wirklichen Katastrophen nie standhaften konnte. Erstaunlich ist eher die Resistenz gegenüber der Selbstkorrektur. Fragt man, wie die Erziehung sich auf Seuchen eingestellt hat, die alle Gesellschaften seit der Antike begleitet und oft auch vernichtet hat, dann findet man in den pädagogischen 34

wbg Drerup / p. 35 / 29.6.2020

„Not hat kein Gebot“

Theorien keine Antworten, auch dort nicht, wo stoische Positionen vertreten wurden. Die zweite Natur ist offenkundig ungeeignet, gegen Ansteckung zu schützen. Das Ertragen von Leiden setzt voraus, dass die Gesellschaft fortbesteht und nicht ausgerottet wird. Andererseits wurden und sollten die Kinder auch in Seuchenjahre nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden, selbst dann nicht, wenn übergeordnet eine fatale Theologie vertreten wurde. In einer Serie von fünfzehn Predigten, die von der „Schrecklichen Plage der Pestilenz“ handelten 42, betonte der Prediger Andreas Pankratius, der als Superintendent und Inspektor des Gymnasiums von Hof im Vogtland tätig war, dass es auf die Frage nach den Ursachen zweierlei Antworten gebe, die der Ärzte und die der heiligen Schrift. Beide Seiten müssen „concordirt“ werden. In der Bibel steht, dass man unter Gottes Flügeln die Pest nicht fürchten muss, auch wenn ihr links und rechts Tausende zum Opfer fallen 43. Das habe „seine natürlichen Vrsachen“, aber auch „vbernatürliche“, nämlich den Pesthauch des Teufels. Alle menschlichen Mittel werden „zu schwach“ sein, sich „in solcher gefahr zu schützen“. Was man auch unternimmt, wie man sich auch vorsieht, der Teufel „ist noch geschwinder und behender“. Deswegen helfen letztlich nur die Fittiche Gottes und der Zaun des Glaubens 44. Man kann sich gegen die Seuche wehren, aber nur wenn man sie Strafe Gottes für die Sünden akzeptiert. Und wo Gott nicht der „oberste Arzt“ ist, werden auch alle Arzneien der Medizin versagen 45. Schliesslich wer vor der Seuche flieht, versucht Gott zu entkommen 46. Noch Paracelsus hielt die Pest für medizinisch nicht behandelbar. Anders dagegen der Passauer Arzt und Humanist Johann Hildebrand 47, der 1585 einen Vorschlag für ein medizinisches Seuchenregiment vorlegte, in dem auch Präventionsmassnahmen für Kinder behandelt werden. Die Schrift ist mehrfach nachgedruckt worden. In der Ausgabe von 1607 wird grundsätzlich gefordert, dass alle, die können, vor der Seuche wei35

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chen sollten. Dazu zählen insbesondere schwangere Frauen, junge Kinder und wer sonst leicht in Gefahr kommen mag 48. Man soll sich unverzüglich auf den Weg machen an einen „Orth/wo gesundter Lufft vnd kein Infection ist“. Dabei gilt die Regel „cito, longe, tarde“ oder „weich baldt/fleucht weyt/kehr langsam wider“ 49. Das Abwarten in Sicherheit wäre so eine elementare Schutz- und Erziehungsregel. Für die, die nicht weichen können, gilt die Infektionsregel. Man steckt sich bei Konversationen, Gesellschaften und Beiwohnungen an. Deswegen soll ein jeder meiden und fliehen alle gemeinen Bäder, alle Tänze und andere grossen Versammlungen oder Zusammenkünfte vieler Menschen, weil es unmöglich ist, die Infizierten von den Gesunden abzusondern 50. Die Obrigkeit trägt die Verantwortung, dass alles unternommen wird, die Einwohner zu warnen, vermahnen und mit Ernst anzuhalten, die Orte zu meiden, wo die Pestilenz eingerissen ist 51. An den Stadttoren muss scharf kontrolliert werden, den Wirtshäusern wird der Ausschank auf den Gassen verboten und die infiltrierten Häuser werden zugesperrt 52. Alle Schulen, deutsche wie lateinische, werden geschlossen 53 und alle Wohnungen, die nicht infiziert sind, werden unter ein rigoroses Sauberkeitsgebot gestellt 54. Wenn sich im Freien Begegnungen nicht vermeiden lassen, muss streng auf Abstand geachtet werden. Beim Reden sollte man sich abwenden und jeden Kontakt auf ein Minimum begrenzen 55. Dem Seuchenregiment sind alle gleich unterworfen, Erwachsene wie Kinder, und die Eltern tragen die Verantwortung für das Verhalten ihrer Kinder. Sehr erfolgreich war das oft aber nicht. So schrieb der Hamburger Pastor und Pädagoge Johann Balthasar Schupp, der in Marburg vor der Pest fliehen musste, in einer Litanei: „Zu Zeiten der Pestilentz gehet es traurig her. Auff einen Tag werden wol zehen/zwanzig begraben/sonderlich in grossen Städten. Die Leute fliehen einander. Die Eltern wollen nicht gern zu ihren Kindern, die Kinder wollen in solchem Zustand nicht gern zu

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ihren Eltern kommen. Ach so behüte uns doch für der schädlichen Pestilentz“ 56.

Von einer systematischen Gesundheitserziehung wie 19. Jahrhundert war man ebenso weit entfernt, wie von einem wirklichen Verständnis der Krankheit. Sie verlor ihren Schrecken erst mit der medizinischen Aufklärung und der wirksamen Seuchenbekämpfung, wobei es lange so schien, als könnten Seuchen generell „ausgerottet“ werden. Pandemien lassen sich nicht pädagogisch antizipieren und so bleibt nur die Unterstellung der Erziehung unter das jeweilige Seuchenregime. Aber ebenso ist die Verpflichtung auf Vorsorge ein pädagogisches Anliegen, das mit den Hygienebewegungen und den Impfkampagnen zur Volkserziehung gemacht wurde. In der Theorie finden sich davon kaum Spuren. Doch Not kennt immer ein pädagogisches Gebot, nämlich den Schutz der Kinder.

Jürgen Oelkers ist Professor (em.) für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Pädagogik“ sowie Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Reformpädagogik und Schulreform. Zudem ist er Mitglied des Fachhochschulrates des Kantons Zürich und hat verschiedene Expertisen zur Bildungspolitik vorgelegt.

Anmerkungen 1

Sprichwoerter 1560, 143b/144. Ebd., 221. 3 Ebd. 4 Ohne Saum. 5 Ebd., 221b. 6 Teil der Sammlung Schöne auszerlesene lieder (1536). Heinrich Finck (1444/45–1527) war Kapellmeister an verschiedenen europäischen Höfen. 2

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Acht französische Ausgaben bis 1585. Das Buch sollte fälschlicherweise Sebastian Brant zugeschrieben werden (Brown 1995, 20 f.). 8 Von den losen füchsen 1546, Ende VI. Capitel. 9 Oden Erstes Buch, 34. 10 Oden Erstes Buch, 35. 11 Die griechische Quelle von die „Not hat kein Gebot“ ist wohl ein Zitat des Lyrikers Simonides von Keos: Ἀνάγκᾳ δ᾽ οὐδὲ θεοὶ μάχονται. „Selbst die Götter kämpfen nicht mit der Notwendigkeit.“ 12 Livius, Ab urbe condita 9. Buch 4, 16. 13 Plutarch, Demetr. 45. 14 Die Klage-Lieder 1626, drittes Klage-Lied. 15 Seneca 1984, 72/73. 16 Ebd., 78–82. 17 Ebd., 82/83. 18 Augustinus Epistulae 138, n. 14. 19 Heffner 1698, 277. 20 De magistro 11, 38. 21 Die lateinische Fassung Dialogus de fato et fortuna (1544), stammt von dem katholischen Humanisten und Gymnasialdirektor Hieronymus Ziegler (um 1514–1562) in Kooperation mit dem Zisterzienser Johannes Beck (Pistorius) (1516–1562), der auch für die Übersetzung sorgte. Beck wurde später Abt von Ebrach. 22 Ebd. 23 1969, 252. 24 Das Zitat übernimmt Rousseau von Montaigne (Essais II, 2). 25 Cicero Tusc. 5,9. 26 Ebd. 27 Die Quelle ist Aristoteles’ Theorie der Entwicklung der Tiere. Rousseau folgt Carl von Linné. 28 Omnia principiis, inquit, inesse solent: Ein jeder Anfang zeichnet die Spur des Verlaufs (Ovid fast. 1, 178). 29 Locke 1693, 1–2. 30 De l’éducation 1700, 62. 31 Eth. Nik. II/1. 32 Die Idee geht neben Locke auch auf Jean Pierre Crousaz und seinen Traktat über Erziehung von 1722 zurück. 33 Besorgt durch Karl Ernst Georg Matthisson, der seit 1839 als Direktor des Königlichen Gymnasiums in Brieg (Schlesien) tätig war. 34 Schleiermacher 1834, 510. 35 Ebd., 510/511.

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Ebd., 511. Nach der Schlacht von Kunersdorf am 12. August 1759, in der die preussischen Truppen vernichtend geschlagen wurden, verzichtete die russisch-österreichische Armee auf einen Vormarsch Richtung Berlin. 38 Hinterlassene Werke 1788, 259–270. 39 Ebd., 267. 40 Versuch 1766, 13. 41 Ebd. 42 Die Schrift gehört zu den zahlreichen Kommentaren, die nach der verheerenden Pestepidemie von 1348/1349 verfasst wurden (Sudhoff 1925). 43 Psalm 91, 1–7. 44 Pangratius 1577, Erste Predigt. 45 Ebd., sechste Predigt. 46 Ebd., siebte Predigt. 47 Johann Hildebrand (Hiltprant) war von 1580/81 bis 1607 Stadtphysicus von Passau. 48 Hildbrand 1607, 5. 49 Ebd., 5–6. 50 Ebd., 7–8. 51 Ebd., 17. 52 Ebd., 18–19. 53 Ebd., 19. 54 Ebd., 27–28. 55 Ebd., 45–46. 56 Schupp 1682, 712. 37

Literaturverzeichnis Abbé de Saint Pierre, Projet pour perfectionner l’éducation, Paris: Chez Briasson (1728). De l’éducation, De l’éducation de la noblesse dans les moeurs, dans le exercices, et dans les belles lettres par maniere de jeu, suivant la methode, et l’usage, des peuples les plus scavans, et les mieux policez du monde, tant anciens que moderne … Vienne en Aûtriche: Chez Jean Van Ghelen (1700). Die Klage-Lieder, Die Klage-Lieder Jeremia; Poetisch gesetzt Durch Martin Opitzen; sampt noch andereren seinen newen gedichten. Görlitz: Johann Rhambaw (1626).

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Ein gesprech, Ein gesprech vom Glück vnd ewiger ordnung/oder schickung/das man Fatum nennet … Augsburg: Steiner (1544). Franz Heffner, Concionator Extemporalis Continuatus. Das ist: Fortgesetzter Eilfertiger Prediger. Oder/Kurtz-verfasste Predigen … Für das einfältige Bauer- und Land-Volck … Nürnberg: Johann Christoph Lochner (1698). Johann Hildebrand, Ein sehr nutzliche Ordnung vnd Regiment/Wie man sich zu disen gefährlichen Zeiten vor der Pestilentz … hüten soll/vndd wie dieselbige zuuertreiben vnd zucuriern sey … Ingolstadt: Getruckt in der Ederischen Truckery (1607). Hinterlassene Werke, Hinterlassene Werke Friedrichs II. Königs von Preussen. Siebenter Band. Berlin: Bei Voss und Sohn, und Decker und Sohn (1788). John Locke, Some Thoughts Concerning Education. London: Printed for A. and J. Churchill (1693). Andreas Pangratius, Funffzehn Predigten Von der Schrecklichen Plage der Petilentz/Was sie sey/Woher sie komme/Vnd wie wir vns drein schicken sollen. … Hof: Mattheus Pfeilschmidt (1577). Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Complètes, éd. Bernard Gagnebin/ Marcel Raymond, tome IV: Emile. Education – Morale Botanique. Paris: Editions Gallimard (1969). Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Predigten. Erster Band. Berlin: Bei G. Reimer (1834). Johann Balthasar Schupp, Lehrreiche Schrifften/Deren sich Beydes Geist- als Weltliche/wess Standes sie auch sind/nützlich gebrauchen können. Franckfurt am Mayn: Verlags Balthasar Christoph Wust d. Ä (1684). Lucius Annaeus Seneca, Philosophische Schriften Lateinisch-Deutsch. Vierter Band: An Lucilius Briefe 70–124 (125). Lateinischer Text von François Préchac. Herausgegeben und übersetzt von Manfred Rosenbach. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1984). Sprichwoerter, Sprichwoerter/Schoene/Weise Klugreden. Darinnen Teutscher vnd anderer Spraachen … In etlich Tausent zusamen bracht. Franckfort am Meyn: Bei Christian Egenolffs Erben (1560). Versuch, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst. Der Königlichen Gross-Britannischen Gesellschaft der Wissenschaften auf der berühmten Universität zu Göttingen zugeeignet. Dresden: In der Waltherischen Hof-Buchhandlung (1766).

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Von den losen Füchsen dieser welt/gantz kurtzweilich zu lesen/vnd auch allen menschen nützlich zu wissen. Darinnen alle sündtliche laster der ietzschwebender bösen Welt erkennet werden … Franckfort: bey Herman Gylfferich (1546).

Darstellungen Cynthia L. Brown, Poets, Patrons, and Printers. Crisis of Authority in Late Medieval France. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press (1995). Walter Sudhoff, Pestschriften aus den 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“ 1348. Archiv für Geschichte der Medizin Band 17, Heft 5/6 (Dezember 1925), 242–291.

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Über den Unterschied zwischen politischer Urteilsfähigkeit, Gehorsam und staatsbürgerlicher Souveränität Politikdidaktische Beobachtung aus dem krisenbedingten gesellschaftlichen Großversuch Anja Besand

Seit ein paar Monaten ist alles anders. Die Corona-Virus-Pandemie zwingt Regierungen weltweit zu gravierenden Eingriffen in gesellschaftliche Abläufe. Schulen sind geschlossen, Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt, Freiheitrechte werden in nie dagewesener Weise beschnitten und das alles passiert quasi über Nacht. Regelungen werden im Eiltempo neu eingeführt, erlassen, verändert oder ausgesetzt und die Bürgerinnen und Bürger reagieren manchmal gutmütig, einvernehmlich, duldsam, oder auch nicht. Damit befinden wir uns – ob wir das wollen oder nicht – in einem gesellschaftlichen Großversuch, der nicht nur für Virolog*innen, sondern (ganz besonders) für Sozialwissenschaftler*innen interessant ist. Eine der vielfältigen Fragen, denen es aus dieser Perspektive lohnt nachzugehen, ist die Frage nach dem Verhältnis staatsbürgerlicher Souveränität und zivilen Gehorsams, wobei die Tauglichkeit dieser Begriffe sogleich mit in den Fokus der Aufmerksamkeit genommen werden muss. Es geht um politische Urteilsfähigkeit 42

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zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und damit um die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger sich lernend zu Herausforderungen dieses Ausmaßes und dieser Dynamik verhalten, welche Urteilsprozesse in diesem Zusammenhang sichtbar werden und wie diese Urteilsprozesse sich auf die Bereitschaft auswirken, politischen (Notstands-)Anordnungen Folge zu leisten. In diesem Beitrag möchte ich mit Blick auf gesellschaftliche Debatten um die Reaktionsweisen im Kontext der CoronaVirus-Pandemie darüber nachdenken, welche hoffnungsvollen aber auch bedenklichen Indizien sich im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen politischer Lernprozesse aus den Beobachtungen ergeben. Die Perspektive aus der und für die dieser Beitrag entwickelt wurde, ist eine fachdidaktische Perspektive – genauer eine politikdidaktische. In der politikdidaktischen Forschung beschäftigen wir uns in einer sehr grundsätzlichen Art und Weise mit der Frage, wie Bürger*innen etwas über Politik und Gesellschaft lernen, wie politische Urteile zustande kommen und politische Handlungsfähigkeit entwickelt werden kann. Unsere Forschungsperspektiven sind oft – aber nicht immer – auf die Schule bezogen, wohl wissend, dass Lernprozesse in dieser Domäne häufig außerhalb von formalen Lernprozessen zustande kommen. Die Corona-VirusPandemie stellt die Weltgesellschaft gegenwärtig vor vollkommen neue Herausforderungen. Die Neuheit dieser Herausforderungen macht Lernen notwendig. In Windeseile müssen umfassende Entscheidungen getroffen und legitimiert werden. Die Bürger*innen sind von diesen Entscheidungen unmittelbar betroffen. Sie müssen sie verstehen, beurteilen und sich zu ihnen verhalten. Diese Prozesse zu beobachten, ist aus einer politikdidaktischen Perspektive hoch aufschlussreich. Zu fragen wäre in diesem Sinne beispielsweise, ob und in welcher Weise die Beurteilung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie vom Grad der Betroffenheit von Personen beeinflusst wird? Welche Rolle Angst im Kontext der Generierung dieser Lernprozesse spielt? Wie Schulen die Herausforderun43

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gen verarbeiten? Welche Vorstellungen Kinder von der Pandemie zu entwickeln in der Lage sind, aber auch sehr grundlegend: Welche Bedeutung Lernprozesse für den Erfolg politischer Maßnahmen ganz grundsätzlich haben? Nicht jede der hier aufgeworfenen Fragen kann in diesem Beitrag beantwortet werden. Vielmehr geht es der Autorin darum, die Debatte um die Frage zu eröffnen, was sich für die politische Bildung aus der Pandemie lernen lässt. Wir beginnen mit Beobachtungen im Kontext von grundsätzlichen Gefahreneinschätzungen und deren Bearbeitung durch gesellschaftliche Kontaktbegrenzungen, zeichnen dann Strategien medialer Orientierungsbemühungen nach, um schließlich die Reaktionsweisen der Bürger*innen im Spannungsfeld zwischen Autoritätshörigkeit und Selbstbestimmung näher in den Blick zu nehmen. Diese Beobachtungen beziehen sich auf die bundesrepublikanische Bevölkerung und nehmen andere gesellschaftliche Situationen, Verarbeitungs- und Lernprozesse eher sporadisch mit in den Blick.

Vom exotischen Virus zur globalen Pandemie Bereits im späten Dezember 2019 erreichen die ersten Meldungen um eine rätselhafte Lungenerkrankung in der chinesischen Wuhanregion aufmerksame deutsche Nachrichtenrezipient*innen. Diese Nachrichten treffen aufgrund der geographischen Distanz allerdings auf eine eher geringe Resonanz. Selbst als sich Ende Januar, Anfang Februar 2020 die ersten Fälle zu einer gravierenden Epidemie verdichten, die chinesische Regierung die Krisenregion abriegelt und eine steigende Zahl von Toten gemeldet wird, zeigt sich die deutsche Bevölkerung weitgehend uninteressiert. Das Virusgeschehen und sein vermeintlicher Ausgangspunkt bestätigen eher verbreitete Vorurteile (was chinesische Menschen für merkwürdige Dinge essen, wie gedrängt sie wohnen und wie restriktiv ihrer Regierung zu handeln in der Lage ist). Mit der Formulierung „Das wäre bei uns 44

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alles gar nicht möglich“ im Kopf beobachten die Nachrichtenzuschauer*innen kopfschüttelnd das Geschehen und meinen damit die Abriegelung von Städten, die Ausrufung von Ausgangssperren und die Überwachung der Bevölkerung durch digitale Technologien. Das ändert sich auch nur geringfügig, als erste Fälle der virusverursachten Krankheit in Deutschland und hier insbesondere Bayern sichtbar werden. Schließlich bestätigt sich in diesen ersten Fällen noch immer die Vorstellung, dass die Krankheit lediglich von Chines*innen eingetragen wird. Rassistische Zwischenfälle gegenüber Menschen asiatischen Aussehens treten jetzt verstärkt auf, obwohl sich diese ersten Fälle (soweit wir das wissen) recht gut nachverfolgen, isolieren und erfolgreich eindämmen lassen. Eine veränderte Haltung entwickelt sich erst in Folge des Aufflammens der Infektion in Nordrhein-Westfalen im Kontext des dortigen Karnevals Ende Februar. Jetzt wird sichtbar, dass sich die Infektion insbesondere im Kontext von Großveranstaltungen rasend schnell verbreiten kann. Der Ort Heinsberg wird abgeriegelt. Gleichzeitig erreichen die deutsche Öffentlichkeit jetzt allerdings auch beunruhigende Nachrichten aus Norditalien und Südtirol. Insbesondere an der Beobachtung des italienischen Beispiels lernen die Deutschen, dass der Virus Europa erreicht hat und auch hier schnell außer Kontrolle geraten kann. Am 10. März und damit ungefähr zwölf Tage später werden nun auch in Deutschland in ersten Bundesländern Großveranstaltungen verboten. Am 20. März beschließen als erste Bundesländer Bayern und das Saarland Ausgangsbeschränkungen mit teils drakonischen Strafen bei Zuwiderhandlungen. 1 Die Menschen in Deutschland sind mit einer von Tag zu Tag drastischeren Folge von Veränderungen und Einschränkungen konfrontiert und verbringen die Abende zunehmend gemeinsam vor dem Fernseher, um dort die zentralen Nachrichtenformate zu verfolgen.

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Wenn es darauf ankommt – oder: Interventionsbürger*innen gibt es wirklich Nachdem die Ereignisfolge in dieser Weise kurz beschrieben wurde, wollen wir uns jetzt der Frage zuwenden, welche Lernprozesse sich in diesem Zusammenhang nachzeichnen lassen. Ein erster Lernprozess wird zum Ende in der geschilderten Ereignisfolge sehr schnell sichtbar: In der Bundesrepublik wenden sich die Menschen – nachdem die Zuschauerzahlen der öffentlich rechtlichen Fernsehsender in Deutschland über Jahre einen gravierenden Zuschauerverlust verzeichnet haben – wieder den zentralen Nachrichtenformaten zu. 2 Aber dabei bleibt es nicht. Auch wissenschaftsjournalistische Formate und Podcasts erreichen dauerhaft ein enorm großes Publikum. Besonders erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang der Podcast „Corona Update“ des Radiosenders NDR-Info, in dem der Leiter der Berliner Charité Prof. Dr. Christian Drosten nahezu ungeschnitten die virologischen Hintergründe und Erkenntnisfortschritte in der Auseinandersetzung mit dem neuartigen Corona Virus erklärt. Obwohl dieses Format weder zentral präsentiert wird noch besonders gefällig arrangiert wurde, haben bis zum 26. 3. 2020 15 Millionen Zuschauer diese Podcasts abgerufen und er ist damit eines der meist gehörten Formate zur aktuellen Krise. Aus der Perspektive politischer Bildung betrachtet sind das überaus erfreuliche Befunde. Sichtbar wird hier, dass die Bürger*innen durchaus in der Lage sind zu erkennen, wann und über welche Kanäle sie sich im Zweifelsfall seriös informieren können und müssen. Sie sind dabei offenbar sowohl bereit als auch in der Lage, anspruchsvolle wissenschaftsjournalistische Formate zu verfolgen und zu verstehen und setzen sich mit anspruchsvollen Angeboten in einer voraussetzungsvollen akademischen Sprache auseinander. Das scheint auf den ersten Blick vielleicht selbstverständlich und wenig bemerkenswert. In der sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung bestand allerdings die begründete 46

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Sorge, dass die Öffentlichkeit aufgrund der Vielfalt digitaler Kanäle in unzählige Echokammern unwiderruflich zersplittert und Kriterien zur Unterscheidung zwischen qualitativ hochwertigerer und unseriöserer Informationsvermittlung verloren gegangen sein könnten. 3 Das ist offenbar nicht der Fall. Die Bürger*innen können, wenn die Lage es erfordert, sehr schnell seriöse Informationen identifizieren und konsultieren. In der fachdidaktischen Forschung stehen zur Einordnung dieser Befunde verschiedene Bürger*innenleitbilder zur Verfügung. Diese Leitbilder sind weniger empirisch begründet als normativ gesetzt und beschreiben kontrastiv wünschenswerte Eigenschaften von Bürgerinnen und Bürgern zur Konkretisierung sinnvoller Bezugspunkte oder Zielvorstellungen in Bildungsprozessen. Wie in der politikdidaktischen Forschung üblich, ist die Frage, welche Eigenschaften die Bürger*innen (im Rahmen politischer Bildung) entwickeln sollen, umstritten. Die Vorstellungen reichen von der Ausbildung zukünftiger Aktivbürger*innen 4, die jederzeit bereit und in der Lage sind, politische Repräsentationsaufgaben zu übernehmen, über interventionistische Vorstellungen, bis hin zu moderaten Forderungen nach normativer Zurückhaltung 5 bzw. der Forderungen nach einer politischen Grundbildung für sogenannte „Normalbürger*innen“ 6. Mit Blick auf das Informationsverhalten der Bürger*innen im Kontext der Corona-Virus-Pandemie drängt sich das von Paul Ackermann geprägte Bild der politischen Interventionsbürger*innen auf. Nach Ackermann ist die Vorstellung eines dauernd engagierten und erregten „Aktivbürgers nur von einer Minderheit nachvollziehbar und damit für die politische Bildung relativ utopisch“ 7. Außerhalb politischer Krisen muss es für die Bürger*innen auch möglich sein, sich – zumindest zuweilen – von politischen Vorgängen und Informationen zurückzuziehen, solange die Bürger*innen über die kollektive Fähigkeit verfügen, sich in genau dem Moment wieder mit einem selbstbestimmten Urteil einzumischen, in dem sie von einer politischen Frage individuell oder gesamtgesellschaftlich betroffen sind. Nichts desto trotz muss diese Fähigkeit im Kon47

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text der Lernprozesse, die in diesem Beitrag in den Blick genommen werden, als eine eher basale oder sogar vorgelagerte Fähigkeit betrachtet werden.

Aktion oder Reaktion – Gehorsam oder staatsbürgerliche Souveränität? Wichtiger als die Fähigkeit zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt es sich lohnt, sich seriösen Informationen zuzuwenden, wäre die Fähigkeit, auf der Grundlage dieser Information zu selbstbestimmten Urteilen zu kommen. Im Anbetracht der Dynamik der Corona-Virus- Pandemie könnte in diesem Sinne leicht der Eindruck entstehen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich seriösen Nachrichtenformaten nur deshalb zuwenden, weil sie wissen wollen, welche Regelungen sie zukünftig zu beachten haben. Was ist ab morgen erlaubt oder verboten, welche Strafen sind bei Zuwiderhandlungen zu erwarten und wie komme ich an notwenige Ressourcen wären Fragen, mit denen die Bürger*innen als eher passive und rezeptive Zuschauer*innen vor den Fernsehgeräten sitzen könnten. Interesse an der Beantwortung eben dieser Fragen ist auch sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Gleichzeitig weisen Beobachtungen aber auch drauf hin, dass viele Menschen ihr Verhalten schon vor entsprechenden Restriktionen auf die Gefahrenlage abgestimmt haben. Der Ökonom Jens Steigmeier hat in einem Tweet am 19. 04. 20 in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass die allermeisten Menschen in Deutschland schon vor der offiziellen Verhängung der Kontaktverbote aufgehört haben, ins Restaurant zu gehen (vgl. Abb. 1). „Die Reservierungen über die Plattform opentable brachen schon Tage vorher drastisch ein – und zwar ziemlich zeitgleich zum Anstieg der Google-Suchanfragen zum Thema Corona. Für mehrere Städte in den USA gibt es ähnliche Zahlen. Sie deuten auf etwas hin, was sehr beruhigend und beunruhigend zugleich ist: Menschen halten sich auch während der Corona-Pandemie nicht nur

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an das, was ihnen ausdrücklich erlaubt oder verboten wird. Meist tun sie, was sie für richtig halten, und warten nicht auf Ansagen“. 8

Ähnliche Phänomene lassen sich in der Medizingeschichte auch schon zu früheren Zeiten identifizieren. „Der berühmte Epidemiologe John Snow identifizierte im 19. Jahrhundert eine kontaminierte Wasserpumpe, die für einen Cholera-Ausbruch in London verantwortlich war. Aber als Snow das herausfand, hatten die Menschen schon begonnen, das Wasser der Pumpe zu meiden. Sie hatten vor Snow gemerkt, dass mit der Pumpe etwas nicht stimmte“ 9. Im Hinblick auf die Frage, wie restriktiv Regelungen im Kontext der Corona-Virus-Pandemie getroffen werden müssen, werden diese Beispiele gerne angeführt. Lenz Jakobsen (2020) formuliert Ende April im Hinblick auf die Öffnung von Ladengeschäften: 49

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„Es kann also ein Akt der bürgerlichen Souveränität sein, etwas zu unterlassen, obwohl der Staat es erlaubt. Womit wir wieder in der deutschen Fußgängerzone wären. Es gibt vielleicht ein Recht auf Shopping – aber es gibt keine Pflicht dazu. Die Menschen in Deutschland können jetzt zeigen, dass sie in der Lage sind, der Anziehungskraft einer geöffneten Fußgängerzone zu widerstehen“.

Jakobsen setzt hier auf die Klugheit und „Souveränität“ der Bürger*innen, Gefahren zu erkennen und zu vermeiden. Ob der Begriff der Staatsbürgerlichen Souveränität in diesem Zusammenhang allerding klug gewählt ist, darf dabei in Frage gestellt werden. Schließlich bezieht sich der Begriff der Souveränität – außerhalb umgangssprachlicher Konventionen – in der politischen Theorie von Bodin über Hobbes (und sogar Carl Schmitt) bis hin zu Habermas immer auf die höchste Entscheidungskompetenz und die Autorisierung zur Gesetzgebung. Souveränität zeigt sich damit gerade nicht in Abwägungen, die individuellem Handeln zugrunde liegen, sondern bezieht sich immer auf kollektiv bindende Entscheidungen, die mit Sanktionsgewalt ausgestattet sind. Dass Menschen nicht einkaufen gehen oder Restaurants besuchen, obwohl sie das dürfen und dass die Bürger*innen Londons eine Pumpe vermeiden, weil viele, die diese Pumpe benutzt haben, krank geworden sind, scheint im Gegensatz dazu ein eher reflexhaftes Angstverhalten zu sein, auf das eine Gesellschaft kaum bauen kann. Auch Hunde spucken einen Leckerbissen wieder aus, wenn sie beobachten können, dass Artgenossen nach dem Konsum der Leckerei umgefallen sind. Oder – um es mit einem Beispiel zu erklären – auch im Straßenverkehr sollte man davon ausgehen können, dass die Verkehrsteilnehmer*innen ihr Verhalten so strukturieren, dass sie individuelle Gefahren vermeiden. Aber brauchen wir deshalb keine Verkehrsregeln? Die Frage ist rhetorisch gestellt. Selbstverständlich brauchen wir solche Regeln, weil das Verkehrsgeschehen nicht von allen vollständig überblickt werden kann und weil Abstimmungen an Verkehrskreuzungen zu der Frage welche/r Verkehrsteilnehmer*innen als nächstes kreuzen darf, recht unpraktisch er50

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scheinen. Besser als der Begriff der Staatsbürgerlichen Souveränität scheint der Begriff der selbstbestimmten politischen Urteilsfähigkeit zu sein. Auch er ist geeignet als Kontrapunkt zu Vorstellungen eines blinden Gehorsams zu dienen und damit sichtbar zu machen, dass Bürger*innen Politik nicht passiv ausgeliefert sind, sondern selbstbewusst und kritisch mit Politik interagieren.

Selbstbestimmte Urteilskraft im Pandemiekontext Deutschland hat (bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes) die Corona-Virus-Pandemie vergleichsweise gut bewältigt. Trotz einer hohen Zahl an offiziell registrierten Infektionen ist die Sterblichkeit hier vergleichsweise gering. Aus internationaler Perspektive betrachtet werden die guten Werte der Bundesrepublik nicht selten auf die (vermeintliche) Bereitschaft der Deutschen zu regelkonformem Verhalten zurückgeführt. So schreib der Politologe Uwe Jun in der „NZZ“ mit Blick auf die Mentalität: „Die Deutschen befolgen staatlich gesetzte Regeln stärker als manch andere Nation“ 10. Für Aussagen wie diese lassen sich bei genauerem Hinsehen allerding keine Belege entdecken. Auch in Deutschland gibt es Widerstand gegen die getroffenen Einschränkungen, auch hier betteln Eltern darum, Schulen und Kindertageseinrichtungen wieder zu öffnen und auch und gerade hier sträuben sich viele Menschen, ihr Gesicht mit einer Maske zu bedecken. Substanzieller als die Diskussion nationaler Differenzkategorien und Mentalitätsfragen scheint es in diesem Zusammenhang zu sein auf das Vorhandensein einer hohen Zahl an Intensivbetten sowie eine leistungsfähige Laborinfrastruktur hinzuweisen, mit deren Hilfe Infektionsgeschehen wenigsten ansatzweise transparent gemacht werden konnten. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika wird überdies sichtbar, wie wichtig die grundsätzliche Absicherung von Arbeitnehmer*innen im 51

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Krankheitsfall durch gesetzliche Krankenversicherungen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das sozialpolitische Instrument der Kurzarbeit und eine transparente Informationspolitik gewesen sind. Sichtbar wird hier, dass nicht blinder Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit die Menschen in Deutschland gerettet haben. Es waren die in mühsamen Debatten geretteten Reste sozialstaatlicher Politik. Umgekehrt war es auch nicht der vielzitierte Schlendrian, der in Italien und Spanien zu einer schockierend hohen Zahl von Toten geführt hat, sondern neben politischen Fehlentscheidungen in den Ländern auch eine europäische Austeritätspolitik, die zu einem Zusammenbruch sozialer Infrastruktur, gedrängten Wohnverhältnissen und Kliniksterben beigetragen hat. Diese Zusammenhänge sichtbar zu machen heißt die politische Dimension der Pandemie ernst zu nehmen. Politische Urteilsfähigkeit zeigt sich damit auch nicht darin, dass Menschen individuell auf Restaurantbesuche verzichten oder Einkäufe in der Fußgängerzone vermeiden, sondern darin, dass sie auf angemessene Regelung des öffentlichen Lebens sachkundig einwirken. Urteilsfähigkeit zeigt sich nicht, wenn Pflegekräfte auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit Applaus und Blumen erhalten, sondern in den ersthalft geführten Debatten, wie Pflegeberufe auch in Zukunft noch attraktiv und sicher erhalten werden können – um nur ein Beispiel zu nennen. Diese Debatten existieren in der Bundesrepublik – es ist allerdings keineswegs sicher, wie sie entschieden werden, wenn das alles vorbei sein wird.

