136 55 18MB
German Pages 288 [278] Year 2014
Andreas Dörpinghaus, Barbara Platzer, Ulrike Mietzner (Hrsg.)
Bildung an ihren Grenzen Zwischen Theorie und Empirie Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Lothar Wigger
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / d nb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Layout, Satz und Prepress: Janß GmbH, Pfungstadt Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25717-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73805-2 eBook (epub): 978-3-534-73823-6
Inhalt
Inhalt
Einleitung von Andreas Dörpinghaus, Ulrike Mietzner und Barbara Platzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung. Versuch einer Rekonstruktion ihrer Beziehungen mit Blick auf aktuelle Entwicklungen von Dietrich Benner und Dariusz Stępkowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung von Veronika Manitius, Ina Semper, Nils Berkemeyer und Wilfried Bos . . . . . . .
25
Bildung als Fähigkeit zur Distanz von Andreas Dörpinghaus . . . . . . . . . . . . . .
45
Wer gewinnt den „Deutschen Schulpreis“? – Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung von Andreas Gruschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte – Eine bio-bibliografischthematische Spurensuche von Klaus-Peter Horn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Inazo Nitobe (1862–1933) und die Widersprüche der japanischen Modernisierung: Ein Leben zwischen dem Fremden und dem Eigenen von Toshiko Ito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“. Zum Vorwurf der Empiriefeindlichkeit gegen Alfred Petzelt. Eine Studie aus Sicht der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung von Peter Kauder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Hegel über den Anfang der logischen Bildung von Lutz Koch . . . . . . . . . . . . . . .
115
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie. Bildungstheoretische Überlegungen von Ulrike Mietzner . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Bildung in biografischen Konfigurationen von Hans-Rüdiger Müller . . . . . . . .
143
6
Inhalt
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge von Sigrid Nolda . . . . . . . .
153
Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich von Harm Paschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Erinnernde Bildung. Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin von Barbara Platzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
Konjunktiv Plusquamperfekt. Alexander Kluge und Nicholson Baker von Markus Rieger-Ladich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung von Jörg Ruhloff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung von Alfred Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen von Heinz-Elmar Tenorth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs von Peter Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Autoreninfo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Einleitung
Bildung an ihren Grenzen Einleitung
Bildung an ihren Grenzen zu denken bedeutet ein Ausloten dessen, was unter „Bildung“ in vielfältigen Hinsichten verstanden werden kann, was sie ausmacht und zugleich von anderen Denkfiguren und Erfahrungsbeständen unterscheidet. An Grenzen zu denken heißt dabei immer auch innerhalb ihrer über sie hinaus zu denken. Es ist darin stets ein kritisches Unterfangen, und so steht sie – auch aus den Perspektiven sehr unterschied licher Forschungsrichtungen und -traditionen – auf dem Spiel. Bildung ist am Ende ein offener Begriff, der sich der Bestimmtheit und erst recht der Letztbegründung entzieht. Insbesondere im Zwischenraum von Bildungstheorie und Bildungsforschung, zwischen Begriff und gleichsam empirischer Anschauung, sind Grenzverschiebungen, Zusammenschlüsse, gelegentlich territoriale Verteidigungen bis hin zu gewissermaßen wissenschaftstheoretisch fragwürdigen Übergriffen anzutreffen. Doch gerade dieser Zwischenraum erlaubt ein Denken an den eigenen Grenzen, das sich zugleich herausfordern und befragen lässt, vielleicht mit dem Ziel, das zu denken, was im eigenen Denken nicht vor gesehen war. In diesem Sinne und in dieser Anbindung beziehen sich die nachfolgenden Beiträge des Bandes auf ein Symposion, das am 05. Juli 2013 in Dortmund unter dem Titel „Biografie und Bildung. Engagiertes Denken zwischen Bildungsphilosophie und Empirie“ zu Ehren des 60. Geburtstages von Lothar Wigger stattgefunden hat. Neben den dort präsentierten Vorträgen haben weitere Kolleginnen und Kollegen sich aus ihrer Sicht zu den aktuellen Fragen eines engagierten Nachdenkens über Bildung geäußert. Die Beiträge knüpfen in unterschiedlicher Art und Weise an die wissenschaftlichen Arbeiten von Lothar Wigger an, die sich sowohl durch bildungsphilosophisches Denken als auch durch das Bestreben auszeichnen, diese bildungsphilosophischen Überlegungen empirisch wirksam werden zu lassen. Die Schnittstelle zwischen Bildungsphilosophie und Empirie zeigt sich dabei vor allem in den Untersuchungen von Biografien, die unter anderem von den Gedanken der Anerkennung und der Gerechtigkeit getragen sind. In Bezug auf den Begriff der Bildung kommt damit dem Weltbezug als gesellschaftlichem Phänomen eine besondere Bedeutung zu. Die Beiträge des Sammelbandes zeigen die Vielgestaltigkeit der Zwischenräume von Bildungstheorie sowie Bildungsforschung und ein engagiertes Denken an den Grenzen von Bildung auf. Das Ziel der Klärung des Verhältnisses von Theorie und Empirie verfolgt der Beitrag von Dietrich Benner und Dariusz Stnpkowski, die die Fragestellung international wenden und ein Forschungsvorhaben vorstellen, das am Beispiel von zwei erziehungs wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten von Studierenden der Uniwersytet Kardynała
8
Bildung an ihren Grenzen
Stefana Wyszyńskiego in Warschau und der Humboldt-Universität zu Berlin die Beziehungen von philosophischer Pädagogik und empirischer Forschung erkundet. Einen anderen Zwischenbereich von bildungstheoretischen Überlegungen und empirischer Prüfung aufgreifend, bezieht sich der Beitrag von Veronika Manitius, Ina Semper, Nils Berkemeyer und Wilfried Bos auf die Bildungsberichterstattung und diskutiert, inwieweit diese Auskunft über Anerkennungsprozesse geben kann. In die Auseinandersetzung um Bildung verschränken sich hier die Begriffe der gesellschaftlichen Teilhabe und der Gerechtigkeit. Einen strukturellen Zugang zum Thema bietet der Beitrag von Andreas Dörpinghaus, der Bildung als eine begriffliche Fähigkeit beschreibt. Sie stellt sich als eine Fähigkeit zur Distanz dar, die zugleich als empirisch gedacht wird, weil sie an die Erfahrung gebunden ist, als auch als reflexiv, weil sie erst in der verzögernden Überlegung aktiv wird. Eine solche Analyse von Bildung schafft eine Grundlage, um bildungsökonomische Beschleunigungsprozesse zu kritisieren. Eine kritische Konturierung des Bildungsbegriffs erarbeitet der Beitrag von Andreas Gruschka, der ebenfalls auf bildungsökonomische Verflechtungen hinweist. Zur Kritik steht hier der aktuelle Trend zur Vergabe von Preisen in der Pädagogik am Beispiel des Deutschen Schulpreises, um im Anschluss daran die Aussagekräftigkeit solcher Preise zu problematisieren. An der Praxis der Schulpreise bildet sich demzufolge eine bedenkliche Tendenz ab, die Inhalte von Bildung mehr und mehr aus den Augen zu verlieren. Klaus-Peter Horn greift in seinem Beitrag den Begriff der Biografie auf eine besondere Weise auf, indem er, vor dem Hintergrund der Spezialisierung Lothar Wiggers auf das Gebiet der Biografieforschung, Ausschnitte der Biografie und der Forschungsschwerpunkte Lothar Wiggers selbst darstellt. Dem Text liegt die Laudatio zugrunde, die Klaus-Peter Horn auf dem Festakt gehalten hat. Ebenfalls biografisch orientiert, wenn auch auf eine andere Weise, ist der Beitrag von Toshiko Ito, der anhand der Biografie des japanischen Pädagogen Inazo Nitobe, der maßgeblich an der Modernisierung des japanischen Bildungskonzepts im 19. Jahrhundert beteiligt war, eine Gegenüberstellung von japanischer und deutscher Kultur in den Blick nimmt. Der Bildungsbegriff wird hier insofern konturiert, als er mit Bezug auf die Hegel’sche Vorstellung vom Widerspruch als genuinem Bestandteil von Bildung eine bildungstheoretische Überlegung Lothar Wiggers weiterdenkt. Eine Perspektive der Wissenschaftsforschung auf den Zusammenhang von Bildungs theorie und -empirie nimmt Peter Kauder in seinem Beitrag ein, indem er sich mit dem Vorwurf gegenüber Alfred Petzelt auseinandersetzt, empiriefeindlich zu sein. Kauder nimmt zu diesem Vorwurf unter anderem auf der Grundlage von Veröffentlichungen Petzelts und unter Berücksichtigung von dessen Biografie kritisch Stellung und arbeitet die Bedeutung und die Auswirkungen des Vorwurfs innerhalb der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren heraus. Anknüpfend an die vielfältigen Arbeiten Lothar Wiggers zu Hegels Bildungstheorie konzentriert sich der Beitrag von Lutz Koch auf eine Erläuterung des Hegelwortes vom „Anfang der logischen Bildung“. Die systematische Herangehensweise an eine solche Bestimmung von Bildung, wie Koch sie hier vornimmt, spiegelt sich in der Vorstellung Hegels, dass eines der edelsten Bildungsmittel das Studium der Grammatik sei.
Einleitung
9
In dem Zwischenfeld von Bildungstheorie und Bildungsforschung bewegt sich auch der Beitrag von Ulrike Mietzner, der mit dem Medium autobiografischer Fotobücher arbeitet und an diesen die Beobachtungen von Selbst und Welt herausstellt. Anknüpfend an Koller und Waldenfels zeigt sich Bildung hier als fluide, die nicht notwendig in Lösungen endet. „Bildung in biografischen Konfigurationen“ untersucht Hans-Rüdiger Müller in seinem Beitrag, in dem er mit Hilfe eines konkreten Fallbeispiels eines Interviews mit dem Jugend lichen Hakan Salman auf das Verhältnis von Bildung und Biografie reflektiert. Dabei stellt Müller heraus, dass Bildungsbewegungen nicht nur in der Zeit zu fassen seien, sondern auch in sozialräumlicher Perspektive, dass sie die „bildenden Vergemeinschaftspraxen“ in den Blick nehmen sollten und dass der sozialisierenden Funktion von Bildung mehr Aufmerksamkeit zu schenken sei. Sozialisation spielt in dem Beitrag von Sigrid Nolda insofern eine Rolle, als sie die Bedeutung von Sprache für Bildung an den Anfang ihrer Überlegungen stellt. Spezifischer stellt sie sich die Frage nach der Bedeutung des Fremdsprachenlernens Erwachsener innerhalb der Biografieforschung und erörtert auf der Grundlage zweier Interviews mit erwachsenen Fremdsprachenlernern, ob auch das Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungserfolg verstanden werden kann. Auch Harm Paschens Überlegungen kreisen um die Frage der Konstruktion von Biografie und der gesellschaftlichen Konstruktion des Biografischen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion. Dabei stellt er die Idee des Kontingenten insofern in Frage, als die „Wahrnehmung des Ich“ selbst eine sinnhafte Konstruktion sei, auch wenn dieses Ich nicht einfach als solches existiert, es aber eben doch nur als solches handeln kann. Die Bedingungen solchen Handelns zeigt er dann in der Verhaftung der Gesellschaft und den eigenen Erfahrungen in dieser. Als literarisch gestaltete Erinnerung und damit einem der Autobiografie ähnlichen Material steht die Berliner Kindheit von Walter Benjamin im Mittelpunkt des Beitrags von Barbara Platzer. An ihr erprobt sie das Konzept einer „erinnernden Bildung“, die einen Raum zwischen der erinnerten Kinderperspektive und der erinnernden Erwachsenenper spektive eröffnet und so selbstverständlich scheinende Urteile erneut zur Disposition stellt. Markus Rieger-Ladich beginnt seine Studie mit der Feststellung von radikalen Gescheh nissen im Lebensverlauf, die im Nachhinein von den Biografen in einen sinngebenden Zusammenhang gestellt werden, die Biografie erst erzeugen, statt deren Kontingenz zu akzeptieren. Gleichzeitig stellt er den permanent erzeugten Fortschritt in Frage. Die Werke von Alexander Kluge und Nicholas Baker dienen ihm als Ausgangspunkt, um zu zeigen, dass sich Leben nicht linear oder krisenhaft entwickelt, sondern aus einer „Verkettung kontingenter Ereignisse“. Der Beitrag von Jörg Ruhloff nimmt das Bildungsdenken Platons, vor allem die Ausführungen des Höhlengleichnisses, zum Anlass, um über den Anfang der Lehre in der Allgemeinen Pädagogik zu reflektieren. Daran anknüpfend stellt Ruhloff einen Bildungsgang vor, der nicht nur das Nichtwissen als solches kenntlich werden lässt, sondern in dem auch „systematisch studiert und gelernt werden müsste“, um schließlich ein Fragen ohne vorgefertigte Lösungen kultivieren zu können. Alfred Schäfer wertet in seinem Beitrag empirische Daten aus, die in zwei DFG-Projekten zu Fremdheitserfahrungen auf Reisen nach Mali und nach Indien er
10
Bildung an ihren Grenzen
hoben wurden. Dabei untersucht er die Frage, inwieweit überhaupt Selbst-Bildungsprozesse auf solche Erfahrungen zurückgehen und ob sie unterscheidbar sind von „erlebten Erleb nissen“. Zudem stößt er auf die Frage, inwieweit man überhaupt vom Subjekt eines solchen Bildungsprozesses sprechen kann, wenn dieses gar nicht über die Vorgänge selbst verfügen kann und das nicht nur methodologisch relevante Problem besteht, dass die Erfahrung und die Artikulation dieser Erfahrung nicht ineinander aufgehen können. Die „Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen“ steht in dem Beitrag von Heinz-Elmar Tenorth im Mittelpunkt, und sie wird als eine grundsätzlich unterschiedliche beschrieben. Einen Bogen zwischen empirischer Forschung und bildungstheoretischer Auseinandersetzung spannt der Beitrag insofern, als er an die Notwendigkeit des Einbezugs anderer Dis ziplinen wie der Sozialisation oder der Biografieforschung in die Bildungstheorie erinnert, um Bildung und Bildungsprozesse erfassen und benennen zu können. Einen Nachbarbegriff der Bildung, nämlich den der Erziehung, unterwirft der Beitrag von Peter Vogel einer eingehenden Untersuchung. Dabei geht es ihm nicht um eine (weitere) Bestimmung des Begriffs, sondern um die Frage, wie er in der Erziehungswissenschaft verwendet werden kann. Dazu beleuchtet er sowohl die metatheoretischen Probleme, die die Auseinander setzung um Erziehung mit sich bringt, als auch mögliche Folgerungen für die erziehungswissenschaftliche Nutzung des Begriffs. Das Ziel der hier vorliegenden Auseinandersetzung um Bildung ist es nicht, etwa eine Bildungstheorie zu kreieren, sondern im Sinne eines engagierten, kritischen Denkens ein Bild der sich überlappenden Bildungsdiskurse aufzuzeigen, das das Weiterdenken im Sinne eines Brückenschlages von Theorie und Empirie vorantreibt. Die verschiedenen Beiträge versprechen eine solche Öffnung des Blicks. Nicht zuletzt sei hier festgehalten, dass eine Festschrift nicht entstehen kann ohne die vielen helfenden Hände, die im Hintergrund agieren. Deshalb sei hier nicht nur den Bei trägern und Beiträgerinnen gedankt, sondern auch Andreas Bachmann, Sarah Fladung, Renate Geudner, Simon Gmeiner und Lena Leimkötter für ihre aufmerksame und engagierte Mitarbeit an der Fertigstellung des Manuskripts. Andreas Dörpinghaus Ulrike Mietzner Barbara Platzer
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung. Versuch einer Rekonstruktion ihrer B eziehungen mit Blick auf aktuelle Entwicklungen von Dietrich Benner und Dariusz Stępkowski
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
Im Editorial zu dem 2002 erschienenen Band „Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft“, dem 1. Beiheft der 1998 gegründeten Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, beklagt Lothar Wigger das geringe öffentliche Ansehen jener Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, der das Beiheft gewidmet ist, und weist auf die Gefahr hin, dass die Allgemeine Erziehungswissenschaft – womöglich in den Gestalten der Allgemeinen Pädagogik, der Pädagogischen Anthropologie, der Erziehungs- und Bildungsphilosophie oder der Wissenschaftsgeschichte von Pädagogik und Erziehungswissenschaft – zu einer Einführungsdisziplin regredieren könnte, die selber nicht forscht und nur mehr für Fragen zuständig ist, welche die forschenden Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft, allen voran die Empirische Bildungsforschung, nicht bearbeiten. Wiggers auch von den anderen Herausgebern des Bandes geteilte Diagnose lautet, die Allgemeine Pädagogik müsse sich zu einer forschenden Allgemeinen Erziehungswissenschaft weiterentwickeln und sie könne dies auch, denn es gebe Forschungsfelder, von denen der Band vier vorstellt, die innerhalb der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Er ziehungswissenschaft beheimatet sind: die Pädagogische Anthropologie, die Bildungs- und Erziehungsphilosophie, die Biografieforschung und die Wissenschaftsforschung. Fragen wie diese werden gegenwärtig nicht nur in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) diskutiert, sondern beschäftigen zur Zeit auch andere Fach gesellschaften, darunter nicht nur solche im englischsprachigen Raum, sondern auch in den skandinavischen Ländern, in den Staaten in Mittel- und Osteuropa, die Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts nach der Auflösung der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit wiedergewonnen haben und gegenwärtig zu festigen suchen, und nicht zuletzt auch in China. Was die Traditionen der in der Allgemeinen Pädagogik in Deutschland erinnerten pädagogischen Theoriegeschichte betrifft, besitzt die deutsche Erziehungswissenschaft unter denen, die sie im Ausland kennen, ein hohes Ansehen. Viele Kolleginnen und Kollegen sehen in der DGfE eine wissenschaftliche Gesellschaft, in der seit fünf Jahrzehnten Diskurse beheimatet sind, welche die Erziehungswissenschaft in der Vielheit ihrer Teildisziplinen als Ganze betreffen.
12
Bildung an ihren Grenzen
Die folgenden Überlegungen fallen nicht exklusiv in die in der Sektion für Allgemeine Erziehungswissenschaft der DGfE organisierten Forschungsfelder. In ihrem Zentrum stehen vielmehr die Beziehungen zwischen philosophischer Pädagogik und empirischer pädago gischer Forschung, die weit in die Problemgeschichte zurückreichen und heute vielleicht eine neue Bedeutung für die Erziehungswissenschaft als forschende Disziplin gew innen können. Sie gliedern sich in fünf Abschnitte. Der erste unterscheidet zwischen erziehungstheoretischen und bildungstheoretischen Problemstellungen von Pädagogik und Erziehungswissenschaft, der zweite erörtert diese an frühen Forschungsfragen aus der Bildungstheorie der antiken Paideia. Der dritte Abschnitt wendet sich veränderten Problemstellungen aus der Zeit der europäischen Aufklärung und der neuhumanistischen Klassik zu, in deren Kontext die moderne Erziehungsphilosophie entstand. Im vierten Abschnitt werden schließlich erziehungs- und bildungstheoretische Forschungsfelder der heutigen Allgemeinen Pädagogik am Beispiel einer erziehungs- und bildungstheoretisch argumentierenden empirischen Bildungsforschung thematisiert. Der letzte Abschnitt stellt die Möglichkeit solcher Forschungsvorhaben an zwei Beispielen aus erziehungswissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten von Studierenden an der Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego in Warschau und der Humboldt-Universität zu Berlin vor. Er will illustrieren, dass Allgemeine Pädagogik und Allgemeine Erziehungswissenschaft nicht nur Einführungsdisziplinen, sondern Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft sind, die in einen forschenden Austausch mit anderen Teildisziplinen treten können.
1.
Zur Unterscheidung erziehungstheoretischer und ildungstheoretischer Fragestellungen in der theoretischen b Pädagogik und der erziehungswissenschaftlichen Forschung
Der Begriff Erziehungsphilosophie (philosophy of education) wird in der Regel als Ober begriff einer philosophischen Reflexionsdisziplin in der Pädagogik verwendet, welche Grundbegriffe pädagogischen Denkens und Handelns erörtert, pädagogische und erziehungswissenschaftliche Theorien reflektiert und problematisiert sowie ganz allgemein Grundlagenfragen der Erziehung, aber auch der Erforschung von Erziehungsprozessen, -kontexten und -verhältnissen erörtert. Adressaten der so verstandenen Erziehungsphilosophie sind zum einen das alltägliche Nachdenken über pädagogische Fragen in pädago gischen oder pädagogisch bedeutsamen Kontexten, zum anderen die Theorieentwicklung im Rahmen der theoretischen und wissenschaftlichen Pädagogik und schließlich Diskurse, die über Fragen und Sachverhalte individueller und gemeinsamer Erziehung in der diskutierenden Öffentlichkeit ausgetragen werden (vgl. Wigger 2002; Ruhloff 2002). Im deutschsprachigen Kontext haben sich seit der modernen Epoche der Aufklärung Traditionen einer „Allgemeinen Pädagogik“ entwickelt, die die angesprochenen Reflexionsaufgaben bearbeitet und zwischen Tatsachen und Begriffen der Erziehung und der Bildung sowie analog zwischen Erziehungs- und Bildungsprozessen sowie Erziehungs- und Bildungstheorien unterscheidet (vgl. Benner 2014). Entgegen der zwar weit verbreiteten,
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
13
gleichwohl irrigen Meinung, dass es die genannten Unterscheidungen nur im deutschen Sprachraum gebe, vertreten wir die Auffassung, dass analoge Unterscheidungen unter neuzeitlichen und modernen Bedingungen in allen Sprachen und Kulturräumen nachweisbar sind (vgl. auch Reichenbach 2002; Benner / Peng 2013). Von Erziehung im engeren Sinne wird überall dann gesprochen, wenn nicht-reziproke pädagogische Interaktionen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden thematisiert werden, in denen die Erwachsenen eine pädagogische Verantwortung dafür tragen, dass in der nachwachsenden Generation Lernprozesse durch gegenwirkende und unterstützende Maßnahmen gefördert werden. Von Bildung in einem weiten Sinne sprechen wir dagegen dort, wo nicht pädagogische Inter aktionsverhältnisse, sondern Verhältnisse zwischen Mensch und Welt im Zentrum der Betrachtung stehen, die zwar auch für pädagogische Prozesse bedeutsam sind, über die Erziehungstatsache im engeren Sinne jedoch weit hinausgehen und auf Erfahrungen und Entwicklungen bezogen sind, die das menschliche Zusammenleben auch jenseits der Erziehung betreffen (vgl. Humboldt 1793). Ganz allgemein lässt sich sagen: Erziehungsprozesse sind immer in Bildungsprozesse eingebettet; Bildungsprozesse finden hingegen auch jenseits der Erziehung statt. Erziehungstheorien handeln vornehmlich von den Möglichkeiten und Einwirkungsformen pädagogischen Handelns, Bildungstheorien von den Aufgaben und Entwicklungsproblemen eines humanen Zusammenlebens.
2.
Die frühe Thematisierung pädagogischer Forschungsfragen in der Bildungstheorie der antiken Paideia
Der Horizont der antiken Paideia war viel weiter als der der neuzeitlichen Pädagogik. Paideia (paideia) meint Entwicklungsprobleme des Menschen, die das gesamte Leben bis zum Tod umfassen und in denen Kindheit und Jugend noch keine zentrale Rolle spielen (vgl. Ruhloff 2014). Dies lässt sich bis in die antiken Mythen und die an sie anschließende philosophische und wissenschaftliche Begriffsbildung hinein verdeutlichen. Von Kindern und Jugendlichen ist weder im griechischen Mythos von der Ausstattung des Menschen noch im jüdischen Mythos von der Erschaffung des Menschen die Rede. Epi metheus, Prometheus und Zeus wirken im griechischen, von Platon im Dialog Protagoras (Platon: Protagoras 320 d–322 d) reflexiv bearbeiteten Mythos bei der Ausstattung des Menschen zusammen. Dem von Epimetheus zunächst unausgestattet belassenen Menschen verschafft Prometheus die Fähigkeit, Technik zu entwickeln, und verleiht Zeus die weiter gehenden Fähigkeiten des Rechtsempfindens (dikh) und der Scham (aidvw) und damit die Möglichkeit, mit deren Hilfe Sitte und Moral hervorzubringen. Die Erziehungstatsache, dass der Mensch nicht als Erwachsener zur Welt kommt, sondern als Kind geboren wird, bleibt im griechischen Mythos von der göttlichen Ausstattung der Menschen ebenso unreflektiert wie in der jüdisch-christlichen Erzählung von der Erschaffung eines ersten Menschenpaares; Adam und Eva sind im Paradies nicht nur kinder-, sondern auch elternlos. Die im antiken Mythos beschriebenen Phänomene und reflektierten Sachverhalte sind noch in der philosophisch-theoretischen Begriffsbildung wirksam. Kinderlos leben auch
14
Bildung an ihren Grenzen
noch die Menschen in Platons Kunstmythos von der Höhle als dem Ausgangsort mensch licher Bildung. In der sich im 7. Buch von Platons Staat findenden Höhlenerzählung (Politeia 514 a–521 b) tauschen sich Erwachsene, auf Sitzen so gefesselt, dass sie den Blick nicht wenden können, über Weltdinge aus, die sie auf einer Höhlenwand wahrnehmen. Einer von ihnen wird gewaltsam entfesselt und gezwungen, den Blick von den Schatten ins Licht und von der Höhle zur überirdischen Welt zu lenken und nach dem Wahren und Guten zu f ragen. Die Umlenkung des Blicks, die Platon mit Verweis auf das Beispiel des Sokrates beschreibt, ist nicht eine solche in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, sondern dient der Bildung und Legitimation einer philosophischen Klasse im Staat. Sie zielt auf die Begründung der politischen Funktion eines höchsten Standes gegenüber anderen Ständen der Polis, deren Angehörige die Wendung des Blicks von den Tatsachen zur Frage nach den Ursachen und Gründen nicht vollziehen können und auch nicht dazu bestimmt sind, dies zu tun. Die bildungstheoretischen Folgerungen, die Platon aus dem von ihm selbst konzipierten Kunstmythos zieht, sind nicht nur theoretisch-diskursiver Art, sondern besitzen eine programmatisch-experimentelle Seite. Sie zeigen ein Gedankenexperiment an, das zur Ausführung praktischer Experimente anregen will, die im Rahmen der moralisch-politischen Ordnung der Polis unternommen werden sollen. Deren Leitung und Führung will Platon nicht in die Hände von Liebhabern der Macht geben und auch nicht Glückseligen überlassen, sondern bei einem Stand philosophisch reflektierender Menschen verorten, die nach dem Wahren und Guten fragen und negative Erfahrungen bei der Entwicklung von Antworten erleiden, reflektieren und bearbeiten können (vgl. Benner / Stępkowski 2012). Platons Höhlenerzählung hat nicht nur die angesprochene bildungstheoretische und politische, sondern auch eine erziehungstheoretische und pädagogische Seite, die jedoch in seiner Abhandlung über den Staat auf eigentümliche Weise unausgelegt bleibt. Man könne, so lautet die bildungstheoretische Folgerung, blinden Augen kein Gesicht einsetzen, Bildungsprozesse seien nämlich nicht als Einübung eines bestimmten Blicks, sondern als die Umlenkung des Blicks und die Verarbeitung negativer Erfahrungen angewiesen. Was dies in pädagogischen Kontexten bedeutet, behandelt Platon nicht in der Politeia, sondern lässt er Sokrates im Dialog Menon am Beispiel einer geometrischen Lektion über den Satz des Pythagoras zeigen. In dieser lernt ein Knabe, der sich noch nie mit Sätzen der Geometrie befasst hat, nach dem Doppelten des 2 mal 2=4-füßigen Quadrats zu fragen. Mit Hilfe des Sokrates, der ihn zu einer Lenkung des Blicks von den horizontalen und vertikalen Linien verschiedener Quadrate zur Diagonale auffordert, findet er schließlich das gesuchte 8-füßige Quadrat in dem über der Diagonale des vierfüßigen Quadrats zu errichtenden Quadrat (vgl. Benner / English 2004). Eine systematische und forschungsbasierte Antwort auf die Frage, was unter der Umlenkung des Blicks zu verstehen ist, findet sich dann in der Metaphysik des Aristoteles und in dessen einzelwissenschaftlichen Abhandlungen, z. B. in der Physik, der Psychologie oder der Politik. Überall interpretiert Aristoteles den von Sokrates und Platon beschriebenen bildenden Blickwechsel teleologisch als Rückgang von der Erfahrung zur Zweck-Ursache, die der Erfahrung, in dieser noch unerkannt, zugrunde liegt. Zweckursachen erkennt Aris-
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
15
toteles nicht nur im Prinzip der Art, das verschiedene Erscheinungsformen von Lebewesen (z. B. Huhn und Ei) als deren Zweckgrund verbindet, sondern auch in physikalischen, moralischen, politischen und nicht zuletzt in für die Kinder- und Jugenderziehung grundlegenden Ordnungen. Die Analyse basaler teleologischer Strukturen baut Aristoteles zu einem Forschungsprogramm aus, das bis zum Beginn der Neuzeit wirkungsmächtig war und heute noch für eine Unterscheidung pluraler Wissensformen und Forschungsparadigmata bedeutsam ist (vgl. Benner 2009). Unter dem Rückgang zum Grund versteht Aristoteles in allen Gebieten des Fragens und Wissens einen Rückgang von der Erfahrung zu deren Material-, Form-, Wirk- und Zweckursachen, von denen er insbesondere den Zweckursachen eine bildende Bedeutung zuerkennt (vgl. Aristoteles: Physik 190 a–b). Physik ist nach Aristoteles die Wissenschaft von den Zweckursachen der Natur, Psychologie die Wissenschaft von den Zweckursachen seelischer Prozesse, Politik die Wissenschaft von den Zweckursachen eines vernünftigen Lebens in der Polis. Die Ordnung der Zweckursachen des Natürlichen, Psychischen und Politischen stellt nach Aristoteles nicht nur die wissenschaftliche Grundlage für alle Bewegungen und Prozesse in der Natur, im richtigen Denken und vernünftigen gesellschaft lichen Zusammenleben der Menschen dar, sondern bestimmt auch die Bildung und Entwicklung des Menschen selbst. Diese deutet er als einen Prozess, in dem aus einem zunächst ungebildeten Menschen, der die verschiedenen Ursachen noch nicht zu unterscheiden vermag und um die Bedeutung der Zweckursachen noch nicht weiß, ein Mensch wird, der im Bereich der Natur, der Psyche, der Moral und der Polis Zweckursachen erkennen und sein Wissen und Handeln nach diesen ausrichten kann. In seiner Physik verdeutlicht Aristoteles den teleologischen Zusammenhang am Beispiel eines Einkaufs auf dem Marktplatz. Begegnet dort ein ungebildeter Mensch, der nicht um die Ordnung der handlungsanleitenden Zweckursachen weiß, einem Mitbürger, der ihm Geld schuldet, so wird er die Begegnung als einen willkommenen Anlass zu nutzen suchen, das geliehene Geld einzutreiben. Ein gebildeter, um die Zweckordnung des Marktplatzes wissender Mensch wird dagegen in der zufälligen Begegnung auf dem Marktplatz anerkennen, dass der Markt ein Ort ist, an dem Leute Einkäufe tätigen, diesen Zweck achten und die Begegnung nicht zum Schuldeneintreiben nutzen (vgl. Aristoteles: Physik 196 a). Die angedeuteten Zusammenhänge zwischen der Frage nach der Ordnung der Zweck ursachen und der Führung eines guten Lebens suchte Aristoteles durch ein umfassendes Forschungsprogramm zu klären, das in allen Bereichen des Wissens und Handelns Material- von Formal- sowie Wirk- und Zweckursachen unterscheidet und Ort und Zeit als teleologisch bedeutsame Kategorien interpretiert. Das aristotelische Programm zur Klärung der Zweck ursachen hat nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern zugleich eine bildungs- und eine erziehungstheoretische Seite. Die bildungstheoretische Seite zeigt sich darin, dass Aristoteles den Zweckursachen eine herausragende Bedeutung für den Sinn und die Orientierung menschlichen Handelns zuerkennt. Die erziehungstheoretische Seite tritt dort hervor, wo er betont, dass nur Menschen, die um die Kategorien wissen, den Blick von der Erfahrung zu den Zweckursachen wenden und andere unterrichten können. Wer die Welt und die Polis nur aus Erfahrung kennt, kann nicht lehren. Über didaktische Kompetenzen verfügt nur der, der
16
Bildung an ihren Grenzen
den Rückgang von der Erfahrung zu den Gründen hinter sich hat und daher andere auf diesen Weg zu führen versteht (vgl. Aristoteles: Metaphysik 980 a–981 b). Das von Aristoteles konzipierte und realisierte Forschungsprogramm war von Anfang an keines für Lehrer im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, sondern ein Programm für ausgewiesene und angehende philosophische Wissenschaftler. Zwar forderte er eine gemeinsame Erziehung der nachwachsenden Generationen in öffentlichen Schulen, in denen grundlegende Kenntnisse und gemeinsame Handlungsweisen für das Zusammenleben der Bürger erlernt und eingeübt werden sollen (vgl. Aristoteles: Politik 1337 a 21 f f.). Kinderund Jugenderziehung definierte er als Vermittlung der elementaren Techniken des Lesens, Schreibens und Zeichnens und als Einführung in die Sitte. Die theoretisch-philosophischforschende Betätigung der Bürger verortete er in einer Zeit nach dem Ende der Erziehung. Unter ihr verstand er eine theoretische Praxis zwischen älteren und jüngeren Erwachsenen, deren Erziehung längst abgeschlossen ist. Die in der Erkenntnis von Zweckursachen liegende Seite der vernünftigen Rede über die Bildung des Menschen war somit auch bei Aristoteles weniger erziehungstheoretisch motiviert und nicht primär auf das Verhältnis der Erwachsenen zur nachwachsenden Generation ausgerichtet, sondern primär bildungstheoretisch konzipiert. Das Theorieprogramm der Erkenntnis der grundlegenden Zwecke in der Natur, der Psyche und der Gesellschaft war ein teleologisches Forschungsprogramm, das u. a. auch der Fundierung der Paideia, der Bildung des Menschen in dessen ganzer Lebensspanne, dienen sollte.
3.
Die europäische Aufklärung und die neuhumanistische Klassik als Kontext der Entstehung der modernen Erziehungsphilosophie
Wir lesen heute das Höhlengleichnis Platons als eine auch erziehungstheoretisch zu interpretierende Parabel. Aber das geschieht durch die Brille der neuzeitlichen und modernen Pädagogik, in der das pädagogische Generationenverhältnis auf Seiten der Erwachsenen wie auf Seiten der Heranwachsenden wesentliche Veränderungen erfahren hat und die pädagogische Interaktion zu einer eigenlogischen Praxis geworden ist. Während Aristoteles das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation als ein politisches Regierungsverhältnis dachte, in dem nur diejenigen gut regieren können, die zuvor gut regiert worden sind (vgl. Aristoteles: Politik 1332 b–1333 a), gründet Rousseau die politische Praxis in seiner Lehre vom Gesellschaftsvertrag auf eine Selbstregierung der Erwachsenen, die sich als Untertanen Gesetzen unterwerfen, an deren Entwicklung sie als Teilhaber der Souveränität im Staate mitwirken (vgl. Rousseau 1762 a, Buch 1, Kap. 6). An die Stelle des politisch definierten Verhältnisses der Erwachsenen zur nachwachsenden Generation und der darin eingebetteten regierenden pädagogischen Praxis als einer Form der politischen Praxis in der Polis tritt bei Rousseau die Konzeption einer „negativen Erziehung“, welche nicht durch Gewöhnung in die vorgegebene Sitte und Herrschaftsordnung einführt, sondern in der nachwachsenden Generation die Herausbildung eines Selberdenkens und Selberhandelns zu unterstützen sucht, das nicht einfach dem Denken und Han-
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
17
deln der Erwachsenen nachfolgt, sondern in einer neuen Intergenerationalität begründet ist (vgl. Rousseau 1762 b, Vorwort). Aus Platons Begriff einer a-kosmischen Natur des Menschen, den schon Schleiermacher in seiner Übersetzung von Platons Dialog Protagoras in den Begriff einer weltoffenen unbestimmten Bildsamkeit transformierte und als „unbegabte“ Natur (vgl. Platon: Protagoras 321 c) des Menschen auslegte, der seine Fähigkeiten selbst entwickeln muss, wird bei Rousseau der Begriff einer ambivalenten, weltoffenen Perfektibilität. Diese bringt ein erstes bildungstheoretisches Prinzip moderner Erziehung auf den Begriff, das von der pädagogischen Praxis die Anerkennung einer schon dem Neugeborenen innewohnenden Fähigkeit verlangt, der Fähigkeit nämlich, Fähigkeiten zu entwickeln. Parallel hierzu wird aus Platons Begriff der bildenden Umlenkung des Blicks als der Fähigkeit, aus negativen Erfahrungen zu lernen, in denen die Welt fremd und neu begriffen werden kann, ein schon in Rousseaus Konzeption negativer Erziehung angelegtes erziehungstheoretisches Prinzip, das Fichte, Schleiermacher und Humboldt später durch den Begriff einer Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit auszuweisen suchten (vgl. Stępkowski 2010). Das antike Verständnis der Unausgestattetheit des ersten erwachsenen Menschen wurde in den Begriff der modernen Bildsamkeit des Kindes und die antike Rede von der Kunst der bildenden Wendung des Blicks im Bildungsprozess der Erwachsenen in das moderne Verständnis einer pädagogischen Aufforderung zur Selbsttätigkeit überführt. Danach konnte auch ein dritter Grundbegriff pädagogischen Denkens und Handelns entwickelt und mit diesem die antike Subordination der Erziehung unter die Politik einer wesentlichen Korrektur unterzogen werden. An die Stelle einer politischen Finalisierung der Erziehung tritt in der Moderne die Forderung nach einer didaktischen und gesellschaftspädagogischen Transformation aller außerpädagogischen Anforderungen an die Erziehung, welche einem vierten Grundbegriff, dem einer nicht-hierarchischen Ordnung der ausdifferenzierten Formen der menschlichen Mitgesamttätigkeit (Schleiermacher), verpflichtet ist (vgl. Benner 2012, S. 58–126). Moderne Erziehung erkennt nicht nur von Geburt an die unbestimmte Bildsamkeit und Lernfähigkeit eines jeden Menschen an, die sie durch Aufforderungen zur Selbsttätigkeit zu stimulieren sucht, sie gründet sich zugleich auf die erziehungstheoretischen Prinzipien der Transformation außerpädagogischer Anforderungen in pädagogisch legitime und einer bildungstheoretischen Nicht-Hierarchizität, welche der Erziehung eine gleichbedeutsame Stellung unter den ausdifferenzierten Formen menschlichen Handelns zuerkennt. Zusammengenommen machen die Prinzipien der unbestimmten Bildsamkeit, der Aufforderung zur Selbsttätigkeit, der pädagogischen Transformation und der Nicht-Hierarchizität das aus, was man den Experimentcharakter der neuzeitlichen, insbesondere der modernen Erziehung nennen kann. Von ihm spricht Rousseau, wenn er die Erwachsenen dazu auffordert, die Kindheit zu studieren, und dies damit begründet, sie kennten diese ganz sicher nicht. Unter Kindheit versteht Rousseau keine Ausgangsform des noch nicht sozialisierten Kindes, das seine Bestimmung nach Maßgabe der Vorstellungen der Erwachsenen und der Anforderungen der Gesellschaft erhält, sondern eine unbekannte Kindheit, die auf eine unbekannte Erwach-
18
Bildung an ihren Grenzen
senheit hin ausgerichtet ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit war den Neugeborenen ihre künftige Bestimmung unbekannt. Seit der Moderne kennen wir die Sondersituation, dass nicht nur den Kindern ihre eigene Bestimmung, sondern auch den Erwachsenen die künftige Bestimmung der Kinder unbekannt ist. Moderne Kinder werden als Menschen, nicht als Angehörige eines bestimmten, ihnen von Geburt her zugeschriebenen Standes geboren. Ihre Kindheit ist unbekannt, weil auch ihr Status als Erwachsener unbekannt ist. Der unbekannten, weltoffenen Kindheit entspricht somit ein unbekannter, weltoffener Status des Erwachsenen. Beide sind eingebettet in ein neues Generationenverhältnis, in dem Eltern nicht mehr die künftige Bestimmung der Kinder repräsentieren, sondern diesen eine Freiheit zuerkennen, ihre Lebensform, ihren Beruf, ihre Partner und die Formen der Ver gemeinschaftung selbst zu wählen. Suchte Platon die menschliche Freiheit darauf zu gründen, dass Erwachsene, ohne jemals Kind gewesen zu sein, ihre künftige Bestimmung in einem vorgeburtlichen Leben unter den ihnen durch Los vom Schicksal zuerkannten Selbstbestimmungsmöglichkeiten immer schon gewählt haben, so zielt der Begriff moderner Freiheit auf eine Wahl der eigenen Lebensform, die nicht Erwachsenen vorbehalten ist, sondern in die Heranwachsende durch eine Erziehung eingeführt werden, die keiner vor geburtlichen Wahl mehr zum Durchbruch verhilft, sondern die Wahl der Wahl offen hält und nicht entscheidet.
4.
Erziehungs- und bildungstheoretisch ausgewiesene Forschungsfelder der Allgemeinen Pädagogik heute
Die in der Zeit der europäischen Aufklärung und des an diese anschließenden Neuhumanismus in Europa entwickelten Grundbegriffe moderner Pädagogik und die auf ihrer Grundlage entwickelten Erziehungstheorien, Bildungstheorien und Theorien pädagogischer Institutionen weisen für die moderne Erziehungswissenschaft und die pädagogische Praxis einen Experimentalcharakter aus, den die Antike im Rahmen ihres Paradigmas a llenfalls der Philosophie, nicht aber der theoretischen Pädagogik und auch nicht der Er ziehung von Kindern und Jugendlichen zuerkannt hatte. Im Folgenden werden allgemeinpädagogisch zu definierende Forschungsaufgaben genannt, von denen einige in einem letzten Abschnitt exemplarisch erläutert werden. Zu den allgemeinen und übergreifenden Problemstellungen theoretischer, wissenschaftlicher und praktischer Pädagogik gehört, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse über produktive negative Erfahrungen vermittelt sind, in denen Bekanntes fremd, schon Gelerntes wieder fraglich wird und Brüche in den Wissens- und Könnens-Horizonten Lernender entstehen, an die Neues angelagert werden kann (vgl. Benner / English 2004; English 2013). Ohne die Thematisierung der produktiven Negativität bildender Erfahrungen und der ihr Zustandekommen unterstützenden pädagogischen Einwirkungen ist eine pädagogisch ausgewiesene erziehungswissenschaftliche Forschung gar nicht möglich. Soll die Erziehungswissenschaft als eine unter pädagogischen Problemstellungen forschende Disziplin Bestand haben, so muss sie zu den anderen im Bereich der Erziehung forschenden Diszipli-
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
19
nen, insbesondere zur Psychologie und Soziologie, in eine Beziehung treten, die es erlaubt, an der Eigenlogik pädagogischer Prozesse ausgerichtete Theorien und Forschungsvorhaben zu entw ickeln und die Theorien, Fragestellungen, Erkenntnisse und Resultate anderer Disziplinen unter pädagogischen Problemstellungen zu reinterpretieren. Zu den Spezifika, die pädagogische Theorieentwicklung und erziehungswissenschaft liche Forschung hier einbringen muss, gehören nicht nur die genannte grundbegriffliche Basis und die sich auf sie stützenden Handlungstheorien, sondern auch Grundformen pädagogischen Handelns, die der Eigenlogik moderner pädagogischer Praxis verpflichtet sind und diese konkret umsetzten (vgl. Benner 2012, S. 208–314). Zu diesen Grundformen zählen wir erstens ein disziplinierendes pädagogisches Handeln, das bei den Heranwachsenden eine Konzentration und Aufmerksamkeit erzeugt, welche die Bereitschaft der Lernenden stärkt, den Horizont alltäglicher Welterfahrung und zwischenmenschlichen Umgangs zu verlassen und in erfahrungserweiternde und umgangsergänzende Lehr-Lernprozesse einzutreten. Die zweite elementare pädagogische Handlungsform schließt hieran an. Es ist diejenige einer Erziehung durch Unterricht, welcher bildende Blickwechsel inszeniert und erfahrungs- und umgangserweiternde Wissensformen, -bestände und Zusammenhänge erzeugt, die für ein distanziertes und reflektiertes Welt- und Selbstverhältnis heute unverzichtbar sind. Der gesamte Kanon des erziehenden Unterrichts an öffentlichen Schulen setzt sich aus erfahrungs- und umgangserweiternden Fächern und Fächergruppen zusammen, zu denen im Bereich der Grundschulen die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Zeichnens und Rechnens, aber auch soziale Techniken des gemeinsamen Lernens, des Hin- und Zu hörens und des Übens und auf der Mittelstufe des Schulsystems die nach Kunden ausdifferenzierten Unterrichtsfächer sowie auf der Oberstufe wissenschaftspropädeutische Fächer gehören. Sie alle vermitteln Kenntnisse, die für ein Verstehen der verwissenschaftlichten, historisch-gesellschaftlich gewordenen modernen Welt unverzichtbar sind. Hinzu kommt eine dritte pädagogische Handlungsform, die an unterrichtlich ver mittelte und gestützte Lehr-Lernprozesse anschließt und auf den Übergang und Eintritt der nachwachsenden Generation in die ausdifferenzierten Handlungsfelder moderner Gesellschaft vorbereitet. Dies ist die Handlungsform einer beratenden Erziehung, welche die Partizipationsmöglichkeiten der Teilhabe der nachwachsenden Generation am öffent lichen Leben in den Bereichen von Arbeit und Sitte, Erziehung und Politik, Kunst und Religion nutzt und stärkt. Pädagogische Disziplinierung fordert zum Anhalten der Bedürfnisse und zum Eintritt in Prozesse des Lernens und Nachdenkens auf. Erziehender Unterricht erweitert Erfahrung und Umgang durch die Einführung in ein Denken und Urteilen, welches zwischen lebensweltlichen, teleologischen, szientifischen, ideologiekritischen, pragmatischen und voraussetzungskritischen Wissens- und Urteilsformen zu unterscheiden versteht. Pädagogische Beratung zeigt auf den Übergang in intergenerationelle Handlungsformen und Anbahnung einer Handlungskompetenz, die es der nachwachsenden Generation erlaubt, am öffent lichen Leben zu partizipieren. Für den Grundcharakter erziehungswissenschaftlicher Forschung bedeutet dies, dass sie
20
Bildung an ihren Grenzen
weder als reine Erziehungsforschung, die pädagogische Prozesse und Einwirkungsversuche auf Lernprozesse Heranwachsender nur beobachtet und erklärt, noch als isolierte Bildungsforschung möglich ist, die Outputkompetenzen misst und vergleicht (vgl. Zedler 2012; 2013). Von einer primär psychologisch orientierten Bildungsforschung unterscheidet sich eine pädagogische Erziehungs- und Bildungsforschung dadurch, dass sie pädagogische Prozesse unter gleichzeitiger Berücksichtigung erziehungs-, bildungs- und institutionstheoretischer Fragestellungen untersucht und Zusammenhänge zwischen einer vorgegebenen Inputorientierung von Lehr-Lernprozessen durch Lehrpläne und Richtlinien, einer diszi plinierenden, unterrichtenden und beratenden Erziehung und der Entwicklung von Kompetenzen in den drei Bereichen Grundkenntnisse, Urteils- und Partizipationskompetenz erforscht und klärt. Die Erziehungsphilosophie ist daher zusammen mit der Bildungsphilosophie und der Allgemeinen Pädagogik dazu aufgerufen, an der Konzeptualisierung, Kritik, Verbesserung und Weiterentwicklung pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Forschungsvorhaben mitzuwirken und für diese Wege aufzuzeigen, wie Forschungsvorhaben den Experimentalcharakter der pädagogischen Praxis stärker berücksichtigen und an den theoriegeleiteten Wissensformen der Pädagogik und Erziehungswissenschaft teilhaben können (vgl. Reinmann / Sesink 2011).
5.
Allgemeine Pädagogik als forschende Reflexionsdisziplin. Zwei Beispiele aus erziehungswissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten an der Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego in Warschau und der Humboldt-Universität zu Berlin
Wie eine allgemein-pädagogisch ausgewiesene Grundlagenforschung, die erziehungs-, bildungs- und institutionentheoretische Problemstellungen im Zusammenhang verfolgt, für erziehungswissenschaftliche Forschungsvorhaben bedeutsam werden kann, soll abschließend am Beispiel zweier BA-Arbeiten verdeutlicht werden, die von Studierenden an der Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego in Warschau und an der Humboldt-Univer sität zu Berlin verfasst worden sind. Die beiden Studierenden wählten für ihre Abschluss arbeiten Problemstellungen aus, die sie in einer allgemein-pädagogisch und erziehungsund bildungshistorisch ausgewiesenen Einführungsphase ihres Studiums kennengelernt hatten, und versuchten, diese an fachlichen Themen des von ihnen gewählten Studienschwerpunkts fruchtbar zu machen. Die erste Arbeit schließt an ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes und an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedeltes Forschungsprojekt mit dem Namen ETiK (Entwicklung eines Testinstruments zu einer didaktisch und bildungstheoretisch ausgewiesenen Erfassung ethisch-moralischer Kompetenzen im Ethik-Unterricht an öffent lichen Schulen) an, das im Bereich der allgemein-pädagogischen Grundlagenforschung und der empirischen Bildungsforschung angesiedelt ist (vgl. Benner u. a. 2013). In ihm wird ein Modell und Instrument zur Erfassung moralischer Urteils- und Partizipationskompetenzen
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
21
von 16-Jährigen entwickelt, die den Ethik-Unterricht an öffentlichen Schulen besuchen (vgl. für den Bereich religiöser Bildung Benner u. a. 2011). In dem genannten Vorhaben wird moralische Kompetenz durch die drei Teilkompetenzen moralisches Grundwissen, mora lische Urteils- und moralische Handlungskompetenz definiert, die ihrerseits nach Anspruchsniveaus differenziert werden. Das Berliner Team arbeitet gegenwärtig gemeinsam mit einem von Prof. Dariusz Stępkowski an der UKSW geleiteten Warschauer Team und einem an der KPH Wien / K rems von Prof. Dr. Georg Ritzer geleiteten Wiener Team sowie weiteren Teams in China, Dänemark, Österreich und der Schweiz daran, das entwickelte Modell und Instrument international zu erproben und dabei der Frage nachzugehen, inwieweit moralische Kompetenzen von 16-Jährigen heute universalistische Grundstrukturen aufweisen und wo insbesondere kulturelle und nationale Prägungen beobachtbar sind. Während ihrer fünfjährigen Zusammenarbeit an der Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego haben die Autoren dieses Beitrags u. a. die BA-Arbeit einer Studentin betreut, die Testaufgaben aus dem Berliner Projekt zur Ermittlung moralischer Kompetenzen von polnischen Jugendlichen einsetzte und dabei die Antworten straffällig gewordener Schülerinnen und Schüler mit Antworten nicht-straffälliger Jugendlicher verglich: Marta Zochowska: Moralische Urteilsfähigkeit 15-jähriger Jugendlicher aus pol nischen Erziehungsheimen und Gymnasien. Eine vergleichende Analyse im Anschluss an das Berliner Projekt ETiK Marta Zochowska studierte an der UKSW in der Studienrichtung Resozialisation. Sie besuchte die Vorlesung über „Bildung – Moral – Demokratie“ und lernte in dieser unterschiedliche Theorien und Modelle moralischer Erziehung und Bildung sowie den Forschungsansatz des Berliner DFG-Projekts ETiK kennen, in dem zwischen der Definition und Erfassung moralischer Grundkenntnisse, moralischer Urteils- und moralischer Handlungskompetenz unterschieden wird. In ihrer BA-Arbeit vergleicht Frau Zochowska Kompetenzen von straffällig gewordenen polnischen Jugendlichen mit Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der Eingangsklasse der polnischen Oberstufe (Lyceum) unter Verwendung des im Berliner Projekt ETiK entwickelten Testinstruments zur Erfassung moralischer Kompetenzen von 15-Jährigen. Sie begründet in ihrer BA-Arbeit die Auswahl von Aufgaben, die sie für ihre Unter suchung ausgewählt hat, mit Blick auf die Lebenssituation polnischer Jugendlicher, berichtet über die Ergebnisse ihrer Tests mit den von ihr ins Polnische übersetzten Aufgaben und vergleicht die Ergebnisse, die beide Schülergruppen hierbei erzielten. Zu den Ergebnissen der BA-Arbeit von Frau Zochowska gehören u. a. Erkenntnisse wie die folgenden: "" von den in Berlin entwickelten Testaufgaben lassen sich die ausgewählten Aufgaben auch in Polen einsetzen; "" polnische Oberschüler erreichen nicht generell bessere Kompetenzwerte als polnische Jugendliche, die sich im Jugendstrafvollzug befinden; "" bei Testaufgaben, die sich auf die Bearbeitung von Problemen eines solidarischen Handelns beziehen, ist die Urteils- und Handlungskompetenz von Jugendlichen, die sich in einer sozialpädagogischen Resozialisation befinden, sogar höher.
22
Bildung an ihren Grenzen
Die zweite BA-Arbeit wurde von einer Studentin verfasst, die neben den erziehungswissenschaftlichen Studienschwerpunkten solche im Bereich der Musikpädagogik gesetzt hatte. In ihrer Abschlussarbeit legte sie die in Abschnitt III vorgestellte allgemein-pädagogische Differenzierung pädagogischer Handlungsformen in solche einer disziplinierenden, unterrichtenden und beratenden Erziehung auf zwei musikpädagogische Projekte aus. Von diesen bereitete das eine die Aufführung von Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ mit den Berliner Philharmonikern vor und entwickelte das andere eine Aufführungskonzeption zu Homers Odyssee, die an einer Berliner Grundschule realisiert wurde. Beide Projekte sind umfassend durch Filme dokumentiert, die eine Rekonstruktion ihrer Arbeitsweisen unter Problemstellungen einer disziplinierenden, unterrichtenden und beratenden Erziehung erlauben. Maria Ispas: Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Handlungsformen Disziplinierung, Unterricht und Beratung in musikpädagogischen Konzepten. Eine systematische Analyse anhand zweier musikpädagogischer Beispiele. Frau Ispas besuchte die allgemein-pädagogische Einführungsveranstaltung in den BAStudiengang an der Humboldt-Universität zu Berlin, entschied sich nach Absolvierung eines Praktikums an der Komischen Oper Berlin, ihre BA-Arbeit über ein musikpädagogisches Thema zu schreiben, ein Thema, für dessen Betreuung ich von der Sache her gänzlich inkompetent bin, das mich aber auf Grund des Berufs meiner Frau, die Musiklehrerin und Musikerin ist, interessiert. Wir vereinbarten als Thema die Frage, welche Bedeutung den drei pädagogischen Handlungsformen einer pädagogische Gewalt ausübenden Erziehung, einer Erziehung durch Unterricht und einer den Übergang zu selbstverantwortetem Handeln beratend unterstützenden Erziehung in musikpädagogischen Kontexten zukommt, und Frau Ispas wählte als Exempla zwei Projekte aus: "" das verfilmte Projekt „Rhythm is it“, das die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chef dirigent Sir Simon Rattle mit 250 Kindern und Jugendlichen aus 25 Nationen unter Mithilfe und Anleitung des Choreografen und Tanzpädagogen Royston Maldoom durchführten und mit der Aufführung von Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ abschlossen, "" und das ebenfalls im Film festgehaltene Projekt „Odyssee“, das die Tanzpädagogin Nadja Raszewski mit dem Kollegium und den Schülerinnen und Schülern der Schweizerhofgrundschule in Berlin Zehlendorf durchgeführt hat. Frau Ispas analysierte nicht nur die beiden Filme, sondern auch ein bereits vorliegendes Interview mit den Hauptakteuren des Projekts zur Aufführung von Strawinskys „Sacre du printemps“ und führte ein nach der Bedeutung regierender, unterrichtlicher und be ratender pädagogischer Maßnahmen fragendes Interview mit der das Odyssee-Projekt koordinierenden Tanzpädagogin. In einem Vergleich der Konzepte und Maßnahmen arbeitete Frau Ispas heraus, dass in beiden Projekten alle drei Formen pädagogischen Handelns, wenn auch in unterschied licher Weise, zum Zuge kamen: "" In dem renommierten Projekt „Rhythm is it“ wurden disziplinierende und beratende Maßnahmen insbesondere zum Zwecke der Qualitätssicherung des Vorhabens eingesetzt, auf Erfahrungen und Umgang der Schülerinnen und Schüler erweiternde unterrichtliche Maßnahmen dagegen weitgehend verzichtet.
Philosophische Pädagogik und pädagogische Forschung
23
"" in dem Grundschulprojekt „Odyssee“ wurden dagegen disziplinierende Maßnahmen mit Blick auf die geplante Aufführung begründet, unterrichtliche Maßnahmen zum Verständnis der Odyssee herangezogen und beratende Maßnahmen zur Lösung aufführungstechnischer, sozialisatorischer und interaktiver Probleme herangezogen. "" Zum wissenschaftlichen Ertrag der Arbeit gehört, dass sie zwei Modelle interpretiert, von denen das eine – durchaus legitim – pädagogische Maßnahmen im Dienste der Kunst und das andere – ebenso legitim – ästhetische Praxis im Dienste der Erziehung einsetzt.
Vergleicht man die Qualifikationsarbeiten und das DFG-Projekt ETiK mit den vorangegangenen Ausführungen über eine mögliche fruchtbare Zusammenarbeit zwischen philosophischer Pädagogik und erziehungswissenschaftlicher Forschung, so wird deutlich, dass in den angesprochenen Vorhaben nicht alle Forderungen erfüllt werden, die zuvor in systematischer Absicht für eine anspruchsvolle Verknüpfung von Erziehungstheorie, Bildungstheorie und erziehungswissenschaftlicher Forschung entwickelt wurden. Das zeigt, dass wir uns mit unseren Überlegungen mitten in einem aktuellen Forschungsfeld bewegen, für das erziehungs- und bildungsphilosophische Diskurse zentral, aber allein nicht ausreichend sind. Wir arbeiten daran, die Verknüpfungsmöglichkeiten weiterzuentwickeln und hoffen, damit einen Beitrag zur Entwicklung einer forschenden Erziehungsphilosophie und Allgemeinen Pädagogik leisten zu können.
Literatur Aristoteles: Metaphysik. Aristoteles Physik. Aristoteles: Politik. Benner D. (2009): Wissensformen der Wissensgesellschaft. In: Ders.: Bildung und Kompetenz. Paderborn: Schöningh, S. 31–44. Benner, D (82014): Allgemeine Pädagogik. Weinheim und Basel: Juventa-Beltz. Benner, D. / English, A. (2004): Critique and Negativity. In: Journal of Philosophy of Education 38, S. 409–428. Benner, D. / Nikolova, R. / von Heynitz, M. / Ivanov, S. / Tschernjajew M. (2013): Normativität als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Bildungsforschung. Ansatz, erste Ergebnisse und vorläufige Modellierungen im DFG-Projekt ETiK. In: T. Fuchs / M. Jehle / S. K rause: Normativität und Normative (in) der Pädagogik. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft III. Würzburg 2013, S. 121–137. Benner, D. / Schieder, R. / Schluss, H. / Willems, J. (2011): Religiöse Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung. Versuch einer empirisch, bildungstheoretisch und religionspädagogisch ausgewiesenen Konstruktion religöser Dimensionen und Anspruchsniveaus. Paderborn: Schöningh. Benner, D. / Peng Z. (2013): Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei als Bildungstheoretiker und Modernisierer Preußens und Chinas. In: Aufklärung im Dialog. Stiftung Mercator. Essen. Benner, D. / Stępkowski, D. (2012): Die ‘Höhle’ als Metapher zur Beschreibung von Bildungsprozes-
24
Bildung an ihren Grenzen
sen. Eine Studie zur Transformation von Platons Höhlengleichnis in bildungstheoretisch relevanten Diskursen. In: D. Benner (Hrsg.): Bildung und Kompetenz. Paderborn: Schöningh, S. 45–65. English, A. R . (2013): Discontinuity in Learning. Dewey, Herbart, and Education as Transformation. Cambridge University Press. von Humboldt, W. (1792): Theorie der Bildung des Menschen. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. A. Flitner / K . Giel (Hrsg.): Band 1. Darmstadt: WBG, S. 234–240. Platon: Politeia. Platon: Protagoras. Reichenbach, R. (2002): Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne. Münster: Waxmann. Reinmann, G. / Sesink, W (2011): Entwicklungsorientierte Bildungsforschung. Empfangen von http: / / gabi-reinmann.de / w p-content / uploads / 2011 / 11 / Sesink-Reinmann_Entwicklungsforschung_v05_20_11_2011. pdf Rousseau, J.-J. (1762 a): Du contrat social. Rousseau, J.-J. (1762 b): Émile ou De l’éducation. Ruhloff, J. (2002): Bildungs- und Erziehungsphilosophie – ein Blick von innen. In: Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. L. Wigger / E . Cloer / J. uhloff, / P. Vogel / C . Wulf (Hrsg.): Beiheft 1 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Leverkusen: Leske & Budrich, S. 83–91. Ruhloff, J. (2014): Anfänge der Bildungs- und Erziehungsphilosophie in der griechischen Antike. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaften Online. Stępkowski, D. (2010): Pedagogika ogólna i religia. (Re)konstrukcja zapomnianego wątku na podstawie teorii Johanna F. Herbarta i Friedricha D. E . Schleiermachera. Warszawa: Towarzystwo Naukowe Franciszka Salezego. Wigger, L. (2002): Ein Neubeginn der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Die 1. Tagung der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ der DGfE. In: Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. L. Wigger / E . Cloer / J. Ruhloff / P. Vogel / C . Wulf (Hrsg.): Beiheft 1 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Leverkusen: Leske & Budrich, S. 5 –8. Zedler, P. (2012): Vom Verschwinden der „Erziehung“. Aus der Erziehungswissenschaft. Zum Nebeneinander von (Erziehungs-) Philosophie und sozialwissenschaftlicher Forschung. In: J. Breithausen / F. C aputo: Pensiero critico. Scritti internazionali in onore di Michele Borrelli, S. 319–347. Cosenza: Pellegrini. Zedler, P. (2013): Allgemeine Erziehungswissenschaft und Empirische Bildungsforschung. Entwicklungslinien eines gelegentlich schwierigen Verhältnisses. In: Die Deutsche Schule 4, S. 321–433.