Dr. Anja Besand ist Professorin für Didaktik der Politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Politischen Bildung, der Politikvermittlung, der Fachdidaktischen Lehr-/Lernforschung sowie auf der Bedeutung von Medien im Politikunterricht. Jüngste Publikation: (mit Bernd Overwien, Peter Zorn) Politische Bildung mit Gefühl (Bundeszentrale für politische Bildung 2019). 52

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Anmerkungen 1

Eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisfolge lässt sich in der FAZ über folgenden Link abrufen https://www.faz.net/aktuell/ gesellschaft/gesundheit/coronavirus/zahlen-zum-coronavirus-diepandemie-im-ueberblick-16653240.html. 2 Das große Bedürfnis nach aktuellen Informationen in Zeiten des Coronavirus treibt die Zuschauerzahlen der Nachrichtensendungen insbesondere in ARD und ZDF in die Höhe. Mit über 17 Millionen Zuschauer verdoppeln sich die Zuschauerzahlen der „Tagesschau“ Mitte März gegenüber den besten Werten aus dem Jahr 2019. Auch die „Heute“-Nachrichten im ZDF und verschiedene politische Talkformate erzielten zu dieser Zeit neue Jahresbestwerte (vgl. Heins 2020). 3 Einige Forscher*innen sprechen in diesem Zusammenhang gar von einem Verlust von Nachrichtenkompetenz (vgl. Hagen/Renatus/Obermüller 2017). 4 Vgl. Deichmann. 5 Vgl. Sander. 6 Vgl. Sutor. 7 Ackermann 2004, 95. 8 Jacoben 2020. 9 Farrar 2020, 3. 10 Juni 2020.

Literaturverzeichnis Anja Besand, Die Krise als Lerngelegenheit, in: Corona-Vorlesung, online unter: https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/stu dium/ lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit (2020). Jermey Farrar, Es werden dunkle Tage kommen, auch wenn die zweite Welle ausbleibt, in: ZEIT ONLINE, https://www.zeit.de/wissen/ gesundheit/2020–04/jeremy-farrar-pandemie-eindaemmung-coronavirus-impfstoff/seite-3 (2020), 3. Lutz Hagen/Rebecca Renatus /Anja Obermüller, Nachrichtenkompetenz durch die Schule, Studie im Auftrag der Stiftervereinigung der Presse, online unter: https://tu-dresden.de/gsw/phil/ifk/ ressourcen/dateien/news/2017/PK-Praesentation_ErgebnisseProjekt-Nachrichtenkompetenz.pdf?lang=de (2017).

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Anja Besand

David Heins, Corona Krise beschert Nachrichtensendungen hohe Zuschauerzahlen, in: Horizont online unter: https://www.hori zont. net/medien/nachrichten/tv-quoten-corona-krise-beschert-nach richtensendungen-hohe-zuschauerzahlen-181578 (2020). Lenz Jacobsen, Seuchenherd Fussgängerzone, in: ZEIT ONLINE https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/an steckungsgefahr-geschaefte-oeffnung-coronavirus-massnahmenlockerung (2020). Jürgen Kaube, Irren ist wissenschaftlich, in: FAZ, online unter: https:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-prognosen-auchvirologe-christian-drosten-kann-sich-irren-16728353.html (2020).

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Demokratie Lernen in Coronazeiten Rico Behrens

Was funktionierte in einer Krise und was nicht? Wir lernen gerade viel zu dieser Frage. Etwa, dass es wohl zu anthropologischen Grundaffekten gehört, Klopapiervorräte anzulegen, die für mehr als einen Lockdown reichen dürften. Vieles hat in Deutschland aber erstaunlich gut weiterfunktioniert, beispielsweise die Versorgung mit wichtigen Gütern, das Gesundheitssystem, die Möglichkeiten für breite Erwerbsgruppen, ihre Arbeit zeitweise in den Homeofficebereich zu verlagern. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dagegen stehen die erheblichen wirtschaftlichen Schäden für viele Selbstständige, Künstler*innen und ganze Branchen. Auch die Verlagerung des Lernens in die heimischen Küchen und Wohnzimmer hat eher schlecht funktioniert und die Probleme unserer Bildungssysteme unter einem Brennglas gebündelt. Unter der „Coronalupe“ wird deutlich, auf welche Routinen und Selbstverständlichkeiten sich solche Systeme und seine Akteure verlassen können. Welche Selbstverständlichkeiten das sein sollten, darüber gibt es sicherlich höchst unterschiedliche Ansichten, je nachdem, ob man die Perspektive als Elternteil, als Schüler*in, als Lehrerin*in, als Schulleiter*in, als Gewerkschafter*in, als Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes oder als Kultusminister*in einnimmt. Als Politikdidaktiker liegt selbstverständlich die Sicht Politischer Bildung nahe. Aber selbst hier gäbe es zahlreiche verschiedene Ansatzpunkte. Anschlussfähig an eine 55

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Rico Behrens

globalere, nicht nur rein schulfachbezogene Erörterung lässt sich hier das Konzept und der Anspruch des Demokratie Lernens anführen.

Demokratie Lernen als Kultur der Anerkennung Die demokratiebildende Funktion von Schule ist in vielen Landesverfassungen und Schulgesetzen eine prioritäre Säule schulischer Bildung. Sie soll die jungen Bürger*innen darin unterstützen, Mündigkeit in einem umfassenden Sinn zu erlangen, dabei die politische Partizipationsfähigkeit (zum Teil auch „Partizipationswilligkeit“) fördern und die demokratischen Werthaltungen stärken. Um solche hohen Ziele in einem per se nicht sehr demokratischen „System Schule“ überhaupt verwirklichen zu können, sind einige Prozesse im Blick zu behalten, die schon im Normalbetrieb Schule häufig scheitern. Um im Bild der Routinen zu bleiben, ist hierbei auf mindestens drei Voraussetzungen zurückzugreifen. Diese wurden in der Politischen Bildung von Peter Henkenborg als Voraussetzungen des Demokratie Lernens beschrieben: 1 • Emotionale Zuwendung als Ressource zur Erlangung von Selbstvertrauen • Soziale Wertschätzung als Ressource zur Erlangung von Selbstschätzung • Kognitive Achtung als Ressource zur Erlangung von Selbstachtung Was ist damit gemeint? Die oben beschrieben Partizipationsund Mündigkeitsziele lassen sich, darin sind sich eigentlich alle Expert*innen der politischen Bildung einig, nicht einfach über rein kognitives Wissen vermitteln. Schulen und Bildungseinrichtungen können in diesem Sinne nicht einfach „Lernanstalten“ sein. Sie müssen sich zu Orten der Demokratiebildung weiterentwickeln, die Erfahrungsräume für Partizipation, für Verantwortungsübernahme eröffnen, sie müssen zu Lernstätten werden, die neben fachlichen Kenntnissen auch zur Erlan56

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Demokratie Lernen in Coronazeiten

gung von ethischer und politischer Urteilskompetenz beitragen, um ein wachsendes Bürger*innenbewusstsein zu unterstützen. Dies geschieht durch Erfahrungen in Verbindung mit Reflexion. Solche reflexiven Erfahrungen vereinen dann Konzept- bzw. Deutungswissen mit emotional-motivationalen Faktoren. In den formulierten Basisvoraussetzungen des Demokratie Lernens bilden sich unterschiedliche Facetten dieser Lernerfahrungen ab. So ist emotionale Zuwendung grundlegend notwendig als Basis einer pädagogischen Beziehung, die zwischenmenschlichen und wertbasierten Deutungsaustausch erst möglich macht. Sie geht über bloße fachliche Kommunikation hinaus und schafft Vertrauen sowie Verlässlichkeit und ist auch die Basis für wachsendes Selbstvertrauen. Soziale Wertschätzung dagegen macht Schule zu einem Ort der Vermittlung wichtiger demokratischer Konzepte. Hier geht es darum, Erfahrungsräume zu öffnen, in denen Schüler*innen sich als wichtige Mitglieder einer Gemeinschaft erleben können, weil sie sind wie sie sind, weil ihre Lebensentwürfe und ihre Art der Lebensgestaltung wertvoll sind, weil es auch auf ihr Wissen und ihre Fähigkeiten ankommt. Solche Erfahrungsprozesse helfen Pluralität als ein konstitutives Moment demokratischer Gesellschaften schätzen zu lernen aber auch Selbstschätzung zu entwickeln. Gleichzeitig gilt es die Herausforderungen, die aus individuellen Lebensentwürfen entstehen aushalten zu können. Mit kognitiver Achtung wird dagegen die Erfahrung bezeichnet, dass die Schüler*innen sich als Träger*innen von Rechten erleben und in ihrem Ringen um Anerkennung den Erwachsenen im System Schule tendenziell gleichgestellt sind. Sie dürfen, soll Demokratie lernen gelingen also nicht einfach übergangen oder nur zum Schein beteiligt werden. Kognitive Achtung ist eine entscheidende Ressource für den Aufbau von Selbstachtung. Hier geht es auch um die notwendige Überzeugung und Motivation sich gleichberechtigt in das Gemeinwesen einbringen zu können. Im Folgenden sollen einige kurze Notizen zu diesen drei 57

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Rico Behrens

wichtigen Aspekten folgen, die ich mit Beobachtungen aus dem Krisenschooling verbinde. Als jemand, in dessen Haushalt zwei von drei Kindern in unterschiedlichen Schulen und Klassenstufen lernen, besteht hier eine gewisse Doppelbetroffenheit. Auf der einen Seite das Interesse und die Neugierde an bis Dato in der bundesrepublikanischen Geschichte so einmaligen Vorgängen, auf der anderen Seite als Teilnehmender ja Betroffener, dessen Familie mit den entsprechenden Herausforderungen umgehen muss.

Emotionale Zuwendung und Digitalisierung der Bildung Noch gibt es nur wenige belastbare empirische Studien zu den Prozessen des Coronaschoolings, eines wird aber doch schon sichtbar. Mit großer Wucht setzt sich der Eindruck fest, der Stand der didaktisch-methodisch genutzten digitalen Infrastruktur ist, milde ausgedrückt, basal. Da werden Emails mit fotografierten Arbeitsblättern im Anhang gesendet, da werden, schon lange vorhanden Online-Plattformen von Bildungsadministrationen und Schulen sowie Lehrkräften zum ersten Mal intensiver genutzt oder überhaupt wahrgenommen. Das Spektrum der Nutzung geht aber oft über das Herauf- und Herunterladen von Aufgabenpaketen nicht wirklich hinaus. Gleichzeitig wird deutlich, dass nicht nur die notwendigen Fähigkeiten nicht überall vorhanden sind, auch die technischen Voraussetzungen halten in vielen Fällen nicht mit den Anforderungen mit. So sind manch gut funktionierende Plattformen zwar intuitiv in der Bedienung, aber datenschutzrechtlich so bedenklich, dass eine Nutzung nicht in Frage kommt. Auf der anderen Seite gibt es rechtlich konformere Alternativen, allerdings brechen Videoverbindungen schon bei Kursgröße zusammen. Solche technischen Probleme werden sich wohl schneller lösen lassen, als die Frage, wie man digitale Tools sinnvoll und langfristig in der Bildungslandschaft integrieren soll. Es ist nicht 58

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Demokratie Lernen in Coronazeiten

so, dass hierfür keine good practice Beispiele existieren würden. Die Erfahrungen der Coronazeit lassen aber vermuten, dass in der Fläche kaum etwas davon angekommen ist. Stattdessen übernahmen Mütter und Väter vieltausendfach die Rolle von Hilfs- und Ersatzlehrer*innen. Ganze Youtubeplaylisten und Facebookpostarchive ließen sich anlegen, in denen überforderte Eltern ihrem Ärger und ihrer Verzweiflung darüber Luft machten. Sie waren nicht nur überfordert, bestimmte stoffliche Inhalte angemessen zu vermitteln, sie litten auch darunter, dass sie in einer für das gesamte familiäre System herausfordernden und auch spannungsgeladenen Zeit ihren Kindern plötzlich als verlängerter Arm der Schule gegenübertreten mussten. Dies ging oft nicht ohne Druck und Konflikte, die die Beziehungen belasteten, in einigen Fällen vielleicht auch eskalieren ließen. Unter diesen Bedingungen offenbart sich die Notwendigkeit, seitens der Schule auch die emotionalen Aspekte von Bildung weiterhin im Blick zu haben. Tragfähige Beziehungen für das gemeinsame Lernen wären notwendig, die durch Telefon-, Video- und Emailverkehr aufrechterhalten werden. Ohne auf detaillierte empirische Erkenntnisse zugreifen zu können, lässt sich bereits mutmaßen, dass dies nur wenigen Pädagog*innen gelang. Um beim Positiven zu bleiben, seien hier auch einige ermutigende Erfahrungen widergegeben. Etwa über die Grundschullehrerin, die mit jedem Kind ihrer Lerngruppe einmal in der Woche ein persönliches Videogespräch führt und sich nicht nur nach dem Befinden erkundigt, sondern eine kleine Lerneinheit einbaut. Oder der Mathelehrer in der weiterführenden Schule, der persönliches Feedback zu den letzten Matheaufgaben gibt, die hochgeladen wurden. In einzelnen Berichten geht solches Engagement gar soweit, dass Aufgabenpakete individuell auf einzelne Kinder und ihren jeweiligen Lernstand hin angelegt werden. Neben diesen positiven Berichten, gibt es aber auch andere, die wenig optimistisch stimmen und wohl eher den Normalfall von Krisenunterricht beschreiben. Allein der Ruf nach technischer Ausstattung hilft hier nicht weiter, obwohl diese die 59

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Rico Behrens

Voraussetzung gerade für bildungsbenachteiligte Gruppen darstellt. Es braucht auch geschulte und kompetente Lehrkräfte, die diese Mittel nutzen können und vor allem eine eingespielte Praxis, die in den digitalen Raum übertragen werden kann.

Soziale Wertschätzung und die Frage nach der Bedeutung von Themen In einem früheren Artikel forderte ich zusammen mit Kollge*innen, man möge sich doch schnell darauf besinnen, die Möglichkeiten der digitalen Tools sinnvoll auszuschöpfen 2. Hintergrund dafür waren Berichte vieler Eltern zu nicht enden wollenden Aufgabenlisten und gescannten Arbeitsblättern, die meist unkoordiniert aus verschiedenen Fächern zu Hause aufliefen. Unser Interesse bestand darin, zu stärker auf die Interessen von Schüler*innen hin orientierten Rahmenaufträgen zu gelangen. Diese sollten eher kleinen Projekten als Lehrbuchaufgabenlisten ähneln. In den Rückmeldungen und Diskussionen um den Artikel sind einige wichtige Aspekte von Lehrkräften vorgebracht worden. So etwa die Frage, welche Formate der Aufgabengestaltung für welche Schüler*innen wichtig sein könnten. Ob nicht Schüler*innen aus bildungsbenachteiligten Haushalten vollends überfordert wären, wenn sie sehr weitgefasste Bearbeitungs- und Aufgabenzeiträume zu bewältigen hätten. Solche Argumente sind in der Tat nicht einfach von der Hand zu weisen. Allerdings zeigt sich darin gleichzeitig ein Missverständnis, das auch von Eltern vielerorts massiv kritisiert wurde. Die Betreuung von Schüler*innen auch auf Distanz kann sich nicht auf die Bereiche „Aufgabenstellung“ und „Aufgabenabgabe“ beschränken. Sie umfasst einen kontinuierlichen Austausch über den Lernfortschritt sowie individuelle Unterstützungsnotwendigkeiten. Gerade die politische Bildung hätte hier mit ihren Prinzipien der Problem- und Konfliktorientierung nicht nur eine Nebenrolle spielen können. Was 60

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Demokratie Lernen in Coronazeiten

ließe sich nicht alles, besonders im Sekundarbereich I, über gemeinsame Gegenstände fächerübergreifend und fächerverbindend erschließen. Im Krisenschooling lastet nun aber ein weiteres Gewicht auf den Haushalten. Im Normalbetrieb nehmen Eltern nicht immer Notiz davon, aber jetzt erfahren sie zwangsläufig, wie schwierig es ist Kinder zum Bearbeiten von isolierten Aufgaben zu motivieren. In der Gestaltung des konkreten Unterrichts werden Schüler*innen nämlich meist nicht als Subjekte mit ihren Interessen und Fragen wahrgenommen, sondern eher als Objekte behandelt, die der vorgegebenen Stoffstruktur folgen müssen. Haben Schulen schon im Normalbetrieb ein Problem soziale Wertschätzung auch über die lebensweltliche Nähe der Lerngegenstände herzustellen geraten Schüler*innen unter den aktuellen Gegebenheiten vollends zu passiven Empfängern*innen. Rolf Schmiederer prägte einst den Begriff des Entfremdeten Lernens 3. In der Krise wird er wieder aktuell. Im Sinne der Schülerorientierung wären gerade die Lebensumstände und relevanten Themen die Kinder- und Jugendliche beschäftigen zu berücksichtigen. Stattdessen wird nicht selten der Druck auf die Elternhäuser erhöht, mitunter dominiert die Sorge um das Sammeln von Noten den Horizont. Soziale Wertschätzung, lässt sich über eine solche Praxis nicht vermitteln. Jetzt wäre es wichtig an Schüler*innenbedürfnisse, an lebensnahe und problemorientierte Themen anzudocken und sie zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen damit Schüler*innen wieder zu Subjekten des Bildungsprozesses werden.

Kognitive Achtung und die Frage was Schüler*innen gerade mitbestimmen können Diese Gedanken leiten nahtlos und auch nicht ganz trennscharf zum letzten Aspekt der kognitiven Anerkennung über. Schüler*innen treten momentan auch kaum als Träger originärer Rechte in Erscheinung. In vielen medialen Darstellungen 61

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Rico Behrens

kommen sie lediglich als „Verhandlungsmasse“ vor. So etwa, wenn es um die Frage geht, wann das wirtschaftliche Leben wieder anlaufen kann. Spätestens dann ist die Öffnung der Schulen als „Betreuungsanstalt“ notwendig. Auch manche Diskussion um die epidemiologische Bedeutsamkeit von Kindern und Jugendlichen für die Verbreitung des Virus trägt solche Züge. Aber auch Eltern selbst wirken hier manchmal unglücklich mit. Die Sorge um die Frage, ob das eigene Kind unter diesen Umständen genug „Lernstoff“ verinnerlicht um auf dem weiteren Schulweg bestehen zu können, kann auch als Limitierung der Rechte von Kindern- und Jugendlichen wirken. Zwar sind vereinzelt bei Entscheidungen auch Schülervertretungen gehört worden, insgesamt dürfte die Krisenzeit aber eher Gefühle der individuellen Ohnmacht und gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit bei Kindern- und Jugendlichen befördert haben. Hier muss sich möglichst schnell etwas ändern. Dazu gehört bewusst die Mitbestimmung und Bedeutung von Schülervertretungen hervorzuheben. Diese Prozesse müssen auf struktureller Ebene auch bis in die Klassensprecher*innenebene Bedeutung erlangen. Auch hier zeigt sich schnell, ob eine Schulgemeinschaft Partizipation und Beteiligung in Normalzeiten ernst genommen hat und tragfähige Routinen vorhanden sind.

Corona als Spiegel des Normalmodus Insofern wage ich die These, dass in Zeiten des Krisenschoolings aus Sicht Politischer Bildung lediglich die eingeschliffenen alltäglichen Routinen viel stärker konturiert hervortreten. Im Hinblick auf die wichtige Aufgabe von Schule ein Ort zu sein, an dem Demokratie Lernen stattfindet, sind es eher ernüchternde Einblicke, die der Krisenmodus offenlegt. Positiv gewendet, besteht aber auch die Chance, dass die momentanen Herausforderungen in Zukunft mehr Platz für die drei Basisvoraussetzungen schaffen. Den Schüler*innen wäre es zu wünschen. 62

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Demokratie Lernen in Coronazeiten

Prof. Dr. Rico Behrens ist Inhaber der Professur Politische Bildung/Didaktik der Sozialkunde an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er forscht und arbeitet seit vielen Jahren zu den Themen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus als Herausforderung für die politische Bildung sowie zum Demokratie Lernen. Als Supervisor und Moderator berät er Schulen und Bildungseinrichtungen in diesen Fragen. Nähere Informationen zur Vita finden sie hier: https:// www.ku.de/ggf/politikwissenschaft/politikwissenschaft3/team/ prof-dr-rico-behrens/

Anmerkungen 1

Vgl. Henkenborg 2014. Dort findet sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ansatz. 2 Vgl. Behrens/Breuer/Birkenhauer 2020. Hier findet sich ein Erfahrungsbericht aus den ersten zehn Tage des Krisenschoolings. 3 Vgl. Petrik 2014. Rolf Schmiederer gilt als Begründer der Schülerorientierung, die in der Gegenwart zum Prinzip der Adressatenorientierung in der Politischen Bildung erweitert wurde.

Literaturverzeichnis R. Behrens/S. Breuer/P. Birkenhauer, Lernen im Krisenmodus, in: Deutsches Schulportal, online unter: https://deutsches-schul portal.de/stimmen/schulschliessung-lernen-im-krisenmodus (2020) (Letzter Zugriff: 03. 06. 2020). P. Henkenborg, Politische Bildung als Schulprinzip, in: W. Sander (Hrsg.), Handbuch Politische Bildung, Schwalbach: Ts. (2014), 213–221. A. Petrik, (2014), Adressatenorientierung, in: W. Sander (Hrsg.), Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Ts. (2014), 241–47.

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wbg Drerup / p. 64 / 29.6.2020

„Ausnahmezustand“ und „Krise“ – Perspektiven der Demokratiebildung während und nach der Epidemie aus rechts- und sozialphilosophischer Sicht Christian Thein

Die Begriffe „Ausnahmezustand“ und „Krise“ hatten in den vergangenen Wochen und Monaten nicht nur Konjunktur, sondern sie wurden wie selbstverständlich von politischen Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern 1 sowie der medialen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht genutzt und gebraucht: zur Beschreibung oder auch Erklärung der Situation, zur Begründung und Rechtfertigung von Maßnahmen, zur Artikulation von Ängsten und Sorgen, aber auch von Hoffnungen mit Blick auf die nahe und ferne Zukunft. Doch was ist eigentlich aus philosophischer Sicht ein „Ausnahmezustand“, und was eine „Krise“? Und wie können demokratische Lern- und Bildungsprozesse durch eine Reflexion auf den Gehalt dieser Begriffe im Kontext gegenwärtiger Verfasstheit demokratischer Gesellschaften und bürgerlicher Rechtsstaaten angestoßen werden? Diesen beiden Fragen möchte dieser Beitrag im Folgenden nachgehen und Erklärungsversuche aus der Rechts- und Sozialphilosophie sowie der politischen Theorie heranziehen.

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wbg Drerup / p. 65 / 29.6.2020

„Ausnahmezustand“ und „Krise“

„Die Demokratie aber lebt vom Normalzustand“ 2 Im Normalzustand scheint eben alles mehr oder weniger ganz normal. Wer kann und in entsprechenden Verhältnissen lebt, geht seinen Freiheiten nach, die ihm als Rechtssubjekt in demokratischen Verfassungsstaaten zugesprochen werden, oder erfüllt die mit diesen einhergehenden Anforderungen an eine selbstbestimmte Lebensführung: Auf der subjektiven Seite des Rechts sorgen der Genuss der geschützten Freiheit des Privatlebens, die Mitbestimmungsmöglichkeiten qua politischer Wahl, Partizipation oder Artikulation ebenso wie die wirtschaftlichen und kulturellen Freiheiten für die Zufriedenheit der Einzelnen oder Vielen qua ihres epistemischen und sozialen Bezuges zur Gesellschaft und den Institutionen. Und wenn es so richtig gut läuft, das ökonomische Leben pulsiert, die ethischen Grundfragen geklärt sind und die Regierung bloß noch moderiert, dann gefällt nicht nur den Liberalen die Rede vom „Nachtwächterstaat“, der sich zwar unbemerkt gemacht hat, aber deshalb noch lange nicht schwach ist: „Der liberale Staat war immer so stark, wie die politische und soziale Situation und die bürgerlichen Interessen es erforderten.“ 3 Franz Neumann hatte in einem Beitrag für die Zeitschrift für Sozialforschung 1937 herausgearbeitet, dass ein solcher Rechtsstaat deshalb immer schon auf den zwei Elementen „Gewalt und Gesetz, auf Souveränität und Freiheit“ 4 beruht. Und deshalb trete notwendig neben das subjektive Recht das objektive, „das heißt das vom Souverän gesetzte oder jedenfalls der souveränen Gewalt zurechenbare Recht“ 5. Neumann spricht hier von einer Doppelbedeutung des Rechtsbegriffs, durch den ein „echter Widerspruch“, eine „Antinomie“ oder zumindest eine „Zweischneidigkeit“ zum Ausdruck komme. Diese ambivalente Bestimmung sei durch die Form des Rechts selbst gegeben und ihr entsprächen demzufolge wiederum zwei Gesetzesbegriffe, ein politischer und ein rationaler:

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wbg Drerup / p. 66 / 29.6.2020

Christian Thein

„Im politischen Sinn ist Gesetz jede Maßnahme der souveränen Gewalt ohne Rücksicht auf deren Inhalt. […] Dieser Gesetzesbegriff ist ausschließlich genetisch bestimmt. Gesetz ist voluntas und sonst nichts. […] Daneben aber steht der rationale Gesetzesbegriff, der nicht durch seinen Ursprung, sondern durch seinen Inhalt bestimmt ist. Nicht jede Maßnahme des Souveräns und nicht nur Maßnahmen des Souveräns sind Gesetz. Gesetz ist hier eine Norm, die von der Vernunft durchdringbar, dem theoretischen Verständnis offen ist, die ein ethisches Postulat enthält, häufig das der Gleichheit.“ 6

Während Neumann auf die Unterscheidung dieser Gesetzesbegriffe dringt, kann auf zwei Varianten der Darlegung ihres Zusammenhanges zurückgegriffen werden, um Aufschlüsse über das Verhältnis von Souveränität und Recht zu erlangen. Zum einen verweist Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft 1921 auf den historisch notwendigen Rationalisierungsschritt der „Einschmelzung aller anderen Verbände, welche Träger einer Rechtsbildung waren, in die eine staatliche Zwangsanstalt, welche nun für sich in Anspruch nimmt, Quelle jeglichen legitimen Rechts zu sein“ und die zugleich durch ihre formelle Art „in den Dienst der Interessen der Rechtsinteressenten, speziell auch der ökonomischen Interessen, tritt“ 7. Der vereinheitlichte staatliche Souverän als rechtsetzende, -erhaltende und -exekutierende Instanz schützt durch die Allgemeinheit und Formalität des Rechts die Menschen als Hüter und Vollstrecker ihrer ökonomischen Interessen und wird dadurch zu einem Akteur mit Sonderstatus in der politischen Ökonomie. Zum anderen steht der Souverän immer auch schon mit einem halben Bein außerhalb der geltenden Rechtsordnung, auch wenn man ihm dies im Normalzustand kaum ansieht. Denn er kann, wenn eine Krise oder Notsituation entsteht, eine Entscheidung über die Suspendierung der Verfassung insgesamt oder auch nur von Teilen ihrer Gesetzeskonvoluts treffen und diese Entscheidung über die nicht mehr nach geltendem Recht synthetisierbare Ausrufung eines „Ausnahmezustandes“ legitimieren. Darauf hat bekanntlich Carl 66

wbg Drerup / p. 67 / 29.6.2020

„Ausnahmezustand“ und „Krise“

Schmitt bereits 1922 in der Politischen Theologie mit Blick auf den Ausnahmezustand hingewiesen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ 8 Diesen Satz versteht nicht, wer ihn ausschließlich als präskriptive Willensäußerung eines angehenden NS-Juristen liest. In ihm ist vielmehr ebenso mit erklärender Kraft ausgesprochen, dass staatliches Handeln grundsätzlich immer nur „aus diesem inneren Gegensatz“ begriffen werden kann, 9 der aus der „paradoxen“ Beziehung von Souveränität und Rechtsordnung folgt 10. Die Frage nach dem Subjekt der Souveränität kann im Normalzustand demzufolge gar nicht beantwortet werden, sondern eben nur in einer Notsituation, die im geltenden Recht nicht näher beschrieben wird: „Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden. […] Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Beseitigung handelt.“ 11

Die Anwendung der skizzierten rechts- und politiktheoretischen Analysen auf die gegenwärtige globale, europäische und nationale Situation, die mal als „Corona-Ausnahmezustand“ und mal als „Corona-Krise“ bezeichnet wird, kann zu begrifflicher und sachlicher Klärung beitragen. Ein „Ausnahmezustand“ besteht grundsätzlich dann, wenn eine Souveränität – in der Regel eine handlungsfähige staatliche Exekutive oder Legislative – über einen solchen entschieden hat, vermöge eines Sprechaktes oder einer Tat. Diese Ausrufung eines Ausnahmezustandes ist zumeist Reaktion auf eine Notsituation, die durch politische (Putsch, Bürger-Krieg etc.) oder ökonomische (Rezession, Inflation etc.) Krisen hervorgerufen wird. Sie kann ebenso eine Reaktion auf eine Naturkatastrophe oder eine Epidemie bzw. Pandemie sein. Immer dient sie dazu, regelhafte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe des 67

wbg Drerup / p. 68 / 29.6.2020

Christian Thein

Normalzustandes auszusetzen, um eine neue Art der politischen Handlungsfähigkeit in der Notsituation herzustellen. Wie Carl Schmitt bemerkt, ist es in solchen Situationen der Souverän 12, der über den Ausnahmezustand entscheidet und zugleich die Kriterien für dessen Existenz und Dauer angibt. Im Falle der Corona-Pandemie beruht also die Ausrufung eines Ausnahmezustandes auf der Entscheidung von Exekutive und Legislative, den mit der Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus einhergehenden Herausforderungen, die insbesondere die Gesundheitssysteme betreffen, aktiv zu begegnen. Hintergrund bildet der Verweis auf die Kernaufgabe von Staaten mit demokratischer Verfassung, dem gesundheitlichen Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger Priorität im staatlichen Handeln vor allen anderen Aufgaben einzuräumen: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ 13 Ursprünglich als Abwehrrecht von Individuen gegen staatliche Eingriffe oder Angriffe von Dritten in die Verfassungen implementiert, tritt mit der Institutionalisierung von medizinischen Versorgungssystemen innerhalb des Rechts auf Leben „eine zweite Bedeutungskomponente hervor – die Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit […] auch durch die Bereitstellung adäquater medizinischer Versorgung“ zu schützen 14. Diesem Zwecke des Lebens- und Gesundheitsschutzes von Personen dient sodann auch das die gesetzlichen und staatlichen Pflichten zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten regelnde „Infektionsschutzgesetz“ zur Vorbeugung und Früherkennung von Infektionen mitsamt der Verhinderung ihrer Verbreitung 15. Hierzu dürfen durch einzelne behördliche Maßnahmen oder Rechtsverordnungen die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Versammlungsfreiheit, des Briefund Postgeheimnisses und der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt sowie ein berufliches Tätigkeitsverbot verhängt werden 16. In einem solchen Falle tritt der Souverän als setzende und exekutierende Instanz des objektiven Rechts auf und nimmt zumindest für einen gewissen Zeitraum Beschränkun68

wbg Drerup / p. 69 / 29.6.2020

„Ausnahmezustand“ und „Krise“

gen und Einschnitte bestimmter subjektiver Rechte auf der Grundlage einer „Einschätzungs- und Kontrollprärogative“ hinsichtlich der Verhältnismäßigkeiten jener Eingriffe vor. Es handelt sich hierbei also nicht im Sinne Schmitts und Agambens um die Entscheidung eines Souveräns über einen politischen Ausnahmezustand, der auf der durch die Rechtsform selbst nicht mehr begreifbaren Grenze zwischen dieser und dem Politischen liegt 17. Stattdessen kann die Situation als gesetzlich legale und demokratisch legitimierte Ausweitung der Befugnisse des Souveräns gegenüber den subjektiven Grundrechten als auch den üblichen komplexen mittel- und langfristigen Entscheidungsmechanismen zwischen demokratischen Instanzen aufgrund einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ 18 beschrieben werden. Entsprechend bewegen sich die rational geführten politischen und öffentlichen Diskussionen im Kern um die Frage nach erstens der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeschränkungen und zweitens den Abwägungen zwischen dem Recht auf Leben und verschiedenen anderen subjektiven Rechten 19. Jürgen Habermas und Klaus Günther haben hierzu in einem Gespräch in einer Maiausgabe der ZEIT die Frage nach dem ethischen und rechtlichen Status des in Artikel 2 des Grundgesetzes verbürgten „Rechts auf Leben und Unversehrtheit“ diskutiert. Denn ob das Lebensrecht überhaupt Element eines Abwägungsprozesses mit anderen Grundrechten sein darf hängt davon ab, ob es selbst als ein subjektives Grundrecht neben anderen oder als deren Voraussetzung sowie Explikationsbedingung im Sinne einer an die Menschenwürde gekoppelten Schutzverpflichtung des Staates angesehen wird20. Jürgen Habermas knüpft an seine Einlassungen zum Konzept der Menschenwürde aus dem Jahre 2011 21 direkt an, wenn er die Würde gerade in der Leidensfähigkeit und Schutzbedürftigkeit der sterblichen Träger von Menschenrechten verkörpert sieht: „Nach dieser Lesart geht der in Artikel 2 Absatz 2 erklärte Lebensschutz wegen seiner begrifflichen Verschränkung mit der Menschenwürde nicht in einem gesetzlich einschränkbaren 69

wbg Drerup / p. 70 / 29.6.2020

Christian Thein

Persönlichkeitsrecht auf.“ 22 Gleichzeitig enthalte, worauf Klaus Günther verweist, dieses Recht immer schon subjektive Rechtsansprüche: „Nur dann kann ihr Träger sie auch durch Erhebung einer Klage vor Gericht gegen Eingriffe (vor allem vonseiten eines willkürlich handelnden Staates) geltend machen.“ 23 Das Schutzpflichtgebot bleibt damit immer auch ein Abwehrrecht des Individuums gegen paternalistische Ausgestaltungen seines Gehalts, denn nur so kann gewahrt werden, dass die Rede vom „Lebensschutz“ nicht in einem reaktionären Sinne verstanden wird, sondern die Fragen nach dem guten Leben der Individuen wiederum an dessen Gestaltungsmöglichkeiten gekoppelt wird. Bedingung und Anlass für die sich um Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Lebensschutz einerseits und Freiheitsbeschränkung andererseits kreisenden derzeitigen Debatten ist eine Krisensituation, die durch enorme Unsicherheiten und Risiken geprägt ist. Wenn nun in den aktuellen medialen und öffentlichen Beschreibungen der Situation sehr allgemein von einer solchen Krise – zumeist im Sinne von „Coronakrise“ – gesprochen wird, so können damit mindestens die folgenden drei zu unterscheidenden Krisendimensionen gemeint sein: Erstens das Eintreten einer Krisensituation im Gesundheitssystem, die Einfluss auf den akuten Gesundheitszustand von Bürgerinnen und Bürgern hat. Zweitens die krisenhaften Auswirkungen und Folgen insbesondere des zur Eindämmung der gesundheitlichen Krisensituation verhangenen „Shut-/Lockdown“ sowohl auf das ökonomische als auch das kulturelle Leben. Drittens steht zur Debatte, ob auf verschiedenen Ebenen durch die veränderte politische Ausgangssituation eine „Krise der Demokratie“ 24 zu befürchten sei. Hier müsste je nach Entwicklung unterschieden werden, ob die sich andeutenden Krisenphänomene auf der institutionellen Ebene, der medialöffentlichen Ebene oder im Bewusstseinszustand von Teilen der Bevölkerung zu verorten sind. Eine Krise kann jedenfalls so definiert werden, dass die üblichen Rationalisierungs- und Koordinierungsmechanismen im politischen, ökonomischen und kulturellen Leben nicht 70

wbg Drerup / p. 71 / 29.6.2020

„Ausnahmezustand“ und „Krise“

mehr greifen und dadurch neue und teils existentielle Notsituationen für Institutionen, Kollektive und Individuen entstehen. Zum derzeitigen Stand, der mit der Hoffnung auf einen Übergang in einen postpandemischen Zustand verbunden ist, scheint es mir sinnvoll den Blick auf jene sozialen, ökonomischen und kulturellen Krisenphänomene zu werfen, die in der „Corona-Krise“ zwar deutlicher zutage getreten sind, jedoch im uns bekannten gesellschaftlichen „Normalzustand“ ihre Wurzeln haben: die ökologische und die soziale Krise einerseits, den grassierenden Rechtspopulismus andererseits. Gerade für demokratische Bildungsprozesse bietet die Krisensituation so auch eine Chance, denn sie kann zu gesellschaftlichen Lernprozessen führen, die in der Regel durch kognitive, moralische oder materielle Irritationen und Konflikte angestoßen werden. Darüber hinaus treten in solchen Situationen die politischen und wirtschaftlichen Grundstrukturen deutlicher zutage als im Normalzustand und können so vielperspektivisch zum Gegenstand der die Lernprozesse fundierenden Analyse werden. Während also die Demokratie vom Normalzustand lebt, wie es Albrecht von Lucke jüngst formuliert hat 25, so kann die Reflexion auf die Ursachen und Gründe von Krisen- und Ausnahmesituationen einen besonderen Beitrag zu demokratischen Lern- und Bildungsprozessen leisten. Entsprechend sollen im Folgenden aus der vorangegangenen Analyse einige Schlussfolgerungen für die Demokratiebildung gezogen werden.

„Der Ausnahmezustand verhält sich zum Recht wie die Krise zur politischen Ökonomie“ 26 Demokratiebildung kann nur gelingen, wenn sie nicht positivistisch verfährt, sondern Kontroversität zu ihrem Schlüsselprinzip erhebt 27. Gerade mit Blick auf die sich formierenden populistischen Bewegungen mit einem ausgeprägten Hang zu Verschwörungstheorien, antisemitischen Stereotypbildungen und Rassismen nimmt die demokratiebildende Aufgabe eine 71

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neue Komplexität an. Denn sie muss sich nun nicht nur an einem insbesondere in der institutionalisierten Politik- und Ökonomiedidaktik verbreiteten Positivismus abarbeiten, sondern die für sich selbst in Anspruch genommene kritische Ausrichtung der Demokratiebildung 28 deutlich abgrenzen von im Kern demokratiefeindlichen Bewegungen, die sich selbst zum einen als „alternatives“ politisches Spektrum gegen eine vorgebliche öffentliche „Meinungsdiktatur“ positionieren und zum anderen für sich reklamieren, das kritische Bewusstsein gegenüber den herrschenden Verhältnissen zu vertreten. Zu lernen, Kritik in diskursiver Form immer nur auf der Grundlage rationaler und faktenbasierter Gründe zu üben, ist sicherlich eine pädagogische und didaktische Kernaufgabe der Zukunft. Ich möchte abschließend drei Beispielen benennen, die zum Gegenstand demokratiebildender Lernprozesse werden sollten, um dieser Aufgabenbestimmung gerecht zu werden: • Eine kritische Analyse des Gebrauchs von „Kriegsmetaphern in der Coronakrise“ 29, die im politischen, öffentlichen und medialen Raum bei allen Gruppen – von der Exekutive bis hin zu Verschwörungstheoretikern – Konjunktur zu haben scheint, würde den Sinn für sprachsensible Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Varianten der politischen Rhetorik schärfen helfen. So wurde in diesem Beitrag gezeigt, dass auch die Begriffe „Ausnahmezustand“ und „Krise“ verschiedene Bedeutungskonnotationen transportieren können, die einer philosophischen Analyse bedürfen. • Politische und wirtschaftliche Gestaltungsfragen von gesellschaftlicher und globaler Größenordnung treten durch die „Coronakrise“ noch deutlicher zutage, insbesondere weil durch die Maßnahmen und Eingriffe verschiedene spätkapitalistische Entwicklungen wie die Verschärfung von sozialen und kulturellen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten (bspw. zwischen Männern und Frauen oder zwischen BeamtInnen, ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen) sich noch einmal deutlich verschärft haben 30. Kritische De72

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„Ausnahmezustand“ und „Krise“



mokratiebildung hat die Aufgabe, die Ursachen und Gründe der Krisenphänomene, die auch das demokratische Selbstverständnis betreffen, sichtbar zu machen. Die im vorangegangenen Aspekt gründende Angst vor einer wirtschaftlichen Krise globalen Ausmaßes und deren sozialen Folgen verweist bereits auf einen postpandemischen Zustand, in dem es nicht mehr um das Virus sondern die zukünftige Gestaltung der Weltgesellschaft geht: „Für eine kurze Zeit nämlich schien es, als könne die Coronakrise die Chance beinhalten, die Staaten würden sich ihrer sozialen Aufgaben wieder bewusst und würden die Macht der Ökonomie […] in Frage stellen, würden untereinander Solidarität zeigen und Politik für Menschen machen.“ 31 Um eine solche Macht subversiven aber zugleich konstruktiven Charakters zur demokratischen Gestaltung auch des politischen und wirtschaftlichen Lebens quasi „von unten“ wieder zu erlangen und in Bildungsprozessen zu vermitteln, müssen die kritischen Analysen auf fundiertem Boden stehen. Philosophische und politische Bildung sollte entsprechend wieder stärker in den Mittelpunkt auch der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen treten, damit der Krise nicht eine Phase der Restauration, sondern der demokratischen Neugestaltung insbesondere mit Blick auf die oben genannten Schlüsselprobleme unserer Zeit folgt.

Prof. Dr. Christian Thein ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Fachdidaktik sowie Sozial- und Bildungsphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Er hat 2013 mit einer Studie zum Deutschen Idealismus und der Kritischen Theorie promoviert, und arbeitet heute schwerpunktmäßig zu Fragen der kritischen philosophischen Bildung.

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Anmerkungen 1

Das Maskulinum verwende ich hier mit Absicht, da in den ersten Wochen der Epidemie mit wenigen Ausnahmen fast ausschließlich Männer als politische Funktionsträger oder wissenschaftliche Experten in Deutschland in Erscheinung getreten sind. 2 Von Lucke 2020, 96. 3 Neumann 1986, 31. 4 Neumann 1986, 31. 5 Neumann 1986, 31 f. 6 Neumann 1986, 35. 7 Weber 1972, 397. 8 Schmitt 2015, 13. 9 Scheit 2004, 75. 10 Agamben 2004, 43: „Das spezifische Verdienst der Schmittschen Theorie liegt genau darin, dass sie eine solche Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung möglich macht. Diese Verbindung ist insofern paradox, als das, was ins Innere des Rechts hereingenommen werden soll, sich dem Recht als wesensmäßig äußerlich erweist, da es sich dabei um nichts Geringeres als die Suspendierung der Rechtsordnung selbst handelt.“ 11 Schmitt 2015, 14 f. 12 „Souverän“ muss demzufolge auch nicht notwendigerweise der Staat sein. Es sind zahlreiche historische Beispiele bekannt, in denen andere politische oder religiöse Akteure und Gruppen von innen oder außen die Rolle des Souveräns für sich proklamierten und in einigen Fällen sich auch gegen den bis dato herrschenden Souverän durchgesetzt haben. 13 Grundgesetz 1949, Art. 2 (2). 14 Günther 2020, 44. 15 Infektionsschutzgesetz 2020, 4. 16 Infektionsschutzgesetz 2020, 22–35. 17 Schmitt 2015, 13. Agamben 2004, 7 f. 18 Infektionsschutzgesetz 2020, 6. 19 Günther 2020, 44. 20 Günther/Habermas 2020, 44. 21 Habermas 2011, 18–21: „Die Erfahrung verletzter Menschenwürde hat eine Entdeckungsfunktion […]. Im Lichte historischer Herausforderungen werden jeweils andere Bedeutungsaspekte der Menschenwürde aktualisiert […]. Die Menschenwürde ist gleichsam

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„Ausnahmezustand“ und „Krise“

das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird.“ 22 Habermas 2020, 44. 23 Günther 2020, 44. 24 Decker 2020, 408. 25 von Lucke 2020, 96. Vgl. Endnote 2. 26 Scheit 2004, 75. 27 Thein 2019, 26 f. Thein 2020, 274. 28 Vgl. Lösch/Thimmel 2010. 29 Hauer 2020, 10. 30 Monday 2020, 19. 31 Seeßlen 2020, 20.

Literaturverzeichnis Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004. Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20. Juli 2000 (zuletzt geändert 27. März 2020), Online: https://www.gesetzeim-internet.de/ifsg/IfSG.pdf. Frank Decker, Krise und Zukunft der Demokratie – Was verändert sich durch Corona?, in: Forschung & Lehre 5 (2020), 408–410. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn 1949. Klaus Günther/Jürgen Habermas, Lebensschutz oder Freiheit? – Ein Gedankenaustausch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und dem Rechtstheoretiker Klaus Günther, in: DIE ZEIT 20 (2020), 43 f. Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: Ders.: Zur Verfassung Europas – Ein Essay, Berlin 2011, 13–38. Johannes Hauer, Die Kriegsmetapher in der Coronakrise – Über die Konjunktur militärischer Rhetorik und ihre Bedeutung, in: JungleWorld 20/2020, 10 f. Bettina Lösch/Andreas Thimme (Hrsg.): Kritische politische Bildung – Ein Handbuch, Bonn 2010. Albrecht von Lucke, Demokratie in der Bewährung. Weltkrieg versus Corona, Politik im Ausnahmezustand, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (2020), 89–96. Justin Monday, Der Virus und der Wert, in: konkret 5 (2020), 17–19.

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Franz Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt am Main 1986, 31–81. Gerhard Scheit, Suicide Attack – Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004. Carl Schmitt, Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2015. Georg Seeßlen, Die Krise in der Krise in der Krise, in: JungleWorld 20/ 2020, 19–23. Christian Thein, Montesquieu und die Paradoxa der Demokratie im Spiegel aktueller Bildungsfragen, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3 (2019), 18–27. Christian Thein, Kontroversität als Schlüsselprinzip der Demokratiebildung im Unterricht und an außerschulischen Lernorten, in: Martin Jungwirth, Nina Harsch, Yvonne Korflür, Martin Stein (Hrsg.): Forschen, Lernen, Lehren an öffentlichen Orten – The Wider View, 269–274. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972.

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Verschwörungsmythen, politische Bildung und die Covid-19-Pandemie Johannes Drerup Der Coronavirus ist eigentlich eine chinesische Erfindung bzw. Biowaffe, Bill Gates hat das Virus in die Welt gebracht, vielleicht ist es auch ein Resultat der Einführung der 5G-Technologie. Die Bundesregierung bereitet im großen Stil Zwangsimpfungsmaßnahmen vor, auch sollen der Bevölkerung zugleich Überwachungschips implantiert werden. Oder existiert COVID-19 in Wahrheit gar nicht und ist vielmehr ein durch die üblichen Verdächtigen – globale Eliten und Konzerne, Juden etc. – genutztes Mittel, um politische Ziele (Weltherrschaft etc.) durchzusetzen? 1 Diese und andere mehr oder weniger originelle, abstruse und häufig auch nicht neuen Vorstellungen und Geschichten 2 haben in den letzten Wochen und Monaten immer wieder Anlässe für öffentliche Diskussionen geliefert 3. Nach einer aktuellen Studie glauben z. B. 29 % der Amerikaner, dass COVID-19 nicht natürlichen Ursprungs ist 4. Weltweit werden 5G-Masten zerstört und in den Städten demonstriert man gegen befürchtete Zwangsimpfungen. Verschwörungstheorien, so der entsprechende Tenor aktueller Zeitdiagnosen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, gewinnen in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung zunehmend an Attraktivität. Auch wenn die Annahme einer stetigen Zunahme der Verbreitung und Akzeptanz von Verschwörungstheorien aus historischer Perspektive nicht zu77

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zutreffen scheint und je nach gesellschaftlichem Kontext und Thema präzisierungsbedürftig ist 5, so steht doch außer Frage, dass verschwörungstheoretisches Denken mit ernst zu nehmenden Folgeproblemen einhergehen kann, die im Folgenden aus der Perspektive der Theorie und Praxis von Demokratieerziehung und politischer Bildung diskutiert werden sollen. Es geht um drei miteinander verbundene Fragen: Wie lassen sich ‚Verschwörungstheorien‘ angemessen theoretisch konzeptualisieren und einordnen? Warum und in welcher Hinsicht stellen sie ein politisches und/oder pädagogisches Problem dar? Wie soll man hierauf auf pädagogisch angemessene Weise reagieren? Ein zentrales Problem für einen angemessenen Umgang mit Verschwörungstheorien ist, dass manche von ihnen zutreffen. Was anfangs als Verschwörungstheorie galt – etwa die Watergate- oder die Snowdenenthüllungen –, hat sich später als Wahrheit herausgestellt. Zugleich mangelt es nicht an historischen und kontemporären Beispielen, in denen die Zuschreibung ‚Verschwörungstheorie‘ selbst mit politischer Motivation genutzt wurde, um von realen Verschwörungen abzulenken (z. B. in der Dreyfusaffäre). Aus einer rein deskriptiv-analytischen Perspektive lassen sich Verschwörungstheorien so rekonstruieren: „… a conspiracy theory can be generally counted as such if it is an effort to explain some event or practice by reference to the machinations of powerful people, who have also managed to conceal their role.“ 6. Solche Erklärungen gehen in der Regel (nicht immer) einher mit vagen Referenzen auf ‚malevolente Akteure‘ und damit verbundene manichäische Weltbilder (etwa: ‚böse Eliten‘ vs. das ‚gute Volk‘) und mit soziologisch wenig plausiblen Annahmen über Formen der Intentionalität, Autorschaft und Planung, die komplexen historischen und gesellschaftlichen Prozessen unterlegt werden, wodurch die Rolle von Zufällen, unerwünschten Nebeneffekten und Kontingenzen ausgeblendet wird7. Darüber hinaus sind sie in vielen Fällen nicht falsifizierbar, hochgradig spekulativ und esoterisch in dem Sinne, dass verborgene, in der ‚offiziellen Version der Ereignisse‘ nicht thematisierte Zusammenhänge 78

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und Erklärungen gesucht und gefunden werden. Häufig werden sie zudem von Amateuren vorgebracht, die mit Bezug auf die Themenfelder, um die es geht, keine ausgewiesene Expertise vorweisen können 8. Zu den zentralen Streitpunkten bei der Bewertung von Verschwörungstheorien gehört die Frage, ob es sich hierbei überhaupt um Theorien oder nicht vielmehr um pseudowissenschaftliche Ideologien bzw. Mythen handelt. Auch wenn sich die Beantwortung dieser Frage aus wissenschaftstheoretischer Sicht als schwieriger erweist als man vermuten könnte 9, so steht doch außer Frage, dass man in vielen, wenn nicht den meisten Fällen, ‚Verschwörungstheorien‘ nicht mit dem Attribut ‚wissenschaftliche Theorie‘ nobilitieren kann und dass folglich der Terminus Verschwörungsmythos angemessener sein dürfte. Relativ eindeutig beantworten lässt sich die Frage, ob Verschwörungstheoretiker_innen eine Pathologie zugeschrieben werden kann. Dies wird zwar sicherlich in einigen Fällen plausibel sein, aus sozialpsychologischer Perspektive geht man jedoch davon aus, dass wir es in der Regel mit einem Überzeugungssystem unter anderen zu tun haben, welches in normalen psychischen Fähigkeiten und Prozessen 10 verankert ist. Für die politische Bildung sind epistemische Unterscheidungen wichtig, mit deren Hilfe man gesunde Skepsis und rational begründbare Kritik von destruktiv-irrationalen Wahrnehmungen, Bewertungen und Einstellungen abgrenzen kann, die mit verschwörungstheoretischem Denken einhergehen können, aber nicht müssen. Verschwörungstheoretiker_innen verstehen sich selbst häufig als Teil einer kritischen epistemischen Avantgarde, die Kritik dann in der Regel jedoch sehr selektiv und unkritisch betreibt: Man glaubt tradierten epistemischen Autoritäten nicht mehr, dafür aber umso bereitwilliger x-beliebigen Quellen aus dem Internet. Durch die asymmetrische, d. h. extrem selektive Berücksichtigung von angeblichen oder tatsächlichen Beweisen für und wider die Theorie (sog. confirmation bias) immunisieren sich Verschwörungstheoretiker_innen in vielen Fällen gegen Kritik, was auch die Diskussionen mit 79

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ihnen dann regelmäßig zu einer eher frustrierenden Angelegenheit macht. Warum und in welcher Hinsicht sind nun Verschwörungstheorien ein politisches und pädagogisches Problem? Diese Frage kann mit Rekurs auf empirische Forschung recht eindeutig beantwortet werden. So korreliert die Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu übernehmen, mit politischem Extremismus von links und rechts 11, insbesondere auch mit Populismus (Elitenkritik etc.) und kann als ‚Radikalisierungsmultiplikator‘ wirken 12. Verschwörungstheorien werden in vielen Fällen genutzt zur Diskriminierung und Dämonisierung bestimmter Gruppen und zur Rechtfertigung von Intoleranz und Gewalt. Sie unterminieren rationale demokratische Debatten, fördern politische Polarisierung und politisches Misstrauen (Verschwörer und Verschwörungstheoretiker sind entsprechend immer die anderen) auch gegenüber den Institutionen liberaler Demokratien 13. Die Übernahme von Verschwörungstheorien scheint in vielen Fällen nicht nur mit einem Verlust des Wirklichkeits- und Gemeinsinns einherzugehen, sondern auch mit einem Verlust politischer und moralischer Urteilsfähigkeit. Dies mag auch die teils sicherlich unfreiwilligen Koalitionen und Allianzen auf Demonstrationen erklären, in denen es in manchen Fällen anscheinend keine kognitiven Dissonanzen oder politische Bedenken auszulösen scheint, wenn man neben Rechtsradikalen für den Weltfrieden und Freiheit demonstriert (oder gleich beide Orientierungen in einer Person vereint). Wenn COVID-19 ohnehin eigentlich die Funktion hat, der Bevölkerung Überwachungschips zu implementieren, dann scheint es für einige Protagonisten auch kaum noch relevant zu sein, dass die propagierten Verschwörungsmythen antisemitische und rechtsradikale Denkmuster aufgreifen. In jedem Falle sollte man daher – trotz des berechtigten Fokus auf epistemische Fragen und Fragen der Bildung (siehe unten) – nicht aus dem Blick verlieren, dass Verschwörungstheorien in vielen Fällen genuin politische Funktionen erfüllen, d. h. konstitutiver Teil politischer Ideologien sind, 80

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und probate politische Werkzeuge darstellen, um eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit zu schaffen und die eigenen Interessen durchzusetzen 14. Wie steht es um die theoretische Frage nach dem spezifischen Zusammenhang von Bildung und der Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu übernehmen, und um die praktische Frage, wie damit im Unterricht auf pädagogisch angemessene und kluge Weise umzugehen ist? Die Bereitschaft, Verschwörungstheorien bzw. -mythen zu übernehmen, scheint zwar auch mit Bildungsdefiziten zu korrelieren (u. a. defizitären Fähigkeiten zu analytischem Denken) 15, man sollte jedoch mit entsprechenden Generalisierungen vorsichtig sein. Dies gilt nicht nur deshalb, weil Bildung kein Allheilmittel für alle nur denkbaren gesellschaftspolitischen Probleme darstellt, sondern auch, weil eine Pädagogisierung politischer Konflikte häufig selbst politische Konflikte produziert. Dem politischen Gegner mangelnde Bildung vorzuwerfen, ist in der Regel kein gutes, zumindest kein ohne weiteres überzeugendes politisches Argument und wird nur selten auf Gegenliebe stoßen, selbst und vielleicht gerade dann, wenn es zutrifft. Es gibt zudem zahlreiche Beispiele hochgradig gebildeter Menschen (etwa Martin Heidegger, der an eine jüdische Weltverschwörung glaubte), die zugleich Verschwörungstheoretiker_innen waren oder sind. Politische, historische, ökonomische, mediale etc. Bildung, ob nun verstanden als Grundbildung und/oder Persönlichkeitsbildung, immunisiert daher sicherlich nicht per se gegen verschwörungstheoretisches Denken. Man kann aber dennoch festhalten – zumindest, wenn man konkrete Inhalte von Verschwörungstheorien berücksichtigt –, dass sich in der Bereitschaft, entsprechende Vorgaben zu glauben und zu verbreiten, in vielen Fällen nolens volens immer ein domänenspezifischer Mangel an Bildung ausdrückt. Wer an Pläne einer jüdischen Weltverschwörung glaubt oder annimmt, dass Bill Gates für die COVID-Pandemie verantwortlich ist, zeigt gerade damit, dass er oder sie die entsprechenden Interpretationen gesellschaftlicher Zusammenhänge 81

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nicht angemessen durchdacht und kritisch geprüft hat. Grundsätzlich kommt öffentlichen Bildungsinstitutionen die Aufgabe zu, zur Schaffung der kulturellen und politischen Voraussetzungen einer kritischen und nicht bloß rezeptiven demokratischen (digitalen) Öffentlichkeit beizutragen, in welcher Verschwörungstheorien kritisch diskutiert werden können und sollen (zumindest dann, wenn sie nicht völlig jenseits des rational Diskutablen angesiedelt sind bzw. nicht offensichtlich Ausdruck illiberaler und intoleranter Ideologien sind). Wie sollte nun mit Verschwörungstheorien bzw. -mythen – unabhängig davon, ob sie nun auf COVID-19 bezogen sind oder nicht – im Unterricht aus pädagogischer Sicht umgegangen werden? Auch hierfür gibt es kein Patentrezept: In manchen Fällen, in denen entsprechende Denkmuster mit eindeutig intoleranten Äußerungen einhergehen, kann es geboten sein, klare Kante zu zeigen und auch zum Schutze Dritter pädagogisch zu intervenieren, d. h. die Grenzen der politischen Toleranz aufzuzeigen. In der Regel wird es jedoch zugleich pädagogisch geboten sein, trotz Grenzüberschreitungen im Dialog zu bleiben und zu versuchen rational aufzuklären, was jedoch auf Grund von entsprechenden Selbstimmunisierungstendenzen auf Grenzen stoßen und sogar kontraintentionale Effekte zeitigen kann, da Verschwörungstheoretiker_innen sich durch die Kritik oftmals in ihrer Auffassung bestärkt fühlen (sog. ‚Backfire Effekt‘). Man kann darüber hinaus versuchen, über die Mechanismen, Eigenheiten und Motive verschwörungstheoretischen Denkens aufzuklären (etwa Ängste vor Kontrollverlust), Strickmuster dieser Theorien rekonstruieren (Wie baue ich eine Verschwörungstheorie?) und alternative Perspektiven und optimistischere Alternativerzählungen gegen oftmals düstere und angstbeladene verschwörungstheoretische Gesellschafts- und Weltbilder vorbringen. Grundsätzlich gilt es, in und außerhalb von Schulen die Fähigkeit zu analytischem Denken und wohlbegründeter Kritik zu fördern, historisches, gesellschaftliches und politisches Wissens zu kultivieren (z. B. über die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse 82

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und politischer Konstellationen etc.) sowie durch Wissenschaftspropädeutik ein grundlegendes Verständnis für die Komplexitäten und Usancen des Prozesses der wissenschaftlichen Forschung zu vermitteln, was neben der grundsätzlichen Akzeptanz von Prinzipien epistemischer Arbeitsteilung und Expertise auch die Förderung der Fähigkeit einschließen sollte, seriöse von unseriösen Quellen zu unterscheiden. Auch wenn es hier – wie in pädagogischen Kontexten generell – in der Regel keine Erfolgsgarantien gibt 16, steht außer Frage, dass es trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber allzu optimistischen pädagogischen Erwartungen vor allem individuelle und kollektive Bildungs- und Lernprozesse sind, von denen man begründeter Weise hoffen kann, dass sie längerfristig zu einer Rationalisierung politischer Debatten beitragen.

Dr. Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, der Philosophie der Kindheit, der politischen Philosophie und der Pädagogischen Ethik. Kürzlich erschienen ist das „Handbuch Philosophie der Kindheit“ (J. B. Metzler, 2019, hrsg. mit Gottfried Schweiger).

Anmerkungen 1

Dieser Text ist in unterschiedlichen Versionen auch auf zwei Blogs erschienen. Auf dem Blog philosophie.ch, sowie dem Blog der WBG community. 2 Vgl. der Überblick EU DisinfoLab 2020. 3 Vgl. auch der Beitrag von Julia Ebner auf dem WBG Community Blog 2020. 4 PEW Research Center 2020. 5 Van Proojen/Douglas 2017; Butter 2018; Rees/Lamberty 2019. 6 Sunstein/Vermeule 2013, 205.

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Popper 2003. Cassam 2019. 9 Hierzu: Hepfer 2015. 10 Nach Van Proojen handelt es sich dabei um „pattern perception“ und „agency detection“; Van Proojen 2018. 11 Van Proojen/Krouwel/Pollet 2015. 12 Van Proojen 2018. 13 Vgl. Rees/Lamberty 2019. 14 Cassam 2019; Ebner 2020; sowie die auf COVID-19 bezogenen Beispiele in: EU DisinfoLab 2020. 15 Van Proojen 2017; Rees/Lamberty 2019. 16 Brumlik 2018. 8

Literaturverzeichnis M. Brumlik, Demokratie und Bildung, Berlin: Neofelis (2018). M. Butter, „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin: Suhrkamp (2018). Q. Cassam, Conspiracy Theories, Cambridge: Polity Press (2019). J. Ebner, Verschwörungstheorien – Was Corona mit unserer Gesellschaft macht. Online unter: https://wbg-community.de/themen/ julia-ebner-verschwoerungstheorien-was-corona-mit-unserergesellschaft-macht (Letzter Zugriff am 22. 05. 2020). EU DisinfoLab, Covid-19 Conspiracy Theories: Comparative trends in Italy, France and Spain. Online unter: https://www.disinfo.eu/wpcontent/uploads/2020/05/20200512_conspiracies_covid19.pdf (Letzter Zugriff am 22. 05. 2020). K. Hepfer, Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld: transcript (2015). Pew Research Center, About three-in-ten Americans believe COVID19 was created in a lab. Online unter: https://www.pewresearch. org/wp-content/uploads/2020/04/FT_20.04.01_COVIDLab_01b. png?w=584 (Letzter Zugriff am 22. 05. 2020). K. Popper, The open society and its enemies. Vo. 2: Hegel and Marx, New York: Routledge (2003). C. Sunstein/A. Vermeule, Conspiracy Theories. Causes and Cures, In: The Journal of Political Philosophy 17, 2 (2013), 202–227. J. Rees/P. Lamberty, Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, In: Zick, A./

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Küpper, B./Berghahn, W. (Hrsg.): Verlorene Mitte, Feinselige Zustände, Bonn: Dietz (2019). J.-W. Van Prooijen, Why education predicts decreased belief in conspiracy theory, In: Applied Cognitive Psychology 31 (2017), 50– 58. J.-W. Van Prooijen/A. Krouwel/T. Pollet, Political extremism predicts belief in conspiracy theories, In: Social Psychological and Personality Science 6 (2015), 570–578. J.-W. Van Prooijen/K. M. Douglas, Conspiracy theories as part of history: The role of societal crisis situations, In: Memory Studies 10 (2017), 323–333. J.-W. Van Prooijen, The Psychology of Conspiracy Theories, Oxon, New York: Routledge (2018).