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsbericht erstattung von Veronika Manitius, Ina Semper, Nils Berkemeyer und Wilfried Bos
1.
Einleitung Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
Über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von erfolgreichen Bildungsprozessen besteht weitgehende Einigkeit. Von Bildung erhofft man sich einen wesentlichen Beitrag zur Begegnung gesellschaftlicher Herausforderungen wie des sozialen Wandels unter den Bedingungen einer zunehmend globalisierten Welt oder den aktuellen demografischen Verände rungen. Vor dem Hintergrund einer solchen gesamtgesellschaftlichen Schlüsselkategorie Bildung sind auch die seit dem „PISA-Schock“ 2001 andauernden bildungspolitischen und allgemeinen Debatten um die Qualität und verbesserte Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssystems einzuordnen. Damit einhergehende politische Bemühungen um die Qualitätsentwicklung im Bildungswesen sind neben der Einführung von Bildungsstandards, zentralen Abschlussprüfungen usw. auch durch die Gesamtstrategie der Kultus ministerkonferenz zu einem alle Länder verpflichtenden Bildungsmonitoring (vgl. KMK 2006) gekennzeichnet. Ein solches Monitoring soll regelmäßig Informationen und Ana lysen über das deutsche Bildungswesen für die Steuerungsakteure1 und die interessierte Öffentlichkeit bereithalten. Neben der Teilnahme an internationalen Leistungsstudien und einer landesweiten Überprüfung des Einhaltens von Bildungsstandards zählt eine regel mäßige Bildungsberichterstattung zu den Elementen der Monitoringkonzeption (vgl. ebd.). Seit dem Jahr 2006 informiert der Nationale Bildungsbericht alle zwei Jahre indikatorengestützt und problemorientiert über das Bildungsgeschehen in Deutschland. Neben diesem bundesweiten Bildungsbericht hat sich außerdem eine Bildungsberichterstattung auf Ebene der Länder weitgehend etabliert und findet sich immer häufiger auch im regionalen und kommunalen Raum wieder. Für die Bildungsberichterstattung besteht eine zentrale Herausforderung darin, Indikatoren zu entwickeln, die Bildung als prozesshaftes Geschehen abbilden können und zugleich Aussagen zu Problembereichen wie Chancenungleichheiten ermöglichen (vgl. Baethge u. a. 2011). Die Kategorie der Anerkennung hat, ausgehend von der Reformulierung der Anerkennungstheorie durch Axel Honneth (1992), in den Sozial- und Bildungswissenschaften inzwischen eine große Popularität erreicht, unter anderem deshalb, weil sie eine Brücke
26
Bildung an ihren Grenzen
schlägt zwischen den wechselseitigen Anerkennungserfahrungen der Individuen und sozialer Gerechtigkeit. Insbesondere aus der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive betrachtet, kann Anerkennung auch als Kategorie für die Bildungsberichterstattung von Interesse sein. Inwieweit die Bildungsberichterstattung Auskunft über Anerkennungsprozesse geben kann, ist in diesem Beitrag zu diskutieren. Hierfür gilt es zunächst, einführend die aktuelle Konzeption der Bildungsberichterstattung zu skizzieren. Ausgehend von einem ausgemachten Desiderat theoriegeleiteter Indikatorisierung der Bildungsberichterstattung wird sodann das Konzept der Anerkennung theoretisch erarbeitet und insbesondere für eine Perspektive stärker gerechtigkeitsfokussierter Bildungsberichterstattung fruchtbar gemacht. Ausblickend soll aufgezeigt werden, was Beispiele für relevante Anerkennungsindikatoren in Bildungsberichten sein können. So versteht sich der Beitrag angesichts der bekannten Herausforderung, dass Bildungsberichterstattung vor allem auch die theoretische Fundierung der verwendeten Indikatoren wissenschaftlich zu klären hat (vgl. T ippelt 2009b; Weishaupt / Zimmer 2011), vorrangig als ein Diskussionsversuch zu einer thematisch spezifischen Weiterentwicklung der Indikatorisierung von Bildungsberichtssystemen.
2.
Kurzüberblick zum Stand der aktuellen Konzeption der ildungsberichterstattung in Deutschland B
Der Nationale Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012) fungierte in der letzten Dekade sicherlich maßgeblich als Orientierung für andere Formen der Bildungsberichterstattung in Deutschland, nicht zuletzt aufgrund seiner prominenten Platzierung im Zuge der Gesamtstrategie zum Monitoring des Bildungswesens der KMK (2006), aber auch, weil er als einziges Bestandteil dieser Monitoringstrategie über alle Bildungsbereiche Auskunft gibt und sich nicht allein auf den schulischen Bereich beschränkt. Aufgrund seiner innerdeutschen Prominenz in der Bildungsberichterstattung und angesichts der noch mangelnden synoptischen Aufarbeitung anderer deutscher Berichtssysteme (Landesbildungsberichte, kommunale und regionale Bildungsberichte, pro blemzentrierte Bildungsberichte, usw.), wird sich in den folgenden Ausführungen zu Zielsetzungen, inhaltlicher Rahmung und Indikatorenwahl somit vor allem auf den Nationalen Bildungsbericht beschränkt. Mit dem Nationalen Bildungsbericht wird angestrebt, Transparenz um das Bildungsgeschehen in Deutschland für die allgemeine, interessierte Öffentlichkeit herzustellen und eine datenbasierte Grundlage für die Diskussion um die Weiterentwicklung des Bildungssystems und für politische Entscheidungen bereitzustellen (vgl. Döbert / K lieme 2010). Über die regelmäßige zweijährige Berichtslegung, die Fortschreibung eines überschau baren Kerndatensatzes und eine öffentlich zugängliche Homepage mit ergänzenden Informationen zum Abruf soll diese gewünschte Transparenz geschaffen werden. Hierüber wird ein verlässliches und umfassendes, d. h. sämtliche Bildungsbereiche / Dimensionen von Bildung berücksichtigendes Monitoringsystem angestrebt (vgl. ebd.).
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
27
Wesentlich für die inhaltliche Rahmung der nationalen Bildungsberichterstattung ist ein zielorientiertes Bildungsverständnis, das sich in drei Dimensionen unterscheidet: individuelle Regulationsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit sowie Humanressourcen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012; Döbert 2009). Mit der individuellen Regulationsfähigkeit werden kognitive, motivationale und soziale Kompetenzen des Individuums betont, welche für erfolgreiches Planen und Gestalten des Lebens in der Gesellschaft erforderlich sind. Die Beförderung von gesellschaftlicher Teilhabe und die Sicherung von Chancengleichheit durch Bildungsinstitutionen hebt auf zentrale humanitäre A nsprüche der demokratischen Gesellschaft ab (vgl. Tippelt 2009b). Die Bereithaltung und Sicherung von Humanressourcen durch Bildung bezieht sich schließlich insbesondere auf das ökonomische System und die Vermittlung von Fertigkeiten und Qualifikationen, die dem Einzelnen den Übergang in die Erwerbsarbeit ermöglichen. Ein solches Bildungsverständnis ist weniger wissenschaftlich bildungstheoretisch reflektiert, als dass es vor allem eine übergeordnete inhaltliche Zielvorstellung von Bildung vorgibt und hierbei sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Dimension von Bildung berücksichtigt, aber keine weitere inhaltliche Deklination vornimmt (also z. B. eine konkrete Herleitung der verwendeten In dikatoren über diese Rahmengebung). Es handelt sich somit um ein vor allem alltagstheo retisches Bildungsverständnis, das sich z. B. über gemessene Kompetenzen und formale Abschlüsse definiert (vgl. Weishaupt 2012). Die Berichtslegung folgt mit ihrer Anordnung der Indikatoren der aus der Schuleffektivitätsforschung entliehenen Heuristik des Kontext-Input-Prozess-Output-Modells, was wiederum eher einem produktionsorientierten Bildungsverständnis nahekommt (vgl. Rürup u. a. 2010). Demnach werden Bildungsprozesse durch zentrale Kontextvariablen (z. B. demogra fische oder wirtschaftliche Entwicklungen) sowie durch inputgebende Maßnahmen (z. B. f inanzielle Ressourcen, Personalqualifikation, rechtliche Regelungen) bedingt und führen schließlich zu dem Bildungsoutput wie z. B. Kompetenzen und Abschlüssen sowie den Outcomes, also gesellschaftlichen Erträgen wie einem gelingenden Übergang in das Erwerbs leben, Wohlstand, gesellschaftliche Partizipation etc. Komplettiert wird diese Analyse perspektive mit dem Ansatz des System-Modellings, wonach das Bildungssystem als Mehrebenensystem aufgefasst wird, „in dem individuelle, interaktive, organisationale und systemische Faktoren erfasst und verknüpft werden“ (Rürup u. a. 2010, S. 382). Aus dieser Gesamtkonzeption ergeben sich schließlich die zentralen Indikatorenbereiche des Berichts: "" „Kontextebene: Demografie, Wirtschaft und öffentliche Finanzen, Familienstruktur "" Inputebene: Bildungsausgaben, Personalressourcen, Bildungsangebote / Bildungseinrichtungen, Bildungsbeteiligung / Bildungsteilnehmer "" Prozessebene: Umgang mit Bildungszeit, Übergänge, Qualitätssicherung / Evaluierung "" Wirkungsebene: Kompetenzen, Abschlüsse, Bildungserträge“ (Weishaupt 2012, Döbert & Klieme 2010). Mit der bewusst gesetzten Absicht, über „Bildung im Lebenslauf“ zu berichten, werden die zentralen bildungsbiografisch relevanten Bildungsbereiche (Elementarbereich, Schulbildung, berufliche Bildung, Hochschule, usw.) zum Gegenstand der Berichtslegung. Ergänzend legt der Nationale Bildungsbericht jeweils einen thematischen Schwerpunkt fest, der
28
Bildung an ihren Grenzen
besondere Berücksichtigung in der Auswahl der herangezogenen Indikatoren findet (z. B. Migration, Demografie). Dem besonderen Anliegen, Bildungsprozesse über den individuellen Lebensverlauf darstellen zu können, kommt der Bildungsbericht allerdings noch nicht in gewünschtem Maße nach, da dafür erforderliche Längsschnittdaten bisher fehlen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Vielmehr berücksichtigt der Bildungsbericht vor allem die Erhebungen der amtlichen Statistik und unterliegt dem zufolge den damit einhergehenden Restriktionen der Datenverfügbarkeit sowie landes spezifischen statistischen und rechtlichen Besonderheiten. Die inzwischen in fast allen Bundesländern vorhandenen Landesbildungsberichte folgen häufig dem nationalen Bericht bezüglich des Kontext-Input-Prozess-Output-Schemas und der zentralen Indikatorenauswahl. Allerdings unterscheiden sich die Landesberichte in Aufbau (z. B. Berücksichtigung sämtlicher Bildungsbereiche versus alleinigen Fokus auf das Schulsystem) und thematischen Schwerpunktsetzungen voneinander. Noch mehr Vielfalt findet sich in der wachsenden kommunalen Bildungsberichterstattung, zu welcher a llerdings bislang systematisierende Forschungsarbeiten fehlen, die Auskunft über theo retische Fundierung, Indikatorenauswahl, Datenquellen und Konzeptionen der kommu nalen Bildungsberichte geben2. Neben den zumeist politisch initiierten Bildungsberichten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene stehen unterschiedliche, vor allem problemzentrierte Bildungsberichte, die Analysen des Bildungssystems unter einem spezifischen thematischen, oft kritischen Fokus durchführen (z. B. die Gerechtigkeitsperspektive im Chancenspiegel, vgl. Berkemeyer u. a., 2013 oder die ökonomische Perspektive im Bildungsmonitor, vgl. Institut der deutschen Wirtschaft 2013). Gegenüber der vorrangig politisch geförderten Bildungsberichterstattung weisen diese Berichte zum Teil vergleichsweise vertiefte theoretische Rahmungen auf und bieten häufig stärker kritische Diskussionsvarianten3 für die Befundlagen. Allerdings greifen auch diese Berichtssysteme überwiegend – nicht zuletzt auch der Datenverfügbarkeit geschuldet – auf die üblichen Indikatoren zurück.
3.
Zwischenfazit: Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Bildungsberichterstattung
Diese kurze Skizze zur aktuellen Praxis der Bildungsberichterstattung in Deutschland hat gezeigt, dass insbesondere der Nationale Bildungsbericht mit anspruchsvoller Zielsetzung verknüpft ist. Das Vorhaben, die breite interessierte Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger umfassend und verlässlich über das Bildungsgeschehen in Deutschland zu informieren, ist konsequenterweise in eine breite Bildungsberichtkonzeption übersetzt worden, mit der viele Bildungsbereiche, thematische Schwerpunkte und Entwicklungen im Zeitverlauf berücksichtigt werden. Ein solcher System-Modelling-Ansatz kollidiert allerdings mit dem gleichzeitig deklarierten Anspruch, den Indikatorensatz im Kern „überschaubar“ zu halten und mit der teilweise beschränkten Datenverfügbarkeit, wonach relevante, sicherlich gewünschte, Indikatoren nicht abzubilden sind.
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
29
Zielzuschreibungen an Bildung wie Chancengleichheit wahren, Humanressourcen sichern und individuelle Teilhabe am Leben in Gemeinschaften zu ermöglichen, sind zudem inhaltlich dimensionierte Ansprüche, an denen sich die entsprechende Konzeption von Bildungsberichten auch zu orientieren hat, postuliert sie denn ein solches Bildungsverständnis. So gilt es zum Beispiel zu fragen, woran sich die gelingende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben neben einer erfolgreichen Lerntätigkeit zeigt? Welches Geschehen im Bildungs system ist relevant für die Betrachtung von Chancengleichheit neben der üblichen vergleichenden Betrachtung des Bildungsoutputs nach sozialen Bezugsnormen? Die Herausforderung für die Bildungsberichterstattung liegt somit in der Weiterentwicklung einer stärker theoretisch begründeten Berichtskonzeption, die die Herleitung relevanter und bislang ggf. noch nicht berücksichtigter Indikatoren zulässt. Diese Aufgabe ist durchaus bekannt (vgl. Tippelt 2009b), scheitert innerhalb der Berichtssysteme vermutlich jedoch an der begrenzten Datenlage oder an der explizit adressatengerechten Ausrichtung, die keine vertiefte theoretische Auseinandersetzung vorsieht. Doch auch die Indikatorenforschung weist diesbezüglich bislang eher rudimentäre Arbeiten auf 4, was sicherlich ihren vergleichsweise noch jungen Aktivitäten (vor allem im Zuge der Maßnahmen der Neuen Steuerung der 2000er Jahre zugenommenen Forschungsbemühungen) geschuldet ist und dem Umstand, dass letztlich wohl wiederum das Erstellen von Bildungsberichten (unter wissenschaftlicher Beteiligung) selbst es ist, was den Anlass für die wissenschaftlich fundierte Weiterentwicklung der Bildungsberichterstattung gibt. In jüngster Zeit ist vor allem ein wissenschaftlicher Fokus auf die Auseinandersetzung mit der kommunalen Bildungsberichterstattung zu beobachten, festgemacht an den aktuell häufiger stattfindenden Fach tagungen, entsprechenden Symposien auf erziehungswissenschaftlichen Kongressen, Arbeitsschwerpunkten an Forschungsinstituten (DIPF) sowie als ausgemachter Schwerpunkt der Begleitforschung des bundesweiten Projektes „Lernen vor Ort“, welches das kommunale Bildungsmonitoring als einen zentralen Programmbaustein für die beteiligten Kommunen vorsieht. Angesichts der postulierten Notwendigkeit, Bildungsberichtssysteme stärker theoretisch zu fundieren, soll im Folgenden nun anhand einer spezifischen theoretischen Folie, der Anerkennungstheorie, der Versuch unternommen werden, über die theoretische Herleitung zu Indikatoren zu gelangen, die neben den bereits vorhandenen und vielfach genutzten Indikatoren in Bildungsberichten geeignet sind, über Bildungsprozesse Auskunft zu geben. Dabei wird auf die Anerkennungstheorie zurückgegriffen, weil sie verspricht, stärker auch das Prozessgeschehen im Bildungswesen zu berücksichtigen (vgl. Berkemeyer / Manitius 2013), was im Kontext-Input-Prozess-Output-Schema sicherlich die Dimension ist, die besonders weiterer Indikatorenentwicklung bedarf (vgl. auch Döbert / K lieme 2010; Berkemeyer u. a. 2013). Da der Anerkennungsansatz relevante gerechtigkeitstheoretische Bezüge aufweist (z. B. Honneth 2011), scheint sie zudem geeignet, die unserer Ansicht nach zentralen gerechtigkeitsbezogenen Zielkategorien von Bildung wie Chancengleichheit sichern und individuelle Regulationsfähigkeit für die Teilhabe an Gesellschaft zu ermöglichen, in einen spezifischen theoretischen Betrachtungsrahmen zu setzen, der die Entwicklung relevanter Indikatoren erlaubt. Es ist hier also insbesondere die Gerechtig-
30
Bildung an ihren Grenzen
keitsperspektive, die die theoretische Erweiterung des Blickwinkels auf die deklarierten Zielvorstellungen von Bildung in der Berichterstattung notwendig macht. Im Einzelnen gilt es nun, die theoretischen Grundlagen zum Konzept der Anerkennung auf Bildung (als den zentralen Gegenstand von Bildungsberichten) zu beziehen und des Weiteren Anerkennung ins Verhältnis zu Fragen der Gerechtigkeit zu setzen. Aus dieser theoretischen Zusammenführung sollen exemplarisch Vorschläge für mögliche Indika toren formuliert werden, die theoretisch begründet Eingang in eine stärker anerkennungsbezogene Bildungsberichterstattung finden können.
4.
Bildung und Gerechtigkeit aus Perspektive der Anerkennung
Anerkennung und Bildung
Anerkennung hat sich in den letzten Jahren zu einer Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Forschung entwickelt. Als Ausgangspunkt dafür kann die Neuformulierung der Anerkennungstheorie durch Axel Honneth gelten, dessen Werk „Kampf um Anerkennung“ 1992 erschien. Sein Anspruch ist es, eine „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie“ (Honneth 1992, S. 7) zu entwerfen, was unter Bezugnahme auf die Schriften G. W. F. Hegels und G. H. Meads geschieht. Honneth stellt zunächst einen Zusammenhang zwischen den Anerkennungsansprüchen von Individuen im Laufe der Subjektivitätsentwicklung und normativen Ansprüchen von Individuen her. Diese sind in deren wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen bereits strukturell angelegt. Anerkennung fungiert als Mechanismus des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und kann über soziale Bewegungen zu gesellschaft lichem Wandel führen (vgl. ebd.). Honneth entwickelt ein intersubjektivitätstheoretisches Personenkonzept, wonach Erfahrungen in drei ontogenetisch aufeinander aufbauenden Formen der wechselseitigen Anerkennung (Liebe, Recht und Wertschätzung) wesentlich für eine ungestörte Selbstentwicklung sind. Diesen Formen der Anerkennung stehen drei Formen der Missachtung (physische Misshandlung, Entrechtung und Entwürdigung) (vgl. ebd.) gegenüber. Anerkennungserfahrungen in diesen drei Bereichen ordnet Honneth drei Formen der Selbstbeziehung zu. Als strukturellen Kern gegenseitiger Anerkennungsbeziehungen führt er die Liebe an. Aus der Ausbalancierung von Bindung und Selbstständigkeit, einer wichtigen Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit, erwächst Selbstvertrauen, das für die „autonome Teilhabe am öffentlichen Leben die unverzichtbare Basis ist“ (Honneth 1992, S. 174). Über die Zuerkennung von Rechten hingegen entwickelt der erwachsene Mensch Selbstachtung, denn dadurch bekommt er die Möglichkeit, „sich auf sich selber als eine moralisch zurechnungsfähige Person zu beziehen“ (ebd., S. 191 f.). Mit sozialer Wertschätzung verbindet sich ein Vertrauen darin, dass die eigenen Leistungen und Fähigkeiten von der Gesellschaft positiv anerkannt werden. Aus diesen Erfahrungen erwächst Selbstschätzung (vgl. ebd.). Das Angewiesensein der menschlichen Selbstentwicklung auf positive Erfahrungen der Anerkennung bedeutet zugleich, dass Erfahrungen der Missachtung „eine psychische Lücke [aufreißen], in die negative Gefühlsreaktionen wie die Scham oder
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
31
die Wut treten“ (ebd., S. 220). Diese können zum „motivationalen Anstoß eines Kampfes um Anerkennung“ (ebd., S. 224) werden, wenn durch Solidarisierung mit ähnlich missachteten Individuen eine soziale Bewegung entsteht, die über die Erfahrungen Einzelner hinausweist. Honneth arbeitet damit einen Zusammenhang zwischen moralischen Missachtungserlebnissen und dem Entstehen von kollektiven sozialen Bewegungen (vgl. ebd.) heraus, die den Motor gesellschaftlichen Wandels darstellen. Aus Perspektive der Bildungsgerechtigkeit kann gefragt werden, wie beispielsweise sogenannte Bildungsverlierer mit ihren Missachtungserlebnissen umgehen. Bisher kann kein „Kampf“ dieser Gruppe gegen gesellschaftliche Benachteiligung beobachtet werden. Die Neuformulierung des Anerkennungsansatzes fand in der Folge rasch Eingang in die Bildungswissenschaften. Die Attraktivität des Konzeptes liegt in dessen Vielseitigkeit und Anschlussfähigkeit, insbesondere für pädagogische und bildungstheoretische Fragestellungen. Die Bedeutsamkeit von Anerkennungserfahrungen für die Subjektentwicklung bietet dafür zahlreiche Anknüpfungspunkte. Im Anschluss an Honneth entwickelt Annedore Prengel eine „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1993), für die sie interkulturelle, feministische und integrative Pädagogik unter einer anerkennungstheoretischen Perspektive vereinigt und die Kategorie Anerkennung in verschiedenen, an Honneth orientierten Sphären für pädagogische Kontexte brauchbar macht: Die Anerkennung des Individuums in intersubjektiven Beziehungen, die Anerkennung gleicher Rechte (besonders institutioneller Zugänge) und die Anerkennung der Zugehörigkeit zu (sub)kulturellen Gemeinschaften (vgl. Prengel 1993). Darauf aufbauend entwirft sie siebzehn Elemente einer „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. ebd.). Michael Winkler stellt 1998 unter Bezugnahme auf Hegel und Honneth fest, dass Anerkennung nicht nur „in Termini strukturell beschreibbarer Beziehungen“ (Winkler 1998, S. 161) wie Beziehungen in den Sphären Liebe, Recht und Solidarität nachgezeichnet werden darf, sondern dass sie Bildung als Prozess einschließen muss. Schule und Unterricht fungieren bei Hegel als Vermittler von Welt, die bereits die „sittlichen Grundbedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft“ (Winkler 1998, S. 158) enthalten. Damit wird die Notwendigkeit einer öffentlichen Erziehung und Bildung für die Entwicklung von Selbstbewusstsein herausgestellt. Durch einen mit Hegel begründeten prozesshaften Charakter des Anerkennungsbegriffes kommt Winkler zu dem Schluss, dass der Diskurs um Anerkennung vor allem das Entwicklungspotential von Einzelnen und Gesellschaft im Blick haben muss (vgl. ebd.). Ein 2002 erscheinender Sammelband „Pädagogik der Anerkennung“ (Hafeneger u. a. 2002) enthält weitere Positionsmarken zum Verhältnis von Anerkennung und Pädagogik. Alfred Scherr nimmt in seinem Beitrag beispielsweise die pädagogische Relevanz von sozialer Anerkennung und Subjektivität für die organisierte Erziehung und Bildung in den Blick, deren Aufgabe es im Anschluss an die Überlegungen der kritischen Gesellschafts theorie sei, „gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie zu ermöglichen“ (Scherr 2002, S. 29). Wesentlich sei die prozessuale Verbundenheit von Subjektivität und Anerkennung (vgl. ebd., S. 30). In Schulen sind allerdings beispielsweise aufgrund ihrer Selektionsfunktion „die Möglichkeiten der Anerkennung des Schülers als autonomes Subjekt seiner Lebenspraxis eng begrenzt“ (ebd., S. 31).
32
Bildung an ihren Grenzen
An den besonderen Gegebenheiten in der schulischen Bildung setzen Werner Helsper, S abine Sandring und Christine Wiezorek (2005) an. Soziale Anerkennungsverhältnisse in Schulen knüpfen zwar immer an den Selbstbeziehungsmodus der emotionalen Beziehungen an, aber Anerkennung wird zugleich in den Sphären rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschätzung zuteil. Die Autoren sehen in schulischen Anerkennungsverhältnissen eine enge, spezifische Verbundenheit der Anerkennungsmodi des Rechtes und der sozialen Wertschätzung, die in dieser Form nur dort vorkomme (vgl. Helsper u. a. 2005, S. 191). Dafür entwerfen sie die Kategorie der „institutionellen Anerkennung“ (vgl. ebd.). Ob institutionelle Anerkennungserfahrungen auf die ganze Person ausstrahlen und wie sich die Spannung zwischen Gewährung gleicher Rechte und Berücksichtigung individueller Ausgangslagen der Schüler auf das Lehrerhandeln auswirkt, sind daraus folgende Fragestellungen (vgl. ebd.). Davon ausgehend sei zu überlegen, wie in Schüler-Lehrer-Interaktionen „Übergänge zwischen moralischer Achtung, institutioneller Anerkennung und sozialer Wertschätzung verlaufen“ (ebd., S. 194). Von der begründeten Annahme einer Verbundenheit der Prozesse Anerkennung, Subjektentwicklung und Bildung ausgehend, entwickelt Krassimir Stojanov (2006) den Ansatz zu einer Bildungstheorie weiter. Stojanov attestiert der Anerkennungskategorie ein „sehr hohes und innovatives bildungstheoretisches und pädagogisches Potential“ (Stojanov 2011, S. 69 f.), weil sie erlaubt, Bildungsprozesse als soziale Prozesse zu analysieren und die sozialen Verhältnisse, in die sie eingebettet sind, auf ihre Normen und Wirkungen hin zu befragen (vgl. ebd., S. 70). Seine Erweiterung zu einer Bildungstheorie enthält die von Honneth vernachlässigte Entwicklung von Weltbeziehungen, die in einem Verständnis von Bildung als „parallele Transformation von Selbst- und Weltbezügen“ (Stojanov 2006, S. 108) von elementarer Wichtigkeit sind. Die Weltbeziehungen fungieren als Referenz, ohne die die Dynamik von Anerkennungsprozessen nicht nachvollzogen werden kann 5 (vgl. ebd.). Stojanov erweitert schließlich die Honneth’sche Zuordnung der drei Anerkennungsformen zu Selbstbeziehungsmodi um die Dimension der Weltbeziehungsmodi Ideale, Propositionen und subjektive Theorien: Tab. 1: Anerkennung und Beziehungsmodi Anerkennungsformen
Selbstbeziehungsmodi
Weltbeziehungsmodi
Liebe
Selbstvertrauen
Ideale
moralischer Respekt
Selbstachtung
Propositionen
soziale Wertschätzung
Selbstschätzung
subjektive Theorien
(Stojanov 2006, S. 146)
Gelungene Bildungsprozesse zeichnen sich demnach durch eine anfängliche Entstehung von Selbstvertrauen aus, welches sich zu Selbstachtung und schließlich Selbstschätzung weiterentwickelt, wie von Honneth dargestellt. Die komplementäre Entwicklung der Weltbeziehungsmodi vollzieht sich in der Entstehung von Idealen als Vorform von Weltbezügen,
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
33
die dann propositional artikuliert werden müssen, um soziale Wertschätzung erhalten zu können. Dies setzt positive Erfahrungen mit der Anerkennungsform des moralischen Respektes voraus. Soziale Wertschätzung führt zu einer Verdichtung von Idealen zu subjektiven Theorien, die wiederum innerhalb der Diskursgemeinschaft als Positionierung wiedergegeben werden und Anerkennung oder Missachtung erfahren können (vgl. Stojanov 2006; 2011). Für Bildungsprozesse sind also analog zu den Stufen der Selbstbeziehungsmodi auch für die Weltbeziehungsmodi Anerkennungserfahrungen konstitutiv. Erfahrungen der Missachtung wirken sich demnach auch hemmend auf Bildungsprozesse aus. Für die schulische Bildung stellt sich die Frage, welche institutionellen Funktionen, Inter aktionsmuster und pädagogischen Praktiken die Anerkennungsformen Empathie (Liebe), moralischen Respekt und soziale Wertschätzung verkörpern. Stojanov resümiert, Anerkennungsverhältnisse seien „Voraussetzung und Triebwerk von Bildung“ (Stojanov 2006, S. 168 f.), nicht deren Zieldimension. Er folgert in Bezug zu Aufgaben institutioneller Pä dagogik, dass aus anerkennungstheoretischer Sicht Bildungsprozesse initiiert, ermöglicht und unterstützt werden können, wenn eine „Wahrnehmung der lebensweltlichen Vorstellungen und der ansozialisierten Ideale der Heranwachsenden und der Einbeziehung dieser Vorstellungen und Ideale in die bildungsbezogenen Interaktionen“ erfolgt (ebd., S. 217). Vonnöten sei dafür außerdem die „Anerkennung des Potentials der Heranwachsenden, diese Vorstellungen und Ideale zu konzeptionellen Inhalten durch die Übernahme der Perspektive einer eingrenzten Diskursgemeinschaft im Zuge der Überschreitung der ursprünglich privat-partikularen Horizonte der Selbst- und der Wirklichkeitsdeutung transformierend-propositional zu artikulieren“ (ebd., S. 217). Bildungsfähigkeit in diesem Sinne kann als Fähigkeit, über den jeweils aktuell gegebenen Stand des Wirklichkeitsbezuges und der Selbstwahrnehmung hinauszugehen, verstanden werden. Dabei müssen sich Heranwachsende und Pädagogen in „ihrer reellen oder potentiellen Subjektivität anerkennen“ (Stojanov 2011, S. 71) – ein sehr wichtiger Punkt, da ja pädagogische Verhältnisse erst auf eine Entfaltung von Mündigkeit und Autonomie abzielen und Pädagogen daher eine anti zipierte Subjektivität anerkennen müssen, die als Bedingung der Ermöglichung von Freiheit verstanden wird (vgl. ebd.). Dieser Aspekt wird von Norbert Ricken aus einer poststrukturalistischen Sicht heraus interpretiert (Ricken 2006; 2009; Balzer / R icken 2010; Ricken 2013). Dabei stellt er gemeinsam mit Nicole Balzer vor allem die Ambivalenz des Anerkennungsbegriffes aus pädagogischer Perspektive heraus, der eben nicht von reeller oder erwarteter Gleichwertigkeit der Anerkennung in pädagogischen Verhältnissen ausgehe, sondern die Asymmetrie der Verhältnisse betont: Anerkennung wird mit Judith Butler zu einem „paradoxen Ort der Macht“ (Balzer / R icken 2010, S. 67). Die Herausforderung sei eine anerkennungstheore tische Reformulierung pädagogischer Antinomien: Wie kann der bestätigende und stiftende Charakter von Anerkennung mit pädagogischem Handeln, dessen Grundzüge Bejahung wie Negation beinhalten, zusammengebracht werden (vgl. ebd., S. 71)? Dies verweist auf die von Kant formulierte Paradoxie „Wie kultivierte ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant 1977, S. 711; A 32) und damit auf ein pädagogisches Grundproblem. Nicole Balzer und Norbert Ricken systematisieren die im gegenwärtigen Diskurs enthaltenen Dimensionen der
34
Bildung an ihren Grenzen
Anerkennung und versuchen anschließend, die moralische und ethische sowie die kulturelle Praxis ,Anerkennung‘ in eine analytische Kategorie zu überführen, was unter Bezugnahme u. a. auf Werke Axel Honneths, Charles Taylors, Jessica Benjamins, Judith Butlers, Alexander Garcia Düttmanns sowie Tzvetan Todorovs erfolgt (vgl. Balzer / R icken 2010). Sie schlagen vor, Anerkennungshandeln als Adressierungshandeln zu fassen, was den Vorteil hat, die konstitutive und performative Dimension von Anerkennung mitberücksichtigen zu können (vgl. ebd.). In einer solchen Sicht wird die mit Anerkennung einhergehende Selektion eines Adressaten und dessen Reaktion offenbar, des Weiteren die Definition der Situation und eine Normation dessen, was als anerkennbar gilt, weiter eine Positionszuweisung innerhalb des Ordnungsrahmens und das Ins-Verhältnis-setzen zu sich selbst und schließlich eine Valuation, also eine Wertzuschreibung, die der Selektion und Positionierung implizit ist (vgl. Ricken 2013). Diese Dimensionen können als Grundlage für eine empirische Erforschung dienen (vgl. ebd.). Ein so gefasster Anerkennungsbegriff geht weit über Honneths Begriff von Anerkennung als „Affirmierung positiver Eigenschaften von menschlichen Subjekten oder Gruppen“ (Honneth 2010, S. 110) hinaus. Zusammenfassend kann man dem Anerkennungskonzept ein großes Potential als Kategorie in Pädagogik und Bildung zusprechen, wenn auch eine Systematisierung noch nicht zufriedenstellend ist, da hinsichtlich der Bezugstheorien, wie oben dargestellt, von unterschiedlichen Prämissen ausgegangen wird. Anerkennung und Gerechtigkeit
Verweise auf mangelnde Gerechtigkeit im deutschen Schulsystem fehlen in kaum einer der bildungspolitischen Debatten der Nach-PISA-Ära. So zeigt die entsprechende Forschung z. B. immer wieder, dass der Bildungserfolg in Deutschland deutlich von der sozialen Herkunft der Kinder abhängt (vgl. Bos u. a. 2011). Die Frage nach der Gerechtigkeit der Schulsysteme wird bisher meist mit empirischen Verweisen auf messbare Ungleichheiten beim Bildungszugang, den schulischen Leistungen oder den Ergebnissen in Leistungstests beantwortet. Aus diesen Befunden wurden und werden bildungspolitische Handlungsnotwendigkeiten abgeleitet (vgl. auch KMK 2006; 2010). Damit politische Reformbemühungen einem moralischen Anspruch, gerade hinsichtlich ungleicher Bildungschancen, gerecht werden können, erscheint eine Einbettung in gerechtigkeitstheoretische Überlegungen sinnvoll. Drei derzeit populäre Ansätze können dafür als Betrachtungsfolie dienen: die Verteilungsgerechtigkeit nach John Rawls, die Teilhabegerechtigkeit nach Amartya Sen sowie die Anerkennungsgerechtigkeit nach Axel Honneth (vgl. auch Stojanov 2008; 2011; Wigger 2011; Berkemeyer / M anitius 2013). Für Ansätze der Verteilungsgerechtigkeit ist die formale Gleichheit zentrales Gerechtigkeitsprinzip. Oberster Grundsatz ist nach Rawls (1979) die Gewährung des gleichen Rechtes auf Freiheit für alle Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Rawls 1979, S. 336). Ungleichheiten gelten jedoch unter der Bedingung als legitim, dass sie den am „wenigsten Begünstigten die größtmöglichen Vorteile bringen“ und „mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
35
stehen“ (ebd., S. 336). Dies bedeutet, dass eine Umverteilung von Ressourcen diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die nicht aus eigenem Verschulden benachteiligt sind, bei der Wahrnehmung ihrer Gleichheitsrechte unterstützen soll. Für schulische Bildung heißt dies, dass sie dem Gebot der Leistungsgerechtigkeit folgen soll und Schüler nicht wegen bestimmter Merkmale wie der sozialen Herkunft oder des Geschlechtes benachteiligen darf. Weiter bedeutet es, dass aus unverschuldeten Gründen Benachteiligte ein Recht auf Kompensation dieser Nachteile haben, ein Gedanke, der Maßnahmen wie einer zusätzlichen Förderung leistungsschwächerer Schüler oder der Idee des Bildungspaketes des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zugrunde liegt. Aus Perspektive dieser Gerechtigkeitstheorie sind derzeit verwendete Indikatoren der Bildungsberichterstattung bereits eine gute Informationsquelle. Sie geben etwa Auskunft über die Verteilung von Bildungsaus gaben, das Bildungsangebot oder die Bildungsbeteiligung. Für Vertreter der Teilhabegerechtigkeit, zuvorderst Amartya Sen, ist das oberste Ziel die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensführung (vgl. Sen 2010). Der Fokus der Gerechtigkeit liegt nicht auf dem Besitz von Gütern, sondern auf Befähigungen (capabilities), die das Individuum in die Lage versetzen, ihre Lebensführung frei zu gestalten (vgl. ebd.). Schulen sehen sich dadurch aufgefordert, diese Befähigungen mit ihren Schülerinnen und Schülern zu entwickeln und einzuüben. Ob Schulen Befähigungen tatsächlich vermittelt haben, darüber geben Bildungsberichte derzeit z. B. über Indikatoren zur Zertifikatsvergabe Auskunft, deren Vergabe mit der Erreichung bestimmter Fähigkeiten verbunden ist. Aus Perspektive der Anerkennung wird Gerechtigkeit nicht ausschließlich durch formale Gleichheit und die Kompensation von Nachteilen durch Umverteilung, aber auch nicht nur durch den Erwerb von Befähigungen zur autonomen gesellschaftlichen Teilhabe verwirklicht, sondern durch die Qualität sozialer Beziehungen (vgl. Honneth 2004b). Ziel ist nicht eine individualistische, sondern eine kommunikative Form von Freiheit. Zentrale Aufgabe des Staates aus Sicht der Anerkennungsgerechtigkeit ist die „gleichmäßige Gewährung von Chancen der Partizipation an konstitutiven Anerkennungsbeziehungen“ (ebd., S. 224). Die Prinzipien, die in den drei Anerkennungsformen Liebe, Recht und Wertschätzung wirken, sind die Bedürfnisgerechtigkeit, die Rechtsgleichheit und die Leistungsgerechtigkeit – sie gemeinsam zielen auf die Gewährung individueller Autonomie und damit auf soziale Gerechtigkeit (vgl. ebd.). Das „individualistische Leistungsprinzip“ ersetzt in modernen Gesellschaften die ständische Statushierarchie als „neues Kriterium der sozialen Wertschätzung“ (Honneth 2003, S. 174). Soziale Wertschätzung bedeutet eine Anerkennung der „besonderen Eigenschaften, durch die Menschen in ihren persönlichen Unterschieden charakterisiert sind“ (Honneth 1992, S. 197). Es geht also um die Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen und deren Wert für die Gesellschaft, wobei der Bezugsrahmen für die Beurteilung dessen, was als wertvoll gilt, prinzipiell deutungsoffen ist (vgl. ebd.). Dass die wechselseitige Anerkennung dieser Fähigkeiten symmetrisch gedacht werden muss, heißt für Honneth, dass „jedes Subjekt ohne kollektive Abstufungen die Chance erhält, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gesellschaft zu erfahren“ (Honneth 1992, S. 210). Hier zeigen sich bereits die Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich einer Übertragung auf das Bildungssystem ergeben, denn in Schulen ist der
36
Bildung an ihren Grenzen
Bezugsrahmen für Werturteile, zumindest formal, an schulische Leistungen gekoppelt. Hier setzt Stojanov (2011) an und begründet Bildungsgerechtigkeit als eigenständige Gerechtigkeitskategorie, da sie mit ihren Besonderheiten nicht unter den Begriff der Gerechtigkeit subsumiert werden könne. Er zählt sie zu der Klasse der gesellschaftlich besonders umkämpften Begriffe (vgl. Stojanov 2011), da sie sich durch einen streitbaren normativen Gehalt auszeichne. Wichtigstes Differenzmerkmal zum Oberbegriff Gerechtigkeit sei der Umstand, dass die Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen bei Heranwachsenden nicht vorausgesetzt werden kann, im Gegenteil, sie durch Schulbildung erst ermöglicht werden soll. Daher könne mit Ansätzen der Verteilungsgerechtigkeit Bildungsgerechtigkeit nicht vollständig rekonstruiert werden (vgl. ebd.). Stojanov arbeitet aus Perspektive der Anerkennungsgerechtigkeit heraus, was Bildungsgerechtigkeit auszeichnet: Schulische Interaktionsformen und damit verbundene Anerkennungserfahrungen der Empathie, des Respektes und der Wertschätzung stellen die Ressourcen dar, die Heranwachsende benötigen, um Herkunfts- und Sozialisationslimitierungen überschreiten zu können (vgl. ebd.). Damit wendet sich Stojanov gegen eine einseitige Gleichsetzung von Bildungsgerechtigkeit mit Begabungsgerechtigkeit oder Leistungsgerechtigkeit. Hier liegt das Dilemma der Bildungsgerechtigkeit aus Sicht der Anerkennung: Wenn man sie konsequent zu Ende denkt, laufen ihr die Funktionen der Schule (vgl. Fend 1980), insbesondere die Selektions- und Alloka tionsfunktion, zuwider, denn mittels dieser Funktionen erkennen Schulen eben nicht die ganze Person des Schülers mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten an, sondern nur diese, die für Schulleistungen relevant sind. Helsper u. a. zeigen beispielhaft, dass sich institutionelle Missachtung auch auf die anderen Anerkennungsmodi auswirkt und zu einer Selbstabwertung der ganzen Person führen kann (Helsper u. a. 2005). In diesem Sinne beurteilt Stojanov die frühe Selektion im deutschen Schulsystem als ungerecht (vgl. Stojanov 2006). Kinder würden zudem durch diese Selektion auf eine bestimmte ,Begabung‘ festgelegt, womit zugleich ihr Potential zur Entwicklung neuer Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften missachtet wird (vgl. ebd.). Schließlich lässt sich mit Lothar Wigger (2011) konstatieren, dass Bildungsgerechtigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, wobei der Fokus auf jeweils einem Gerechtigkeitsprinzip liegt, das als gerechtigkeitsverbürgend herausgestellt wird. Wigger ordnet den gerechtigkeitstheoretischen Perspektiven Funktionen des Bildungssystems zu, die in diesen besondere Beachtung finden: die Leistung des Bildungssystems für die arbeitsteilige Wirtschaft, die Leistung für das Leben in der Demokratie sowie für die individuelle Autonomie und Identität (vgl. Wigger 2011). Verteilungsgerechtigkeit ist danach eng verbunden mit der Selektions- und Allokationsfunktion der Schule, die Teil habegerechtigkeit hebt auf die Qualifikations-, Sozialisations- und Integrationsfunktion ab, während die Anerkennungsgerechtigkeit mit der Personalisationsfunktion in Verbindung steht (vgl. ebd.), welche die Förderung des Einzelnen um seiner selbst willen und damit die Ermöglichung einer individuellen Bildung fokussiert. Für eine gerechtigkeitstheoretische Betrachtung des Schulsystems sind alle drei Perspektiven relevant und nicht voneinander trennbar, da Bildungsgerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen entsteht bzw. verhindert wird: auf Ebene der Institutionen über eine gerechte Ressourcenverteilung, auf
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
37
Ebene des Individuums über die tatsächliche Vermittlung von Fähigkeiten, die ein gutes Leben ermöglichen und die Sozialbeziehungen, die zur Autonomie befähigen (vgl. Berkemeyer / M anitius 2013). Die derzeitige Bildungsberichterstattung spiegelt mit ihren Indikatoren zum größten Teil Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, da eingesetzte Ressourcen und erhaltene Outcomes in der Regel statistisch erfasst werden und damit zur Verfügung stehen. Daher kann es als aktuelle Herausforderung für die Bildungsberichterstattung gelten, Indikatoren zu entwickeln, mit deren Hilfe Prozesse auch der Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit nachgezeichnet werden können, um den Status der Gerechtigkeit im Schulsystem adäquater abbilden zu können. Anerkennung in der empirischen Bildungsforschung
Im Unterschied zur Indikatorenforschung für die Bildungsberichterstattung, die sich bislang nicht explizit mit der Entwicklung anerkennungstheoretisch begründeter Indikatoren beschäftigt hat, setzt sich die empirische Bildungsforschung inzwischen zunehmend mit Anerkennungsfragen im Bildungsbereich auseinander. Die aktuell regen Forschungsaktivitäten zu Anerkennung spiegeln das Interesse wider, das dieser Kategorie vonseiten der Bildungs- und Sozialwissenschaften entgegengebracht wird. Gleich mehrere Forschungsprojekte6 untersuchen derzeit die Prozesse der Anerkennung, viele explizit im schulischen Kontext, da schulische Anerkennungsräume als bedeutsam für die Selbstentwicklung gelten. Diese Projekte versprechen zukünftig empirisch fundierte Aussagen zur Relevanz von Anerkennung im Bildungsgeschehen. Bisherige Forschungsarbeiten sind vor allem qualitativer Natur, die bereits erste Hinweise hierzu geben (z. B. Kaletta 2008; Wischmann 2010; Sandring 2013) und zudem Varianten der Operationalisierung der Anerkennungstheorie für die Betrachtung von Bildungsprozessen aufbieten (vgl. auch Helsper u. a 2005; Ricken 2013). Exemplarisch wird anhand der bisherigen Studien die Rolle deutlich, die Schulen für die Anerkennungsbiografie spielen. Schule offeriert offenbar wichtige Ermög lichungsräume für Anerkennung, kann aber auch zu ihrer Vorenthaltung oder zu Missachtungserfahrungen beitragen. Diese Befunde unterstreichen die Wichtigkeit von Anerkennungserfahrungen insbesondere im schulischen Kontext für die Ermöglichung einer autonomen Teilhabe an der Gesellschaft.
5.
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
Wenn Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung berücksichtigt werden soll, wie wir es in diesem Beitrag vorhaben, kann das gemäß der Intention der nationalen Bildungsberichterstattung, „Grundwissen über Bildung in Deutschland“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 1) zu liefern, nur auf Basis von Indikatoren beschreibend geschehen. Anerkennung kann hierbei zunächst verstanden werden als Praxis der sozialen Wertschätzung, die, im Anschluss an Honneth, positive Eigenschaften von
38
Bildung an ihren Grenzen
Subjekten affirmiert (vgl. Honneth 2004a). Stojanov stellt daran anknüpfend heraus, dass Anerkennung nur dann wirklich Anerkennung sei, „wenn der / die Andere um seiner / ihrer selbst willen in seiner / ihrer Subjektivität anerkannt wird“ (Stojanov 2013, S. 66, Hervorheb. im Orig.), also Anerkennung nicht zu einem bestimmten Zweck gewährt wird. Anerkennungserfahrungen der Empathie, des Respektes und der Wertschätzung Heranwachsender in schulischen Interaktionserfahrungen tragen schließlich dazu bei, Herkunfts- und Sozialisationslimitierungen zu überschreiten (vgl. Stojanov 2011). Dazu stellen Schulen unterschiedliche Ermöglichungsräume für Anerkennungserfahrung bereit. Betrachtet werden soll, ob die Bildungsberichterstattung Auskunft über Anerkennungsprozesse im oben benannten Sinne geben kann. Dabei sind zunächst unabhängig von Datenverfügbarkeit oder verwendungsforschungsorientierten Zielsetzungen von Bildungsberichterstattung vor allem inhaltliche Prämissen leitend: Schule und die in ihr stattfindenden Bildungsprozesse werden vor dem Hintergrund anerkennungstheoretischer Überlegungen aufgefasst. Damit wird Schule zum Anerkennungsraum, der dazu beiträgt, dass Kinder und Jugendliche über dort gemachte Anerkennungserfahrungen (erlebt in den sozialen Interaktionen mit Lehrkräften, Peers etc.) zu Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Selbstvertrauen und selbstbestimmten Befähigungen für eine gelingende Teilhabe an Gesellschaft gelangen. Eine solche Perspektive rückt zum einen die Notwendigkeit in den Vordergrund, zu identifizieren, was relevante Anerkennungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen sind und fokussiert zum anderen das Inter aktionsgeschehen in Schule selbst, also die Frage danach, inwiefern die soziale Praxis in Schule Wertschätzung beinhaltet, Fürsorge aufbietet und nicht nur formal Chancengleichheit zusichert, sondern auch umsetzt. Diese Sicht auf Schule wird gestützt durch das herangezogene Anerkennungsverständnis (vgl. ebd.), wonach der Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen nicht allein zweckorientiert im Hinblick auf die Aktivierung von Lerntätigkeit etwa mit dem Ziel des Abschlusserwerbs aufzufassen ist, sondern auch als die Begegnung von Menschen, die sich in Interaktionsverhältnisse begeben und darin „um ihrer selbst willen“ Anerkennung bedürfen. Dies wird auch vor dem Hintergrund des schulpflichtbedingten, nicht freiwillige Schulbesuchs von Kindern relevant, wonach eben nicht unterstellt werden kann, dass eine sachlich zweckorientierte Haltung zur Schule bei allen Beteiligten vorliegt. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen ist die Kontextdimension dahingehend für die Bildungsberichterstattung zu berücksichtigen, inwiefern sie Auskunft über spezifische Anerkennungsbedarfe von Schülerinnen und Schülern gibt, inwiefern der Kontext von Schule verschiedene Anerkennungsräume ermöglicht und wie Schule sich zu diesen verhält. Neben üblichen Kontextmerkmalen in Bildungsberichten wie soziale, wirtschaftliche und demografische Lage und der Einbeziehung von schülerbezogenen Kontextvariablen wie z. B. ethnische und soziale Herkunft, gilt es weitere Indikatoren zu berücksichtigen, die Auskunft über spezifische Anerkennungsbedarfe geben. Hierunter können zum Beispiel Gesundheitsmerkmale (etwa die Krankmeldungsstatistik einer Schule) fallen oder die Analyse der an Schule stattfindenden systematischen Elternarbeit (Quantifizierung von entsprechenden Schulentwicklungsprogrammen / -projekten, Einbeziehung von Analysen zu
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
39
deren Qualität). Gerade Letzteres verspricht aus der Anerkennungsperspektive besonderes Potential, da durch Elternarbeit das Interaktionsgeschehen in Schule um die Perspektive einer relevanten Akteursgruppe erweitert werden kann; Strukturen für die Identifikation spezifischer Anerkennungsbedarfe geschaffen werden und potentiellen Anerkennungskonflikten in Familie und Schule vorgebeugt werden kann. Im Hinblick auf das Verhältnis von Schule zu anderen Anerkennungsräumen im Kontextbereich werden auch Informationen relevant, die Auskunft darüber geben, wie es um die Vernetzung im lokalen Raum von Schule bestellt ist (Quantifizierung und Einbeziehung von Analysen der Kooperationsprojekte von Schulen, z. B. Zusammenarbeit mit Vereinen). Der Einbezug außerschulischer Ressourcen und die Schaffung entsprechender kooperativer Strukturen durch Schule sind politisch durchaus anvisiert (vgl. entsprechende Hinweise in diversen Schulgesetzen zur Öffnung von Schule nach außen) und z. B. strukturell im Ganztagsschulprogramm vorgesehen. Anerkennungstheoretisch wird die Vernetzung von Schule zu anderen Anerkennungsräumen besonders bedeutsam, da Schule so ggf. relevante außerschulische Angebote auch zu kommunizieren vermag. Bildungsberichterstattung müsste demzufolge stärker die Vernetzungsaktivitäten von Schule dokumentieren und hier auch systematisch unterscheiden zwischen den Ganztags- und Halbtagsschulen. Mit der Inputdimension wird aus Sicht der Anerkennungstheorie relevant, inwiefern Möglichkeiten zur Anerkennungserfahrung geschaffen werden und spezifischen Bedarfen begegnet werden. Abgesehen von strukturellen Angeboten wie etwa der Ganztagsschule, die mit ihren zum Unterricht zusätzlichen Angeboten noch einmal stärker auf das soziale Miteinander von Schülerinnen und Schüler abhebt, werden für eine Indikatorisierung in Bildungsberichten zum Beispiel die systematische Erschließung von Förderprogrammen7 bedeutsam. Neben einer reinen Quantifizierung eingesetzter Förderprogramme müssten diese weitergehend ins Verhältnis zu den Bedarfslagen gesetzt werden, z. B. Sprachförderprogramme in Relation zu vorgefundenen Fällen förderbedürftiger Kinder in den Sprachstandsfeststellungen (vgl. Grgic / Eckhardt 2011), oder Programme zur Unterstützung der inklusiven Beschulung vor dem Hintergrund des Stands der jeweiligen inklusiven Beschulung beispielsweise im Bundesland oder der betrachteten Kommune. In Bildungsberichterstattung übliche Indikatiorenbereiche des Inputs wie finanzielle und personelle Ressourcen müssen generell vorsichtig behandelt werden, da beispielsweise ein finanzielles „Mehr“ nicht gleichbedeutend mit einem „mehr“ an Qualität einhergeht (Barz 2010). Dennoch wird in der Anerkennungsperspektive für Bildungsberichterstattung relevant, etwa Finanzierungsbeihilfen für die Ausübung von Vereinsaktivitäten im Rahmen des Ganztagsschulbesuchs systematisch zu erschließen oder abzubilden, inwiefern Investitionen in die Fortbildung von Lehrkräften etwa mit dem Ziel die Diagnosefähigkeit zu verbessern, getätigt werden (vgl. auch Hermstein u. a. 2013). Hinsichtlich der Prozessdimension wird aus anerkennungstheoretischer Sicht besonders bedeutsam, das Interaktionsgeschehen auf der Mikroebene und die qualitative Ausge staltung von Beziehungen zu betrachten. Zu berücksichtigen wären demnach für Bildungsberichterstattung Forschungen zu Lehr-Lernprozessen und zur Unterrichtsqualität. Von Interesse aus der Anerkennungsperspektive wäre etwa die Analyse von Feedbackkulturen,
40
Bildung an ihren Grenzen
konkret inwiefern Schülerrückmeldungen eingebunden (verstanden als eine Möglichkeit der Artikulation von Anerkennungsbedarfen) werden oder in welcher Weise mit Schülerfehlern umgegangen wird. Auch klimabezogene Faktoren wie Umgangston oder das Bemühen um angstfreie Lernatmosphäre zielen auf Anerkennungsaspekte ab. Inwiefern z. B. standardisierte Schulinspektionsdaten hier in aggregierter Form auch auf höheren Ebenen als der Einzelschulen berücksichtigt oder z. B. Kulturvariabeln in die Erhebung der Hintergrundvariablen von Lernstandsmessungen eingespeist werden können, ist bezogen auf die Umsetzung offen, aber theoretisch durchaus vorstellbar. Berücksichtigt Bildungsbericht erstattung stärker auch Programmanalysen, so wären Indikatoren wie die notenergänzende Implementierung anderer Beurteilungsinstrumente in Schule als Indikator vorstellbar, da unterstellt werden kann, dass Verbalzeugnisse, Portfolios oder z. B. Lerntagebücher mehr Potential zum Erfahren von Anerkennung aufweisen als die klassische Notengebung. Anerkennung wird besonders auf Ebene der sozialen Beziehungen erlebt, dennoch spielt die Ebene der Institution bei der Schaffung von Strukturen, die Anerkennungserfahrungen für die Akteure begünstigen, eine Rolle. Beschränkt man die Anerkennungsperspektive daher nicht allein auf die Schüler-Lehrer- und Schüler-Schüler-Beziehung, so sind beispielsweise Indikatoren bedeutsam, die Auskunft zur innerschulischen Kooperationspraxis oder Gesundheitszuständen von Lehrkräften (Krankmeldungen) geben. Die Outputdimension wird hier für die exemplarische Beschreibung anerkennungsrelevanter Indikatoren der Bildungsberichterstattung vernachlässigt. In unserer theoretischen Perspektive wäre innerhalb dieser Dimension besonders die Berücksichtigung deklarierter Bildungsziele bedeutsam, also etwa die Absolventen und Abgänger von Schule dahingehend zu betrachten, inwiefern sie befähigt sind, an der Gesellschaft gelingend teilzuhaben, inwiefern sie individuelle Regulationsfähigkeit aufweisen, inwiefern sie zu Selbstbewusstsein gelangt sind und inwieweit sie Chancengleichheit in und durch Schule erfahren haben. Hierüber geben die in der Bildungsberichterstattung in der Regel betrachteten Zertifikatsund Kompetenzerwerbindikatoren nur begrenzt Auskunft. Sicherlich in der Anerkennungsperspektive auch von Interesse wären zum Beispiel Erkenntnisse über Wertorientierungen der Schülerinnen und Schüler oder etwa Toleranzeinstellungen und -verhalten. Generell stellen Output-Indikatoren jedoch hier insofern eine Herausforderung dar, als der jeweilig betrachtete Output nicht unmittelbar nur alleinig auf Schule zurückführbar ist, es sich also nicht explizit um Schul-Output handelt. Anerkennungserfahrungen, die sich beispielsweise günstig auf das Selbstkonzept auswirken, werden zudem nicht ausschließlich in Schule erlebt, sondern besonders auch in anderen Lebensbereichen wie Familie, Peers, etc. Auch in den anderen betrachteten Dimensionen spielen Anerkennungserfahrungen aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen eine Rolle, allerdings ist hier vielmehr die Frage leitend, wie sich Schule hierzu verhält; demgegenüber fragt die Outputdimension stärker nach den Resultaten von Schule.
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
6.
41
Fazit und Ausblick
Die durchgeführte Diskussion potentieller Indikatoren für eine anerkennungsakzentuierte Bildungsberichterstattung versteht sich als ein exemplarischer Versuch, Indikatoren für die Berichterstattung stärker theoriegeleitet zu entwickeln und für die Aufnahme in Bildungsberichten entsprechend theoretisch zu begründen. Dabei verbleiben die entlang der klassischen Bildungsberichts-Heuristik Kontext-Input-Prozess-Output beispielhaft genannten Indika toren an dieser Stelle vorwiegend als singuläre Nennung, ohne dass sie z. B. aufeinander be zogen werden oder aber berücksichtigt worden wäre, inwiefern diese Indikatoren gängigen Anforderungen der Bildungsberichterstattung genügen (z. B. Fortschreibbarkeit, Ermög lichung von Vergleichbarkeit, vgl. Döbert 2009). Ebenso haben wir überwiegend außer Acht gelassen, inwiefern eine tatsächliche Abbildung möglich wäre, also ob Datenquellen zur Verfügung stehen, auf welchen Ebenen im System Daten erzeugbar wären und inwieweit vergleichende Perspektiven eingenommen werden können. Aktuell erscheint es vor allem für die kommunale Bildungsberichterstattung vielversprechend, dass sie aufgrund ihrer größeren Nähe zum Gegenstand auch imstande ist, andere Datenquellen zu erschließen (vgl. Manitius 2013). Angesichts des umfassenden Monitoringanspruchs der nationalen und länder bezogenen Bildungsberichterstattung könnte das Potential für weitere vertiefte theoretische Diskussionen, die zur Weiterentwicklung von Indikatorensets führen, vermutlich besonders der problemzentrierten Bildungsberichterstattung zugesprochen werden. Gerade die Erschließung neuer Datenquellen bleibt an dieser Stelle eine zentrale Herausforderung für die Weiterentwicklung der Bildungsberichterstattung, wofür es auch bildungspolitischer Bemühungen bedarf, um beispielsweise die Zugänglichkeit zum Feld zu ermöglichen. In diesem Kontext ist auch die Frage der Steuerungsrelevanz bedeutsam, also inwiefern überhaupt politisch-administratives Interesse darin besteht, Auskunft über solche Indikatoren zu erhalten und auch in Form der Berichte öffentlich zu geben. Ver ankert man jedoch ein solches, stark gerechtigkeitstheoretisch konnotiertes Bildungsverständnis in Bildungsberichterstattung, wie es etwa im Nationalen Bildungsbericht der Fall ist, dann plädieren wir in unserer Argumentation für eine theoretisch konsequente Berücksichtigung desselben, die folglich dazu führen muss, die „üblichen“ Indikatorensets zu erweitern. Hierfür enthält die Anerkennungstheorie wichtige Hinweise.
Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indi katorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. Bielefeld: Bertelsmann. Baethge, M. / Döbert, H. / Füssel, H.-P. / Hetmeier, H.-W. / R auschenbach, T. / Rockmann, U. Seeber, S. / Weishaupt, H. / Wolter, A. / Zimmer, K. (Hrsg.) (2011): Vertiefende Studien zu ausgewählten Aspekten der Indikatorenentwicklung für den nationalen Bildungsbericht. (Bundes ministerium für Bildung und Forschung. Bildungsforschung. Bd. 35) Bonn, Berlin. Balzer, N. / R icken, N. (2010): Anerkennung als pädagogisches Problem – Markierungen im er
42
Bildung an ihren Grenzen
ziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Schäfer, A. / Thompson C. (Hrsg.): Anerkennung. Paderborn: Schöningh, S. 35–85. Barz, H. (2010): Bildungsfinanzierung: Aktualität, Grundlagen, Unschärfen. In: Barz, H. (Hrsg.): Handbuch Bildungsfinanzierung. Wiesbaden: VS Verlag S. 15–27. Berkemeyer, N. / M anitius, V. (2013): Gerechtigkeit als Kategorie in der Analyse von Schulsystemen – das Beispiel Chancenspiegel. In: Schwippert, K. / Bonsen, M. / Berkemeyer, N.(Hrsg.): Schul- und Bildungsforschung. Diskussionen, Befunde und Perspektiven. Münster u. a.: Waxmann, S. 223–240. Berkemeyer, N. / Bos, W. / M anitius, V. / Hermstein, B. / K halatbari, J. (2013): Chancenspiegel 2013. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme mit einer Vertiefung zum schulischen Ganztag. Bertelsmann Stiftung, Institut für Schulentwicklungsforschung, Institut für Erziehungswissenschaft. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Bos, W. / Tarelli, I. / Bremerich-Vos, A. / Schwippert, K. (Hrsg.) (2011): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. Döbert, H. (2009): Indikatorenentwicklung im Rahmen der Bildungsberichterstattung in Deutschland. In: Baethge M. / Döbert, H. / Füssel H.-P. / Hetmeier H.-W. / R auschenbach, T. / Rockmann, U. / Seeber, S. / Weishaupt H. / Wolter, A. (Hrsg.): Indikatorenentwicklung für den nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“. Grundlagen, Ergebnisse, Perspektiven. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin, Bonn. Döbert H. / K lieme, E. (2010): Indikatorengestützte Bildungsberichterstattung. In: Tippelt, R. / Schmidt B. (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 317–336. Fend, H. (2980): Theorie der Schule. München / Wien / Baltimore: Urban und Schwarzenberg. Grgic, M. / Eckhardt, A. G. (2011): Landesweite Sprachstandserhebung und Sprachförderung vor der Einschulung – Kann Vielfalt vergleichbar gemacht werden? In: Baethge, M. / Döbert, H. / Füssel, H.-P. / Hetmeier, H.-W. / R auschenbach, T. / Rockmann, U. / Seeber, S. / Weishaupt, H. / Wolter, A. / Zimmer, K. (Hrsg.): Vertiefende Studien zu ausgewählten Aspekten der Indikatorenentwicklung für den nationalen Bildungsbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn / Berlin, S. 159–185. Hafeneger, B. / Henkenborg, P. / Scherr, A. (Hrsg.) (2002): Pädagogik der Anerkennung. Grund lagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach / Ts: Wochenschau (Bd. 27). Helsper, W. / Sandring, S. / Wiezorek, C. (2005): Anerkennung in pädagogischen Beziehungen – Ein Problemaufriss. In: Heitmeyer, W. / Imbusch, P. (Hrsg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 179–206. Hermstein, B. / M anitius, V. / Berkemeyer, N. / Bos, W. (2013): Bildungsfinanzierung und Gerechtigkeit in Schulsystemen. Indikatorendiskussion zu einer gerechtigkeitsfokussierten Bildungsberichterstattung. Vortrag im Symposium Bildungsfinanzierung und Gerechtigkeit, gemeinsame Tagung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF) und der Kommission Bildungsorganisation, Bildungsplanung, Bildungsrecht (KBBB) an der TU Dortmund auf der 78. Tagung der „Arbeitsgruppe Empirische Pädagogische Forschung (AEPF)“ 25.–27. 09. 2013 in Dortmund. Honneth, A. (2011). Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Frankfurt: Suhrkamp. Honneth, A. (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Berlin: Suhrkamp. Honneth, A. (2004a): Anerkennung als Ideologie. In: Beaufaÿs, S. (Hrsg.): Gewaltverhältnisse. Politik der Traumatisierung. Anerkennung als Ideologie. zur gesellschaftlichen Lage der Fotografie. Frankfurt am Main / Basel: Stroemfeld (WestEnd Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1,1), S. 51–70. Honneth, A. (2004b): Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung
43
Hegel. In: Merker, B. / Mohr, G. / Quante, M. / Siep, L. (Hrsg.): Subjektivität und Anerkennung. Paderborn: Mentis, S. 213–227. Honneth, A. (2003): Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser. In: Fraser, N. / Honneth, A. (Hrsg.): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt: Suhrkamp, S. 129–224. Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Institut der deutschen Wirtschaft (2013): Bildungsmonitor 2013. Bildungsarmut reduzieren – Fachkräfte entwickeln – Wachstumskräfte stärken. Studie im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Kaletta, B. (2008): Anerkennung oder Abwertung. Über die Verarbeitung sozialer Desintegration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft. Kant, I. (1977): Werkausgabe. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 55–57; S. 186–193; S. 192–193. KMK (2010): Förderstrategie für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04. 03. 2010. Online verfügbar unter http: / / w ww.kmk.org / f ileadmin / veroeffentlichungen_beschluesse / 2010 / 2010_03_04-Foerderstrategie-Leistungsschwaechere. pdf. KMK (2006): Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz zum Bildungsmonitoring. Hg. v. Sekretäriat der Kultusminister der Länder. Online verfügbar unter http: / / w ww.kmk.org / f ileadmin / veroeffentlichungen_beschluesse / 2006 / 2006_08_01-Gesamtstrategie-Bildungsmonitoring.pdf. Manitius, V. (2013). Regionalisierung und Gerechtigkeit? Eine Betrachtung auf Chancen und Risiken entlang theoretischer und empirischer Hinweise. Technische Universität Dortmund. Download am 08. 01. 2014 von http: / / hdl.handle.net / 2003 / 31154. Prengel, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich (Bd. 2). Rawls, J. (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ricken, N. (2013): Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse. In: Alkemeyer, T. / Budde, G. / Freist, D. (Hrsg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: Transcript (Bd. 1), S. 69–99. Ricken, N. (2009): Über Anerkennung-Spuren einer anderen Subjektivität. In: Ricken, N. / Röhr, H. / Schaller, K. (Hrsg.): Umlernen. Festschrift für Käthe Meyer-Drawe. Paderborn: Fink, S. 75–92. Ricken, N. (2006): Erziehung und Anerkennung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82 (2), S. 215–230. Rosa, H. (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp. Rürup, M. / Fuchs, H.-W. / Weishaupt, H. (2010): Bildungsberichterstattung – Bildungsmonitoring. In Altrichter, H. / M aag Merki, K. (2010): Steuerung und Entwicklung des Schulwesens. In: Altrichter, K. / M aag Merki, K. (Hrsg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem. Wies baden: VS Verlag. S. 377–401. Sandring, S. (2013): Schulversagen und Anerkennung. Scheiternde Schulkarrieren im Spiegel der Anerkennungsbedürfnisse Jugendlicher. Dordrecht: Springer. Scherr, A. (2002): Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe. In: Hafeneger, B. / Henkenborg, P. / Scherr, A. (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach / Ts: Wochenschau (Bd. 27), S. 26–44.
44
Bildung an ihren Grenzen
Sen, A. K . (2010): Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck. Stojanov, K. (2013): Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungsgerechtigkeit. In: ietrich, F. / Heinrich, M. / Thieme, N. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit. Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ,PISA‘. Wiesbaden: Springer VS, S. 57–69. Stojanov, K. (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wies baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Stojanov, K. (2008): Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung? Kritische Anmerkungen zum Gebrauch der Gerechtigkeitskategorie in der empirischen Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (4), S. 516–532. Stojanov, K. (2006): Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Tippelt, R. (Hrsg.) (2009a): Steuerung durch Indikatoren. Methodologische und theoretische Re flexionen zur deutschen und internationalen Bildungsberichterstattung. Opladen: Budrich. Tippelt, R. (2009b): Steuerung durch Indikatoren!? – Methodologische und theoretische Reflexionen zur deutschen und internationalen Bildungsberichterstattung – Einleitung zur Tagung. In: Ders. (Hrsg.): Steuerung durch Indikatoren. Methodologische und theoretische Reflexionen zur deutschen und internationalen Bildungsberichterstattung. Opladen: Budrich, S. 7–16. Weishaupt, H. / Zimmer, K. (2013). Indikatoren kultureller Bildung. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (16) 3, S. 159–179. Weishaupt, H. (2012): Bildungsmonitoring und systembezogene Bildungsforschung. Vortrag auf der 77. Tagung der AEPF am 10. September 2012 in der Universität Bielefeld. Weishaupt, H. & Zimmer, K. (2011): Perspektiven der Indikatorenforschung für die Bildungsberichterstattung 2012 bis 2016. In: Baethge, M. / Döbert, H. / Füssel, H.-P. / Hetmeier, H.-W. / Rauschenbach, T. / Rockmann, U. / Seeber, S. / Weishaupt, H. / Wolter, A. / Zimmer, K. (Hrsg.) (2011): Vertiefende Studien zu ausgewählten Aspekten der Indikatorenentwicklung für den natio nalen Bildungsbericht. Bonn / Berlin, S. 339–346. Wigger, L. (2011): Was heißt Bildungsgerechtigkeit? In: Meyer, T. / Vorholt, U. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit als politische Aufgabe. [S. l.]: Projekt Verlag (9), S. 21–39. Winkler, M. (1998): Anerkennung des Lebens – Denken des Anderen. In: Heitger, M. / Böhm, W. / Wenger, A. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft oder Pädagogik? Festschrift für Marian Heitger. Würzburg: Ergon (Bd. 14), S. 145–164. Wischmann, A. (2010): Adoleszenz – Bildung – Anerkennung. Adoleszente Bildungsprozesse im Kontext sozialer Benachteiligung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bildung als Fähigkeit zur Distanz von Andreas Dörpinghaus
1.
Bildung: Begriff und Erfahrung Bildung als Fähigkeit zur Distanz
Die Geschichte des Bildungsbegriffs ist reich und weist mit unterschiedlichen Facetten bis in die Antike. Eine Erörterung des metaphorischen Gehalts von Bildung ist unverzichtbar, um ein Verständnis für die komplexen Traditionslinien und Bedeutungsschichten zu erlangen (vgl. Meyer-Drawe 1999). Daneben verbleibt allerdings die Frage nach dem begriff lichen Gehalt von Bildung, nach dem Verhältnis von begrifflichen Fähigkeiten und der Möglichkeit von Erfahrung. Begriffliche Fähigkeiten gehören zum Kern, zum Gehalt von Bildung. Sie wurzeln in konkreten Lebenspraxen und sind nicht von dieser Verwendung und ihrer Ausformung im Kontext der Erfahrung zu trennen.1 Es sind die Fähigkeiten, der Welt reflexiv und rational, das heißt, mit Überzeugungen und Gründen zu begegnen. Erst durch sie besitzt der Mensch eine grundsätzliche Empfänglichkeit für Fragen nach Sinn und Bedeutung (vgl. hierzu McDowell 2012, S. 102)2 sowie eine Sensorik für das Mögliche (Noumenale) und nicht nur Faktische (Empirische). Diese gleichsam aktive Empfänglichkeit für das Begriffliche gehört nach Immanuel Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen.3 Es gibt gute Gründe, die Bildungstradition mit Brüchen zu versehen, die vermeintliche Kontinuitäten der großen Erzählung aussetzen. Ein solcher bis heute folgenreicher Bruch findet durch die explizite Konzeption von Bildung statt, also durch die Beschreibung von Erfahrungsprozessen durch den Begriff Bildung. Der Bildungsgedanke wendet sich von metaphysischen Tendenzen ab und gründet sich auf eine kritische Philosophie der Erfahrung in der Nachfolge Kants. Bildung markiert das reflexive Moment der Erfahrung, durch das die Erfahrung selbst zum Tribunal des Denkens werden kann (vgl. Quine 1979, S. 45; hierzu auch McDowell 2012, bes. S. 12 f f.). Als eine begriffliche Fähigkeit ist sie immer schon Teil der Erfahrung und bliebe ohne Anbindung an sie schlichtweg unverständlich. Wilhelm von Humboldt bezieht daher folgerichtig in seinem Fragment zur Theorie der Bildung des Menschen die für die Erfahrung konstitutive Wechselwirkung von Spontaneität (Selbsttätigkeit) und Rezeptivität (Empfänglichkeit) auf den Bildungsbegriff (vgl. Humboldt 2002a; vgl. hierzu auch Dörpinghaus / Poenitsch / Wigger 2013a). Begriffliche Fähigkeiten der Spontaneität entstehen nur in der Wechselwirkung mit der Welt, und genau diese Wechselwirkung verbindet Humboldt mit dem Prozess von Bildung. Zugleich betont Humboldt ebenfalls, dass die Wurzeln dieses Prozesses in den natürlichen Kräften des Menschen zu finden
46
Bildung an ihren Grenzen
sind. Begriffe sind also Ausdruck einer natürlichen sprachlichen Fähigkeit oder Kraft, die von der sinnlich-vernünftigen Existenz des Menschen nicht trennbar ist. Bildung kann daher für Humboldt nicht etwas sein, was neben der Erfahrung, neben der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, aus einem unbekannten Reich zur Erfahrung hinzukäme. Vielmehr muss sich das Verständnis von Bildung aus der Erfahrung selbst herleiten, und zwar aus dem Verhältnis ihrer Rezeptivität und Spontaneität. Es kann keinen sinn vollen Begriff von Bildung geben, der nicht gleichzeitig anzugeben wüsste, wie er auf die Erfahrung anzuwenden wäre (vgl. Strawson 1992, S. 13). Wiederum kann es keinen sinnvollen Gebrauch des Erfahrungsbegriffs geben, wenn nicht die Art der begrifflichen Fähigkeiten, die ihm den Status eines Reflexionsurteils zuschreiben und die Bildung des Menschen ausmachen, beschrieben werden können. Durch die Bindung an die Erfahrung kann Bildung selbst nicht Teil eines empirisch-nomologischen Bereiches sein. Die Erfahrung, das macht sie aus, gehört in einen reflexiven Raum des Sinns und der Bedeutung, der nicht mit dem Empirisch-Nomologischen kompatibel ist. Doch verweist gerade die Erfahrung auf den empirischen Gehalt von Bildung. Mit anderen Worten: Der Raum des Sinns, der in der Kantischen Tradition als Raum des Intelligiblen, Noumenalen und Begrifflichen verstanden wird, ist keineswegs ein Gegenentwurf zum Empirischen, wie es auf den ersten Blick und verkürzt den Anschein haben könnte. Vielmehr wird durch ihn eine spezifische Form des Empirischen im Noumenalen, im reflexiven Raum von Sinn und Bedeutung durch die Erfahrung ausgewiesen. Ohne Erfahrung durchzöge den Bildungsbegriff eine gänzlich unplausible Dualität von Intelligiblem und Empirischem, von Begrifflichem und Sinnlichem: In einer Trennung des Sinnlichen vom Intelligiblen, bei gleichzeitiger Reduktion des Sinnlichen auf den Raum eines Empirischen, der nur noch nach naturwissenschaftlichen Gesetzen formiert denkbar wird, bleibt das Intelligible zwangs läufig auf sich allein gestellt, es hätte keine lebensweltlich-sinnliche Anbindung. Zugleich gehörte aber auch die Sinnlichkeit im Raum des Empirischen nur noch zu einem nomologischen Reich des Reizes und der Reaktion, das dann wiederum keinerlei Bedeutung mehr für die Reflexivität des Denkens und den Bildungsprozess hätte (vgl. hierzu auch im Anschluss an McDowell / Honneth 2003, S. 112). Ein Ort von Bildung, der sich außerhalb der Erfahrung befände, ist nicht begründbar, weder als Ort reiner Reflexion oder Subjektivität noch als einer der reinen Rezeptivität oder Weltgegebenheit. Als begriffliche Wesen leben Menschen in einer Welt des Sinns und der Bedeutung, die sich von einer nomologischen Welt unterscheidet, in der Menschen schlichtweg nicht leben. Bildung ist eine natürliche Fähigkeit des Menschen, sie ist eine begriffliche Leistung, die in der Erfahrung wirksam ist. Ihr Ort ist der Raum von Sinn und Bedeutung, für den sie als eine begriffliche Fähigkeit empfänglich ist.
2.
Begriffliche Fähigkeiten: perceptio per distans
Eine Theorie der Erfahrung versucht seit Immanuel Kant das Problem in den Blick zu bekommen, wie sich unsere Begriffe zur Weltbezogenheit unseres Denkens, zu unserem Zur-Welt-sein verhalten.4 Der Erfahrung ist im Zuge eines „Mythos des Gegebenen“ (vgl.
Bildung als Fähigkeit zur Distanz
47
Sellars 1956) kein Eigenrecht einer Welt an sich zuzusprechen, dem das Denken nachträglich reflexiv zu begegnen hätte. Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zur Welt in der Erfahrung. Für Kant ist die Erfahrung durch Reflexivität gekennzeichnet und nur in der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, von Begriff und Anschauung möglich. Daher unterscheidet er Wahrnehmungsurteile von Erfahrungsurteilen, denen reflexive Verstehensprozesse der Wahrnehmung innewohnen.5 Aus der Perspektive der Erfahrung ist die Trennung einer intelligiblen Welt der Spontaneität und des Begrifflichen von einer empirischen des Sinnlichen und der Rezeptivität nicht sinnvoll.6 Daher rührt Kants berühmte Warnung, dass Begriffe ohne Anschauung leer seien, also über keinerlei Gehalt verfügen. Anschauungen ohne Begriffe wiederum seien blind, dass heißt, sie können sich in keiner Weise verstehend auf die Welt richten. Es gibt also keine Rezeptivität oder Anschauung, die nicht schon begrifflich ist, es gibt keine Begriffe, die nicht immer schon sinnlich sind. Kant spricht den begrifflichen Fähigkeiten ein sinnliches Vermögen zu, wenn er sie als eine Art Sehenkönnen bestimmt, anderenfalls die Anschauung schlichtweg blind wäre.7 Bildung ist eine begriffliche Fähigkeit und Leistung, die wir durch unsere natürliche Empfänglichkeit und Offenheit für die Welt erwerben. Diese begrifflichen Fähigkeiten enthalten die Möglichkeit, die Welt, auf die sich der Mensch richtet, zu verstehen und sich in ihr zu orientieren. 8 Dabei sind sie immer schon sinnlich konstituiert und auf eine konkrete Lebenspraxis einer sozialen Welt bezogen. Doch worin besteht nun die eigentliche Leistung der begrifflichen Fähigkeiten, die der Bildung des Menschen zugeschrieben werden kann? Wie können in der Erfahrung Sponta neität und Rezeptivität untrennbar zusammen gedacht werden? Wie ist ein begriffliches Denken möglich, das stets sinnlich bleibt? Und was macht die Begriffe gewissermaßen „sehend“? Kant schreibt den Begriffen sehr unterschiedliche Funktionen zu. Doch alle diese unterschiedlichen Funktionen können Begriffe übernehmen, weil sie vor allem eines leisten: Sie schaffen Distanz. Kants Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, von der bereits oben die Rede war, hat ihren Grund in dem reflexiven begrifflichen Verstehensprozess der Erfahrung, und zwar als eine Leistung der Distanznahme. Begriffliche Fähigkeiten, als der Gehalt von Bildung, sind also Fähigkeiten der Distanz. Der Mensch tritt in der Erfahrung in Distanz zu dieser Erfahrung, ohne ihre Nähe jemals verlassen zu können. Die Herausbildung und Realisierung dieser begrifflichen Fähigkeit ist der Gehalt von Bildung. Sie ist die Fähigkeit der Distanz, und die begriffliche Leistung besteht in nichts anderem als der Leistung, diese Distanz zu schaffen, um die Dinge verändert zu sehen. Nur ein Wesen, das in die Nähe involviert ist, braucht Distanz zu dieser Nähe. Der Mensch begegnet einer Welt und schafft zugleich Distanz zu ihr. In dieser bildenden Distanz hat allerdings die Spontaneität, das ist die begriffliche Fähigkeit als Vermögen der Distanz, das letzte Wort, anderenfalls verlöre sich der Mensch quasi in der Welt, er machte keine Erfahrung, verbliebe im Status bloßen Erlebens ohne die Reflexivität eines Erkenntnisurteils. Bildung ist somit kein exponierter Zustand etwa eines spezifischen Subjekts, sondern die Möglichkeit, begriffliche Fähigkeiten in ihrer Vielfalt zu entwickeln und zu verwirklichen. Genauer: Die begriffliche Fähigkeit der Spontaneität ist ein Vermögen, das alle menschlichen Potentiale
48
Bildung an ihren Grenzen
wiederum selbst indiziert. Sie ist die Fähigkeit, nicht nur zur Erfahrung der Welt, sondern zugleich zu den menschlichen Vermögen selbst in eine Distanz zu treten. Bildung ist mit anderen Worten eine begriffliche Qualität aller menschlichen Vermögen, z. B. des Verstandes, der Einbildungskraft oder der Sinnlichkeit. Bildung als diese begriffliche Fähigkeit der Distanz ist ein von der Erfahrung untrenn barer Teil, weil sie, erstens, die Bildung begrifflicher Fähigkeiten überhaupt betrifft, die für die Möglichkeit der Erfahrung unverzichtbar sind, und, zweitens, einen transformativ- reflexiven Bildungsprozess beschreibt, in dem die Erfahrung im Akt der Distanzierung selbst zum Tribunal der eigenen Erkenntnis, des eigenen Erfahrungshorizontes werden kann. Erfahrenes fügt sich dann nicht mehr in das Sinn- und Bedeutungsgeflecht des Verstehenshorizontes ein und bedarf eines Umgestaltens der eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmatrix. Ein solches Tribunal der Erfahrung zwingt den Menschen dazu, die begriffliche Apparatur, den begrifflichen Horizont seines Verstehens und seine Interpreta tionsschemata, umzustrukturieren. Zugleich schließt diese Transformation eine veränderte Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeiten ein. Das Begriffliche ist als ein Sehenkönnen, als eine „perceptio per distans“ [sic!] (Blumenberg 2007) das Netz, das Geflecht, in dem sich unsere Wirklichkeiten am Ende verfangen und sie einfärben. Die begrifflichen Fähigkeiten des Menschen sind grundlegend an dieser erfahrungsbezogenen „Störung“ der eigenen Weltzugewandtheit beteiligt. Die Erfahrung kann sich selbst quasi nur zum Tribunal werden, wenn es bereits eine latente Aufmerksamkeit, eine sich herausbildende Empfänglichkeit oder Sensorik für das fungierende Begriffliche in unserer Erfahrung gibt. Nur so kann eine solche Sinn- und Bedeutungsverweigerung der Erfahrung überhaupt wahrgenommen werden, nur in dieser Weise wird sie auffällig. Im Grunde bedarf es also einer begrifflichen Verfeinerung der Empfänglichkeit und der Aufmerksamkeit, damit die Erfahrung überhaupt zum Tribunal werden kann. Und jede sinnlich wahrgenommene Differenz kann in der Erfahrung potentiell einen Unterschied im Begrifflichen ausmachen (vgl. auch Lauer 2013, S. 375). Nur so, in der Wechselwirkung von Intentionalität und Attentionalität, kann die Erfahrung ihre Offenheit für die Deutung der Welt bewahren. Kurzum: Erfahrungen sind durch begriffliche Fähigkeiten reflexiv. (a) In ihnen bildet sich das Begriffliche als Matrix und Interpretationsschemata der Wahrnehmung. In der Wahrnehmung sind also immer begriffliche Fähigkeiten enthalten. Das Resultat derartiger Erfahrungen, so könnte festgehalten werden, sind Begriffe als sprachlich fundierte Interpretationsschemata, gleichsam Regeln, die die Beziehungen unserer sozialen Welt, ihr Sinngeflecht, das in die Sprache eingewoben ist, trägt. (b) Zum anderen transformiert sich in der Erfahrung das Begriffliche selbst, insofern die Erfahrung zum Tribunal wird, das heißt, dass das bislang fungierende Begriffliche auffällig wird. Diese kritische Aufmerksamkeit für das Begriffliche bildet sich ebenfalls nur in der Erfahrung. Der Bildungsbegriff umfasst die Dimensionen der Erfahrung und bezieht sie aufeinander. Dabei können analog zwei Momente von Bildung heuristisch-analytisch voneinander geschieden werden, die aber nur in ihrer Verschränktheit begründet sind. Bildung unter der Perspektive einer ersten Ordnung ist die Herausbildung, Verfeinerung und Aktualisierung begrifflicher Fähigkeiten in Lernprozessen. Dabei implizieren Lernprozesse durch die der
Bildung als Fähigkeit zur Distanz
49
Wahrnehmung und der Erfahrung von Welt zugrunde liegenden Begriffe – denn es gibt keine nicht interpretierte Wahrnehmung – bereits in nuce die Distanzleistungen der Menschen. Wenn Humboldt daher mannigfaltige Situationen zur Übung offener Verstehensprozesse empfiehlt, hat er offensichtlich im Blick, selbst Fähigkeiten der Distanznahme zu fördern. Denn nur ein Mensch, der Distanz hat oder schafft, befindet sich überhaupt in einer Situation. Deren Mannigfaltigkeit ist Übung auf dem Weg des Gebrauchs begrifflicher Fähigkeiten. Begriffliche Fähigkeiten können nicht von der Erfahrung getrennt gedacht werden, sondern sie entwickeln sich mit ihr. Je feiner diese begrifflichen Fähigkeiten sind, desto feinsinniger zeigt sich die Welt. Wenn beispielsweise McDowell davon spricht, dass Bildung so etwas wie eine Verantwortung ist, die wir gegenüber der Welt einnehmen (vgl. McDowell 2012, S. 12), dann mag er genau diesen Zusammenhang der Verantwortung für Welt im Blick haben, ihr begrifflich gerecht zu werden. Bildung ist eine Distanzleistung, die die Wahrnehmungsebene nicht verlässt, im Gegenteil, vielmehr eine andere Ebene der Sicht erlaubt. Diese begrifflichen Fähigkeiten sind daher notwendig ästhetisch verfasst und umschließen keineswegs wahrnehmungsabstinente Rationalismen. In seiner begrifflichen Fähigkeit bewahrt der Mensch den Sinn für die Ansprüche der Welt. Die Bildung zweiter Ordnung ist die eigentliche begriffliche Distanzleitung als transformativer Bildungsprozess, der die Distanz zu den eigenen Vermögen einschließt. So wird zugleich das Selbstverhältnis im Kontext des Sozial- und Weltverhältnisses reflexiv und thematisch. Erst dieser Prozess erlaubt eine andere Sicht auf die Welt und fragt danach, ob wir die Welt, so wie wir sie sehen und begreifen, auch so sehen und begreifen wollen. Die Erfahrung wird zu einem Tribunal, dem sich der Mensch nicht entziehen kann und das quasi eine Rechtfertigung verlangt. Der Mensch muss sich im Bildungsprozess rechtfertigen, er muss in diesem Prozess den Horizont seines Ver stehens verändert begreifen, er muss seine Interpretationsschemata umbilden. Die begrifflichen Gehalte, die selbstverständlich wirksam sind, werden explizit und fordern ein Umdenken. Das Faktische der Bildung erster Ordnung wird in der Bildung zweiter Ordnung zum Möglichen. In diesem Prozess der Bildung, in dem Spielraum des Möglichen muss der Mensch gleichsam die richtige Stellung zur Welt finden. Die begriffliche Fähigkeit wird so zu einer Distanzleistung, der eine eigene Form der Reflexivität des Möglichen korreliert: Die Verzögerung. Da allerdings beide Modi von Bildung unmittelbar aufeinander bezogen sind, gehört bei der Herausbildung begrifflicher Fähigkeit mehr noch als alles andere zwangsläufig die zu vermittelnde Erkenntnis, dass es keine letzten Gründe gibt und Überzeugungen vorläufig und provisorisch sind. Nur in dieser Haltung einer gleichsam kritisch-skeptischen Bildung kann die Aufmerksamkeit für Sinn und Bedeutung überhaupt verfeinert und wach gehalten werden. Mit anderen Worten: Das zentrale Moment der begrifflichen Fähigkeiten liegt nicht in dem lernenden Erwerb von begrifflichen Gehalten als Basis der Lebensform- und praxis (Bildung erster Ordnung), sondern im Moment der Bildung einer Fähigkeit der Distanz, die am Ende auf ein fragendes Denken zielt, auf eine Nachdenklichkeit als Offenheit für Sinn und Bedeutung (vgl. Dörpinghaus 2013b). Allein diese Offenheit für ein Tribunal der Erfahrung (Bildung zweiter Ordnung) ist die Legitimation, um überhaupt von einer
50
Bildung an ihren Grenzen
ildung der ersten Ordnung zu sprechen, die in Lernprozessen gleichsam diese Offenheit B für die Welt bewahrt und mitunter thematisiert. Bildung als eine Distanzleistung, als gleichsam „freies, distanziertes Verhalten“ (Gadamer 1990, S. 448), steht somit in einer radikalen Differenz zu Formen der Anpassung. Sie wird stattdessen als – lebenspraxisgebundene – Verwirklichung begrifflicher Fähigkeiten verstanden, die offen sind für Welt (vgl. McDowell 2012, S. 138). Darin und in der Offenheit muss Bildung auch als ein gesellschaftliches und zu verantwortendes Wagnis erkannt werden. Als begriffliche Wesen leben Menschen in einer Welt des Sinns, nicht in einer Umwelt der Bedrängnis, der er sich lediglich anzupassen hätte (vgl. Gadamer 1990, S. 447 f.). Die An passung kennt keine Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, keine begriffliche Gestaltung von Welt, keine Weltmodellierung. Den Menschen zu behandeln, als bestünde sein Leben ausschließlich in der Anpassung an Vorgegebenes, ihm nicht die Fähigkeit der Gestaltung zu gestatten und ihn zu unterstützen, sein Leben „in die eigene Hand“ zu nehmen, beraubt ihn einer Würde, so schwer dieser Begriff auch wiegt, die für das Zusammenleben schwer verzichtbar ist.
3.
Der reflexive Status des Begrifflichen: die Verzögerung
Mit dem intelligiblen Bereich eröffnet Kant die Möglichkeit einer Welt des Sinns und der Bedeutung. Ein begriffliches „Instrumentarium“ für den Raum der Möglichkeiten, dessen Bewohnerin der Bildungsbegriff am Ende ist, „muß vielfach umfangreicher, subtiler sein als solches für die akute Wirklichkeit“ (Blumenberg 2007, S. 17). Zugleich ist die Einrichtung dieses Bereichs eine Absage an die Reduzierung des Menschen auf ein Reiz-Reaktion-Wesen, das der Naturgesetzlichkeit unterliegt. Entscheidend ist, dass Kant dem Intelligiblen einen Sinnüberschuss einschreibt, der sich aus der lebensweltlich gesättigten Erkenntnis nährt, dass durch den Positivismus einer bloß empirisch-nomologischen Perspektive nichts über den Menschen gesagt werden kann, was für sein Verständnis als begriffliches Wesen der Reflexion aufschlussreich wäre. Bildung als eine begriffliche Fähigkeit zur Distanzleistung bedarf eines Gestaltungsraumes, innerhalb dessen sich Bildungsprozesse vollziehen können. Aber wie kann eine Distanz in der Erfahrung gedacht werden, die den Erfahrungsraum nicht verlässt? Welcher Prozess verbirgt sich hinter welcher Art von Distanzierung, durch die Erfahrungen möglich werden? Die Distanzleistung begrifflicher Fähigkeiten ist die Distanz in der Zeit. Hans Blumenberg hat sehr richtig erkannt, dass diejenige Distanz, die die begriff liche Fähigkeit impliziert, in einem Temporalspalt liegt, der als Verzögerung bezeichnet werden kann. „Das Bewußtsein ist nicht der Urheber der Verzögerung, sondern deren aus geschöpfte Erscheinungsform: insofern es intentional ist, nutzt es die in der Weite des Raumes zu gewinnende Zeit“ (Blumenberg 2006, S. 560). Mit anderen Worten: Die Verzögerung ist die Form der Distanz, die dem Verstehen innewohnt und die alle Bildungsprozesse be gleiten muss. Erst im Moment der Verzögerung entsteht die Distanz, die reflexive-rezeptive Bildungsprozesse ermöglicht. Die Verzögerung ist der reflexive Status des Begrifflichen. Doch worin besteht diese dem Bildungsprozess eigene Form der perceptio per distans?
Bildung als Fähigkeit zur Distanz
51
Als begriffliche Wesen betrachten und behandeln Menschen sich nicht so, als folgten sie unbefragt den Verbindungen von Gesolltem und Verhalten. Stattdessen betrachten und behandeln sie sich als begriffliche Wesen, die Gründe haben für ihr Handeln, nicht bloße Reize, und im Rahmen einer Welt des Sinns und der Bedeutung eben nicht reagieren, sondern nach der Verständlichkeit, die der Bedeutung eigen ist, suchen. Eine solche Absage an die Verbindung von Reiz und Reaktion lässt sich über den Gedanken fassen, dass Bildung mit den Verzögerungen der unmittelbaren und kürzesten Verbindungen im Denken, Handeln und Urteilen zusammenhängt (vgl. Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 113 f f.). Die unmittelbare Reaktion wird dabei gehemmt und verhindert. Etwas, das möglicherweise auf den Fortgang nahezu drängt und den Abschluss sucht, wird verzögert, auf Distanz gehalten, so dass eine andere Ebene der Sicht eröffnet wird. Die Verzögerung markiert als Grenzphänomen den Übergang von der bloßen Nutzbarmachung im Kontext einer andrängenden Umwelt von etwas hin zur Frage nach seinem Sinn und seiner Bedeutung. In der Verzögerung lernt der Mensch zu sehen, indem er auf einen Reiz nicht sofort reagiert, ihm Widerstand entgegenbringt und Freiheit schafft (vgl. auch Nietzsche 1988, S. 108). Ohne Zweifel hat jede Erfahrung eine rezeptive und nicht einholbare Dimension, die aber nur in Form des Begrifflichen einen reflexiven Status erlangt. Dieser Übergang zum Reflexivwerden des Begrifflichen heißt Verzögerung. Anders formuliert: „Um zu reflectieren“, so Wilhelm von Humboldt, „muss der Geist in seiner fortschreitenden Thätigkeit einen Augenblick still stehn“ (Humboldt 2002b, S. 97). Die Fähigkeit dieser Verzögerung ist in der Sprache fundiert, insofern sie das Medium der Begriffe und der Reflexion ist, durch die der Mensch sich umsieht und orientiert (vgl. ebd., S. 98, vgl. auch ebd. S. 196). Bildung ist ohne diese Art der Verzögerung nicht zu denken, weil sie allein Bildung in der Erfahrung gründet. Sie hält die Spannung von Distanz und Nähe, von Spontaneität und Rezeptivität, und zwar ohne sie vorzeitig aufzulösen. In ihr wird der Verstehenshorizont als gewisser maßen Epoché eingeklammert, er bleibt vakant. Wilhelm von Humboldt beschreibt genau diese Verzögerung mit der Metapher der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, die in der Verzögerung Bedeutung und Sinn generiert und den Konnex eines linearen Fortgangs unterbricht. Anders: Es geht um einen Horizont, der in Bildungsprozessen ins Schwanken gerät. Die Pointe des Begrifflichen liegt nun darin, in der Verzögerung dem Sinnlichen einen Ort in der reflexiven Rechtfertigungspraxis unserer Gründe des Verstehens zu geben. Zugleich ist die Verzögerung als begriffliche Leistung der Distanzierung das Moment eines empirischen Gehaltes im Reich des Noumenalen, im Reich des Begrifflichen. Sie ist die empirische, gleichwohl negative Bedingung der Möglichkeit von Bildungsprozessen. Die Verzögerung ist eine Distanzleistung der begrifflichen Fähigkeit, ohne die weder eine Verzögerung als quasi explizit intentionale Leistung noch als eine Art Widerfahrnis möglich wären. Insofern ist diese Differenz am Ende marginal mit Blick auf die Distanzleistung, weil sie im Rahmen der begrifflichen Fähigkeiten keinen Halt finden kann. Die Verzögerung betrifft als reflexiver Status des Begrifflichen eine andere Sichtweise, ein anderes Bild von Welt. Sie markiert als Prozess der Distanzierung genau den Übergang vom So-seinmüssen des Faktischen hin zum Anders-sein-können des Möglichen. Sie ist als ein Tribunal der Erfahrung das Außerkraftsetzen der bestehenden Logik des Selbstverständlichen und
52
Bildung an ihren Grenzen
die Schaffung von Distanz. Sie ist darin widerständig und negativ, sie ist also eine Unterbrechung des bisher Gedachten, eine Brechung des fungierenden begrifflichen Horizontes, das produktive Scheitern des Fortgangs einer Gegenwart in die andere (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 484 f.). Bildung als eine begriffliche Fähigkeit aufzufassen führt zu einer Vorstellung von Bildung, die über die mit ihr verbundene Erfahrung empirisch sein muss, eine Erfahrung, in der die Reflexivität sinnlich ist und in der es um das Verstehen von Sinn sowie Bedeutungen geht. Die begrifflichen Fähigkeiten sind dabei ein Vermögen des Menschen, Distanz zu schaffen, um eine andere Ebene der Sicht zu haben, die sich nicht der Nutzbarmachung verschreibt. So betrachtet ist die Erfahrung eine zweckfreie Empirie. Fragt man weiter, wie sich diese Distanzleistung zeigt, gelangt man zum Gedanken der Verzögerung, die zur Bedingung von Bildungsprozessen dieser Art wird. Ihr Wesen liegt in der Negativität, in der Unterbrechung eines selbstverständlichen Fortgangs, eine Erschütterung der Erwartung, die zur Umgestaltung des Verstehenshorizontes zwingt. Die Pointe des Begrifflichen ist die Distanzleistung, mit der der Mensch empfänglich für die Welt der Bedeutung ist, eine Welt, die im Geheimnis ihre Offenheit bewahrt. Diese Fähigkeit ist am Ende das Vermögen des Verstehens, Welt zu begreifen, ohne die Fassungslosigkeit des menschlichen Seins zu verlieren. Bildung ist eine spezifisch begriffliche Fähigkeit des Sich-Verstehens und eine Empfänglichkeit für Bedeutung, die für eine Theorie der Erfahrung immer schon in Anspruch genommen wird. Bildung steht für die Gestaltung der Welt durch begriffliche Fähigkeiten, die – in der Tradition der phronesis – immer auch die Aufgabe haben, sich selbst zu befragen und damit offenzuhalten für die Welt, das Andere und das Tribunal der Erfahrung.
4.
Post-Bildung
Für Bildungs- als Erfahrungsprozesse ist die Distanzstruktur der Verzögerung konstitutiv. Dieser Zusammenhang ist insofern bedeutsam, als von hieraus verstehbar wird, wie derzeit eine ökonomische Logik durch die Effizienzrationalität der Beschleunigung Bildungsprozesse verhindert, den Anpassungsdruck erhöht, um Distanzleistungen nicht zu gestatten. So wird kritische, distanzierte Nachdenklichkeit marginalisiert und verhindert. Der Mensch braucht Umwege, Irrtümer und Irrwege, die den Raum des Intelligiblen ausmachen. Menschliche Kultur wäre ohne die begriffliche Fähigkeit der Distanz und der Verzögerung nicht denkbar. Kulturgüter sind Umständlichkeiten, die die schnellen und naiven Lösungen des Menschen verhindern, durch die die Menschen auf Distanz zur Welt gehen und sie dadurch zuallererst verstehen lernen (vgl. hierzu ausführlich Dörpinghaus / Uphoff 2012, Kap. 7). Die Post-Bildung, also die bloße Verwaltung von Vorgängen, die ohne sinnvolle An bindung als Bildung bezeichnet werden, zielt auf Formen der Anpassung und des Unpolitischen ab. Sie verhindert Bedingungen der Möglichkeit von Bildung, die als Verzögerungen bestimmbar sind. In der Post-Bildung sind keine Distanzleistungen erwünscht, während Kompetenzen vielmehr den unpolitischen Anpassungswillen beflügeln sollen. Doch Anpassungsleistungen sind keine Distanzleistungen und umgekehrt. Damit ist zugleich eine
Bildung als Fähigkeit zur Distanz
53
Differenz markiert, die Bildung von ihrer Verwaltung und einer „Post-Bildung“ als nicht legitimen und sinnvollen Gebrauch unterscheidet. Die Post-Bildung gehört daher in den Kontext der Verdummung (vgl. Dörpinghaus 2009). Das Wesen der Post-Bildung ist ein Außerkraftsetzen von Bildung durch deren Verwaltung und Kontrolle. Die Post-Bildung zeigt sich wertfrei, ethisch uninteressiert, inhaltsfern, reflexionsneutral, verantwortungslos, dafür anpassungswillig, problemdevot und evaluativ. Die Motivation, die Offenheit für Welt, die Bildung mit dem Interesse an etwas, der Neugier und der Empfänglichkeit für die Welt der Begriffe verbindet, wird zu einer extrinsischen Aufforderung, schlichtweg Folge zu leisten. Daher gibt es ohne Bildungsbegriff einen nicht einmal erklärbaren unüberbrückbaren Praxiskonflikt. Während die Post-Bildung nicht an der Bildung interessiert ist, ist genau dies das eigentliche Interesse der pädagogischen Praxis, die von der Post-Bildung verwaltet wird. Daher besteht die Logik der Post-Bildung darin, mit so wenig Mitteln wie möglich zu verbergen, dass es mit ihr nicht um Bildung geht. Vermeintliche Bildungsziele können dann nur noch die permanente Anpassung an vorgegebene Ordnungsmuster, die Ausbildung von Kompetenzen für solche Anpassungsleistungen und deren auf Dauer gestellte Kontrolle sein. Während die Verwaltung einer Post-Bildung zur Kontrolle die Positivität braucht, ist der Bildungsbegriff nur in der Negativität beschreibbar. Die wenigsten wissenschaftlichen Phänomene sind aber in ihrer bloßen Positivität und Sichtbarkeit von Interesse. Bildung kann nicht Gegenstand einer schlichten positiven Untersuchung sein, sie ist vielmehr Gegenstand einer negativen Wissenschaft, die die Bedingungen ihrer Möglichkeit nach Maßgabe ihres begrifflichen Gehalts erwägt, das heißt, erstens, nach einem sinnvollen Gebrauch fragt und, zweitens, die Bedingungen ihrer Möglichkeit in den Blick nimmt. Nach den Bedingungen der Möglichkeit zu fragen eröffnet allererst einen Spielraum dann für das je Spezifische, Konkrete oder Individuelle (vgl. ebd., S. 12). Erst durch den Bildungsbegriff und seiner Klärung der Bedingungen von Möglichkeiten (logische, soziale, kulturelle, materielle u. s. w.) erhalten empirische Befunde und professionsbezogene Überzeugungen praxisrelevante Prägnanz. Das Nichtsichtbare im Sichtbaren ist die Provokation für die Wissenschaft. Immanuel Kant hat mit seiner Transzendentalphilosophie den Versuch gemacht, eine Wissenschaft vom Nichtsichtbaren, d. i. vom Begrifflichen zu gründen.9 Den Einbruch dieser noumenalen, negativen Dimension menschlicher Existenz und Freiheit als begriffliche Fähigkeit (Spontaneität) in den Bereich des Empirischen nennt Kant Erfahrung. Die Post-Bildung kennt keine Erfahrung, daher muss sie sich eigene institutionelle Formen (z. B. PISA o. Ä .) ihrer Selbstreflexion erschaffen.
Literatur Blumenberg, H. (2007): Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am Main. Dörpinghaus, A. (2009): Bildung – Plädoyer wider die Verdummung (Erweiterte Fassung). In: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.): Glanzlichter der Wissenschaft 2009 – Ein Almanach. Stuttgart, S. 39–48. Dörpinghaus, A. / Uphoff, I. K . (2012): Die Abschaffung der Zeit. Darmstadt.
54
Bildung an ihren Grenzen
Dörpinghaus, A. / Poenitsch, A. / Wigger, L. (52013a): Theorie der Bildung. Darmstadt. Dörpinghaus, A. (2013b): Zum begrifflichen Gehalt von Bildung. In: K. Müller-Roselius / U. Hericks (Hrsg.): Bildung – Empirischer Zugang und theoretischer Widerstreit. Opladen / Berlin / Toronto, S. 119–132. Gadamer H.-G. (61990): Wahrheit und Methode. Tübingen. Honneth, A. (2003): Zwischen Hermeneutik und Hegelianismus. John McDowell und die Herausforderung des moralischen Realismus. In: Ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Subjektivität. Frankfurt am Main, S. 106–137. Horkheimer, M. / A dorno, T. W. (1944 / 172008): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main. Humboldt, W. v. (2002a): Werke in fünf Bänden. Bd I. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt. Humboldt, W. v. (2002b): Werke in fünf Bänden. Bd. V. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt. Lauer, D. (2013): Leiblichkeit und Begrifflichkeit. Überlegungen zum Begriff der Wahrnehmung nach McDowell und Merleau-Ponty. In: Günzler, I. / Mertens, K.: Wahrnehmen, Fühlen, Handeln. Phänomenologie im Wettstreit der Methoden. Münster, S. 365–381. McDowell, J. (42012): Geist und Welt. Aus dem Englischen von Blume, T. / Bräuer, H. / K lass, G. Frankfurt a. M. Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Meyer-Drawe, K. (1999): Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“. In: Zeitschrift für Pädagogik 45, S. 161–175. Nietzsche, F. (1988): Götzen-Dämmerung. In: Colli, G. / Montinari, M.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 6. München. Quine, W. (1979): Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophisches Essays. Frankfurt am Main / Berlin / Wien, S. 27–50. Sellars, W. (1956): Empiricism and the Philosophy of Mind. In: Feigl, H. / Scriven, M. (Hrsg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Volume I: The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis. Minnesota, S. 253–329. Strawson, P. (1992): Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kans Kritik der reinen Vernunft. Aus dem Englischen von Lange, E. Frankfurt am Main.
Wer gewinnt den „Deutschen Schulpreis“? – Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung von Andreas Gruschka
I. Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
Der erfolgreich entfachte Hype um den „Deutschen Schulpreis“ kann nicht in reiner Immanenz betrachtet und bewertet werden. Die Auslobung eines Preises stellt eine der zentralen Maßnamen des ubiquitär gewordenen „total quality managements“ dar und zugleich basiert er auf einer Kultur, die er ausbeutet. Beginnen wir mit dieser. Das Leben liefert Anlässe dafür, dass Menschen, zuweilen auch Institutionen, andere, etwa verdiente Mitglieder, preisen. Solche Anlässe sind runde hohe Geburtstage oder auch Abschiede, wohl seltener Neuanfänge. Hier wird mit Rückgriff auf Vergangenheit und Zukunft gelobt, dort das angesammelte Verdienst hervorgehoben. Jemand hält eine Rede auf den Jubilar, der dazu bestimmte Laudator dankt dem ausscheidenden Mitglied für seine Lebensleistung. Das, was man im Lebensvollzug nicht so recht hinbekommen oder vielleicht zu wenig beachtet hat, wird nun in geballter Form nachgeholt: Der Gepriesene soll mit dem hellsten Licht seines Schaffens angestrahlt werden. Solches Preisen ist freilich eine heikle Sache, denn leicht gerät es zur heillosen Übertreibung, nicht selten löst es Peinlichkeiten aus: im Publikum und beim Gepriesenen. Wer wird etwa gerne anlässlich seiner Pensionierung, also noch zu Lebzeiten, zum Klassiker erhoben und das vor einem Publikum, das bei aller Wertschätzung doch lieber die Kirche im Dorf weiß? Das entgrenzt wie ein superlativisches Gelingen Gefeierte wirkt nicht einmal als Wunschgedenken authentisch. Es streicht durch, was alles misslang, womit das Erfolgreiche erkauft wurde, auf wessen Kosten es ging usf. Das Preisen verführt zur Maßlosigkeit, so als ob die ordentliche Lebensbewältigung es nicht verdient hätte. Umso stärker wird mit ihm das in den Schatten gestellt, was nicht einmal an diese heranreicht. Wo durch glück liche Umstände die Bilanz durchweg positiv ist, verbietet es vielleicht Scham, das Unverdiente als Verdienst zu preisen. Im Normalfall gilt erst mit dem Tode: de mortuis nihil nisi bene! Aber mit solchen Bedenken ließe sich nur die Stimmung verderben, die doch begierig danach ist, andere zu loben, auch weil es den Lobenden dabei wohl ist. Geht es also mit dem
56
Bildung an ihren Grenzen
Preisen gut, geht es anschließend allen gut. Es hinterlässt dann allgemeine Befriedigung: Man hat jemandem etwas Gutes angetan, der Gepriesene genießt die Anerkennung. Bei diesem Preisen handelt es sich um ein Loben im außerpädagogischen Sinne. Merkwürdigerweise hat sich diese Praxis des Preisens vielfach über sich selbst erhoben, indem es zum Preis wurde. So als ob es mit dem zusammenfassenden Loben nicht genug wäre und etwas hinzutreten müsse, damit es Gewicht bekommt, entsteht der Preis. Es geht nicht mehr darum, im Prinzip jedem Menschen für die mit seinen Aufgaben verbundenen Leistungen Anerkennung auszusprechen, sondern Einzelne von ihnen herauszuheben. Gepriesen wird das Exzellente, nur dieses verdient den Preis. Das könnte den Normalen kalt lassen, wenn er mit dem Preis nicht als Normaler zurücktreten müsste bzw. als solcher kenntlich würde. Wo aber das Preisen eines Herausragenden in Wettbewerbsordnungen um einen Preis stattfindet, bedeutet dies, dass sich alle im Wettbewerb befinden, ob sie es wollen oder nicht. Nicht selten wird er so organisiert, dass der Gewinner alle anderen zu Verlierern macht. Wer es in einem solchen Wettbewerb nicht geschafft hat, muss damit rechnen, dass er noch in den Augen derer, die ihn aufs Schild gehoben haben, nun als Ver lierer gilt. Als Durchgefallener hat er seinen Kredit verloren. Er hat es nicht geschafft, sich durchzusetzen. Das kann sogar geltend gemacht werden, auch wo der Verlierer sich weder beworben hat, noch er mit der Entscheidung etwas zu tun hatte. Nur wenig entschärft wird die Abwertung dort, wo jemand gar nicht an dem Ausscheidungsverfahren beteiligt war, das den Gewinner bestimmte. Denn in diesem Falle zeigt der fehlende Schneid sich zu bewerben an, dass man wohl nicht konkurrenzfähig sei. Wo mit dieser Optik Massen im Wettbewerb stehen, aber nur Einzelne ausgewählt werden können, macht es eigentlich wenig Sinn, sich in den Wettbewerb zu stürzen oder auch nur zu erwarten, man könnte ausgezeichnet werden. So verhalten sich wohl denn auch die Massen. Indem sie dies tun, erhöhen sie freilich die Chancen derer, die sich potentiell auserwählt fühlen. Sie bilden dann eine Kaste der Kandidaten, die sich je für sich als preiswürdig erachten und dies in Abgrenzung zu anderen, weniger Preiswürdigen, tun. Insofern kommt es vor allem darauf an, in den Kreis derer vorzustoßen, die sich als Anwärter definieren. Das Preisen und die Preise werden damit zu Orten der distinktionsgewinnträchtigen Kartellbildung. Dass, wer vermeiden will, dabei zum Opfer zu werden, man auch das Leerausgehen in einen Gewinn ummünzen muss, belegt die Avantgarde der Preissüchtigen wie auch die Ritualisierung der Auswahlverfahren. Wer einmal zum Kandidaten geworden ist, vermerkt dies wie einen zweiten Preis in seiner Leistungsbilanz, man war einer der Auszeichnungswürdigen: etwa „nominated“ für den Filmpreis. Zuweilen teilen die „long-list“ und „short-list“ mit, wie sich die Entscheidung zuspitzte. Das k. o. – System sorgt für Spannung beim Publikum und für eine Hierarchisierung unter denen, die den Wettbewerb unter sich ausmachen. Man kann dies das unterhaltende und sportive Element des Wettbewerbs um Preise bezeichnen. In Los Angeles sitzen sie dann alle im Festsaal, die Kandidaten, die bereits Gekrönten, die Jury, das entspannte Publikum an den TVs und warten auf die hysterischen Auftritte der Erwählten: And the winner is …! Der Hype setzt sich fort bzw. wird ausgebeutet in der Verbreitung von Preisungen. Man kann leicht den Eindruck gewinnen, dass es mit ihnen inflationär geworden ist. Nur wenige
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
57
Bürgermeister deutscher Kleinstädte dürften nicht darüber nachdenken, ob nicht auch sie einen Kleinkunstpreis stiften sollten, der ihren Ort berühmt macht: Wie wäre es demnächst mit der „Neheim-Hüstener Dude-Kugel“? Die andere Seite des Preisens wird damit kenntlich. Wer einen Preis auslobt, macht sich selbst wichtig und bekannt. Er tut etwas für sich und das in dem Modus, etwas für andere zu tun. Das reinigt das möglicherweise aufkommende schlechte Gewissen über die Selbsterhebung. Ein ererbtes Vermögen kann so auch einer Einzelperson erlauben, sich selbst mit dem Namen eines Preises zu schmücken, besser einen noch gewaltigeren anzunehmen, etwa Comenius, und dann zur Preisung der nach Gusto auserwählten Pädagogen zu schreiten1. Wer sich als Preisgeber scheinbar vornehm zurückhält, handelt aus der Verlegenheit, von dem nichts zu wissen, weswegen er preisen will. Er bestimmt eine Jury, die ihm diese Arbeit abnimmt. Womit wir den dritten Akteur benannt hätten, der das eingangs beschriebene Preisen in eine eigennützige Tätigkeit verändert. Die Jury verfügt über die Macht, die Preiswürdigkeit zu definieren. Nicht selten sind die beiden Gruppen miteinander verbandelt, zuweilen entdecken wir beim Nachschauen eine Personalunion zwischen Kandidaten und Jury oder wäscht eine Hand die andere, indem die Auserwählten die Auswählenden an anderer Stelle preisen2. Aus der Ausbreitung des Preisens entsteht sowohl die Steigerung der Chance einer Gewinnbeteiligung als auch die der Kumulation des Gewinnens. Der Preis gewinnt an Reputation mit der Berühmtheit der Preisträger. So wandert der Gelobte nicht selten von einem Preis zum anderen. Wahre Exzellenz beweist sich entsprechend mit der Liste der Preise. Wer am Ende keinen mitbekommen hat, während die Konkurrenz erfolgreich war, wird auch dadurch zum Bedeutungslosen gestempelt. Zu fragen bleibt, wie es kommt, dass das Preisen inzwischen so ausufert. Man könnte das auf eine parapädagogische Form des Lobens zurückführen. Das Preisen soll uns als dem Publikum und möglichen Adressaten mitteilen, wie ungemein breit und vielfältig die Exzellenz geworden ist, wie viele es verdient haben, dass man sie preist. Wir lernen so, die anzuerkennen, von denen wir ausgeschlossen bleiben. Einen weiteren, vorgeschobenen Grund für das Preisen im Kontext von Wettbewerben erkennen wir in seinem durch die Betriebswirtschaftslehre forcierten direkt pädagog ischen Motiv. Die Ausweitung und inszenatorische Vereinnahmung durch Preise für Wettbewerbe soll alle im Feld ebenso Tätigen herausfordern, es denen nachzumachen, die gepriesen werden. Sie werden eingeladen, sich am Wettbewerb zu beteiligen oder zumindest mit dem Modell der Ausgezeichneten das zu versuchen, was ihnen so vorgemacht worden ist. Wettbewerbe, so glauben es die Betriebswirte des Preisens, verbessern allgemein, was freilich weiterhin im Wettbewerb singulär ausgezeichnet bleiben soll. Das Produkt wird durch Messung und Auszeichnung und dann durch das beidem folgende Streben nach Erfolg im Wettbewerb stetig in der Breite besser. Preise sind das Mittel der Wahl für das Anstacheln zum Besser-Werden. Aber nicht nur die Zustimmung zur Konkurrenz um Anerkennung soll so Leistungsbereitschaft fördern, auch das Ziel dieser Leistung lässt sich so vorgeben. Das, was ausgezeichnet wurde, wird zum Maßstab für alle erhoben.
58
Bildung an ihren Grenzen
Damit erst gewinnt das Preisen seine Macht über die Sphäre, über die es sich erhebt. Das ist beim Nobelpreis sicherlich nicht dasselbe wie beim „Deutschen Schulpreis“. Aber die Tendenz zur Ausweitung der Preiszone, wie sie inzwischen auch die bis dahin von ihr weitgehend freie Pädagogik erreicht hat, spricht doch dafür, dass hier Preisen Teil eines erzieherischen Regimes und zugleich Medium der fortschreitenden Vermachtung einer ehemals stärker für sich selbst stehenden Praxis geworden ist. Das Regime ist zugleich eine Einladung, sich dümmer zu machen als man ist. Man denke nur daran, wie die deutschen Universitätsleitungen beschlossen, das mit der medialen Darstellung von Exzellenz als erfolgreich Ausgezeichnete je vor Ort nachzumachen, sei es als „Hirnforschung“ oder als „empirische Bildungsforschung“. Als wäre jedes Remake bzw. eine Kopie eine Garantie auf einen Preis. Bevor diese Beobachtungen am „Deutschen Schulpreis“ geprüft werden, ist noch auf eine zum Bisherigen quer liegende Dimension des Preiswesens aufmerksam zu machen: die genuin ökonomische Dimension oder der Geldwert des Preisens. Der Preis, mit dem etwas gepriesen wird, ist auch der Preis, der mit der Auszeichnung verbunden ist. Viele Dotierungen sind bescheiden verglichen mit den großen wie beim Nobelpreis. Aber es geht selten ohne eine signifikante Summe ab. Sinkt sie ins Lächerliche, so muss symbolisch Ersatz geschaffen werden, etwa durch eine Medaille, einen Orden, einen Pokal. Im Filmbusiness sorgt dieser wieder für nachfolgende Geldwerte in Höhen, die der Preis schlecht bereithalten könnte. Das Auszeichnen kommt aus der geschäftlichen Praxis. Waren werden so mit einem Preis als Kaufwert belegt. Das gilt als besonders gehaltvoll und qualitativ, was einen höheren Preis kostet. Das Negativbild ist die Auszeichnung nach unten: Alles für einen Euro! Das aber ist nur etwas für prekäre Existenzen. Der Preis ist damit nicht eine Frage der Ehre. Die ist als solche nicht marktförmig genug, also wird sie mit der Höhe der Dotierung ausgezeichnet. Es ist merkwürdig, dass so manche Preise auch dann eine Geldsumme ausloben, wenn diese wegen ihrer geringen Höhe den Preisträger eher tröstet, als dass sie ihm erlaubte, nach der Verleihung große Sprünge zu machen. Vergleicht man jedenfalls das leicht erworbene immense Geld, das in anderen Wettbewerbsbereichen „zu machen“ ist, mit der durchschnittlichen Summe der Preisdotierungen, so wird die ökonomische Ohnmacht der Auslobenden an dieser Stelle eher deutlich als seine Fähigkeit zu einer Belohnung, die mit dem konvergierte, was hier als Exzellenz gepriesen werden soll. Die Preissumme soll irgendwie messbar machen, worin der Wert des Lobens besteht, und kann es doch nicht, wo die Leistung nicht ökonomisch verrechnet werden kann. Die fehlende Glaubwürdigkeit des Lobens kommt hier zusammen mit der Omnipräsenz der materiellen Kultur, die im Zweifel Geld vor Ehre setzt. Nicht lobt das Werk den Meister, oder wenn es denn sein muss, der Meister den Novizen. Das Preisgeld wird zur harten Währung des Erfolgs. Verdienste beweisen sich auch im Verdienen. Auch wenn der Träger das Geld nicht privat verausgaben kann, wie bei Schulpreisen oder Universitätspreisen, so kann doch mit dem Geld weiter und stärker an den guten Werken gearbeitet werden, ein Investment womöglich für einen nächsten Preis.
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
59
II. Unter Pädagogen ist das Preis-Unwesen lange Jahre unterentwickelt gewesen. Der „Pfaff-Preis für Initiativen im Bildungswesen“, gestiftet von der Firma, die Nähmaschinen herstellt, war in den 70er-Jahren ein Exot und als solcher blieb er marketingwertmäßig bedeutungslos. Er diente der Ermutigung von Aktivitäten, die es nötig und wohl auch verdient hatten. In Hochschulen wurde der beliebte Hochschullehrer mit einem Fackelzug zu seinem 60ten geehrt, wirkte er kreisbildend, erhielt eine oder mehre Festschriften hintereinander. Nur sehr selten erfolgte eine Verleihung einer Ehrendoktorwürde in einem anderen Fach. Erst, als es in jüngster Zeit zur Verbreitung dieses Instrumentes kam, entdeckte das Feld auch hier einen Markt der Eitelkeiten. Bis vor Kurzem wäre die Leitung einer Universität nie auf die Idee gekommen, den „Hochschullehrer des Jahres“ zu küren. Auch die Länder waren frei von solchen Praktiken. Signifikant ist, dass das Land Hessen damit begann, als die Schieflage zwischen Forschungsförderung und Vernachlässigung in der Lehre immer krasser wurde. Als schlechte Kompensation beschloss man einen landesweiten Lehrpreis, mit einer schönen Dotierung, die von der allgemeinen Armut vor Ort ablenkt. Der Bund zog nach der Geldverschwendung mit den Exzellenzwettbewerben nach und legte Prämien für gute Lehre auf. Dabei kommt es nicht zur Verbesserung der anzunehmenden einfachen Infrastruktur, sondern dazu, dass das Geld mit Wettbewerben und Preisverleihungen zu verbinden ist. Die Universitäten zogen nach, fanden einen bescheidenen Sponsor und schicken jedes Jahr die Kollegen in den Wettbewerb um die beste Lehre. Besonders erfolgreiche und begabte Studierende mit ihren Abschlüssen bekamen ebenfalls Preise. Und manche andere kamen auf die Idee, weitere Wettbewerbe zu inszenieren, so die Initiatoren des Deutschen Schulpreises, oder wie 2013 in Hessen (wo gewonnen wurde) für medial große Aufmerksamkeit sorgende Auszeichnung des besten Lehrers an einer Schule. Beide Preise reihen sich ein in die Eventkultur, eroberten ihren festen Platz in den Nachrichten und erheischen die Aufmerksamkeit aller, die in diesem Feld arbeiten. Hier hat sich also viel verändert. In der Phase vor dem Preishype hatten sich die „Reformschulen“ und die Reformer bereits um einen Zirkel geschart. Mit Mitteln von Sponsoren wurden nach dem Erlahmen der „großen Bildungsreform“ vor allem die Bemühungen um eine außergewöhnliche Schulpädagogik unterstützt. Die „Akademie für Bildungsreform“ in Tübingen und ihre „Arbeitsstelle für praktisches Lernen“ führten Tagungen durch und publizierten Ansätze für einen besseren, weil handlungsorientierten Unterricht. Andreas Flitner war hier lange das organisierende Zentrum. Die Robert-Bosch-Stiftung konnte gewonnen werden, viele Jahre diese Aktivitäten zu unterstützen. Die Vereinigung der Land erziehungsheime mit Wolfgang Harder assoziierte sich zu diesen Aktivitäten. Aus der Reformphase schälten sich Schulen (häufig besondere Gesamtschulen) heraus, die sich als Avantgarde im System verstanden und sich damit als Modelle für alle anderen empfahlen. Sie schafften es, sich den Ruf als besonders gute, weil pädagogisch weiterentwickelte Schule zu verschaffen. So entstand mit den Jahren ein Netzwerk von Reformschulen, die sich gegenseitig stützten und die sich zuweilen mit gemeinsamen Erklärungen in den öffentlichen
60
Bildung an ihren Grenzen
Diskurs um die Bildungsreform einmischten, wie etwa 2006 mit der Hofgeismarer Erklärung des „Schulverbundes Blick über den Zaun“, deren Unterschriftenliste sich wie das „who is who“ der Kandidaten um den Deutschen Schulpreis liest. In der prekären schulpolitischen Lage, in der sich diese Schulen lange befanden, erwies sich diese gegenseitige Stützung als sehr hilfreich. Die Reformschulen zeigten sich nämlich durchgängig nicht als schulverwaltungsfreundlich, sie suchten immer nach Möglichkeiten, aus der etatistischen Kontrolle und dem als unpädagogisch beurteilten Regelwerk der Schule auszubüchsen. Laufend forderten sie eigenes Recht und Freiräume. Mit ihrem Eigensinn und ihrer Widerständigkeit waren sie nicht selten als unangenehme Partner verschrien. Nicht wenige von ihnen hatten dafür gesorgt, besser ausgestattet zu sein als die anderen Schulen vor Ort, als Versuchsschulen hatten sie Vorteile und Aufträge gegenüber der Regelschule übernommen. Das führte dort nicht unbedingt zur Bereitschaft, ihnen zu folgen, es setzte Konkurrenzkämpfe um Ressourcen und Anerkennung in Gang. Aus diesen Auseinandersetzungen entwickelte sich so etwas wie ein „esprit du corps“. Wo viel Feind war, war wohl auch viel Ehre errungen worden. Man fühlte sich mit der Zeit als verkannte, aber anerkennungshungrige Elite unter den Schulen. Die Situation änderte sich wie erwünscht, als sich von zwei so wohl nicht erwarteten Seiten massive Unterstützung einstellte. Sie geht einher mit dem Aufkommen der im großen Stil praktizierten und kommunizierten PISA-Forschung und der hinter dieser mit dem Auftraggeber, der OECD, steckenden Idee von einer guten Schule. Diese ist integrativ und individualisierend, inklusiv und leistungsorientiert, projekt-, handlungs-, problemlösungsund kompetenzorientiert, selbstwirksam im Lernen und Lehren wie auch als lernende Organisation usf. Mit all dem richtet sie sich gegen die Schule, die bloß Stoffe vorstellt, ohne dass diese zum Lernen veranlassen. Stoffe, die mit einem Bildungsversprechen erlauben, sich über die Tatsache eines misslingenden Output hinwegzutrösten. Es sind die Schulen, die in Routinen erstarrt sind, in denen jede Reform als Bedrohung von Besitzständen wahrgenommen wird, die die Schüler nicht als Kunden bzw. Begeisterte, sondern als störend betrachten usf. Die nach PISA angestoßene Generalreform der Schule mit all ihren Instrumenten des Qualitätsmanagements, mit Schulprogrammarbeit und Schulinspektion, mit Methodentraining, Medienkompetenz, mit Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten, mit neuen Aufgabenformaten wie Jahresarbeiten, Präsentation, Kompetenzentwicklungsmodellen usf. bezog sich auf die Regelschule. Die vordem beargwöhnten Reformschulen waren nun nicht nur die selbst ernannte Avantgarde, sondern wurden zu den Leuchttürmen dieser Reform. Das, was die anderen nun entwickeln sollten, konnte man bereits in diesen Schulen als Praxis besichtigen3. So drehte sich die Lage. War vordem Auszeichnung als Legitimationsstütze gefragt, wurde sie nun zum Instrument der Verbreitung der Reform. Auf diesem Weg aber war erst einmal zu erwarten, dass den Preis bevorzugt der erhielt, der sich diesen durch sein langjähriges Engagement verdient hatte.