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Bildungsraum Quarantäne Die transformatorische Bildungstheorie auf dem Prüfstand Johannes Giesinger

Während der Zeit des Lockdowns machte der neu als „Präsenzunterricht“ bezeichnete gewöhnliche Unterricht dem „Fernunterricht“ Platz. Der Schulbetrieb wurde, so gut es ging, über digitale Medien fortgeführt. Der Unterricht veränderte seine räumliche Struktur – hin zu einer „Vereinzelung“ der Lernenden und Lehrenden – und damit auch seine Beziehungsstruktur. Die Kommunikation unter den Beteiligten konnte, wenn die technischen Möglichkeiten vorhanden waren, aufrechterhalten werden, und dadurch blieb die zeitliche Struktur des Unterrichts ein Stück weit intakt. Als Lehrperson bemühte man sich also, den Schulstoff weiter zu vermitteln und die Schülerinnen und Schüler in ihren Lernprozessen zu unterstützen. Dabei konnte sich aber auch der Gedanke aufdrängen, ob es in dieser abnormalen Situation wirklich primär darum gehen sollte, ein möglichst hohes Maß an schulischer Normalität zu gewährleisten. Gehen wir von einer Idee von Bildung aus, die mehr umfasst als das Ansammeln oder Anwenden von Wissen, so liegt es nahe zu fragen, ob die durch COVID-19 und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf geschaffene Situation nicht schon selbst als zentrales Bildungsereignis zu sehen ist. Durch die radikale Veränderung in ihrer Lebenssituation, eingebettet in unwägbare gesellschaftliche Entwicklungen, so könnte man 86

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Bildungsraum Quarantäne

vermuten, werden Jugendliche vor neue Herausforderungen gestellt, die unter Umständen eine grundsätzliche Neuorientierung ihres Denkens und Handelns erfordern. Die Quarantäne bildet – was also kann und soll die Schule beitragen? Ergibt es Sinn, die Lernenden mit dem gewohnten Schulstoff auf Trab zu halten, wenn die Situation selbst so vielfältige Chancen auf Bildung bietet? Die Vorstellung von Bildung, die hier anklingt – und sich von üblichen Auffassungen von schulischer Bildung unterscheidet – lässt sich mit einer innerhalb der Erziehungswissenschaft diskutierten Bildungstheorie in Verbindung bringen: Demnach ist Bildung wesentlich als Transformation zu sehen. In „transformatorischen Bildungsprozessen“, schreibt etwa Hans-Christoph Koller, würden „Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses“ umgestaltet 1. Zentral ist hier der Unterschied zwischen Bildung und bloßem Lernen: Wer lernt, sammelt Wissen an und integriert dieses in bereits bestehende Denkmuster, wer sich bildet, gestaltet seine Handlungs- und Denkmuster grundlegend um. Nach dieser Konzeption, die primär in der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung Verwendung findet, geschieht Bildung, wenn Personen aufgrund krisenhafter Erfahrungen, für deren Bewältigung die bereits entwickelten Konzepte und Strategien nicht ausreichen, ihr Verhältnis zu sich selbst und zur Welt transformieren. Die Corona-Krise mit ihren direkten Auswirkungen auf den Lebensvollzug jedes Einzelnen bringt gängige Denkmuster an ihre Grenzen. Jugendliche erlebten die Quarantäne unterschiedlich: Während manche die neu gewonnene Ruhe genossen und sich in ihrer Familie gut aufgehoben fühlten, litten anderen unter beengten und konflikthaften Verhältnissen. Einige konnten mit ihren Laptops entspannt im eigenen Garten sitzen und über ihr Leben nachdenken, andere hatten alle Hände voll zu tun, weil sie für jüngere Geschwister zu sorgen hatten oder ihre Großeltern betreuen mussten. Interessant ist, dass gemäß der transformatorischen Bildungstheorie diesen unterschiedlichen Lebens- und Lernbe87

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Johannes Giesinger

dingungen gleichermaßen das Potenzial für Bildung innewohnt. Ob man mit der neuen Situation gelassen oder gestresst umgeht, ob man die Krise „als Chance“ oder als unhaltbaren Zustand sieht – in jedem Fall kann sie transformierend wirken. In der Diskussion um die transformatorische Bildungstheorie ist die Frage nach dem normativen Gehalt dieses Bildungsbegriffs aufgekommen. Wird Bildung als „dichter“ Begriff verwendet, so bedeutet dies, dass die Beschreibung eines Prozesses als Bildung dessen positive Bewertung impliziert. Versteht man unter Bildung die Transformation des Selbst, so kann man fragen, ob jeder transformatorische Prozess bereits etwas Wünschenswertes ist. Will man diesen Schluss vermeiden, muss der Bildungsbegriff mit normativen Gehalten angereichert werden. Als Beispiel wird in diesem Zusammenhang u. a. die Figur des Walter White aus der Serie Breaking Bad diskutiert 2. White transformiert sich nach einer Krebsdiagnose vom biederen Chemielehrer zum rücksichtslosen Drogendealer. Dies ist eine Veränderung, die den Kriterien der transformatorischen Bildungstheorie zu entsprechen scheint – aber eine, die von vielen vor allem aus moralischen Gründen negativ bewertet wird. Sollten wir annehmen, dass moralische Normen konstitutiv für den Begriff der Bildung sind? Während Krassimir Stojanov 3 dieser Auffassung zu sein scheint, kritisiert Johannes Drerup das dichte Verständnis des Bildungsbegriffs. Er schreibt: „Probleme der Konzeptualisierung und Probleme der ethischen Bewertung und Rechtfertigung sind im Kontext von erziehungs- und bildungstheoretischen Fragen auseinanderzuhalten, statt – wie in der Debatte üblich – beide miteinander zu vermengen, indem man unterschiedliche Fälle allein dahingehend prüft und ethisch bewertet, ob man es jeweils mit ‚wirklicher‘ oder ‚wahrer‘ Bildung zu tun hat.“ 4 Drerup hält aber daran fest, dass Bildungsprozesse einer normativen Bewertung zugänglich sind: Sein Vorschlag ist, den Bildungsbegriff selbst in wertneutraler, deskriptiv-analytischer Weise zu verwenden und auf dieser Grundlage die ethische Debatte über angemessene (oder gute und schlechte) 88

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Bildungsraum Quarantäne

Bildung zu führen. Die Transformation, die Walter White durchmacht, wird man vor diesem Hintergrund als Prozess der Bildung einstufen und im Lichte unterschiedlicher Kategorien von Werten beurteilen. Wie Drerup schreibt, macht Walter White „in pragmatisch-prudentieller, ökonomischer und auch ästhetischer Hinsicht durchaus gelungene Bildungsprozesse“ durch, „in moralischer, ethischer und epistemischer Hinsicht sind es dagegen in mehrfacher Weise misslungene Bildungsprozesse“ 5. Koller versteht Bildung demgegenüber als normativen Begriff. Konstitutiv für Bildung ist, wie Koller im Anschluss an Überlegungen Jean-François Lyotards ausführt, dass man dem „Widerstreit zwischen zwei gleichermassen artikulierten Diskursarten […] gerecht“ wird 6. Das wiederum heisst, dass man den Konflikt nicht voreilig auflöst, sondern ihn offenhält. In manchen Fällen, so Koller, gehe es darum, ein im Rahmen einer bestimmten Diskursart nicht artikulierbares Anliegen allererst zum Ausdruck zu bringen, allenfalls durch die Entwicklung eines neuen „Idioms“ 7. Hieraus gewinnt Koller ethischpolitische Kriterien: Nicht als Bildung zu qualifizieren sind Transformationen, welche zu Welt- und Selbstverhältnissen führen, die „darauf abzielen, andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen – also in Richtung totalitaristischer Positionen, die den Ausschluss, die Verfolgung oder gar die Vernichtung Andersdenkender zum Ziel haben“ 8. Damit werden keine ethischen oder politischen Normen begründet, sondern normative Aspekte des Bildungsbegriffs erläutert: Wer darauf aus ist, andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen, hat sich nicht „gebildet“. Der Bezug auf „Andersdenkende“ suggeriert, dass der Widerstreit, um den es hier geht, zwischen Personen besteht, die unterschiedliche Wertauffassungen haben. Alternativ könnte man von intrapersonalen Konflikten sprechen: Hier könnte man fragen, ob es nicht als Bildungsprozess einzustufen ist, wenn jemand seine internen Ambivalenzen überwindet und sich vollumfänglich mit bestimmten Werthaltungen oder Projekten identifiziert. Es mag problematisch sein, keinerlei 89

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Johannes Giesinger

Offenheit mehr für andere Auffassungen zu zeigen. Im Falle klarer moralischer Orientierungen kann jedoch selbst das angemessen sein. Angenommen, jemand entwickelt sich von einer anfänglich überzeugten Ablehnung homosexueller Lebensformen zu ambivalenten Einstellungen in dieser Frage, um sich schliesslich ganz mit der Auffassung zu identifizieren, dass Homosexuelle in jeder Hinsicht gleichberechtigt sein sollten. Sollte diese Person den internen Widerstreit offenhalten, in dem Sinne, dass sie homophoben Einstellungen weiterhin Raum lässt? Und sollte sie den homophoben Haltungen anderer Personen nicht entgegentreten? Die Frage nach der Normativität von Bildung wird zwar von Koller als Reaktion auf kritische Anfragen explizit behandelt, hat sich aber für ihn bei der Ausarbeitung seines Bildungsbegriffs nicht aufgedrängt. Der Grund dafür liegt nicht nur in postmodernen Vorannahmen, die diese Frage in den Hintergrund rücken lassen, sondern in der spezifischen Funktion, die dem Bildungsbegriff im Kontext der Biografieforschung zukommt: Hier geht es nicht darum, pädagogische Handlungsanweisungen zu gewinnen, es geht um die Rekonstruktion persönlicher Wandlungsprozesse, die bereits Geschichte sind. Zudem liegt der Fokus nicht auf Erziehung als Anstoss von Transformationen, sondern auf den vielfältigen sozialen und persönlichen Faktoren, die eine individuelle Neuorientierung herbeiführten. Die Bewertung solcher Prozesse scheint in diesem Kontext nachrangig. Damit wird der Bildungsbegriff aus dem theoretischen Kontext herausgelöst, in dem er ursprünglich heimisch war. Selbstverständlich lässt sich die Idee von Bildung als persönlicher Transformation, die unabhängig von Erziehung geschehen kann, bereits in der Tradition finden. Bestimmend ist aber, zumindest was das pädagogische Denken anbelangt, die Rückbindung von Bildung an Erziehung (im Sinne von pädagogischem Handeln) 9. Die transformatorische Bildungstheorie hat den Bildungsbegriff ent-pädagogisiert. Die Frage ist, ob er in sinnvoller Weise re-pädagogisiert werden kann. 90

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Bildungsraum Quarantäne

Die Tatsache, dass die transformatorische Bildungstheorie nicht für den Bereich der Schulpädagogik und Didaktik entwickelt wurde, macht es schwierig, ihre Bedeutung für die schulische Bewältigung dieser Krise abzuschätzen. Als Lehrperson, die sich fragt, wie sie in Zeiten der Seuche pädagogisch handeln sollte, kann man einerseits mit der Idee sympathisieren, dass die Krise selbst bildend wirkt, schreckt aber andererseits vor dem durch die transformatorische Bildungstheorie nahegelegten Schluss zurück, dass in dieser Situation pädagogisch nichts zu tun sei. Eine interessante Implikation der transformatorischen Bildungstheorie ist, das verfehlte pädagogische Maßnahmen Bildung befördern können – insofern sie wie andere negative Umstände zu Transformationsprozessen Anlass geben. Während pädagogisches Handeln normalerweise darauf aus ist, gute Lern- und Entwicklungsbedingungen zu schaffen, geht die transformatorische Bildungstheorie von krisenhaften Situationen als Auslösern von Bildung aus. Will man diese Bildungstheorie pädagogisieren, kommt man nicht darum herum, pädagogischen Akteuren normative Orientierungen an die Hand zu geben. Es genügt nicht, ihnen zu sagen, sie sollten „Transformationen anregen und unterstützen“, auch deshalb nicht, weil sich Personen – wie die transformatorische Bildungstheorie richtig sieht – eher durch reale Krisen als durch pädagogische Aufforderungen verändern. Kollers Vorstellung, wonach „der Widerstreit offengehalten“ werden soll, hilft auch nicht viel weiter. Allenfalls könnte man auf dieser Basis Unterrichtsformen entwickeln, in denen eine ambivalente Haltung gegenüber unterschiedlichen Denk- und Handlungsmustern gefördert wird. Inwiefern dies mit herkömmlichen Formen der Wissensvermittlung oder Moralerziehung, die gewisse Gehalte als gültig darstellen, kompatibel ist, wäre näher zu diskutieren. Wenn es um ein Vorgehen gegen „totalitaristische“ Tendenzen geht, dann könnte das Zelebrieren von Ambivalenz und der Verzicht darauf, moralisch Gültiges zu vermitteln, in die falsche Richtung gehen. 91

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Johannes Giesinger

Will man Schülerinnen und Schüler in Zeiten von COVID19 nicht allein lassen, so liegt es nahe zu fragen, was man pädagogisch zu einem angemessenen Umgang mit krisenhaften Erfahrungen beitragen kann. Die Rede von einem angemessenen Umgang – nicht irgendeinem Umgang – suggeriert normative Kriterien. Diese beziehen sich nicht notwendigerweise auf Ziele des Bildungsprozesses, sondern eher auf Praktiken im Prozess selbst. Zentral ist die Aktivität (oder „Selbsttätigkeit“) der Person, die sich in ihrer Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt bildet. Es genügt aber wohl kaum, Heranwachsende „zur Selbsttätigkeit aufzufordern“, wie es im Anschluss an Fichte bisweilen gesagt wurde 10. Es scheint nötig, sie in bestimmte „Bildungspraktiken“, insbesondere Praktiken der intellektuellen Reflexion und der künstlerischen Gestaltung, einzuführen. Im Rahmen dieser Praktiken müssen sie auf vielfältige hermeneutische Ressourcen zurückgreifen können, die ihnen ermöglichen, eigene Erfahrungen und soziale Entwicklungen zu interpretieren und zu artikulieren und auf dieser Basis ihre Lebensperspektive zu transformieren. Die Einführung in Bildungspraktiken kann durch eigens konzipierte Reflexions- und Gestaltungaufgaben geschehen. Diese Aufgaben sind „offen“ in dem Sinne, dass sie Denk- und Handlungsprozesse anstoßen, ohne dass eine bestimmte „Lösung“ erwartet wird. Das bedeutet aber nicht, dass die Praktiken selbst nicht durch normative Standards konstituiert sind und besser oder schlechter beherrscht werden können. Ihr Wert besteht darin, Heranwachsenden einen eigenen Umgang mit krisenhaften Situationen zu ermöglichen und Optionen für die Entwicklung des Selbst freizulegen. Es muss an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob damit Elemente genannt sind, die für den Bildungsbegriff konstitutiv sind. Die normative Diskussion von Bildungsfragen kann geführt werden, ohne dass dies geklärt ist. Entscheidend ist, dass ein pädagogischer Bildungsbegriff in der einen oder anderen Weise pädagogische Handlungsorientierung geben muss. Interessant ist hier ein kurzer Blick auf die Ausführungen Dou92

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Bildungsraum Quarantäne

glas Yaceks, der eine pädagogisch ausgerichtete Konzeption transformatorischer Bildung entwickelt hat. Yacek betrachtet es als primäre pädagogische Aufgabe, Lernende in eine „Krise“ oder ein „Dilemma“ zu führen, und er ist sich im Klaren darüber, dass es sich hierbei um ein „negatives Moment“ handelt, das den Lernenden viel abverlangt. Yacek sieht es nicht zuletzt als ethisches Problem, dass Personen aufgrund der Entscheidung pädagogischer Akteure in eine Situation gebracht werden, in der ihre bisherigen „Vorurteile, Ideale, Werte, Gewohnheiten und Erwartungen“ in radikaler Weise infrage gestellt werden 11. Yaceks Konzeption geht davon aus, dass die Krise pädagogisch allererst ausgelöst werden muss, um Transformationen zu ermöglichen. Meine Überlegungen sehen hingegen angesichts einer bereits existierenden Krise ein reaktives Verständnis pädagogischer Interventionen vor: Lehrpersonen sollen in ihrem Unterricht auf die unterschiedlichen – und unterschiedlich krisenhaften – Lebenssituationen der Lernenden reagieren. In Zeiten der Krise kann die pädagogisierte Konzeption transformativer Bildung als Korrektiv zur Vorstellung dienen, wonach es im Fernunterricht primär darum gehen soll, gewohnte Lehr–/Lernprozesse in möglichst effizienter Weise vom Schulzimmer in den virtuellen Raum zu verlegen. In dieser Situation auf Bildung (statt die bloße Aneignung von Wissen) zu fokussieren heißt, von der globalen Krisensituation und ihrer praktischen Bedeutung für die Individuen auszugehen und deren transformative Potenziale auszuloten. Dabei wird man beim Erfahrungs- und Problemhorizont der Lernenden ansetzen und sie in einem ersten Schritt dazu anregen, sich ihre aktuelle Lebenssituation bewusst zu machen und auszudrücken, was sie beschäftigt. Dazu gehört der zunehmende Überdruss an allem, was mit „Corona“ zu tun hat. Auch wenn einige nichts (mehr) von den gesundheitlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Aspekten der Krise hören wollen: Für alle bedeutete der Lockdown einen Bruch in ihrer Lebenspraxis. Während einige nach dem Ende der Quarantäne möglichst schnell in ihre alten 93

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Johannes Giesinger

Lebensvollzüge zurückkehren wollten, eröffneten sich anderen Perspektiven für transformatorische Prozesse.

Johannes Giesinger, Dr. phil., geb. 1972, ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und unterrichtet Philosophie und Deutsch an der Kantonsschule Sargans. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erziehungsphilosophie und der Philosophie der Kindheit.

Anmerkungen 1

Koller 2012, 15. Rieger-Ladich 2014. 3 Stojanov 2006. 4 Drerup 2019, 76. 5 Drerup 2019, 76. 6 Koller 2016, 159. 7 Koller 2016, 159. 8 Koller 2016, 159. 9 Benner 2015. 10 Benner 1987. 11 Yacek 2020, 261 (meine Übersetzung). 2

Literaturverzeichnis Dietrich Benner, Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/Basel 1987. Dietrich Benner, Erziehung und Bildung! Zur Konzeptualisierung eines erziehenden Unterrichts, der bildet, in: Zeitschrift für Pädagogik 61 (2015), 481–496. Johannes Drerup, Bildung und das Ethos der Transformation. Anmerkungen zum Verhältnis von Bildungstheorie, Bildungsforschung

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Bildungsraum Quarantäne

und Pädagogischer Ethik, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 6 (2019), 61–90. Hans-Christoph Koller, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. Hans-Christoph Koller, Ist jede Transformation als Bildungsprozess zu begreifen? Zur Frage der Normativität des Konzepts transformatorischer Bildungsprozesse, in: Dan Verständig/Jens Holze/Ralf Biermann (Hrsg.), Von der Bildung zur Medienbildung, Wiesbaden 2016, 149–161. Markus Rieger-Ladich, Walter White aka „Heisenberg“. Eine bildungstheoretische Provokation, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 90 (2014), 17–32. Krassimir Stojanov, Philosophie und Bildungsforschung. Normative Konzepte in qualitativ-empirischen Bildungsstudien, in: Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.), Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld 2006, 66–85. Douglas Yacek, Should Education Be Transformative? In: Journal of Moral Education 49 (2020), 257–274.

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Der Stachel der Melancholie Philosophische Bildung in pandemischen Zeiten Vanessa Albus

„Der zur Melancholie Gestimmte […] findet allwärts Ursache zu Besorgnissen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Schwierigkeiten, so wie dagegen der Sanguinische von der Hoffnung des Gelingens anhebt: daher jener auch tief, so wie dieser nur oberflächlich denkt.“ 1 (Immanuel Kant)

Die COVID-19-Pandemie fällt in eine Zeit, in der Zuversicht, Frohsinn und Freude als persönliche Haltung oder Lebenseinstellung von Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen nicht nur akzeptiert, sondern sogar erwartet wird. Ab 2007 entstanden unter der Regie von Ernst Fritz-Schubert und in Anlehnung an die Gehirn- und Resilienzforschung Unterrichtsfächer mit der Bezeichnung „Glück“ bzw. „Glückskompetenz“, in denen Kinder und Jugendliche systematisch zum Glücklichsein und zur „optimistischen Grundhaltung“ angeleitet werden sollen 2. Auch die COVID-19-Pandemie ist schon als Thema für kleinkindergerechte Bilderbücher entdeckt, in denen im Sinne einer „positiven Pädagogik“ das Virus als niedliches Ding bagatellisiert und die Pandemie als Geschenk und Chance zur Weltverbesserung zelebriert wird3. Die Glücksfächer – verstanden als eine Mischung zwischen Philosophie und Psychologie – werden inzwischen in über hundert Schulen in Deutschland und Österreich unterrichtet. Trotzdem sind in der aktuellen Krise viele Menschen sehr un96

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Der Stachel der Melancholie

glücklich. Aus dem Bereich der Philosophie wird im verordneten Streben nach Frohsinn ein zentrales Element ausgeblendet, das in pandemischen Zeiten besondere Aufmerksamkeit verdient: die Melancholie oder die dunkle Seite des Denkens. Die melancholische Haltung, so lautet meine erste These, stachelt das philosophische Denken an. Sie ist damit auch ein wichtiger Bezugspunkt im Prozess der philosophischen Bildung. Eine melancholische Grundhaltung stellt sich – so meine zweite These – in Zeiten der Gefährdung und Unsicherheit leichter ein als an unbeschwerten Tagen. Mit der Akzentuierung der Melancholie als Stachel des philosophischen Denkens geht es freilich nicht um eine Beförderung von Depressionen und mentalen Krankheiten. Nichts liegt ferner als die Ausrottung des Frohsinns an schulischen Lernorten. Ignoranz gegenüber Übel und Leid darf dennoch kein philosophisches Bildungsziel sein. Im Fokus stehen daher weniger die aktuellen Phänomene, die zur Hoffnung und sanguinischem Frohsinn einladen, wie etwa die Solidaritätsbekundungen, die beachtlichen ehrenamtlichen Leistungen von Einkaufsdiensten und Maskennähern oder die Rückeroberung von Lebensräumen für Delphine im Bosporus und das klare Wasser in Venedigs Lagune. Ebenso wird darauf verzichtet, hoffnungsvolle Zukunftschancen zu erörtern, die sich im Anschluss an die Pandemie anböten. Nach einleitenden Überlegungen zur Melancholie und zum Einfluss besorgniserregender Ereignisse auf die Philosophiegeschichte wird im vorliegenden Beitrag der Versuch unternommen, die aktuellen Geschehnisse der COVID-19-Pandemie im Hinblick auf philosophische Grundfragen zu systematisieren und auf diesem Weg Perspektiven für eine philosophische Bildung zu eröffnen, die sich vom Zwang des Glücklichseins emanzipiert und die menschliche Sorge als Quell des Nachdenkens zulässt. Als Gliederungsprinzip werden die berühmten vier Fragen Kants aus der Logikvorlesung gewählt, anhand derer der Aufklärer seine Studenten in die Philosophie einführte 4. Die vier Fragen – Was kann ich wissen? 97

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Vanessa Albus

Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? – sind in der Philosophiedidaktik einschlägige Gliederungshilfen in Curricula und Schulbuchmaterialien.

Weinende und lachende Philosophen Das Lachen und das Weinen sind in der Ideengeschichte und bildenden Kunst seit der Antike mit zwei Philosophennamen aus der Vorsokratik eng verknüpft. Demokrit ist als lachender Philosoph in die Geschichte eingegangen. Als Vertreter des atomistischen Materialismus richtet er das philosophische Auge auf das räumlich Beständige. Sein Antipode ist Heraklit, der Weinende, der das Werden und Vergehen, das Fließende, thematisiert. Versucht man Demokrit und Heraklit Charaktertypen in Anschluss an Galens spätantiker Temperamentenlehre zuzuordnen, so ist Heraklit ein Melancholiker, Demokrit ein Sanguiniker. Entscheidend ist, dass seit Theophrast der Begriff der Melancholie eine Nähe zum Geniebegriff aufweist. Als genial galt derjenige, der traurig und nachdenklich gestimmt war, was man besonders bei außergewöhnlichen Männern aus Politik, Kunst und Philosophie beobachtete 5. In der mittelalterlichen Philosophie verliert die Idee der Exorbitanz des melancholischen Genies an Bedeutung. Der Begriff der Melancholie erfährt insgesamt eine starke Abwertung und steht in enger Verbindung mit acedia, der Trägheit und dem Überdruss, den Thomas von Aquin zu den Todsünden rechnet. Die Unfähigkeit, Freude an Gottes Gut zu empfinden, erschien verwerflich. Nach Hildegard von Bingen wurde Adam melancholisch, als er in den verbotenen Apfel biss und den Sündenfall einleitete. Die als Rauch gedeutete Melancholie verstärkte nach damaliger Vorstellung der Teufel 6. Von der Christianisierung des Begriffs weitestgehend befreit entstehen in der Renaissance und im 18. Jahrhundert zahlreiche Darstellungen von Melancholie in den Künsten. Die Schwermut wird Epochenmerkmal des Sturm-und-Drang und 98

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Der Stachel der Melancholie

amalgamiert erneut mit dem Geniekult 7. Die antike Temperamentenlehre entfaltete bis ins 18. Jahrhundert hinein eine breite Wirkung. Kant greift noch auf sie zurück, wenn er – wie im Eingangszitat des vorliegenden Beitrags – den Melancholiker als „tiefen“ Denker charakterisiert und ihn vom „oberflächlichen“ und fröhlichen Sanguiniker scharf unterscheidet. Übertragen auf die aktuelle Bildungslandschaft und die Glücksfächer ergibt sich, dass mit dem Ausblenden des Schwermuts und dem Verzicht auf eine Kultivierung der Sorge im philosophischen Bildungsprozess eine Gefahr für das Abgleiten in Oberflächlichkeit droht. Arthur Schopenhauer, der wahre Meister der Schwarzgalligkeit, schließt sich im 19. Jahrhundert grundlegend der Auffassung von der Genialität des Melancholikers an und ordnet sie dem Alter der Jugend zu. Grund für die Dominanz der schwermütigen Stimmung in der Pubertät ist Schopenhauer zufolge der erwachende Geschlechtstrieb, ein Übermaß an Sensibilität und die strukturelle und zeitliche Abhängigkeit von anderen 8. Die Affinität der Jugend zur pessimistischen Philosophie ist im Rahmen der Frage nach der Textauswahl im Unterricht insbesondere in Bezug auf Friedrich Nietzsche in der Didaktik des 19. Jahrhunderts kritisch diskutiert worden 9. Neben Nietzsche wären auch Kierkegaard oder Heidegger, der die Sorge als Grundbefindlichkeit des Daseins begreift, Kanonautoren, deren Texte unter dieser Fragestellung beleuchtet werden könnten.

Der Philosoph in krisenreichen Zeiten Katastrophen hinterlassen auch in der Geistesgeschichte ihre Spuren und sind in der Philosophie zu Recht ein Anlass zur Reflexion und Neuorientierung. Die Traditionslinie von Demokrit und Heraklit als Antipoden lässt sich mühelos weiterziehen zu Leibniz, der als barocker Optimist die reale Welt zur besten aller möglichen erklärt, und zu Voltaire, der anlässlich 99

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Vanessa Albus

des apokalyptischen Erdbebens von Lissabon im Jahre 1755 mit dem Alles-wird-gut-Motiv radikal bricht 10. Das Erdbeben von Lissabon mit Großbrand und Tsunami zählt bis heute zu den verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. Für Voltaire endet damit die Bereitschaft, sich über unermessliches Leid hinwegzutrösten. Als Zeitzeuge der französischen Revolution begrüßt Herder anfangs ihre Ideale, doch zeigt er sich später angesichts des Blutbads unter den Guillotinen enttäuscht. Diese Eindrücke wirkten sich stark auf sein Humanitätskonzept für Bildung und Erziehung aus. Adorno vergleicht schließlich das Lissaboner Erdbeben von 1755 mit dem Holocaust und stuft es in Anbetracht der humanitären Katastrophe des zweiten Weltkriegs als „unbeträchtlich“ ein 11. Der Holocaust ist für Adorno bekanntlich der Anlass, über eine Erziehung nach Ausschwitz gründlich nachzudenken. Erziehung, so folgert er, müsse nun „Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll“ 12. Kinder, die nichts von den Grausamkeiten und Härten des Lebens ahnten, seien, wenn sie dem elterlichen Schutz einmal entwachsen seien, der Barbarei der Welt hoffnungslos ausgesetzt.

Philosophische Fragen in der COVID-19-Pandemie: Was kann ich wissen? Wissenschaft, Verschwörungstheorien und Fake News Selten brillierten Forschende in den Alltagsmedien so häufig und ausgiebig wie heute, und selten waren die Grenzen unseres Wissens und die Mechanismen, Prinzipien und vor allem auch der Nutzen von Wissenschaft so allgegenwärtig. Wer aber schnelle Antworten und ad-hoc Lösungen von Wissenschaft und Forschung erwartet, wird enttäuscht. Ein Impfstoff und zugelassene Medikamente lassen trotz intensiver Forschung 100

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auf sich warten, Infektionswege werden nur mühsam eruiert, virales Erbgut wird aufwändig sequenziert, gesundheitliche und wirtschaftliche Langzeitschäden können noch gar nicht ermittelt werden, über die Zuverlässigkeit von Testverfahren und Immunitätsdauer wird diskutiert, die Philosophierenden im deutschen Ethikrat liefern keine Patentrezepte – kurz: der Diskussions- und Forschungsstand sowie die Datenlage ändern sich ständig, und der Umgang mit Ungewissheit wird alltäglich. Für Laien, die erstmals die Dynamiken des Wissenschaftsbetriebs erahnen, mag die Ungewissheit tiefere Ängste und Sorgen schüren, ja zum Vertrauensverlust in Wissenschaft und Forschung führen. Verschwörungstheorien treten in Situationen des Kontrollverlustes in großen Ausmaßen auf und dienen insgesamt der Bewältigung von Ungewissheit, indem Schuld zugewiesen und das Prinzip des Zufalls negiert wird. Auf der Basis von Verschwörungstheorien wird die Welt wieder berechenbar 13. Soziale Medien, die in Quarantäne und Lockdown einmalmehr an Bedeutung gewinnen, verstärken Verschwörungstheorien und verbreiten rasant Fake News. Impfgegner, Fake News Gebeutelte und Anhänger von Verschwörungsideologien versammeln sich auf höchst bedenklichen Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Verbreitung von COVID-19. Es mangelt immer häufiger an Kompetenzen, zwischen seriöser Wissenschaft und abstrusen Theorien unterscheiden zu können. Philosophische Bildung kann hier in vielerlei Hinsicht einspringen. Das Aushalten und Ertragen von Ungewissheiten, das Hinnehmen der Aporie gehört zum Kerngeschäft der Weisheitsliebenden. Philosophie hilft bei der präventiven und faktenbasierten Wiederlegung von Verschwörungstheorien und der Identifizierung von Fake News. Sie deckt logische Fehlschlüsse auf und kultiviert durch systematischen Zweifel gebotene Skepsis.

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Was soll ich tun? Allokation in Zeiten der Verknappung und des Mangels Die Corona-Krise verteuert und verknappt Rohstoffe, weil in wichtigen Produktions- und Anbauländern Ernten und Transporte behindert werden. In der Überflussgesellschaft wird einigen Menschen der Wert der Waren erst vor den leeren Regalen in den Supermärkten bewusst. Mit der Verteuerung der Rohstoffe einher geht aber auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, was in den Familien Existenz- und Zukunftsängste schürt. Gleichwohl kommt es in Folge einer Sorge um das eigene gesundheitliche Wohl zum erhöhten Abverkauf von haltbaren Lebensmitteln, Hygiene- und Sanitätsartikeln. Die Gewaltbereitschaft steigt und begehrte Produkte wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel oder Schutzanzüge werden überall aus Krankenhäusern und Arztpraxen nicht nur zum eigenen Schutz, sondern auch zur eigenen Bereicherung, geraubt. Das philosophische Problem der gerechten Verteilung stellt sich in Anbetracht der nur knapp oder örtlich sogar kaum vorhandenen Beatmungsplätze und des begrenzten medizinischen Personals mit größter Dringlichkeit. In Notfallsituationen wird triagiert. Der Begriff Triage – trier für sortieren, aussuchen – stammt aus der französischen Militärmedizin Ende des 18. Jahrhunderts. Die besten Aussichten auf eine medizinische Behandlung hatte im Krieg oftmals nicht derjenige, der Hilfe am nötigsten hatte, sondern derjenige, der über ausreichend Genesungschancen verfügte. Nicht zuletzt ging es auch darum, verwundete Soldaten unter medizinisch knappen Ressourcen so schnell wie möglich wieder in Kampfbereitschaft zu versetzen. Derartige Verfahren stehen freilich im Konflikt mit heutigen moralischen Standards und dem Motiv, möglichst viele Menschenleben zu retten. Der Begriff der Triage bezeichnet aber bis heute das gesetzlich nicht kodifizierte Auswahlverfah102

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ren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen in humanitären Ausnahmesituationen. Das moralische Dilemma der Auswahl unter den Bedingungen der knappen personellen und materiellen Ressourcen bleibt in ungeahnten Dimensionen des Entsetzens also bestehen zu Lasten aller Entscheidungsträger und Betroffenen.

Was darf ich hoffen? Vergänglichkeit und Endlichkeit Die Endlichkeit unserer Existenz ist in pandemischen Zeiten allgegenwärtig und kaum zu verdrängen, wenn unüberschaubare Massen von Leichen mit italienischen Militärfahrzeugen transportiert werden, provisorische Kühllaster in New York die überfüllten Hallen der Bestatter entlasten oder Massengräber in Brasilien angelegt werden, um der Zahl der Toten Herr werden zu können. Es stellt sich die religionsphilosophische Frage nach dem, was wir in Anbetracht unserer Sterblichkeit hoffen dürfen. Gleichzeitig aber wird durch Quarantäne und Lockdown die Möglichkeit erschwert, eine Religion in unmittelbarer Nähe und Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu praktizieren. Was uns zutiefst erschüttert und beunruhigt, ist nicht allein die Endlichkeit und das Leid der massenhaft Sterbenden, sondern auch die chaotischen postmortalen Zustände. Das Wort Humanität leitete einst der neapolitanische Philosoph Giambattista Vico von lateinisch humare – beerdigen – ab. Er behauptete, dass sich in der Weltgeschichte der werdende Mensch in dem Moment vom Tierischen löste, als er anfing, seine Mitwesen zu beerdigen und die Trauernden Bestattungsriten in unterschiedlichen Kulturen ausformten 14. Es steht zu befürchten, dass mit dem Ausfall des Kultus im pandemischen Chaos auch die Humanität Schaden nimmt.

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Was ist der Mensch? Geselligkeit und Quarantäne Die vierte und letzte Frage Kants zielt auf die Disziplin der philosophischen Anthropologie. In der vierten Frage werden die ersten drei Fragen zusammengeführt, weil Erkenntnistheorie, Ethik und Religionsphilosophie Anthropologie jeweils mit einbeziehen. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht führt Kant den Antagonismus der „ungeselligen Geselligkeit“ 15 des Menschen ein. Die Natur, so Kant, treibt den Menschen sowohl zur Vergesellschaftung, als auch zur Vereinzelung. Kultur entwickelt sich aus diesem Spannungsverhältnis. Der pandemische Strukturwandel unserer Zeit speist sich aus der Paradoxie, dass Geselligkeit in und mit vulnerablen Gruppen langfristig nur erhalten werden kann, wenn eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft zur Vereinzelung und Isolation besteht. Einschränkung von Freiheit, geschlossene Staatsgrenzen, angeordnete bzw. freiwillige Quarantäne müssen in Kauf genommen werden, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Aus dem Paradox der Vereinzelung als Bedingung der Möglichkeit für eine generationenübergreifende Geselligkeit entsteht und weitet sich die digitale Kultur als Prothese. Senioren kommunizieren per Videokonferenz mit ihren Angehörigen, und Lehrkräfte arrangieren für das home schooling digitale Bildungsangebote. So richtig und wichtig die Beschreitung dieser Wege auch sind, so resultieren daraus auch einige Sorgen: Die digitale Prothese in Familie und Schule kann analoge Beziehungen nur ergänzen, nicht aber vollständig ersetzen. Schwer wiegt schließlich, dass nicht jeder in den Pflegeheimen und den stark belasteten Familien über die notwendigen technischen Mittel und Kompetenzen verfügt. Die ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheit kann sich im Zuge der aktuellen Situation noch verstärken. Bedenkt man ferner die aktuell schwindende Akzeptanz der Isolation und den Aus104

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schlag des Pendels in Richtung Geselligkeit und analoger Nähe, stellen sich weitere Sorgen in Bezug auf eine wieder rasch zunehmende Verbreitung von COVID-19 ein.