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
61
III. Der „Deutsche Schulpreis“ wird vergeben seit 2006. Wer dessen ansprechend gepflegte Homepage besucht, stößt auf eine beeindruckend durchgebildete Organisation. Der Preis wird ermöglicht durch ein Konsortium von Stiftungen, er wird medial so in Szene gesetzt, dass man den Eindruck bekommt, hier werde von höchster Stelle unterstützt, was das Ziel des Preises ist. Der Bundspräsident wie die Kanzlerin sind selbstverständlich eingebunden in die Preisverleihung. Man kann fast denken, es handele sich hier um ein Bundesverdienstkreuz am Bande. Über die Preisverleihung wird wie von einer Haupt- und Staatsaktion in allen Medien berichtet. Das Verfahren der Preisträgerermittlung ist für sich selbst eine große Aktion, die nicht so sehr das Problem spiegelt, wie man zu einem verdienten Träger kommen kann, die vielmehr zeigt, wie in die Preisverleihung möglichst viele Meinungsträger involviert werden, die als solche die Anerkennung der Aktion sichern. Man kann sich bewerben, im letzten Jahr waren es 114 der 4000 Schulen, mit abnehmender Tendenz. Nach Einsendeschluss vollzieht sich eine komplizierte Prozedur mit mehreren Etappen. Wer die erste Hürde überwunden hat, kommt auf die „long-list“. Danach wird eine Art von Schulinspektion durchgeführt. Die Anerkennungsträger besuchen die Kandidaten. Diese haben für den Vorgang, ähnlich wie es bei Anträgen zur Forschungsförderung geschieht, ein gewaltiges Programm der Selbstdarstellung absolviert. Der Beobachter kann mit den Downloads der Homepage bereits in etwa nachvollziehen, wie sich die Schulen als preiswürdig dargestellt haben. Das Motto des Wettbewerbs lautet „Dem Lernen Flügel verleihen!“. So zeigt es auch das Logo. Grundsponsoren waren die Robert-Bosch-Stiftung und die Heidehof-Stiftung. Mehr als nur „Medienpartner“ dürften Der „Stern“ und die „ARD“ sein. Die Preisverleihung wird von „Phönix“ und der „ARD“ übertragen. Jeweils sechs Schulen werden ausgezeichnet. Der Gewinner kann sich über die stolze Summe von 100 000 Euro freuen, noch einmal je 25 000 Euro gehen an vier weitere Schulen, und mit einem Sonderpreis der Jury (ebenfalls 25 000 Euro) wird die sechste Schule der Endausscheidung ausgezeichnet. Dieser Preis geht an eine solche Schule, die augenscheinlich anders als die fünf anderen sich um eine gute Qualität auch gegen gegebene schlechte Rahmenbedingungen bemüht hat. Entsprechend wird hier das sich Emporarbeiten aus Schwierigkeiten belohnt, während die anderen ausgezeichneten Schulen bereits von der Anerkennung leben, die sie längst errungen haben. Wer auf der Long-List der nominierten Schulen auftaucht, erhält einen Trostpreis von 2000 Euro. Man kann sich immer wieder bewerben, im Prinzip so lange, bis man gewonnen hat. In einem ersten Schritt der Auswahl werden alle Bewerbungen gesichtet, dafür sorgen „pädagogische Expertinnen und Experten“ des Preises. Man muss sich das wohl als ein Aktenstudium vorstellen, mit dem allgemeine Kriterienerfüllung geprüft wird, eben so, wie das bei anderen Wettbewerben auch üblich ist. Die Vorauswahl bezieht sich auf 20 Schulen durch eine Jury. Diese Schulen werden von Expertenteams besucht. Die Begutachtung findet in zwei Tagen vor Ort statt. Danach werden bis zu 15 Schulen in die
62
Bildung an ihren Grenzen
engere Wahl genommen und die Jury entscheidet in einer weiteren Sitzung über die Preisträger. Alle Schulen, die sich beworben haben, erhalten eine Rückmeldung. So möchte man Frustration vermeiden und die positive Anerkennung für das Mitmachen und das Mitgebrachte ausdrücken. Neben diesem Preisermittlungsmodus besteht der „Deutsche Schulpreis“ aus weiteren Aktivitäten und Foren, die alle die Aufgabe haben, den Nutzen des Ansatzes zu mehren. So gibt es eine Akademie des Schulpreises seit 2007, die alle Preisträger versammelt. Die Akademie bildet damit den neuen selbst geschaffenen Kreis der guten Schulen. Die stehen damit bereit dafür, dass andere etwa durch Besuche bei ihnen lernen können. Sodann ist ein SchulLabor eingerichtet worden, in dem Akteure aus den Schulen schulübergreifende Lerngemeinschaften bilden zur Erarbeitung von gemeinsam interessierenden Lösungen für unerledigte Aufgaben. Es wurde ein Exzellenzforum eingerichtet, das jährlich die besten 50 der letzten drei Jahre versammelt, um an einem der Qualitätsbereiche des Preises weiter zu arbeiten. Die Jury besteht aus 11 vollen und 28 Vorjurymitgliedern. Wer nach den Mitgliedern sucht, findet viele der einschlägig bekannten Netzwerke der Reformschulen, Ehemalige der Schulverwaltung und entsprechend der geschaffenen Allianzen Vertreter der empirischen Bildungsforschung. Vergeblich wird man nach anderen Experten suchen, die nicht in diese Netzwerke eingebunden sind (siehe Fußnote 2). Die gegenwärtige Leiterin Helga Boldt hat eine exemplarische Karriere hinter sich, sie war bei Bertelsmann, wurde Schuldezernentin in einer Mittelstadt, nun ist sie Leiterin der von VW gesponsorten „Neuen Schule Wolfsburg“.
IV.
Das Programm für eine „Gute Schule“ ist in den Kriterien für den Preis abzulesen. Es sind dies die folgenden „sechs Qualitätsbereiche“: Leistung "" Schulen, die gemessen an ihrer Ausgangslage besondere Schülerleistung in den Kern fächern (Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften), im künstlerischen Bereich (z. B. Theater, Kunst, Musik oder Tanz), im Sport oder in anderen wichtigen Bereichen (z. B. Projektarbeit, Wettbewerbe) erzielen. Umgang mit Vielfalt "" Schulen, die Mittel und Wege gefunden haben, um produktiv mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, Interessen und Leistungsmöglichkeiten, mit kultureller und nationaler Herkunft, Bildungshintergrund der Familie, Geschlecht ihrer Schülerinnen und Schüler umzugehen, "" Schulen, die wirksam zum Ausgleich von Benachteiligungen beitragen, "" Schulen, die das individuelle Lernen planvoll und kontinuierlich fördern. Unterrichtsqualität "" Schulen, die dafür sorgen, dass die Schüler ihr Lernen selbst in die Hand nehmen,
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
63
"" Schulen, die ein verständnisintensives und praxisorientiertes Lernen auch an außerschulischen Lernorten ermöglichen, "" Schulen, die den Unterricht und die Arbeit von Lehrern mit Hilfe neuer Erkenntnisse kontinuierlich verbessern. Verantwortung "" Schulen, in denen achtungsvoller Umgang miteinander, gewaltfreie Konfliktlösung und der sorgsame Umgang mit Sachen nicht nur postuliert, sondern gemeinsam vertreten und im Alltag verwirklicht wird, "" Schulen, die Mitwirkung und demokratisches Engagement, Eigeninitiative und Gemeinsinn im Unterricht, in der Schule und über die Schule hinaus tatsächlich fordern und umsetzen. Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner "" Schulen mit einem guten Klima und anregungsreichen Schulleben, "" Schulen, in die Schüler, Lehrer und Eltern gern gehen, "" Schulen, die pädagogisch fruchtbare Beziehungen zu außerschulischen Partnern und Institutionen sowie zur Öffentlichkeit pflegen. Schule als lernende Institution "" Schulen, die neue und ergebnisorientierte Formen der Zusammenarbeit im Kollegium, der Führung und des demokratischen Managements praktizieren und die Motivation und Professionalität ihrer Lehrer planvoll fördern, "" Schulen, die in der Bewältigung der Stofffülle, der Verbesserung des Lehrplans, der Organisation und Evaluation des Schulgeschehens eigene Aufgaben für sich erkennen und daran selbständig und nachhaltig arbeiten.“ (Der Deutsche Schulpreis 2014, online) In all diesen Bereichen – heißt es einleitend – müssen die Schulen gut und in mindestens einem der Bereiche weit überdurchschnittlich abschneiden, wollen sie eine Chance auf den Preis bekommen. Diese Merkmale lassen sich, das macht sie dem Scheine nach evidenzbasiert und damit konsensfähig, auch in den Kriterienlisten der Schulprogrammarbeit oder Schulinspektion finden. So manche Vertreter der empirischen Bildungsforschung oder des schulischen Change-Managements propagieren Entsprechendes. Damit passen die Jury-Mitglieder zum Programm oder auch nur das Programm zu diesen. Gemeinsam ist ihnen die „breite Aufstellung“ von Qualitätskriterien. Die Postulate decken alles ab, was man sich von einer Schule wünschen mag, „in die Lehrer, Schüler und Eltern gern gehen“ und auf die der Auftraggeber stolz sein kann. Die Schule wird geschildert nicht nur als eine, die den Kern ihrer Aufgabe, die Vermittlung von Bildungswissen, gut erfüllt, sondern die zugleich bereit ist, ständig an sich zu arbeiten: ihre Stärken zu stärken und ihre verbliebenen Schwächen zu schwächen. Sie will immer besser werden und ist bereit, immer mehr Aufgaben zu übernehmen. Das geschieht mit Hilfe des hierfür neu erfundenen „demokratischen Managements“ von oben mit unten und der Herausforderung einer immer weiter zu entwickelnden Professionalität des Personals. Das Ende des Katalogs impliziert ein „total quality management“, das sich auf die ersten fünf Kriterien erstreckt.
64
Bildung an ihren Grenzen
PISA konform werden Kernfächer ausgewiesen, in denen die Leistung stimmen soll. Der ästhetischen Ausrichtung der Reformpädagogik gemäß werden das Theater und andere Künste ebenfalls zu Orten der Leistung, daneben steht das Proprium der außerunterricht lichen Projekte und der Teilnahme – passend zum Gegenstand des Preises – an weiteren Wettbewerben. Leistung wird zum Ziel, die Bereiche zu deren Mittel. Das PISA-Leistungsfeld wird als Kern der Allgemeinbildung betont, weswegen die anderen Fächer nachgeordnet werden können. Ein guter Geschichtsunterricht oder solcher in Arbeitslehre wird nicht zum Erfolgsmaßstab. Die Leistung in den musischen Fächern und bei handwerklichen Projekten beweist sich als ästhetische Anstrengung. Die repräsentiert gegenüber dem einseitig konzipierten Kopf die Kompensation von Herz und Hand. Mit diesem Dual kommt es wohl nicht darauf an, der Jury zu zeigen, dass man bewusst diese und jene Inhalte ausgewählt hat, um in methodisch aufschließender Weise Bildungserfahrungen durch „erziehenden Unterricht“ zu ermöglichen. Prämiert wird nicht das Curriculum als die je besondere Herausforderung einer Leistung, wie es etwa in der „Lehrkunstdidaktik“ vorgeführt wird. Entsprechend finden sich keine Schulen auf der Siegerliste, die durch die Elaboriertheit ihrer Bildungsarbeit oder auch nur deren Gediegenheit auffallen würden. Man möchte wissen, wie die Jury die Leistungen im Fachlichen bewerten will, wohl über den Umweg von Messungen, die Schulen als überlegen gegenüber anderen ausweisen, etwa bei Vergleichsarbeiten oder eben Wettbewerben. Im zweiten Bereich wird die Individualisierung des Unterrichts honoriert. Damit kommt auch hier eine Übereinstimmung aus reformpädagogischer Praxis und Bildungsforschungsüberzeugung zum Zuge. Man kann sich also vorstellen, wie gesonderte Programme zur Differenzierung belohnt werden, während Schulen, die darauf setzen, die Schüler in der Klasse vor gemeinsame Aufgaben zu stellen, ein didaktisches Defizit auszeichnet. Dabei ist schwer zu sagen, ob bereits der Differenzierungsaufwand positiv zu Buche schlägt oder erst der Effekt, den er bewirken soll. Schwer vorzustellen ist, dass die Gutachter sich so tief in die Praxis einarbeiten werden, dass sie sicher in der einen oder anderen Richtung urteilen können, das Programm also in Beziehung setzen können zur Weise seiner Ausführung. Die Unterrichtsqualität bezieht sich auf die Vorstellung von einem Schüler, der das Lernen in die eigene Hand nimmt. Das ist insofern bemerkenswert, als damit entweder die Trivialität ausgedrückt wird, dass Schülern das Lernen nicht abgenommen werden kann oder aber auch die ungleich pädagogisch interessantere Variante, dass der Lehrer so gut das Lernen inszeniert hat, dass der Schüler durch Lehrimpulse besonders aktiviert ist, so sehr, dass er denkt, er habe das Lernen in die eigene Hand genommen. Ausgeschlossen ist wohl der wörtliche Fall, dass der Schüler sich nicht mehr um das schulisch Vorgegebene kümmert, weil er selbst entscheidet, was er lernt. Hier wäre also zu erwarten, dass die Jury sich genau die didaktischen Materialien anschaut, die in ihrer Inhaltlichkeit als Bildungs impuls, nicht aber schon in ihrer methodischen Ausrichtung als Aktivierung pädagogisch positive Wirkungen zu erzielen erlauben. Kann von einer solchen Analyse der diversen Musterbeispiele für Unterricht bei den Schulbesuchen ausgegangen werden? Schwer vorzustellen, leichter dagegen die eher flüchtige Kenntnisnahme der Absichten und gewählten Formen, die das Gutgemeinte schon als das Gute erleben lässt.
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
65
Wieder wird ein individualisierendes, nun ergänzend verständnisintensives und praxisorientiertes Lernen als der Königsweg ausgezeichnet. Merkwürdig, dass es als verständis intensives „auch“ in außerschulische Lernorte verwiesen wird, wo doch die Schule der Ort sein sollte, in der Beobachtung und Versenkung in die ausgewählten Welttatsachen Verständnis als erarbeitetes und geprüftes Wissen zu ermöglichen, das eben nicht aus dem Vollzug der Lebenspraxis erwächst. Beides, Verständnis und Praxis, wird wohl als einander bedingend ausgewiesen, was aber streng genommen bedeutete, herauszustellen, wann das eine nicht gegen das andere steht, sondern zueinander passt. Sollen die Schulen also multiple Erfinder von Modellen des Typs des Kerschensteinerschen Starenkasten sein? Das würde ein Qualitätsmerkmal beinhalten, an dem wohl so manche Schule mit ihren Projekten scheitern dürfte. Denn Praxisorientierung setzt vielfach nicht das tiefere Verständnis der Sache voraus, während Verstehen nur bedingt aus der praktischen Beschäftigung entspringt. Der Bau des Starenkastens war der letzte Punkt einer längeren schwierigen Überlegung, wie man ihn aus sechs Teilen mit möglichst wenig Schnitten und Abfall aus einem Brett mit der Länge 170 und der Breite von 20 cm heraussägen würde. Auf die Praxis des Baus kam es hier eigentlich gar nicht so sehr an, viel stärker auf die Durchdringung eines komplexen Problems. Interessant dürfte auch hier wieder sein, genauer nachzuschauen, ob Schulen sich bewerben und ausgezeichnet werden, die sich vor allem wohltuend in Hinsicht auf die Förderung des Verstehens herausheben. Das aber ließe sich erst mit der genauen Aufgabenanalyse entscheiden. Wollte man die, wäre das schon für sich bereits genug Arbeit für eine Jury. Statt einer Bescheidung auf solche Qualität wird ergänzend geprüft, ob die Lehrenden mit ihrem unterrichtlichen Handeln zeigen, dass sie neueste Erkenntnisse, wohl die der Bildungsforschung, zur Kenntnis genommen haben. Das damit der das anwachsende Berufswissen wahrnehmende Lehrer gefordert wird, ist nur verständlich vor dem Hintergrund, dass das über eigenes Erfahrungswissen gebildete Professionswissen mit Skepsis betrachtet wird. Eine optimierende Expertise entsteht erst, wenn man sich um die Übernahme der Erkenntnisse anderer bemüht. Aber worin wären die indiziert? Abwegig, dass die Juroren Wissenstests mit den Kandidaten durchführten. Wahrscheinlicher ist, dass sie das Modernisierungsvokabular abgleichen, das ihnen in den Äußerungen der Lehrenden entgegentritt. Wenn also in diesen von Kompetenzorientierung und adaptiven Lernumwelten von Kokonstruktion usf. die Rede ist, dann erscheint das als Erfüllungskriterium. Der beflissene Nachsprech gegenüber dem Sprachspiel der Juroren gilt somit als Leistungskriterium. Wer sich ein wenig mit der so deformierten Sprache von unten beschäftigt, die so wird, wenn sie sich blind nach oben richtet, weiß, wie unbegriffen jene neuen Erkenntnisse in der Regel bleiben. Unter Verantwortung und Schulklima versammeln sich Aspekte, die vor allem die Erziehungsfunktion der Schule betreffen. Diese wird auf die Probleme bezogen, die mit der Schule als Zwangsanstalt einhergehen. In ihr soll homogenisiert werden, was als Differenz zusammenkommt, nicht also, was schon zusammengehört. Mit ihr soll pazifiziert und zivilisiert werden, was sich in ihr als Widerstand gegen die rollenförmige Zurichtung der Lebenspraxis eben immer wieder mit Notwendigkeit einstellt und was sich nicht zuletzt in der Aggression gegen die Sachen, die stummen Objekte der Institution entlädt. Dass die Schule daran erzie-
66
Bildung an ihren Grenzen
herisch arbeiten muss, ist klar. Bemerkenswert ist, dass der Schulpreis hierin ein zentrales Erfolgskriterium für die pädagogische Arbeit einer jeden Schule sieht. Wahrscheinlich ist aber, dass die meisten der Kandidatenschulen nicht deswegen lobenswert sind, weil sie mit den Erziehungsmethoden der Streitschlichtung oder des Programms „Faustlos“ deviantes Verhalten erfolgreich in zivilisiertes umgewandelt haben, sondern weil sie jenseits der Bedrohung mit Prävention zeigen, dass sie auf potentielle Probleme reagieren. In Kombination mit der Schulklima-Idylle, die insbesondere der zweite Punkt dieses Abschnitts postuliert, wird ein Bild von Schule gezeichnet, das erfolgreich den bösen Geist, der in ihrer Flasche steckt, abgedichtet hat. Den Preis würde deswegen vielleicht genau die Schule eher verdienen, die nun speziell von der Jury als Problemschule bedacht wird. Es ist die Schule, die zeigen kann, wie sie zum Erfahrungsraum geworden ist, in dem die in die Schule hineingetragenen Konflikte, wie auch die durch die Schule selbst allererst hervorgetriebenen produktiv mit genuin pädagogischen Mitteln geregelt werden. Damit aber würden die „guten Schulen“, die weitgehend frei von solchen Problemen sind, nicht mehr für das belohnt, was sie gar nicht bewirkt haben bzw. bewirken müssen. Oder aber man müsste auch hier wieder genau kritisch prüfen, welche Qualität die Erziehungsmaßnahmen haben, auf die die Schulen stolz verweisen. Wer das tut, muss damit rechnen, dass sich hinter der Oberfläche des wohlmeinenden Bemühens, die er bei Besuchen mitbekommt, eine schnell problematisch werdende Pädagogik verbirgt. Die Hinweise zur Qualitätsprüfung der Qualitätsbereiche machen deutlich, dass analog zum Problem der Schulinspektion die Besuche der Jury und das Zur- Kenntnis-Nehmen der multimedial präparierten Selbstdarstellungen so manche Täuschungs- und Selbsttäuschungsfalle bereithält. Sie lassen sich kontrollieren allein durch die kritische Analyse des materialen Gehalts der sich bewerbenden Praxis. Das setzt aber eine Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Material voraus, dabei wohl auch eine Beobachtungsvielfalt und Tiefe der Gutachter, die zusammen deren Geschäft komplizierter und wohl auch dissensreicher werden ließe. Aus dieser Not ist allein mit der Untugend herauszukommen, die Seite der materialen Rationalität durch die der formalen zu tauschen. Genau das schlägt in den Leistungskriterien durch. Der letzte Punkt wie schon der erste sind aus dem Geist technokratischer Erfolgskriterien konzipiert. So geht es ihnen um Effizienz und Optimierung und zwar durch Maßnahmen der Art, die den Geist nur als Verfahren zur Verbesserung von Ergebnissen anerkennen. Worin sie bestehen ist sekundär, dass sie damit aber einem bestimmten Inhalt zuarbeiten, nämlich dem, der in die Logik dieser Erfolgs kriterien passt und damit alles andere abgeblendet wird, wird billigend in Kauf genommen.
V.
Wer wird nun ausgezeichnet und womit als besonderer Leistung wird die Wahl gerechtfertigt? Die Homepage dokumentiert das in Vielfältigkeit. Die Schulen zeigen sich mit einem Kurzvideo, das bereits belegen soll, was sie auszeichnet. Es handelt sich um in der Regel professionell gefilmte Werbeanzeigen. Freundliche
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
67
Schüler und Lehrer in aufgeräumter Umgebung, tätig mit dem, was man als gute Aktivität sofort erkennen kann. Die wenige Zeit der Präsentation wird genutzt, um etwas von dem Proprium mitzuteilen und zu visualisieren, was die jeweilige Schule als besondere und besonders gute erkennbar machen soll. Es wird eine Stimmung verbreitet, die keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass hier alles nicht nur in Ordnung ist, sondern auch in Ordnung gebracht wurde. In jede der Schulen, die die Videos zeigen, würden Schüler, Lehrer und Eltern gerne gehen. Vor lauter Selbstanpreisung wird freilich fast schon nebensächlich, was hier zu preisen wäre. Darin spiegelt sich die formale Rationalität, der die Jury folgen will, das Wie der Darstellung schiebt sich vor das Was der Darstellung. Auf ungewöhnliche Dinge wird aufmerksam gemacht. Die „Dalton-Methode“ z. B., mit der eine Schule zweimal täglich freien Zugang zu sich jeweils neu um einen Lehrer bildende „Lerngemeinschaften“ schafft, wird ausgezeichnet. Das Prinzip wird nicht näher gekennzeichnet, dafür aber die Lebendigkeit der Schüler gezeigt, die auch ohne diese Methode zu filmen wäre. Die Videos sollen als Appetizer dienen, man kann sich, wenn man will, über die Arbeit der Schule auch an anderer Stelle schlauer machen. Daneben werden Auszüge aus den Laudationes mitgeteilt, die wohl als solche die Pointe dessen enthalten sollen, warum die Jury diese Schule ausgezeichnet hat. Der Sieger der letzten Ausschreibung bewies, dass es möglich ist, niemanden zurückzulassen. Die intensive Bemühung auch um die schwachen Schüler führt dazu, dass kein Schüler die Siegerschule ohne Abschluss verlässt. Das ist als möglicher Erfolg der pädagogischen Arbeit tatsächlich preisenswert. Das Warum und wie es gelingt, wird aber nur am Rande gestreift. Wichtiger als die Darstellung ist das modellhaft Dargestellte, die Hervorhebung eines Helden für die allgemeine Programmatik, die mit der Bush-Regierung zu Bildungsstandards geführt hat. Der Preis soll viele andere Schulen ermutigen, dasselbe zu versuchen. Fast schon augenzwinkernd versichert die Schule dazu, dass sie sehr wohl wisse, dass sie darin noch besser werden könne. Der nachgeordnete Preisträger wird dafür gelobt, dass die Jury vor Ort vielfältige Bemühungen beobachten konnte, die um die vier „big points“ der Qualität: Diagnose, Förderung, Kompetenzorientierung und nachhaltige Qualitätsentwicklung kreisen. Hier wird eine Schule mit einer Begründung ausgezeichnet, die genau dem entspricht, was Schulentwicklungsagenten für entscheidend halten, die aus der Verbindung aus Management und Psychometrie den Weg zur Optimierung schmieden. Diese Schule erfüllt die Reformagenda auf exemplarische Weise, weswegen sie einen Preis von denen verdient hat, die die Agenda propagieren. Das wiederholt sich bei einem weiteren Preisträger. Die Laudatio enthält für die Grundschule die beiden Etiketten: Inklusion und kompetenzorientierte Wochenpläne. Den Preis der Jury erhält eine private berufliche Schule im Bereich der Ausbildung für Altenpfleger, Sozialassistenten, Erzieher. Das Problem, auf das diese Schule in den neuen Bundesländern erfolgreich reagiert hat, wird dadurch spezifiziert, dass in diese Schule viele Schüler mit „gebrochenen Biografien“ gehen, die dann aber eine erfolgreiche Ausbildung absolvieren. Die Schule konnte sie zu 100 % für die Übernahme auf dem Arbeitsmarkt qualifizieren, womit diese Initiative zeigt, wie (auch) in privater Trägerschaft Berufsbildung etwas erreichen kann für eine strukturschwache Region, die u. a. mit hoher Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen hat.
68
Bildung an ihren Grenzen
Vergleicht man die Siegerlisten der Jahre seit 2006, so fällt auf, dass viele der in jenem Netzwerk „über den Zaun“ aktiven Schulen Preise erhalten haben. Aber die Jury war immer auch bemüht, den Eindruck zu vermeiden, die eh schon als besonders gut bekannten Schulen würden den Sieger unter sich ausmachen. So werden eher Schulen mit dem ersten Preis bedacht, die als Überraschung gelten können. Damit wird signalisiert, dass es im weitgehend Unbekannten an vielen Stellen Schulen gibt, die sich selbständig auf den Weg zur Exzellenz gemacht haben. Sodann fällt auf, dass die Jury den Schwerpunkt auf Grundschulen und integrierte Sekundarstufen legt, deswegen aber doch auch solche Schulen auszeichnet, die als Form und Stufe nicht schon automatisch für Reform stehen. So wird immer auch ein Gymnasium und nun auch eine berufliche Schule ausgezeichnet. Man kann sich vorstellen, dass alle die sechs Kriterien signifikant erfüllen. Auffällig ist, dass in den Begründungen aber nicht die innere Qualität des Unterrichts gewürdigt wird, sondern vor allem die Abdrücke, die die Vorstellungen von der Schulentwicklung in den Schulen gefunden haben.
VI.
Die Selektivität des Blicks auf Qualität hat kürzlich den Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes zu einem Vorschlag motiviert: Die „weichen Kriterien wie Schulklima und Vielseitigkeit“ mögen geschwächt werden, während die „Lernerfolge und Unterrichtsqua lität schärfer und objektivierbarer gefasst werden“ (Deutscher Philologenverband 2014, online) sollten. Würde man dies nicht tun, könne der Kreis der möglichen Gewinnerschulen bald erschöpft sein. Dahinter steckt wohl die Skepsis, ob eine Schule, in die Schüler und Lehrer gerne gehen würden, immer auch eine gute Schule ist, ob sie die Schüler wirklich zu Leistungen herausfordere. Ein Vorbehalt gegenüber den neuen Zaubermitteln der Unterrichtsdurchführung meldet sich an angesichts der Erfahrung, dass erst anspruchsvolles Lehren und Lernen wirklich Erfolge erbringt und dass diese nicht beliebig verallgemeinerbar sind. Sodann wird mit dem Vorschlag daran erinnert, dass Schule vor allem als Anstalt der Vermittlung des Weltwissens notwendig ist. Dagegen herrscht in vielen Schulen die Tendenz vor, Pro bleme, die im fachlichen Lernen entstehen, dadurch zu überholen, indem Schule zum Ort der vielfältigsten Aktivitäten wird. Schon in den Schulprogrammen zeigten sich die Schulen nicht optimierungshungrig bezogen auf den Kern des Unterrichtens, sondern überall dort, wo jenseits von ihm Attraktivität entstehen soll: mit Projekt-, Euro-, Methoden wochen, mit Festen und Feiern, Austauschen, außerschulischen Aktivitäten etc. Damit will der Vertreter der Gymnasien an die Vorstellung von guter Schule wieder er innern, die einmal das Proprium eben dieser Schule gewesen sei. Deutlich wird so, dass es Alternativen gäbe zu den bislang in Geltung gebrachten Kriterien. Das würde auch bedeuten, dass andere zu urteilen hätten über die Qualität von Schulen. Aber dieser Vorschlag ist rein immanent gedacht. Er nimmt als gegeben und konstant hin, was sich in jüngster Zeit mit dem Instrument der Preisverleihung auch über die Päda-
Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung
69
gogik und ihre Institutionen gelegt hat. Sinnvoller wäre vielleicht darüber nachzudenken, ob die Kollateralschäden dieser Wettbewerbe und der Eventkultur nicht größer sind als der erhoffte Effekt, nämlich Verbesserungen in der Schule, die diese unzweifelhaft nötig hat, auf den Weg zu bringen. Vielleicht sollte man Formen erfinden, mit denen jenseits des Preiszirkus Schulen darstellen können, wie sie sich die Lösung ihrer Probleme vorstellen, auch damit andere Schulen davon profitieren können. Wenn heute jemand mit einem besonderen Problem, etwa der Reparatur seines alten Rasierapparates oder der Funktionsweise seines neuen Tablets und der Programme beschäftigt ist, geht er ins Internet und sucht nach der Gemeinschaft der Gleichen. Er findet sie und es entsteht ein zwangloser Austausch, der dabei hilft, das jeweilige Problem un eigennützig zu lösen. Das geschieht in der ganzen Vielfalt von Problemen ohne jede Inszenierung als besonders gute Praxis. Das Interesse bleibt sachlich gebunden, es wird nicht abgelenkt durch Wettbewerbe. Wenn das Problem gelöst ist, preist das Werk seinen Meister. Das Geld, das die Stiftungen in den „Deutschen Schulpreis“ stecken, sollte vielleicht besser in die Förderung solcher Foren investiert werden. Angesprochen wären so die Experten, die wirklich etwas von der Sache verstehen und nicht diejenigen, die über andere von höherer Warte aus urteilen. Jeder ist bereit, sein Wissen zu teilen und denen zu helfen, die sich selbst nicht zu helfen wissen. Lerngemeinschaften auf Zeit würden aufblühen in der freien Assoziation ohne reglementierende Ansagen dessen, was man von anderen erwartet. Vielleicht ist diese Idee irgendwann noch einmal preiswürdig?
Literatur Der Deutsche Schulpreis (2014): Auswahlkriterien. Online: www.schulpreis.bosch-stiftung. de / content / language1 / html / 8779.asp. Download am 31. 03. 2014. Deutscher Philologenverband (2014): Gratulation für Gewinner des deutschen Schulpreises. Online: www.dphv.de / a ktuell / nachrichten / details / article / g ratulation-fuer-gewinner-des-deutschen-schulpreises.html. Download am 31. 03. 2014.
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte – Eine bio-bibliografisch-thematische Spurensuche1 von Klaus-Peter Horn
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte
Wer ist eigentlich Lothar Wigger? Wo kommt er her? Womit hat er sich beschäftigt bzw. beschäftigt er sich aktuell? Wie kann man dies erfahren, ohne Lothar Wigger persönlich zu fragen? Und: Was erfährt man auf diese Weise über ihn? Dies waren die Ausgangsfragen für den folgenden Beitrag, in dem der über Lothar Wigger Bescheid wissende Autor künstlich die Perspektive des Unwissenden einnimmt.2 Der damit ermöglichte „fremde“ Blick entspricht dem der Biografieforschung, wenn über Erzählungen und Dokumente ein fremdes Leben erschlossen werden soll. Auf Erzählungen wird im Folgenden nicht zurückgegriffen, sondern ausschließlich auf öffentlich zugängliche Materialien, die hier als Ego-Dokumente3 in Anspruch genommen werden. Zunächst werden die biografischen Stationen Lothar Wiggers anhand dieser öffentlich zugänglichen Texte rekonstruiert, und danach die Themenschwerpunkte seiner wissenschaftlichen A rbeit in den Blick genommen.
1.
Biografisches
Heutzutage geht man zur Informationssuche zunächst ins Internet. Auf der Homepage der Professur erhält man zwar schon einige Auskünfte, insgesamt erfährt man allerdings doch relativ wenig über den Werdegang Lothar Wiggers: die Institution, an der er derzeit tätig ist, und die Anschrift, die Sprechzeitentermine und die aktuellen Lehrveranstaltungen, prüfungsrelevante Informationen sowie eine Liste ausgewählter Publikationen. Zum Werdegang werden keine Informationen gegeben. Dafür muss man sich an andere einschlägige Quellen wie Kürschners Gelehrtenkalender halten, der den Werdegang in der dort üblichen knappen Form folgendermaßen abbildet: „Laufbahn: Prom. U Bonn 81, Wiss. Angest. U Bonn, U Bielefeld, HU Berlin 81–94, Habil. U Bielefeld 96, VertrProf. H Vechta, U Münster, U München 95–97, UProf. H Vechta 97–2000, U Dortmund seit 2000“ (Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender Online 2011).
72
Bildung an ihren Grenzen
Selbstverständlich findet man auch dort die aktuelle Dienstanschrift an der TU Dortmund und eine Auswahlbibliografie sowie die folgende Angabe: „Fachgebiete: Erziehungswissenschaften“ [sic!]. Nun konnte man schon einiges über die Person in Erfahrung bringen, aber wichtige Daten, wie das Geburtsdatum und der Geburtsort, die normalerweise auch im Kürschner stehen, sind noch unbekannt, weil sie bei dem Personeneintrag „Wigger, Lothar“ fehlen. Ersteres ist angesichts der Tatsache des Symposions zum 60. Geburtstag 2013 nicht schwer zu erraten, zumindest das Jahr: 1953. Das genaue Datum freilich und den Geburtsort findet man erst in einer dritten Quelle: der Dissertation. Hier heißt es dann: „30. 6. 1953 ge boren […] in Mönchengladbach“.4 1953 amtlich noch München-Gladbach geheißen, liegt der Geburtsort Mönchengladbach im Rheinland und ist den meisten, selbst den nicht Fußballinteressierten, zumindest dem Namen nach wahrscheinlich durch den Fußballverein Borussia Mönchengladbach ein Begriff, manchen vielleicht auch durch die Tatsache, dass dort von 1890 bis 1933 der „Volksverein für das katholische Deutschland“ (vgl. Klein 1996) seinen Sitz hatte, wieder anderen eventuell durch den 50 Jahre vor Lothar Wigger dort geborenen Philosophen Hans Jonas (der auch noch auf dem gleichen Gymnasium sein Abitur abgelegt hat); den meisten aber dürfte die Stadt selbst mit großer Wahrscheinlichkeit eher unbekannt sein – und ob man sie, außer als Fußballfan, besuchen sollte? Vielleicht wegen des Museumsbaus von Hans Hollein …? Im gerade genannten katholischen „Volksverein“ war u. a. der katholische Priester und Pädagoge Anton Heinen (vgl. Kuhne 1983) aktiv, der der damit als katholisch geprägt ausgewiesenen Grundschule den Namen gab, die Lothar Wigger von 1959 bis 1963 besuchte, bevor er anschließend bis 1971 das Stiftische Humanistische Gymnasium absolvierte, ursprünglich ebenfalls eine katholische Gründung und erst ab 1969 / 70 koedukativ.5 Aus diesen Daten lässt sich auf ein Aufwachsen im katholischen Milieu schließen, das sich im weiteren Werdegang und in den thematischen Schwerpunktsetzungen von Lothar Wigger aber nicht weiter bemerkbar macht. Mit noch nicht einmal 18 Jahren, ermöglicht durch die zur Angleichung der Schuljahresanfänge eingeführten zwei Kurzschuljahre 1966 / 67, legte Lothar Wigger im Mai 1971 das Abitur ab – im Rückblick angesichts seines philosophischen Ansatzes überraschenderweise im neusprachlichen Zweig, also ohne Griechisch –, und drei Monate und einen Tag nach seinem 18. Geburtstag nahm er ohne den Umweg über Wehr- oder Zivildienst zum Wintersemester 1971 / 72 das Studium für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Pädagogik und Sozialwissenschaften sowie Philosophie an der Universität Bonn auf – mithin zumindest regional immer noch im katholischen Milieu verbleibend. Sechseinhalb Jahre danach folgte Anfang 1978 die 1. Staatsprüfung in den beiden zuerst genannten Fächern – die Erweiterungsprüfung in Philosophie fand Anfang 1982 statt, woran sich nicht das Referen dariat anschloss, sondern aufgrund fehlender Angaben im Lebenslauf eine Lücke von sieben Monaten und 19 Tagen auftut. [Man kann spekulieren, was in dieser Zeit war, von Reisen bis Geld verdienen. Mit Blick auf das gleich folgende Graduiertenstipendium liegt die Vermutung nahe, dass die Zeit der Abfassung eines entsprechenden Antrags gewidmet war.] Ab
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte
73
1. 10. 1978 sind die Stationen dann wieder dokumentiert: Graduiertenförderung für die A rbeit an der Dissertation, ab 1. 8. 1980 Wissenschaftliche Hilfskraft, ab 1. 3. 1981 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn bei Rudolf Lassahn; in dieser Zeit erfolgte auch am 20. 5. 1981 die Promotion bei Josef Derbolav mit der Arbeit über „Handlungstheorie und Pädagogik“. Dies ist dann auch noch der Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Dissertation 1983. Wie es danach weiterging, zeigt die kurze Übersicht aus dem Kürschner. Diese Angaben lassen sich anhand der Autorenspiegelangaben zu Lothar Wigger in verschiedenen Publikationen6 etwas präzisieren. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre findet man Lothar Wigger nicht mehr in Bonn, sondern in Bielefeld, wo er von 1987 bis 1991 im DFG-Projekt „Bielefelder Katalog Pädagogischer Argumente“ (BIKAPA) unter der Leitung von Harm Paschen mitarbeitete. Aus diesem Projektzusammenhang heraus ergab sich das methodisch und inhaltlich anschließende Folgeprojekt EUDIS, „Einheitlichkeit und Differenzierung im Schulwesen“, das – wie so viele nach 1989 / 90 – den Osten Deutschlands mit in den Blick nahm. Im Rahmen dieses Projekts, das ebenfalls von Harm Paschen geleitet und in Kooperation mit Heinz-Elmar Tenorth an der Humboldt-Universität durchgeführt wurde, wechselte Lothar Wigger [hier muss ich ausnahmsweise eine Information nutzen, die nicht aus den Quellen erschließbar ist] aufgrund der auch schon „damals“, vor dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz, begrenzten Fortsetzungsmöglichkeiten der Beschäftigung innerhalb eines Bundeslandes stellentechnisch nach Berlin an die Humboldt-Universität, wo er sich dann auch entsprechend oft aufhielt. Der Projektmitarbeiterphase schloss sich 1994 / 95 ein Habilitationsstipendium der DFG an. Als 1995 Anfragen wegen der Vertretung einer Professur kamen, nahm Lothar Wigger diese Möglichkeiten wahr und ging zuerst nach Vechta, dann nach Münster und schließlich nach München. Dieser unsteten Zeit, in der er 1996 auch noch die Habilitation („Zur Theorie des pädagogischen Argumentierens“) an der Universität Bielefeld erfolgreich über die Bühne brachte, folgte ab 1997 insofern eine etwas ruhigere Phase, als es wieder nach Vechta ging, diesmal aber für einen längeren Zeitraum als ordentlicher Professor – störend war eigentlich nur die Pendelei zwischen Vechta und dem Ruhrgebiet, wo Lothar Wigger in dieser Zeit seinen Hauptwohnsitz hatte, wie man 1995 einer Autorennotiz mit Angabe der Privatanschrift (Bochum, Stockumer Straße) entnehmen kann, die aber zum 1. Oktober 2000 mit der Übernahme des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der (damals noch) Universität Dortmund ein Ende fand. Fasst man alles bis hierhin zusammen, kommt etwa Folgendes dabei heraus: in jungen Jahren Abitur gemacht, rasch das Studium begonnen, etwas dabei gebummelt, aber dann trotzdem schon mit knapp 28 Jahren promoviert – und das alles ganz ohne die nach G8 verkürzte Gymnasialzeit (aber mit Kurzschuljahren) und ohne B. A .- / M. A .-Studiengänge (aber mit Graduiertenförderung) –, danach etwas lockergelassen und 15 Jahre gebraucht bis zur Habilitation, der wiederum schnell die erste Professur folgte.
74
Bildung an ihren Grenzen
2.
Bibliografisch-Thematisches
Soweit zu den äußeren Daten. Es soll hier aber nicht nur um die Lebensdaten gehen, sondern auch etwas zu den – zumindest den wissenschaftlichen – Lebensthemen gesagt werden. Ohne zu tief in die Details der Schriften einzudringen, können in einem Überblick über die Themen Tendenzen erkannt werden. Das im Internet verfügbare Programm Wordle7 z. B. kann Tendenzen mit aus den einzelnen Wörtern durch reine Häufigkeitsauszählung erstellten „Wörterwolkengrafiken“ grafisch veranschaulichen:
Abb. 1: Titelbegriffe aus den Abhandlungen und Büchern Lothar Wiggers.
Offenbar sind es Fragen der Erziehungswissenschaft resp. der Pädagogik im Ganzen und nicht die einer Teildisziplin oder eines begrenzten Themenfeldes, die Lothar Wigger zentral beschäftigt haben und beschäftigen. Wären die Wörter jeweils mit einem Zeitindex ver sehen, könnte man feststellen, was sich auch beim Blick auf die Veröffentlichungsliste zeigt: Der Begriff Erziehungswissenschaft ist in den frühen Jahren selten bis gar nicht zu finden und taucht erst seit etwa 1994 vermehrt auf; die gegenteilige Entwicklung ist bei der Nutzung des Begriffs Pädagogik festzustellen, ohne dass dieser Begriff ganz verloren geht. Das Hauptthema innerhalb der Erziehungswissenschaft / Pädagogik wiederum ist Bildung, Bildungstheorie, Bildungsforschung. Danach rangiert das Themenfeld Argumentationsforschung (Stichwörter: Argument / e, Argumentation, Argumentationsanalyse / argumenta
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte
75
tionsanalytisch), unmittelbar gefolgt von Beiträgen zu Hegel. Die dritte Gruppe umfasst die Themenfelder Didaktik, Erziehung und Kerncurriculum, wobei Letzteres, wenn man es um die Stichwörter Studium und Studiengänge sowie Lehrerbildung ergänzt, als eigene Themengruppe „Studium“ sogar den Aufstieg in die zweite Ranggruppe schafft. Schließlich sind noch die beiden Wörter Ethik und Derbolav nennenswert als Kennzeichnungen für häufiger vorkommende Themen von Beiträgen. Man erkennt also die Themen wieder, zu denen Lothar Wigger immer wieder publiziert hat, und dass er sich mit diesen Themen im Zentrum der Allgemeinen Erziehungswissenschaft bewegt hat und bewegt. Dennoch wird die / der kundige LeserIn sich jetzt vielleicht fragen, wozu die Spielerei mit den Wörtern nötig ist, wenn man ohnehin nur das findet, was man schon vermutet hat. Aber: Nicht jede Bemühung um Erkenntnis fördert eine völlig neue zutage; manchmal ist man ja schon froh, wenn die Vorurteile bestätigt werden. Diese Vorurteile werden auch bestätigt, indem man sich die Personen ansieht, mit denen sich Lothar Wigger explizit, d. h. bereits an den Titeln von Publikationen erkennbar, befasst hat. Hier ist, wie schon gesagt, Hegel an erster Stelle vor Josef Derbolav zu nennen, während die anderen Personen – Adorno, Baudelaire, Bourdieu, Humboldt – je einmal in den Titeln der Abhandlungen vorkommen, wobei bei Lektüre des Baudelaire-Aufsatzes auffällt, dass auch hier zu weiten Teilen Hegel thematisiert wird. Überhaupt kann man festhalten, dass mit Derbolav und Hegel die beiden prägenden Denker im Werk Lothar Wiggers repräsentiert sind. Sie kommen noch weitaus häufiger als Referenzen in den Texten vor. Hat man einmal das Programm Wordle als „Spielzeug“ entdeckt, ist man geneigt, damit weiterzuspielen. Darum präsentiere ich im Folgenden noch drei weitere „Wörterwolken“, in die ich eine andere Abbildung einstreue. Ich habe, wie oben bereits erwähnt, für die biografische Rekonstruktion u. a. die Autorenspiegel der Bücher genutzt, in denen Lothar Wigger als Autor vertreten war, die meist neben kurzen Notizen zur Person auch Angaben zu den Arbeits- oder Forschungsschwerpunkten enthalten. Auch diese lohnt es, sich näher zu betrachten, bieten sie doch die Möglichkeit, die Selbstauskünfte der Personen über ihre Hauptinteressensgebiete zu analysieren. In 29 Autorenspiegeln von 1992 bis 2012 habe ich solche Angaben zu Arbeitsschwerpunkten von Lothar Wigger gefunden. In der folgenden Wordle-Grafik kann man erkennen, dass die Schwerpunkte Bildungstheorie und Bildungsforschung den Hauptteil der Angaben in den Selbstzuschreibungen darstellen, genauer gesagt: in allen 29 Selbstzuschreibungen wird Bildungstheorie (einmal als Bildungsphilosophie) als Gegenstand des Interesses genannt. Den zweiten großen Block bilden das Themenfeld der Wissenschaftstheorie und Methodologie sowie der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte, das in 26 der 29 Selbstzuschreibungen genannt wird. Insgesamt 18-mal wird die pädagogische Ethik, davon 14-mal in enger Verbindung mit pädagogischer Handlungstheorie aufgeführt, 13-mal die Argumentationstheorie und -analyse sowie neunmal die Erziehungstheorie. Auch hier wird man zunächst nicht unbedingt überrascht sein, allenfalls von der Stringenz, mit der Lothar Wigger diese Selbstzuschreibungen über die Jahre gemacht hat – aber man weiß ja, dass eine einmal gefundene Formulierung gern beibehalten wird – manchmal möglicherweise auch dann noch, wenn sich das Profil geändert hat. Andererseits kann eine Änderung
76
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 2: Begriffe aus den Selbstbeschreibungen Lothar Wiggers.
der Selbstzuschreibungen auch eine Entwicklung abbilden. Dies scheint mir im Falle Lothar Wiggers gegeben zu sein. Denn es gibt hier Überraschendes im Kleingedruckten der Wordle-Grafiken zu vermerken. So kommt die Biografieforschung, mit der Lothar Wigger seit einiger Zeit stark verbunden wird, in nur zwei der 29 Selbstbeschreibungen vor. Und während die (Allgemeine) Didaktik bei den Schriften recht prominent auftaucht, wird sie hier ebenfalls nur zweimal als Schwerpunkt genannt. Weiterhin tauchen als Schwerpunkte, freilich ebenfalls relativ selten, auf: die Familienforschung (2×), die Allgemeine Pädagogik resp. Systematische Pädagogik (2×), die Reflexive Erziehungswissenschaft sowie „Theorien des Unterrichts“ (je 1×). Um das Ganze etwas übersichtlicher zu gestalten, habe ich unter Inkaufnahme von Informationsverlusten hinsichtlich der konkreten Schwerpunktnennungen die Wörterliste aus den Selbstzuschreibungen in einem zweiten Schritt etwas vereinfacht, indem ich die Begriffe auf den jeweiligen Wortstamm reduziert habe. Hier wird die gerade berichtete Reihenfolge anhand der Grundwörter – Bildung, Wissenschaft, Ethik, Handlung, Argumentation und Erziehung sowie einigem weiterhin sehr Kleingedruckten noch einmal deutlich. Diese Schwerpunktnennungen sind in sich sehr konsistent, aber es gibt doch eine gewisse Besonderheit, wenn man sie im Zeitverlauf betrachtet. Vielleicht ist es zu weit
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte
77
Abb. 3: Kernwörter aus den Selbstbeschreibungen Lothar Wiggers.
gegriffen, wenn man angesichts der Veränderung, die dann sichtbar wird, von einer Suchbewegung des Autors spricht. Aber auffällig ist die Zeitfolge allemal, wie an der folgenden Abbildung zu sehen ist:
Abb. 4: Kernwörter aus den Selbstbeschreibungen Lothar Wiggers im Zeitverlauf.
In der Darstellung der Schwerpunktnennungen im Zeitverlauf, die mit ihren Spitzen an Kirchenbauten oder spitzgiebelige Fachwerkhäuser erinnert, ist zunächst zu erkennen, dass die Schwerpunktnennungen „Bildung …“ – die Fassade im Vordergrund – sich von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein durchgängig finden. Man erkennt auch, wenn man die zweite Fassade betrachtet, dass diese mit „Wissenschaft …“ benannte Themenreihe
78
Bildung an ihren Grenzen
zwar auch fast durchgängig vorhanden ist, gegen Ende der bisher vorliegenden Publikationen aber abnimmt – sie wird nicht mehr in allen Publikationen genannt, selbst da nicht, wo es, wie bei der Autorennotiz im Datenreport Erziehungswissenschaft 2012, naheliegend wäre. Die beiden dahinterliegenden Fassaden signalisieren die zwar regelmäßig, aber doch auch immer wieder mit Lücken genannten Bereiche der „Argumentation …“ und der „Ethik / Handlungstheorie“, die zuletzt nicht mehr so regelmäßig präsent sind. Der Wegfall dieser beiden Schwerpunkte wird durch neue kompensiert. Blickt man näher auf diese neuen Schwerpunkte in den beiden hinteren Reihen, wird sichtbar, dass diese erst in den letzten Jahren – genauer seit 2006 – nennenswert auftauchen. „Erziehung …“ – vorletzte Fläche – wird seit 2006 fast durchgängig genannt, nachdem dieser Bereich vorher nur einmal im Jahr 1999 angegeben worden war. Und die anderen, in den vorherigen Abbildungen noch kleiner gedruckten und hier gemeinsam – in der letzten Reihe abgebildeten – Themenfelder sind ebenfalls erst seit 2006 vorhanden, sieht man von der einmaligen Nennung „Allgemeine Pädagogik“ im Jahr 1994 ab. Deutet sich hier eine Verschiebung in den Schwerpunkten an oder handelt es sich lediglich um Ergänzungen und eine leichte Diversifizierung? Letzteres könnte man vermuten, wenn man bedenkt, dass es sechs verschiedene Themenbenennungen sind, die seitdem das zuvor so einheitliche Bild des Forschers Lothar Wigger stören. Manche der „neuen“ Schwerpunkte sind wahrscheinlich aktuellen Publikationen zu verdanken: der Verweis auf die „Allgemeine Didaktik“ z. B. den Beiträgen in Wörterbüchern (Benner / Oelkers 2004) und Lexika (Horn u. a. 2011), allerdings mit gewissen Verzögerungen; die „Familienforschung“ ist wohl dem Beitrag „Von der Erziehung zur Beziehung? Zum Wandel der Familienerziehung“ von 2006 zu verdanken; die Biografieforschung wurde in den letzten Jahren bedeutsamer, als empirisches Projekt und im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das Spannungsverhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung (Wigger / Equit 2010; Wigger 2004), und der Verweis auf die „Theorie des Unterrichts“ erfolgt etwa in der Zeit der Publikation eines einschlägigen Aufsatzes in der „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik“ zum schulischen Unterricht 2009 (Wigger 2009). Vielleicht ist es also doch mehr als eine bloße Diversifizierung, vielmehr eine Suche und eine Art „Neuerfindung“ von Lothar Wigger als Forscher? Eine Art Neuerfindung hat es schließlich bereits an zwei anderen Stellen gegeben, was man in einem Fall allerdings nur erkennen kann, wenn man wieder die vollständigen Schwerpunktbezeichnungen im Längsschnitt betrachtet. So wird innerhalb der Nennungen zu „Wissenschaft …“ die anfangs regelmäßig auftauchende Angabe „Wissenschaftstheorie und Methodologie der Erziehungswissenschaft“ ab ca. 2000 von der zuvor nur vereinzelt auftretenden Angabe „Wissenschaftsforschung“ (oft verbunden mit „Wissenschaftsgeschichte“) zwar nicht vollständig abgelöst, verliert aber doch ihren zentralen Stellenwert (bis 1999 ist das Verhältnis der beiden Angaben 8 : 3, im Jahr 2000 2 : 3, ab 2002 dann 4 : 15). In gewisser Weise lässt sich dies als empirische Wendung von der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaftsforschung begreifen. Für den Schwerpunkt „Handlungstheorie und Ethik“ wird ab 2006 der offensichtlich als funktionales Äquivalent zu verstehende Schwerpunkt „Erziehungstheorie“ genutzt, wofür auch spricht, dass diese beiden Angaben lediglich dreimal gemeinsam auftauchten.
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte
79
Abb. 5: Namen der Co-Autoren bzw. Co-Herausgeber von Lothar Wigger.
Man kann auf dem hier gewählten Weg einiges über Lothar Wigger, seinen Werdegang und die Themen, mit denen er sich schwerpunktmäßig befasst hat, in Erfahrung bringen. Doch gibt es auch Grenzen: Die Qualität seiner Arbeiten kann so nicht erfasst werden [aber die hohe Qualität steht für mich ohnehin außer Frage]; auch ist die Stellung des Autors in der Disziplin auf dieser Basis nur sehr vermittelt in den Blick zu bekommen, die u. a. durch eine Rezeptionsanalyse (wie sie Lenzen 2001 für einen anderen Jubilar, Dietrich Benner, vor gelegt hat) oder eine Analyse von persönlichen bzw. Karrierebeziehungen in den Blick genommen werden können (wie sie Hollstein / Schütze 2004 und 2002 anhand von Danksagungen und Widmungen durchgeführt haben), aber auch durch eine Analyse der Mitherausgabe von oder Autorschaft in Festschriften. Hier sollen abschließend noch kurz die Vernetzungen von Lothar Wigger anhand der Co-Autoren- bzw. Co-Herausgeberschaften gezeigt werden, die eine erste Annäherung an eine Netzwerkanalyse möglich machen.
80
Bildung an ihren Grenzen
Mit der Abbildung will ich es aber bewenden lassen, die Netzwerkanalyse bleibt anderen vorbehalten.
Literatur Benner, D. / Oelkers, J. (Hrsg.) (2004): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Verlag. Hollstein, B. / Schütze, Y. (2004): Selbstdarstellungen in der Wissenschaft am Beispiel von Danksagungen in der Soziologie. In: Zeitschrift für Pädagogik, 48. Beiheft, S. 153–181. Hollstein, B. / Schütze, Y. (2002): „Für C.“ – Widmungen in der Soziologie. In: Burkart, G. / Wolf, J. (Hrsg.): Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen. Opladen: Leske + Budrich, S. 437–457. Horn, K.-P. / K emnitz H. / M arotzki, W. / Sandfuchs, U. (Hrsg.) (2011): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Klein, G. (1996): Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890–1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang. Paderborn u. a.: Schöningh. Kuhne, W. (1983): Christliche Erwachsenenbildung. Der pädagogische und andragogische Entwurf Anton Heinens. Paderborn: Schöningh. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender Online 2011–13. http: / / rzblx10.uni-regensburg.de / dbinfo / warpto.php?bib_id=subgo&color=4&titel_id=10335&url=http%3A%2F%2Fhan.sub.unigoettingen.de%2Fhan%2FKrschnersDeutscherGelehrten-Kalender, eingesehen am 25. 06. 2013. Lenzen, D. (2001): Dreißig Jahre Benner. Eine bibliometrische Analyse der Rezeption von Schriften Dietrich Benners in der Zeitschrift für Pädagogik von 1970 bis 2000. In: Hellekamps, S. / Kos, O. / Sladek, H. (Hrsg.): Bildung, Wissenschaft, Kritik. Festschrift für Dietrich Benner zum 60. Geburtstag. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 254–276. Wigger, L. / Equit, C. (Hrsg.) (2010): Bildung, Biografie und Anerkennung. Interpretationen eines Interviews mit einem gewaltbereiten Mädchen. Opladen: Verlag Barbara Budrich. Wigger, L. (2009): Über den schulischen Unterricht. Kritische Überlegungen zu seiner Reflexion, seinen Zielsetzungen und einigen seiner Effekte. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 85. Jg., Heft 4, S. 456–475. Wigger L. (2004): Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lage beschreibung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 80. Jg., Heft 4, S. 478–494.
Inazo Nitobe (1862–1933) und die Widersprüche der japanischen Modernisierung: Ein Leben zwischen dem Fremden und dem Eigenen Von Toshiko Ito
1.
Einleitung: Biografieforschung und Bildungstheorie Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
Die Biografie liefert der Bildungsforschung reiche Ansätze. Die Biografie, die sich „strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene“ ansiedelt, ermöglicht es uns, „Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld subjektiver und objektiver Analyse zu erfassen“ (Krüger / M arotzki 2006, S. 8). Die Bio grafieforschung, ein „Forschungsfeld mit theoriegenerierender Kraft“ (ebd.), enthält mithin „Anregungspotentiale für die theoretische Weiterentwicklung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und für die empirische Bearbeitung philosophisch-grundlagenorientierter Fragestellungen“ (ebd.)1. Lothar Wigger weist jedoch darauf hin, „dass die bildungstheoretische Biografieforschung bisher noch ‘zu wenig’ bildungstheoretisch ist“ (Wigger 2004, S. 486)2. In der Biografieforschung dominiert, seines Erachtens, tendenziell die Frage, „wie Subjekte mit ihren Erfahrungen umgehen oder sich in der Welt orientieren“ (ebd., S. 490), dies auf Kosten der Frage, „was die biografischen Erfahrungen über die Welt, ihre Gesetze, Strukturen und Institutionen erfahren lassen“ (ebd.). Wigger lenkt dabei unsere Aufmerksamkeit auf die klassische Bildungstheorie, denn diese „thematisierte die wechselseitige Konstitution von Individuum und (sozialer) Welt und fragte nach den Bedingungen der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität“ (ebd.). Der vorliegende Beitrag prüft die Biografie von Inazo Nitobe (1862–1933), der kurz nach der japanischen Landesöffnung (1858) – also in einem Zeitalter tiefgreifender Neuorientierung – die Gestaltung des neuzeitlichen Bildungskonzeptes Japans maßgeblich beeinflusste. Nitobe erlangte 1900 weltweite Berühmtheit als Autor von Bushido: The Soul of Japan – einer auf Englisch verfassten Einführung in die japanische Kultur. Er amtierte dann als Vizegeneralsekretär des Völkerbundes zwischen 1920 und 19263 und wurde 1922 Gründungsdirektor der Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit (heute: UNESCO). Nitobe, der in Bushido nachdrücklich die Übereinstimmungen zwischen der westlichen und der japanischen Sittlichkeit beteuert hatte, begann später – besonders nach
82
Bildung an ihren Grenzen
der Mandschurei-Krise (1931) – die Besonderheit des Japanischen zu unterstreichen. Er scheute sich auch nicht, dem Japanischen das Westliche entgegenzustellen. Auch den Austritt Japans aus dem Völkerbund unterstützte er aus dem Grund, dass der Entschluss der westlichen Länder, den pro-chinesischen Bericht der Lytton-Kommission anzunehmen, aus Ignoranz der Lage Ost-Asiens entsprungen sei (vgl. Nitobe 1933c, S. 454). Nitobes w idersprüchlich erscheinende Haltung brachte manche seiner westlichen Freunde in Verlegenheit. Aufschlussreich ist hierbei, was Nitobes biografische Erfahrung über die japa nische Modernisierung besagt. Nitobe verbrachte sein Leben zwar als international renommierter Schriftsteller und als Fuktionär internationaler Organisationen, er war aber in erster Linie Lehrer an verschiedenen Bildungsstätten in Japan: Bushido war die Frucht seines kalifornischen Kuraufenthalts nach dem gesundheitlich begründeten Rücktritt von seinem ersten Lehramt an der Landwirtschaftshochschule Sapporo. Während seiner gesamten Amtszeit als Vizegeneralsekretär des Völkerbundes trug er zudem den Titel eines Professors an der Kaiserlichen Univer sität Tokio. Die Deutung, wie die Struktur der japanischen Modernisierung zum einen in Nitobes Worten im Werdegang zum Lehrer und zum anderen in Nitobes Worten als Lehrer – insbesondere bei der Konzipierung der Bildung für die folgenden Generationen – zu erfahren ist, sollte schließlich zum Verständnis seiner widersprüchlich erscheinenden Haltung beitragen. Im Folgenden arbeite ich das Bildungskonzept bei Nitobe heraus, das die westlich orientierte Bildung und die – angeblich – japanisch orientierte Bildung konfliktfrei u nter einen Hut zu bringen vorgab.
2.
Bildungstheorie: Widerspruch als Bestandteil der Bildung
Die klassische Bildungstheorie, die Wigger als Grundlage der Biografieforschung anführt, reifte bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) aus (Wigger 2006, S. 92)4. Nach Hegel, der das Individuum „nur als Akzidens“ (Hegel 1970c, S. 78) und die Welt hingegen als das „Substantielle“ (ebd.) betrachtet, befähigt die Bildung als ein „immanentes Moment des Absoluten“ (Hegel 1970b, S. 345) das Individuum sowohl durch die Aneigung der Welt als auch durch den Dienst in der Welt dazu, „dem öffentlichen Leben“ (Hegel 1970a, S. 352) anzugehören. Das Leben, das im Kindesalter – der „Zeit der natürlichen Harmonie, des Friedens des Subjekts mit sich und mit der Welt“ (Hegel 1970c, S. 77) – gegensatzlos seinen Anfang nimmt, endet im Greisenalter, das ebenfalls gegensatzlos erscheint. Im Jünglings alter und Mannesalter steht jedoch der Widerspruch im Vordergrund. Das Individuum ist befangen im „Widerspruch der unmittelbaren Einzelheit und der in derselben an sich vorhandenen substantiellen Allgemeinheit“ (ebd., S. 75), und in diesem Widerspruch zwischen dem „empirischen Ich“ und der „Sittlichkeit“ (vgl. Jäger / Tenorth 1987, S. 80), unterzieht sich im bestimmten Lebensabschnitt unvermeidlich dem Prozess, in dem seine „unmittelbare Einzelheit dem Allgemeinen entsprechend gemacht“ (Hegel 1970c, S. 75) wird. Die Bildung heißt damit, nach Hegel, der Entwicklungsprozess, in dem „die erste, einfache Einheit der Seele mit sich zu einer durch den Gegensatz vermittelten Einheit erhoben, die
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
83
z uerst abstrakte Allgemeinheit der Seele zur konkreten Allgemeinheit entwickelt wird“ (ebd., S. 76)5. Anhand der Bildung erlangt der Mensch das „Bewußtsein des Einzelnen in Form der A llgemeinheit“ (Hegel 1970b, S. 360)6, und befreit sich somit von der empirischen Besonderheit. Der Einzelne soll durch Bildung befähigt werden, sein „Ich als allgemeine Person“ (ebd.) aufzufassen, „worin Alle identisch sind“ (ebd.). Die Bildung, die sich die Aneignung des „Bewußtseins des Einzelnen in Form der Allgemeinheit“ (ebd.) zum Ziel setzt, sollte jedoch keinesfalls in den Kosmopolitismus münden, der „dem konkreten Staatsleben“ (ebd., S. 361) fremd gegenübersteht, denn die Abhängigkeit vom „konkreten Staatsleben“ darf in der Bildung nicht preisgegeben werden. Diesen Zusammenhang verdeutlicht Wigger: „Bildung zielt auf Versöhnung, ist aber durch Entzweiung und Entfremdung gekennzeichnet. Die Bildung des einzelnen Menschen geschieht in Abhängigkeit von Gesellschaft, Staat und Geschichte, von Natur und Kultur und bleibt nach Hegel diesen Abhängigkeiten verpflichtet, wenn diese sich als notwendig und vernünftig ausweisen lassen“ (Wigger 2006, S. 81). Hegels Augenmerk auf den Widerspruch als unentbehrlichen Bestandteil der Bildung ist nicht zufällig verbunden mit seiner Würdigung des Negativen im Entwicklungsprozess. Der Geist, dessen Entwicklungsform die Seele – den „subjektive[n] Geist“ (Hegel 1970c, S. 38) – ausmacht, „gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht, als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt“ (Hegel 1970d, S. 36). Theodor W. Adorno (1903–1969) focht jedoch die Deutung des Negativen bei Hegel an: Hegel empfehle zwar das Verweilen beim Negativen, aber nur unter der Bedingung, dass nach diesem Verweilen eine Umkehr in das Positive zustande komme. In Hegels Vorstellung existiere das Negative (Widerspruch) somit einzig als Etappe zum Endstadium des Positiven (Versöhnung)7. Adorno widerspricht Hegels Dialektik aus dem Grund, dass gerade „das unersättliche Identitätsprinzip“ bei Hegel „den Antagonismus vermöge der Unterdrückung des Widersprechenden“ (Adorno 1970, S. 146) verewigt. Die negative Dialektik, die Adorno darauf als Alternative aufstellte, richtet sich – im Gegensatz zu Hegel – „nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches“ (ebd., S. 148). Adorno bezeichnet die Logik dieser Dialektik als „eine des Zerfalls“ (ebd.). Adornos Einspruch gegen Hegels Identitätsprinzip schlägt sich in der Kritik der Halbbildung nieder, der Kritik der dekadenten Bildung in der Moderne. Adorno, der den Sinn der Bildung in der Befreiung von Fremdbestimmung und im Erlangen von Selbstbestimmung sieht (vgl. Adorno 1972, S. 93), kritisiert die Halbbildung, die in der Fremdbestimmung verharre und damit nicht die Entfaltung der Selbstbestimmung erreiche. Die Bildung bei Hegel, die sich auf die Aneignung des Allgemeinen und folglich auf die gesellschaftliche Integration richtet, wird von Adornos Standpunkt wegen der Orientierung an der Ver söhnung – auch wenn sie Entzweiung und Entfremdung voraussetzt – oder wegen des
84
Bildung an ihren Grenzen
„Desiderat[es] der Anpassung“ (ebd., S. 95) problematisch, weil die Selbstbestimmung zum Schluss keine Beachtung findet. In Hegels Bildungstheorie liegt die Priorität in der Allgemeinheit, während sie in Adornos Bildungstheorie in der Selbstbestimmung liegt. Die Bildung setzt jedoch sowohl bei Hegel als auch bei Adorno den Widerspruch voraus. Der Widerspruch, mit dem sich jede Bildungstheorie zu befassen hat, nahm auch im Bildungskonzept des sich rasch modernisierenden Japans der Meiji-Ära (1868–1912) die zentrale Stelle ein. Nitobe, der Wegbereiter des modernen japanischen Bildungskonzeptes, wuchs in einer Welt heran, in der zweierlei Widerspruch herrschte; auf nationaler Ebene das Feudalistische und das Monarchistische, auf internationaler Ebene das Japanische und das Westliche. Zu diesem Zeitpunkt wurde von der Bildung erwartet, Identität im Schein der Selbstbestimmung zu stiften. Nitobe konzipierte die Bildung nach dieser Vorstellung. Ich untersuche im Folgenden, wie Nitobe in verschiedenen Lebensabschnitten diesen Widerspruch zu bewältigen suchte.
3.
Nitobe und das Bildungskonzept im japanischen ufklärungszeitalter A
Der deutsche Begriff der Bildung war unter den japanischen Gelehrten der Meiji-Ära nicht unbekannt. Definiert als „Vervollendung der Persönlichkeit vermittels des Genusses der Kultur“ (Tsutsui 1995, S. 85 f.) begann der Begriff der Bildung als höchstes Lebensideal in die japanische Modernisierung einzufließen. Nitobe trug selbst zur Etablierung dieses Ideals bei durch die Einführung der westlichen Literatur in die Schulen, an denen er tätig war. Er galt bereits in seinem Werdegang zum Lehrer als Kenner der westlichen Kultur, da er als Kind mit ausländischen Lehrkräften besetzte Sprachschulen besucht (1871–1877) und an der amerikanisch ausgerichteten Landwirtschaftshochschule Sapporo studiert hatte (1877–1881), ebenso an der mit vornehmlich westlichen Lehrkräften besetzten Universität Tokio (1884), an der Johns Hopkins Universität (1884–1887), an der Universität Bonn (1887), an der Universität Berlin (1887–1889) und schließlich an der Universität Halle (1889), wo er mit seiner Arbeit „Über den japanischen Grundbesitz, dessen Verteilung und landwirtschaftliche Verwertung“ (1890) den Doktortitel erwarb. Seit 1886 gehörte er auch der „Society of Friends“ an und teilte mit seiner amerikanischen Ehefrau das Quäkertum. Auch als Lehramtsinhaber weilte er immer wieder geschäftlich in westlichen Ländern: zwischen 1900 und 1901 unternahm er im Rahmen der Vorbereitung für seine Aufgabe im Generalgouvernement Taiwan eine Besichtigungsreise in Europa; zwischen 1901 und 1902 begleitete er seinen Vorgesetzten Shinpei Goto (1857–1929) auf einer Besichtigungsreise nach Amerika und Europa; zwischen 1911 und 1912 hielt er sich in Amerika als erster Austauschprofessor auf; zwischen 1919 und 1927 war er in Europa und absolvierte seine Amtszeit als Vizegeneralsekretär des Völkerbundes; zwischen 1932 und 1933 unternahm er eine Vortragsreise nach Amerika. Diese Erfahrungen reflektierte Nitobe in seinem Begriff der Bildung direkt und indirekt, wobei zwei Begriffe im Vordergrund stehen: Persönlichkeit und Charakter.
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
85
Nitobes Engagement für den Begriff der Bildung entsprang seiner Sorge um die angeblich unzulängliche Persönlichkeit der Japaner, der er einen moralischen Rückstand Japans zuschrieb8 . In der Bildung empfahl Nitobe oft die Briten als Vorbild. Die Überlegenheit der Briten lag, nach Nitobe, in ihrem Charakter, nämlich in der „posession and exercise of plebeian, common, everyday virtues of diligence, truth-loving, honesty“ (Nitobe 1906, S. 211). Dieser Charakter komme zwar angesichts des moralischen Empfindens demjenigen der Japaner nahe, aber die Japaner hätten dennoch etwas von den Briten zu lernen, weil der Britische gentleman eine zeitgemäßere Figur sei als der Japanische samurai (vgl. Nitobe 1909, S. 459)9. 3.1
Kindesalter zwischen Modernität und Marginalität
In Nitobes Biografie fehlte die Kindheit als „gegensatzloser Anfang“ völlig. Nitobes Werdegang fiel in ein bewegtes Zeitalter, in dem die Abschließungspolitik der vorgängigen zweieinhalb Jahrhunderte aufgehoben wurde und der westliche Einfluss die japanische Modernisierung rasant vorantrieb. Der Zeitraum zwischen der Landesöffnung (1858) – welche die alte feudalistische Regierung schwächte – und der Satsuma-Rebellion (1877) – die den letzten Aufstand gegen die neue monarchistische Regierung verkörperte – wird ideen geschichtlich als „japanisches Aufklärungszeitalter“ bezeichnet, als Befreiung von der vormodernen Tradition durch den Fortschrittsgedanken. In diesem turbulenten Zeitraum der Neuorientierung fehlte dem Land jeder Konsens um einen verbindlichen Bildungs-Kanon: Die Bildung der heranwachsenden Generation beruhte auf Provisorien und Improvisation. Nitobe verstand sich seit jeher als Außenseiter: hinsichtlich der nationalen Machtverhältnisse gehörte seine Heimat, Nordjapan, zu den Verlierern der Meiji-Restauration (1868); hinsichtlich der internationalen Machtverhältnisse gehörte sein Land zu den Entwicklungsländern. Als Nordjapaner erlebte Nitobes Familie, die im militärisch ausgetragenen Konflikt zwischen dem traditionellen Shogunat und dem modernen Kaisertum auf der Seite des Shogunats gestanden hatte, den Zusammenbruch des Shogunats als bittere Demütigung. Nitobe wuchs darauf in einem Milieu auf, dem fleißiges Lernen in einem rasch modernisierenden Land als Mittel zum Rückgewinn von sozialem Ansehen galt. Die Worte seines Onkels und späteren Pflegevaters führten ihn zu dem Gedanken: „how much I owed to the reputation of my family to become a famous man, and to that of my former daimyo to excel [sic] the late enemies, the Southerners“ (Nitobe 1923, S. 524). Schon in der frühesten Kindheit wurde ihm damit die Distanz zu dem anzueignenden Fremden bewußt. Das anzueignende Fremde war dabei nicht vornehmlich das relativ nah stehende Japanische, das fest in den Händen der Südjapaner war, sondern das absolut fern stehende Westliche, dem das Japanische unterlegen erschien. Als Kind erhielt Nitobe bei seinem Hausarzt eine Einführung in die englische Sprache, woran sich seine Begeisterung für die westliche Kultur entzündete (vgl. ebd., S. 514). Im Alter von neun Jahren wurde er von seinem Onkel in Tokio adoptiert, und er begann eine an westlicher Kultur orientierte Schule zu besuchen. Er konzentrierte sich intensiv auf Englisch, was auch dem Wunsch des Onkels entsprach, der zu sagen pflegte: „Without foreign
86
Bildung an ihren Grenzen
knowledge I [Nitobe; TI] could not become a great man“ (ebd., S. 523). Seine Konzentration auf das Englische stärkte zum einen sein Selbstwertgefühl; zum anderen begannen darunter jedoch auch seine Japanisch-Kenntnisse zu leiden (ebd.). Der nordjapanische Dialekt, dessen auffälliger Akzent ihm in Tokio oft Schwierigkeiten bereitete, bot ihm nach eigenem Bekunden eine ideale Grundlage zum Meistern der englischen Sprache: Er machte darin, wie andere Nordjapaner, rasche Fortschritte (ebd., S. 522). Nitobe kam darauf ins Internat der staatlichen Fremdsprachschule Tokio, wo Amerikaner und Briten anhand westlicher Bücher unterrichteten (ebd., S. 531; S. 535). Sein für elf Jahre (1871–1881) westlich geprägtes Umfeld brachte ihm das Englische nahe auf Kosten seiner Muttersprache10. Nitobe, dessen Jugend von einer doppelten Marginalität gekennzeichnet war, vermochte diese als Rückständigkeit wahrgenommene Marginalität zu kompensieren durch Immersion in westlicher Kultur. Die japanische Politik, die zu dieser Zeit alles daran setzte, den westlichen Technologie-Vorsprung aufzuholen, validierte in ihrem Bildungs-Begriff auch das Westliche über dem Japanischen. Nitobes Befähigung des direkten Zugangs zur west lichen Kultur garantierte ihm damit im Japan seiner Zeit die Zugehörigkeit zur BildungsElite. In diesem Lebensabschnitt nahm Nitobe das Westliche als das anzueignende Fremde wahr, nicht als Gegenstand fremdbestimmten Zwangs, sondern als Gegenstand des Be gehrens. 3.2
Jünglingsalter an der Landwirtschaftshochschule Sapporo (1877–1881, Lehramt 1891–1898)
Die Institute der höheren Bildung in Japan waren nach der Landesöffnung zunächst ausschließlich von westlichen Lehrkräften getragen (vgl. Ota 1995, S. 74). In den 1870er Jahren existierten lediglich zwei Institute, die den Bachelor-Titel verliehen: die Universität Tokio, die dem Kultusministerium unterstand, und die Landwirtschaftshochschule Sapporo, der die Entwicklungsbehörde Hokkaidos vorgesetzt war. Nitobe betrat 1877 im Alter von sechzehn Jahren die im Vorjahr gegründete Landwirtschaftshochschule, an der einige wenige Regierungs-Stipendiaten amerikanische Methoden zur Gewinnung landwirtschaftlicher Nutzflächen studieren konnten. Diese Schule bezweckte nicht die Ausbildung von Bauern, sondern die Ausbildung von Staatsbeamten zur Verwaltung der nördlichen Hauptinsel Hokkaido, die faktisch eine Kolonie im eigenen Land war. Die Insel wurde urbar gemacht und mit Siedlern aus dem Süden bevölkert, nicht zuletzt um russische Ansprüche auf das Gebiet abzuwenden (vgl. Nitobe 1923, S. 552)11. Während die Universität Tokio besonderes Gewicht auf die Vermittlung praktischer Fachkenntnisse legte, hielt die Landwirtschaftshochschule Sapporo die allgemeine Bildung für bedeutend. Die Gesamtzahl der Studenten in Sapporo blieb entsprechend der Zahl der Stipendiaten unter 50. In einer abgelegenen Gegend, in einer überschaubaren Bildungsstätte mit angegliedertem Internat, betreuten amerikanische Lehrbeauftragte nicht allein wissenschaftliche Kurse mithilfe amerika nischer Lehrmittel, sondern prägten oft auch das Alltagsleben der Studenten auf christ licher Grundlage (Nitobe 1893, S. 13).
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
87
Nitobe, der nach seinem Studienabschluss 1881 vorschriftsmäßig seinen Dienst in der Verwaltung der Entwicklungsbehörde Hokkaidos aufnahm, wurde als Folge einer Umstrukturierung dieser Verwaltung bald von seiner Aufgabe befreit, und er begab sich zum weiteren Studium an die Universität Tokio. Als er 1883 im Alter von 21 Jahren in Tokio die Aufnahmeprüfung ablegte, vermerkte er als Ziel seines Studiums, dass er „a bridge across the Pacific“ (Nitobe 1912, S. 9) schlagen möchte, und erklärte seine Motivation als „desire to be a means of transmitting the ideas of the West to the East, and of the East to the West“ (ebd.). Nitobe beabsichtige also nicht in erster Linie etwas Originelles herzustellen, sondern etwas Gegebenes zu transportieren (vgl. Nitobe 1934, S. 284)12. Das Westliche als das Fremde war nicht Gegenstand der Interpretation oder Verarbeitung, sondern Stückgut west-östlicher Logistik. Nitobe brach den Kurs in Tokio bald ab und studierte zwischen 1884 und 1891 in Amerika und Deutschland. Er kehrte 1891 als Lehrer an die Landwirtschaftshochschule Sapporo zurück und unterrichtete dort bis 1898, als er seinen Lehrauftrag aus gesundheitlichen Gründen niederlegte. Der Amtsantritt von Nitobe fiel in eine Zeit, wo neun (bald reduziert auf acht) Lehrkräfte den Vorbereitungskurs für fünf Jahrgänge und den Hauptkurs für vier Jahrgänge zu betreuen hatten. Jede Lehrkraft war damit stark belastet. Nitobe unterrichtete wöchentlich etwa 20 Lektionen: Ethik, Geschichte und englische Literatur für den Vorbereitungskurs und vornehmlich auf die Landwirtschaft bezogenen Fächer für den Hauptkurs. Außerhalb des Lehrplans führte er jeden Sonntag bei sich zu Hause einen BibelLesezirkel (vgl. Ishii 1934, S. 152; Kusahara 2012, S. 149)13 und leitete auch einen philo sophisch-literarischen Lesezirkel, in dem er unter anderen Werken auch Thomas Carlyles (1795–1881) Sartor Resartus behandelte. Über das Werk, dem er als orientierungsloser Student in Tokio begegnet war, pflegte Nitobe zu sagen, dass er ihm seinen Halt im Leben verdanke, denn er habe daraus drei Weisheiten gezogen: dass der Ernst und die feste Gesinnung zählen im Leben; dass die Realität und das Ideal nicht voneinander zu trennen seien; und dass die Würde dem Handeln vorzuziehen sei (vgl. Ishii 1934, S. 263 f f.; Kusahara 2012, S. 89). Nitobe, der die Bildung mit der Kultivierung der Persönlichkeit gleichsetzte, hielt seine Lesezirkel für den wichtigsten Teil seiner Lehrtätigkeit. Nitobe übernahm an der Landwirtschaftshochschule Sapporo das Lehrfach Kolonialwissenschaft, das sich mit dem neuen Phänomen des hierarchisch tiefer geordneten Fremden beschäftigte14. Das Westliche, das das hierarchisch höher geordnete Fremde vertrat, blieb für Nitobe weiter das anzueignende Fremde. Er begann jedoch in diesem Lebensabschnitt zu behaupten, dass das Westliche in seinem Wesen dem Japanischen nicht fremd stehe, sondern eine tiefe Affinität mit dem Japanischen enthalte, das den Japanern er mögliche, sich mit dem Westlichen zu identifizieren. Dieses Konzept schlug sich auch in Bushido nieder: In diesem Werk versuchte er auf die Affinität zwischen dem Japanischen und dem Westlichen hinzuweisen, indem er die japanische Sittlichkeit im Rahmen der christlichen Vorstellung präsentiert.
88
Bildung an ihren Grenzen
3.3
Mannesalter an der Bildungsstätte der Elite: Erste Oberschule (1906–1913)
Nitobe diente nach seinem kalifornischen Kuraufenthalt als technischer Beamter im Generalgouvernement Taiwan (1901–1903), kehrte darauf nach Japan zurück, und diente zuerst als Professor der Kaiserlichen Universität Kioto (1903–1906), dann als Rektor der Ersten Oberschule (1906–1913) zugleich nebenamtlich als Professor der Kaiserlichen Universität Tokio (1906–1927). Die 1886 gegründete Erste Oberschule, deren Vorläuferin, die „Fremdsprachenschule Tokio“, Nitobe 1877 absolviert hatte, galt als hervorragende Eliteschule: Die meisten ihrer Absolventen studierten an der Kaiserlichen Universität Tokio, und nahmen darauf Spitzenpositionen ein. Diese Schule verfügte seit 1890 über ein Internat, und forderte seit 1901 von allen Schülern den Eintritt in dieses Internat, um sie vor der Sittenverderbnis der Umwelt zu bewahren, und sie zu einem tugendhaften Leben anzuhalten (vgl. Ishii 1934, S. 245 f.). Die Schüler, die sich in der Abgeschiedenheit würdig benehmen sollten, schätzten die Selbstverwaltung ihrer Lebensweise, die aber oft auch als Ausdruck von Verschlossenheit und Hochmut aufgefasst wurde. Entgegen dem selbstgerechten Prinzip der Abgeschiedenheit belehrte Nitobe die Schüler bei seiner Amtsantrittsrede über das Prinzip der Geselligkeit (vgl. ebd., S. 251)15, was eine Wende im Bildungskonzept der Schule einläutete. Als exemplarische Verkörperung dieses Prinzips nannte Nitobe die Rugby School unter der Leitung von Thomas Arnold (1795–1842), die er in seiner Studienzeit an der Johns Hopkins Universität durch Thomas Hughes’ (1822–1896) Buch Tom Brown’s Schooldays zu schätzen gelernt hatte16 . Bei der Abschiedsrede (1913), nannte er zusammenfassend drei Prinzipien seines Bildungskonzepts, die er während seiner Amtszeit hochgehalten hatte: Jedes Handeln solle auf Loyalität und Patriotismus beruhen; das Talent solle Raum zu seiner freien Entfaltung finden; die Würde sei dem Handeln vorzuziehen (vgl. Yanaihara 1987, S. 277). An der Ersten Oberschule übernahm Nitobe das Pflichtfach der Ethik, das einmal pro Woche erteilt wurde. Er führte auch hier außerhalb des Lehrplans einen Lesezirkel zur westlichen Literatur, in dem er neben Carlyles Sartor Resartus auch Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Faust behandelte. Den Lesezirkel, der die Teilnehmer zur Kultivierung ihres Charakters befähigen sollte, besuchten nicht allein die Schüler der Ersten Oberschule, sondern auch zahlreiche Studierende an der Kaiserlichen Universität Tokio (vgl. Ishii 1934, S. 253). In der Nähe der Schule mietete Nitobe zudem eine kleine Wohnung, damit er seine Schüler einmal pro Woche zur Sprechstunde mit Tee und Reiskrackern einladen konnte. Den Schülern, die dem Bildungsbürgertum angehörten, fehlte eine konkrete oder praktische Vorstellung der Zukunft. Umso stärker zeigten die meisten unter ihnen Begeisterung für Nitobes idealistisches Bildungskonzept, durch die Lektüre der westlichen Literatur den Charakter zu kultivieren. Viele seiner Schüler spielten später in der Bildungspolitik bedeutende Rollen17. Nitobe war immer stärker der Überzeugung, dass das Japanische mit dem Westlichen verschmelzen müsse, und er vermerkte, dass seine Versöhnung zwischen dem Christentum und der japanischen Spiritualität dem Quäkertum geschuldet sei (vgl. Nitobe 1926, S. 335). Auf-
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
89
grund der angeborenen Kraft, die der Gründer des Quäkertums George Fox (1624–1691) „the Seed“ nannte, vermögen alle Rassen die „principles of European ethics“ (Nitobe 1909, S. 445) zu begreifen, und „the Hegelian difference between Moralität and Sittlichkeit“ (ebd.) zu empfinden. Kurzum: „races can be reduced to a common denominator – which may be broadly called their moral notions“ (ebd.). Diese Zuversicht war in erster Linie getragen von Nitobes Überzeugung der Universalität des Christentums: „The hour is coming when […] – not alone in the Orient, neither in the Occident, – but in spirit and in truth, wherever men come together in brotherly love, shall they worship the same Father“ (Nitobe 1912, S. 140). Nitobe propagierte in diesem Lebensabschnitt also weiter die Affinität zwischen dem Japanischen und dem Westlichen, dies jedoch nun mit einem selbstbewussteren Ton: das Japanische stehe dem Westlichen an Sittlichkeit und Moralität nicht nach, das als das Westliche Erscheinende sei wesentlich das Japanische: „the intellectual capital we borrowed from the West was largely invested in opening our own existent resources“ (Nitobe 1909, S. 462). Damit nahm sein Bildungskonzept eine neue Form an, wonach die am Westlichen orientierte Bildung nicht die Orientierung am Fremden, sondern die Orientierung am Eigenen sei. 3.4
Greisenalter an der Bildungsstätte der Siedler der Ausland-Kolonien (1917–1922): Kolonialfachschule des Ostasien-Vereins
Zwischen 1917 und 1922 übernahm Nitobe an der Kolonialfachschule des Ostasien-Vereins (toyo-kyokai shokumin gakko) die Leitung der Schulverwaltung und die Aufsicht der Schüler18 . Die Schule, die 1900 nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg als Schule des Taiwan-Verein (taiwan-kyokai gakko) zur Ausbildung von Siedlern im neu errungenen Taiwan gegründet wurde, bezweckte nach dem Russisch-Japanischen Krieg und seit der Umbenennung ihrer Trägerschaft in den Ostasien-Verein (1907) die Ausbildung von Siedlern in den besezten Territorien Kontinental-Asiens. Die Schüler, die Nitobe an dieser Schule heranziehen sollte, hatten mithin eine konkrete Vorstellung einer praxis-orientierten Zukunft. Nitobe stand dieser Schule bereits vor seinem Amtsantritt nahe. Die Schule bat ihn als Taiwan-Kenner, der seit 1901 im Generalgouvernement Taiwan als technischer Beamter gedient hatte, immer wieder um Reden an ihre Schüler. Nitobe, der im Ausland oft die insulare Mentalität der Japaner beklagte und sie der Kleinlichkeit und Engstirnigkeit bezichtigte, ermutigte die Schüler in seiner ersten Rede (1903)19, vom Denken des Auslandes zu lernen (vgl. Nitobe 1903, S. 66). Als Vorbild dienten ihm dabei wiederum die Briten, die er – im Gegensatz zu den Franzosen – als großzügige gentlemen darstellte: Seines Erachtens waren die Briten in der Verwaltung ihrer weltumspannenden Kolonien nicht wegen ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse erfolgreich, sondern wegen dieses Charakters (ebd., S. 69)20. Zur Erweiterung ihres intellektuellen Horizontes empfahl Nitobe den Schülern auch, vom taiwanesischen Denken zu lernen (ebd., S. 76). Nitobe richtete 1918 als Schulleiter seine Abschlussfeier-Rede an die Schüler, mit denen er in den vergangenen zehn Monaten beinahe jede Woche Geschichte, Landwirtschaft und
90
Bildung an ihren Grenzen
Kolonien erörtert hatte (vgl. Nitobe 1918, S. 266). Er riet dabei den frischen Absolventen der Schule, die früher oder später im Ausland tätig sein sollten, als mündige Individuen zu handeln (vgl. ebd.). Der Japaner im Ausland verwickle oft den Staat in seine privaten Probleme. Nitobe empfahl den Absolventen hingegen ausdrücklich, mit ihren privaten Problemen selbständig fertig zu werden, ohne auf die Hilfe des Staates zu zählen. Denn die Nation, die in der Kolonialpolitik erfolgreich sei, habe den Charakter, nicht vom Staat geschützt werden zu müssen, sondern den Staat zu schützen (vgl. ebd., S. 268)21. Das Ziel der Kolonialfachschule bestehe auch gerade darin, Menschen heranzubilden, deren mündiges Handeln ein optimales Verhältnis zu den Kolonialisierten ermögliche (vgl. ebd., S. 269). Das Westliche, das sich in Nitobes Bildungskonzept vom anzueignenden Fremden über das wesentlich Nicht-Fremde ins eigentlich Eigene (das Japanische) verwandelt hatte, begann Nitobe in diesem Lebensabschnitt dem Japanischen entgegengesetzt darzustellen. Als Beamter der ersten japanischen Kolonie, Taiwan, hatte Nitobe schon früh begonnen, andere asiatische Länder Japan entgegenzusetzen. Den Unterschied zwischen Japan und China sah er zum Beispiel darin, dass Japan ein Land von „moral individualism“ sei und China ein Land von „economic individualism“ (Nitobe 1909, S. 450), oder dass Japan eben das Land der samurai sei und China bloß ein Land von shop-keepers (ebd., S. 451). Nitobes Tendenz, Japan von China abzugrenzen, spitzte sich in diesem Zeitraum zu. Er bezeichnete die Jugendlichen in China als „half-educated“, und äußerte sich herablassend über sie, weil sich ihre politische Einsicht bloß auf oberflächlich auswendig gelerntes westliches Buchwissen beschränke (vgl. Nitobe 1932d, S. 295). Wenn er die japanische Rezeption westlicher Kultur anpries wegen ihrer „humility of spirit“ (Nitobe 1933d, S. 485), deutete er damit auch an, dass er eine entsprechende Bescheidenheit in der chinesischen Rezeption westlicher Kultur vermisste. Selbst von westlichen Ländern, mit denen er zunächst eifrig Gemeinsamkeit gesucht hatte, begann er sich abzugrenzen gegenüber einem überlegenen Japan. Selbst das Christentum, in dem er zunächst Affinität zum Westlichen gefunden hatte, bezeichnete er jetzt als japanisch: „Japan is nearer in comprehension to the teachings of Christ than were His first European followers“ (Nitobe 1927, S. 382).22
4.
Schluss: Der Widerspruch im Bildungskonzept
Nitobes erste Kindheitserinnerungen waren bereits von Widersprüchen geprägt. Als Nordjapaner stand er dem japanischen Mainstream fremd gegenüber, und als Japaner stand er zudem dem Westlichen fremd gegenüber. Im Jünglingsalter und Mannesalter hielt er das Westliche für das anzueignende Fremde, und sehnte eine abstrakte Equivalenz herbei zwischen dem Japanischen und dem Westlichen. Dieses Bestreben entsprach dem Interesse seiner Zeitgenossen: Das Interesse der westlichen Länder, Japan als neue Kolonialmacht näher kennen zu lernen, wurde durch Nitobes auf Englisch verfasste Einführung in die japanische Kultur befriedigt; das Interesse Japans, den Entwicklungsstand der westlichen Länder einzuholen, wurde durch Nitobes auf Japanisch verfasste Einführung in die west
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
91
liche Kultur befriedigt. Der Bildungs-Kanon lag also sowohl für Nitobe als auch für Japan im Westlichen. Die Nachahmung des Westlichen sei in Nitobes Augen kein Grund zum Scham. Dabei stellte er das Westliche – tendentiell immer stärker – nicht als das Fremde, sondern als das Quasi-Eigene dar. Den inhärenten Widerspruch erklärte er damit schlicht als aufgehoben. Erst im Greisenalter befasste sich Nitobe zum ersten Mal nüchtern mit dem Fremden. Dieser Wandel war zum einen veranlasst durch den neuen politischen Zeitgeist, in dem die unkritische Nachahmung des Westens der Behauptung des nationalen Eigenwertes zu weichen hatte, und zum anderen durch den Wandel der Demographie seiner Schüler, die nicht mehr aus angehenden Eliten mit abstrakten Lebenszielen bestand, sondern aus angehenden Siedlern mit sehr konkreten Lebenszielen. Die Bildung erhielt unter diesen Umständen den Auftrag, zur Rechtfertigung der Kolonial-Siedlungen die Besonderheit des Japanischen zum Ausdruck zu bringen. Nitobe operierte hier mit der Unterscheidung zweier Begriffe: Imitation und Assimilation. Assimilation sei von Imitation zu unterscheiden, denn während sich die Imitation auf bloßes Nachahmen beschränke, handle es sich bei der Assimilation, die die Japaner ausüben, um eine gediegene Neuschöpfung 23. Das Aneignen des Fremden als Assimilation sei von Bedeutung, weil sich darin eben die Initiative der Japaner manifestiere. Unter der Vorstellung, das Westliche sei eine Erscheinungsform des Japa nischen, war das Westliche nun im Sammelbegriff des Japanischen eingeschlossen. Die Bildung, die am Fremden orientiert war, verwandelte sich nach dieser Deutung in die Bildung, die sich am Eigenen orientierte. Die Assimilation setzte damit eine Trennlinie zwischen dem Westlichen und dem Japanischen, worauf die Überschreibung des West lichen durch das Japanische inszeniert wird. Daraus erwuchs das zeitgenössische Bildungskonzept, das dem Heranwachsenden Identität im Schein der Selbstbestimmung verlieh: ein Widerspruch musste erst gar nicht mehr überwunden werden. Die charakteristische Ansicht in Nitobes Bildungskonzept, in der sich das Westliche als das Fremde vermengt mit dem Japanischen als das Eigene, ist auch in seiner Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Nationalen und dem Internationalen zu finden. In den Augen seiner westlichen Freunde wandelte sich Nitobes frühe Weltoffenheit später in Weltverschlossenheit. Durch Nitobes Biografie zieht sich jedoch der rote Faden seiner konsequenten Unterstützung der monarchistischen Staatsform. Als der Meiji-Kaiser 1876 in den Norden Japans reiste, diente ihm die Villa der Familie Nitobe als Unterkunft. Der junge Nitobe hielt dieses Ereignis für eine Ehre (vgl. Nitobe 1923, S. 548 f.). Im Mannesalter rechnete er es sich ebenfalls zur großen Ehre an, dass Bushido 1905 vom Meiji-Kaiser gelesen wurde (vgl. Ishii 1934, S. 173; Oshiro 1992, S. 97). Im Greisenalter hatte Nitobe nach der Rückkehr von einer Vortragsreise in Amerika (1933) Gelegenheit, beim Showa-Kaiser direkt vorzusprechen. Er fühlte sich geehrt, dass der Kaiser ihn dabei um die Bemühung bat, einen Krieg zwischen Japan und Amerika abzuwenden (vgl. Ishii 1934, S. 556 f.; Kusahara 2012, S. 469 / 489). Er scheute nicht, als Abgeordneter im Parlament die Staatsform der ununterbrochenen Linie der Kaiser als den einzigen Punkt darzustellen, auf den Japan gegenüber anderen Ländern stolz sein kann (vgl. Masuda 1987, S. 180). Es erstaunt wenig, dass das Internationale bei Nitobe ausschließlich auf der Grundlage des Nationalen aufzufassen
92
Bildung an ihren Grenzen
war. Die Förderung einer internationalen Gesinnung, die Nitobe definierte als „attitude of mind which enables one to see things from a world point of view“ (Nitobe 1932a, S. 281), bekräftigte der Kaiser bereits 1868 mit seinem Eid, gleichwohl der „general cultivation“ als auch der „national policy“ dienstlich zu sein (Nitobe 1930b, S. 85). Im Entwurf seiner „Address at the Banff Conference“, den er in seinem letzten Lebensjahr niederschrieb, legte Nitobe dar, dass der Kaiser selbst für den Fall eines Austritts aus dem Völkerbund „the need of international cooperation“ (Nitobe 1933b, S. 298) bekräftigt habe. Im Unterschied zum Internationalismus widersetzte Nitobe sich dezidiert dem Kosmopolitismus, bei dem das Internationale ohne das Nationale zu verstehen ist 24. In der Haltung gegenüber dem Kosmopolitismus stimmte Nitobe mit Hegel überein: aus dem Standpunkt der konkreten Allgemeinheit sei der Kosmopolitismus zu bekämpfen. Sein Bildungskonzept richtete Nitobe also nach Hegel auf die konkrete Allgemeinheit. Nitobe sagte von sich, dass er einzig als Übersetzer dienen könne. Er betraute dabei die nächste Generation mit einer höheren Stufe der Bildung, die er im Begriff des Internationalen fasste: „It is to the coming generations that we look for the truly international mind“(Nitobe 1932c, S. 320)25. Nitobes identitätsstiftende Bildungskonzept im Schein der Selbstbestimmung galt ihm selbst bloß als unfertiges Stückwerk zu dessen Vollendung die nächste Generation berufen war.
Literatur Adorno, T. W. (1969 / 1970): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1959 / 1972): Halbbildung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ecarius J. / Fuchs, T. (2012): Biografieforschung. In: K.-P. Horn / H. K emnitz / W. M arotzki / U. Sandfuchs (Hrsg.): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft. Band 1. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 195–197. Hegel, G. W. F. (1808–1917 / 1970a): Nürnberger und Heidelberger Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1821 / 1970b): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1830 / 1970c): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1807 / 1970d): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ishii, M. (1934): Biografie von Inazo Nitobe (nitobe inazo den). Tokio: Sekiyashoten. Jäger, G. / Tenorth, H.-E. (1987): Pädagogisches Denken. In: K.-E. Jeismann / P. Lundgreen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3. München: Beck, S. 71–103. Kan, K. (1987): Erinnerung an Professor Nitobe (nitobe sensei omoide no ki). In: Sonderband 1. Tokio: Kyobunkan, S. 102–113. Krüger, H.-H. (1999 / 2006): Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung. In: H.-H. K rüger / W. M arotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Wiesbaden: VS, S. 13–33. Krüger, H.-H. / M arotzki, W. (1999 / 2006): Biografieforschung und Erziehungswissenschaft – Einleitende Anmerkungen. In: H.-H. K rüger / W. M arotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Wiesbaden: VS, S. 7–9.
Inazo Nitobe und die Widersprüche der japanischen Modernisierung
93
Kusahara, K. (2012): Inazo Nitobe 1862–1933 (nitobe inazo 1862–1933). Tokio: Fujiwarashoten. Kusahara, K. (2001): Inazo Nitobe, Shinpei Goto und Takushoku-Universität (nitobe inazo, goto shinpei, takushoku-daigaku). In: Editoren von Hundert Jahre Geschichte von Takushoku-Univer sität (Hrsg.): Inazo Nitobe (nitobe inazo). Tokio: Takushoku-daigaku. Masuda, G. (1987): Erinnerung an Dr. Nitobe (nitobe hakushi no omoide). In: Sonderband 1. Tokio: Kyobunkan S. 174–182. Morito, T. (1987): Prof. Nitobe als Erzieher (kyoikusha to shite no nitobe sensei). In: Sonderband 1. Tokio: Kyobunkan S. 292–322. Nitobe, I. (1934): Einführung ins Leben ( jinsei dokuhon). In: Bd. 10. Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 197– 510. Nitobe, I. (1933a): Innere Beobachtung und äußere Beobachtung (naikan gaibo). In: Bd. 6. Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 179–465. Nitobe, I. (1933b): Draft for address at the inaugural dinner at the Banff Conference of the Institute of Pacific Relations. In: Bd. 15 (Lectures on Japan), Tokio: Kyobunkan 1970, S. 296–299. Nitobe, I. (1933c): A league’s mistake. In: Bd. 16 (Editorial Jottings). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 453– 454. Nitobe, I. (1933d): The Humble Seeking Knowledge. In: Bd. 16 (Editorial Jottings). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 485–486. Nitobe, I. (1932a): Education in Japan. In: Bd. 15 (Lectures on Japan). Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 267–281. Nitobe, I. (1932b): National Characteristics of the Japanese People. In: Bd. 15 (Lectures on Japan). Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 282–295. Nitobe, I. (1932c): Development of International Cooperation. In: Bd. 15 (Lectures on Japan). Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 305–321. Nitobe, I. (1932d): China’s New Government. In: Bd. 16 (Editorial Jottings). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 295–296. Nitobe, I. (1931): Matriotism. In: Bd. 16 (Editorial Jottings). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 154–155. Nitobe, I. (1930a): The sense of personality. In: Bd. 16 (Editorial Jottings). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 42–43. Nitobe, I. (1930b): International Spirit in the Charter Oath. In: Bd. 16 (Editorial Jottings) Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 84–85. Nitobe, I. (1929): Two exotic Currents in Japanese Civilization. In: Bd. 15. Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 571–596. Nitobe, I. (1927): Japanese Traits and Foreign Influences. In: Bd. 14. Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 427– 633. Nitobe, I. (1926): A Japanese view of Quakerism. In: Bd. 15 (Lectures on Japan). Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 332–351. Nitobe, I. (1923): Reminiscences of Childhood. In: Bd. 15. Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 475–571. Nitobe, I. (1918): Rede an Studierenden (gakkan kunji). In: Editoren von Hundert Jahre Geschichte von Takushoku-Universität (Hrsg.) (2001): Inazo Nitobe (nitobe inazo). Tokio: Takushoku-daigaku, S. 266–270. Nitobe, I. (1917): Vorlesung zur Kolonialpolitik (shokuminseisaku kogi). In: Bd. 4 Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 5 –167. Nitobe, I. (1912): The Japanese Nation. Its Land, Its People, and Its Life. In: Bd. 12 (Thoughts and Essays). Tokio: Kyobunkan, 1970, S. 3 –302. Nitobe, I. (1909): Character of the Occidentalization of Japan. In: Bd. 12 (Thoughts and Essays). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 4 40–463.
94
Bildung an ihren Grenzen
Nitobe, I. (1906): A defect in our education. In: Bd. 12 (Thoughts and Essays). Tokio: Kyobunkan, 1969, S. 209–211 Nitobe, I. (1903): Rede an Studierenden an der Schule des Taiwan-Vereins (gakusei kunji). In: Editoren von Hundert Jahre Geschichte von Takushoku-Universität (Hrsg.) (2001): Inazo Nitobe (nitobe inazo). Tokio: Takushoku-daigaku, S. 65–77. Nitobe, I. (1893): The Imperial Agricultural College of Sapporo, Japan. In: Bd. 23. Tokio: Kyobunkan, 1987, S. 3 –42. Oshiro, G. (1992): Inazo Nitobe (nitobe inazo). Tokio: Chuo-digaku-shuppanbu. Ota, Y. (1995): Englisch und Japaner (eigo to nihonjin). Tokio: Kodansha. Tsutsui, K. (1995): Das Schicksal der Bildung auf japanische Art (nihon-gata kyoyo no unmei). Tokio: Iwanami. Wigger, L. (2006): Bildung als Aneignung des Allgemeinen und als gesellschaftliche Integration. In: A. Dörpinghaus / A . Poenitsch / L . Wigger(Hrsg.) Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: WBG, S. 81–93. Wigger, L. (2004): Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lage beschreibung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 80, S. 478–493. Yanaihara, T. (1987): Rücktritt des Rektors der Ersten Oberschule (ichiko kocho o yamerareta toki): Sonderband 1. Tokio: Kyobunkan, S. 274–285.
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“. Zum Vorwurf der Empiriefeindlichkeit gegen Alfred Petzelt. Eine Studie aus Sicht der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung von Peter Kauder
Der neukantianische Pädagoge Alfred Petzelt (1886–1967) gilt innerhalb und außerhalb der Petzelt-Schule1 und ihres Umkreises2 als empiriefeindlich. – Der Beitrag geht diesem Vorwurf nach, geordnet nach seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte (= 1.), seiner Berechtigung (= 2.) und seiner Nachwirkung (= 3.)3.
1.
Zu Entstehung und Überlieferung des Vorwurfs der mpiriefeindlichkeit Petzelts E „Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
Die Rekonstruktion des Vorwurfs der Empiriefeindlichkeit Petzelts umfasst acht Stationen und kommt zu einem überraschenden Ergebnis. (1.) Am Anfang steht 1959 Brezinkas Feststellung, dass bei „zahlreichen pädagogischen Autoren“ eine „verhängnisvolle Abneigung gegen empirische Forschung […] anzutreffen“ (Brezinka 1959, S. 4) sei, so dass längst nicht alles, was sich „Pädagogik als Wissenschaft“ (ebd., S. 6) nenne, auch (erfahrungs-)wissenschaftlich unterfüttert sei. Das ist gegen viele Vertreter (s. ebd., S. 5) philosophischer Pädagogik gerichtet, „die auch heute noch eher ein Forschungsprogramm als eine voll ausgebaute Wissenschaft“ (ebd., S. 6) sei. „Forschungsprogramm“ ist kritisch-abwertend gemeint: „Immer noch besteht die Neigung, Hypothesen aufzustellen und Theorien zu bilden, bevor die relevanten Tatsachen ausreichend bekannt sind. Das Gefährliche daran ist der Mangel an methodischem Bewusstsein: bloße Hypothesen verwandeln sich unkontrolliert in gesicherte Voraussetzungen des Denk prozesses; Abstraktionen werden nicht mehr als solche erkannt; die von der Erfahrung abgeschnittene Spekulation über Begriffe erscheint als echte Auseinandersetzung mit der Sache.“ (ebd.) Als typischen Vertreter nennt er (in einer Fußnote) Petzelt. Ihm zufolge sei „,Pädagogik […] keine empirische Wissenschaft‘! […] Sie ,muß sofort jeglichen Funda-
96
Bildung an ihren Grenzen
mentes entbehren, wenn sie sich auf sogenannte Erfahrungen stützt‘.“ (ebd.) Ohne näher auf Petzelts Ansatz einzugehen, unterstellt Brezinka ihm und anderen die Produktion und Weitergabe von „Scheinwissen“, mit dem eine Reihe von philosophischen Pädagogen „Fragen beantwortet, die sie nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung gar nicht beantworten“ (ebd.) könnten. Obwohl Brezinka Petzelt nicht den ausdrücklichen Vorwurf der Empiriefeindlichkeit macht, deutet er mit dem hinzugesetzten Ausrufungszeichen an, dass er Petzelt für einen gegen Empirie eingestellten Pädagogen hält, der sich dem Ausbau einer erfahrungswissenschaftlichen Forschungsprogrammatik in den Weg stellt. (2.) Vier Jahre später kritisiert Lochner (vgl. Lochner 1963, S. 275 f f.) Petzelts Empirieverständnis: „Nicht von der Faktizität wird ausgegangen, sondern von vorgefaßten Ideen; was zu diesen Ideen nicht paßt, bleibt unberücksichtigt. Das System gewinnt so gewiß an Folgerichtigkeit, aber […] es wird blaß und blutleer, und der empirischen Mannigfaltigkeit gegenüber versagt es auf Schritt und Tritt. […]. Der Begriff der Pädagogik wie des Pä dagogischen ist also vorgegeben, ,zeitlos‘, auf spekulativem Wege gewonnen. Die Empirie kann zur Findung des Begriffs Erziehung nichts beitragen. Der Frage nachzugehen, was Erziehung sei, ist nicht Sache einer ausgebreiteten Forschung, sondern Sache der Philo sophie“ (ebd., S. 277). Lochner stimmt Brezinkas Petzelt-Kritik ausdrücklich zu (vgl. ebd., S. 383), im Kern sind sie sich einig in der Ablehnung einer spekulativen, jenseits von Empirie konzipierten Systematik, die aus ihrer Sicht keine wissenschaftliche Forschung darstellt.4 (3.) 1966 weist Blankertz Brezinkas Kritik zurück, und er ist es, der erstmals das Wort „Empiriefeindlichkeit“ in den Diskurs einführt: „In der Tat sind die Programmschriften für eine empirische pädagogische Forschung in Verlegenheit, die behauptete Empiriefeindlichkeit auch im Selbstverständnis der bisherigen Pädagogik nachzuweisen; dazu ist es schon nötig, auf die Schriften eines Mannes zurückzugreifen, der […] keinesfalls als repräsentativ für die deutsche Pädagogik gilt 5, auf Alfred Petzelt, bei dem Wolfgang Brezinka denn auch zu seinem Vergnügen [so deutet Blankertz das Ausrufezeichen bei Brezinka] den Satz aufpicken konnte: Pädagogik ist keine empirische Wissenschaft. Sie muß sofort jeglichen Fundamentes entbehren, wenn sie sich auf sogenannte Erfahrungen stützt.‘ Und dieser Satz, aus Petzelts Zusammenhang herausgelöst, ist für Brezinka der Beweis für die Neigung der Pä dagogik, ,Theorien zu bilden, bevor die relevanten Tatsachen ausreichend bekannt sind‘; eine ,von der Erfahrung abgeschnittene Spekulation über Begriffe‘ als ,Auseinandersetzung mit der Sache‘ auszugeben. Dieser Hinweis sei vorangestellt, um ausdrücken zu können, daß Petzelt aus Verlegenheit, d. h. in Ermangelung anderer Texte zitiert wird.“ (Blankertz 1966, S. 65 f.; Zus. v. PK) In der Fußnote zu diesem Zitat fügt er kritisch hinzu: „Mit diesem Hinweis soll Brezinkas sehr verdienstvolles Wirken für eine empirische Wendung der deutschen Pädagogik nicht abgewertet werden. Aber es ist einfach notwendig, einmal darauf hinzuweisen, daß nicht nur die bisherige Pädagogik oft aus Unkenntnis törichte Einwände gegen sozialwissenschaftliche Empirie, gegen ,Positivismus‘, ,Soziologismus‘ und ,Psycho logismus‘ formuliert hat, sondern daß die Anwälte der empirischen Richtung ebenso töricht
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
97
gegen begründete philosophische Sätze zu Felde ziehen.“ (ebd., S. 75) Liest man Blankertz’ Ausführungen im Haupttext weiter, so wirft er Brezinka vor, sich den falschen Gegner ausgesucht zu haben: Statt mit Petzelt als vermeintlich typischen Repräsentanten eines insuffizienten Empirieverständnisses und dessen „antiempirisches Argument“ als den „törichsten und extremsten Ausdruck der der vorherrschenden pädagogischen Theorie als ganzer angelasteten Tendenz zur wirklichkeitsfremden Spekulation“ (ebd., S. 71) anzugreifen, hätte Brezinka sich eher gegen das Theorieverständnis der „geisteswissenschaftlichen Pä dagogik“ (ebd., S. 66) richten sollen. (4.) Nach Petzelts Tod 1967 findet man – meist in geraffter Form – Beurteilungen seiner Konzeption in einigen wenigen Geschichten der Pädagogik, etwa bei Reble. Für „Petzelt“ und „dessen Schülerkreis“ seien drei Aspekte charakteristisch, nämlich (1.) „immer wieder der starke normative Akzent“, (2.) „die philosophische Orientierung dieses pädagogischen Denkens mit der Eingrenzung des Problemfeldes auf Grundsatzfragen“ sowie (3. und erwartbar) „die betonte Reserve gegenüber empirischer Erhellung und Konkretisierung“. Diese Einschätzung schließt Reble mit der Erläuterung, dass „diese Pädagogik […] von ihrem methodischen Ansatz her eben nicht so sehr auf eine Erfahrungstatsache ,Erziehung‘ gerichtet“ sei „als vielmehr auf die Sinngebung, auf das Sollen von pädagogischen Akten und auf das Geltenkönnen von pädagogisch-theoretischen Aussagen“ (Reble 1971, S. 342)6 . (5.) Eine ausführliche Charakterisierung von Petzelts Ansatz legt 1976 Menze vor, der erstmals auf den „immer wieder übersehenen […] politischen Impetus der Pädagogik Petzelts“ hinweist, demgegenüber die „vermeintliche Abstraktheit im Sinne unpraktischer Verbalistik“ dieser Konzeption, „ihre normative Unbedingtheit, ihre angebliche Unterschätzung der Rolle der Erfahrung, ihre rüde Ablehnung empirischer Pädagogik immer wieder 7 kritisiert worden“ (Menze 1976, S. 78) sei. (6.) Erst weitere 11 Jahre später, 1987, bearbeiten Vertreter der Petzelt-Schule das Empirieproblem bei Petzelt. Kauder (1987) zufolge sei es unzutreffend, Petzelt als empiriefeindlich einzustufen (vgl. ebd., S. 436). Zwar lehne er die Übernahme empirischen, d. h. naturwissenschaftlichen Procederes für und in die Pädagogik ab, verzichte aber nicht auf Erfahrung, und zwar vor allem dann nicht, wenn ein Mensch bewusst sich darum bemühe, gemachte Erfahrungen im Sinne einer „Erkenntnis des Empirischen“ zu ordnen, was für Petzelt nichts anderes heiße, als sich zu bilden (s. ebd., S. 443). (7.) 1989 geht Vogel als nächster Vertreter der Petzelt-Schule auf Petzelts Empirieverständnis ein. Er bietet – zum einen – erstmals einen knappen Abriss zur Rezeption von Petzelts Empiriereserve (vgl. Vogel 1989, S. 127 f.); zum anderen bezieht er zwar keine Stellung zur Frage der Empiriedistanz Petzelts, sondern rekonstruiert theorietechnisch dessen „Lösung des Empirieproblems“ (ebd., S. 156). Sie läuft im Kern darauf hinaus, dass Petzelt sich eines problemgeschichtlichen Zugriffs – im vorliegenden Fall geht es um Kant – bedient habe, der Kant nicht gerecht werde (s. ebd., 157). Wenn Petzelt auf Basis der Prämissen argumen-
98
Bildung an ihren Grenzen
tiere, dass (erstens) nur etwas naturwissenschaftlich Messbares ein Gegenstand von Erfahrung sein und dass dies (zweitens) für den Menschen nicht gelten könne, da er Bedingung von Erfahrung sei und insofern nicht zugleich deren Gegenstand sein, dann liege hier ein „Mißverständnis der kantischen Erkenntnistheorie“ (ebd., S. 156) vor, insofern Petzelt damit Kants Theorie der Erfahrung innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft“ „überflüssig“ gemacht und den Boden entzogen habe. (8.) 1998 bestreiten Fischer und Ruhloff eine „schlechthinnige ,Empiriefeindlichkeit‘“ (Fischer / Ruhloff 1998, S. 108) Petzelts mit zwei Argumenten: Zum ersten erkenne er soziologische Tatsachen (etwa Zahlen zu Schlüsselkindern oder zu Jugendlichen, deren Eltern sich haben scheiden lassen) als prinzipiell pädagogisch beachtenswert an (s. ebd., S. 108 f.), zum anderen argumentiere er selbst an zahlreichen Stellen mit Erfahrungen (die er selbst gemacht habe). Auch wenn er diesen Erfahrungen lediglich den Status zubilligt, Anlass für theoretische Reflexionen zu sein (ebd., S. 110), so zeigt diese Einschränkung immerhin, dass er sich nicht in einem durch und durch empiriefreien apriorischen und damit spekulativen Raum argumentierend bewege.8 Betrachtet man die acht Stationen, so hat überraschenderweise niemand (!) ausdrücklich oder wortwörtlich gegen Petzelt den Vorwurf der Empiriefeindlichkeit erhoben. Vielmehr geht der Ausdruck, der seitdem innerhalb der Petzelt-Schule als verdichteter Ausdruck der Außenwahrnehmung Petzelts kursiert, auf Blankertz9 zurück, der Brezinka unterstellt, Petzelt als empiriefeindlich einzustufen.10
2.
Zur Prüfung der Empiriefeindlichkeit Petzelts
Der Rekonstruktion der Vorgeschichte folgt nun die Prüfung der Berechtigung des Vorwurfs der Empiriefeindlichkeit. Die Ausführungen sind in zwei Teile gegliedert, einen primär referierenden und einen primär kritischen Teil. Jedem Teil wird eine These vorangestellt und in Form von Teil-Thesen erläutert. 2.1
Referierender Teil auf Basis der These: Der Vorwurf der Empiriefeindlichkeit gegen Petzelt ist in pauschaler und undifferenzierter Form nicht haltbar
Die komplexe These fußt auf folgender Prämisse: Petzelt macht es11 seinen Lesern nicht leicht, weil er sich nicht nur einer sehr eigen(willig)en Diktion und komplexer Argumentationsketten bedient12, sondern sich auch (bis auf wenige Vorworte und Überschriften in seinen Büchern) niemals metatheoretisch und methodologisch erklärt13. Wenn er das getan hätte, fände man vielleicht folgende (rekonstruierte) Bemerkung: Es sind genau gesehen bei Petzelt drei Begrifflichkeitskontexte auseinanderzuhalten. Wenn er (a) Worte wie
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
99
„Empirie“, „Test“, „Experiment“ benutzt, dann argumentiert er ausnahmslos ablehnend. Davon abzugrenzen sind (b) solche Passagen, in denen von „Tatsachen“ die Rede ist; diese lehnt er nicht pauschal ab, sondern argumentiert differenziert. Schließlich (c) gibt es noch Passagen, in denen er von „Erfahrung“ spricht, und bei diesen Stellen kann nur über den Kontext herausgefunden werden, ob „Erfahrung“ nur ein weiteres ablehnendes Wort für „Empirie“ ist, oder ob er im positiven Sinn vom „erfahrenen Menschen“ spricht (vgl. Kauder 1987). – Nach dieser Vorbemerkung werden die Teilthesen entfaltet. Erste Teil-These: Der Vorwurf der Empiriefeindlichkeit ist kurios, aber auch verständlich.
In vier Büchern und vier Beiträgen in von ihm mitherausgegebenen Sammelbänden14 – die die Textgrundlage dieser Studie darstellen – äußert sich Petzelt mit insgesamt 28 Passagen ablehnend-kritisch zum Stichwort „Empirie“, „Test“ oder „Experiment“ (bzw. zu entsprechenden Adjektivierungen) in der Pädagogik. Man muss schon – das macht den Vorwurf kurios – suchen, um eine entsprechende Passage zu finden, wie die folgende Tabelle zeigt: Tab. 1: Anzahl empiriekritischer Passagen in ausgewählten Büchern und Aufsätzen Petzelts nach 1945 Text
Auflage o. Nachdruck
„Grundzüge systematischer Pädagogik“ (B)
1947, 1955, 1964
„Pädagogik und Philosophie“ (A)
1949 / 1961
„Kindheit – Jugend – Reifezeit“ (B)
Seiten total
Empiriestellen
363
3
13
2
1951, 1955, 1958, 1965
264
4
„Grundlegung der Erziehung“ (B)
1954, 1961
272
4
„Von der Frage“ (B)
1957, 1962
190
10
„Psychologie und Pädagogik“ (A)
1959 / 1961
21
2
„Über das Lernen“ (A)
1961
19
1
„Kant. Das Fürwahrhalten …“ (A)
1963
52
2
= 1194
= 28
Quelle: Eigene Berechnungen; Abkürzungen: A: Aufsatz; B: Buch.
Dass, so zeigt die Tabelle, die mit 10 Passagen ergiebigste Quelle das Buch „Von der Frage“ ist, das aber kein Petzelt-Kritiker oder Petzelt-Interpret verwendet, ist in diesem Zusammenhang eine weitere Kuriosität. Jedenfalls: Statistisch gesehen argumentiert Petzelt auf insgesamt 1194 Seiten in 28 Seiten empiriefeindlich; folglich findet man auf durchschnittlich jeder 43. Seite eine empiriekritische Äußerung, das sind 2,3 % der Seiten und damit ein marginaler Wert. Verständlich ist der Vorwurf dennoch – auch wenn die Personen, die kritisch gegen
100
Bildung an ihren Grenzen
etzelt anschreiben, sich nur auf einen bzw. zwei Texte beziehen15. Denn in den meisten P der ausgezählten 28 Passagen formuliert Petzelt nicht diplomatisch-vorsichtig, sondern teils überpointiert, teils wegwerfend, teils überheblich, wie die folgende, in sich gekürzte Zitatensammlung zeigt16: "" „Mit bloßer Empirie ist in der Pädagogik nichts Wesentliches geschafft worden.“ (Petzelt 1964, S. 44) "" „Der Tiefpunkt der vermeintlichen pädagogischen Empirie war erreicht, als man in Experimenten sinnlose Silben lernen ließ, also das aus der Pädagogik eliminierte, was sie spezifisch macht, die Sinngebung. So kam sie in ein naturwissenschaftliches ,objektivierendes‘ Fahrwasser, in Parallele zur Psychologie. Es entstand, kraß gesagt, das Gegenstück zur Psychologie ohne Seele, eine Bildung ohne Persönlichkeit.“ (Petzelt 1961d, S. 27) "" „Der Begriff des Empirischen […] paßt nicht […] für die Natur des Ich, wie ebensowenig für Bildungsprobleme. Er reicht einfach nicht aus.“ (Petzelt 1962a, S. 55) "" „Alle Objektivierungsversuche am Ich sind zum Scheitern verurteilt. Kein Mensch ist errechenbar […] Kein Experiment darf das fragende Ich beseitigen wollen.“ (ebd., S. 58) "" „Das ,Empirische‘ [… ist eine] Irrtumsgefahr.“ (ebd., S. 110; Zus. v. P. K .) "" „Ist Empirie überhaupt eine Wissenschaftsqualität?“ (ebd., S. 119) "" „Empirie als Wissenschaftscharakter ist nicht haltbar.“ (ebd., S. 123) "" „Betont man in der Pädagogik die Empirie, […] wird Empirie […] zur Lähmung des Fragens.“ (ebd., S. 123 f.) "" „Die gesamte Pädagogik wird als Problem leicht ,erfahrungsmäßig‘ erfaßt, und das scheinbar so Plausible des Empirischen ist dann jenes Argument, das unbequeme Fragen nach den Prinzipien der Pädagogik, nach der Generallinie aller Aufgabenhaftigkeit auszuschalten und zu bagatellisieren geeignet ist.“ (Petzelt 1961a, S. 30 f.) "" „Pädagogik […] muß sofort jeglichen Fundamentes entbehren, wenn sie sich auf so genannte Erfahrungen stützt“. (ebd., S. 44 f.) "" „Man vermeidet den terminus ,empirisch‘ am besten.“ (ebd., S. 51) "" „Das Unternehmen einer empirischen Pädagogik […] richtet sich selbst.“ (Petzelt 1963, S. 47) Solche Aussagen lassen den Eindruck der Empiriefeindlichkeit Petzelts verständlich und „überzogen“ (Rekus 1993, S. 107) erscheinen, d. h. sie erwecken den Eindruck, dass Petzelt der Empirie in der Pädagogik nicht nur distanziert, sondern feindlich begegnet.17 – Gleichwohl ist das nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Zweite Teil-These: Der Vorwurf der Empiriefeindlichkeit Petzelts ist zutreffend.