Ausklang Gewöhnlich schließen Beiträge mit einem Fazit und einem klugen Aufriss neuer Desiderata, die sich in Anbetracht der erzielten Ergebnisse ergeben. Auch dieser Gewohnheit müssen wir in außergewöhnlichen Zeiten entsagen. Der hier entwickelte Sorgen- und Fragenkatalog für philosophische Bildung kann nur vorläufig sein, weil wir nicht am Ende, sondern erst am Anfang der COVID-19-Pandemie stehen. Ob diese ungewöhnliche Zeit zu einem Paradigmenwechsel führen wird, lässt sich nur ex post feststellen.

Dr. Vanessa Albus ist z. Z. Professorin für Philosophiedidaktik an der Universität Paderborn, Mitherausgeberin der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Erschienen ist „Kanonbildung im Philosophieunterricht, Lösungsmöglichkeiten und Aporien“ (Thelem, 2013).

Anmerkungen 1

Kant AA. I. Abt., Bd. 7, 288. Fritz-Schubert 2014. Zur „optimistischen Grundhaltung“ vgl. Fritz-Schubert 2011, 218. Siehe auch: Fritz-Schubert/Saalfrank/Leyhausen 2015. 3 Molatta 2020. 4 Kant AA. I. Abt., Bd. 9, 25. 5 Zum Begriff der Melancholie siehe: Weber 2012, 61–94 und Lambrecht 1996. 6 Vgl. Bingen 1957, 220. 2

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Zur Melancholie als Epochenmerkmal siehe Lepenies 1998 und Heidbrink 1992. 8 Vgl. Schopenhauer 1938, Bd. 5, 524. 9 Vgl. Albus 2013, 453 ff. 10 Leibniz 1996. Voltaire 1971. 11 Adorno 1966, 354. 12 Adorno 1970, 101. 13 Vgl. Butter 2018. 14 Vico 1884, Bd. 1, 312. Vico 2002, 90. 15 Kant AA. I. Abt., Bd. 8, S. 20.

Literaturverzeichnis Vanessa Albus, Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Dresden (2013). Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main (1966). Theodor W. Adorno, Erziehung nach Ausschwitz (1966). In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit, hrsg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt am Main (1970), 92–109. Hildegard von Bingen, Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten, Salzburg (1957). Michael Butter, ‚Nichts ist, wie es scheint.‘ Über Verschwörungstheorien, Frankfurt am Main (2018). Ludger Heidbrink, Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München (1992). Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (1912). Roland Lambrecht, Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion, München (1996). Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Philosophische Schriften Bd. 2.1–2.2. Hrsg. v. Herbert Herring, Frankfurt am Main (1996). Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt am Main (1998). Bea Beate Molatta, Ein Virus auf Reisen: Wie das Corona zu und kam. Eine Geschichte für Kinder, O. O. (2020). Ernst Fritz-Schubert, Glück kann man lernen. Was Kinder stark fürs Leben macht, München (2011). Ernst Fritz-Schubert, Schulfach Glück. Wie ein neues Fach die Schule verändert, Freiburg (2014).

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Der Stachel der Melancholie

Ernst Fritz-Schubert/Wolf-Thorsten Saalfrank/Malte Leyhausen, Praxisbuch Schulfach Glück. Grundlagen und Methoden, Weinheim (2015). Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Arthur Hübscher. 7 Bde., Leipzig (1938). Giambattista Vico, Opere di Giambattista Vico, Hrsg. v. Giulio Michelet, Neapel (1884). Giambattista Vico, The First New Science. Hrsg. v. Leon Pompa, New York (2020). Voltaire: Candid, Stuttgart (1971). Wolfgang E. J. Weber, Melancholie. Historische und aktuelle Dimensionen eines psychokulturellen Komplexes: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hrsg.), Missvergnügen: Zur kulturellen Bedeutung von Betrübnis, Verdruss und schlechter Laune, Wiesbaden (2012), 61–94.

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie Gottfried Schweiger

Die COVID-19-Pandemie könnte als großer Gleichmacher erscheinen – der Virus macht keinen Unterschied zwischen arm und reich, mächtig und ohnmächtig, Inländerin und Ausländerin. Dennoch spielen soziale Faktoren und Ungleichheiten eine wichtige Rolle. Nicht alle Menschen sind gleich gefährdet, sich anzustecken oder einen schweren, vielleicht sogar tödlichen, Verlauf der Krankheit zu erleiden. Ebenso sind nicht alle Menschen von den Ausgangsbeschränkungen, dem Runterfahren des sozialen und wirtschaftlichen Lebens oder den Schließungen der Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen gleichermaßen betroffen. Manche können sehr gut damit umgehen, andere bringt es an ihre Belastungsgrenze oder darüber hinaus. Die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie werden noch lange zu spüren sein. Arbeitslosigkeit, Pleiten und Armut werden Millionen Menschen in Europa treffen, während andere ihr Leben in einigen Wochen oder Monaten wieder halbwegs normal weiterleben werden können.

Benachteiligte Familien in Zeiten der Pandemie Die COVID-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben die Familie als zentralen Ort sowohl in sozialer wie auch räumlicher Hinsicht wieder in den Mittelpunkt 108

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie

gerückt. Die öffentlichen und privaten Kinderbetreuungseinrichtungen und die Schulen wurden geschlossen. Kinder sind zu Hause und dort sind auch die Eltern oder andere Verwandte, sofern man im gleichen Haushalt zusammenlebt. Die Eltern sind zu Hause, weil sie entweder Home Office machen müssen, in Kurzarbeit geschickt wurden oder ihre Arbeit verloren haben. Sie sind auch zu Hause, wenn ihre Kinder in einem Alter sind, indem sie Betreuung benötigen. Die Lasten diese Umstellungen abzufedern, sind innerhalb der Familien natürlich nicht gleich verteilt. Frauen trifft es ungleich schwerer als Männer, denen, auch wenn sie zu Hause sind, von der Gesellschaft und vielen ihrer Partnerinnen nachgesehen wird, wenn sie weniger für Haushalt, Schule und Kinderbetreuung tun 1. Dennoch hat sich die Zeit der physischen Distanzierung und der Ausgangsbeschränkungen für manche Familien wie etwas eingeschränkte Ferien angefühlt. Man geht in den Garten oder in die Natur, spielt viel miteinander und freut sich darüber, (endlich) Zeit füreinander zu haben. In vielen solchen Familien herrschen keine Geldsorgen, keine Angst, den Job zu verlieren. Dort gibt es engagierte Eltern, die sich Zeit für ihre Kinder nehmen und ihnen alle mögliche technische, soziale und emotionale Unterstützung für die Bewältigung der Schule daheim geben können. Auch dort gibt es mitunter Sorgen, manchmal etwas mehr Stress als sonst oder man vermisst die Großeltern, Verwandte und Freunde. Viele Familien haben diese Privilegien aber nicht 2. Sie leben in kleinen Wohnungen oder in lauten, schimmligen Wohnungen. In Wohnungen ohne Balkon und ohne Garten und der nächste Park ist nicht gleich um die Ecke. In vielen dieser Wohnungen war die Zeit der Ausgangsbeschränkungen nicht entspannt, sondern stressig und für alle Familienmitglieder belastend. Wenn es den Eltern schlecht geht, wenn sie sich Sorgen machen, dann merken das natürlich die Kinder, auch schon die ganz kleinen. Die europäische Statistik spricht für das Jahr 2018 von 264000 Kindern und Jugendlichen (bis 16 Jahre), die in Österreich in armutsgefährdeten Haushalten 109

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lebten. Das ist fast ein Fünftel aller österreichischen Kinder. In Deutschland waren es etwas über 1,7 Millionen Kinder, also 14,4 % aller Kinder in Deutschland 3. Die Eltern vieler dieser Kinder sind auf Grund von Krankheit, psychischen Leiden, fehlender Bildung oder Betreuungspflichten vom Arbeitsmarkt gänzlich ausgeschlossen oder nur in prekären Jobs integriert. Man sollte nicht vergessen, dass in der Vergangenheit die Unterstützungsmaßnahmen für arme Familien immer stärker reduziert wurden. Es war diesen Familien nicht möglich, sich für Krisen zu wappnen. Der Stress, der in Familien herrscht, wird nicht nur durch die Angst und Verunsicherung vor der COVID-19-Pandemie erzeugt. Alleinerziehende mit kleineren Kindern in der Wohnung tun sich schwer mit Home Office und wenn sie arbeiten gehen müssen, haben viele ein schlechtes Gefühl, ihre Kinder in die Notbetreuung des Kindergartens oder der Volksschule zu geben. Die Pandemie hat in Deutschland und Österreich hunderttausenden Menschen den finanzielle Boden unter den Füßen weggezogen. Wer arm war, wurde noch ärmer. Arbeitslosigkeit ist immer eine Belastung, auch wenn sie gerade viele trifft und die Politik Hilfe verspricht. Viele Rechnungen sind zu bezahlen und keiner weiß, ob und wann es nach der Pandemie wieder bergauf gehen wird. Kleinunternehmer und Selbstständige fürchten um ihre Existenz oder haben sie bereits verloren. Die sozialen Folgen der COVID-19-Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung gehen an den Kindern und Jugendlichen in benachteiligten Familien nicht spurlos vorüber. In manchen Familien gibt es weniger zu essen. E-Learning kann ohne die nötigen technischen Geräte und vor allem ohne die nötige Unterstützung durch Eltern oder ältere Geschwister schiefgehen. Die Frustration ist groß, die Nähe zu Bildung und Schule ohnehin brüchig. Durch den Wegfall des sozialen und geographischen Raums der Schule fehlten wichtige Rückzugsräume und Bezugspersonen im Leben vieler Kinder, die nicht wussten wohin mit ihren Sorgen und Nöten. Durch das Zusammenleben auf engem und ungenügendem Raum und fehlenden 110

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie

Ausweichmöglichkeiten kommt auch zu mehr Auseinandersetzungen und Streit; der Stress, die fehlende sozial-psychische Unterstützung, Armut und Arbeitslosigkeit verbinden sich mit toxischer Männlichkeit zu Aggression und Gewalt und die leidtragenden sind vor allem Frauen und Kinder. Man sollte sich auch hüten Mittelschichtstandards an benachteiligte Familien anzulegen. Sie hätten ja doch eh alle ein Handy und einen PC daheim – wieso gehen diese Kinder dann für die LehrerInnen verloren? Die arbeitslosen Eltern haben doch jetzt bitteschön genug Zeit für ihre Kinder – wieso lernen sie dann nicht mit ihnen? Ist doch nicht so schwer, die Regeln zu verstehen – wieso treffen die sich noch immer mit Kind und Kegel mit den Großeltern? Der Umgang mit der Pandemie, den Ausgangsbeschränkungen und den Folgen, die eingetreten sind und noch kommen werden, taugt auch zur sozialen Distinktion und zur Abwertung derer, die sich schwerer tun, das anscheinend offensichtlich Richtige zu tun. Aus welchen Gründen auch immer. Das hat auch etwas damit zu tun, wer im Zuge der Pandemie zu Wort kommt und wessen Perspektiven gehört, gesehen und gelesen werden. Der starre Blick auf die Zahlen der Infektionen, der Toten, der Intensivbetten verstellt den Blick für das, was in den Wohnungen und Häusern vor sich geht.

Die sozialen Folgen der Pandemie Es ist derzeit noch nicht absehbar, was nach Abflachen der Pandemie an sozialen Folgen auf Deutschland oder Österreich, die Menschen und Familien zukommen wird. Manche Prognosen gehen von der schwersten Wirtschaftskrise seit dem 2. Weltkrieg aus, die noch Jahre andauern wird4. Ob die nun verlorenen Jobs je wieder zurückkommen werden, ist mehr als fraglich. Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Armut, gerade, wenn sie länger andauern, sind gut erforscht. Auch die Auswirkungen in Familien und auf Kinder 5. Neben der 111

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Tatsache, dass wenig Geld zu haben in einer Geldgesellschaft 6 schlicht und einfach bedeutet, sich viele Dinge, die andere haben, nicht leisten zu können, belasten Arbeitslosigkeit und Armut auch das physische und psychische Wohlbefinden. Sie führen zu Krankheit, Depression, Scham, Isolation und Verzweiflung. Für Eltern ist es besonders schlimm, da sie wissen, dass ihre Kinder ebenfalls darunter leiden. Sie leben mit dem Stigma von anderen als schlechte Eltern gesehen zu werden, zu wenig Zeit und Ressourcen für die Bildung und das Wohlergehen ihrer Kinder zu haben. Erwerbsarbeit ist mehr als nur einen Job zu haben und Geld zu verdienen – sie ist eine maßgebliche Quelle für Anerkennung, Selbstvertrauen und Status und Prestige 7. Deshalb sehnen sich selbst die, die immer wieder in der Arbeitswelt enttäuscht und aus ihr aussortiert wurden, die, wenn dann nur eine Chance auf einen schlechten Job haben, danach. Kinder, die in Armut aufwachsen, leiden vielfach still und in sich gekehrt; als Jugendliche werden manche von ihnen delinquent. Sie geraten auf die schiefe Bahn, die für viele leider zu einer Einbahnstraße in die eigene Arbeitslosigkeit und Armut wird. Die Bildungschancen aller Kinder sind geprägt von ihren Familien und die Schulen und LehrerInnen tun sich schwer, hier nachhaltig zu intervenieren 8. Kinder aus armen Familien haben es schwerer, Selbstvertrauen und einen positiven Blick in die Zukunft zu entwickeln, was doch so wichtig wäre, um die Chancen, die sich einem bieten auch zu ergreifen und für sich selbst eine besseres Leben anzustreben. Da hilft auch die Beschwichtigungsformel, dass man die wichtigen Dinge im Leben nicht kaufen könnte, nichts. Und es hilft auch keinem Kind und keiner Familie, darauf hingewiesen zu werden, dass man doch auch mit weniger glücklich sein kann oder dass früher alle viel weniger hatten. Schon gar nicht, wenn diese fragwürdigen Weisheiten, die ein soziales Problem und die Erlebniswelt der schwächsten Gesellschaftsmitglieder herunterspielen, von jenen präsentiert werden, die soziale Entbehrung nur aus dem Fernsehen kennen oder gar solche zynisch anmutenden 112

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie

Kommentare aus Positionen der politischen Macht und mit ziemlich viel Geld unterfüttert vorbringen. Man sollte sich bewusst sein, dass die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie gesetzt wurden, die dargestellten sozialen Folgen haben und dass sie die Ungleichheit in der Gesellschaft vergrößern werden. Bei aller Notwendigkeit die COVID-19-Pandemie einzudämmen, eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden und Menschen vor Tod und Leid zu bewahren, sollten diese Folgen und die Menschen, die diese Leiden zu tragen zu haben, nicht einfach als Kollateralschäden bei Seite geschoben werden. Und schon gar nicht sollte man so tun als ob alle in gleicher Weise betroffen wären oder als ob danach für alle ohnehin wieder alles gut werden würde. Davon ist nämlich, sofern es zu keinem radikalen politischen Umdenken kommt, nicht auszugehen. Für manche waren es ein paar ärgerliche Wochen, andere verlieren ihre finanzielle Lebensgrundlage für immer. Ein paar Wochen Home Schooling und E-Learning können, vor allem wenn es danach entsprechende Rücksicht und Unterstützung gibt, aufgeholt werden, wenn Mama und Papa keine Arbeit mehr haben und länger keine finden, sieht es anders aus. Dahingehend wird die Krise nach der Pandemie eine große Herausforderung werden. Benachteiligte Familien werden sie nicht alleine meistern können. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung. Noch ist nicht ausgemacht, welche Narrative sich in Zukunft durchsetzen werden. Wird es eine heroische Erzählung, die von einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung und Leiden erzählt, durch die wir alle gemeinsam die Pandemie besiegt hätten? Dann bleibt vielleicht kein Platz für die Differenzierung, dass es eben manche mehr gelitten haben als andere, dass daheim bleiben nicht für alle gleich belastend war. Wird es eine Erzählung des Phönix aus der Asche geben, die die Wirtschaft beschwört, die trotz aller Widrigkeiten zurückgekommen ist? Vielleicht bleiben dann zwar einige arbeitslos, andere rackern in Niedriglohnsektoren und Allerziehende stehen noch immer im Regen, aber wer will schon so genau hinsehen, was sich 113

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hinter einem Job- und Wirtschaftswunder so tut. Vielleicht wird es auch eine große Erzählung der traditionellen Familie sein, die doch entgegen aller linken Häme die Keimzelle der Gesellschaft ist und bleibt, weil sie in Zeiten der Pandemie der sichere Hafen und Rückzugsort war? Dann könnte die Doppelund Dreifachbelastung vieler Frauen, die Beruf, Haushalt, Kindererziehung und Pflege von Angehörigen leisten müssen, wieder unter den Teppich eines verstaubten Rollenbilds gekehrt werden.

Ausblick und die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit Was können wir für die Zukunft erhoffen? Kann die COVID19-Pandemie eine Chance für eine gerechtere Gesellschaft sein? Auch wenn es derzeit (noch) nicht danach aussieht als würde über tatsächliche Brüche und neue Wege der Sozial-, Wirtschafts- und Familienpolitik nachgedacht werden, will ich einen positiven Ausblick versuchen. Niemand ist für diese Pandemie verantwortlich, aber die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, wie sie mit ihr und mit den sozialen Folgen umgeht. Die COVID-19-Pandemie zeigt, wie schnell und wirkungsvoll der Staat handeln kann. Er ist keineswegs obsolet, wie der Neoliberalismus gerne propagiert hat 9. Gerade richten es nicht der freie Markt und die Wirtschaft, sondern diese werden mit Milliardenhilfen gestützt. Luftfahrtunternehmen, die vor kurzem noch Milliardengewinne eingefahren und unter ihren Aktionären und Managern großzügig verteilt haben, bitten um Rettungsschirme. Diese Unterstützung kann Anlass zur Sorge und zur Hoffnung sein. Sorgen sollten wir uns machen, wenn durch die COVID-19-Pandemie kein Umdenken stattfindet und es in ein paar Monaten heißt, weiter wie immer. Dann bleibt die strenge Sozialgesetzgebung unangetastet und die Menschen werden in ihrer Arbeitslosigkeit und in Armut alleine zurückgelassen, während die Managergehälter wieder 114

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie

ungeahnte Höhen erreichen. So ist es nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008/2010 gekommen, mit den bekannten verheerenden Folgen. Wir dürfen aber auch Hoffnung haben. Hoffnung darauf, dass nun die Chance genutzt wird, über ein neues solidarisches und gerechtes Miteinander nachzudenken, bei dem wirklich alle mitgenommen werden. Dass der Staat dazu in der Läge wäre, zu handeln, zeigt diese Krise deutlich. Am Geld wird es nicht scheitern. Obwohl die Datenlage recht schlecht ist – da sich die Reichsten der Reichen nicht gerne in die Karten bzw. Konten schauen lassen – kann man grob schätzen, dass in Österreich die „armen“ 50 % der Bevölkerung gerade einmal zwei bis 3 % des Vermögen besitzen, während die reichsten 10 % ca. 50–70 % besitzen 10. In Deutschland sieht es nicht viel anders aus 11. Wenn man annimmt, dass alleine das Finanzvermögen in Österreich irgendwo jenseits der 640 Milliarden ßeurß (Deutschland: 6,4 Billionen) angesiedelt ist, dann gibt es also genug Mittel, um allen Menschen, die jetzt durch die Pandemie und die Maßnahmen ihre Jobs, ihre Aufträge und kleinen Geschäfte, ihre Wohnungen und Häuser verlieren, zu helfen. Gerechtigkeit heißt auch, für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft – und arme Familien und die Kinder und Jugendlichen, die noch alle Chancen vorfinden sollten, gehören hier dazu – da zu sein. Die Politik ist nun gefragt. Wird allen geholfen, die Hilfe brauchen? Muss nun keiner mehr zur Suppenküche oder in den Sozialmarkt? Gibt es genug SozialarbeiterInnen und PsychologInnen für die Kinder und Jugendlichen, deren Eltern nun arbeitslos werden, die gestresst sind oder zu wenig Zeit für sie haben? Am Geld würde es, wie gesagt, nicht scheitern. Der Staat und die Gesellschaft müssen nur darauf zugreifen wollen. Die COVID-19-Pandemie und die emotionale Solidarität, dass diese Krise uns alle betroffen hat, könnte ein Ausgangspunkt sein. Wieso dennoch solche Maßnahmen wie die Erbschafts- und Schenkungssteuer als Angriff auf die Breite der Bevölkerung verklärt und dahingehend von sehr vielen Menschen abgelehnt werden, bedarf – 115

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so könnte man etwas überspitzt feststellen – fast einer psychotherapeutischen Analyse und keiner ökonomischen – Ökonomen sind sich weitgehend einig darin, dass solche Vermögenssteuern sinnvoll sind 12. Es geht aber sicher nicht nur ums Finanzielle. Benachteiligte Familien brauchen mehr – das zeigt diese Pandemie ganz deutlich. Sie brauchen die Hilfe zur Selbsthilfe, den Zugang zu Unterstützungsangeboten, Wohnraum, persönliche Stabilität und die Gewissheit, dass sie nicht alleine gelassen werden, wenn sie Hilfe brauchen. Die Pandemie und ihre sozialen Folgen sind für benachteiligte Familien besonders belastend, wenn sie nicht wissen, wie es weitergehen wird. Wir sollten daran arbeiten, dass sie sich für Krisen wappnen können, sowohl persönliche Krisen als auch solche gesellschaftlichen Krisen. Ganz zum Schluss ist es mir ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass die COVID-19-Pandemie und ihre sozialen Auswirkungen ein globales Problem sind. Zur Zeit (Mai 2020) ist noch nicht absehbar, wie schwer die Pandemie die Länder des Globalen Süden treffen wird. Dort gibt es weder die medizinische noch die sozialstaatliche Infrastruktur, um den Menschen, die es brauchen zu helfen. Auch in den ärmsten Ländern wird die reiche Minderheit wahrscheinlich relativ glimpflich durch die Pandemie und die folgende soziale und wirtschaftliche Krise kommen. Die Ärmsten der Armen aber besonders leiden. Hunger und Not treffen auch hier wieder Millionen Kinder. Kein Kind hat sich seine Familie ausgesucht. Wir konnten alle nicht darüber entscheiden, ob wir in Afrika oder in Europa geboren werden und auch nicht, ob unsere Eltern wohlhabend sind oder arm. Ein solche Krise, wie wir sie gerade erleben, sollte Anlass sein, ernsthaft darüber nachzudenken, wie wir es schaffen könnten, dass alle Kinder halbwegs gleiche Lebenschancen vorfinden und es nicht mehr aufs bloße Glück ankommt, in welche Familie man hinein geboren wird. Unsere Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft sollte also nicht an unseren Staatsgrenzen oder der Grenze Europas enden, sondern sich zur Hoffnung auf eine bessere Welt für alle Familien und 116

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Benachteiligte Familien und die ungleiche Last der Pandemie

Kinder erweitern – eine Hoffnung, die wie Ernst Bloch wusste, nicht einfach ein Träumen ohne Halt ist, sondern ein NochNicht, eine reale Möglichkeit 13.

Gottfried Schweiger arbeitet am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Seine Arbeitsgebiete sind Fragen der sozialen und globalen Gerechtigkeit, Armut, Kindheit und Migration. Gemeinsam mit Johannes Drerup hat er das „Handbuch Philosophie der Kindheit“ (J. B. Metzler 2019) herausgegeben. Er ist Koordinator des Philosophieblogs www.praefaktsich.de.

Anmerkungen 1

Wenham/Smith/Morgan 2020, 846. Schweiger 2020. 3 Eurostat hat immer die aktuellen Zahlen parat: https://ec.europa. eu/eurostat/de/home. 4 Barua 2020. 5 Zander 2010. 6 Deutschmann 2009, 239. 7 Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975. 8 Kuhlmann 2008, 301. 9 Butterwegge/Lösch/Ptak 2007. 10 Ferschli u. a. 2017. 11 Grabka/Halbmeier 2019. 12 Gaisbauer u. a. 2013. 13 Bloch 1985. 2

Literaturverzeichnis Suborna Barua, „Understanding Coronanomics: The Economic Implications of the Coronavirus (COVID-19) Pandemic“, SSRN Scholarly Paper, Rochester, NY: Social Science Research Network, 1 April 2020, https://doi.org/10.2139/ssrn.3566477.

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Gottfried Schweiger

Ernst Bloch, Werkausgabe: Band 5: Das Prinzip Hoffnung, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp (1985). Christoph Butterwegge/Bettina Lösch, und Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 1. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2007). Christoph Deutschmann, „Geld als universales Inklusionsmedium moderner Gesellschaften“, in Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, hg. von Rudolf Stichweh/Paul Windolf, 1. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2009), 223–239. Benjamin Ferschli u. a., „Bestände und Konzentration privater Vermögen in Österreich 2014/2015“, Wirtschaft und Gesellschaft – WuG 43, Nr. 4 (2017): 499–533. Helmut P Gaisbauer u. a., Erbschaftssteuer im Kontext, 1. Aufl., Wiesbaden: Springer VS (2013), http://link.springer.com/10.1007/ 978-3-658-01636-4_3. Markus M. Grabka/Christoph Halbmeier, „Vermögensungleichheit in Deutschland bleibt trotz deutlich steigender Nettovermögen anhaltend hoch“, DIW-Wochenbericht 86, Nr. 40 (2019): 735–745, https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-40-1. Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthalßgaxß: ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp (1975). Carola Kuhlmann, „Bildungsarmut und soziale ‚Vererbung‘ von Ungleichheiten“, in Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, hg. von Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn, 1. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2008), 301–319. Gottfried Schweiger, „Warum Kinder arm sind“, in Kursbuch 201: Menschenskinder, hg. von Peter Felixberger und Armin Nassehi, Bd. 201, Hamburg: Kursbuch Kulturstiftung (2020). Clare Wenham/Julia Smith/Rosemary Morgan, „COVID-19: The Gendered Impacts of the Outbreak“, The Lancet 395, Nr. 10227 (März 2020): 846–848, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30526-2. Margherita Zander, Kinderarmut: Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis, 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2010).

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Vom Hörsaal ins Kinderzimmer Ethisch-theologische Überlegungen zur Familie als Zufluchtsort in Krisenzeiten Caroline Teschmer / Katrin Lohse

Ballettübung vor Teddybär-Tapete und mündliche Prüfung neben der Katze auf dem Sofa? Wenn die Kontaktsperre das Leben junger Erwachsener auf den Kopf stellt, scheint die Familie in Zeiten der Krise eine Funktion der psychischen Stabilisierung zu übernehmen. Der Einen fällt in ihrer Ein-Zimmer-Stadtwohnung schon nach wenigen Tagen im ‚home office‘ die Decke auf den Kopf, der Andere verlässt als Konfliktpräventionsmaßnahme seine Wohngemeinschaft und Dritte reisen gleich als Pärchen aufs Land – die Gründe scheinen zunächst individuell gelagert zu sein, doch das sich in den Kulissen digitaler Videokonferenzen wiederspiegelnde Bild zeugt vom gegenwärtigen Trend junger Erwachsener, angesichts der Corona-Pandemie gewonnene Unabhängigkeit und Abnabelung von den Eltern aufzugeben und zurück ins Elternhaus, genauer: zurück ins mancherorts über Jahre konservierte Kinder- oder Jugendzimmer zu ziehen. Dabei wirken die digitalen Einblicke auf Kuscheltiere und Spielkonsolen wie Relikte aus einer Zeit, als die heutigen Rückkehrer*innen noch heranwachsende Superheld*innen waren und sorglos-virenfreie Bierrunden auf der Tagesordnung standen. Wunderlich erscheint zum einen, dass diese Zimmer offensichtlich vielerorts erhalten wurden, obwohl ihre früheren Bewohner*innen längst einen anderen Wohnsitz bezogen haben. 119

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Caroline Teschmer / Katrin Lohse

Ein Mittelschichtsprivilegium? Oder Zeugnis vom traumatischen „empty nest“-Erleben der damaligen Hinterbliebenen, einhergehend mit nie erloschener Hoffnung auf Rückkehr der erwachsenen Kinder? Zum anderen fördern die befremdlich anmutenden Kulissen der digitalen Kommunikation symbolisch einen entwicklungspsychologischen Anachronismus zutage. Denn der Auszug aus dem Elternhaus gilt als „Symbol des Erwachsenwerdens“ 1 und stellt gemeinhin „den Endpunkt einer Entwicklung dar, die in Prozessen der jugendlichen Individuation ihren Anfang nimmt“ 2 und via Gefühl der räumlichen Distanz in Autonomie mündet 3. Die derzeit zu beobachtende, scheinbar antagonistische Bewegung von Rückzug ins Elternhaus nach vorausgegangenem, erfolgreichen Auszug bildet ab, wie Familienleben in der Ambivalenz von Angewiesenheit und Autonomie erfahren wird4.

Familie als Phänomen Familie in ihren unterschiedlichen Formen zu leben, erfordert „den Willen und die Fähigkeit, sich auf ein ‚Du‘ als gleichwertiges Gegenüber einzulassen, an Bindungen auch in Zeiten der Belastung festzuhalten und schöne wie auch schwierige Zeiten miteinander zu teilen“ 5. Hier zeigt sich eine familienethische Norm darin, dass unter Familienmitgliedern die Bereitschaft besteht, dauerhaft und wechselseitig füreinander Verantwortung zu übernehmen: Die Attraktivität der Lebensform Familie geht vor allem mit einer nicht disponiblen Verlässlichkeit einher 6. Gerade in der Krisenzeit scheint dies in den Fokus zu rücken, wenn die teilweise im Ablösungsprozess konfliktreich erkämpften Errungenschaften wie Selbstbestimmung und eigene Verantwortungsübernahme zunehmend aufgegeben werden oder zumindest an Stellenwert verlieren. Vielmehr greift nun die Rückhaltefunktion der Familie. Denn: „Familie haben alle“ 7. Das Thema berührt emotional und macht darin deutlich, 120

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Vom Hörsaal ins Kinderzimmer

wie unterschiedlich wir durch Erfahrungen geprägt sind und wie unsere Vorstellungen von Familie auseinander gehen. In Zeiten der Krise scheint die Familie en vogue – entgegen mancher Szenarien, die von einem Zerfall der Familie sprechen. Denn mit dem gegenwärtigen Trend ist eine erstaunliche Kontinuität festzustellen: Junge Erwachsene zieht es an den Ort der Liebe, des Geborgenseins und des Vertrauens. Offensichtlich gewinnen Werte, die zwischen Selbstfindung und Abnabelung längst vergessen schienen, zunehmend an Bedeutung. Auch herangewachsene Kinder sehnen sich und benötigen gerade in Zeiten global erlebter Kalamität fürsorgliche Begleitung und Nestwärme, wie sie scheinbar nach wie vor besonders im ursprünglichen Familiensystem erfahren werden. Dabei kann die Frage was Familie ist und ausmacht, nicht von außen gestellt werden. Familie ist komplex und nicht explizit in einen feststehenden Leitbegriff zu fassen oder zu definieren und normierte Bilder sind längst nicht mehr zeitgemäß, stellt Familie doch eine lebenslange Gestaltungsaufgabe dar, die immer wieder neu herausfordert. Familie kann als Kennzeichen unseres menschlichen Seins betrachtet werden und bildet einen Erfahrungsraum des Zusammenlebens auf Zeit. Wilfried Härle spricht von Familie u. a. als „[…] jede Lebensgemeinschaft, in der (wechselseitige) Unterstützung und Hilfe praktiziert wird“ 8. Im Fokus steht das ethische Ziel der Verantwortungsübernahme, sodass Familie als stabile und verlässliche Lebensform präsent ist. Unbestritten ist dabei, dass die Idee einer „heilen Familienwelt“ auf Utopie, Idealismus und Schein fußt und der Familienbegriff im 21. Jahrhundert über das traditionelle „Vater-Mutter-Kind“-Bild hinaus in Vielfalt gedacht werden muss. Dennoch kann die Familie aus unterschiedlichen Gründen einen Zufluchtsort in Krisenzeiten darstellen.