Die These lässt sich mit zwei Argumenten belegen. Erstes Argument: In jeder der 28 Passagen äußert Petzelt sich ausnahmslos kritisch oder dezidiert ablehnend18 zu „Empirie“, „Test“ oder „Experiment“. Dieses statistische Argument allein kann die These nicht hinreichend stützen, insofern folgt ein weiteres Argument.
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
101
Zweites Argument: Petzelt betont mehrfach (vgl. Petzelt 1961c, S. 27), dass die Einzelwissenschaften einen Verbund bilden, in dem jede Wissenschaft eine spezifische Fragestellung und spezifische methodische Zugriffsweise besitzt. So fragt die Pädagogik danach, wie der Mensch sich fragend, urteilend und denkend bildet. Die Psychologie hingegen19 hätte die spezifische Aufgabe, das sinnhafte Denken des Menschen zu erforschen. Aber dieser Aufgabe komme sie nicht nach, weil die empirische Psychologie die rationale verdrängt habe: Wer aber empirisch arbeite, bediene sich einer erfahrungs- bzw. naturwissenschaft lichen Methode analog zur Physik, Chemie oder Biologie (vgl. Petzelt 1961b, S. 23) und untersuche den Menschen in Form von Tests oder Experimenten. Petzelt hält das für g rundfalsch, weil es an der grundsätzlichen Aktivität des Menschen und den Sinn- und Geltungsvollzügen vorbeigehe, die er urteilend, fragend, denkend macht. In diesem Sinn vertritt Petzelt eine Theorie des Ich – die (wie oben bereits erwähnt) vermutlich einem „Mißverständnis“ (Vogel 1989, S. 156 f.)20 von Kants Erkenntnistheorie geschuldet ist. Er setzt das Ich als „Bedingung von Erfahrung“ (Petzelt 1961b, S. 23) an, so dass es nicht zugleich „Inhalt“ oder „Objekt der Erfahrungswissenschaften“ (ebd.) sein könne. Insofern wirft er der empirischen Psychologie vor, das sinngebende Ich kausalistisch-empirisiert und die sinngebenden Akte des Ich eliminiert zu haben (vgl. ebd.). „Das Denken […] kann […] keine Erfahrung sein, weil es Bedingung des Erfahrens sein muß“ (Petzelt 1962a, S. 52 f.), oder in anderen Worten: „Alle Objektivierungsversuche am Ich sind zum Scheitern verurteilt. Kein Mensch ist errechenbar, kein Test kann dialogische Auseinandersetzungen um des Rechten willen, kann die Individuallage ersetzen. Verbindlichkeit hat in keinem Teste irgendeinen Platz. Kein Experiment darf das fragende Ich beseitigen wollen.“ (ebd., S. 58) Wer also empirisch arbeitet, will das Ich naturhaft-kausal bestimmen und begrenzen, aber die Psyche des Menschen ist für Petzelt nicht naturwissenschaftlich beobacht- und messbar (vgl. Petzelt 1964, S. 341), weil die Aktivität des Menschen und seine Psyche sich der Empirie ihrem Wesen nach entziehen (vgl. Petzelt 1961a, S. 30). Von dieser Auffassung eines nicht kausalisier- und empirisierbaren Menschen allgemein und seiner sinnhaften Aktivität im Besonderen rückt Petzelt nicht ab. Für ihn ist die anthropologische Prämisse21 der Aktivität des Ich die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Pädagogik (auf der Grundlage rationaler Psychologie), der es – wie oben gesagt – um die Hilfestellung bei der Bildung des Menschen in Form des Fragens, Urteilens und Denkens geht. Jeder naturwissenschaftliche = empirische = kausalisierende Zugriff hin gegen ist für ihn die Negation dieser Aktivität. Eine derartige Psychologie müsse von der Pädagogik ferngehalten werden, weil diese Kausalisierung einem Anwendungsbegriff diene. In der Pädagogik jedoch habe „Anwendung“22 nichts zu suchen (vgl. Petzelt 1964, S. 182). Damit wendet er sich dagegen, dass empirische Pädagogik naturwissenschaftlich vorgehend Ergebnisse erhebe, aus denen sich wie bei einer „mathematischen Operation“ (ebd., S. 112) ohne weitere Überlegung und ohne Rücksicht auf den jeweiligen Menschen ,automatisch‘ ergebe, was pädagogisch richtig und entsprechend zu tun sei (vgl. ebd., S. 114; Fischer / Ruhloff 1998, S. 106). Zusammengefasst: Petzelt hält die Pädagogik für völlig unvereinbar mit falschen, d. h. empirisch-psychologischen Fragestellungen. In diesem Sinn ist der kritische Satz zu verste-
102
Bildung an ihren Grenzen
hen: „Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“ (Petzelt 1961b, S. 24). Dort, wo der Sache oder dem Wort nach von Empirie in dem umschriebenen naturwissenschaftlichen Verständnis und im Kontext von Pädagogik die Rede ist, lehnt Petzelt sie ab. Hier besteht nicht nur der Eindruck der Empiriefeindlichkeit Petzelts, sondern hier ist er es. Und gleichwohl ist das immer noch nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Dritte Teil-These: Der Vorwurf der Empiriefeindlichkeit Petzelts ist allerdings nicht völlig zutreffend.
Man wird Petzelt nicht gerecht, ihm Empiriefeindlichkeit auf der ganzen Linie (vgl. Fischer / Ruhloff 1998, S. 110) vorzuwerfen, d. h. eine Empiriefeindlichkeit, die nicht nur im engeren Sinn Empirie, Tests, Experimente, sondern auch Erfahrung und Tatsachen – also Empirie in einem weiteren Sinn – radikal ablehnt. Ein genauer Blick zeigt, dass er Tatsachen für wichtig hält, solange man nicht empirisch-naturwissenschaftlich-kausalistisch mit ihnen umgeht. Diese These kann mit zwei Argumenten belegt werden. Erstes Argument: Petzelt argumentiert oft anlässlich selbst gemachter Erfahrungen23 (was keiner seiner Kritiker erwähnt). Dem Vorwort der „Grundzüge …“ zufolge hat er 10 Jahre lang (ab 1934) als Volksschullehrer gearbeitet und in dieser Zeit dieses Buch verfasst. Darin schildert er Situationen, die er mit Schülern erlebt hat. In einer längeren Passage beschreibt er fünf praktische Fälle (vgl. Petzelt 1964, S. 24 f.), an denen er die denkbaren Differenzen der Relation Wissen und Haltung durchspielt, z. B.: „Aufsatz: Inhalt lückenhaft, flach, Fleiß und Sorgfalt deutlich hervortretend. Hingabe und Wille zur Leistung ohne Tadel. Urteil: Das unterrichtliche Resultat läuft nicht parallel mit dem erziehlichen. Das erstere zeigt geringen, das andere guten Erfolg.“ (ebd.) Die daran angeschlossene Bemerkung macht deutlich, dass solche Tatsachen für Petzelt (wie oben bereits gesagt) nicht mehr als Anlass zu einer grundsätzlichen Besinnung geben, aber ohne solche Tatsachen aus der Schulpraxis liefe seine philosophisch orientierte Pädagogik leer. Er schreibt nämlich: „Die Diskrepanz verlangt am Einzelfall die Feststellung der Gründe“ (ebd.) und man darf ergänzen: der ggf. einzusetzenden pädagogisch-legitimen Mittel zur Verbesserung des Unterrichtserfolges des Schülers. Zweites Argument: Petzelt argumentiert nicht nur anlässlich selbst gemachter Erfahrungen, sondern thematisiert diesen Tatsachenbezug (vgl. Fischer / Ruhloff 1998, S. 109) in differenzierter Form an einer bestimmten Stelle in „Von der Frage“24. Es geht dabei um konkrete soziologische Tatsachen, denen Petzelt in ihrer Funktion für pädagogische Argumentation ein „Recht“ (Petzelt 1962a, S. 138) einräumt: „Man denke an Zahlen über Schlüsselkinder, an Jugendliche aus geschiedenen Ehen, an Waisen, an Jugendverwahrlosung“, an „abgesunkene Jugendliche, Zu- oder Abnahme von Ehescheidungen, Stellung der Eltern zum Kinde“ (ebd., S. 139). Solche Tatsachen bewertet Petzelt als „positiv“ oder „bezwingend“ und „keine Bildungsarbeit […] darf […] sie übersehen“ (ebd.). Das heißt, dass Pädagogen, arbeiten sie nun theoretisch oder praktisch, solche Tatsachen zu beachten haben: Der „Erzieher […] hat alle soziologische Mannigfaltigkeit seiner Schüler zu kennen“ (ebd.), weil
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
103
er anders die Jugendlichen nicht pädagogisch hilfreich begleiten kann. Einige Zeilen später heißt es wie zur nochmaligen Unterstreichung: „Niemand kann an diesen soziologischen Gegebenheiten in ihrem Wechsel vorbei“ (ebd., S. 140). Diese Wertschätzung von Tatsachen steht in folgendem Kontext: Petzelt grenzt die Soziologie als „Lehre von der Gesellschaft“ von der Pädagogik als der Lehre nach dem „fragenden Menschen“ (ebd.) und damit zwei unterschiedliche Fragestellungen zweier Wissenschaften voneinander ab. Da die Soziologie mit ihrer Fragestellung „keine Bildungsabsicht“ (ebd.) verfolge (was er nicht als Vorwurf meint), sind ihre „Ergebnisse“ und von ihr gelieferten Tatsachen „apädagogisch“ (ebd.). „Apädagogisch“ ist nicht als „unpädagogisch“ misszuverstehen, sondern Tatsachen sind der Beachtung wert, haben aber (vgl. Petzelt 1961c, S. 32) keine pädagogisch-legitimierende, sondern ausschließlich eine anlassgebende Funktion (vgl. auch Petzelt 1961a, S. 175) für die Reflexion und Begründung dessen, was daraus pädagogisch theoretisch und praktisch folgen könne. „Durch Tatsachenforschung“, so bringt Breinbauer Petzelts Absicht auf den Punkt, „ist dem Bildungsproblem nicht beizukommen. Erfahrungen zu sammeln und zu beschreiben, bewährte Resultate festzuhalten oder experimentell zu erheben, ist nicht Aufgabe der theoretischen Pädagogik. Die sogenannte pädagogische Wirklichkeit ist nicht ihr Fundament. Eher umgekehrt: Die Fundamente der pädagogischen Wirklichkeit sind ihr Problem.“ (Breinbauer 1996, S. 33) Nimmt man beide Argumente zusammen, kann man Petzelts explizit auf Kant (1956, B 1, vgl. Petzelt 1961a, S. 51) rekurrierende Position wie folgt zusammenfassen: Zwar lässt er Tatsachen nicht als „Beweismaterial“ (Petzelt 1964, S. 256) bzw. als legitimierende Argumente für die Grundlegung der Pädagogik gelten (vgl. Fischer / Ruhloff 1998, S. 112), schließt sie aber auch nicht aus der Pädagogik aus, sondern weist ihnen eine bestimmte Funktion zu: Ihnen kommt anlassgebende Bedeutung für die Legitimationsfrage zu (vgl. P etzelt 1964, S. 229; S. 256). Tatsachen sind damit nicht per se pädagogisch, sondern ihre mögliche pädagogische Relevanz muss vor der Folie des „unwandelbaren Begriffs des Pädagogischen“ (ebd., S. 39; S. 41) hergeleitet werden. Anders gesagt: Tatsachen kommt die Funktion des „Anlasses“ (ebd., S. 229) für eine analytische (vgl. ebd.), d. i. eine prinzipienwissenschaftlich-philosophische Prüfung bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit von Pädagogischem zu; insofern sind sie „notwendig und unentbehrlich“ (Petzelt 1962a, S. 61; 76 f.). So gesehen besteht eine wechselseitige Bezogenheit 25 von Tatsachen und Prinzipien bzw. von Theorie und Praxis.26 2.2
Kritischer Teil auf Basis der These: Petzelts Empiriekritik ist nicht überzeugend
Erste Teil-These: Man findet bei Petzelt eine in dreifacher Weise ambivalente Argumentation, und zwar je nachdem, ob von „Erfahrung“, „Tatsachen“, „Empirie“, „Test“, „Experiment“, „Statistik“ die Rede ist. Erläuterung: (a) Zum einen wird aus den Kontexten heraus rasch deutlich, dass er „Empirie“, „Tests“, „Experimente“ usw. kritisch oder feindlich beurteilt, während er Tatsachen eine anlassgebend positive Funktion einräumt – das ist eine auf den ersten Blick verblüffende Ambivalenz. (b) Zum Zweiten findet man viele pauschal Empirisches verurteilende Äuße-
104
Bildung an ihren Grenzen
rungen, aber auch einige wenige recht differenzierte Darlegungen. Da heißt es (s. o.) einerseits z. B., dass „das Lernen sinnloser Silben als Experiment […] mit dem Unterricht soviel zu tun“ hat „wie Radio mit Radium oder Geschichte mit Geschichten. Sinnloses ist kein Maßstab für Sinnvolles.“ (Petzelt 1964, S. 207) – Aber man findet auch Darlegungen, in denen Petzelt z. B. – wie gesagt – soziologisch ermittelte Zahlen zur Individuallage von Kindern und Jugendlichen für die Bildungsarbeit als nötig und hilfreich ansieht (vgl. Petzelt 1962a, S. 139 f.; 1964, S. 199). (c) Zum Dritten findet man Partien, die widersprüchlich zueinander aussehen. Es ist auffallend, dass Petzelt in „Von der Frage“ die meisten kritischen Vorwürfe gegen Empirie formuliert und ausgerechnet dort die ausgewogenste Stelle zu soziologischem Zahlenmaterial entfaltet; es ist ebenfalls auffallend, dass er, der in „Von der Frage“ rhetorisch fragt, ob „Empirie überhaupt eine Wissenschaftsqualität“ (Petzelt 1962a, S. 119) sei, in einem anderen Buch schreibt: „Man erreicht dadurch, daß man jeg licher Statistik entgeht, daß man sowohl positive wie auch negative Fälle berücksichtigen kann. Die Statistik setzt Fälle, die einmalig sind, einander gleich. Dadurch werden sie zählbar.“ Und dann geht es überraschend direkt so weiter: Die Statistik „hat natürlich ihren berechtigten Wert, in ihren Grenzen für psychologische und pädagogische Probleme ist sie irrelevant, denn sie kann nur Anlässe bieten.“ (Petzelt 1962b, S. 252) Das heißt, dass er hier Statistik begrenzt, aber nicht völlig abqualifiziert. Die sich teilweise sogar überschneidenden Ambivalenzen erschweren die Interpretation des Empirieproblems bei Petzelt, denn es ist kein überzeugendes Argument anzuführen, die kritisch-ablehnenden Partien seien deutlich in der Mehrheit und gäben insofern eher als die abgewogenen Stellen Petzelts Standpunkt wieder.27 Zweite Teil-These: Petzelts Empiriekritik ist intransparent. Erläuterung: In den Passagen gegen „empirische Pädagogik“ (Petzelt 1961b, S. 12; 1961d, S. 88; 1963, S. 49) greift er deren Bestrebungen an, Menschen im Allgemeinen und die Psyche des Ich im Besonderen unter Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher Methoden (Tests, Experimente) zu objektivieren. Anders als in seinen Texten zur empirischen Psychologie in den 1920er-Jahren ist Petzelt nach 1949 auffällig intransparent: Weder grenzt er seine Kritik zeitlich ein28, noch nennt er Referenztheoretiker, noch weist er literaturgestützt nach, dass und mit welchen Begründungen der Mensch „bloß ein Fall der Empirie sein“ (Petzelt 1962b, S. 255) kann.29 So lässt sich z. B. allein aus Petzelts Darstellung heraus nicht beurteilen, ob mit den von ihm kritisierten Experimenten zum Lernen sinnloser Silben30 tatsächlich die „Sinngebung“ im Psychischen (Petzelt 1961d, S. 88) untersucht werden sollte (wie Petzelt es darstellt), oder ob es nur um die Art und den Erfolg von mechanischen Gedächtnisleistungen gehen sollte, wie man bei Koch (Koch 2002, S. 77) lesen kann, demzufolge Petzelts Kritik auf einem Missverständnis ruhte. DritteTeil-These: Petzelts Empiriekritik ist undifferenziert und überzogen. Erläuterung: Petzelt will die sinnstiftende Psyche des Menschen vor empirischen Zu griffen in jeder Form schützen: „Demnach ist das Ich selbst niemals, grundsätzlich nicht Gegenstand oder Problem der Erfahrung, denn dann müßte es physikalisch, chemisch oder
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
105
biologisch bewältigt werden können. Das Ich bleibt Bedingung der Erfahrung, nicht ihr Inhalt, wird Definitionselement ihres Begriffes, nicht Objekt der Erfahrungswissenschaften.“ (Petzelt 1961b, S. 23; vgl. auch 1962a, S. 46; 1961a, S. 30 f.; 1962b, S. 255) Kürzer: „Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt.“ (Petzelt 1961b, S. 24)31 Dass Petzelt hier mit seiner Empiriefeindlichkeit überzieht („niemals, grundsätzlich nicht“, s. o.), stellt Blankertz fest: „Mag“ prinzipienwissenschaftliche „Pädagogik auch das transzendentale Subjekt meinen, die erzieherischen Maßnahmen und Eingriffe wenden sich an den empirischen Menschen.“ (Blankertz 1966, S. 72) Er stimmt Petzelt darin zu, dass pädagogisch relevante Tatsachen eines „transzendentalen Nachweises“ ihrer Legitimität bedürfen, und dennoch „fallen sie doch als Tatsachen in die Welt der Erscheinungen und unterliegen der Naturkausalität“ (ebd., S. 72), lassen sich also empirifizieren.32 Wenn auch aus den entsprechend gewonnenen Daten nicht gleichsam automatisch herausspringt, was das pädagogisch Richtige ist, so sind solche Daten dennoch eine Hilfe bei der Bestimmung des pädagogisch Richtigen. Eine so verstandene Empirifizierung gilt ebenfalls für das Ich und ist, wie Blankertz in einer Fußnote hinzufügt 33, „kein Attentat auf die Würde des Menschen“ (ebd., S. 77)! Das ist ziemlich deutlich und ziemlich kritisch, aber zutreffend: Petzelt identifiziert Empirie als eine „Verfälschung“ (Petzelt 1964, S. 341) der Exklusivität der menschlichen Sinnhaftigkeit. Es mag sein, dass man „Psychisches nicht beobachten“ (ebd.), dass man die sinnstiftenden Aktivitätsvollzüge eines Menschen als inhaltliche (nicht physiologische oder neuronale) Verarbeitung von Denkinhalten tatsächlich nicht naturwissenschaftlichobjektivierend messen kann34 (vgl. Petzelt 1962a, S. 58). Aber Petzelt formuliert ein Empirieverbot, das dem Augenschein des Alltäglichen widerspricht und sich mit seiner ausschließlichkeitshaftigen dialektischen Ausdrucksweise dem Anschein aussetzt, dogmatisch-verbohrt oder weltfremd zu sein35. Gemäß seinen Formulierungen verbietet sich jede Objektivierung im Pädagogischen. Aber: Man kann die Körpertemperatur oder die Blutfettwerte von Menschen durchaus messen, man kann sich sogar psychischen Akten messend nähern, indem man Intelligenz testet, Wissen ab- und Motive er-fragt, gelerntes Wissen auf Kontextualisierung hin überprüft, man kann Typenbildungen vornehmen 36 – das alles ist möglich und geschieht, und dagegen ist auch nichts einzuwenden, solange die bekannten Teststandards gewährleistet sind und solange man nicht annimmt – wogegen Petzelt sich wehrt –, dass man die den Menschen auszeichnende Sinnhaftigkeit des Menschen damit ebenfalls kausalistisch erfassen würde. Die Schwachstelle in Petzelts Empiriekritik ist eine radikal nach dem Muster „ent weder … oder“ argumentierende Denkfigur, derer er sich in der Mehrzahl entsprechender Stellen bedient; dass man auch differenzierter argumentieren kann, zeigt er – leider – nur an sehr wenigen Stellen (Petzelt 1962a, S. 139; 1962b, S. 252; 1964, S. 199), die den PetzeltKundigen wohl nicht aufgefallen und den Petzelt-Kritikern gar nicht bekannt sind. Petzelt hat dem Vorwurf der Empiriefeindlichkeit in die Hände gespielt und mit seiner Empiriekritik – wiederum leider – das Niveau unterboten, das er z. B. in seinen feindifferenzierten, ausgezeichneten und unpolemischen Analysen zum Unterrichts- und Erziehungsprozess (vgl. Petzelt 1964, S. 167 f f.) demonstriert.
106
Bildung an ihren Grenzen
Vierte Teil-These: Petzelts Rekurs auf Tatsachen wird von ihm nicht kontrolliert. Erläuterung: Bei Blankertz gibt es eine weitere Überlegung gegen das verkürzte Empirieverständnis mancher Allgemeiner Pädagogen. Transferiert auf Petzelt betrifft es seinen Rekurs auf Tatsachen. Sicherlich kann man Petzelts Empiriefeindlichkeit mit seiner Tat sachenaffinität kontrastieren, aber dabei sollte man nicht übersehen, dass auch dieser Tatsachenrekurs Petzelts nicht ganz überzeugt. Seine häufigen Bezüge auf Tatsächliches (z. B. Schülerleistungen und -einstellungen, Beobachtungen zum Säugling, Kleinkind, Pubertierenden oder auch zur politisch verursachten Unterrichts- und Erziehungskatastrophe, s. Kauder 1997) bleiben, weil sie nicht mit Empirie unterfüttert sind, im Umkreis eigener „zufälliger persönlich-subjektiver Erfahrungen“ stecken (Blankertz 1966, S. 72). Das bedeutet – wie Blankertz mit einem Roeder-Zitat sagt – „,den Verzicht auf eine methodische Überprüfung der Reichweite der eigenen Erfahrungen‘“ (ebd., S. 73). Überträgt man das auf Petzelt (was Blankertz nicht ausdrücklich, aber indirekt nahelegt, vgl. ebd., S. 72), so argumentiert Petzelt zwar aus Anlass von Tatsachen, die er als repräsentativ voraussetzt, ohne diese Repräsentanz legitim empirisch auszuweisen. Es fehlt bei Petzelt ein – wie Mollenhauer (Mollenhauer 1966, S. 55) und Blankertz sagen –, „empiristisches Sinnkriterium für denjenigen Teil erziehungswissenschaftlicher Sätze, der sich auf Erfahrungen bezieht“ (Blankertz 1966, S. 72), also eine Prüfinstanz sowohl für Aussagesätze in der Pädagogik als auch für pädagogisch legitimierte Aussagen, die sich auf Erfahrungen beziehen und ggf. an Erfahrung auch scheitern können. Dass dies von Petzelt selbst nicht gesehen wurde und nach Lage der Mitte der 1960er-Jahre erst beginnenden Theoriediskussion innerhalb und außerhalb des empirischen Lagers auch nicht mehr gesehen werden konnte, ist zuzugeben; retrospektiv aber von heute her gesehen ist sein Tatsachenrekurs nicht hinreichend kontrolliert.37 2.3
Petzelts Empiriekritik in biographischer Sicht
Dass Petzelts Empirieverständnis problematisch ist, dürfte deutlich geworden sein. Es lassen sich aber einige biographische Aspekte nennen, die sein Empirieverständnis (nicht verteidigen, aber) erklären können: 1934 entzogen die Nationalsozialisten dem damals 48-jährigen Petzelt die vier Jahre zuvor erhaltene Professur an der Pädagogischen Akademie in Beuthen und maßregelten ihn mit weiteren Maßnahmen bis 1945. Seine Versuche, in Leipzig eine Professur zu erhalten, scheiterten am SBZ- Regime, so dass er 1949 nach Münster geflohen ist. Erst drei Jahre später (1952) ist er dort zum Ordinarius für Pädagogik ernannt worden (vgl. Kauder 1990; Rothland 2008, S. 138 f f.). Erst jetzt, im Alter von 66 Jahren, war es ihm möglich, ungehindert in Forschung und Lehre akademisch wirksam zu werden. In den wenigen Jahren bis zur Emeritierung entfaltete er unter Zeitdruck seine prinzipienwissenschaftlich-pädago gische Systematik, mit der er zugleich einen Beitrag leisten wollte gegen politische Ver zweckung des Pädagogischen und gegen die damit zusammenhängende Ausschaltung der Aktivität des Ich (vgl. Kauder 1997). Damit fokussiert er sich ausschließlich auf legitima
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
107
tionstheoretische Begründungsfragen hinsichtlich der Fundamente, auf denen pädago gische Theorie und Praxis aufbauen und ließ alle anderen Probleme, die dafür nicht wichtig waren, beiseite. So gesehen war ihm der Ausbau einer genuinen systematischen Pädagogik, deren Grundzüge das gleichnamige exzellente und im Vergleich zu anderen Systematischen Pädagogiken (etwa von Flitner, Henz, Esterhues …) imponierende und originäre Buch beinhaltet, wichtiger als eine gründliche Auseinandersetzung mit Empirie (und ihren Vertretern und Spielarten), die für die pädagogische Geltungsproblematik ohnehin nichts leistet. Hierzu hat es ihm ausgereicht, auf die Grenze von Empirie in ihrer Anlasshaftigkeit für Prinzipienfragen hinzuweisen. Dies mag erklären, warum Petzelt das Empirieproblem immer nur streift, ohne es jemals ausführlich herzuleiten. Dass er sich oft mit markigen Formulierungen zur Empirie äußert, liegt zum Ersten daran, dass hier mit einem für ihn grundverkehrten Menschenbild gearbeitet wird, das die unhintergehbare Aktivität als anthropologische Prämisse infrage stellt und entsprechend das pädagogische auf Aktivität basierende Bildungsanliegen untergräbt. Zum Zweiten spielt Petzelts politischer Impetus, entstanden aus seinen Erfahrungen mit politischen Diktaturen, eine Rolle: Denn in Anbetracht der nationalsozialistisch herbeigeführten „Unterrichts- und Erziehungskatastrophe“ hält Petzelt eine Gesellschaft, von denen eine oder mehrere Generationen im Sinne einer empirischen Pädagogik erzogen worden sind, im besonderen Maß für ideologieanfällig. „Es muß hart ausgesprochen werden, daß eine bloße empirische Bildungslehre eine katastrophale Gefahr für ein Volk bedeutet.“ (Petzelt 1962a, S. 117) Dies ist m. W. die einzige Stelle, in der Petzelt einen linearen Zusammenhang zwischen politischer Okkupation und empirischer Pädagogik herstellt. Die Erfahrungen, die Petzelt gemacht hat, und die Befürchtung einer Wiederholung mögen auch die Ursachen für den heftigen Stil sein, den Petzelt gegenüber Empirie anschlägt, und es mag vielleicht auch erklären, dass er sich Empiriker als durchweg oder mehrheitlich theoriefeindlich und unbeirrbar zahlengläubig vorzustellen scheint.38 2.4
Zusammenfassung
Petzelt hat u. a. ein Empirieverbot hinterlassen (das aber kein umfassenderes Tatsachenverbot ist). Entsprechend kommt es darauf an, ob „Empirie“ in einem engen (mit Anführungszeichen) Sinn als standardisierte Methode (wogegen Petzelt fortwährend anschreibt) oder im weiten Sinn verwendet wird (ohne Anführungszeichen), in dem der Rekurs auf Tat sachen als Reflexionsanlass nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig ist (vgl. Petzelt 1962a, S. 65). So gesehen ist Petzelt „empiriefeindlich“ (!), aber nicht empiriefeindlich (!). Festzuhalten ist, dass er eine im engen Sinn verstandene empirische Methode und Methodologie ablehnt, und das ist eine Position, die für die maßgebenden Vertreter der PetzeltSchule zum Ende der 1950er- / A nfang der 1960er-Jahre zum Problem wurde bzw. von (wieder einmal) Blankertz aus gegebenem Anlass zum Problem gemacht wurde. – Diese Nachwirkung wird im folgenden dritten Teil beleuchtet.
108
Bildung an ihren Grenzen
3.
Petzelts „Empirieverbot“ auf dem Prüfstand des Salzburger ymposions (1966–1968) S
Die Nachwirkung des Empirieverbots Petzelts ist im Zusammenhang mit der allmählichen Etablierung empirischer Methoden und Methodologie zur Wende der 1950er- / 1960erJahre zu sehen. In diesen Jahren wird empirische Forschung erst langsam, dann sprunghaft (vgl. Ingenkamp 1992a, S. 6; Ingenkamp 1992b, S. 109; Krüger 1997, S. 41) zu einem „Forschungstyp“ bzw. einem „Forschungsfeld“, „das sich innerhalb der Erziehungswissenschaft sowohl theoretisch wie sozial breit entfaltet“ (Tenorth 2000, S. 281) und das „die Erziehungswissenschaft in diesem Umfang vor 1960 fast gar nicht gekannt“ (Tenorth 1997, S. 130) hat. Die spätestens ab 1962 mit Roths Forderung einer „realistischen Wendung in der pädagogischen Forschung“ (vgl. Lehberger 2009, S. 11; Tenorth 2004, S. 378) ein setzende Diskussion (vgl. Röhrs 1964, S. 1; Groothoff 1964, S. 7) um den „theoretischmethodischen Status der Erziehungswissenschaft“ (Tenorth 2004, S. 377) wird hart und kontrovers zwischen philosophisch orientierten Pädagogen und sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungswissenschaftlern geführt.39 In dieser Zeit liegt das Thema „Empirie“ in der Luft und wird auch zum Thema des Salzburger Symposions – einem bis heute bestehenden philosophisch orientierten Kreis prinzipienwissenschaftlicher Pädagogen (vgl. Ritzel 1984), das sich 1964 konstituiert hat und maßgeblich durch einige Schüler Petzelts und Vertreter der Petzelt-Schule (Heitger, Fischer, Ruhloff …) mitgeprägt worden ist. Hier wird das Problem der „Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft“ (Heitger 1966) auf gleich drei Treffen 1966–1968 behandelt und damit zugleich das Empirieverbot Petzelt diskutiert. Im Vorwort zum Treffen 1966 heißt es, dass „die Frage nach dem, was Pädagogik als Wissenschaft sei, welcher Methoden und Fragestellungen sie sich zu bedienen hätte und wo ihre Ergebnisse aufzusuchen wären, […] in ein neues Stadium getreten zu sein“ (Heitger 1966a, S. 3) scheint. „Die gegenwärtige Auseinandersetzung vollzieht sich mehr und mehr zwischen der kritisch-philosophischen und der empirisch-positivistischen Pädagogik.“ 40 (ebd.) Die zum Stammpersonal in den 1960er-Jahren gehörenden Personen haben zwei Überzeugungen geteilt: Sie verstehen Pädagogik als „systematisch-philosophische Grundlagen“bzw. Prinzipienwissenschaft (Funke 1968, S. 75), und sie haben mehrheitlich ein kritisches Verhältnis zu empirischer Pädagogik und entsprechenden Methoden. Insofern sind sie sich, auch wenn sie teils unterschiedlich akademisch sozialisiert worden sind, in der vor allem von Petzelt formulierten Empiriekritik einig.41 Wenn man die Diskussionsberichte dieser drei Jahre und die Beiträge von Blankertz, Fischer und Funke (als Stammsymposiasten) durcharbeitet, dann wird Petzelts Standpunkt mehrmals teils kritisch, teils zustimmend aufgegriffen, dass empirische Forschung keinen Beitrag zur Geltungsfrage pädagogischer Grundbegriffe und Grundsätze leistet und nicht leisten kann (vgl. Fischer 1968, S. 61; Ruhloff 1966, S. 89; Ruhloff 1969, S. 96). „Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“ (Petzelt 1961b, S. 24) – so scheint damals in Salzburg der Tenor dieser Empiriedistanz bzw. -kritik gelautet zu haben, ein Tenor, den man in ähnlicher Form
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
109
bei März (März 1965, S. 17)42 oder Flitner (Flitner 1957, S. 19; Flitner 1989, S. 17)43 lesen kann und den Petzelt in besonders starken Worten ausdrückt. Dass und wie sich die Salzburger Symposien der Jahre 1966 bis 1968 am Empirieproblem und bestimmten Facetten davon abgearbeitet haben, lässt sich grob wie folgt zeigen. Als These und vorweggenommenes Ergebnis formuliert: Die anfängliche Distanz gegenüber Empirie ist im Laufe von drei Symposien einer differenzierteren Auseinander setzung gewichen. Petzelts Schüler „versuchen, dessen in gewissem Sinne normatives System vorsichtig auf Tatsachenwissenschaften hin zu öffnen. Sie können heute nicht mehr auf das empirisch aufzuhellende Gebiet der Erziehungswissenschaft verzichten […]“ (Ballauff / Schaller 1973, S. 693), so formuliert es Ballauff, der an den damaligen Treffen teilgenommen hat. Zu Beginn 1966 scheinen die meisten Teilnehmer der Empirie kritisch gegenübergestanden zu haben, und für sie müssen die Vorträge von Mollenhauer und Blankertz eine starke Herausforderung gewesen sein. Beide insistieren darauf, dass es bei einer kritischen Empirie-Diskussion nicht bleiben könne, sondern dass man sich auch nolens-volens konstruktiv der Empirie als Methodologie und als Methode zuwenden müsse. Das hat zu harten und kontroversen Diskussionen geführt und ist belegbar: Am Ende des Vortrags von Mollenhauer, der die Teilnehmer erstmals mit der Notwendigkeit eines „empiristischen Sinnkriteriums“ (Mollenhauer 1966, S. 57) konfrontiert, hat – wie es im Bericht heißt – die Diskussion, „kaum […] Übereinstimmung auch nur in den wichtigsten Punkten erbracht“ (Ruhloff 1966, S. 88). Der anschließende Vortrag von Blankertz scheint dann dazu geführt zu haben, dass die kritische Frontstellung der Mehrheit der Teilnehmer gegen Empirie einer differenzierteren Sicht gewichen ist. Er hat ebenfalls eine empirieaufgeschlossene Position vertreten und zugleich in teils direkter und teils indirekter Bezugnahme auf Petzelt und dazu in sehr geschickter Weise erst die Stärken und dann die Schwächen von Petzelts Empiriekritik dargelegt (s. o.); anschließend hat er darauf hingewiesen, dass eine empiriekritische oder -feindliche Position à la Petzelt auf Dauer einer philosophisch-prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik schadet (vgl. Blankertz 1966, S. 72 f.). Wenn man die Vorträge von Mollenhauer und Blankertz zusammennimmt, haben sie wie folgt argumentiert: Beide stimmen darin überein, dass sich die philoso phische Pädagogik der Empirie zu öffnen habe. Auch wenn man dem Festhalten an trans zendentaler Reflexion auf Pädagogik die „philosophische Dignität“ (Mollenhauer 1966, S. 57) nicht absprechen könne, mache man aber damit allein die „pragmatische Relevanz“ (ebd.) prinzipienwissenschaftlicher Pädagogik nicht deutlich. Ein solcher Rückzug aufs transzendental-reflexive Geschäft komme einer Selbst-Marginalisierung innerhalb der Pädagogik gleich, während sich diese als Disziplin ab spätestens Mitte der 1960er-Jahre sozialwissenschaftlichen Methoden öffne. Blankertz postuliert folglich einen empirischen „Nachholbedarf der pädagogischen Forschung“ (Blankertz 1966, S. 72). Empirie und Theorie bedürfen und kontrollieren einander wechselseitig: „Demzufolge“ brauchen Empirie und ihre Methoden die „Kritik der Theorie; andererseits aber kontrolliert die so erfaßte Wirklichkeit auch die Theorie, indem sie sie daran hindert, zur utopischen Weltverbesserungsideologie oder zur konservativen Apologie des Vergangenen zu werden“
110
Bildung an ihren Grenzen
(ebd.). Anders gesagt: Transzendentalpädagogische Reflexion benötigt empirische Erdung und empirische Forschung philosophische Erdung. Liest man im Bericht zum Treffen 1966 weiter, so scheint es dieser Vortrag von Blankertz gewesen zu sein, der die Teilnehmer mehrheitlich nachdenklich gegenüber der eigenen Empiriedistanz gemacht hat, wie dem Bericht zu entnehmen ist: „Nach dem Referat von Herwig Blankertz wurde diese Richtung, die die Erörterung des Empirieproblems in der Pädagogik einzuschlagen nicht umhin kann, schärfer gefaßt.“ (Ruhloff 1966, S. 88) Für dieses Umdenken spricht, dass man das Thema nicht als erledigt betrachtet, sondern für 1967 ein Fortsetzungssymposion festgelegt hat (vgl. ebd., S. 90)44. 1967 auf dem Folgetreffen positioniert sich Fischer seitens des Stammpersonals neu: Er räumt – das markiert einen zaghaften, aber sichtbaren Umschwung der Sicht der Salzburger Symposiasten auf Empirie45 – empirischen Forschungen ausdrücklich ein Recht innerhalb der Pädagogik ein. Legitimationstheoretisch taugen sie nicht, aber „das schmälert nicht ihre zwar untergeordneten, auxiliär-anlaßbietenden, pädagogisch allererst aufzuarbeitenden und durch keinerlei begriffliche Anstrengung ersetzbaren Leistungen“ (Fischer 1968, S. 61; vgl. Ruhloff 1969, S. 101). Fischer erkennt damit an, dass empirische Forschung da etwas leisten kann, wo Begriffs- und Prinzipienreflexion versagt. Auch wenn er der Empirie eine „untergeordnete“ Rolle beimisst, so erkennt er sie immerhin als „auxiliär“ an. Damit positioniert er sich konstruktiver als sein Lehrer Petzelt zum Empirieproblem und setzt sich erstmals m. E . von Petzelt ab. 1968 scheint diese Annäherung von Fischer gegenüber Empirie dazu geführt zu haben, die Thematik des Empirieproblems ein drittes Mal aufzugreifen, so dass Fischers Auxiliaritätsthese weit mehr eine Hypothese zum weiteren Nachdenken als ein abschließendes Fazit gewesen sein dürfte. Erneut hat man zwei Vertreter empirischer Methodologie ein geladen46 . Den Ertrag zur Diskussion des Vortrags von Weinert formuliert Ruhloff, die zaghafte Annäherung der Salzburger Symposiasten an Empirie andeutend, so: „Die Differenzen zwischen den Standpunkten waren damit gewiss nicht aufgehoben. Wenigstens für einen Aufgabenkreis schien sich dennoch eine Kooperationsformel oder besser: ein Regulativ für die Kooperation zwischen empirischer und theoretisch-konstitutioneller Erkenntnisarbeit anzuzeigen. Es könnte die Aufgabe erfahrungswissenschaftlicher Forschung in der Pädagogik sein, Methoden zu entwickeln, die pädagogische Prinzipien und Grundsätze realisierbar machen, ohne sie aufzulösen.“ (Ruhloff 1969, S. 97)47 Weniger verklausuliert heißt das, den Ball ins Lager der Empiriefraktion zu spielen und ihr zu signalisieren, dass man seitens der Theoriefraktion die Entwicklung empirischer Methoden erwarte, mit denen sich pädagogisch-philosophische Aussagen empirisch prüfen lassen. Denkt man dabei an die Mahnungen von Mollenhauer und Blankertz zwei Jahre zuvor, so ist dies als Zugeständnis zu werten, sich auf das „empiristische Sinnkriterium“ für solche pädagogischen Aussagen einzulassen, die „sich auf Erfahrungen“ (Blankertz 1966, S. 72) beziehen. Auch wenn empirische Forschung keinen positiven Beitrag zum Konstitutionsproblem erbringen kann (vgl. Ruhloff 1969, S. 101), so lassen sich zwei Ergebnisse festhalten: Erstens wird – wohl eher nolens als volens 48 – u. a. die folgende Option für eine Öffnung zur Empirie formuliert: Es sei denkbar, „innerhalb der disziplinären Gliederung der Pädago-
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
111
gik u. a. Zweige für empirische Forschung und Konstitutionsforschung“ vorzusehen und „empirische Forschung als ,auxiliäres‘ Unternehmen“ (Ruhloff 1969, S. 101) zu bestimmen. So lautet das über drei Tagungen zäh errungene Ergebnis zum Verhältnis von päda gogischer Theorie und erziehungswissenschaftlicher Empirie. Damit haben die Schüler Petzelts das Empirieverbot Petzelts transformiert. Um es in der damaligen Terminologie zu sagen, haben sie sich in Form eines ,Wandels durch Annäherung‘ an Empirie von ihrem Lehrer ,emanzipiert‘, ohne dabei die Petzeltsche Prinzipiensystematik als Ganze zu ver raten. Zweitens: Mit dieser Option ist Petzelts Frage, ob „Empirie überhaupt eine Wissenschaftsqualität“ (Petzelt 1962a, S. 119) ist, überholt und in die Frage überführt worden, wie Allgemeine Pädagogik mit empirischer Forschung umgeht und sie ggf. in die eigene Forschung integriert. Aber das ist ein noch andauerndes (vgl. Breinbauer / Weiss 2011) und hier nicht mehr zu schilderndes Kapitel erziehungswissenschaftlicher Wissenschaftsforschung.
Literatur: Ballauff, Th. / Schaller, K. (1973): Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Bd. 3. Freiburg / München. Benner, D. (1973): Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien. München. Blankertz, H. (1982): Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar. Blankertz, H. (1966): Pädagogische Theorie und empirische Forschung. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. S. 65–78. Breinbauer, I. M. (1996): Einführung in die Allgemeine Pädagogik. Wien. Breinbauer, I. M. / Weiß, G. (Hrsg.) (2011): Orte des Empirischen in der Bildungstheorie. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II. Würzburg. Brezinka, W. (1959): Die Pädagogik und die erzieherische Wirklichkeit. In: Zeitschrift für Pädagogik 5. S. 1–34. Derbolav, J. (1956): Die gegenwärtige Situation des Wissens von der Erziehung. Bonn. Fischer, W. (1968): Die Bedeutung erziehungswissenschaftlich-empirischer Forschungen für die Grundlegung der Pädagogik, erörtert an einer fiktiven Untersuchung über die Wirkung von Strafen. In: Heitger, M. (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen des empirisch-positivistischen Ansatzes in der Pädagogik. Bochum. S. 50–61. Fischer, W. / Ruhloff, J. (1998): Über den Umgang mit pädagogischen Tatsachen. In: Böhm, W. / Wenger-Hadwig, A. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft oder Pädagogik? Würzburg. S. 103– 114. Flitner, W. (1989): Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft. Eine Studie über Hermeneutik und Pragmatik, Sinnaufklärung und Normauslegung [1957]. Paderborn. Flitner, W. (1983): Systematische Pädagogik. In: Flitner, W.: Pädagogik. Systematische Pädagogik. Allgemeine Pädagogik. Hrsg. v. Hans Scheuerl. Paderborn / München / Wien / Zürich. S. 9 –122. Flitner, W. (41957): Allgemeine Pädagogik. Stuttgart.
112
Bildung an ihren Grenzen
Funke, G. (1968): Die Problematik einer rein empirisch betriebenen Pädagogik. In: Heitger, M. (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen des empirisch-positivistischen Ansatzes in der Pädagogik. Bochum. S. 62–93. Groothoff, H.-H. (Hrsg.) (1964): Pädagogik. Frankfurt a. M. Heitger, M. (Hrsg.) (1966): Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. Heitger, M. (1966a): Vorwort. In: Heitger M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. S. 3. Heitger, M. (1996b): Die Erziehungswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Psychologie und Sozio logie. In: Präsidium des Deutschen Hochschultages (Hrsg.): Psychologie und Soziologie in ihrer Bedeutung für das erziehungswissenschaftliche Studium. Weinheim. S. 85–98. Ingenkamp, K. (1992a): Ausbreitung und Akzeptanz der empirisch-orientierten Pädagogik. In: Ingenkamp, K. / Jäger, R. / Petillon, H. / Wolf, B. (Hrsg.): Empirische Pädagogik 1970–1990. Weinheim. S. 4 –15. Ingenkamp, K. (1992b): Die Anfänge der Arbeitsgruppe für empirische pädagogische Forschung, AEPF, 1965–1969. In: Empirische Pädagogik 6. S. 109–117. Kant, I. (1956): Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Raymund Schmidt. Hamburg. Kauder, P. (2013): Wissenschaftliche Schulen – Nütz- und Netzwerke besonderer Art? In: Grunder, H.-U. / Hoffmann-Ocon, A. / Metz, P. (2013) (Hrsg.): Netzwerke in bildungshistorischer Perspektive. Bad Heilbrunn. S. 121–131. Kauder, P. (2010): Wissenschaftliche Schulen in der Erziehungswissenschaft – Exemplarische und explorative Annäherungen an ein kaum erforschtes Thema. In: Zeitschrift für Pädagogik 56. S. 564–581. Kauder, P. (1997): Prinzipienwissenschaftliche Systematik und „politischer Impetus“. Eine Unter suchung zur Pädagogik Alfred Petzelts. Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York. Kauder, P. (1990): Alfred Petzelt 1886–1967. Ein Lebenslauf. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 66. S. 360–380. Kauder, P. (1987): „Erfahrung“, „Empirische Erkenntnis“ und „Erkenntnis des Empirischen“ im pä dagogischen Denken Alfred Petzelts. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 63. S. 434–456. Klafki, W. (1968): Didaktik. In: Dahmer I. / K lafki, W. (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger. Weinheim / Berlin. S. 137–173. Koch, L. (2002): Anmerkungen zur Psychologisierung des Lernens. In: Reichenbach, R. / Oser, F. (Hrsg.): Die Psychologisierung der Pädagogik. Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose. Weinheim / München. S. 71–89. Krüger, H. H. (1997): Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladen. Lehberger, C. (2009): Die ,realistische Wendung‘ im Werk von Heinrich Roth. Studien zu einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprogramm. Münster / New York / München / Berlin. Lochner, R. (1963): Deutsche Erziehungswissenschaft. Prinzipiengeschichte und Grundlegung. Meisenheim. März, F. (1965): Einführung in die Pädagogik. München. Menze, C. (1976): Die Wissenschaft von der Erziehung in Deutschland. In: Speck, J. (Hrsg.): Problemgeschichte der neueren Pädagogik. Bd. I. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz. S. 9 –107. Menze, C. (1966): Die Hinwendung der deutschen Pädagogik zu den Erfahrungswissenschaften vom Menschen. Eine geschichtliche Betrachtung. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Empirie
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“.
113
für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. S. 26–52. Mollenhauer, K. (1966): Das Problem einer empiristisch-positivistischen Pädagogik. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. S. 53–64. Petzelt, A. (1982): Tatsache und Prinzip. Philosophie und Psychologie. Frankfurt a. M. / Bern. Petzelt, A. (19643): Grundzüge systematischer Pädagogik [1947, 1955]. Freiburg i. Br. Petzelt, A. (1963): Kant. Das Fürwahrhalten läßt sich nicht mitteilen. In: Petzelt, A. / Fischer, W. / Heitger, M. / Hülshoff, R. / Pöppel, K. G. / Grupe, O.: Einführung in die pädagogische Fragestellung. Aufsätze zur Theorie der Bildung. Bd. II. Freiburg i. Br. S. 9 –61. Petzelt, A. (1962a2): Von der Frage. Eine Untersuchung zum Begriff der Bildung [1957]. 2. Auflage Freiburg i. Br. Petzelt, A. (1962b4): Kindheit – Jugend – Reifezeit [1951, 1955, 1958, 1965]. Freiburg i. Br.. Petzelt, A. (1961a2): Grundlegung der Erziehung [1954]. 2. Auflage Freiburg i. Br. 1961a. Petzelt, A. (1961b): Pädagogik und Philosophie [1949]. In: Petzelt, A. / Fischer, W. / Heitger M.: Einführung in die pädagogische Fragestellung. Aufsätze zur Theorie der Bildung. Freiburg i. Br. S. 11–24. Petzelt, A. (1961c): Psychologie und Pädagogik [1959]. In: etzelt, A. / Fischer, W. / Heitger M.: Einführung in die pädagogische Fragestellung. Aufsätze zur Theorie der Bildung. Freiburg i. Br. S. 25–46. Petzelt, A. (1961d): Über das Lernen. In: Petzelt A. / Fischer, W. / Heitger, M.: Einführung in die pädagogische Fragestellung. Aufsätze zur Theorie der Bildung. Freiburg i. Br. S. 73–92. Petzelt, A. (1954a): Bericht über Deutschland. In: Plancke, R. L . / Verbist, R. (Hrsg.): International Congress for the University Study of Education. Gent. S. 157–173. Petzelt, A. (1954b): Pädagogik als Wissenschaft. In: Deutsches Institut für wissenschaftliche Pädagogik, Münster / Institut für Vergleichende Erziehungswissenschaft, Salzburg (Hrsg.): Lexikon der Pädagogik. Bd. III. Freiburg i. Br. Sp. 755–758. Petzelt, A. (1928): Einführung in die neuere Psychologie. Eine Erörterung aus Anlaß des gleichnamigen Buches. In: Der Blindenfreund 48. S. 49–60. Reble, A. (197111): Geschichte der Pädagogik. Stuttgart. Rekus, J. (1993): Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht. Weinheim / München. Ritzel, W. (1984): Das Salzburger Symposion 1964–1984. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaft liche Pädagogik 60. S. 382–395. Roeder, P. M. (1964): Pädagogische Tatsachenforschung. In: Groothoff, H.-H. (Hrsg.): Pädagogik. Frankfurt a. M.. S. 238–246. Röhrs, H. (1964) (Hrsg.): Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit. Frankfurt a. M. Rothland, M. (2008): Disziplingeschichte im Kontext. Erziehungswissenschaft an der Universität Münster nach 1945. Bad Heilbrunn. Ruhloff, J. (1982): Alfred Petzelt – Leben, pädagogischer Grundgedanke, „Tatsache und Prinzip“. In: Petzelt, A.: Tatsache und Prinzip. Philosophie und Psychologie. Frankfurt a. M. / Bern S. 11–24. Ruhloff, J. (1969): Empirie und Geschichte im Begründungsproblem der Pädagogik – Diskussionsbericht vom 5. Salzburger Symposion. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur pädagogischen Dimension von Psychologie, Soziologie und Geschichte. Bochum. S. 93–108. Ruhloff, J. (1966): Diskussionsbericht zum III. Symposion. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft. Eine kritische Auseinandersetzung über wissenschaftstheoretische Grundfragen der Pädagogik. Bochum. S. 79–91.
114
Bildung an ihren Grenzen
Schmidt, N. D. (1995): Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven. Reinbek. Tenorth, H.-E. (1997): Erziehungswissenschaft in Deutschland – Skizze ihrer Geschichte von 1900 bis zur Vereinigung 1990. Opladen. S. 111–154. Tenorth, H.-E. (2000): Erziehungswissenschaftliche Forschung und ihre Methoden im 20. Jahrhundert. In: Benner, D. / Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext. Weinheim / Basel. S. 264–293. Tenorth, H.-E. (2004): Erziehungswissenschaft. In: Benner, D. / Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim / Basel. S. 341–382. Vogel, P. (1989): Die neukantianische Pädagogik und die Erfahrungswissenschaften vom Menschen. In: Oelkers, J. / Schulz, W. / Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Neukantianismus. Kulturtheorie, Pä dagogik und Philosophie. Weinheim. S. 127–164. Weinert, F. (1969): Der Beitrag der Psychologie zu einer Theorie des Lehrens. In: Heitger, M. (Hrsg.): Zur pädagogischen Dimension von Psychologie, Soziologie und Geschichte. Bochum. S. 5 –21.
Hegel über den Anfang der logischen Bildung von Lutz Koch
Hegel über den Anfang der logischen Bildung
Lothar Wigger hat sich mehrfach über Hegel zu Wort gemeldet, zuletzt über „Pädagogik und Religion in Hegels System“ (Wigger 1994) und über „Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie“ (Wigger 2003). Das rechtfertigt die nachfolgende Erläuterung eines bisher unbeachteten Hegelwortes in einer Festschrift, die Lothar Wiggers wissenschaft liche Leistung zu würdigen versucht. Es geht in dieser Erläuterung um den Anfang dessen, was Hegel als „logische Bildung“ bezeichnet hat und um das, was allgemein unter diesem Begriff zu verstehen ist.
1.
Logische Bildung
Als Hegel 1808 Gymnasialdirektor in Nürnberg wurde, hatte er bereits ein Jahr zuvor in Bamberg und Würzburg seine „Phänomenologie des Geistes“ veröffentlicht. Nach dem Abschied von Jena im Jahre der Niederlage Preußens gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt 1806, übersiedelte er nach Bamberg, wo er 1807 die Redaktion der „Bamberger Zeitung“ übernahm, um aber schon ein Jahr später (1808) am Nürnberger Ägidiengymnasium, einer Gründung Melanchthons, Rektor und Lehrer („Professor“) der „Vorbereitungswissenschaften“ für das wissenschaftliche Studium der Philosophie zu werden (man stelle sich vor, dass heute jemand mit der „Phänomenologie des Geistes“ in der Tasche Rektor eines Gymnasiums würde!). Hinzu kam die Berufung zum städtischen Lokal-Schulrat (1813), einem Amt, das er drei Jahre lang bis zu seinem Weggang aus Nürnberg nach Heidelberg (1816) wahr genommen hatte; seine übrigen Nürnberger Ämter als Rektor und Professor hatte er insgesamt acht Jahre inne. In dieser Zeit konnte er Erfahrungen machen, wie sie heute kaum ein „Bildungswissenschaftler“ besitzt, ganz abgesehen von seiner Theorie der gymnasialen Bildung, der wir in Hegels Gymnasialreden begegnen und deren Grundlagen in der „Phänomenologie“ und in der „Wissenschaft der Logik“ zu suchen sind, deren erster Band 1812 in Bamberg und Würzburg erschienen war. Zu Hegels Rektoratsaufgaben gehörten die Reden zum jeweiligen Schuljahresabschluss, in denen er über das Programm und die Leistungen seiner Gymnasialanstalt öffentliche Rechenschaft abzulegen hatte. In der Rede zum Schuljahresabschluss von 1809 findet sich die für die gegenwärtigen Überlegungen titelgebende Wendung vom „Anfang der logischen
116
Bildung an ihren Grenzen
Bildung“ (IV, S. 322).1 Diese Bildung ist für Hegels äußerst bemerkenswerte Rede, auf deren Interpretation hier verzichtet werden muss, von erheblicher Bedeutung, auch wenn die Grammatik als Anfang der logischen Bildung erst am Schluss der Rede zur Sprache kommt. Dieses Thema soll hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, denn es ist zu berücksichtigen, was Hegel in der Einleitung seiner „Wissenschaft der Logik“ andeutet: „das Studium dieser Wissenschaft, der Aufenthalt und die Arbeit in diesem Schattenreich“ sei „die absolute Bildung und Zucht des Bewusstseins“ (V, S. 55). Wenn das so ist, dann haben wir es beim Anfang der logischen Bildung mit dem Anfang der absoluten Bildung des Bewusstseins zu tun, d. h. mit dem nach Hegel tiefsten und alles umfassenden Moment der Bildung.
2.
Kategoriale Grammatik
Am Anfang der „logischen Bildung“ steht im Gymnasium der Grammatik-Unterricht, das „grammatische Studium“ (IV, S. 322). Die Grammatik der alten Sprachen war schon immer ein Kernbereich des mittelalterlichen Schulwesens, des humanistischen Gymnasiums und der ratio studiorum der Jesuiten; überhaupt war es als Bestandteil des „Triviums“ über zwei Jahrtausende hinweg eines der Elemente der sieben „freien Künste“. Dass man die Grammatik, allem voran die lateinische, gelernt hatte, war für den Absolventen des humanistischen Gymnasiums und der Universität folglich „trivial“. Innerhalb der komplexen Spracherlernung hebt sich das grammatische Studium nach Hegel als eine Sache des Verstandes vom „mechanischen“ Lernen ab, das beim Erwerb einer Fremdsprache unvermeidlich ist (man kann an die Deklinationen und Konjugationen u. a. m. erinnern). Beim „mechanischen“ Lernen muss man nicht denken, man braucht keinen Verstand, nur Gedächtnis und Fleiß. Hier gilt es nicht, den Lernstoff zu verstehen (womit Verstand zusammenhängt), sondern ihn, den Lernstoff, zu haben, ihn zu beherrschen. Dass die Grammatik hingegen eine Sache des Verstandes ist und den „Anfang der logischen Bildung“ ausmacht, liegt nach Hegel daran, dass sie die „Kategorien“ zum Inhalt hat, „die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes“ (IV, S. 322.). Zweifellos denkt Hegel, wann immer er von Kategorien spricht, an Aristoteles und Kant, vor allem aber an Kant, wenn er die Kategorien als Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes bezeichnet, denn Kant hatte die Kategorien ja seinerseits auch als „reine Verstandesbegriffe“ aufgefasst. Hegel hatte Kants Kategorientafel und Kants Deduktion der Kategorien deutlich vor Augen, was seine „Wissenschaft der Logik“ vielfach beweist (vor allem VI, S. 254 f f.), freilich hatte er sich sein eigenes Kategoriensystem gebildet, in das die kantische Kategorientafel zum Teil eingebaut ist. Das belegt ein Blick auf Hegels gymnasialen Logikkurs für die Mittelklasse aus dem Schuljahr 1808 / 09 (vgl. IV, S. 87 f f.), zeitnahe zur Abschlussrede für das Schuljahr 1809, die unseren Ausgangspunkt bildet. In dem genannten Kurs begegnen wir analog zur kantischen Kategorientafel den Momenten der Qualität, Quantität und der Qualitätskategorie der Unendlichkeit, ferner der Kategorie des Ganzen (und seiner Teile), die bei Kant als Quantitätskategorie der Allheit firmiert, ebenso
Hegel über den Anfang der logischen Bildung
117
den Kategorien der Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung, die in Kants Tafel dem Moment der Relation zugehören. Daneben führt Hegel noch andere Begriffe auf, die wie Materie, Form, Grund und Kraft in Kants System anders lokalisiert sind. Zurück zur Grammatik. Sie hat, was soeben erläutert wurde, nach Hegel die Kategorien bzw. die Verstandesbestimmungen zum Inhalt. Deswegen fange mit ihrer Erlernung „der Verstand selbst an, gelernt zu werden“ (ebd.). Das kann wohl nur bedeuten: Durch das grammatische Studium werden wir auf eine erste Weise mit den wichtigsten Verstandespro dukten bzw. mit den Hauptgedanken des Verstandes – Hegel spricht von den „geistigsten Wesenheiten“ – vertraut. Weil wir die anfängliche Bekanntschaft mit ihnen der Grammatik verdanken, kann der Wert der grammatischen Bildung offenbar nicht hoch genug ein geschätzt werden. Ihren Ausdruck findet diese Hochschätzung im Begriff der von der Grammatik vorbereiteten „logischen Bildung“, von dem wir ausgegangen sind. Jetzt können wir der Frage kaum länger ausweichen, inwiefern man denn mit Recht sagen kann, dass wir es bei den grammatischen Formen mit Verstandesbestimmungen bzw. mit Kategorien zu tun haben oder inwiefern sie zumindest darauf hinweisen. Hegel selbst deutet das nur vage an, offenbar schien es ihm auf der Hand zu liegen. Es ist nämlich seine Überzeugung, dass die Grammatik „ein Werk des Denkens“ sei, „das seine Kategorien darin bemerklich macht“, wie es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt (XII, S. 85), so dass die Grammatik ihrerseits auf die Kategorien zurückweist. Inwiefern man dieser Ansicht folgen kann und mit ihr der These, die Grammatik sei der Anfang der logischen Bildung, das soll im folgenden Abschnitt angedeutet werden.
3.
Grammatik als Anfang der logischen Bildung
Wenn wir uns in Hegels Schriften umsehen, vor allem in Hegels „großer Logik“, der „Wissenschaft der Logik“, die ebenfalls in seiner Nürnberger Zeit entstanden ist, so finden wir dort weitere Hinweise auf die Grammatik als Anfang der logischen Bildung, und zwar im letzten von Hegel überhaupt fertiggestellten Text, der Vorrede zur 2. Auflage der „Wissenschaft der Logik“. In dieser Vorrede verweist Hegel auf die Sprache, in der uns die Gedankenformen, mit denen es die Logik zu tun hat, zuerst begegnen. Hegel drückt das so aus: „Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt.“ (V, S. 20) Sie sind „herausgesetzt“, d. h. die Sprache ist Ausdruck des Inneren bzw. der Gedankenformen. Von unserer Seite aus lässt sich zur Erläuterung anführen: Wenn von Begriffen die Rede ist, so sind die sprachlichen Ausdrücke das Erste, was uns in den Sinn kommt, grammatisch formuliert: die Substantive. Wenn es um Urteile (Propositionen) geht, denken wir zunächst an die sprachliche Satzkonstruktion mit Subjekt, Kopula und Prädikat, aber darin drückt sich ein gedanklich-kategorialer Sachverhalt aus: das Verhältnis von Substanz und Akzidenz bzw. von Ding und Eigenschaft, welches Hegel neben dem Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen unter die „gewöhnlichsten Kategorien“ rechnet (V, S. 21). Auch die Präpositionen und Artikel sind nach ihm als grammatische Erscheinungsweisen einer zugrunde liegenden Logik zu lesen, so etwa die Präpositionen „infolge“ und „wegen“. Ergänzend kann man vor allem die
118
Bildung an ihren Grenzen
Konjunktionen „denn“ und „weil“ hinzusetzen, welche teils das logische Begründungs-, teils das reale Ursache-Wirkungs-Verhältnis, d. h. die Kausalitätskategorie, unmittelbar zum Ausdruck bringen. Wer diese Partikel benutzt, spricht und denkt schon in Kategorien; wer sie erlernt, übt sich bereits in ihrem Gebrauch, auch wenn er sich dessen noch nicht eigens bewusst ist. Immerhin hat er bereits den Anfang seiner „logischen Bildung“ gemacht. In die Einleitung seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte hat Hegel eine Bemerkung eingeflochten, die, aus ihrem Zusammenhang herausgelöst, in unseren Zusammenhang gut passt: die „ausgedehnte konsequente Grammatik“ sei das „Werk des Denkens, das seine Kategorien darin bemerkbar macht“ (XII, S. 85). Dieser Satz kann hier als Zusammenfassung des bisher Erörterten eingesetzt werden.
4.
Didaktische Hinweise
Der Anfang der logischen Bildung, der mit der Grammatik gemacht wird, ist nun, didaktisch betrachtet, ausgesprochen jugendfreundlich. Das sollte man eigentlich nicht erwarten, wenn doch die Grammatik die Kategorien, die Hegel auch als „geistigste Wesenheiten“ bezeichnet (IV, S. 322), zu ihrem Inhalt hat und in den grammatischen Formen zur Anwendung bringt. Gleichwohl ist Hegel der Überzeugung, sie seien etwas „höchst Fassliches für die Jugend“ (ebd.), und zwar aus zwei Gründen. Erstens sind sie das „ganz Einfache“ (ebd.) und zweitens können wir sie, weil sie schon „in uns“ sind, „unmittelbar verstehen“ (ebd., 232). Hinzu kommt nach Hegel, dass die Grammatik die Kategorien auf durchaus alters gemäße Weise durch äußerliche und schon in der Sprache selbst liegende Hilfsmittel zu unterscheiden lehrt; wir können auch hier an die Konjunktionen „denn“ und „weil“ oder an quantitative Angaben wie „einer“, „viele“, „alle“ oder an die Präpositionen „etwas“ und „nichts“ u. a. m. denken. Gehen wir kurz auf die Einfachheit und unmittelbare Verständlichkeit der Kategorien ein. Ihre Einfachheit veranschaulicht Hegel durch die Analogie mit den Buchstaben, genauer mit den Vokalen (denn die Konsonanten sind ja, wie der Name sagt, nur Mitlaute). Mit ihnen fangen wir nach Hegel an, das Geistige „buchstabieren und dann lesen zu lernen“ (IV, S. 322). Hier spielt vermutlich eine Reminiszenz an Kants „Prolegomena“ (§ 30) hinein, wo es von den Kategorien heißt, sie dienten „gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“ (ebd.). Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem Gebrauch des Kategorienalphabets bei Kant und bei Hegel: dort geht es darum, Erfahrung zu buchstabieren, hier darum, das Geistige lesen zu können. Die Kantische Restriktion des Kategoriengebrauchs auf Erfahrung ist bei Hegel aufgehoben. Aber auch bei Kant sind die Kategorien etwas Geistiges, d. h. Erzeugnisse des Verstandes mit objektiver Gültigkeit, die nach ihm allerdings auf Erfahrung eingeschränkt sind. Diese an und für sich erhebliche Divergenz kann an dieser Stelle übergangen werden, weil sie die zu erläuternde Wendung von der Grammatik als Anfang der logischen Bildung nicht beeinträchtigt. Die anfängliche logische Bildung, um die es uns geht, findet ihren Kern in den Elementargedanken allen Denkens und Verstehens überhaupt, in den Kategorien. Sie sind die Buchstaben, mit denen
Hegel über den Anfang der logischen Bildung
119
unser Geist seine Erkenntnisse schreibt. Und sie sind leicht fasslich, selbst für die Jugend, eben weil sie so einfach sind, so dass nach Hegels Auffassung „wohl nichts Geistiges leichter fasslich ist als sie“ (IV, S. 322). Dass wir die Kategorien ferner unmittelbar verstehen, liegt zweifellos daran, dass wir ohne sie überhaupt nichts, kein „Etwas“ und keinen „Gegenstand“ verstehen können, denn was „Etwas“ oder auch „Gegenstand“ bedeutet, ist nicht aus der Erfahrung abstrahiert, sondern kategorial vorgedacht, kann und braucht also nicht „vermittelt“ zu werden. Das will es bedeuten, wenn es heißt, dass die Kategorien schon „in uns“, d. h. in unserem Denken liegen, so dass durch die grammatischen Formen und die äußerlichen „Hilfsmerkmale“ der Sprache (IV, S. 322) nur auf sie aufmerksam und an sie erinnert zu werden braucht, um sie zu aktivieren, wobei man auf die üblichen Hilfsmittel der didaktischen Vermittlung, auf Hinführungen durch Beispiele oder auf ikonische Unterstützungen verzichten kann.
5.
Ansichten der Logik
Zur vollständigen Aufklärung der Wendung vom „Anfang der logischen Bildung“ ist es abschließend erforderlich, die Reichweite und die Stellung dieser Art oder auch nur Unterart der Bildung in einer umfassenden Bildungstheorie zu bestimmen. Nimmt die logische Bildung darin einen eher randständigen oder einen zentrumsnahen Platz ein? Für unsere Zeitgenossen spielt das Logische ja höchstens eine periphere Rolle, wenn wir nicht sogar einer latenten Logophobie begegnen. Versuchen wir auf die Frage nach der Stellung der „logischen Bildung“ eine Antwort bei Hegel zu finden. Schon in der Einleitung der „Wissenschaft der Logik“ erhalten wir eine recht ausführ liche Auskunft. Dort wird nach einigen Vorüberlegungen die Frage nach der Bildung und nach dem Verhältnis des Individuums zur Logik berührt (vgl. V, S. 53). Wieder denkt Hegel an Logik und Grammatik zugleich, um dann das, was er zu sagen hat, an beiden zu exemplifizieren, auch wenn es ihm allein um die Logik zu tun ist. Und zwar erläutert er, dass jede der beiden so verwandten Disziplinen (Grammatik und Logik) „in zwei verschiedenen A nsichten oder Werten erscheint“ (ebd.). Die erste Ansicht ist die des Anfängers in der Logik oder der Grammatik, „der zu ihr und den Wissenschaften überhaupt erst hinzutritt“ (ebd.), die zweite ist hingegen die Betrachtungsweise des Kundigen, der nach dem Studium der Wissenschaften zu Logik und Grammatik zurückkommt oder zurückblickt. Betrachten wir zunächst die Stellungnahmen zur Grammatik. In ihr findet der Anfänger nur „trockene Abstraktionen“, „zufällige Regeln“ und eine „isolierte Menge von Bestimmungen“, deren Bedeutung für ihn allein im jeweils unmittelbaren Sinne dieses grammatischen Inventars liegt, dessen Wert für ihn aber über diese Bedeutung nicht hinausreicht. Wer jedoch das Anfangsstadium hinter sich gebracht hat, eine Sprache beherrscht und sie mit anderen Sprachen, die er ebenfalls versteht, vergleichen kann, der sieht die Bedeutung und den Wert der Grammatik mit ganz anderen Augen. Dem Erfahrenen kann sich nach Hegels Überzeugung „der Geist und die Bildung eines Volkes in der Grammatik seiner Sprache zu fühlen geben“ (ebd.). Für den Kundigen haben die grammatischen Regeln und Formen
120
Bildung an ihren Grenzen
„einen erfüllten, lebendigen Wert“ und durch die Grammatik hindurch vermag er „den Ausdruck des Geistes überhaupt, die Logik“ zu erkennen (ebd.). In dieser Bemerkung über die Grammatik als Ausdruck der Logik und über die Logik als Ausdruck des Geistes finden wir nicht nur eine Wiederholung der Hegelschen Überzeugung, wonach die Grammatik die Logik erkennbar werden lasse, sondern auch einen Hinweis auf die überragende Bedeutung, welche die Logik für ihn hat: eben die, „Ausdruck des Geistes“ zu sein. Darauf werden wir zurückkommen. Betrachten wir aber zuvor, wie sich die zweifache Stellung (der Anfänger und der Fortgeschrittenen) zur Grammatik bei der Logik wiederholt. Dem Anfänger, der zur Logik „hinzutritt“, begegnet nur ein „isoliertes System von Ab straktionen“, ganz wie es dem Novizen der Grammatik ergeht. Diese abstrakte Logik steht kontaktlos zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder schulischen Fächern für sich alleine da; sie greift im Bewusstsein des Lernenden nicht auf andere Kenntnisse und Wissenschaften über (vgl. V, S. 54). In ihrer „farblosen“ und „kalten Einfachheit“ mutet sie gehaltlos an, verglichen mit dem „Reichtum der Weltvorstellung“ und dem realen Inhalt der anderen Wissenschaften (ebd.). So schränkt die erste Bekanntschaft mit der Logik deren Bedeutung völlig auf sie selbst ein, ebenso wie es sich mit der Grammatik verhielt. Zwar hat die Logik mit ihren Definitionen, Axiomen und Beweisen einen „formellen Einfluss“ auf andere Disziplinen, der aber zur Not entbehrlich ist und selbst nach Hegels Meinung durch die „natürliche Logik“ ersetzt werden kann. Hinzu kommt, dass das Ansprechende der Wissenschaften, welches sie für den Sinn, das Gefühl, die Vorstellung und das Praktische interessant machen, der Logik fehlt, deren Studium daher wenig Anreize bietet (vgl. ebd.). Aber wie unattraktiv die Logik dem Anfänger auch erscheinen mag, so muss sie doch nach Hegel in dieser wenig ansprechenden Gestalt „zuerst gelernt werden“, und zwar „als etwas, das man wohl versteht und einsieht, aber woran Umfang, Tiefe und weitere Bedeutung anfangs vermisst wird“ (ebd.). Es ist aber Hegels Überzeugung, dass durch die vertiefte Kenntnis der Wissenschaften das Logische allmählich als ein nicht nur abstrakt Allgemeines erscheint, sondern als ein Allgemeines, welches den „Reichtum des Besonderen“ in sich fasst (V, S. 54). Hier deutet Hegel seine eigene Auffassung der Logik als der „absoluten Wissenschaft“ an, welche „das Wesen dieses Reichtums, die innere Natur des Geistes und der Welt, die Wahrheit“ zu enthüllen vermag (ebd.). Erst dann erkennen wir den wahren Wert des Logischen, „wenn es zum Resultate der Erfahrung der Wissenschaften geworden ist“ (V, S. 55). Aus der Sicht dieser Erfahrung stellt sich das Logische sogar als die „allgemeine Wahrheit“ dar, „nicht als eine besondere Kenntnis neben anderem Stoffe und Realitäten, sondern als das Wesen alles dieses sonstigen Inhalts“ (ebd.). Während uns die Wissenschaften mit dem Reichtum der Weltvorstellung bekannt machen, erhellt die im Hegelschen Sinne aufgefasste Logik das Wesen bzw. die innere Natur der Welt und des Geistes selbst, auch wenn diese Logik und ihre Welt der „einfachen Wesenheiten“ ein Reich der von allen „sinnlichen Konkretionen“ befreiten „Schatten“ ist (ebd.).
Hegel über den Anfang der logischen Bildung
6.
121
Absolute Bildung des Bewusstseins
Was nun folgt in Hegels Text, ist die Quintessenz aller bisherigen Andeutungen über die Logik in Rücksicht auf das Bildungsthema. Im Ganzen zitiert, hat es den Wortlaut: „Das Studium dieser Wissenschaft, der Aufenthalt und die Arbeit in diesem Schattenreich ist die absolute Bildung und Zucht des Bewusstseins. Es treibt darin ein von sinnlichen Anschauungen und Zwecken, von Gefühlen, von der bloß gemeinten Vorstellungswelt fernes Geschäft.“ (ebd., S. 55) Wir halten aus dieser Passage den Hauptpunkt fest, der ja anfangs schon einmal erwähnt wurde (Abschnitt 1), dass nämlich die logische Bildung nach Hegel den Status der „absoluten Bildung und Zucht“ des Bewusstseins innehat, so dass jetzt feststeht und vor allem verständlicher wird als es zunächst möglich war, welche Stellung und welche Bedeutung jener „Anfang der logischen Bildung“ besitzt, von dem wir ausgegangen sind und der unser Thema ist. Dieser Anfang liegt, wie sich gezeigt hat, bereits im Grammatikunterricht vor und dann natürlich auch in den ersten Kursen zur Logik. Man könnte nun der Meinung sein, dass wir es bei der logischen Bildung mit einer besonderen Art oder gar Unterart der Bildung zu tun hätten, so wie man neben zahlreichen anderen Arten der Bildung auch von religiöser oder gesellschaftlicher Bildung sprechen kann (vgl. Wigger 1994; Koch 1988). Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich so nicht verhält, dass die logische Bildung des gereiften und erfahrungsgesättigten Verstandes nach Hegel nicht bloß so etwas wie eine Teil- oder Spezialbildung bedeutet, sondern den Kern der Bildung. Vielleicht ist „Kern“ kein sehr geeigneter Ausdruck und auch nicht das angemessene Bild, eher könnte man bildlich von einem „feinen Äther, der alles zusammenhalte“ (VI, S. 174) sprechen. Immerhin haben wir es ja mit der absoluten Bildung und Zucht des Bewusstseins zu tun, welches in seinen eigenen Kategorien die Elemente der Welt weiß, in denen sich die innere Natur des Geistes und der Welt enthüllt. In beidem (in der Selbstaufklärung des Geistes und in der Enthüllung der Welt) nach den Kategorien bzw. nach den eigenen Elementarbegriffen des Verstandes und der Vernunft zu verfahren, darin besteht die positive Arbeit des Geistes, während es die „negative Seite“ dieses Geschäfts und die absolute „Zucht des Bewusstseins“ ausmacht, die Zufälligkeiten des „räsonierenden Denkens und der Willkür“ fernzuhalten (V, S. 55). Hegel hat diese negative Seite auch in seinen Überlegungen zur Gymnasialpädagogik zum Ausdruck gebracht. In der Gymnasialrede von 1810 hat er an die Schüler des Pythagoras erinnert, die ihre ersten Lehrjahre hindurch schweigen mussten (vgl. IV, S. 332), um ihnen die „Richtung auf eigenes Reflektieren und Räsonieren“ abzugewöhnen, die mit selbsttätiger Beschäftigung und eigener Bemühung der Jugend beim Lernen nicht zu verwechseln ist (vgl. Koch 2001). Auch die positive Seite der logischen Bildung hat Hegel didaktisch thematisiert, und zwar mehrfach. So wie negativ das zufällige und willkürliche Räsonieren vom Bewusstsein abzuhalten ist, ebenso gilt es positiv, das Denken an das Auffassen und Erfassen des Allgemeinen, Notwendigen und Wesentlichen zu gewöhnen. So zählt, wenn wir der „Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse“ von 1810 folgen, zu den „Pflichten gegen sich selbst“ die Bildung (§ 41) und dazu u. a. die Erhebung zu allgemeinem Wissen und
122
Bildung an ihren Grenzen
a llgemein interessanten Gegenständen, ferner die Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen, wie es durch die Bestimmtheit der Kenntnisse zutage tritt (vgl. IV, S. 259). Das Moment des Notwendigen treffen wir in der Gymnasialrede von 1809 mit unserem Ausgangspunkt, dem Grammatikunterricht an. In ihm ist es nämlich „notwendig […], den durch den Verstand bestimmten Wert der Redeteile vor Augen zu nehmen und die Regel zu ihrer Verbindung zur Hilfe zu rufen“ (IV, S. 323). Das ist nach Hegel schon beim deutschen Sprachunterricht, mehr aber noch beim Erlernen der alten Sprachen erforderlich. Nicht nur, dass sie uns den Zugang zur Kunst und Literatur der Alten eröffnen und den „edelsten Nahrungsstoff […] in der edelsten Form, die goldenen Äpfel in silbernen Schalen“ darreichen (IV, S. 319), wir lernen auch an ihrer grammatischen Terminologie, uns „in Abstraktionen“ zu bewegen (IV, S. 323). Und wir lernen, das grammatische Studium als „elementarische Philosophie“ anzusehen (ebd.). Als solche aber hört es auf, nur Mittel zu sein, sondern wird selbst zum Zweck. Das ist kritisch gegen den Zeitgeist eingewandt, der Mittel und Zweck verkehrt und das „materielle Wissen einer Sprache“ höher achtet als ihre „verständige Seite“ (ebd.). Nach dieser Seite hin ist nun das Erlernen der Grammatik zugleich „anhaltende und unausgesetzte Vernunfttätigkeit“, die im beständigen Subsumieren des Besonderen unter das Allgemeine (unter die grammatischen Regeln) und umgekehrt in der Besonderung des Allgemeinen besteht (ebd.). Eben dadurch aber gewinnt der Gedanke, wie es in der „großen“ Logik heißt, „Selbständigkeit und Unabhängigkeit“ (V, S. 55). Er wird einheimisch im Ab strakten und im „Fortgehen durch Begriffe“, und zwar ohne „sinnliche Substrate“ (Bilder oder Beispiele) zu benötigen. Er wird ferner zur „unbewussten Macht“, die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse und Wissenschaften „in die vernünftige Form aufzunehmen“ und dadurch die zuvor erworbene „abstrakte Grundlage des Logischen mit dem Gehalte aller Wahrheit zu erfüllen“ (V, S. 55). Zum Schluss kommend lässt sich festhalten: Es ist ein bedeutender Weg, den das grammatische Studium der Sprache nach Hegel eröffnet. Denn auf ihm gewinnen wir unsere erste logische Bildung, die sich im Fortschreiten der Bildung zur Vernunftform unserer Kenntnisse und Erfahrungen ausweitet und vertieft, in welcher überall der Blick auf das Allgemeine, Wesentliche und Notwendige geht. Die Summe daraus lässt sich mit einem einzigen Satz Hegels aus der Rede von 1809 ziehen: „Das strenge grammatische Studium ergibt sich also als eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel.“ (IV, S. 323)
Literatur Hegel, G. W. F. wird zitiert nach: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832– 1845. Neu edierte Ausgabe (IV–VI). Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M., 1969 f f. Koch, L. (1988): Bildung und Gesellschaft in Hegels Rechtsphilosophie. In: Schurr, J. / Broecken, K. H. / Broeken, R. (Hrsg.): Humanität und Bildung. Festschrift für Clemens Menze zum 60. Geburtstag. Hildesheim / Zürich / New York, S. 170–185. Koch, L. (2001): Das Schweigen der Pythagoreer. In: Dörpinghaus, A. (Hrsg.): Denken und Sprechen in Vielfalt. Festschrift für Karl Helmer zum 65. Geburtstag. Würzburg, S. 81–94.
Hegel über den Anfang der logischen Bildung
123
Wigger, L. (1994): Pädagogik und Religion in Hegels System. In: Heitger, M. / Wenger, A. (Hrsg.): Kanzel und Katheder. Zum Verhältnis von Religion und Pädagogik seit der Aufklärung. Paderborn, S. 249–282. Wigger, L. (2003): Bildung und Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim / Basel / Berlin, S. 69– 88.
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie. Bildungstheoretische Überlegungen von Ulrike Mietzner
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
„Meine Fotografie. Ich. Es ist der Zwist zwischen ich selbst zu sein & der Beobachterinrolle …“ schreibt die Schweizer Fotografin Tjefa Wegener in ihrem autobiografischen Fotobuch. Auch die ebenfalls junge spanische Fotografin Alba Yruela bezieht ihr Fotografieren auf sich, „… that shooting was part of me.“ Und die 24-jährige deutsche Fotografin Lina Ruske (2012) bezeichnet ihr Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen sich und der wahrgenommenen Umwelt als: „Mittendrin und ständig von außen“, was an die von Helmuth Plessner beschriebene exzentrische Positionalität des Menschen erinnert. Während es der ausgesprochene Sinn von Worten und Sätzen ist, das lesbar und hörbar zu machen, was eigentlich nicht sichtbar ist, das Innere des Menschen – Gedanken, Vorstellungen und Gefühle – so ist die Bedeutung von bildlicher Darstellung nicht so klar zu beschreiben, auch wenn das Bild offen vor Augen liegt (Alloa 2011, S. 208). Jedoch wird im Bild das, worum es geht, nicht unmittelbar klar oder lässt sich zumindest nicht einfach in Worte fassen. Dennoch sollte das deiktische Potential der Bilder etwas offenbaren, was nicht in Texten auszudrücken ist, und könnte Erkenntnis auch über den Menschen und dessen In-der-Welt-sein eröffnen. Die Visibilität des Menschen, die seiner Abbildungskraft zugrunde liegt, mache radikal deutlich – so Hans Blumenberg –, dass man „vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt“ sei (Blumenberg 2006, S. 778). Diese „Fremderfahrung vom Sehenkönnen anderer“ lasse das Eingebundensein des Menschen in die Fremderfahrung überhaupt erst deutlich hervortreten, und während der Gedankenstrom eine solipsistische Einstellung des Menschen zumindest wiedergibt, sollte das Sehen und Blicken seine Abhängigkeit und Durchdrungensein von Außen deutlich machen. Visibilität umfasse zudem immer das Sich-sehen-lassen (vgl. Blumenberg 2006, S. 779), bezogen auf das hier zugrundeliegende Medium sollte also auch etwas von Selbst der Fotografien oder des Fotografen sichtbar werden und in der im Bild vorausgesetzten Visibilität gemachte Erfahrungen oder Umgangsweisen des Sehens. Die Erfindung der Fotografie diente von Beginn an dazu, die Veränderungen einer Person oder einer Familie zu dokumentieren. Das Genre des autobiografischen Fotobuchs lotet die Grenzen zwischen privater Darstellung und künstlerischer Reflexion der privaten Ge-
126
Bildung an ihren Grenzen
schichte aus. Es handelt vom Sehen und vom Angeblickt werden; als Bücher zeigen sie dem Betrachter und der Betrachterin das von der Fotografin oder dem Fotografen Gesehene, dasjenige, was er oder sie zeigen will – und sicherlich noch etwas darüber hinaus. Als Quelle der Bildungs- und Biografieforschung sind Fotobücher deshalb zumindest in dreierlei Hinsicht interessant, einmal, was sie vom Menschen zeigen, dann, wie sie es zeigen, und zuletzt, was sie anderes als Texte zeigen. Es gibt berühmte Vorbilder autobiografischer Fotobücher, zu den herausragenden und frühen Werken zählt Robert Franks: „The Lines of My Hand“ aus dem Jahr 1972, das seinen Blick auf sein Werk autobiografisch – jedoch nicht streng erzählerisch – anordnet. Dann beispielsweise Annelis Strbas „Aschewiese“ aus dem Jahr 1990 und „Shades of Time“ 1997, in denen ein Tableau einer – Strbas – Familiengeschichte entworfen wird, radikal privat im Umfeld der Großfamilie und ihrer Freunde und belebten Räume – doch durch die Bilder schimmert auch Zeitgeschichte in Umgangsstilen und Reisebildern, die Orte zeigen, die wie Herkunftsorte wirken. Berühmt und auflagestark ist auch „I, Will McBride“ – ein monumentales Werk des damals 65jährigen Fotografen aus dem Jahr 1997, in dem er seinen Blick auf die Zeit zeigt und damit auch ein bestimmtes Bild der Zeit – insbesondere der 60er Jahre – geprägt hat. Dies gilt auch für Annie Leibovitz: „A Photographer’s Life 1990–2005“, das die weltbekannte Fotografin mit etwa 55 Jahren publizierte. In das Fotobuch von Will McBride sind alte Teile eines Tagebuchs, Familienfotos und Fototagebuchs eingearbeitet, bei Leibowitz finden sich unter anderem ganz private Aufnahmen vom Sterben ihres Vaters und ihrer Freundin Susan Sontag und einige ihrer berühmten zeitgeschichtlichen Fotos. Bei Will Mc Bride sieht man die Subjektivität, er arbeitet motivisch zeitgeschichtlich. Die Fotografien von Annie Leibowitz wirken dokumentarischer, beobachtender und weniger in Szene gesetzt; doch auch sie öffnet ihre Umwelt zum Betrachter hin. Dieses autobiografische Fotobuch-Genre ist gerade bei Fotografen und Fotografinnen in der Adoleszenz en vogue – ein Beispiel ist Alba Yruela aus Barcelona, die bei der Publikation 21 Jahre alt war und ihre Fototagebücher „Diarios“ auch auf ihrer Website und bei flickr als Fotostream publiziert. Tjefa Wegener hat im Jahr 2011 im Alter von 25 ihr „Arbeitstagebuch“ mit dem Titel „Ich bin gern bei dir“ als Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin vorgelegt, das dann auch 2012 beim Deutschen Jugendfotowettbewerb einen Preis gewann. Im gleichen Jahr gewann ein weiteres Fotobuch, das ebenfalls als autobiographisch zu verstehen ist: Das Fotobuch der damals 24-jährigen Lina Ruske, „Die Raute“ – eine Seminararbeit eines Fotobuchkurses an der FH Potsdam, an der sie Fotografie studierte. Auch im privaten Kontext sind solche Fotobücher heute weit verbreitet und ersetzen teilweise Fotoalben. Im Folgenden werden Fotobücher oder Fototagebücher junger Künstlerinnen auf die Frage hin untersucht, was sie über den Prozess der Auseinandersetzung mit der Welt denn überhaupt aussagen und ob sie in theoretischer Betrachtung Beobachtungen erlauben über Bildungsprozesse und Aspekte des Selbst. Während es seit etwa hundert Jahren üblich ist, autobiografische Textzeugnisse als Quellen für Jugendleben zu verwenden, steht dies für bildliches Material aus. Die hier betrachteten Fotobücher jugendlicher Fotografinnen blicken auf einen Ausschnitt des Lebens
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
127
zurück. Ebenso wenig wie in Alben wird nicht der Anspruch erhoben, etwas vollständig zu bebildern. Bei zwei der hier betrachteten Alben geht es überhaupt nicht um besondere Ereignisse wie Reisen oder Feiern, sondern um Alltagsszenen, häufig sogar ohne Menschen – vor allem bei Lina Ruske – aber auch bei Alba Yruela. Das Fotobuch von Tjefa Wegener kreist zwar um eine persönlich einschneidende Auseinandersetzung, die aber selbst nicht unmittelbar abgebildet wird, sondern auch hier wird der Blick nach außen gewandt und auf die Beziehung der Außenwelt zur Fotografin konzentriert. Für das Thema, was und wie Bilder die Welt- und Selbstsicht zeigen, scheinen Fotobücher interessant – nicht allein wegen ihrer Verbreitung als künstlerisches wie privates Medium und wegen des Stellenwerts in den sozialen Netzwerken – sondern vor allem, weil sie bewusste Konzepte der Darstellung eines Lebensausschnittes sind. Und während das Fotobuch im Allgemeinen seit etwa zehn Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhält, gilt dies nicht für das autobiografische Genre. Das Fotobuch wird definiert als Publikationsform, die mit einer bestimmten Intention und meist von einem Autor – thematisch konzentriert – als Buch produziert wird. Es handelt sich um ein „serielles Kommunikationsmedium“, das die „Bildkonfiguration auf der gedruckten Seite“ nutzt. Die „Bedeutungs- und Wirkungsdimensionen der Fotografie“ – so der Fototheoretiker A nton Holzer 20101 – erhalten so eine eigene Ästhetik. Gerry Badger beschreibt in seiner „History of the Photobook“, es befinde sich „between Novel and Film“. Jedoch hat ein Fotobuch keine vergleichbare narrative Form, die bei der „novel“ vorauszusetzen ist, denn in der Regel ist der imaginäre Raum zwischen Bildern größer als zwischen Einzelsätzen, die sich immer unmittelbar aufeinander beziehen. Dies gilt auch innerbildlich. Und auch der Film weist auf Grund seiner linearen Bilderfolge eine andere ästhetische Form und damit andere Wirkungsweisen auf. Filmbilder bauen aufeinander auf, es gibt auch Bildsequenzen in Fotobüchern, beispielsweise bei Leibowitz, dies ist aber die Ausnahme. In Fotobüchern werden auch überraschend differente Themen nebeneinander gesetzt. Insofern sollte gerade die Frage, wie ein Fotobuch komponiert ist, etwas über Sichtweisen des Autors verraten. Methodisch werden folgende Konstellationen zu beachten sein: Die zwischen Foto und Foto; eventuell zwischen Foto und Text und innerbildliche Bezüge, zwischen Betrachter und der Bildseite sowie dem Einzelfoto. Zusätzlich ist zu bedenken, dass neben dem Fotobuch auch Fotostreams als solche autobiografischen Ausdrucksformen genutzt werden – und zwar zum Teil parallel zum publizierten Buch. Die Fotografie und der Akt des Fotografierens haben die autobiografische Reflexion verändert – so Kawashima, der eines der wenigen wissenschaftlichen Bücher über Fotografie und Autobiografie geschrieben hat.2 Er bezeichnet das Verhältnis von Autobiografie und Fotografie nach 1900 als eines von Sammlung und Zerstreuung (Kawashima 2012, S. 26). Zum Logos der Autobiografie gehöre eigentlich die Sammlung. Das fotografische Zeitalter selbst aber habe „Fragmentarität und Disparität“ (ebd., S. 29) hervorgebracht – die Foto grafie übernehme de facto die Ordnung des Lebenslauf, die autobiografische Beschreibung könne sich den Zweifeln, dem, was Fragment bliebe, widmen. Marshall McLuhans Medientheorie folgend, in der das Medium selbst „message“ sei, ermöglichen moderne Fototechnik und z. B. Schnappschüsse erst die Aufmerksamkeit für den Moment und die Vielperspekti-
128
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 1: Tjefa Wegener.
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
129
Abb. 2: Lina Ruske.
vik – statt einem linear ordnenden Logos zu folgen. Message ist nicht nur der Bildinhalt, sondern auch die Art der fotografischen Erfassung und deren Präsentation – und dies gilt im digitalen Medium dann noch einmal in besonderer Weise – in der die Präsentation selber nicht mehr fixiert werden muss. Es scheint so, als ob die Fotobücher der jungen Fotografinnen unterschiedliche Konzepte verfolgten: Das eine – Tjefa Wegeners „Arbeitstagebuch“ – zeigt den Arbeitsprozess selbst als Zweifel – ein Foto abgedruckt – verworfen – übermalt – Tableaus im Zustand dauernder Neuordnung (Abb. 1). Zudem verwendet Wegener Schrift – und zwar sowohl als zu entziffernden Text, aber auch im bildlichen Sinne, wenn der Text den reflexiven Gedankenstrom verbildlicht. Das zweite – Lina Ruskes – Fotobuch unterscheidet sich sowohl gestalterisch als auch vom Titel her: „Die Raute“ impliziert Geschlossenheit, Entschiedenheit. „Die Raute, in perfekter Form, umschließt alles, was mir wichtig ist – und steht wackelig auf ihrer Spitze.“ – Eine Metapher, die die Geschlossenheit dann schon wieder ins Wanken bringt: Momentaufnahme, Fragilität und Vorläufigkeit lassen sich für alle drei Bücher assoziieren. Yruelas kleiner Band (2011) enthält die Bemerkung: „It’s a fragment of my life documented“. Und ein solches Fragment – ein Ellbogen im bunten Wollpulli – ist die Titelseite der gedruckten Variante ihrer Bilder. Alle drei Bücher umfassen zudem einen Lebensabschnitt, der von suchenden Blicken in die Welt geprägt scheint – vor allem im Blick auf andere Menschen und die unmittelbare Umgebung – wiederholt auf dieselbe Person und ähnliche Motive. Aber auch der wieder-
130
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 3: Lina Ruske.
holte Blick auf vorbeifliegende Landschaften aus dem Auto oder Zug wirkt, als ob das Gefundene nicht von Dauer wäre. Diese erlebte Irritation beim Betrachter ist aber nicht unbedingt vereinbar mit der Bemerkung Tjefa Wegeners, die Fotografie als Mittel zum Festhalten betrachtet oder Ruskes Bild der Raute. Diese Ambivalenz des ersten Eindrucks bleibt bestehen: Schon das Deckblatt (Abb. 2) des Fotobuchs von Lina Ruske fungiert wie ein Sinnbild für Zeigen und Verbergen. Einerseits stellt das Zelt eine Raute dar, die berechenbare mathematische Gestalt jedoch wird gesprengt: Das Zelt scheint vollgestopft mit Accessoires, die sich im Innenraum nur vermuten lassen. Und es ist verschlossen, wir bekommen das Innere nicht zu Gesicht. Zudem ist ein Zelt ein Symbol für das tragbare Heim, es lässt sich immer wieder zusammenpacken und steht so für ein nomadisches Leben. Andererseits wirkt der Ballast, der in diesem Zelt angesammelt ist, nicht so, als ob man ihn so ohne weiteres loswerden könnte, als ob er in einen Rucksack passte oder einfach zu ordnen wäre. Das Zelt besitzt aber auch wenig eigene Standfestigkeit und hält vor allem durch den Ballast und weniger durch die Aufspannung – die vordere Zeltstange scheint zusammengebrochen. Der Hinweis auf das verborgene Innere wird auch dadurch verstärkt, dass die Einbandfoto grafie über Rück- und Vorderseite des Fotobandes reicht, wir also jeweils nur die Hälfte des Zeltes und des Zeltplatzes mit den Spuren abgebauter Zelte sehen. Blättert man das Buch Seite für Seite auf, was bei einem Fotobuch fast ohne Text nicht notwendig scheint – aber immerhin handelt es sich ja um ein gebundenes Buch – so taucht die zweite Fotografie auf, nur ein kleines Fragment – allein rechts oben auf eine Doppelseite positioniert. Viel ist nicht zu sehen: Eine winzige Ecke eines Hauses, vielleicht eine Antenne, vielleicht ein Stern, ein angeleuchteter Ast mit wenigen Blättern – wirklich nur ein winziger Ausschnitt dessen, was man erblicken könnte. Die dritte Bildseite legt offen, dass Formen und Ansichten erst durch Blicke gebildet werden und nicht per se da sind. So bilden – und nur weil Lina Ruske sie so sieht – die Nähte und Reißverschlüsse des Hemdes ein Kreuz analog zum Fensterkreuz, aber auch analog zur links abgebildeten Straße (Abb. 3). Auch könnten wir als Betrachter immer wieder Rauten ausmachen, wenn nicht das Auge ergänzte, dass ein Fenster und seine einzelnen Flügel
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
131
Abb. 4: Lina Ruske.
rechtwinklig sind. Diese beiden Fotografien Ruskes zeigen, dass wir eigentlich gar nicht sachlich sehen, sondern der Blick Schärfen und Unschärfen, Farben und Grautöne ermöglicht. Betrachtet man die Themen des Fotobuchs von Lina Ruske, so fällt auf, dass gut die Hälfte der 90 Fotos gegenständlich ist: Viele Innenaufnahmen von bewohnten Zimmern (Abb. 4) und viele Außenaufnahmen von gesichtslosen Gebäuden, Einfahrten, Fenstern, Brachen, Pflanzen in wenig spektakulären Parks. Und dann immer wieder Freunde und Freundinnen, manchmal ist der Blick unmittelbar eingefangen, fast immer mit einem Hinweis auf das Momentane: das Aufglühen einer Zigarette (Abb. 5), eine Bewegung – ausgelöst durch Wind, Unschärfen, Platzierungen am Rand, fast aus dem Bild herausgehend, trinkend, abgewandte Blicke usw. Auch Alba Yruela fängt solche Momente mit Freunden ein: Schnappschüsse auf Freunde, verhüllt im Zigarettenrauch, fallende Blätter, viele Selfies – zum Teil mit Freunden, manchmal mit halb geschlossenen Augen, posierend und sich dem zugleich widersetzend. Die Banalität des Alltags ist ein großes Thema der Fotografie. Der Fotograf Paul Graham betont: „But my photography doesn’t always fit into neat, coherent series, so maybe I need to roll freeform around this world, unfettered, able to photograph whatever and whenever: the sky, my feet, the coffee in my cup, the flowers I just noticed, my friends and lovers. …“. 3 Auch der inzwischen weltweit bekannte Fotograf Wolfgang Tillmanns konzentriert seine Fotografie auf das präsente Alltägliche, ohne dies so zu inszenieren, dass aus dem Alltäg lichen etwas Außergewöhnliches würde.
132
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 5: Lina Ruske.
Betrachtet man die Fotografien bei Alba Yruela und bei Lina Ruske, so öffnen diese licke in unaufgeräumte Zimmer und auf ungemachte Betten, aus dem Fenster oder in StraB ßen- und andere Transitionsräume, jeweils nicht mit Bedeutung aufgeladen, sondern betrachtend. Lina Ruskes Fotografie mit dem mit einem Tuch verhüllten und dem T-Shirt verhängten Fenster im kahlen Raum markiert eine Grenze zwischen Innen und Außen markiert, die kahlen Äste sieht man gerade noch, die Kameraführung lenkt unsern Blick genau hierauf, vorsichtig, ohne blickführenden Zwang, weil weder Farben noch Kontraste akzentuieren, stattdessen kann der Blick über das linke zum rechten Bild und wieder zurück gleiten, links nur durch die Tiefe absorbiert – und dann wieder zurückgeführt durch die ganz leichte Assoziation einer Kreuzform auf der Straße. Ein Leichtes wäre es nun, ikonologisch die Symbolform des Kreuzes zu deuten. Aber Lina Ruske hat ja schon mit der Raute eine Interpretation geliefert und Paul Graham warnt die Betrachter seiner Fotografien: „… and, because it’s all my life, surely it will make sense? Perhaps. Sometimes that works, sometimes it’s indulgent, but really it’s your choice, because you are also free to not make ,sense‘“. Es gibt sogar Seiten bei Ruske, auf die monochrome Flächen gedruckt sind. Hier sehe ich nichts als die schwarze oder dunkelblaue Fläche. Dieses Gar-nichts-erkennen-können setzt verschiedene Assoziationen frei: Zum einen werde ich als Betrachterin an der leichten Bewegung des durch Bilderwelten Schlenderns gehindert, geradezu vor den Kopf gestoßen, gleichzeitig bedeuten die monochromen Flächen auch Ruhe, vielleicht Raum für innere Bilder. Hier zeigt sich gerade die Qualität des Visuellen, die einerseits auf den Strom der
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
133
Abb. 6: Lina Ruske.
Bilder zwischen Innen und Außen angewiesen ist und andererseits verdeutlicht, dass das Bildersehen nicht einfach da ist, sondern die Komplexität und Pluralität der Ansichten ihre Qualität ist und zeigt, wie eng das Bildersehen Teil der Praxis des In-der-Weltseins ist. Die Blicke und deren Bilder erschaffen ja erst einen bewohnten Raum oder zeigen in der Betrachtung eines Bildschirms, nächtlicher Lichter oder Blumenblätter vergehende Zeit. Die monochromen Flächen machen deutlich, dass erst wir erst durch die Linsenöffnung überhaupt sehen und teilhaben, mit ihnen wird betont, dass erst im Akt des wirklichen Hinsehens Raum und eine Beziehung zu ihm entsteht. Im Akt der Wahrnehmung, des Fotografierens und dann in der Auswahl und Zusammenstellung bildet sich für die Fotografin und uns Umwelt erst aus. Und die Bilder, die motivisch wie stilistisch vielfältige Spuren des Entstehens und Gebrauchs in sich tragen, werden Teil der Welt der Künstlerin und der Betrachter. Die Fotografinnen zeigen sich nicht allein durch Selbstporträts – die bei Wegener ganz fehlen, sondern auch durch ihre persönlichen Sichtweisen. Und trotzdem sind die Fotografien auch für Außenstehende trotz ihrer Alltäglichkeit und des fehlenden Exhibitionismus interessant, weil wir mit der Fotografin einen Blick vollziehen, in dem wir uns mit ihr Objekte zu eigen machen. Lina Ruske entdeckt ein filigranes Dickicht, durch das ihr Blick nicht dringt, eine Fabriklandschaft wiederum erscheint nur als Projektion auf der Scheibe, auch hier macht sie deutlich, dass wir Bilder sehen und die Welt zu Bildern fassen, Bruchteile einer Sekunde später wäre alles anders (Abb. 6). Lina Ruske hat auch sechs klassische Selbstporträts abgedruckt, darunter auch explizite
134
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 7: Lina Ruske.
Spiegelbilder: Aber auch hier – also dem eigentlichen Selbstporträt – ist das Innere nicht einfach ausgedrückt, im Gegenteil, hier drückt sich ein starker Zweifel aus; denn gerade im Spiegel sei man auch überrascht vom Bild, das man selbst abgibt (Blumenberg 2006, S. 681). Im Spiegelbild und im Blick auf die Welt probiert sich die junge Fotografin aus, was sehe ich eigentlich, wenn ich um mich blicke (Abb. 7 und 8). Alle drei Fotografinnen benutzen das Licht und spielen mit dem Sehen: Spiegelbilder, Unschärfen, beleuchtete Fenster im Dunkeln, ein Fernsehbildschirm, Reflexionen, keine perfekt ausgeleuchteten Bilder, sondern so, wie man vieles in den Blick nimmt, mal etwas unterbelichtet, mal etwas schräg. Lina Ruske spielt mit dem diffusen Licht, viele Auf nahmen sind nachts mit unzureichendem Licht, tagsüber bei bedecktem Himmel, mit unzureichenden Lichtquellen gemacht. Die Aufnahmen zeigen, dass vieles sichtbar ist, aber sich selbst im Zeigen immer noch verbirgt. Das wird gerade bei den Selbstporträts im Spiegel sichtbar, die die Fotografin macht, wenn sie nicht lacht, sondern sich selbst er forschend, Trauer, Schmerz oder Fragen festhält, aber das Bild ist ja vom eigentlichen Ereignis gelöst. Bei allen drei Büchern spielt Chronologie keine Rolle, es existiert weder eine detailliert thematische Ordnung noch formal zwingende Anordnung, die Auswahl und Komposition hat eher etwas Additives oder Kaleidoskopisches: immer neue Blicke, die aber vorläufig scheinen, denn die Fotografien zeigen, sei es durch die Schnappschussstilistik, sei es durch das Motiv, die Vorläufigkeit oder den fehlenden Bestand des gerade Gesehenen.
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
Abb. 8: Alba Yruela.
135
136
Bildung an ihren Grenzen
Alle drei fotografieren nicht im strengen Sinn dokumentarisch, sondern eindeutig mit subjektivem Blick, der sich in der Auswahl der Motive zeigt: Bei Ruske und Yruela beispielsweise ungemachten Betten, Freunden in Bewegung, Selfies oder Selbstbildern des Augenblicks. Es handelt sich um flüchtige Augenblicke: An sich Herunterblicken auf Blütenblätter, auf einen Freund oder eine Freundin auf dem Sofa, bei einer Umarmung. Beim Hochheben des Pullis, dem Aufglühen der Zigarette, sicherlich handelt es sich auch um Dokumente unmittelbarer Erinnerungen, die für den Betrachter ja aber nicht aufgelöst werden. Es werden keinerlei Assoziationsketten intendiert oder Geschichten erzählt, sondern der Moment, das Flüchtige und Changierende zwischen Distanz und Unmittelbarkeit herausgehoben. Bei Wegener liegt die Subjektivität in der enormen Nähe zu den Personen. Ihr Blick ist intim, lässt uns näher an die Personen heranrücken, weil ja kaum Umgebungen gezeigt werden, die Hintergründe verschwommen sind oder die Bildausschnitte so eng gewählt, dass der Hintergrund kaum eine Rolle spielt. Die Fotografien langweilen aber, nur weil man sie kennt, nicht. Im Gegenteil, es ist deutlich zu sehen, dass die Fotografinnen sich in Posen ausprobieren, die andere Fotografen schon vor ihnen erprobt haben und die sie sich nun zu eigen machen. Wegener hat explizit Aufnahmen von Fotografen oder sogar deren Porträts im Buch abgebildet und sich zu diesen als Vorbildern bekannt: „könnte von Ute stammen“.4 Zu dieser Alltäglichkeit gehört neben den Motiven auch, dass viele der Aufnahmen im Netz zugänglich sind, ohne Kopierschutz, und man findet die Fotos dann auf Blogseiten anderer wieder. Das Eigene scheint nicht so sehr der Anspruch dieser professionellen Fotografie zu sein. Zudem benutzen die Fotografinnen Perspektiven, die beinahe schon Klischees der Fotogeschichte sind (Spiegelaufnahmen, Nacktaufnahmen), nicht das besondere Ereignis wird – wie in vielen Hochglanzfotozeitschriften – für abbildungswürdig erklärt oder das Alltäg liche überhöht. In allen drei Fotobüchern kommen Personen mehrfach vor, das intensiviert zwar das Verhältnis, das die Betrachter zur fremden Person bekommen, allerdings treten uns Personen gegenüber, die wir auch bei noch so genauem Hinsehen nicht kennenlernen werden. Das Gegenüber bleibt also – obwohl es gezeigt wird – unerkennbar, es tritt ja nicht nur nicht in unser Leben ein, sondern wahrscheinlich selbst aus dem Leben der drei Fotografinnen wieder heraus. Dennoch wird keine Geschichte von Liebe und Verlust erzählt, sondern von Eintreten und Verschwinden; die Personen und ihre Bilder rücken noch einmal ganz nah – die Erinnerungsfunktion der Fotografie ist deutlich, aber sie werden auch von anderen Bildern überlagert. Dies ist ein anderer – ein simultaner und beweglicher Wahrnehmungsvorgang, der sich vom Narrationsmodell, das Spannung, Ereignis und Lösungen modelliert, unterscheidet und allenfalls an den Redefluss des „nouveau roman“ oder den inneren Monolog erinnert. Thematisiert wird weniger das Festhalten oder das Erkennen des Gegenübers, sondern das Ausloten der Möglichkeiten der Wahrnehmung überhaupt: Was wird eigentlich sichtbar, wenn ich etwas erblicke? Es geht also auch um den Grad der Fassbarkeit des Anderen und des Außen überhaupt. Fotografieren ist dann explizit Teil der Wahrnehmung und Thematisierung der Wahrnehmung: Tjefa Wegener schreibt: „Menschen sehen, beobachten & erkennen. Ich erlebe die Menschen, nicht die Geschichten“ (Wegener 2012).
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
137
Abb. 9: Alba Yruela.
Bilder zeigen Selbst? Die Diarios von Alba Yruela zeigen oft sie selbst: Sie thematisiert, dass sie sich nie ganz zeigt, sie deutet die Facetten in einem Selbstporträt durch ein Prisma an oder durch eine Mehrfachspiegelung. Ihr Blick auf sich ist getrübt, verschwommen oder vielfach gebrochen (Abb. 9). Solche Porträts gibt es auch bei Lina Ruske: Wenn sie das indirekte Sehen durch die Linse mit aufnimmt. Hier steht dann das Kameraauge im Mittelpunkt und gar nicht mehr sie selbst. Tjefa Wegener, die ja keine Selbstporträts in ihr Buch aufnimmt, fügt ihre Porträtaufnahmen anderer in einem Tableau zusammen und fügt sich selbst durch ihren Titel ein: „Ich bin gern bei Dir“ (Abb. 10) und zeichnet flüchtige Linien der Verbindungen. In dem Erblicken wird eine weitere Funktion des Fotografierens und des Fotobuches neben der konzentrierten Wahrnehmung sichtbar, die Wahrnehmung erst möglich macht: die Aufnahme der Beziehung zum anderen, die nicht einfach existiert, sondern aufgenommen werden muss. Kawashima spricht von der „Unerkennbarkeit des Subjekts“ im 20. Jahrhundert (Kawashima 2012, S. 283), die, wie zu sehen ist, aber im Medium des Umblickens thematisiert wird: Wegener arbeitet an diesem Thema, wenn sie die gleichen Fotografien wiederholt abzieht, aufklebt und sich immer wieder neu mit ihnen beschäftigt, sie immer neu betrachtet. Yruela fügt ihre Bilder zu einem scheinbar nicht endenden Stream zusammen; Ruske hat die abgeschlossenste Arbeit vorgelegt, in der sie dann Raum schafft, um Unvollständigkeit und Nichterkennbarkeit sichtbar zu machen: durch die Platzierung der Fotografien auf weißen Seiten oder die vielen entschwindenden Räume – fotografiert aus Zügen und Autos.
138
Bildung an ihren Grenzen
Abb. 10: Tjefa Wegener.
Das Selbstkonzept, das in diesen Fotobüchern auftaucht, ist eines, das daraus existiert, immer wieder um sich zu blicken. Die Fotografien halten in ihrer permanenten dialo gischen und kommunikativen Form dieses schwebende Selbst-Weltverhältnis. Auch in Buchform und selbst in der Form von Ruskes Raute sind die Bedeutungen nie festgeschrieben, gibt es keine Lösung, sondern Tableaus von Konfigurationen und Korrespondenzen. Diese Prozesse allenfalls sind als durchscheinendes und nicht zu fixierendes Selbst auf zufassen. Das Selbst, das im Fotobuch erscheint, bricht sich in den immer wieder reflektierten Blicken, die Ordnung ist bestenfalls kaleidoskopisch, wenn man aber versuchte, ein Zentrum oder eine Bedeutung zu bestimmen, dann verlöre sich ein Großteil des Gezeigten. Selbst die Raute, die Lina Ruske als symbolisches Thema formuliert, ist ja nur deshalb als Form tauglich, weil sie nur in Ruskes Blick flüchtig existiert. Und Alba Yruelas Bilder ge raten im digitalen Medium der sozialen Plattformen von der eigenen Website, über flickr und tumblr in Bewegung – so bewegt wie ihre Kameraführung. Es geht den Fotografinnen nicht um das Selbst, nicht um Identität und auch nicht um sich allein, sie zeigen uns, dass erst im Hinschauen und sich zu diesem Erblickten in Beziehung zu setzen, Bilder im bewegten Verhältnis zur Welt entstehen. Medientheoretisch wäre im Sinne einer postulierten Nichtbestimmbarkeit des Subjekts zu untersuchen, inwiefern das fotografische Medium selbst als „massage“ (McLuhan / Fiore
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
139
1967) diese Sichtweisen mit hervorbringt. Die These der Medientheoretiker lautet, dass das Medium „unter die Haut“ geht. Der analoge Vorgang des Fotografierens gab noch die Illusion des Fixierens, aber beinhaltete bereits das flüchtige Erscheinen des Bildes durch einen künstlichen Vorgang, zudem leben analoge wie digitale Fotografie von der Performativität des Weltverhältnisses. Digitale Fotografie und Präsentation betonen die Prozessualität des Geschehens noch deutlicher, aber auch in der Form des analogen Fotobuchs, das ja alle drei Fotografinnen gewählt haben, wird der Herstellungsprozess des Selbst-Welt-Verhältnisses und nicht das ontologische Verhältnis betont. Bildungstheoretisch scheint sich deshalb zunächst der transformative Bildungsbegriff Hans-Christoph Kollers anzubieten. Dieser fragt im Zusammenhang der Analyse von modernen Romanen, ob „die Formen der Erzähler und anderer Protagonisten mit diesen irritierenden Erfahrungen produktive Antworten im Sinne von Waldenfels“ darstellten (Koller 2012, S. 180). Waldenfels hatte Produktivität als eine „Reaktion auf Fremdheitserfahrungen“ beschrieben. Koller betont mit Kokemohr, dass vor allem Krisen- und Konflikt erfahrungen Bildungsprozesse überhaupt erst in Gang brächten (vgl. ebd., S. 16), dies lässt sich an den gewählten Romanen auch empirisch zeigen. Jedoch tauchen in zwei der drei Fotobücher solche Konflikte nicht oder nur am Rande auf. Sie sind angesichts der Alltäglichkeit des Lebens in der Welt fotografiert. Zwar bearbeitet Tjefa Wegener in ihrem Fotobuch einen existentiellen Konflikt, als sie schwanger wird und sich die Frage beantworten muss, ob sie das Kind behalten will oder nicht und was die Konsequenz einer Abtreibung bedeutet, aber auch hier ist das Buch zwar Bearbeitungsform, aber nicht Verarbeitungsform. Sie zeigt, dass auch im Konfliktfall die Bewegung auf die anderen hin erfolgt – sicherlich drängender und zweifelnder als in den beiden anderen Büchern. Sie zeigt, wie sich Alltagfragen der Diplomarbeit mit existentiellen Fragen vermengen und nimmt diese Vermischung auf. Alle drei Fotobücher arbeiten nicht mit einer wie auch immer gearteten Lösung zum Schluss, sondern die Bücher enden und könnten weitergehen – ohne Schlussbilder. Koller bezeichnet schon die „Neuakzentuierung der Fragestellung“ (ebd., S. 183) als Bildungsmoment: „Diese doppelte Bewegung bestünde darin, einerseits Fremderfahrungen, Scheitern und Negativität als unhintergehbare condition humana anzuerkennen“ (ebd., S. 183). Nimmt man die Fotobücher und Fotostreams in ihrer Medialität ernst, dann sehen wir nichts als Blick und Bewegung in immer neuen Wendungen – übrigens in den Fällen von Ruske und Yruela urteilslos. Sie erschaffen im Fotostream ihre Umwelt. Im Februar 2014 eröffneten Alba Yruela und Rafa Castells eine Ausstellung mit dem Titel „La forma del Mon“ (Die Form der Welt) u. a. mit den Bildern aus den Diarios. Es geht also gar nicht so sehr um Selbstsicht, sondern um Weltsicht. In einem auf tumblr, einer Bloggerplattform, publizierten Foto zur Ausstellung löst sich das Gesicht von Yruela, fotografiert von Partner Rafa Castells, auf in Mund, Nase, Augen und Fenster – also den Sinnesorganen der Wahrnehmung (Abb. 9).5 Zu dieser Ausstellung haben die beiden auch ein Video produziert, das noch beiläufiger wirkt als die Fotografien. Selbstverständlich zeigen diese Bilder spanische Realität, aber die Bilder sind im Fluss, ohne der einen oder anderen Ansicht mehr Bedeutung zuzuschreiben, es ist gerade die Flüchtigkeit – noch untermalt von einer Gitar-
140
Bildung an ihren Grenzen
renmusik – die dem Video Gelassenheit verleiht.6 Hier hat sich jeder Bedeutungs- und Bildungsbegriff aufgelöst in Wahrnehmungsbewegungen, die die immer neuen Ansichten der Welt reflektieren.
Literatur Alloa, E. (2011): Glossar. Grundbegriffe des Bildes: Zeigen / Sichzeigen. In Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik. Heft 2: Eikones, S. 208–215. Blumenberg, H. (2006): Beschreibung des Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Graham, P. (2009): Photography is Easy, Photography is Difficult. Yale MFA Photography Graduation, February 2009. http: / / w ww.paulgrahamarchive.com / w ritings_by.html, abgerufen am 13. 4. 2014. Holzer, A. (2010): Editorial Fotogeschichte: Fotobücher im 20. Jahrhundert. In Fotogeschichte, Heft 116 / 2010. Kawashima, K. (2011): Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald. Bielefeld: transcript. Koller, H.-C. (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. McLuhan, M. / Fiore, Q. (1967): Das Medium ist Massage. Frankfurt am Main / Berlin: Ullstein. Parr, M. / Badger, G. (2012): The Photobook: A History volume 1. London: Phaidon, zuerst 2004.
Quellen Leibovitz, A. (2006): A Photographer’s Life 1990–2005. München: Schirmer und Mosel. McBride, W. (1997): I, Will McBride. Köln: Könemann. Ruske, L.: (2011): Die Raute. ardcover, 84 Bilder, 160 Seiten, Erste Auflage 9 + 4, Typographie: Michael Küpker Ruske, L.: Abgefragt von http: / / w ww.jugendfotopreis.de / bilderberg / bestof2012 / show.php?id=988 Strba, A. (1990): Aschewiese. Text: Bernhard Bürgi, Georg Kohler. Zürich: Edition Howeg. Publikation zur Ausstellung in der Kunsthalle Zürich. Strba, A. (1997): Shades of Time. Text: Ilma Rakusa. Baden: Lars Müller Publishers. Wegener, T. (2012): Arbeitstagebuch. Ich bin gern bei Dir. Privatdruck. Auflage 14 Exemplare. Druck: typosatz GmbH Berlin. Buchbinderische Verarbeitung: Papier und Buch Atelier Ralf Liersch. Yruela, A.: Abgefragt von http: / / w ww.albayruela.com / index.php? / diaries / 2013 / Yruela, A. (2011): „Estaría bien poner un título aquí“. Berlin: Pogobooks Yruela, A.: Abgefragt von https: / / w ww.flickr.com / photos / y rxi / Yruela, A.: Abgefragt von http: / / w ww.abgeschirmt.com / a lba.yruela-interview-rafa-castells.
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Tjefa Wegener: Arbeitstagebuch. Seite 15 Abbildung 2: Lina Ruske: Die Raute. Einband. Abbildung 3: Lina Ruske: Die Raute. S. 7 Abbildung 4: Lina Ruske: Die Raute. S. 15 Abbildung 5: Lina Ruske: Die Raute. S. 21 Abbildung 6: Lina Ruske: Die Raute. S. 10 Abbildung 7: Lina Ruske: Die Raute. S. 19 Abbildung 8: Alba Yruela: Diarios Abbildung 9: Alba Yruela: Diarios Abbildung 10: Tjefa Wegener: Arbeitstagebuch. Seite 84
141
Bildung in biografischen Konfigurationen1 von Hans-Rüdiger Müller
Bildung in biografischen Konfigurationen
Der folgende Text versucht, theoretische und methodologische Reflexionen zum Verhältnis von Biografie und Bildung mit der exemplarischen Analyse konkreten Fallmaterials zu verbinden. Das kann, in der hier gebotenen Kürze, nur skizzenhaft geschehen. Die Überlegungen setzen mit einer knappen begrifflichen Erläuterung zur Bestimmung des im Folgenden behandelten Gegenstands ein. Es schließt eine am empirischen Fall orientierte Diskussion der sozialen und individuellen Strukturierung biografischer Bildungsbewegungen an. Den Gedankengang abschließend folgt ein Teil, in dem dann vor dem Hintergrund der heraus gearbeiteten Fallcharakteristik einige Thesen zum Verhältnis von biografischer Bildungsforschung und Bildungstheorie zur Diskussion gestellt werden.
1.
Bildung, Biografie und Konfiguration
Der Bildungsbegriff scheint mir als Terminus der Pädagogik wenig geeignet. Was er bezeichnet, ist vielmehr ein umstrittenes Diskursfeld, das sich zwischen philosophischen Konstruktionen „des Menschen“ und institutionalisierten gesellschaftlichen Praktiken, zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und der Politik, zwischen gesellschaftlichen Distinktionsstrategien und sozialen Partizipationshoffnungen, zwischen Selbstverwirklichungsrhetoriken und Humankapitalinteressen erstreckt. Doch ebenso wenig, wie sich Pädagogik auf einen (nämlich den richtigen) Begriff von „Bildung“ begründen ließe, so wenig kann sie sich diesem umstrittenen Diskursfeld entziehen, in dem wesentliche Elemente und Bedingungen ihres Gegenstandsfeldes verhandelt werden. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als sich auf dieses Diskursfeld einzulassen und in ihm selbst jene Spuren zu verfolgen und jene Markierungen vorzunehmen, die sie für die empirische und theoretische Aufklärung ihres Gegenstandsbereichs benötigt. Soll es, wie in dieser Festschrift zu Ehren des Jubilars, um den Zusammenhang von Biografie und Bildung gehen, dann möchte ich für meinen Beitrag das Gegenstandsfeld wie folgt näher bestimmen. Zunächst soll es um eine biografische Perspektive auf Bildungsprozesse gehen. Damit meine ich, dass die Bildungserfahrungen eines Subjekts auf lebensgeschichtliche Entwicklungen bezogen werden, die als Voraussetzungen oder Bedingungen, als Anlass oder als
144
Bildung an ihren Grenzen
Ergebnis der Bildungstätigkeit betrachtet werden können, und die für diese Bildungstätigkeit des Subjekts richtungweisend oder desorientierend, blockierend oder ermunternd sein können. Anders als die verbreitete Rede von „biografischen Bildungsprozessen“ vielleicht nahelegen könnte, kommt es mir dabei allerdings ebenso auf die Differenz von Biografie und Bildung an wie auf ihren Zusammenhang. Unter dem Gesichtspunkt der Bildung wird eine Erfahrung in anderer Relation betrachtet als unter dem Gesichtspunkt des biogra fischen Prozesses. Biografie ist ein Konstrukt, das Lebenswege und Lebenserfahrungen, Lebensfügung und Lebensführung zu einem mehr oder weniger konsistenten Zusammenhang verdichtet – sei es in dem, was Dilthey die Selbstbesinnung als Moment unserer alltäglichen Lebenspraxis nennt (vgl. Dilthey 1958, S. 200) – und Jürgen Henningsen zu der Formulierung veranlasst hat, das Leben selbst sei schon „autobiografisch“ (vgl. Henningsen 1981) – oder sei es in der Form der nachträglichen Lebenserzählung, also der verschrifteten Autobiografie, dem biografischen Interview oder einem anderen autobiogra fischen Text. Lebensgeschichten können als Bildungsgeschichten gelesen werden, aber sie müssen dies nicht von sich aus sein und sie folgen, wenn sie als solche konstruiert werden, zumeist einem ziemlich artifiziellen Format. Bildende Erfahrungen, in einem ganz allgemeinen Sinne verstanden als Momente in der kulturellen Hervorbringung und Formung der Person, werden im Laufe eines Lebens viele verschiedene gemacht, in unterschied lichen biograf ischen Konstellationen, mit unterschiedlichen sozialräumlichen und zeitstrukturellen Bezügen, von längerfristiger oder kurzfristiger Bedeutung und mit unterschiedlichen Folgen für den Fortgang der Lebensgeschichte. Bildung und Biografie unterscheiden sich auch durch eine je spezifische temporale Akzentuierung. Bildung beschäftigt sich vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit der Gestaltung der Zukunft; Biografie beschäftigt sich vor dem Zukunftshorizont einer jeweiligen Gegenwart mit den Erfahrungen der Vergangenheit. Biografischer Prozess und Bildungsprozess fallen also weder zusammen, noch lassen sie sich, da es sich um relationale Differenzen handelt, empirisch von einander trennen. Am ehesten, so scheint mir, lässt sich dieser Zusammenhang als eine Art Interdependenz beschreiben, als einen von beiden Seiten her figurierten Zusammenhang, womit das dritte Stichwort aus dem Titel meines Beitrags, Bildung in biografischen Konfigurationen, in den Gedankengang aufgenommen wäre. Diese terminologische Anleihe an die Figurations soziologie von Norbert Elias (2006) dient dem Versuch, Bildungsprozesse in ihren dynamischen Verschränkungen sowohl mit individuellen als auch mit sozialkulturellen Aspekten der Biografie zu denken und es der Analyse des konkreten Falles zu überlassen, welche Interdependenzebene in welcher Weise zur Bestimmung von Bildungsbewegungen des Subjekts relevant wird. Wenn ich in diesem Sinne das Programm einer pädagogischen Biografieforschung, an dem sich Lothar Wigger seit langem mit produktiv-kritischem Blick beteiligt, ein wenig weiterführe, dann möchte ich dabei im Folgenden zwei Problemfelder aufnehmen, die nicht nur ihn intensiv beschäftigt haben, sondern die auch für die gegenwärtige erziehungswissenschaftliche Fachdiskussion in diesem Segment insgesamt von zentraler Bedeutung sind:
Bildung in biografischen Konfigurationen
145
"" erstens ein gegenstandsbezogenes Problem, nämlich die Erfassung des Zusammenhangs von individuellen und gesellschaftlichen Strukturierungen im Bildungsprozess; "" zweitens ein methodologisches Problem, nämlich die Verbindung von Bildungstheorie (einschließlich ihrer normativen Implikationen) und Empirie in der pädagogischen Biografieforschung.