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Caroline Teschmer / Katrin Lohse

Familie als Zufluchtsort zwischen Freiwilligkeit und Not Wer sich freiwillig entscheidet, die eigenen Wohnräume zu verlassen und temporär wieder das einstige Kinderzimmer zu beziehen, handelt im Privileg der Wahlfreiheit. Wer durch die Krise in finanzielle Not geraten ist, sieht sich womöglich gezwungen, die eigenen vier Wände aufzugeben und, sofern emotionale und infrastrukturelle Bedingungen es zulassen, wird das Elternhaus die erste Alternativadresse sein. Thomas Fuchs erkennt in der Corona-Pandemie im Anschluss an Karl Jaspers in diesem Zusammenhang eine Grenzsituation, die eine kollektive Erfahrung des Scheiterns hervorbringe 9. So zeige sich im Ausnahmezustand die „Existenz selbst, das Leben mit seinen unausweichlichen Widersprüchen“, in dem die Menschheit „aus dem ständig beschleunigten Zeitgetriebe der Spätmoderne herausgefallen und in einen Schwebezustand geraten“ 10 ist. Die in der Generation junger Menschen bislang als normal wahrgenommene und eigens gespürte menschliche Macht grenzenloser Optimierung und Kontrolle ist mit den Beschränkungsmaßnahmen angesichts der lebensbedrohenden Nähe des Virus überholt worden: „Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen“ 11. Und in dieser Lage zieht es offensichtlich zahlreiche junge Erwachsene wieder zurück ins familiäre Nest, das dann die Funktion der psychischen Stabilisierung übernimmt, und zwar in wechselseitigem Verantwortungsverhältnis. Stellt nämlich die elterliche Verantwortung zunächst ein räumlich und zeitlich begrenztes Kontinuum dar, bildet sich im Prozess des Erwachsenwerdens eine intergenerationelle Verantwortung heraus 12. Eine solche zeigt sich gegenwärtig, wenn junge Erwachsene nicht ausschließlich und per se um des Eigennutzes willen in ihr Elternhaus zurückkehren, sondern beispielsweise auch, um ältere Generationen in der Krise zu stützen und so zu schützen. Der Evangelist Lukas lässt Jesus das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) erzählen, dessen Pointe in der väter122

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Vom Hörsaal ins Kinderzimmer

lichen, freudigen Aufnahme des sündig gewordenen Sohnes liegt. Lukas zielt auf die Betonung der immer möglichen Umkehr, wobei der eigene Entschluss zur Kehrtwende unendlich höher wiegt als begangene Fehltritte. Keinesfalls wird man die Hinwendung junger Erwachsener zum Elternhaus einlinig analog zum biblischen Gleichnis als kollektiven Bußgang bewerten dürfen, fußt doch der gegenwärtige Trend auf überaus vielschichtigen und differenzierten Gründen. Vor dem von Fuchs gezeichneten Hintergrund eines überindividuellen Erlebens des Scheiterns birgt die lukanische Erzählung jedoch ein Tertium Comparationis, weil sie die gegenwärtige kollektive Erfahrung in der Geschichte eines Einzelnen erzählerisch auffängt. Der Trend freiwilliger Hinwendung junger Erwachsener zur Familie kann in diesem Sinne verstanden werden als Folge des individuellen Erlebens von Überholung ihrer bisher als geltend angenommenen Werte. Was vor Corona-Zeit als selbstverständlicher Lebensstil galt, wird in der Retrospektive plötzlich als Egoismus bewertet, postmoderne Rastlosigkeit mit zwangstherapeutischer Entschleunigung behandelt und quasi über Nacht in den Fokus gerückt, „was wirklich wichtig ist“. Dazu gehört, so legen es die Einblicke in frühere Kinderzimmer nahe, ganz maßgeblich eine Hinwendung zur eigenen Kernfamilie. Ein anderer Aspekt davon, wie Familie zum Zufluchtsort wird, zeigt sich in den Fällen, wo die Rückkehr ins Kinderzimmer die letzte Möglichkeit darstellt, krisenbedingt gewordene, existentielle Nöte abzufangen. Auch hier scheint die Familie als Anlaufstelle für erste Abhilfe eine Aufwertung zu erfahren. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn untermauert in dieser Situation, was viele junge Erwachsene derzeit erleben: Familie hat Bestand, auch wenn die Weltordnung aus den bekannten Fugen gerät. Familie fängt (wortwörtlich) auf.

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Caroline Teschmer / Katrin Lohse

Familie als Krisenherd und soziale Keimzelle Die Kindheitskulissen, die manch junge Erwachsene in Videokonferenzen aufs Endgerät ihres digitalen Gegenübers projizieren, suggerieren die Vorstellung, dass sich hinter dem kameratechnisch eingeschränkten Sichtfeld eine, dem äußeren Zerbrechen bislang geltender Ordnungen zum Trotz, glückliche, wiedervereinte Familie verbirgt. Doch es ist kein Geheimnis, dass gerade das Zusammensein im Familienkreis hohes Konfliktpotential enthält – besonders, wenn in subjektiver Betrachtung der Abnabelungsprozess vom Elternhaus und Individuation vollständig vollzogen zu sein scheinen. Das Bild idyllischer Familienharmonie schmilzt dann schnell zum Produkt romantisierenden Idealismus’. Bei der Rückkehr in Krisenzeiten wird seitens der Herangewachsenen die vollzogene Emanzipation von den Eltern, beispielsweise in Form von Reflexion und Absetzung von geprägten Traditionen, nicht aufgegeben werden, sodass die Wiederaufnahme der einst gewohnten Familienstruktur ein heikles Manöver darstellen kann. Die Eltern wie auch das Kind haben sich weiterentwickelt, sodass es neue Strukturen zu entwickeln gilt. Einerseits können zuvor bestandene Riten aufrechterhalten oder an diese angeknüpft werden (z. B. gemeinsame Mahlzeiten). Andererseits wird es aber auch notwendig sein, dass jedes Familienmitglied seinen Freiraum behält, was die Chance einer neuen innerfamiliären Organisation und Rollenverteilung birgt. Für eine gelingende Wiederbelebung der familiären Wohngemeinschaft wird es neuer Absprachen bedürfen: Sei es zur bewussten Aufteilung alltäglich anfallender Aufgaben wie die Zubereitung von Mahlzeiten oder zur Verabredung von Kontaktzeiten, die als gemeinsame Pausen den Alltag strukturieren und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder stärken. Die gemeinsam verbrachten Stunden machen einen nicht unerheblichen Teil der gemeinsam erlebten Zeit der Krise aus, was zum einen neue, entschleunigte

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und bewusst gestaltete Begegnungen unter den Familienmitgliedern ermöglicht, zum anderen die Gefahr des Aufbrechens alter Konfliktlinien birgt. So kann ein Spannungsfeld zwischen den positiven Umständen des Familienlebens und den nicht immer kompatiblen Erwartungen der Familienangehörigen entstehen. Auch zur Zeit des Evangelisten Lukas waren innerfamiliäre Konflikte nicht unbekannt: Im Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn ist es der neidige Bruder des Rückkehrers, der sich benachteiligt fühlt und die Feststimmung des Vaters infrage stellt; andernorts werden es Überforderung, Aufbrechen alter Muster, räumliche Enge, finanzielle Nöte, gesundheitliche oder existentielle Bedrohung sein, die den Zufluchtsort Familie in Krisenzeit schnell selbst zum Krisenherd werden lassen. Ein ethisches Dilemma lässt sich dann erkennen, wenn im Haushalt Personen der sogenannten Risikogruppe leben. Stellt sich der*die Rückkehrer*in auf ein temporäres, aber doch mittelfristig länger andauerndes Leben im Kinderzimmer ein, so kann diese Entscheidung unter Umständen weitreichende Folgen haben. Denn Kontakte zu Personen außerhalb des Hausstandes werden für die jungen Erwachsenen während ihrer Zeit dort zu vermeiden sein, um nicht zum*r verhängnisvollen Virenträger*in zu werden. Trotz des über Wochen anschwellenden Konfliktpotentials innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung kann die gegenläufige Entscheidung, nämlich das Kinderzimmer kurzerhand doch wieder gegen das eigenständige Leben einzutauschen, bedeuten, dass nach einmaliger Rückkehr in die potenziell virenbehaftete Außenwelt zukünftig auch von gelegentlichen Besuchsaktivitäten im Elternhaus abzusehen ist. Übernimmt ein junger Erwachsener vom wiedereingenommenen Wohnsitz Kinderzimmer aus gar pflegende Tätigkeit an Angehörigen, wird er*sie sich zum Schutz der pflegebedürftigen Person zunächst nicht nur selbst von sozialen Kontakten fernhalten, sondern zu gegebenem Zeitpunkt vor die Entscheidung gestellt sein, radikal zwischen Fürsorgeverantwortung und Eigenständigkeit wählen zu müs125

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sen – das Beispiel unterstreicht die von Härle aufgezeigte Definition von Familie als Lebensgemeinschaft in wechselseitiger Unterstützung. Gesamtgesellschaftlich ist darauf mit Wertschätzung und entsprechender Rücksichtnahme, seitens der Politik im Falle prekärer Familiensituationen mit kurzfristigen und prospektiven Handlungsmöglichkeiten zu antworten (beispielsweise in Form von Beurlaubung von äußeren Verpflichtungen).

Die Chance der Familie als Abbild von Sozialisation „Zu Hause bist immer noch du“ sang Henning Gemke mit seiner Rockband AnnenMayKantereit bereits 2013 und rückte mit dem Lied „Oft gefragt“ 13 neben die reflexiv erlangte Erkenntnis des erwachsenen Sohnes eigens erlebter, väterlicher Fürsorge in Kindheits- und Jugendtagen die Perspektive des Vaters, der sich oft fragt, was er seinem Sohn mit dessen zunehmender Eigenständigkeit eigentlich noch bedeutet. Der Trend, in der Krise wieder zurück ins Kinder- oder Jugendzimmer zu ziehen, belegt, dass der Sänger nicht alleine als junger Erwachsener mit seinem Fazit dasteht, wenn er an den Vater gerichtet singt: „Ich hab’ keine Heimat, ich hab nur dich. Du bist Zuhause für immer und mich.“ Das Kinder- oder Jugendzimmer wird zum sicheren Rückzugsort, an dem einem nichts passieren kann. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist der Auszug aus dem Elternhaus ein wichtiger Schritt und die räumliche Trennung herangereifter Kinder ein gewinnbringender und fördernder Prozess. Dennoch oder gerade deshalb bleiben Eltern und Kinder im besten Fall füreinander ein Leben lang wichtige Bezugspersonen. Das Elternhaus bietet gerade in der Transitionsphase, in der sich junge Erwachsene trotz subjektiv empfundener Emanzipation von den Eltern trennen, einen wichtigen Halt. Nach dem Auszug beginnt nicht nur für das Kind ein 126

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neuer Lebensabschnitt, sondern auch für die Eltern. Wenn dennoch die Tür im Elternhaus immer offenbleibt, sodass ein temporäres Zurückkommen in der Regel möglich ist, werden in der Familie Bindung und Freiheit gleichzeitig erfahren und gelebt. Auch in der biblischen Erzählung empfängt der Vater seinen wiedergekommenen Sohn mit offenen Armen. Ein Cliffhanger zur heutigen Familie als Zufluchtsort, sobald die äußere Welt ins Wanken gerät? Zunächst ist offensichtlich, dass das heutige Bild von Familie über die herkömmliche Vater-Mutter-Kind-Konstellation hinaus weitaus heterogener gedacht werden muss. Die über Jahre einladend wartenden Kinder- und Jugendzimmer symbolisieren nicht allein, was mit Familie als Rückhaltort assoziiert wird. Vielmehr sind es die vielfältigen Modelle und Beziehungskonstellationen, die den Bedeutungsgehalt von „Familie“ verkörpern – oftmals weitaus treffender als genetisch bedingte Konstellationen. Zum anderen unterstreicht das beobachtete Phänomen das Schutzbedürfnis von (jungen) Menschen in besonders prekären Zeiten. Dass dabei die eigene Familie an Bedeutung gewinnt und zum wortwörtlichen Schutzraum wird, unterstreicht, dass sie als Gemeinschaftsort neu ernstgenommen und bedacht werden muss. Geborgenheit, Fürsorge und Vertrauen werden in familiären Konstellationen allererst und immer wieder neu erfahren. Damit erhält der Familienbegriff in Krisenzeiten auch aus theologischer und ethischer Sicht eine Restauration, zeigt sich doch hier, wie gegenseitige An- und Aufnahme, Versöhnungsbereitschaft und Fürsorge gelebt werden können. Dem Wert der Familie kommt hohe Bedeutsamkeit zu, übernehmen Menschen doch gerade im Zusammenleben der Generationen Verantwortung füreinander und gehen respektvoll und fürsorglich miteinander um. In ethischer Betrachtung ist die digital wahrzunehmende scheinbar verjährte Kulisse junger Erwachsener weder einseitig auf das hintergründige Konfliktfeld Familie noch auf idealisiert durchweg positiv erlebte Familienvereinigung zu verkürzen. Das gegenwärtige Phänomen ruft vielmehr ins Bewusstsein, 127

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dass Familie in den verschiedensten Formen in der Regel für jede*n den ersten Ort gelebter Sozialisation darstellt – im positiven wie im negativen Sinn: Solidarität und Verantwortung gegenüber anderen ebenso wie beispielsweise der Umgang mit Konflikten und menschlichen Charakteren werden auf höchst prägende Weise allererst im persönlichen Familiensystem erfahren. Kehrt der*die junge Erwachsene veranlasst durch äußere Verunsicherung und Krisenerleben wortwörtlich zu seinen*ihren Wurzeln zurück, offenbart sich an diesem Verhalten zum einen die enorme Wirkung der universalen Krisenzeit, nämlich als gesamtgesellschaftliche Erschütterung, die jede*n Einzelne*n tangiert und deren Dimension unabsehbar groß ist. Zum anderen erlebt die Bedeutung der Ursprungsfamilie eine Renaissance, gerade weil sich an der Rückwendung auf familiäre Bindungen und hin zu vertrauten Orten in Zeiten allgemeiner Verunsicherung und Krise zeigt, wie sehr Familie stärkend und Vertrauen bildend bis ins Erwachsenenalter wirkt. Es sind nicht nur die nahestehenden Personen, um die man sich in besonderer Weise angesichts der existentiellen Bedrohung sorgt, sondern auch die räumliche Komponente scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Die einst aufgegebene physische Nähe zu den ursprünglichsten Bezugspersonen erfährt eine positive Neubewertung. Was sich im temporären Wiedereinzug ins ehemalige Kinderzimmer spiegelt, ist ein Schutz- und Sicherheitsbedürfnis einerseits und ein innerfamiliäres Gefühl von Verantwortung und Solidarität gegenüber den anderen andererseits. Wenn Fuchs hofft, dass die Gesellschaft „in der Grenzsituation zu einer neuen Stufe der Selbstverantwortung“ 14 gelangt, so kann Familie als erster und lebenslang bleibender Ort sozialen Miteinanders einen Raum darstellen, in dem die Wiedererlangung gesamtgesellschaftlich gelebter Solidarität in der und über die Erfahrung des Scheiterns hinaus erprobt und gelebt wird.

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Fazit „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18) heißt es im zweiten Schöpfungsbericht – Familie stellt für den Menschen als Gemeinschaftswesen die erste und immerwährende Konstante von Sozietät dar. Am wahrzunehmenden Trend einer Hinwendung junger Erwachsener zur Herkunftsfamilie zeigt sich eine Polarität von Freiwilligkeit und Zwang einerseits sowie die Chance zu einem neuen familiären Miteinander in Solidarität und gegenseitiger Rücksichtnahme andererseits, die jedoch stets gedacht werden muss vor individuell verschieden gelagerten innerfamiliären Konfliktherden. Letztlich weist die Krisensituation mehr denn je die Familie als ursprünglichstes zwischenmenschliches Gefüge und ersten sozialen Lernort aus. In dieser Hinsicht gilt es auf allen Ebenen, Familie als gesamtgesellschaftlich bedeutenden Ort der Gemeinschaft zu begreifen und in all ihren Formen ernst zu nehmen, zu schützen und zu stärken.

Dr. Caroline Teschmer, Vertretungsprofessorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Körperlichkeit und Gender, Sexual- und Familienethik, bioethische Fragestellungen (im Religionsunterricht), Werte-Bildung. Monografie: Mitgefühl als Weg zur Werte-Bildung. Elementarpädagogische Forschung zur Beziehungsfähigkeit als emotional-soziale Kompetenzentwicklung im Kontext religiöser Bildungsprozesse. Göttingen 2014. Katrin Lohse, studentische Hilfskraft am Arbeitsbereich für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Hamburg.

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Anmerkungen 1

Papastefanou 2000, 56. Papastefanou 2000, 67. 3 Vgl. Papstefanou 2000, 58. 4 Vgl. EKD 22013, 20. 5 EKD 22013, 20. 6 Vgl. Anselm/Dabrock 2014, 108 f. 7 Huber 2006. 8 Härle 2011, 350. 9 Fuchs 2020. 10 Fuchs 2020. 11 Fuchs 2020. 12 Vgl. Surall 2015, 483, 487. 13 Aus dem Album AMK (2013), erschienen bei Sony/ATV Music Publishing LLC. 14 Fuchs 2020. 2

Literaturverzeichnis Reiner Anselm/Peter Dabrock, Die Lebensform Familie als „Leitbild“ für Ehe und Partnerschaft, in: Konrad Hilpert/Bernhard Laux (Hrsg.), Leitbild am Ende? Der Streit um Ehe und Familie, Freiburg i. B. 2014, 103–116. Thomas Fuchs im Interview mit Elisabeth von Thadden, Wie soll man mit dieser psychischen Grenzsituation umgehen?, in: ZEIT ONLINE, 2. 5. 2020, online unter: https://www.zeit.de/kultur/202004/krisensituationen-coronavirus-grenzsituation-karl-jaspersphilosophie (Letzter Zugriff: 03. 05. 2020). Wilfried Härle, Ethik, Berlin u. a. 2011. Wolfgang Huber, Familie haben alle, Frankfurt am Main 2006. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der DBK zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Bonn/Hannover 1997. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 22013.

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Christiane Papastefanou, Der Auszug aus dem Elternhaus. Ein vernachlässigter Gegenstand der Entwicklungspsychologie, in: ZSE, Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 20 (2000) 1, 55–69. Frank Surall, Ethik der Lebensformen, in: Wolfgang Huber u. a. (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 451–516.

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COVID-19 als Bildungsherausforderung – Gefahren und (vertane) Chancen Krassimir Stojanov

Die monatelange Schließung der Schulen und der Kindergärten im Zuge der Corona-Pandemie ist Gegenstand intensiver Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit. Dabei stehen eher gesundheits- und sozialpolitische Aspekte dieser Schließung im Vordergrund, wohingegen bildungswissenschaftliche und insbesondere bildungstheoretische Perspektiven nur sporadisch und eher am Rande berücksichtigt werden. Die Diskussion konzentriert sich nach meinem Eindruck darauf, wie die Eltern mit der Doppelbelastung von Home Office und „Homeschooling“ 1 zurechtkommen, welche Auswirkungen die Isolierung der Kinder in ihren Kernfamilien auf ihre psychische Gesundheit hat, und inwiefern ein Präsenzunterricht während der Pandemie ein Gesundheitsrisiko insbesondere für Lehrer/innen darstellen würde. Weniger wird hingegen die Frage beachtet, was die Schließung der Schulen für den eigentlichen Bildungsprozess der betroffenen Kinder und Jugendlichen (nicht nur für ihre Abschlussprüfungen) ausmacht. Ich möchte genau diese Frage in diesem kurzen Essay aufgreifen und dabei nicht nur auf zwei negative Effekte, sondern auch auf zwei Bereicherungspotentiale der aktuellen schulischen Situation für diesen Prozess hinweisen. Diese Potenziale werden jedoch nach meinem Eindruck kaum realisiert.

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COVID-19 als Bildungsherausforderung

Wenn wir etwa mit Hegel davon ausgehen, dass Bildung notwendigerweise eine positive Entfremdung des heranwachsenden Individuums von seiner Familie und von der darin erfahrenen Sozialisation enthält, dann müssen wir, erstens, einen massiven negativen Impact der monatelangen Schließung der Schulen für den Bildungsprozess aller Kinder und Jugendlichen annehmen. Zweitens, wirkt sich diese Schließung besonders negativ auf Kinder aus benachteiligten und/ oder konfliktbeladenen Familien aus, und die in Deutschland ohnehin außerordentlich machtvollen Auswirkungen der Herkunft auf die Bildungschancen und -karrieren der Heranwachsenden werden noch verstärkt – was besonders problematisch in Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit ist. Auf der positiven Seite ist es, drittens, zu vermerken, dass die COVID-Krise die Schulen dazu veranlasst, ihren Unterricht zunehmend zu flexibilisieren und gewissermaßen auch zu individualisieren, indem sie Distanz- mit Präsenzunterricht kombinieren und dabei die spezifischen Bedürfnisse und Lagen der einzelnen Schüler/innen zu berücksichtigen versuchen, oder indem sie etwa Klassenverbände auf- und neuteilen. Diese faktische Flexibilisierung und Individualisierung bleibt jedoch insofern eingeschränkt, als sie erstaunlicherweise nicht auf die allgemeine Schulstruktur bezogen wird, die nach wie vor auf Homogenität setzt. Viertens, bietet die Krise eine sehr gute Gelegenheit an, die Fähigkeit zur Ideologiekritik als ein Hauptmerkmal von Bildung anhand von derzeit alltagsweltlich als zentral empfundenen und kontrovers diskutierten Fragen zu schärfen. Es scheint mir allerdings Skepsis darüber angeboten, ob Schulen diese Gelegenheit tatsächlich auch nutzen (können).

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Krassimir Stojanov

Verwischung der Differenz zwischen öffentlicher Bildung und familiärer Erziehung Folgt man dem an semantischen Reichtum, analytische Schärfe und empirische Anschlussfähigkeiten bis heute nicht zu übertreffenden Bildungskonzept Hegels, so ist Bildung in erster Linie als eine produktive Negation des Familienlebens des Kindes zu verstehen 2. Hegel versteht Bildung als einen Prozess der Verwirklichung individueller Freiheit, der zugleich fest verankert in institutionalisierten Sozialbeziehungen ist. Dieser Prozess ereignet sich zuerst in dem Übergang des Einzelnen zwischen zwei nicht nur sehr unterschiedlichen, sondern im gewissen Sinne normativ entgegengesetzten Formen des sozialen Zusammenlebens, nämlich Familie und bürgerlicher Gesellschaft. Ist nach Hegel die Familie als eine organische Einheit zu verstehen, in der eine quasi-natürliche, begrifflich nicht vermittelte Sittlichkeit vorherrscht, besteht die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Sphäre des öffentlichen Lebens, aus atomisierten Individuen, die ihren je besonderen Interessen, Bedürfnisse und Wertevorstellungen rational bestimmen, artikulieren und miteinander koordinieren müssen. Die Kehrseite des Eintritts des Individuums in die bürgerliche Gesellschaft ist seine Entfremdung von der Lebensform der Familie, wobei ihre vom Kind bislang vor-reflexiv verinnerlichten Sitten und Gebräuchen zum Gegenstand von begrifflicher Artikulation und Transformation gemacht werden. Dadurch entwickeln sich erst bewusste und rationale Wertevorstellungen und Lebenszielen in dem heranwachsenden Individuum, deren Argumentationsbedürftigkeit es dazu treiben, sich an dem Spiel des GründeGebens und nach Gründen-Verlangens zu beteiligen, und dieses Spiel nach und nach besser zu beherrschen, das entscheidend für den Bildungsprozess des Individuums hin zu seiner rationalen Selbst-Bestimmung ist. Die Aufgabe der Schule ist, diese bildungsstiftende Entfremdung von der eigenen Familie 134

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COVID-19 als Bildungsherausforderung

produktiv und anregend für die Kinder zu gestalten, indem die Schule das besagte Spiel des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens in ihrem Unterricht vorgreift, und dabei jedem Kind die kommunikativen Erfahrungen mit anderen Kindern ermöglicht, die familiär anders als es selbst sozialisiert und in anderen Sitten hinein erzogen worden sind. Nun bleiben Kinder und Jugendlichen für die mehreren Wochen der Corona-bedingten Schließung der Schulen und des Lockdowns insgesamt in den engen Rahmen der familiären Lebensform gesperrt. Für diese Zeit bleibt ihnen diese bildungsstiftende Entfremdung von unbewusst internalisierten Sitten und Weltansichten versagt. Dies muss nachteilig für die Entwicklung von allen Kindern und Jugendlichen sein – besonders aber für diejenigen, die in Familien leben, welche unterdurchschnittlich fördernd für sie sind.

Negative Auswirkungen auf Bildungsgerechtigkeit Das Aussetzen des Präsenzunterrichts an Schulen und die monatelange Umschaltung auf Online-Heimunterricht führt zu einer weiteren Verstärkung der in Deutschland ohnehin sehr starken Abhängigkeit von Schulbildungskarrieren und -erfolgen von dem familiären Hintergrund der Schüler/innen. Dies fängt schon damit an, dass ärmere Familien nicht ohne weiteres ein eigenes Notebook ihren Kindern zu Verfügung stellen können. Sollte eine angespannte, konfliktbeladene, oder gar gewalttätige Atmosphäre in der Familie vorherrschen, schlägt sich dies nun mit voller Kraft auf die Kinder nieder, die sich von dieser Atmosphäre überhaupt nicht mehr distanzieren bzw. freimachen können – was sich als sehr schwerwiegend auf ihre Schulbildung auswirken müsste. Und auch Familien, die nicht imstande sind, die fehlende Alltagsstrukturierung der Kinder durch die Schule zu ersetzen, erschweren dadurch ihren Bildungsprozess. Für diesen ist es – wie bereits im letzten Ab135

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Krassimir Stojanov

schnitt ausgeführt – immens wichtig, dass die Kinder die Differenz zwischen familiär-privaten und schulisch-öffentlichen Lebens- und Kommunikationsformen erfahren, die voneinander auch zeitlich und räumlich getrennt sind. Wenn aber das Kind den Unterricht nebenbei am Küchentisch verfolgt, während im Hintergrund etwa der Fernseher läuft, oder während sich das Kind mit Eltern und Geschwistern über alltägliche Angelegenheiten der Familie unterhält, dann ist diese Differenzerfahrung nicht mehr gegeben. Der Online-Heimunterriecht selbst ist viel stärker als herkömmlicher Präsenzunterricht auf die Unterstützung der Kinder durch ihre Eltern angewiesen. Der Input der Lehrenden findet hier in einer viel komprimierteren Form statt, sodass die Aneignung und das Verständnis der Unterrichtsinhalte ein viel größeres Ausmaß an selbstständige Arbeit der Schüler/innen voraussetzen. Diese selbständige Arbeit, etwa in der Form von vermehrten Hausaufgaben, ist ohne die aktive Unterstützung der Eltern kaum zu bewältigen. Eltern, die selbst über ein geringeres Bildungsniveau verfügen, oder Eltern, die den ganzen Tag arbeiten gehen müssen, oder aber Eltern, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Kinder vernachlässigen, können jedoch diese Unterstützung nicht leisten. Umgekehrt gilt, dass Akademiker-Elternpaare, die während der Krise in der Regel von zuhause aus arbeiten, nun viel massiver und viel direkter in die Schulbildung ihrer Kinder unterstützend eingreifen und so ihnen weitere Vorteile in der Schule verschaffen können. Die geschilderten Umstände führen tendenziell zu einer massiven Steigerung der Ungerechtigkeit im Bildungswesen, und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen wirkt sich noch viel stärker auf die schulische Bildung der Heranwachsenden das aus, was in der internationalen Bildungsgerechtigkeits-Diskussion als „brute luck“ bezeichnet wird – also als der Los der besseren oder schlechteren Herkunft. Dies führt dazu, dass herkunftsbedingte Ungleichheiten im Bildungswesen tendenziell noch viel größer werden – dabei waren diese in Deutsch-

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COVID-19 als Bildungsherausforderung

land auch vor der COVID-Krise enorm ausgeprägt, wie dies diverse empirische Studien belegen. Nach den egalitaristischen Ansätzen zur Bildungsgerechtigkeit sind herkunftsbedingte Ungleichheiten das Hauptmerkmal von Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Aber auch nach den non-egalitaristischen Ansätzen, die nicht auf Gleichheit im Bildungswesen setzen, sondern auf die Bestimmung einer Schwelle von Fähigkeiten und Kenntnissen, die von jeder/m Schüler/in erreicht werden soll, damit sie oder er aktiv am wirtschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft teilhaben kann, führt die Umstellung auf Online-Heimunterricht tendenziell zu mehr Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Denn, zweitens, gefährdet diese Umstellung massiv die Entwicklung von Fähigkeiten und den Wissenserwerb bei Schüler/innen, die in einem ungünstigen familiären Umfeld im oben dargelegten Sinne leben. Dadurch entsteht die reale Gefahr, dass viele dieser Schüler/innen die Schwelle nicht erreichen, die für wirtschaftliche und politische Teilhabe sowie dafür unentbehrlich ist, dass man als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft fungieren kann, das sich nicht zum Gegenstand von Ausbeutung oder Diskriminierung machen lässt. Damit diese eklatante Ungerechtigkeit verhindert wird, ist unter anderem ein Unterricht vonnöten, der der Individualität von Bildungsprozessen und -wegen Rechnung trägt. Was an dieser Stelle gefragt ist, ist eine Heterogenisierung des Unterrichtsgeschehens. Einige Ansätze dazu finden sich in dem aktuellen Vorgang der partiellen und sich stufenweise vollziehenden Wiedereröffnung der Schulen, die nun kurz in ihrer Bedeutung als mögliche Gegentrends zur Verstärkung von Bildungsungerechtigkeit erörtert werden sollen.

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Heterogenisierung vom Unterricht als Anstoß für überfällige Strukturreformen im Bildungswesen? Seit einigen Wochen (Stand Anfang Juni 2020) findet in Deutschland eine partielle und zwar weitgehend nach Bedürfnissen und Lagen von Schüler/innen differenzierende Wiedereinführung vom Präsenzunterricht statt. Dabei werden die Schulen für Schüler/innen geöffnet, die vor besonderen Herausforderungen stehen (Abschlussprüfungen), oder aber für Schüler/innen, deren häusliche Situation besonders schwierig ist. Darüber hinaus werden Klassen zweitgeteilt, damit der Präsenzunterricht in kleineren Gruppen stattfinden kann, und er wechselt sich mit Phasen des Online-Heimunterrichts ab. Dabei können diese Phasen den individuellen Lernprozessen und -bedürfnissen der Schüler/innen angepasst werden – diejenigen etwa, die mit dem Heimunterricht besser zurechtkommen, bzw. ihn bevorzugen, könnten länger zuhause bleiben, und so Plätze in der Präsenzgruppen für diejenigen freimachen, die diese Plätze eher benötigen. Diese Flexibilisierungszüge könnten als eine – derzeit eher unbewusste – Verabschiedung von dem bislang vorherrschenden Homogenitäts-Dogma schulischen Unterrichts gedeutet werden, nach dem alle Schüler/innen im Gleichschritt dieselben Inhalte zu selber Zeit und nach den gleichen Methoden lernen sollen. Genau dieses Homogenitäts-Dogma untermauert aber letztlich die frühkindliche Selektion, so wie sie etwa im dreigegliederten Schulsystems der meisten deutschen Bundesländer nach wie vor praktiziert wird. Diese Selektion gründet sich auf die Prämisse, dass Kinder, die in einem Alter von 10 Jahren ein bestimmtes Niveau an Kenntnissen und Kompetenzen nicht erreicht haben, grundsätzlich für das Abitur nicht tauglich sind, das erst neun Jahre später zu bestehen wäre, und deshalb das Gymnasium nicht besuchen sollen. Dabei sollen gerade die Erfahrungen der letzten drei Monaten allen klargemacht haben, wie individuell und zeitlich 138

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unterschiedlich die Wege des Erwerbs von Wissen und Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind, und wie stark diese Wege von temporären und kontingenten Faktoren abhängen, die nichts mit unterstellten „Begabungen“ oder „kognitiven Ausgangskompetenzen“ zu tun haben: wenn man davon ausgeht, dass der Ersatz von Präsenzunterricht durch Online-Unterricht die Lernprozessen bei vielen Kinder und Jugendlichen verzögert, ohne dabei ihre grundsätzliche „Abiturtauglichkeit“ in Frage zu stellen, warum kann man dasselbe nicht etwa in Bezug auf familiären Krisen, traumatische Erfahrungen oder zusätzlichen Zeitbedarf für das Erlernen der Unterrichtssprache in dem Fall von Migration annehmen? Es ist erstaunlich, dass die vor unseren Augen stattfindende Heterogenisierung vom Unterricht, (noch) keine nennenswerten öffentlichen Diskussionen über die Legitimität und die Zweckmäßigkeit schulischer Selektion veranlasst hatte. Vielleicht ist es aber auch noch zu früh, sich die COVID-Krise in ihren bildungspolitischen Konsequenzen bewusst zu machen. Zu dieser Bewusstmachung können Schulen übrigens selbst beitragen, indem sie die Krise zum Unterrichtsthema machen. Damit komme ich zu meinem vierten und letzten Punkt in diesem Essay.

Die COVID-Pandemie als Unterrichtsthema? In der 1990er Jahren hat Wolfgang Klafki eine Konzeption von Bildung im Medium des Allgemeinen als Befassung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen vorgelegt. Dies sind Fragen, die eine globale Bedeutung haben und zugleich jeden Einzelnen zentral betreffen 3. Heutzutage ist diese Konzeption jenseits von manchen Vorlesungen zu Allgemeiner Pädagogik weitgehend in Vergessenheit geraten. Dies nicht ganz zu Unrecht, da die Listen von epochaltypischen Schlüsselproblemen, die Klafki vorgelegt hat, nicht frei von Beliebigkeit sind, und da die Begründung der 139

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Notwendigkeit der Befassung mit solchen Problemen bei Klafki weniger bildungsimmanent verläuft, sondern diese Notwendigkeit eher mit politischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen untermauert wird. Allerdings es ist ohne weiteres evident, dass die CORONAPandemie eine weltumspannende Problematik ist, die zugleich jeden einzelnen Menschen auf der Erde zentral betrifft. Und im Lichte des im ersten Abschnitt skizierten hegelianischen Bildungsbegriffs ist es anzunehmen, dass die diskursive Befassung mit dieser Problematik den Bildungsprozess jeden Einzelnen vorantreiben kann, insofern dieser Prozess im Wesentlichen in die begrifflich-argumentative Selbst-Artikulation der eigenen existenziellen Erfahrungen, Ängste und ursprünglich intuitiven Ansichten besteht. Die CONVID-Pandemie als Unterrichtsgegenstand würde sich bestens dazu eignen, diese begrifflich-argumentative Selbst-Artikulation anhand einer Thematik zu entfalten, die wirklich die Existenz der meisten Menschen auf einer oder anderen Weise zentral betrifft. Und da diese Artikulation mit einer reellen oder virtuellen Teilnahme jeder Schülerin und jedes Schülers an dem aktuell kontrovers geführten Diskurs über die Genese des Virus, das Ausmaß der Bedrohung, die von ihm ausgeht, und die Maßnahmen (und ihre Nebenwirkungen) zur Eindämmung seiner Verbreitung einhergeht, setzt diese Selbst-Artikulation die Einschätzung, das Abwiegen und die kritische Überprüfung der Argumente zu den kontroversen Positionen in diesem Diskurs voraus. Inwiefern ist es legitim, Grundrechte der Einzelnen im Namen des Gesundheitsschutzes aller einzuschränken? Welche Positionen sind wissenschaftlich begründet, und welche sind Ausdruck von Verschwörungstheorien? Wie funktioniert Wissenschaft und wie und aufgrund von welchen Standards werden wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgebracht? Welche Argumente sind als ideologisch, als Ausdruck von privaten Interessen zu betrachten, und welche sind als wahrheitsbezogen anzuerkennen? Was bedeutet überhaupt Wahrheit, und wie könnte sie erreicht werden? 140

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Dies sind nur einige der Fragen, die sich anhand der COVID-Krise hervorragend behandeln lassen würden. Die Befassung mit diesen und ähnlichen Fragen würde nicht nur die Fähigkeit der Schüler/innen zur begrifflichen Selbst-Artikulation, sondern auch ihre Fähigkeit zum ideologiekritischen Denken fördern, das als zentrales Merkmal von Bildung gelten dürfte. Nutzen aber die Schulen in der Tat diese Chance? Dazu sind bislang noch keine Untersuchungen vorhanden. Mir sind jedenfalls keine Schulen bekannt, die die COVID-Krise systematisch zu einem Unterrichtsgegenstand machen. Vielleicht ist das Schulsystem dazu strukturell auch kaum fähig, weil es zu stark immer noch durch die herkömmliche Vorstellung vom Unterricht geprägt ist, wonach dieser in der Vermittlung von kanonisierten Inhalten besteht, die keine Vermittlung mit den alltäglichen Erfahrungen und Erlebnissen der Schüler/innen bedürfen. Über die COVID-Krise hat sich bisher – glücklicherweise – noch keine allgemeinverbindliche „Lehrmeinung“ ausgebildet, die ihre Kanonisierung als Gegenstand herkömmlichen Unterrichts ermöglichen würde. Genau darin besteht das mit der Krise verbundene bis dato wohl kaum hinreichend genutzte Bildungspotenzial dieser Krise.

Krassimir Stojanov ist seit 2012 Professor für Systematische Pädagogik/Bildungsphilosophie an der KU-Eichstätt-Ingolstadt, davor war er Professor für Bildungstheorie und Bildungsphilosophie an der Universität der Bundeswehr München. Zu seinen zentralen Forschungsgebieten zählen die (analytische) Bildungsphilosophie, sowie die Kategorien der Bildung und der Gerechtigkeit.

Anmerkungen 1

„Homeschooling“ hat sich in den letzten Wochen als Bezeichnung für den temporären Distanzunterricht auf der Basis von digitalen

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Krassimir Stojanov

Plattformen und Mitteln eingebürgert. Diese Bezeichnung ist jedoch irreführend, weil „Homeschooling“ traditionell eigentlich eine in Deutschland nicht zulässige Alternative zur Beschulung der Kinder darstellt, bei der sie überhaupt nicht an öffentlichen oder privaten Schulen angemeldet werden, sondern ausschließlich zuhause von ihren Eltern unterrichtet werden. 2 Das folgende Umriss einiger wichtiger Punkte des Bildungskonzepts Hegels ist das Ergebnis meiner detaillierten Rekonstruktionen dieses Konzepts in meinem Buch „Education, Self-Consciousness and Social Action. Bildung as a Neo-Hegelian Concept“ (London and New York: Routledge (2018)). Dort finden sich auch die entsprechenden Referenzen zu einschlägigen Textpassgen in Hegels Schriften. 3 Vgl. Klafki 2007, 56–69.

Literaturverzeichnis Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 4. Auflage, Weinheim und Basel: Beltz (2007). Krassimir Stojanov, Education, Self-Consciousness and Social Action. Bildung as a Neo-Hegelian Concept, London and New York: Routledge (2018).

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Schule und Chancengleichheit: Lehren aus der COVID-19-Pandemie Kirsten Meyer

Lässt sich während der COVID-19-Pandemie Chancengleichheit in der Bildung bewahren? Reflexionen über diese Frage zeigen, dass es um die Chancengleichheit in unserem Schulsystem auch schon vor der Pandemie schlecht bestellt war. Aus diesem Grund, so die These dieses Beitrags, lassen sich unterschiedlich gute Bildungsergebnisse nicht sinnvoll mit dem Hinweis rechtfertigen, dass immerhin alle die gleichen Bildungschancen hatten. Dies gilt auch für die in der COVID19-Pandemie besonders offensichtlich gewordene Tatsache, dass viele der systemrelevanten Berufe vergleichsweise schlecht bezahlt werden – die Unterstellung von vermeintlich gleichen Bildungschancen liefert hierfür keine angemessene Rechtfertigung. Im Zuge der Schulschließungen während der COVID-19Pandemie erhalten die Schüler*innen Aufgaben, die sie zu Hause bearbeiten sollen. Wie gut sie diese Aufgaben bearbeiten können, liegt aber entscheidend an ihrem Zuhause. Zum einen sind hier die äußeren Umstände zu nennen, wie etwa die technische und räumliche Ausstattung. Manche Schüler*innen können keine per Email versendeten Arbeitsblätter bearbeiten, weil zu Hause kein Drucker vorhanden ist, die Bearbeitung aber darauf angelegt ist, dass die Blätter ausgedruckt werden. Selbst wenn die Arbeitsblätter auch am Computer bearbeitet werden können, ist dies nicht für alle Schüler*innen eine Lö143

wbg Drerup / p. 144 / 29.6.2020

Kirsten Meyer

sung. In manchen Elternhäusern ist gar kein Computer vorhanden, oder die Kinder teilen sich den Computer mit ihren Eltern, die aber ebenfalls daran arbeiten müssen. Auch die räumlichen Gegebenheiten sind unterschiedlich. Manche Kinder haben ein eigenes Zimmer, in dem sie in Ruhe für die Schule arbeiten können, andere teilen sich ein Zimmer mit ihren Geschwistern. Einige Kinder müssen auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen, während ihre Eltern arbeiten, und können in dieser Zeit nichts für die Schule tun. Ähnliche Disparitäten bestehen auch mit Bezug auf Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern. Manchen Kindern wird von den Eltern geholfen, wenn sie etwas nicht verstehen, andere sind darin ganz auf sich allein gestellt. Manche Eltern haben selbst die Kapazitäten, sich darum zu kümmern, dass ihre Kinder die schulischen Aufgaben bearbeiten, andere sind mit für sie noch dringenderen Problemen beschäftigt. Wenn das Einkommen wegbricht, ist die Frage, wie eine Matheaufgabe zu lösen ist, zweitrangig. Es ist nicht möglich, solche Formen der Ungleichheit gänzlich zu nivellieren. Aufgaben könnten von dem technischen Medium unabhängig gemacht werden, etwa indem nicht vorausgesetzt wird, dass die Schüler*innen zu Hause über einen Drucker oder Computer verfügen. Schulen könnten auch selbst technische Geräte zur Verfügung stellen und etwa Laptops zum Ausleihen anbieten. Eine Unterstützung in den anderen genannten Bereichen ist aber kaum leistbar. Weder eine laute Lernumgebung zu Hause noch die Betreuung der Geschwister kann beispielsweise von Seiten der Schule kompensiert werden. Auch schon vor der COVID-19-Pandemie waren solche Unterschiede relevant. Dieselben Unterschiede wie die eben genannten gibt es z. B. bei der Bearbeitung von Hausaufgaben. Nicht erst seit der COVID-19-Pandemie sind manche Kinder in der Bearbeitung der Hausaufgaben völlig auf sich alleine gestellt. Es macht einen Unterschied, ob Kinder ihre Eltern um Rat oder Hilfe bitten können. Manchen Eltern fehlt das 144

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Schule und Chancengleichheit

inhaltliche Verständnis, um diese Fragen beantworten zu können, anderen fehlt schlicht die Zeit oder die Kraft. Während der COVID-19-Pandemie ist die Tochter einer alleinerziehenden Krankenpflegerin morgens alleine zu Hause, wenn die Schule geschlossen ist. Aber auch vor der COVID-19-Pandemie war sie bereits nachmittags und abends alleine zu Hause, wenn ihre Mutter im Dienst war. Und auch vor der COVID19-Pandemie waren finanzielle Sorgen mancher Eltern diesen gerade wichtiger als die Hausaufgaben in Mathematik. Dennoch sind Hausaufgaben an vielen Schulen nach wie vor ein wichtiger Bestandteil des schulischen Erfolgs, z. B. im Rahmen der Einübung von bereits Gelerntem. Auch in solchen Übungsphasen kann es aber vorkommen, dass manche Kinder das Gelernte nicht gut genug verstanden haben. Eltern können sich diesem Problem in ganz unterschiedlicher Weise annehmen. Außerdem motivieren sie ihre Kinder in unterschiedlichem Maße dazu, die Hausaufgaben zu bearbeiten. Auch jenseits der Hausaufgaben macht es für das Lernen in der Schule einen erheblichen Unterschied, welche Hilfestellungen die Kinder für die Organisation ihres schulischen Alltags erhalten, wie sehr sie sich auf das Lernen konzentrieren können und wie motivierend ihr Elternhaus ist. Wie wichtig den Eltern der schulische Erfolg ihrer Kinder ist, hat einen Einfluss darauf, wie wichtig dieser den Kindern selbst ist. Und selbst wenn den Eltern der schulische Erfolg sehr wichtig ist, können die notwendigen Voraussetzungen fehlen, um Unterstützung anbieten zu können. So können z. B. sprachliche Schwierigkeiten der Kinder, die dem Schulerfolg im Weg stehen, meistens auch von den Eltern nicht gelöst werden. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache sind daher systematisch benachteiligt. Aus all diesen Gründen wurde die Forderung nach Chancengleichheit auch schon vor der COVID-19-Pandemie nicht eingelöst. Es gibt durchaus Möglichkeiten, sie vergleichsweise besser einzulösen, etwa indem Schüler*innen, die Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, gezielt gefördert werden. Hausaufgaben könnte man ganz abschaffen, damit die häusliche Umge145

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Kirsten Meyer

bung keinen Einfluss darauf hat, wie gut die unterschiedlichen Schüler*innen das Gelernte üben können. Es gibt aber durchaus Punkte, bei denen man generell skeptisch sein muss, inwiefern sich Unterschiede überhaupt nivellieren lassen. Dazu gehören z. B. Unterschiede in dem Bildungshintergrund und den Bildungsaspirationen der jeweiligen Eltern, die einen Einfluss auf das Aufwachsen der Kinder, ihre Hoffnungen und Erwartungen, ihr Zutrauen in ihre Fähigkeiten und damit generell auf den Bildungserfolg haben. Sollte man angesichts dieser Schwierigkeiten dennoch an der Forderung nach Chancengleichheit festhalten? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst, die Forderung nach Chancengleichheit besser zu verstehen 1. Wenn ein Arbeitgeber in seinem Unternehmen systematisch keine Mitglieder bestimmter Bevölkerungsgruppen einstellt, weil er diesbezüglich Vorurteile hegt, dann liegt ein Verstoß gegen die Forderung nach formaler Chancengleichheit vor. Diese Forderung lässt sich somit als ein Diskriminierungsverbot verstehen. Sie impliziert zum einen, dass niemandem rechtlich der Zugang zu bestimmten Positionen verwehrt sein soll. Darüber hinaus kann sie als ein moralisches Verbot der Diskriminierung verstanden werden. Ein solches Diskriminierungsverbot schließt z. B. eine Benachteiligung aufgrund eines Migrationshintergrundes in einem Bewerbungsverfahren aus. Darüber hinaus muss aber schon das Qualifikationsverfahren der Forderung nach Chancengleichheit genügen. Dies ist der Fall, wenn jeder eine faire Chance hatte, sich zu qualifizieren. Eine solche Forderung nach fairer Chancengleichheit findet sich bei John Rawls. Er betont, dass allen Bürgern die attraktiven Positionen unter den Bedingungen der fairen Chancengleichheit offenstehen müssen 2. Demnach sollten nicht nur gleich Qualifizierte die gleichen Chancen haben, sondern alle sollten die gleichen Chancen haben, sich zu qualifizieren. Da die schulische Bildung einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie gut die Aussichten darauf sind, bestimmte attraktive Positionen zu bekleiden, müssen gleich gute Bildungs146

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möglichkeiten gewährleistet werden. Dies sei eine der zentralen Bedingungen dafür, faire Chancengleichheit zu garantieren. Rawls denkt dabei z. B. an gleiche Bildungsmöglichkeiten unabhängig von dem familiären Einkommen. Wenn nur eine teure Privatschule den Zugang zu einer guten Universität ermöglicht, ist insofern keine Chancengleichheit gegeben. Die Rede von gleichen Chancen auf Bildung drückt sich also in der Forderung nach gleichen Chancen auf das Erreichen eines bestimmten Bildungsabschlusses unabhängig von der sozialen Herkunft aus. Schlechtere Aussichten auf das Erreichen solcher Bildungsziele lassen sich auf das Vorliegen bestimmter Hindernisse zurückführen, die dem Erreichen dieses Ziels entgegenstehen oder dieses erschweren. So gibt es eine Vielzahl von Hindernissen zwischen den einzelnen Individuen und deren Bildungszielen. Dazu zählen die direkte Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen und die Erhebung von Schulgeld, welches Kindern aus einkommensschwachen Elternhäusern den Zugang zu bestimmten Bildungseinrichtungen verwehrt. Es geht hier aber nicht lediglich um monetäre Güter. Auch die Tatsache, dass Deutsch als Zweitsprache erworben wurde, kann das Erreichen bestimmter Bildungsziele beispielsweise erschweren. Der Bildungsbereich ist also ein zentraler Gegenstand der Forderung nach Chancengleichheit. Dabei ist zwischen der Forderung nach gleichen Chancen auf Bildung und gleichen Chancen durch Bildung zu unterscheiden. Chancengleichheit durch Bildung nimmt Bildung vorrangig als Mittel zum Zweck des Erreichens anderer Güter in den Blick (etwa beruflicher Perspektiven oder monetärer Güter). Die Forderung nach gleichen Chancen auf Bildung („gleichen Bildungschancen“) meint dagegen, dass alle die gleichen Chancen haben sollten, bestimmte Bildungsabschlüsse zu erwerben. Der Erwerb der Hochschulreife sollte z. B. nicht von dem Bildungshintergrund der Eltern abhängen. Gleiche Bildungschancen als Teil von fairer Chancengleichheit meint gleiche Chancen auf Bildung. Doch was genau ist mit gleichen „Chancen“ auf Bildung 147

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gemeint? Was unterscheidet gleiche Bildungschancen von gleichen Bildungsergebnissen? Eine Chance verweist auf eine Option, die eine Person hat, etwas Bestimmtes zu tun. Dabei geht es um eine Option, welche sie wahrnehmen, aber auch ausschlagen kann. Es liegt also bei ihr, ob sie von ihrer Chance tatsächlich Gebrauch macht oder nicht. So lässt sich z. B. die Forderung interpretieren, dass alle hinlänglich begabten Schülerinnen und Schüler die gleiche Chance haben sollten, Bildungszertifikate zu erwerben, die den Besuch einer Universität ermöglichen. Wenn sie dieses Ziel erreichen wollen, dann sollen sie es auch erreichen können. Sie sollen daran nicht prinzipiell gehindert werden und die Rahmenbedingen sollten für sie auch nicht schlechter sein als für andere. Die Forderung, einer Schülerin eine Chance auf das Erreichen eines bestimmten Zieles zu geben, impliziert also, dass sie die Möglichkeit haben soll, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen – wenn sie es erreichen will. Allerdings kann diese Möglichkeit an weitere Voraussetzungen gebunden sein. Im Kontext des Bildungssystems kommt dafür vor allem die individuelle Begabung in Frage. Deshalb wird oft einschränkend gefordert, alle hinlänglich begabten Schülerinnen und Schüler sollten die Möglichkeit haben, die Hochschulreife zu erwerben. Die Rede von einer Möglichkeit suggeriert hier, dass sie die Hochschulreife erwerben können sollen, falls sie das wollen und sich entsprechend anstrengen, und falls sie die dazu nötigen Voraussetzungen mitbringen. Allerdings sind diese Einschränkungen nicht unproblematisch. Sie kollidieren nämlich mit der Forderung, dass die soziale Herkunft keinen Einfluss auf die Bildungsaussichten haben soll. Denn wenn man davon ausgeht, dass Begabungen zum Teil erworbene Potentiale zu bestimmten Leistungen sind, dann hängt deren Erwerb wiederum von der sozialen Herkunft ab 3. Auch die Bildungsaspirationen werden von dem Elternhaus mitgeprägt. Die schulische Motivation ist daher nicht ohne weiteres von der sozialen Herkunft zu trennen. Es ist fragwürdig, die Leistungsbereitschaft und Motivation als un148

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veränderliche individuelle Konstante zu betrachten, die unabhängig von den Einflüssen der Eltern und des jeweiligen sozialen Umfeldes besteht. Daher fällt die Motivation nicht allein in den Verantwortungsbereich der Individuen. Dies dürfte insbesondere im Bildungsbereich einschlägig sein, weil hier hinzukommt, dass man Kinder für ihre Entscheidungen nicht umfänglich verantwortlich erklären kann. Harry Brighouse und Adam Swift erwägen aus diesem Grund eine alternative Konzeption der Bildungsgerechtigkeit. Dieser Konzeption zufolge solle man generell darum bemüht sein, unterschiedliche Bildungsergebnisse zu verhindern, und zwar unabhängig von deren vermeintlicher Ursache. Auch wenn ein Kind schlechtere Bildungsergebnisse erzielt, weil es sich weniger anstrengt, legitimiert dies unterschiedliche Bildungsergebnisse dieser Konzeption zufolge nicht 4. Eine solche Konzeption der Bildungsgerechtigkeit hat für die Rede von gleichen Chancen auf Bildung keinen Platz mehr. Stattdessen werden gleiche Bildungsergebnisse gefordert. Die Forderung nach einer Angleichung von Bildungsergebnissen kann die Forderung nach gleichen Bildungschancen allerdings nicht vollständig ersetzen. Erstens ist nicht davon auszugehen, dass die vollständige Egalisierung von Bildungsergebnissen tatsächlich erreichbar ist, ohne diejenigen, die mehr erreichen könnten, darin erheblich zu beschneiden. Zweitens beinhaltet Bildung zumindest in höheren Altersstufen ein Element der Selbstbestimmung. Das Individuum trägt auch selbst zu seiner Bildung bei und die Forderung nach gleichen Bildungsergebnissen läuft dieser Vorstellung von einem selbstbestimmten Bildungsprozess entgegen. Eine Erklärung dafür, dass es nicht um gleiche Ergebnisse, sondern um gleiche Chancen gehen sollte, besteht also darin, dass man in bestimmten Bereichen allenfalls Angebote machen kann und will. So ist etwa der Erwerb bestimmter Bildungszertifikate oder ein Hochschulstudium ein Angebot, welches die Schüler*innen wahrnehmen, aber auch ausschlagen können. Die Rede von Bildungschancen greift dieses Element von Selbstbestimmung auf. 149

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Auch die Forderung nach gleichen Bildungsressourcen kann die Forderung nach gleichen Bildungschancen nicht ersetzen. Zwar lässt die Forderung nach gleichen Bildungsressourcen Raum für individuelle Entscheidungen. Gegen die Forderung nach einer Gleichheit von Bildungsressourcen spricht aber, dass Kinder abhängig von ihren unterschiedlichen Fähigkeiten verschieden viele Ressourcen für ihre Bildung benötigen. Daher sollten schlechtere sprachliche Fähigkeiten beispielsweise durch zusätzliche Bildungsressourcen ausgeglichen werden. Lässt sich die Forderung nach gleichen Bildungschancen also beibehalten, ohne ihre problematischen Seiten zu vergessen? Falls sie beibehalten wird, sollte man stets betonen, dass Kinder nicht umfänglich für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden können. Wenn sie etwa nicht ausreichend motiviert sind, das zu leisten, was für den Erwerb bestimmter Bildungszertifikate nötig ist, dann sollten sie zusätzlich motiviert werden, statt retrospektiv darauf zu verweisen, dass sie immerhin eine Chance hatten und nun selbst dafür verantwortlich sind, diese nicht genutzt zu haben. Probleme dieser Art lassen sich zusätzlich angehen, indem man die Forderung nach Chancengleichheit zu einem späteren Zeitpunkt erneuert und etwa das Nachholen bestimmter Bildungsabschlüsse in späteren Lebensphasen ermöglicht 5. Zudem sollte man im Blick behalten, dass ungleiche Lebensaussichten nicht durch gleiche Bildungschancen legitimiert werden. Denn sonst besteht die Gefahr, das Ideal gleicher Lebensaussichten, von dem das Ideal gleicher Bildungschancen eigentlich seinen Ausgang nimmt, systematisch zu unterlaufen. Es wird unterlaufen, wenn man sich allein auf die Forderung nach gleichen Chancen auf Bildung konzentriert und suggeriert, dass das ausreicht, um für gleiche Chancen durch Bildung zu sorgen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Dies liegt vor allem daran, dass tatsächlich eben keine gleichen Bildungschancen vorliegen. Der Verweis auf gleiche Bildungschancen zur Rechtfertigung monetärer Ungleichheit ist daher verfehlt. Faktisch liegen keine gleichen Bildungschancen 150

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vor, und daher lässt sich die ökonomische Ungleichheit nicht damit rechtfertigen, dass jede*r die gleiche Chance hatte, einen besseren Beruf zu ergreifen. Darüber hinaus ist aber nicht einmal klar, warum gleiche Bildungschancen ein unterschiedliches Einkommen rechtfertigen würden, falls sie (kontrafaktisch) bestünden. Selbst wenn die Bildungsaussichten nicht länger an der sozialen Herkunft hängen würden (was sie freilich in hohem Maße tun), würde dies keine Ungleichheit der Lebensaussichten rechtfertigen. So wäre damit beispielsweise noch nicht gerechtfertigt, dass der Bildungsabschluss stark mit dem späteren Einkommen korreliert. Bei tatsächlich gleichen Bildungschancen würden ja nur noch die natürliche Begabung und die selbstbestimmt angestrebte Höhe des Bildungsabschlusses Gründe für unterschiedlich gute Bildungsergebnisse darstellen. Allerdings ist unklar, warum das die Abhängigkeit der späteren Verdienstmöglichen von der Höhe des Bildungsabschlusses begründen sollte. Was rechtfertigt das viel geringere Einkommen, wenn man sich statt für den Beruf des Arztes für den des Pflegers entschieden und seinen Bildungsweg darauf ausgerichtet hat? Hier besteht ein weiterer Zusammenhang mit der COVID19-Pandemie. Denn diese führt nicht nur vor Augen, dass es große Unterschiede in den Bildungschancen gibt, sondern auch die großen Einkommensunterschiede sind in den Blick geraten. Gerade die in der Pandemie sogenannten „systemrelevanten“ Berufe, die weniger hohe Bildungsabschlüsse voraussetzen, sind oftmals vergleichsweise schlecht bezahlt, wie etwa der Beruf des Kassierers in einem Supermarkt. Und das Pflegepersonal in den Krankenhäusern leistet nicht nur während der COVID-19-Pandemie besonders viel, sondern Nachtdienste gehörten bei vergleichsweise schlechter Bezahlung auch schon vorher zum Arbeitsalltag. Außerdem sieht man während der COVID-19-Pandemie besser, dass viele Formen der Sorgearbeit gar nicht entlohnt werden, obwohl sie ebenso systemrelevant und zeitaufwändig sind. Der Zugang zur Erwerbsarbeit hängt auch vom Bildungs151

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Kirsten Meyer

erfolg ab, aber eine unterschiedliche Entlohnung ist keineswegs durch einen geringeren Bildungserfolg gerechtfertigt. Zum einen kann man sich dazu nicht auf die nur vermeintlich eingelöste Forderung nach Chancengleichheit berufen, und zum anderen steht grundsätzlich in Frage, dass die Einlösung dieser Forderung die hohen Einkommensunterschiede überhaupt rechtfertigen würde. Die Bemühungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sind eine große soziale Leistung. Viele Menschen schränken sich zugunsten der von dem Virus stark bedrohten Menschen erheblich ein. Vielleicht kann die Pandemie ja dazu beitragen, soziale Schieflagen, wie etwa die fehlende Chancengleichheit und die ungerechtfertigten Einkommensunterschiede, verstärkt in den Blick zu nehmen. Es wäre zumindest sehr zu wünschen, dass diese kontinuierlich und nicht erst seit der COVID-19-Pandemie bestehenden Probleme als nächstes angegangen werden.

Kirsten Meyer, Professorin für Praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Normative Ethik, Politische Philosophie, Bildungsphilosophie, Angewandte Ethik. Jüngste Monographie: Was schulden wir künftigen Generationen? Reclam 2018.

Anmerkungen 1

Für eine erhellende Analyse verschiedener Forderungen nach Chancengleichheit in der Bildung siehe auch Jencks 1988. 2 Vgl. Rawls 2003, 73 f. 3 Vgl. dazu Meyer 2020. 4 Vgl. Brighouse/Swift 2014, 18. 5 Vgl. dazu auch Sachs 2012.

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Literaturverzeichnis Harry Brighouse/Adam Swift, The place of educational in equality in educational justice, In: Kirsten Meyer (Hrsg.), Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system, Oxford (2014), 14–33. Christopher Jencks, Whom must we treat equally for educational opportunity to be equal?, In: Ethics 98 (1988), 518–533. Kirsten Meyer, Talents, Abilities and Educational Justice, In: Educational Philosophy and Theory (2020), 1–11. John Rawls, A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge, MA, 2003 [Orig. 1971]. Benjamin Sachs, The Limits of Fair Equality of Opportunity, In: Philosophical Studies 160/2 (2012), 323–343.

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Schulschließung – eine Chance für die Grundschule? Uta Hauck-Thum

Seit Mitte März ruht nun der Unterrichtstrieb. Aktuell wird er nach und nach wieder aufgenommen, doch dauert es wohl noch bis ins Jahr 2021, bis die Kinder wie gewohnt an die Schulen zurückkehren werden. Sowohl in Zeiten des Shutdown wie auch jetzt im Zuge der schrittweisen Wiederaufnahme des Unterrichts werden an Grundschulen in Deutschland unterschiedliche Konzepte erprobt, die das Ziel verfolgen, bestehende Strukturen auch unter veränderten Bedingungen am Laufen zu halten. Zum besseren Verständnis des Systems Grundschule ist ein Blick in die Vergangenheit nötig. Die Grundschule wurde in Deutschland als erste Schule für alle Kinder im Jahre 1919 eingerichtet und hat sich in den vergangenen 100 Jahren aufgrund politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen gewandelt. Fölling-Albers verweist auf Veränderungen, die sich sowohl auf der Oberflächenebene (Klassengröße, Arbeitsmittel, Koedukation, Feminisierung des Lehrerberufs etc.) als auch auf der strukturellen Ebene feststellen lassen (Abschaffung der Prügelstrafe, Liberalisierung der Erziehungsnormen, positives Lernklima). Individuelle Entwicklungsunterschiede und Lernausgangslagen rückten im Rahmen der Förderung immer stärker in den Blick. Die von der Weimarer Grundschule angestrebte Selbsttätigkeit der Kinder wird heute ergänzt durch vielfältige Formen der Selbstbestimmung im Rah154

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Schulschließung

men demokratischer Erziehung. Allerdings sind entscheidende Merkmale von Schule bis heute stabil geblieben. Unterricht findet nach wie vor in Gebäuden und Räumen statt, die für diesen Zweck erbaut wurden und wird von Personen durchgeführt, die für das Lehren und Lernen in der Schule ausgebildet wurden. Zum Einsatz kommen eigens für das schulische Lernen entwickelte Lehr- und Lern-Materialien. Der Schultag ist fremdbestimmt, sowohl was Anwesenheit und Zeit in der Schule, die Auswahl bestimmter Inhalte als auch die Art der Leistungsmessung angeht. Im Anschluss an vielfältige individuelle Fördermaßnahmen erfolgt am Ende der vierten Klasse bis heute eine Auslese der Kinder nach Leistungsunterschieden. Diese Merkmale kennzeichnen eine Kultur des Lehrens und Lernens, die über die Dauer der Zeit stabil geblieben ist 1. Auch unter den veränderten Bedingungen einer digitalisierten Welt hat sich daran nichts geändert. Digitalisierung erscheint im Bildungskontext nach wie vor als wählbare Option. Digitale Medien werden in der Grundschule größtenteils als Werkzeuge verstanden, um Unterricht besser zu machen bzw. Inhalte verständlicher und effizienter zu vermitteln und zu präsentieren. Eingesetzt werden sie dann, wenn sie einen vermeintlichen „Mehrwert“ generieren 2. Mit dem Beginn des Shutdowns war es Lehrpersonen jedoch mit einem Mal nur noch über den Einsatz digitaler Medien möglich, mit Kindern in Kontakt zu treten. Nach einer ersten Phase der Orientierung wurde nach raschen Lösungen zur Gestaltung von Fernunterricht gesucht, der in erster Linie darin bestand, Kinder zu Beginn der Woche mit gewohntem Material zu versorgen, das sie dann möglichst selbstständig von zuhause aus bearbeiten konnten. Häufig sehr zum Leidwesen vieler Eltern, die sich plötzlich neben ihrer beruflichen Tätigkeit in der Rolle der Ersatzlehrkraft wiederfanden. Die Bandbreite der Verteilungsoptionen reichte von Schachteln mit Arbeitsmaterial, das Eltern klassenweise vor der Schule abholen konnten, über das Zusenden von Material per Email, bis hin zur Nutzung von 155

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Plattformen, auf denen Arbeitsaufträge im Rahmen unterschiedlicher Angebotsstrukturen zur Verfügung gestellt wurden. Direkter sozialer Austausch und Feedback war zumindest einem Teil der Lehrpersonen über Videokonferenzen möglich. Auch hier wurde die Umsetzung von Schule zu Schule individuell gelöst. Aspekte des Datenschutzes zwangen Verantwortliche mitunter, auf sichere, aber technisch weniger ausgereifte Lösungen zurückzugreifen. Gemäß den Ergebnissen der Studie Schule auf Distanz der Vodafone Stiftung Deutschland sah sich ingesamt nur ein Drittel der Lehrkräfte auf die Krise ausreichend vorbereitet. 66 % gaben an, dass es ihrer Schule an einem Gesamtkonzept mangelt, um Kinder in Zeiten der Schulschließung mit Lernstoff zu versorgen. Knapp ein Viertel (24 %) fühlte sich mit der Problematik völlig alleingelassen. Im Vorteil waren klar Schulen, die bereits vorher mit digitalen Medien gearbeitet hatten. Sie nutzen in Krisenzeiten digitale Lernangebote deutlich öfter (42 % im Vergleich zu 25 % an anderen Schulen). Insgesamt lässt sich resumieren, dass in der Breite für Bildung, nicht nur in Zeiten von Corona, Digitalisierung in erster Linie als neutrale Plattform zur Verteilung von Lernmaterialien verstanden wird, die ihre ursprüngliche Struktur und die damit verbundenen Aufgabenformate auch in digitaler Form beibehält. Die Idee von Bildung wird damit reduziert „auf die medientechnische Verfügbarkeit von Inhalten – auf das, was produzierbar und distribuierter, planbar und verwertbar ist“ 3. Aktuell dreht sich in Folge die öffentliche Diskussion um Schule und Unterricht größtenteils um Fragen der Ausstattung. Zurecht werden in diesem Zusammenhang massive Bildungsungerechtigkeiten angeprangert, da Lehrpersonen vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien auf digitalem Wege nicht erreichen können. Häufig mangelt es in den Haushalten sowohl an Geräten als auch an elterlicher Unterstützung. Nichtsdestotrotz ist eine verlässliche Infrastruktur die Basis zeitgemäßer Lehr- und Lernprozesse und folglich ist es durchaus zu begrüßen, dass die Relevanz einer verlässlichen Anbin156

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Schulschließung

dung von Grundschulen an stabiles WLAN und die Ausstattung der Kinder mit flexiblen Endgeräten endlich in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt ist. Die aktuellen Erfahrungen könnten zudem dazu beitragen, dass Medienkonzepte an Schulen bedarfsgerecht entwickelt werden. Mit Blick auf die Chancengerechtigkeit sollten bei Fragen der Ausstattung zukünftig Unterstützungsangebote für sozial schwache Familien bei der Planung mit einkalkuliert werden, um allen Kindern, nicht nur in Zeiten der Krise, verbesserte Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Darüber hinaus hat die Schulschließung neben der digitalen Ausstattung ein weiteres Thema in den Fokus gerückt. Engagierte Eltern im Homeoffice beklagen sich zurecht über die Art der Arbeitsaufträge, die in Zeiten der Krise größtenteils in Form von Übungsblättern und sich wiederholenden Aufgabenstrukturen an die Kinder herangetragen wurden. Arbeitsblattbasiertes Lernen hat sich jedoch nicht erst aus den veränderten Rahmenbedingungen heraus entwickelt, sondern ist auch jenseits der Krise Teil der Kultur des Lehrens und Lernens an Grundschulen. Es ist zu hoffen, dass sich die allseitige Empörung nicht wieder verflüchtigt, sobald die Betreuung der Kinder wieder an ausgebildetes Lehrpersonal abgegeben wird. Um des Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein, brauchen Kinder grundsätzlich mehr anregende Räume, Gelegenheiten und ausreichend Zeit zur produktiven und kreativen Auseinandersetzung mit relevanten Themen und zum wechselseitigen Austausch mit menschlichen und technischen Akteuren. Auch und gerade in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien können Kinder im Rahmen kreativer Erfahrungsverarbeitung zum Nachdenken über die Welt, zum kritischen Reflektieren und zum kommunikativen Austausch angeregt werden. Das Vorgehen hat viel mit Herumbasteln, Erfinden, Erschaffen und Intervenieren als Formen des Verstehens aber auch der Transformation zu tun. Bildungserfahrungen sollten nicht ausschließlich mit regulierbaren und individualisierten Lernprozessen gleichgesetzt werden, die sich aus 157

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Uta Hauck-Thum

einer bis ins Detail vorausgeplanten Beschäftigung von SchülerInnen mit den Gegenständen des Unterrichts ergeben. Die herkömmliche Vorstellung von Bildung und Kompetenzerwerb ist dahingehend zu überdenken, dass die Bedeutung kreativer Auseinandersetzung als Voraussetzung von Bildung stärker betont und ein Verständnis von Kompetenz entwickelt werden sollte, das sich in einer zunehmend medialisierten Welt „nicht in der Verfügbarkeit instrumenteller Fertigkeiten erschöpft“ 4. Dadurch können sich sowohl die Art und Weise des Vermittelns als auch der Wissensaneignung grundlegend verändern. Eine wichtige Voraussetzung für derartige Veränderungen ist eine andere Form Leistungsmessung. Solange der Ausleseprozess am Ende der Grundschulzeit die Richtung vorgibt, wird sich die herkömmliche Vorstellung von Lernprozessen „als Weitergabe von bereits bestimmtem Wissen und Vermittlung bestehender Kultur, Bedeutung und Regeln an isolierte Individuen“ 5 nicht auflösen. Wenn Schulbesuch weiterhin nur eingeschränkt möglich ist, könnten sich aus dieser Erfahrung heraus entscheidende Denkanstöße ergeben, um über veränderte Formen der Leistungsbewertung nachzudenken, da übliche Formate sich im Fernunterricht bis auf Weiteres nicht durchführen ließen. Wenn sich also aus der Krise ein Mehr an Projektarbeit ergäbe, Leistungsmessung variabler gestaltet würde und der Einsatz digitaler Medien Kindern nicht nur organisatorische Vorteile brächte, sondern Kinder und Lehrpersonen gleichermaßen zur Zusammenarbeit in der Gemeinschaft, zum kommunikativen Austausch, zur kritischen Reflexion und zur Erstellung kreativer Formate anregte, könnte man tatsächlich trotz aller Problematik von einer Chance in der aktuellen Situation sprechen. Wenn allerdings Schulen wieder öffnen und alle Akteure ihre Arbeit in gewohnter Form wieder aufnehmen, ist diese vertan. Man darf gespannt sein!

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Schulschließung

Prof. Dr. phil. Uta Hauck-Thum ist Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-MaximiliansUniversität in München. Sie beschäftigt sich in Forschung und Lehre unter anderem mit Fragen zur Bildung unter den Bedingungen von Digitalisierung und Digitalität. Demnächst erscheint im Springer Verlag ein von ihr gemeinsam mit Dr. Jörg Noller herausgegebener Band mit dem Titel Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Vgl. Fölling-Albers 2019, 488. Dazu Krommer 2018. Allert/Asmussen 2017, 29. Allert/Richter 2016, 10. Allert/Richter 2016, 49.

Literaturverzeichnis Heidrun Allert/ Christoph Richter, Kultur der Digitalität statt digitaler Bildungsrevolution, online unter: www.nbn-resolving.org/urn: nbn:de0168-ssoar-47527-7, (Letzter Zugriff am 29. 05. 2020). Heidrun Allert/ Michael Asmussen, Bildung als produktive Verwicklung, In: Heidrun Allert/ Michael Asmussen (Hrsg.), Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungsund Bildungsprozesse, Bielefeld: Transcript (2017), 27–68. Maria Fölling-Albers, Grundschule 1919 – Grundschule 2019. Eine andere Grundschule?, In: ZfG 12 (2019), online unter: https:// doi.org/10.1007/s42278-019-00051-w, (Letzter Zugriff am 29. 05. 2020), 475–491. Axel Krommer, Wider den Mehrwert Argumente gegen einen überflüssigen Begriff (2018), online unter: axelkrommer.com/2018/0

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Uta Hauck-Thum

9/05/wider-den-mehrwert-oder-argumente-gegen-einen-ueber fluessigen-begriff/, (Letzter Zugriff am 29. 05. 2020). Schule auf Distanz, Studie der Vodafone-Stiftung (2020), online unter: https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/05/ Vodafone-Stiftung-Deutschland_Studie_Schule_auf_Distanz.pdf, (Letzter Zugriff am 29. 05. 2020).

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Bildung in humanitären Krisen: Zu den globalen Folgen von COVID-19 Cyril Brandt & Johannes Drerup

Naturkatastrophen und bewaffnete Konflikte führen weltweit immer wieder zu zerstörter Infrastruktur, traumatisierten Lehrer_innen und Schüler_innen und temporären Schulschließungen 1. Durch COVID-19 veranlasste Schulschließungen und der Umgang mit ihnen und ihren Folgen sind daher für viele Länder keineswegs eine Novität. Bereits vor COVID-19 waren die Bildungschancen von Menschen, die von Konflikten und Naturkatastrophen betroffen waren und sind, sehr schlecht. COVID-19 verstärkt die Vulnerabilität von Binnenvertriebenen und Geflüchteten, mit der Pandemie verbundene Restriktionen erschweren die praktische Umsetzung humanitärer Nothilfe. Der Forschungszweig, der sich mit diesen und ähnlichen Themen auseinandersetzt, wird als ‚Bildung in Notsituationen‘ (education in emergencies) bezeichnet. Seit mehr als zwanzig Jahren sind die vielfältigen Interdependenzen von Bildung, Konflikten und Frieden zunehmend in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung und öffentlicher Debatten gerückt worden 2. Die COVID-19-Pandemie bietet eine bislang einmalige Möglichkeit zu analysieren, wie unterschiedliche globale und lokale Bildungsstrukturen auf Krisen reagieren. Im vorliegenden Essay nutzen wir diesen sozialwissenschaftlichen Theorie- und Forschungsrahmen, um Einblicke zu geben, wie mit dem Thema Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand in unterschiedlichen Kontexten des globalen Südens, 161

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Cyril Brandt & Johannes Drerup

etwa in der Demokratischen Republik Kongo, in Kenya oder in Myanmar umgegangen wird 3 und welche konkreten Herausforderungen und Problemvorgaben damit jeweils verbunden sind. Dabei sind für uns zwei Grundfragen leitend. Erstens: ‚Welche Funktionen und Aufgaben nehmen Bildungssysteme in der humanitären Nothilfe wahr?‘ Zweitens: ‚Warum ist es wichtig, formelle Bildungsinstitutionen so schnell wie möglich wieder zu öffnen?‘ Mit der Rekonstruktion der Herausforderungen, die sich für Bildungssysteme in humanitären Notsituationen – insbesondere im Rahmen der COVID-19-Pandemie – stellen, ist das Ziel verbunden, die aktuell in Deutschland gemachten Erfahrungen in einem globalen Kontext zu verorten.

Bildung in humanitären Notsituationen Der Generalsekretär der Vereinten Nationen forderte Mitgliedsnationen am 16. April 2020 dazu auf, die Sicherheit und Bildungschancen von Kindern in der COVID-19-Krise zu priorisieren. 4 Bereits vorher begannen Schlüsselinstitutionen der globalen Bildungslandschaft binnen kürzester Zeit auf die COVID-19-Krise zu reagieren. Der Fonds zur Unterstützung von Bildung in humanitären Notsituationen (Education Cannot Wait), die Globale Bildungspartnerschaft oder beispielsweise UNICEF haben innerhalb kurzer Zeit mehrere hundert Millionen Euro gesammelt und einen großen Teil für von Konflikten betroffene Länder bereitgestellt. Neben der finanziellen Unterstützung stellen verschiedene Organisationen umfassende inhaltliche Ressourcen zur Verfügung. 5 Namhafte Organisationen aus dem öffentlichen, privaten und non-profit Bereich haben sich in der Global Education Coalition 6 zusammengeschlossen. Diese schnellen Reaktionen lassen sich dadurch erklären, dass das praktische und akademische Feld rund um ‚Bildung in Notsituationen‘ seit den frühen 1990er Jahren stark gewach162

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Bildung in humanitären Krisen

sen ist. Dafür lassen sich nach Lopes und Novelli (2018) folgende Gründe anführen: Erstens führte die Einsicht, dass ein Fokus auf Bildung neben klassischen Interventionsformen (z. B. Verteilung von Nahrung) von lebensrettender Relevanz sein kann, zur verstärkten Integration des Faktors Bildung in globale humanitäre Governancestrukturen. Seit dem Jahre 2007 ist Bildung, vor allem verstanden im Sinne von Grundund Allgemeinbildung, Teil des humanitären Clustersystems der Vereinten Nationen. Einige Institutionen sind hier federführend, allen voran UNICEF und die Save the Children Alliance. Auch nicht-traditionelle, d. h. nicht-westliche Geber wie Katars Education Above All und Dubai Cares finanzieren zunehmend Forschung und Projekte in diesem Feld. Zweitens wurde vermehrt berücksichtigt, dass ein Großteil der Kinder, die in dieser Welt nicht die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, in von bewaffneten Konflikten betroffenen Ländern leben oder aus diesen fliehen mussten. Drittens wurde Bildung vor allem seit dem 11. September 2001, zunehmend Gegenstand der globalen Sicherheits-Agenda („winning hearts and minds“). Damit einher ging die Vorgabe bzw. Annahme, dass Bildung und Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle in Deradikalisierungsmaßnahmen spielen könnten und sollten. Viertens wurden Bildungsinstitutionen und -akteure zunehmend Angriffsziele in bewaffneten Konflikten, und diese Angriffe wurden mit der Zeit besser dokumentiert 7. Prominente Beispiele sind z. B. die Entführung nigerianischer Mädchen durch Boko Haram im Jahre 2014 (#bringbackourgirls) und der Angriff auf die spätere Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. All diese Faktoren haben mit dazu beigetragen, dass das Thema ‚Bildung in Notsituationen‘ zunehmend in transnationalen Öffentlichkeiten präsent ist. Die weltweiten Reaktionen auf die negativen Auswirkungen von COVID-19 auf Bildungssysteme durch internationale Organisationen müssen im Rahmen dieser Entwicklungen verstanden werden. Die immense Reaktionsgeschwindigkeit und die hohe Anzahl an Publikationen über die globale Rolle und Funktion von Bildung und Bil163

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Cyril Brandt & Johannes Drerup

dungssystemen in Zeiten von COVID-19 wären ohne diese internationale Infrastruktur vor fünfzehn bis zwanzig Jahren sicherlich noch nicht möglich gewesen. Diese Entwicklungen haben mit dazu beigetragen, dass im Laufe der neueren Geschichte die vielfältigen Interdependenzen zwischen (Grund-) Bildung gewährleistenden Institutionen und humanitären Interventionsstrategien und Maßnahmen in Wissenschaft und Öffentlichkeit deutlicher in den Fokus gerückt sind. Im Folgenden analysieren wir diese Schnittstellen im Kontext der aktuellen COVID-19-Krise.

‚WASH‘ und health literacy in Bildungsinstitutionen Kindern eine saubere und hygienische Umgebung in der Schule zu bieten und sie über grundlegende gesundheitsrelevante Zusammenhänge aufzuklären, ist ein Hauptanliegen der sog. WASH Programme (Water, Sanitation, Hygiene). In Ländern, in denen Möglichkeiten, an sauberes Wasser zu kommen, mehrere Kilometer entfernt sind, und wo die Gesundheitssysteme nur unzureichend funktionieren, sind es häufig Schulen, die vielen Kindern notwendige, lebensrettende Hilfen bereitstellen und sie über die relevanten gesundheitspädagogischen Zusammenhänge aufklären (‚health literacy‘). Aus diesem Grunde beinhalten viele der aktuellen Interventionen von Akteuren aus dem Bildungsbereich Aspekte der WASH Programme. Selbst während Schulen geschlossen sind, kann diese Infrastruktur weiterhin Menschen zugänglich gemacht werden. 8 Nach der sukzessiven Wiedereröffnung von Schulen können Hygienemaßnahmen und vor allem social distancing in Schulen eingeübt werden, sodass Schulen erfolgreich und entscheidend zum Gelingen von Aufklärungskampagnen beitragen können. Trotz der Vielzahl an entsprechenden Interventionsformaten und Programmen ist es jedoch realistisch, davon auszugehen, dass in vielen Ländern und Regionen eine große Zahl von Schulen 164

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entsprechende Unterstützungsleistungen nur unzureichend wird erbringen können. Darüber hinaus ist es für Krisenkontexte nicht untypisch, dass eine Lehrkraft über siebzig Kinder in sehr kleinen und unzureichend ausgestatteten Klassenräumen unterrichtet. Die Umsetzung und Sicherstellung von an die Erfordernisse der COVID-19-Pandemie angepassten Verhaltensnormen wird sich entsprechend in diesen Kontexten als besonders schwierig erweisen.

Schulspeisungen und Bildungsinstitutionen Die humanitären Bereiche Bildung und Ernährung sind eng miteinander verbunden. Ausreichend gute Ernährung ist eine Bedingung für die Entwicklung kognitiver Kapazitäten und effektiver Lernprozesse. Aktuell haben weltweit 368 Millionen Kinder aufgrund von COVID-19 keinen Zugang zu Schulspeisungen 9 – d. h. fast die Hälfte aller Schulkinder, die im März 2020 durch Schulschließungen betroffen waren. 10 12 Millionen Kinder davon wurden durch das humanitäre Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen versorgt. 11 Der Großteil davon lebt in seit langer Zeit bestehenden Krisengebieten in Sub-Sahara Afrika und dem Nahen Osten. 12 Das WFP betreibt aktuell großen Aufwand, um die Verteilung dieser Nahrung auch ohne Schulen als grundlegendes infrastrukturelles Netzwerk zu bewerkstelligen. Alternative Methoden sind z. B. Finanztransaktionen statt direkter Ausgabe von Essen. Auswirkungen von COVID-19 auf lokale Ökonomien sind derzeit noch nicht hinreichend erforscht. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Lebensmittelproduktion sinkt und daher Gutscheine in einigen Kontexten von nur geringem praktischen Nutzen sein werden.

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Schutz und Bildungsinstitutionen Bildungsinstitutionen spielen auch eine wichtige Rolle, wenn es um den Schutz von Kindern geht 13. Kinder, die nicht zur Schule gehen, sind in Krisensituationen größeren Gefahren ausgesetzt. Bei Mädchen besteht in einigen Kontexten insbesondere die Gefahr früher Schwangerschaften und früher Verheiratung. Während der Ebola Krise in Sierra Leone im Jahre 2014 gingen Schwangerschaften unter jugendlichen Mädchen um 65 % in die Höhe. 14 Jungen hingegen sehen sich einer höheren Gefahr der Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppierungen ausgesetzt. Alle Kinder sind zudem aktuell einer größeren Gefahr häuslicher Gewalt und Kinderarbeit ausgesetzt. 15 Durch COVID-19 hervorgerufener ökonomischer Druck verstärkt diese Trends. Während Schulen aufgrund von COVID-19 geschlossen sind, verbinden viele NGOs auf social distancing bezogene Bildungsmaßnahmen mit Sensibilisierungskampagnen für den Schutz von Kindern. Das InterAgency Network for Education in Emergencies ruft Regierungen entsprechend dazu auf, die bereits vorher existierende Safe Schools Declaration zu unterzeichnen 16, um zu verhindern, dass Schulen als Krankenstationen genutzt werden und so ihre Schutzfunktion nicht mehr erfüllen können. 17

Psycho-soziale Gesundheit Eine weiteres Themen- und Interventionsfeld konzentriert sich auf den Zusammenhang von Gesundheit und Bildung. Einen Aspekt davon haben wir oben mit den WASH Programmen beschrieben. Schulen können auch zur Unterstützung von psycho-sozialer Gesundheit beitragen im Rahmen von MHPSS (Mental Health and Psychosocial Support) oder SEL (SocioEmotional Learning) Programmen. Auch hier spielt das Konzept der ‚safe schools‘ eine wichtige Rolle. Schulen können einen geschützten Raum bieten, in dem Kinder basale Formen 166

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des zivilen Zusammenlebens einüben. Die COVID-19-Krise führt nicht nur zu einem Verlust an Schultagen und damit verbundenen Möglichkeiten, sich Kompetenzen anzueignen, sondern auch zu einem Verlust von Alltagsroutinen und in der Folge zu Unsicherheit und Isolation. Der Verlust institutionalisierter alltäglicher Routinen wird häufig als noch gravierendes Problem für die Kinder angesehen als der Verlust von Lerngelegenheiten. 18 In humanitären Not- und Krisensituationen kommen zudem häufig bestehende post-traumatische Belastungsstörungen, körperliche Versehrtheiten und ein allgemeiner Mangel an essentiellen Gütern erschwerend hinzu. Da im Rahmen der COVID-19-Pandemie der physische Raum der Schule wegfällt, verfolgen auch internationale Organisationen vermehrt den Ansatz, Lernen über die Distanz zu ermöglichen, und versuchen auf diesem Weg Unterstützungsformate auf den Weg zu bringen, die Lehrer_innen und Eltern dabei helfen, sich selbst und ihren Kindern in dieser stressigen Zeit positiv zu begegnen. 19

Warum ist es wichtig, formelle Bildungsinstitutionen so schnell wie möglich wieder zu öffnen? Alle oben diskutierten Aspekte zeigen bereits an, dass einiges dafür spricht, in humanitären Notsituationen Schulen so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Im Folgenden diskutieren wir weitere Gesichtspunkte, die – unabhängig von den allgemeineren Problemen der Güterabwägung in der Pandemie (Reduktion der Ausbreitungsrate, Einschränkung von Grundfreiheiten etc.) – für diese Maßnahme sprechen.

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Ungleicher Zugang zu Lernmöglichkeiten außerhalb von Schulen Eine der größten aktuellen Herausforderungen ist die kontinuierliche Sicherstellung von Lerngelegenheiten außerhalb von Schulen 20. Obwohl in Deutschland, bei aller berechtigten Kritik, die dafür notwendige Infrastruktur vorhanden ist, sind auch hier nicht alle Schulen, Lehrende und Lernende angemessen auf eine solche Situation vorbereitet. Weit problematischer ist die Situation jedoch in Ländern, in denen ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet hat, oder dieser Zugang teuer, langsam und unzuverlässig ist. Eine Reihe von Alternativen werden zurzeit in solchen Kontexten ausprobiert: Radio, SMS, Tablets (mit festem Inhalt) oder Fernseher werden als Plattformen genutzt, um Lerngelegenheiten auch außerhalb von Schulen bereitzustellen. Falls die Stromversorgung nicht sichergestellt ist, besteht eine Möglichkeit darin, diese Geräte durch Solarenergie zu versorgen. 21 Trotz dieser sinnvollen Maßnahmen und Vorschläge macht die COVID-19-Pandemie den existierenden globalen digital divide deutlich. Entsprechend zeigen UNCICEF-Daten, dass ökonomische Armut den größten Einfluss darauf hat, ob Zugang zum Internet besteht. 22 Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die Möglichkeiten des Distanzlernens negativ und positiv beeinflussen. Aus Myanmar vertriebenen Rohingya ist z. B. in bengalischen Flüchtlingslagern der Zugang zu SIM-Karten und zum Internet untersagt. Das Kakuma Flüchtlinslager in Kenya zeigt dagegen einen konträr gelagerten Fall. Hier wurde seit langem in Technologie investiert, der Zugang zum Distanzlernen ist daher erheblich besser 23. In Jordanien haben palästinensische Geflüchtete Zugang zu kostenlosem Internet, um Online-Lernplattformen benutzen zu können. 24 UNICEF und Microsoft haben eine online Lernplattform für vertriebene Menschen ins Leben gerufen. 25 Einige Projekte nutzen zudem derzeit einen Teil ihres Budgets, um Lehrkräften einen Internetzugang 168

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zu finanzieren. 26 Dabei werden die Kosten möglichst gering gehalten, indem die Datenmenge der Inhalte reduziert wird (Bilder in geringer Auflösung, etc.). Lehrkräfte sind in diesen Kontexten in der Regel jedoch nicht angemessen ausgebildet, um e-learning Formate zu nutzen. In vielen langanhaltenden humanitären Krisenkontexten werden Lehrkräfte darüber hinaus in der Regel nur sehr schlecht bezahlt und nutzen mitunter die ausfallenden Schultage für sekundäre Einkommensmöglichkeiten. Angesichts dieser Schwierigkeiten werden zunehmend notech anstatt low-tech Lösungen erarbeitet 27. NGOs und Regierungen versuchen beispielsweise mit schnell entwickelten oder bereits vorhandenen self-learning kits den Zugang zu Bildung aufrecht zu erhalten. Zugleich sollen Eltern unterstützt werden, um homeschooling zu begleiten. 28 Auch wenn diese Idee an sich unterstützenswert ist, darf dabei nicht vergessen werden, dass viele Eltern in vielen Regionen nicht über die notwendigen Mittel dafür verfügen. Im Falle der Demokratischen Republik Kongo zeigte z. B. eine Studie, dass circa drei viertel aller Schüler_innen keine Bücher zu Hause haben, zwei drittel lesen nicht zu Hause und ihnen wird nicht vorgelesen, und die meisten Schüler_innen bekamen keine Hilfe bei den Hausaufgaben 29. Für eine möglichst schnelle Wiedereröffnung von Schulen spricht weiterhin das bekannte Problem, dass Schulkinder nach einigen Wochen ohne Schulbesuch einen Teil des Gelernten wieder vergessen 30 und Kompetenzen und Lernerfolge einbüßen. Je länger die durch die COVID-19-Pandemie erzwungenen Schulschließungen andauern und je schlechter es um die (digitale) Infrastruktur zur kompensatorischen Ermöglichung von Lernen steht, desto gravierender werden die entsprechenden Langzeitfolgen sein.

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Kinder, die nicht zurück in die Schulen kommen werden In Deutschland besteht Schulpflicht. Bis auf wenige Ausnahmen gehen alle Kinder im entsprechenden Alter zur Schule. In anderen Ländern wird die Schulpflicht aufgrund fehlender Aufsicht funktionierender staatlicher Institutionen und/oder auf Grund zu hoher Kosten nicht praktisch umgesetzt. Hier kommen wir zu einem der Hauptgründe dafür, warum es wichtig ist, Grundbildung auch während einer Krise zu ermöglichen und zu garantieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind nicht mehr in die Schule zurückkehrt, steigt mit jedem Tag der Abwesenheit. Laut aktuellen Schätzungen könnten zehn Millionen Mädchen nach der Corona-Krise nicht mehr in weiterführende Schulen zurückkehren 31. Die Gründe dafür sind vielfältig. Arme Haushalte sind durch die COVID-19-Pandemie am stärksten getroffen und die Eltern werden in Zukunft vermutlich ihre Kinder als Arbeitskräfte in Anspruch nehmen, um das Haushaltseinkommen zu steigern, was sich insbesondere auf Mädchen negativ auswirken wird 32. In diesen Kontexten hat e-learning nicht nur die Funktion, Lernen weiterhin zu ermöglichen, sondern leistet auch einen Beitrag dazu, dass die jungen Menschen sich selbst weiterhin als Lernende verstehen, und steigert so die Wahrscheinlichkeit, dass sie an die Schulen zurückkehren.

Nach der Wiedereröffnung Sind Schulen einmal wiedereröffnet, hören die Herausforderungen selbstverständlich nicht auf. 33 Es gilt sicherzustellen, evtl. auch durch Hausbesuche, dass alle Kinder wiederkommen. Wichtig ist auch durch empirische Analysen herauszufinden, welche Kinder wie und mit welchen Folgen kurzfristig und langfristig durch die COVID-19-Krise gefährdet und geschädigt werden. 34 Schulen müssen zudem unter oftmals wid170

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rigen Bedingungen versuchen, Gesundheits- und Hygienevorschriften umzusetzen. Darüber hinaus müssen Catch-up classes organisiert werden, vor allem für Bevölkerungsteile ohne Zugang zu alternativen Bildungsformen während der Schulschließungen.

Abschließende Überlegungen Wir haben versucht einen Überblick zu geben über einige der Herausforderungen für Bildungssysteme in humanitären Krisen und über die globalen, hochgradig disparaten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Die interdisziplinär angelegte Analyse von teils unterschiedlichen und teils gleichen Herausforderungen, die mit der aktuellen Situation auf der ganzen Welt verbunden sind, ermöglicht eine globaler orientierte Sicht auf die Aufgaben und Funktionen von Bildungssystemen und auf die unterschiedlichen Erwartungen, mit denen pädagogische Institutionen und Akteure in divergierenden soziopolitischen Kontexten konfrontiert werden. Dabei werden insbesondere die unterschiedlich verteilten Lasten sichtbar, die Schulen, Eltern und Kinder zu tragen haben, was auch hinreichend Anlässe liefert für Diskussionen über Probleme der globalen Gerechtigkeit in der aktuellen Weltkrise – auch und gerade für Kinder 35. Dies gilt auch deshalb, weil solche und verwandte globale Themen – obwohl das Virus offensichtlich ein globales Phänomen darstellt – in der aktuellen, eher auf Deglobalisierung und Renationalisierung angelegten Diskurslage häufig an den Rand gedrängt werden 36. Darüber hinaus können entsprechende, globaler orientierte Perspektiven dazu beitragen, deutlicher zu sehen, dass und wie die aktuelle Coronakrise eingebettet ist in andere Krisen und Konflikte ökonomischer und politischer Art. Die Funktionen, die Bildung im Problemfeld ‚Bildung in humanitären Notsituationen‘ zugeschrieben werden, sind selbstverständlich vielfältiger als in dieser Bestandsaufnahme dargestellt werden kann. Neben präventiver und re171

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aktiver Funktionen, die Bildung zugeschrieben werden können, kann Bildung auch in positiver Hinsicht transformierend auf Konfliktkonstellationen wirken 37. Gleichzeitig ist ebenfalls seit langem aus der Forschung bekannt, dass Bildungsangebote – sei es durch politisierte, konfliktfördernde Inhalte oder durch einen regional ungleichen Zugang zu Schulen – nicht nur friedensschaffend sondern auch konfliktfördernd wirken können 38. Auch deshalb ist Skepsis geboten gegenüber allzu optimistischen Annahmen bezüglich der Möglichkeiten, mit und durch Bildung gravierende gesellschaftliche Probleme zu lösen, gegenüber Annahmen, die in vielen Fällen mit überzogenen Verantwortungszuschreibungen einhergehen. So macht es wenig Sinn, Schulen und Lehrkräfte hauptverantwortlich für komplexe soziale Probleme zu machen 39, wenn die Bildungssysteme weiterhin unzureichende Unterstützung erfahren. Im Jahr 2018 entfielen auf Bildungssysteme nur 2,1 % aller humanitären Ausgaben 40. Gleichzeitig sollen jedoch Lehrkräfte in vielen Fällen Aufgaben übernehmen, für die sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit durch ihre Ausbildung nicht hinreichend vorbereitet worden sind. Es ist es zudem eher zweifelhaft, dass sporadische Interventionen durch internationale NGOs eine ausreichende Weiterbildung sicherstellen können. Es gilt daher – nicht nur im globalen Süden – die systemischen Kontexte, institutionellen Arrangements und soziopolitischen Bedingungen zu berücksichtigen, mit denen pädagogische Arbeit konfrontiert ist, will man zu realistischen Einschätzungen darüber kommen, wie Bildung in Notsituationen gelingen kann.

Cyril Brandt forscht unter anderem zu dem Thema Gewalt gegen Lehrer_innnen in Regionen, die von Konflikten betroffen sind, vor allem in Sub-Sahara Afrika. Kürzlich erschienen ist hierzu „Reluctant Representatives of the State: Teachers’ Perceptions of Experienced Violence (DR Congo)“. Compare: A Journal of Comparative and International Education Online 172

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first, 2019; „The Deployment of Internally Displaced Teachers (DR Congo): A ‚Real Governance‘ Approach“. International Journal of Educational Development 66: 147–54, 2019 Dr. Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, der Philosophie der Kindheit, der politischen Philosophie und der Pädagogischen Ethik. Kürzlich erschienen ist das „Handbuch Philosophie der Kindheit“ (J. B. Metzler, 2019, hrsg. mit Gottfried Schweiger).

Anmerkungen 1

UNESCO 2018. Machel 1996, UNESCO 2018. 3 Vgl. zur Situation in unterschiedlichen Kontexten im globalen Süden auch die Überblicke und Kommentare von: Schlindwein 2020; Ehmke 2020; Souza 2020. 4 https://www.un.org/press/en/2020/sgsm20047.doc.htm. 5 Inter-Agency Network for Education in Emergencies (INEE); https://inee.org/covid-19/resources; https://inee.org/covid-19/advo cacy; UNESCO (https://en.unesco.org/covid19/education response/ consequences); USAID (https://www.edu-links.org/resources/educa tion-resources-response-coronavirus-covid-19); NORRAG (https:// www.norrag.org/covid-19-education-disruption-and-the-responseby-the-global-education-community-by-arushi-terway-and-marina -avelar/). 6 https://en.unesco.org/covid19/educationresponse/globalcoalition. 7 Lopes Cardozo/Novelli 2018. 8 https://www.marketwatch.com/press-release/feature-south-sudanyouth-in-the-frontlines-against-covid-19-pandemic-2020-04-20? mod=mw_more_headlines&tesla=y. 9 https://cdn.wfp.org/2020/school-feeding-map/index.html (Stand: 02. 05. 2020). 10 862 Millionen. https://www.unocha.org/sites/unocha/files/Global -Humanitarian-Response-Plan-COVID-19.pdf. 2

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https://cdn.wfp.org/2020/school-feeding-map/index.html. https://cdn.wfp.org/2020/school-feeding-map/index.html. 13 Nicolai/Triplehorn 2003. 14 https://www.sl.undp.org/content/sierraleone/en/home/library/cri sis_prevention_and_recovery/assessingsexual-and-gender-basedviolence-during-the-ebola-cris.html. 15 https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/COVID-19 %20and%20Children%E2%80%99s%20Rights.pdf. 16 Moriarty 2018. 17 https://inee.org/covid-19/advocacy. 18 https://www.theccysc.com/post/covid-19-and-the-interruptionto-schooling-in-rural-karnataka?postId=5ebf75dff2dac40017d4377d. 19 https://inee.org/covid-19/advocacy; https://inee.org/system/files/ resources/IASC%20Interim%20Briefing%20Note%20on%20COVID -19%20Outbreak%20Readiness%20and%20Response%20Opera tions%20-%20MHPSS_0.pdf. 20 Todd et al. 2020. 21 https://www.ukfiet.org/2020/covid-19-school-closures-may-fur ther-widen-the-inequality-gaps-between-the-advantaged-and-thedisadvantaged-in-ethiopia/. 22 https://blogs.unicef.org/evidence-for-action/remote-learningglobal-pandemic-insights-mics6/. 23 UNESCO 2020. 24 https://reliefweb.int/report/jordan/unrwa-jordan-launch-compre hensive-education-cannot-wait-distance-learning-programme. 25 https://reliefweb.int/report/world/l-unicef-et-microsoft-lancentune-plateforme-d-apprentissage-mondiale-contre-la-crise. 26 https://www.ukfiet.org/2020/minimising-distance-in-distancelearning-programmes-during-a-global-health-crisis-framing-aninternational-education-response-to-covid-19/. 27 UNHCR 2020. 28 https://reliefweb.int/report/democratic-republic-congo/covid-19dr-congo-assuring-alternative-education-now-schools-are. 29 RTI International 2016. 30 https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1745499917740657. 31 Malala Fund 2020; Siehe auch: https://en.unesco.org/news/covid19-school-closures-around-world-will-hit-girls-hardest. 32 UNESCO 2020. 12

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https://inee.org/system/files/resources/Framework%20for%20 Reopening%20Schools_APRIL28_FINAL.pdf; https://inee.org/re sources/guidance-covid-19-prevention-and-control-schools. 34 https://africanarguments.org/2020/04/15/how-girls-educationand-safety-will-be-harmed-by-the-covid-response/. 35 Hierzu: Drerup/Schweiger 2019. 36 Etwa zur Situation von Flüchtlingen; Lenz/Starosta 2020. 37 Vgl. etwa Debatten zum emergency-development-peacebuilding nexus; Winthrop/Matsui 2013; Novelli, Lopes Cardozo, and Smith 2017; oder zum Konzept der „Transformative Public Education“ Facer et al. 2020. 38 Bush/Saltarelli 2000. 39 Skovdal/Campbell 2015. 40 UNESCO 2018.

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