2.
Individueller Bildungsprozess und gesellschaftliche trukturierungen S
Um die Rekonstruktion von Bildungsprozessen in biografischen Konfigurationen zu illustrieren, möchte ich auf ein biografisches Interview zurückgreifen, das im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Hamburg geführt wurde.2 Es handelt sich um „Hakan Salman“, 22 Jahre alt und Student der Medizintechnik. Er ist als zweites Kind einer aus der Türkei eingewanderten Familie in einer norddeutschen Großstadt geboren. Trotz strukturell ungünstiger Voraussetzungen (geringes formales Bildungsniveau der Eltern, Gewalt in der Familie mit der Folge der Flucht von Mutter und Kindern in ein Frauenhaus, geringe Sprachförderung im Elternhaus) arbeitet sich Hakan im ständigen Spagat zwischen den Bindungen seines sozialen Herkunftsmilieus und dem kulturellen Kontext von Schule und Unterricht durch das System der Bildungseinrichtungen bis zur Oberstufe des Gym nasiums, fällt durchs Abitur, erwirbt aber die fachgebundene Hochschulreife und wird schließlich zum Studium der Medizintechnik zugelassen. Er lebt weiterhin im gemein samen Haushalt mit seiner Mutter in dem Stadtviertel, in dem er auch aufgewachsen ist. Ich beschränke mich der Kürze halber auf Hakans Darstellung seiner aktuellen Lebenssituation, und zwar aus drei Gründen: "" erstens repräsentiert sie den Übergang zwischen retrospektiver und prospektiver biografischer Reflexion (seine aktuelle Gegenwart ist Produkt seiner vorangegangenen Lebensgeschichte und zugleich Ausgangspunkt seines biografischen Zukunftsentwurfs); "" zweitens kreuzen sich hier die beiden Perspektiven des erzählenden und des erzählten Ich der zeitlichen Koinzidenz wegen in besonderer Aktualität; "" drittens befindet sich der 22-jährige Interviewpartner aktuell in der Entwicklungsphase des jungen Erwachsenen, in der die Praxis der Lebensführung und Selbststrukturierung selbst bereits deutlich von biografischer Reflexivität (auch außerhalb des Interviews) gestützt wird. Meine Interpretation des Falles als Beispiel für eine spezifische Bildungskonfiguration enthält zwei miteinander verschränkte, aber analytisch unterscheidbare Versionen der Selbstbeschreibung. Die eine Version knüpft an den Studentenstatus an und gründet in Hakans Weg durch die Bildungsinstitutionen. Diese Version stellt als institutionell vorstrukturierte Bildungskarriere gleichsam den roten Faden seiner lebensgeschichtlichen Erzählung dar. Die zweite Version beschreibt sein Leben als Sohn einer Migrantenfamilie und bezieht sich besonders auf Praktiken der Subjektivierung in unterschiedlichen sozialen Umwelten. Sie durchzieht den Interviewtext als eher implizite Sinnfigur.
146
Bildung an ihren Grenzen
10.2.1 Selbstbeschreibung vor dem Hintergrund einer erfolgreichen Bildungskarriere
Nach seinem Fachabitur, das er mit einem Durchschnitt von 2,3 abgeschlossen hat, und dem anschließenden Zivildienst als Patiententransportpfleger, in dem er sich besonders von dem Einsatz der Technik in der medizinischen Versorgung beeindruckt zeigt, recherchiert Hakan im Internet nach möglichen Studienoptionen und entschließt sich am Ende für ein Studium der Medizintechnik. „(Das) war mein Startschuss für meine neue Zukunft“, sagt er im Interview und resümiert zurückblickend, dass er „trotz der ganzen Probleme, die es in meiner […] Vergangenheit gab“ es nun „mit einem kleinen Umweg doch geschafft“ habe. Sein erreichter Bildungserfolg stützt sein Selbstvertrauen und ermuntert ihn, sein Leben aktiv und zielgerichtet zu gestalten: „Auch wenn es etwas dauert komm ich ans […] Ziel“, „man kommt an, wenn man’s möchte“! Die hierin zum Ausdruck kommende Selbstermutigung hat ihren guten Grund, denn Hakan steht erst am Beginn des Studiums und weiß, dass dies eine neue Herausforderung an ihn darstellt: „(Eigentlich) fangen die Probleme wieder von vorne an […], wie in der Schulzeit […].“ – „Klar“ ist ihm, dass „ein […] Ingenieurstudent nich alles auf Anhieb (kann)“, „klar“ auch, „dass man in der Anfangsphase sehr viel lernen muss, um etwas zu verstehen“. Anders als manche seiner Kommilitonen („die lesen sich das einmal durch und speichern es ab“), muss er sich „’ne Sache fünf Mal durchlesen“, bis er sie versteht. Und so kommt es „wieder aufs Gleiche hinaus, ich muss wieder ein Umweg machen.“ Doch diese absehbaren Schwierigkeiten scheinen ihn in seinem selbstgewissen Zukunftsoptimismus zumindest vordergründig nicht zu erschüttern: „(Da) ich mich schon dran gewöhnt habe Niederlagen einzustecken [und] auch Gutes zu erleben, macht es mir keine Sorgen, also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen […], ob [und er verbessert schnell:] wann ich nun dahin komme, das steht noch nicht fest, aber dass ich dahin komme, das weiß ich.“ Hakan stützt diese Version des Selbst auf seine durchaus spannungsreichen aber letztlich von Erfolg gekrönten Erfahrungen im Bildungssystem. Dass er es als Sohn einer Familie aus sogenannten einfachen Verhältnissen (Vater Fabrikarbeiter, Mutter Schneiderin und Reinigungskraft), geprägt von einem kontrastreichen Klima väterlicher Gewalt wie auch mütterlicher Zuwendung und mit nur sehr eingeschränkter familialer Unterstützung bis zur Zulassung zu einem Hochschulstudium gebracht hat, beschreibt Hakan als eine Folge komplexer sozialer Konstellationen. Institutionelle Verlaufsmuster, kontingente Randbedingungen und subjektive Eigenstrukturierungen greifen keineswegs bruchlos ineinander, aber sie führen auch nirgendwo wirklich in eine biografische Sackgasse, selbst dann nicht, als er durchs Abitur fällt. Immer gibt es irgendwen (den Freund, die Schwester, die Lehrerin) oder irgendwas (eine Buchlektüre, die Anerkennung seiner Mitschüler, ein berufliches Vorbild im Zivildienst), der, die oder das ihm zur Überwindung von Barrieren, Niederlagen oder Phasen der Desorientierung Optionen aufzeigt, die er aktiv ergreift und für sein Weiterkommen nutzt. So strukturiert er – von der sozialen Position des zum Interview gebetenen Studenten der Medizintechnik aus – die Beschreibung seines Lebens- und Bildungswegs als institutionell vorstrukturierte und zugleich aktiv selbst realisierte „Bil-
Bildung in biografischen Konfigurationen
147
dungskarriere“, an deren Ende die Vision einer moralisch und sozial anerkannten, dabei auch materiell lohnenden beruflichen Tätigkeit steht. Später möchte er einmal sagen können, „ich bin Ingenieur, arbeite in der Firma, fahre’n dickes Auto und hab das erreicht“, wobei sein eigentlicher Traum aber – sollte er erfolgreich sein und genügend Geld haben – es wäre, „für […] Dritte Welt Länder [eine Menge] von Geräten zu produzieren und für ’ne gute Sache zu arbeiten.“ Doch dieser Traum ist eine Hypothek, die ihm, das weiß er, noch einiges an Anstrengung abverlangt. Diese Version der Lebensgeschichte Hakans thematisiert das Verhältnis von Biografie und Bildung als institutionell vorstrukturierten Bildungsweg. Alles, was sonst noch zum Leben gehört (Familie, Freunde, Freizeit), geht in diese Version vor allem unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität für den Bildungserfolg ein: Mutter und Schwester in ihren begrenzten Möglichkeiten, ihn zu fördern, Freunde und Mitschüler als Impulsgeber für ein erfolgreiches Lernen oder umgekehrt als störende Gegenkraft zur Adaption an die Schulkultur. Man könnte dies auch als die moralisch und politisch korrekte, am Sprachjargon des aktuell öffentlichen Bildungsdiskurses orientierte Version der Biografie bezeichnen (exemplarisch für den semiprofessionellen Sprachduktus Hakans: „Mein größtes Defizit war, dass ich keine Förderung bekam“). Doch neben dieser Version lässt sich eine zweite Version aus dem biografischen Interview rekonstruieren, in deren Lichte sich noch weitere Facetten seiner aktuellen Bildungskonfiguration zeigen. 2.2
Selbstbeschreibung in differenten sozialen Umwelten
Die Version der institutionell vorstrukturierten Bildungskarriere folgt einem Modell, das den Bildungsprozess in eine zeitlich gestufte, über mehrere Etappen auf ein Ziel hin ausgerichtete Bewegung auffasst, die zwar nicht gradlinig, aber doch – über Umwege hinweg – in einer gewissen Linearität verläuft. Richtet man hingegen die Aufmerksamkeit auf die Bildungsbereiche der Familie, der Freunde und der Nachbarschaft, dann geraten Bildungserfahrungen in den Blick, die, obwohl mit dem Ordnungssystem von Schule und Hochschule verflochten – einer eigenen Logik folgen. Diese Logik ist weniger in Kategorien der Zeit als in Kategorien des sozialen Raums beschreibbar. An die Stelle von Temporalität und Telos treten raumbezogene Strukturierungen wie Perspektivität und Relationalität, eine Art topographische Struktur des Bildungsgeschehens. „[Es] klingt ä’n bisschen komisch“, sagt Hakan, aber „ich habe Freunde in verschiedenen Kategorien“. Und damit meint er "" erstens seine „Schulfreunde von damals“: „[…] mit den habe ich sehr guten Kontakt, pflege sie auch […], wir treffen uns, gehen ab und zu was trinken, was unternehmen. Also jeder geht zur Zeit sein’ eigenen Weg, aber man verliert sich trotzdem nich’ aus den Augen […]. – Wenn man jemanden schätzt dann möchte man auch weiterhin den Kontakt beibehalten.“ "" zweitens seine Freunde aus der Nachbarschaft, die „Alltagsfreunde“ aus seiner Gegend, mit denen er „groß geworden“ ist: „Mit den Schulfreunden bin ich auch groß geworden,
148
Bildung an ihren Grenzen
aber die habe ich immer nur damals zur Schule gesehen. […] Meine Alltagsfreunde habe ich fast jeden Tag gesehen zum Fußball spielen, als ich achtzehn geworden bin Wochenende Party machen, was trinken gehen, und […] ins Kino. […] oder […] mal Fußball g ucken. Das mache ich mit meinen Alltagsfreunden.“ "" drittens hat er noch eine weitere „Kategorie von Freunden“, die deutschen Kommilitonen aus der Uni, die nicht nur räumlich, sondern auch sozial deutlich von den zuvor genannten „Alltagsfreunden“ unterschieden werden. Zwar versucht er, „beides unter einem Hut zu kriegen“, aber: „ich kann beide Seiten nich’ vermischen, das […] passt auch nicht zusammen. Ich bin halb deutsch, aber wenn ich mit den alltäglichen Freunden [zusammen bin], bin ich der Türke – also, es klingt doof – sei es von Schimpfwörtern bis zu meiner türkischen Blutader, bis zum Döner essen von drei Stück hintereinander. Bin ich mit meinen Kommilitonen, mit meinen deutschen Freunden zusammen, bin ich der Brillenträger, der Literaturkenner und was weiß ich was. Aber die beiden Seiten muss ich strikt trennen […].“ Das bildungstheoretisch Interessante an diesen sozialräumlichen Differenzierungen zeigt sich besonders in dem letzten Zitat. Es geht nicht nur um unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungskontexte, die jeweils ihren eigenen Ordnungen folgen, sondern es geht dabei auch um die jeweilige Lokalisierung des Ich. Der Brillenträger und der Döner esser, der Literaturkenner und der Virtuose im Gebrauch von Schimpfwörtern sind, wie Hakan betont, „strikt“ voneinander zu trennen. (Übrigens ein gutes Beispiel für die intersektionelle Konstruktion sozialstruktureller und kultureller Differenz.) Die Gegenüberstellung sozialräumlicher Lebensfelder fordert dazu auf, sich mit der eigenen Person innerhalb der jeweiligen Kontexte und zu ihnen zu positionieren. Selbstbeschreibung und Selbstverhältnis variieren je nach Standort in der topographischen Struktur des Alltags. Anders als in der Form der Bildungskarriere, in der das Subjekt gewissermaßen als Mitte einer fortschreitenden Bildungsbewegung gedacht wird, legt die topographische Sicht auf die verschiedenen Lebensfelder eher das Bild einer dezentrierten Subjektgenese nahe, deren Konturen nur relational zu bestimmen sind und in Praktiken der Territorialisierung, Synchronisierung und Hierarchisierung hervorgebracht werden. In der Selbstbeschreibung Hakans spielen dabei Aspekte wie soziale Zugehörigkeit und soziale Anerkennung, soziale Verpflichtung und soziale Reziprozität sowie die soziale Reputation eine zentrale Rolle und lassen die kulturellen Gehalte (Cocktails vs. Döner, Bücher vs. Fußball) in den Hintergrund treten. Es ist „ein Geben und Nehmen“, wie Hakan an verschiedenen Stellen des Interviews sagt. Die sozialisatorische Seite der Bildung, die Vergemeinschaftung, tritt in dieser Version der Selbstbeschreibung besonders hervor und strukturiert von daher auch noch einmal neu die Sicht auf die Bildungsinstitutionen, die nun als Teil dieses interdependenten und zugleich spannungsreichen sozialen Gebildes in den Blick kommen. Beide Versionen greifen ineinander und ergeben in der Gesamtschau eine komplexe biografische Bildungskonfiguration, die nicht nur Einblick in die empirischen, lebensgeschichtlichen und gesellschaft lichen Möglichkeitsbedingungen von Bildung gewährt, sondern umgekehrt auch Anlass gibt, Fragen an unseren Theoriediskurs über Bildung zu stellen.
Bildung in biografischen Konfigurationen
3.
149
Theoriebezug der Bildungsforschung und empirisch gestützte ildungstheorie B
Um das in der pädagogischen Biografieforschung angelegte Potenzial empirischer und theoretischer Aufklärung zu nutzen, reicht es nicht aus, nur rekonstruktiv den immanenten Sinn des empirischen Materials zu explizieren, so als ginge es nur um eine distanzierte sozialmorphologische Beschreibung sozialer Realität. Letztlich zielt, wenigstens von einem pädagogischen Gesichtspunkt aus, schon das bildungstheoretische Interesse an biogra fischen Dokumenten auf die pädagogische Reflexions- und Handlungszugänglichkeit des untersuchten Feldes, also auf Erkenntnisse, die im weitesten Sinne der Klärung praktischer Fragen dienlich sein können. Wie strukturiert ein bestimmtes Wissen über oder ein bestimmtes Verständnis von Bildung den Vorgang des Aufwachsens in einer Gesellschaft und welche Fragen der Legitimation sind damit aufgeworfen? Theoretische, praktisch-normative und empirische Fragen verweisen aufeinander, auch wenn es Sinn macht, sie unter erkenntnistheoretischer Sicht auseinanderzuhalten. In dieser Hinsicht haben wir es im vorliegenden Fall mit zwei „Bildungsdiskursen“ zu tun, die methodisch kontrolliert aufeinander bezogen werden müssen, wenn Theorie und Empirie in ein fruchtbares Verhältnis gesetzt werden sollen: dem wissenschaftlichen Bildungsdiskurs und dem immanenten Bildungsdiskurs des Textes. Erst wenn beiden Diskursen im Forschungsprozess methodisch die Chance eingeräumt wird, sich wechselseitig kritisch zueinander zu verhalten – ein eigentlich klassisches hermeneutisches Anliegen, das Ricoeur (2005) mit seiner Unterscheidung von Sinnstrukturanalyse und Interpretation noch einmal auf den Begriff gebracht hat (vgl. Müller 2013) – kann ein Fortschritt in der empirischen und theoretischen Aufklärung des infrage stehenden Sachverhalts erwartet werden. Was aber wären, bezogen auf das vorgestellte Fallbeispiel, die produktiven Herausforderungen, die der Bildungsdiskurs des Textes an den wissenschaftlichen Bildungsdiskurs stellt? – Hierzu abschließend drei Punkte: 1. Die beiden rekonstruierten Versionen der Selbstbeschreibung repräsentieren unterschiedliche Ordnungsprinzipien, die es fraglich erscheinen lassen, Bildungsbewegungen vornehmlich in Kategorien der Zeit zu fassen, so wie sie idealtypisch in der Form der institutionalisierten Bildungskarriere zutage treten. Stattdessen legen die Befunde eine Differenzierung des Bildungsverständnisses nahe, die über die zeitlichen Organisa tionsformen und institutionalisierten Karrieremuster hinausweist und auch die Relationalität und Perspektivität von Bildungsbewegungen in unterschiedlichen sozialräum lichen Milieus in den Blick nimmt. Dieses sozialräumlich aufgespreizte Modell scheint mir zudem angesichts der sozialen Entstrukturierung von Lebensläufen der Sache an gemessener als beispielsweise ein Modell transformatorischer Bildungsprozesse (vgl. Koller 2012), das Bildung hauptsächlich im Sinne eines grundlegenden personalen Wandels über Brüche und Krisen hinweg auf einem Zeitkontinuum verfolgt. 2. Nicht-institutionelle Bildungsorte erfahren auch im erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs seit längerem eine spürbare Aufwertung. Wahrgenommen werden sie allerdings zumeist aus einer Ressourcenperspektive, die den Bildungssinn dieser Orte an ihren stützenden Beitrag für Schul- und Berufskarrieren bindet (vgl. Autorengruppe
150
Bildung an ihren Grenzen
ildungsberichtberichterstattung 2012, S. 86ff). Die Selbstbeschreibung Hakans lässt B hingegen noch einen anderen, mindestens ebenso bedeutsamen Bildungssinn zum Vorschein kommen, nämlich die bildenden Vergemeinschaftungspraxen, die ihn mit der Familie, den Freunden, den Mitschülern und den Kommilitonen verbinden und in denen Anerkennung und soziale Zugehörigkeit, Reziprozität von Hilfeleistungen und gegenseitige Verpflichtungen im Vordergrund stehen. In Bildungskonzeptionen, die allein am messbaren individuellen Bildungserfolg und dem Zuwachs an Kompetenzen orientiert sind, findet dieser Aspekt ebenso wenig Beachtung wie in primär machttheoretisch argumentierenden Konzeptionen, sofern sie die sozialen Bezüge des Subjekts lediglich unter dem Aspekt von externer Begrenzung und Fremdstrukturierung thematisieren. 3. Schließlich wirft der im Interviewtext repräsentierte Bildungsdiskurs noch eine weitere Frage auf, die die Angemessenheit und normative Begründbarkeit eines in unserer kulturellen Tradition tief verankerten Autonomieverständnisses von Bildung berührt. Muss Autonomie als Ergebnis eines mehr oder weniger schmerzhaften Abgrenzungsprozesses gegenüber den Ansprüchen der sozialen Umwelt verstanden werden? Oder wäre nicht vor dem Hintergrund der hier empirisch spezifizierten gemeinschaftsbe zogenen Praxisformen der Subjektgenese in Rechnung zu stellen, dass die Bildung zu einer individuierten und selbstbestimmten Person auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn nicht in erster Linie die Entfaltung von Individualität sondern eher die reflexive Adaption an unterschiedliche soziale Kontexte die Richtung der Bildungstätigkeit lenkt? „Klingt […] ein bisschen labil“, sagt Hakan, „aber es is’ einfach so“, womit er dem mög lichen Vorwurf der Charakterschwäche seine (in verschiedenen Interviewpassagen narrativ erläuterte) Erfahrung entgegenhält, dass sich auch prägende Einflüsse der sozialen Umgebung produktiv für die Entwicklung von Autonomie nutzen lassen. Theoretisch gesprochen, mischen sich hier semantische Elemente des Bildungsbegriffs mit dem der Sozialisation. Und genau darin liegt die Herausforderung des Falles. Weder lässt er sich in der Begriffspolarität von „Bildung“ vs. „Sozialisation“, noch in der Addition beider Begriffe oder der Subsumption des einen Begriffs unter den anderen zureichend verstehen – ein Anstoß also, in der theoretisch-begrifflichen Arbeit der bildenden Bedeutung von Sozialisation und der sozialisierenden Funktion von Bildung mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. Das könnte im Übrigen den bildungstheoretischen Diskurs auch für kulturspezifische Auffassungen von Autonomie und Gemeinschaft öffnen, die aus anderen als der uns vertrauten „individuum-zentrierten“ Kulturtradition stammen.
Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. Bielefeld: wbv. Dilthey, W. (1910 / 1958): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Gesammelte Schriften. Band VII. Stuttgart: Teubner. Elias, N. (2006): Figuration, sozialer Prozeß und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. In: Gesammelte Schriften. Band 16. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 100–117.
Bildung in biografischen Konfigurationen
151
Elias, N. (1970): Was ist Soziologie? München: Juventa. Henningsen, J. (1981): Autobiographie und Erziehungswissenschaft. Essen: Neue Deutsche Schule. Koller, H.-C. (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Koller, H.-C. / Wulftange, G. (2014) (Hrsg.): Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biografieforschung. Bielefeld: transcript. (im Druck). Müller, H.-R. (2013): „Wertvolle“ Resultate? – Zur Normativität im erziehungswissenschaftlichen Forschungsprozess. In: Fuchs, T. / Jehle, M. / K rause, S. (Hrsg.): Normativität und Normative (in) der Pädagogik. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft III. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 39–50. Müller, H.-R. (2014): „Aufstieg durch Bildung“ – Versionen der Selbstbeschreibung im Interview mit Hakan Salman. In: H.-C. Koller / G. Wulftange (Hrsg.): Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biografieforschung. Bielefeld: transcript (im Druck). Ricœur, Paul (2005): Was ist ein Text? In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hrsg. u. übers. von P. Welsen. Hamburg: Meiner, S. 79–108.
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge von Sigrid Nolda
Fremdsprachenlernen als Bildungsmittel Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
Die zentrale Bedeutung, die Sprache für das Denken, die Kommunikation mit anderen und für die Wahrnehmung der Realität von einzelnen und Gruppen hat, ist sowohl aus all gemein philosophischen als auch aus erkenntnistheoretischen Positionen postuliert worden – sowohl im Hinblick auf das ungesteuerte, ,natürliche‘ als auch im Hinblick auf das gesteuerte, unterrichtsförmige Erlernen fremder Sprachen. Die belegten Anfänge des Fremdsprachenunterrichts reichen in die Antike, wo griechische Sprach- und Rhetoriklehrer ihre Sprache im römischen Reich verbreiteten. In diesem Zusammenhang ist eine systematische Grammatik des Griechischen entstanden, der dann bald auch eine Grammatik des Lateinischen folgte. Sprache und Rhetorik gingen eine enge Verbindung ein, die im Folgenden von der Verbindung zwischen Sprache und Religion abgelöst wurde: Die Verbreitung des Lateinischen als Amtssprache der Kirche erforderte eine entsprechende europa- bzw. weltweite Unterweisung. Generell sind die ersten nachchrist lichen Jahrhunderte in diesem Raum durch eine Ausrichtung an klassischen geistigen Inhalten orientiert, erst später wurde auch der weltliche Gebrauch von Fremdsprachen durch eigens verfasste Lehrbücher und organisierten Unterricht – etwa für Kaufleute – geregelt. Während in Deutschland am Anfang des 18. Jahrhunderts durch die neu gegründeten Realschulen die Bedeutung des Französischen und Englischen als zu unterrichtende Verkehrs- und Kultursprachen gehoben wurde, setzte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts Wilhelm von Humboldt für die alten Sprachen, speziell für das Griechische als Mittel der Allgemeinbildung ein. Nach dem ,Königsberger bzw. Litauischen Schulplan‘ sollte über die Hälfte der Unterrichtszeit für das Studium der alten Sprachen verwandt werden, die in besonderer Weise für eine allgemeine Menschen- und Gemütsbildung geeignet und sich beruflichen und standesbezogenen Interessen zu entziehen schienen. Dieses Plädoyer muss im Zusammenhang mit der Bildungstheorie Humboldts gesehen werden, in der Sprache historische Bedingung des Denkens ist („Über Denken und Sprechen“, 1830) und derzufolge die Einsicht in die Verschiedenartigkeit von Sprachen die Bedingt- und Begrenztheit des eigenen Denkhorizonts verdeutlicht. Humboldt hat in seinen eigenen sprachwissenschaftlichen Arbeiten solche Konfrontationen fast idealtypisch vorgeführt – etwa in seiner Studie über das Baskische oder über den Dual, wo er sich nicht auf
154
Bildung an ihren Grenzen
die Erfassung der Eigentümlichkeit einer fremden Sprache und Kultur oder einer sprachund kulturenübergreifenden Kategorie beschränkt, sondern auch großen Wert auf eine ,räsonierende Vergleichung‘ (Humboldt 2008, S. 29) und damit auf das allgemein von ihm als Bildung bezeichnete dialogische, bereits in der Muttersprache angelegte Prinzip legt, dem er nicht nur für das Individuum, sondern auch für Menschheit höchste Bedeutung beimisst: „Denn das Sprachstudium muß zwar um seiner selbst willen bearbeitet werden. Aber es trägt darum doch ebenso wenig als irgendein anderer Teil wissenschaftlicher Untersuchung seinen letzten Zweck in sich selbst, sondern ordnet sich mit allen andren dem höchsten und allgemeinen Zweck des Gesamtstrebens des menschlichen Geistes unter, dem Zweck, daß die Menschheit sich klar werde über sich selbst und ihr Verhältnis zu allem Sichtbaren und Unsichtbaren und über sich“ (ebd., S. 114). Der von Humboldt postulierte Bildungswert von Sprachen hat sich auch auf den schu lischen Fremdsprachenunterricht ausgewirkt, in dem Sprache / Sprachsystem und Kultur, vor allem Literatur, als Einheit und als Möglichkeit der Selbsterkenntnis gesehen wurde. Auch und gerade die Kenntnis differenter grammatischer Strukturen galt – durchaus im Sinne Humboldts – als Bildungswert. Außerschulisches Sprachenlernen war dagegen stärker auf Effizienz und unmittelbare Anwendung bezogen und hat entsprechende Methoden entwickelt (Toussaint-Langenscheidt, Berlitz). Eine Wende für den schulischen Fremdsprachenunterricht hat Wilhelm Viëtor hat in seiner Kampfschrift „Der Sprachunterricht muss umkehren!“ (1882 / 86) eingeleitet, in der er eine Reduktion des Grammatikunterrichts, die Förderung der mündlichen Sprachproduktion und eine Unterrichtsgestaltung in der Zielsprache forderte. Das Zurückdrängen der alten zugunsten der neuen Sprachen in der Schule und das Vordrängen der mündlichen Ausdruckfähigkeit scheinen seitdem unumkehrbar. Die klassische Grammatik-Übersetzungsmethode ist weitgehend durch die direkte Methode ersetzt worden, im 20. Jahrhundert kamen durch die technische Entwicklung behavioristisch geprägte audiolinguale und audiovisuelle Methoden des Sprachenlernens auf, die zunächst für den schnellen Erwerb fremder Sprachen durch Erwachsene entwickelt und dann vom schulischen Unterricht übernommen wurden (pattern drills). Im Gegenzug wurde in den 1970er Jahren mit dem Konzept der Kommunikativen Kompetenz im Fremdsprachenunterricht das im Humboldtschen Sinn bildende dialogische Prinzip der Ver ständigung unter Hintanstellung der Sprachkorrektheit hervorgehoben. Das ursprünglich auf den schulischen Englischunterricht bezogene Konzept (vgl. Piepho 1974) wurde bald auf andere Sprachen und vor allem auch auf die Erwachsenenbildung ausgeweitet (vgl. Quetz / Bolton / L auerbach 1980) und konnte an die dort propagierte Alltagsorientierung anschließen. Es spielt sogar noch in die jüngsten Entwicklungen hinein, etwa die Etablierung eines Gemeinsamen Europäschen Referenzrahmens, der die Disparität fremdsprachlicher Aus- und Weiterbildung in Europa überwinden soll. Erweitert wurde der kommunikative durch den interkulturellen Ansatz (vgl. Knapp / Knapp-Potthoff 1990), wonach im Fremdsprachenunterricht Kenntnisse über andere Kulturen vermittelt, ein Problembewusstsein für die historische Bedingtheit kultureller Erscheinungen erzeugt und ein Bewusstsein über Verschiedenartigkeit geschaffen werden
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
155
soll (vgl. Einhoff 1993, S. 250). Auch wenn manche der political correctness geschuldeten Vereinfachungen fragwürdig sein mögen, so ist doch der Humboldtsche Ursprung dieses Konzepts und ihm folgender Konzepte wie das der ,language awareness‘ oder das der ,Lernerautonomie‘ unverkennbar (vgl. Küster 2013)1. Die Vorstellung vom Fremdsprachenlernen als Bildungsmittel wird – wie verkürzt auch immer – bis heute zur mehr als zusätzlichen Legitimation des Fremdsprachenunterrichts herangezogen. So heißt es auf der Eingangsseite des Bildungsservers Rheinland-Pfalz: „Sprachen öffnen Welten. Das Lernen von Fremdsprachen erleichtert die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern und das Verständnis für andere Kulturen. Das immer stärker werdende europäsche und globale Bewusstsein wie auch die wachsenden internationalen Verflechtungen von Wirtschaft und Gesellschaft führen dazu, dass Sprachenkenntnisse mehr Chancen eröffnen als je zuvor“ [fremdsprachen-bildung-rp.de]. Dem Erlernen fremder Sprachen wird hier eine aufschließende Wirkung zugesprochen, die eine Änderung des Welt- und Fremdbezugs (weniger des Selbstbezugs) bei einer sich verändernden Welt und gleichzeitig eine Steigerung der persönlichen Qualifizierung ermöglichen soll.
Forschungen zum Thema Fremdsprachenlernen Der dem Fremdsprachenlernen zugesprochene Bildungswert wird von der empirischen Forschung eher ignoriert. Während sich die Fremdsprachendidaktik primär mit (der Optimierung von) Unterricht und Unterrichtsgestaltung, mit der Berücksichtigung von Lern typen und mit Rahmenbedingungen wie Lehrplänen und verhalten befasst (vgl. Sarter 2006), untersucht die Fremdsprachenforschung im Wesentlichen Prozesse und Entwicklung des Fremdsprachenlernens und die Feststellung von erlangten Sprachniveaus und von Unterrichtsqualität – unter Berücksichtigung von Methoden und Curricula, aber auch von sozialen Kontexten, Sprachenpolitik und -planung sowie von Fragen der Identität und Kultur (vgl. Hinkel 2005). Sie greift in diesem Zusammenhang auf unterschiedliche quantitative und qualitative Methoden (vgl. Aguado 2000; Doff / Schmidt 2007; Lütge u. a. 2009; Cerri / Jentges / Stork 2012) zurück und nutzt dabei u. a. auch mündliche und schriftliche Erzählungen von Lehrenden und Lernenden (vgl. Oxford 2011) und Leitfadeninterviews, um einen auf Sprache bezogenen Entwicklungsprozess abzubilden – beispielsweise im „Essener Projekt zum Spracherwerb von Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion“, wo der sequenzielle Spracherwerb von einzelnen Lernern bezogen auf verschiedene Sprachbereiche und in Abhängigkeit von psychosozialen Faktoren untersucht wurde – (vgl. Baur / Nickel 2008). Von Interesse sind aber auch die Motive, die v. a. Erwachsene bewegen, eine Fremd sprache zu erlernen bzw. zu erwerben. Hier wird vor allem auf das sozioedukative Modell von Gardner (1985) zurückgegriffen, das nicht nur individuellen Unterschieden wie Intelligenz, sondern auch dem sozialen Milieu der Lerner Einfluss auf Sprachlern- / erwerbs prozess zubilligt. Zu den individuellen Unterschieden gehören auch Einstellungen, die als
156
Bildung an ihren Grenzen
Antezedenzien von Motivation aufgefasst werden. Diese Einstellungen betreffen die Haltung zur Lernsituation und die Haltung zur Kultur der Zielsprache. In einer Weiterführung des Modells wurden zusätzlich Alter, Gender und frühere Lernerfahrungen als Antezedenzien von Motivation ergänzt (vgl. Gardner / Tremblay 1995). Generell ist die Fremdsprachenforschung eher an der Realisierungsmotivation (und an Lernergebnissen) interessiert und weniger an der Selektionsmotivation, also der Motivation, die zur Entscheidung, eine Sprache zu lernen, führt. Für die empirische Erwachsenenbildungswissenschaft dagegen ist – im Gegensatz zur anwendungsorientierten Sprachandragogik 2 – weniger das Lernen von Fremdsprachen von Interesse, sondern die Frage nach den Gründen, warum Erwachsene meist freiwillig (Fremdsprachen) lernen und warum sie dies nicht tun3. Aus diesem Grund stehen Befragungen im Vordergrund, deren Ergebnisse unterschiedliche Motive erwachsener Sprachenlerner bündig nennen und ihre Verteilungen bestimmen. Klassisch ist hier die Einteilung nach privaten, v. a. touristischen und beruflichen Motiven der erwachsenen Fremdsprachenlerner. Dies interessiert vor allem aus Sicht der Fremdsprachenkurse anbietenden In stitutionen, so dass Motivforschung zu einem Teilkomplex dessen wird, was als Teilnahmeforschung gilt (vgl. Schneider 2004) und zur Professionalität der Angebotsplanung beitragen soll. Eine vergleichsweise komplexe Untersuchung liegt in dem von der Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung herausgegebenen Band „Motive des Fremdsprachenlernens“ aus dem Jahr 1986 vor. Dort hat man Teilnehmer von unterschiedlichen Fremdsprachenkursen an Volkshochschulen gebeten, ihre Gründe für den Besuch der Sprachenkurse anhand vorgegebener Antworten anzugeben. Zur Auswahl wurden zunächst Motive wie z. B. Nutzen am Arbeitsplatz, Hilfe bei den Schulaufgaben der Kinder, Nutzung bei Ferien im Ausland bzw. in privaten Kontakten mit Ausländern oder Freude am Lernen, am Umgang mit einer bestimmten Sprache gestellt (vgl. Müller-Neumann u. a. 1986, S. 78). Die Befragten konnten zudem „sonstige Gründe“ notieren. Außerdem wurden sie gebeten, den für sie wichtigsten Grund zu markieren. In einer Interviewbefragung wurde u. a. nach der Einbettung des Sprachenlernens in andere Aktivitäten gefragt sowie nach der Veränderung von Motiven und Teilnahmegründen durch Erfahrungen, die während des Kursbesuchs gemacht wurden. Abgesehen von dem Interesse der Forscher, Wissen über Teilnehmer an VolkshochschulFremdsprachenkursen zu gewinnen und dieses für die anbietende Institution nutzbar zu machen, handelt es sich um ein durchaus komplexes Design, das sowohl die Vorstellung einer isolierten Sprachlernpraxis als auch die der Unveränderlichkeit von Motiven hinter sich lässt. Problematisch ist demgegenüber die prominente Stellung von Vorannahmen, die dem Fragebogen und der auf sie folgenden Interviews zugrunde lagen. Auch die lediglich schriftliche Notierung des im Interview Gesagten erschwert eine interpretatorische Aus lotung der damit zwangsläufig geglätteten Daten. Die neuere Motivations- und Teilnahmeforschung geht anders als diese frühe Studie entweder konsequent quantitativ und an der in den neunziger Jahren entwickelten ,Education Participation Scale‘ (vgl. Boshier 1991) orientiert oder aber eindeutig qualitativ – etwa auf
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
157
der Basis von Gruppendiskussionen und problemzentrierten Interviews – vor (vgl. ReichClaasen 2010), ist dabei aber entweder am generellen, fachunspezifischen Weiterbildungsverhalten oder aber an anderen Lerninhalten als dem Fremdsprachenlernen interessiert. Das trifft auch für die Studien zu, die sich an der von Klaus Holzkamp entwickelten Lerntheorie orientieren und das Konzept der Lernbegründung bzw. der Interessensgenese in den Mittelpunkt stellen (vgl. Ludwig 2000; Grotlüschen 2010). Diesen liegt die Annahme zugrunde, dass Lernhandlungen sowohl subjektiv begründet als auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt und Lerninteressen dynamisch sind, indem sie eine Entwicklung von der Latenz-, über die Expansions- zur ,Kompetenzphase‘ mit jeweils abnehmenden Ausstiegsoptionen durchlaufen. Der mangelnde Fachbezug der Teilnahme- oder Partizipationsforschung spiegelt eine generelle Fach- bzw. Inhaltsvergessenheit der Erwachsenenbildungswissenschaft: Speziell der Bereich Fremdsprachen, für den es eigene Institutionen (Sprachschulen) und einen florierenden Markt an Lehrmedien gibt, wird von der Erwachsenenbildungswissenschaft eher am Rande behandelt. Die Sprachandragogik wiederum ist fachdidaktisch ausgerichtet und greift – wie auch die Erwachsenenpädagogik generell4 – nur selten explizit auf Bildungskonzepte zurück. In der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung findet sich dagegen ein Ort, an dem Konzepte der Bildung mehr oder weniger zentral (vgl. Wigger 2004) berücksichtigt werden. Bildung wird in Anlehnung an Humboldt als Entwicklung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Welt- und Weltbezügen definiert und phänomenologisch (Winfried Marotzki), diskurstheoretisch (Christoph Koller) oder wissenssoziologisch (Arnd-Michael Nohl) anhand von Lebensgeschichten untersucht. Gegenüber der Betonung der Trans formation ist in letzter Zeit Kritik geübt worden – z. B. von Fuchs (2011), der anders als die erwähnten Autoren nicht an das soziologische Modell der Wandlung von Fritz Schütze, sondern an die bildungstheoretischen Arbeiten von Theodor Schulze anschließt. Bildungsprozesse werden von der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung auf die transformatorische Entwicklung der Gesamtidentität und -entwicklung von eher jugendlichen Personen bezogen und an Beispielen der Verarbeitung von Fremdheitserfahrungen untersucht (vgl. Koller / M arotzki / Sanders 2007). Es liegt deshalb nahe, spektakulären Erfahrungen wie dem existenziellen Ausgesetztsein in einer fremden Kultur und Sprache bei Migranten die Möglichkeit zuzusprechen, Bildung im Sinne von Transformation zu bewirken. Ähnlich wie Sozialisation im Erwachsenenalter (abgesehen von Ausnahmen wie der Konversion) gegenüber dem Kindes- und Jugendalter weniger tiefgehend ist, so ist bei Erwachsenen auch für Bildung in der Regel eine Abnahme drama tischer Entwicklungen anzunehmen. Einem ,entdramatisierten‘, eher auf Zunahme von Reflexität abzielenden Bildungskonzept entsprechen dann auch weniger spektakuläre Lernaktivitäten wie die des Fremdsprachenlernens. Welche Rolle nun aber bestimmte Lernaktivitäten als „relativ kurzfristige individuelle Lernprozesse, die an eine konkrete A ktivität gebunden sind und die sich willkürlich steuern lassen, die bewusst einsetzen und auch wieder aufhören“ (Schulze 2007, S. 155) bei der Herstellung dessen spielen, was als – im Verlauf des Lebens wechselnde – Bildungsgestalt von Erwachsenen bezeichnet werden
158
Bildung an ihren Grenzen
könnte, kann kaum theoretisch gelöst werden. In Umkehrung einer von Schulze verwenden Formulierung5 ginge es darum, das „Lernen im Horizont von Bildung“ an Bildungsgestalten Erwachsener zu untersuchen, wie sie aus autobiographischen Erzählungen rekonstruiert werden können.
Fremdsprachenlernen Erwachsener als mögliche Bildungsfolge Zwei Projekte, die erwachsene Lerner im Abstand bis zu 25 Jahren wiederholt zu ihren Lernerfahrungen befragt haben6, bieten nun einen Fundus an Materialien, der die bildungsbezogene Bedeutung des Fremdsprachenlernens erwachsener Lerner empirisch erhellen kann. Die Tatsache, dass im umfangreicheren der Projekte generell nach Lernaktivitäten gefragt wurde, verhindert eine vielleicht nur aus einem Fachinteresse begründbare Fokussierung und lässt stattdessen die Stellung des Fremdsprachenlernens im Lebenszusammenhang und im Kontext anderer Lernaktivitäten hervortreten7. Im Rahmen der Projekte wurde davon ausgegangen, dass bildungsbiographische Erzählungen strikt gegenwartsbezogen sind und Vergangenheit und Zukunft nur im Lichte der jeweiligen Gegenwart thematisieren (können). Rekonstruierbar ist deshalb nicht eine den Individuen eigene feste Bildungsgestalt, sondern jeweils eine von vielen, performativ unter bestimmten Bedingungen hervorgebrachte und in bestimmte Kontexte eingebettete Bildungsgestalt, die sich wiederum aus jeweils unterschiedlichen Lernpraktiken mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung zusammensetzt (vgl. Kade / Nolda 2014a und b). Als Praktik wird hier in Anlehnung an Reckwitz der soziale Charakter wiederholter Handlungen bezeichnet: „Praktiken enthalten in sich Handlungsakte, die wiederholt hervorgebracht werden, aber während das Konzept der ,Handlung’ sich punktuell auf einen einzigen Akt bezieht, der als intentionales Produkt eines Handelnden gedacht wird, ist eine Praktik von vornherein sozial und kulturell, eine geregelte, typisierte, von Kriterien angeleitete Aktivität, die von verschiedensten Subjekten getragen wird“ (Reckwitz 2006, S. 38). Dieses Verständnis lässt die eindimensionale Frage nach zeitübergreifend gültigen individuellen Motiven in den Hintergrund treten und erweckt eher das Interesse nach der Art und Weise, wie die Befragten ihr Tun beschreiben und in welchen Kontext sie es stellen. In den Korpora der Projekte finden sich nun zahllose Fälle, in denen die Befragten unterschiedlich ausführlich berichten, dass und manchmal warum, wo, mit wem und wie sie sich fremde Sprachen versucht (oder auch nicht versucht) haben anzueignen. Dabei fällt auf, dass das freiwillige, in lockerer oder auch ohne Anbindung an berufliche Verwendungen aufgenommene, ,unspektakuläre Sprachenlernen‘ (Nolda 1996) weniger den Beginn einer Bildungsbewegung der Öffnung und Erweiterung oder gar des Wandels markiert, sondern eher als Folge von ,Bildung‘ im Sinn von (1) Bildungsmöglichkeiten (2) Bildungshabitus und (3) Bildungserlebnis(sen) dargestellt wird.
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
159
(1) Zeit- und geschlechtstypisch erscheint, dass viele der in der ersten Welle 1984 / 1985 des ersten Projekts befragten Frauen davon berichten, dass sie Kurse in Sprachen besuchen (oder besucht haben), die sie in ihrer Schulzeit nicht oder nicht ausreichend lernen konnten. Sie holen gewissermaßen nach, was ihnen aufgrund der Kriegs- und Nachkriegszeit oder auch aufgrund der Tatsache, dass sie „nur“ Mädchen waren, in dem Sinne verwehrt wurde, dass auf ihre Ausbildung weniger Wert als bei Brüdern oder jüngeren Geschwistern gelegt wurde. Das kann bedeuten, dass eine Frau von ca. 30 Jahren, die im Gegensatz zur jüngeren Schwester ,nur‘ die Mittlere Reife hat, plant, ihr Schulenglisch wiederaufzufrischen, um mit ihrem Mann und ihren Kinder gleichzuziehen, sich im Urlaub auf Auslandsreisen verständigen zu können und um sich nach einer Familienphase auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können. Das kann aber auch bedeuten, dass eine Chemielaborantin, die das Gymnasium nach der 8. Klasse verlassen hat und zur Realschule übergewechselt ist, Altgriechisch lernt und so das, was ihr ,versagt‘ wurde, nachzuholen versucht. Beide Frauen suchen zur Realisierung ihrer Pläne die in 1980er Jahren vergleichsweise großzügig geförderte und weit verbreitete, also finanziell und örtlich zugängliche Institution der Volkshochschule auf. Dafür müssen keinen großen Barrieren überwunden werden und dazu müssen sie sich auch nicht in ein fremdes Milieu begeben. Die unverbindliche Kursteilnahme an einer damals primär von Angehörigen der Mittelschicht und auch von Mittelschulabsolventen8 aufgesuchten Institution birgt relativ wenige Risiken: Weder werden sie dort zu Prüfungen gezwungen, noch ist damit zu rechnen, dass der Großteil der anderen Teilnehmer ihnen an Kenntnissen weit überlegen ist. Zeittypisch ist auch das Urlaubs- bzw. Reiseverhalten der beiden Frauen, das sich – anders noch als in den 50erJahren – auf nicht-deutschsprachige Länder bezieht9. Eine solche Reise wird auch nicht als einmaliges Ereignis, sondern als Folge einer erwartbaren Serie10 empfunden, so dass sich die Investition in das Erlernen einer dafür nützlichen Sprache zu lohnen scheint. (2) Neben dem äußeren Kontext einer veränderten, Mädchen in puncto Schulbildung nicht mehr benachteiligenden, zahlreiche Erwachsenenbildungsmöglichkeiten offerierenden Bildungslandschaft und eines verbreiteten Tourismus wirkt aber nach wie vor das Muster eines Bildungshabitus, der nicht nur nachträglich erkämpft werden muss, sondern auch als Fortführung einer einmal gelegten Spur auftritt. Ein solcher Habitus wird gewöhnlich im Elternhaus und dann in der (von den Eltern ausgewählten) Schule erzeugt und befestigt und führt beispielsweise dazu, dass jemand, der im Gymnasium Englisch und Französisch gelernt hat, in späteren Jahren Italienisch lernt. Ein Fall aus dem zweiten Projekt kann hier der Veranschaulichung dienen: Frau Amann11, eine Lehrerstochter, erinnert sich, dass es die Reisen mit ihrem aus dem gleichen Milieu stammenden Ehemann waren, die sie bewegt haben, ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen bzw. zu vervollständigen: A: […] Und hab dann, das weiß ich allerdings jetzt gar nicht mehr genau, wann das angefangen hat, mein Interesse Italienisch zugewendet. I: Das hat wahrscheinlich ähnlich wie bei Französisch, was mit Urlaub zu tun gehabt? A: Ja, wir sind, lange Jahre immer nach Frankreich gefahren in Urlaub und irgendwann kam uns mal die Idee, wir könnten doch nun eigentlich auch mal nach Italien fahren, weil wir das über-
160
Bildung an ihren Grenzen
haupt noch nicht kannten. Und äh, das ist ja schon irgendwie so ne kleine Bildungslücke (I.: Mhm) wenn man das überhaupt nicht kennt. Und auf die Art und Weise haben wir uns dann mal dazu entschlossen und ähm ich hatte von Italienisch nur na ne ganz kleine geringe Ahnung. Also zum Beispiel wie man nen C oder nen G vor I und E ausspricht.
Ob sich die erwähnte Bildungslücke auf die Kenntnis von Italien oder des Italienischen bezieht, ist unklar. Der Ausdruck verdeutlicht aber den bildungsbürgerlichen Anspruch, der Sprache und Kultur miteinander verbindet und der zumindest rudimentäre Kenntnisse wie die von Ausspracheregeln vorsieht, mit denen man kokettieren und an die man anschließen kann. Hier fügen sich Sprachlernerfahrung und ein Lebensstil, in dem eine Kulturreise einem Strandurlaub vorgezogen wird, zusammen. Das Lernen des Italienischen bewirkt kein Bildungserlebnis, es befestigt einen bereits bestehenden Bildungshabitus12 und ist damit dessen Folge. Fälle wie dieser können eine gesellschaftskritische Sicht auf Bildung bestätigen, die diese als milieugebunden sieht und bestenfalls horizontale, aber kaum vertikale Verschiebungen, also systematisch ermöglichte Aufstiege, für möglich hält (vgl. Bremer 2007). (3) Dass aber auch ereignishafte Bildungserlebnisse im Sinne von überraschenden Entstehungen, Wandlungen oder zumindest Erweiterungen von Bildungs- bzw. Lerninteressen mit dem Fremdsprachenlerner in Verbindung stehen können, macht der folgende – wieder aus dem ersten Projekt stammende – Fall deutlich: Die in einem Lehrbuchverlag mit (romanischen) Sprachen befasste Frau Bermann besichtigt als ca. 50-Jährige auf einer Spanienreise die Alhambra in Granada und ist so beeindruckt von der Schönheit der auf den dortigen Gebäuden angebrachten Kalligraphie, dass sie beschließt, Arabisch zu lernen. B.: Und dann kam also zum Schluss noch das Interesse für das Arabische, das mich äh irgendwo gestreift hat bei einem Südspanienbesuch. Ja, da waren wir– waren wir in Andalusien, war ich in Andalusien mit Freunden. Und äh wir sind durch die Alhambra und durch diese ganzen maurischen Denkmäler. Und da hab ich mir, verdammt, das ist so ne schöne Kalligraphie. (I.: Hmhm) Das gefällt mir so gut. (I.: Hmhm) Ich muss Arabisch lernen. Da hab ich dann angefangen, einfach, einfach so.
Sie betont das Unverhoffte und Vage dieses starken Eindrucks ebenso wie seine nichtzentrale Stellung („irgendwo gestreift“). In der Rückerinnerung durchlebt sie das Erlebnis gewissermaßen noch einmal, bildet sprachlich (durch Anakoluthe und Tempuswechsel) ihr Überwältigt-Sein ab und betont den Wegfall von Nützlichkeitserwägungen („einfach, einfach so“). Sie tritt damit nicht nur aus dem Bereich der ihr bekannten europäschen Sprachen, sondern entfernt sich auch aus dem bisher herrschenden beruflichen Verwendungsinteresse. Hinzu kommt, dass sie – die auch als Sprachlehrerin für romanische Sprachen tätig war – sich damit aus der Rolle der Lehrenden in die einer Lernenden begibt. Das Lernen der Sprache ist die Folge dieser das Selbst- und Weltverhältnis betreffenden Veränderung. Damit vergleichbar ist der Fall einer Frau, die – nach einer langen Phase der Lernunwilligkeit und vermeintlichen Lernunfähigkeit in sich die Lust verspürt, Neues zu beginnen
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
161
und sich mit verschiedenen Dingen zu beschäftigen, die sie vorher für sich ausgeschlossen hätte. Dazu gehören Sport, Musik und das Verbessern ihrer auf der Schule erworbenen Englischkenntnisse – drei deutlich durch ihren Charakter als Gesundheitsvorsorge, Freizeit beschäftigung und als Vorbereitung auf eine künftige Berufstätigkeit voneinander ange hobene Aktivitäten, die aber gerade in ihrer Kombination einen neuen Zugriff auf die ,Welt‘ erkennen lassen (vgl. Kade / Nolda 2014b). Nicht das Fremdsprachenlernen als solches bewirkt nach Darstellung der Befragten Bildung, es erscheint vielmehr als Auswirkung von Bildung im Sinne von Bildungsmöglichkeiten, Bildungsgewohnheiten und Bildungserlebnissen. Dabei sind Mischungen möglich: Im Fall von Frau Bermann ist es ein Fremdsprachenlernen als solches naheliegender Habitus, das Bildungserlebnis bewirkt ,lediglich‘ eine Veränderung innerhalb des Gegenstands bereichs Fremdsprachen, eine Abkehr von der bisherigen utilitaristischen Haltung und eine Rückkehr zur alten Rolle als Lernende. Vor allem aber sind diese ,Herleitungen‘ nicht als feststehende Größen, sondern als jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommene Haltungen oder Sichten aufzufassen: Die von Frau Bermann geschilderte Entwicklung ihres Arabischlernens enthält nämlich in sich eine Revision des ursprünglich von ihr genannten Motivs: Nachdem sie auf einen Lehrer trifft, der in Ermangelung eines geeig neten Lehrbuchs eigene Unterrichtsmaterialien einsetzt, fasst sie den Plan, mit diesem zusammen ein Lehrbuch zu verfassen und schließt damit – obwohl inzwischen verrentet – wieder an die Nützlichkeitserwägungen an, die ihr bisheriges Verhältnis zum Sprachenlernen und vor allem ihre berufliche Arbeit in einem Lehrbuchverlag bestimmt haben. Der Selektionsmotivation Bildungserlebnis folgt die Realisierungsmotivation der quasi-beruflichen Nutzung. Die hier von der Biographieträgerin in einem Interview beschriebene Veränderung im Verlauf einer Lernpraxis kann aber auch durch eine im Nachhinein veränderte Sicht auf eine abgeschlossene Lernpraxis hervorgerufen werden. Die dabei zutage tretenden Unterschiede können radikal und offensichtlich13 oder aber auch – wie im Fall der Griechisch lernerin – eher subtil sein. Im ersten Interview hatte Frau Celius gesagt: C. (t1): Ja, Altgriechisch, also wie ich zu Altgriechisch kam, das war ganz komisch. Da habe ich mal ein Hörspiel gehört und zwar den Ödipus und der Ödipus wurde an diesem Abend in Deutsch gebracht, im Radio und am nächsten Abend glaube ich in Altgriechisch und dann habe ich da nur einen Teil gehört und dann hat mir die Sprache so gut gefallen vom Klang her, dass ich gedacht habe, die könnte ich mal machen, aber ich habe überhaupt Vorliebe für alte Sprachen. Ich habe ja ein paar Jahre Latein gehabt in der Schule. Ich werde auch vielleicht mal wieder Latein machen, aber jetzt, solange ich arbeite nicht, ich glaube, das mache ich erst, wenn ich mal pensioniert bin oder so, da habe ich mehr Zeit zum Lernen dann und auch mehr Muße vielleicht dazu.
Im zweiten Interview heißt es: C. (t 2): Ich hab Altgr– das war, also ich hab lauter so verrückte Sachen gemacht. Also mit dem Altgriechisch, das war so: Ich hab mal im Radio äh den– den Ödipus Rex auf Griechisch gehört. Und dann war ich so von dieser Sprache begeistert. (I: Hmhm) Ich hab sowieso eine Vorliebe für– für alte Sprachen. (I: Hmhm) Und da war ich so begeistert, dass ich beschlossen hab, an der Volks-
162
Bildung an ihren Grenzen
hochschule Griechisch zu machen, aber nicht Neu-– sondern Altgriechisch. (I: Hmhm) Da hat meine Mutter gesagt, ob ich nicht ganz dicht bin, ich soll doch wenigstens Neugriechisch machen, weil damit könnte ich ja sprechen. Und Altgriechisch BRAUCHT ja kein Mensch, hab ich gesagt, „Nee, ich mach Altgriechisch.“ (I: Ja) Und dann hab ich so ungefähr zwei Semester Altgriechisch gemacht. Und dann hat der Lehrer, der uns das damals vermittelt hat, der war eigentlich Lehrer an einem Gymnasium, an einem humanistischen Gymnasium, und der konnte aber dann den Kurs nicht mehr weiter machen, weil der dann einen gekriegt hat. (I: Hmhm) Dann musste er den Kurs abgeben. Dann weiß ich noch, dann war ich in so einem Ausländer-Freundeskreis. Und da gab es ein paar angehende Theologen. (I: Hmhm) Und dann hab ich mit einem Theologen ein bisschen äh Griechisch weitergemacht, weil ich– ja, ich hatte den Spleen, dass ich einmal PaulusBriefe übersetzt hab so.
Die Bedeutung dieser Sprachlernepisode ist offensichtlich so groß, dass die Befragte sie auch nach 25 Jahren noch fast ebenso ausführlich erzählen kann. Was aber in der ersten Erzählung als Kontinuität im Sinne eines auch in die Zukunft reichenden Bildungshabitus erscheint, wird in der zweiten Erzählung zu einem Überschreiten von Grenzen: An der Institution, die sie aufsucht, der Volkshochschule, lernt man eher neue als alte Sprachen, und ihre Umgebung / Mutter erklärt sie für verrückt („nicht ganz dicht“), dass sie ausgerechnet eine ,tote‘ Sprache lernen will. Gegen die Mutter setzt sie sich durch und erwähnt, dass der Kursleiter nicht nur „Lehrer an einem Gymnasium, an einem humanistischen Gymnasium“, sondern sogar Lehrbeauftragter „an der Uni“ war und sie dann „mit einem Theologen ein bisschen äh Griechisch weitergemacht“ hat: Sie hat sich damit nicht nur dem versäumten sekundären, sondern auch dem tertiären Bildungsbereich genähert und hatte sogar „den Spleen“, die biblischen Paulus-Briefe zu übersetzen. Mit dieser Bezeichnung distanziert sie sich im Nachhinein von ihren Ambitionen, ohne sie aber zu desavouieren. Die Phase ist – wie auch der Protest gegen die inzwischen verstorbene Mutter – abgeschlossen, und es ist auch nicht mehr wie im ersten Interview davon die Rede, dass sie sich im mittlerweile fast erreichten Rentenalter wieder den alten Sprachen widmen will. Die Sprachlernepisode wird als ein Beispiel für ihre Wendung gegen Konventionen beschrieben („also ich hab lauter so verrückte Sachen gemacht“), das Lernen des Altgriechischen ist nicht Auslöser und Mittler von Bildungsprozessen, sondern Ausführung einer bereits in Gang gekommenen veränderten Haltung gegenüber sich selbst und ihrer Umgebung, die sich nach einem Vierteljahrhundert wiederum selbst verändert hat und Gegenstand ihrer nachträglichen Reflexion geworden ist. Anders als es die Motivforschung nahelegt, sind es nicht nur die Selektionsmotive, die sich zu davon unterschiedenen Realisierungsmotiven verändern können. Es sind auch die Selektionsmotive selbst, die nicht feststehen, sondern sich je nach Situation und Perspektive der Betroffenen ändern. Auch ist nicht der von Humboldt betonte Eigenwert des Griechischen (vgl. „Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere“) zentral, sondern die Funktion innerhalb der – wechselnden – Bildungsgestalt von Frau Celius ist es, der entscheidend ist. Die Praktik des weitgehend freiwilligen Fremdsprachenlernens im Erwachsenenalter ist objektiv als Folge vorgängiger Lern- und Bildungserfahrungen und in Abhängigkeit von zur
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
163
Verfügung stehenden Bildungsmöglichkeiten (Institutionen, Medien) und im Kontext von politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen14 zu sehen, insofern also Folge von Bildung im Sinne von Ausbildung / Bildungshabitus, einer bildungs- bzw. lernbezogenen Infrastruktur und von gesellschaftlichen Kontexten, die als Trends oder Moden wirken15. Diese Einschätzung interessiert hier aber nicht als gesellschaftskritische oder bildungsökonomische Aussage, sondern im Hinblick auf den Stellenwert, der diesen Abhängigkeiten von den Befragten (zu unterschiedlichen Zeitpunkten) eingeräumt wird. Das gleiche gilt für die Verortung des Fremdsprachenlernens als Element innerhalb von Bildungsprozessen im Sinne von Veränderungen des Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisses: Wenn überhaupt eine Verbindung von den Befragten gezogen wird, dann ist es weniger die des Fremdsprachenlernens als Bildungsauslöser und -mittel, sondern eher die des Fremdsprachenlernens als Folge veränderter Sichten auf sich selbst (z. B. die eigene Lernfähigkeit), auf andere Personen und Instanzen (z. B. als Ermöglicher, Mitlerner oder Verhinderer) und auf die Welt (z. B. als Lernherausforderung). Die Befragten sehen sich nicht quasi passiv dem Bildungserlebnis Fremdsprachenlernen ausgesetzt, sondern sehen ihre Entscheidung zur Aufnahme (oder auch Wiederaufnahme) der Praktik des Fremdsprachenlernens als kontingente Konkretisierung einer stattgehabten Veränderung. Es ist diese Veränderung, die sie offen für eine Lernpraktik wie die des Sprachenlernens macht, und es ist nicht das Sprachenlernen selbst, das sie – wie der entsprechende Topos behauptet – offen „für die Welt“ macht. Dass das freiwillige Sprachenlernen seinerseits zur Steigerung einer einmal begonnenen Entwicklung beitragen kann, ist – wie der Fall der Spanischlernerin zeigt – nicht auszuschließen, aber eben auch nicht notwendig zu erwarten.
Literatur Aguado, K. (2000): Zur Methodologie in der empirischen Fremdsprachenforschung. Baltmannsweiler. Baur, R. S. / Nickel A. (2008): ESA. Das Essener Projekt zum Spracherwerb von Aussiedlern – und was man damit machen kann. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Kinder mit Migrationshintergrund. Zweitspracherwerb. Diagnosen, Verläufe, Voraussetzungen. Freiburg i. Br., S. 185–201. Bilger, F. u. a. (2013): Weiterbildungsverhalten in Deutschland. Resultate des Adult Education Survey 2012. Bielefeld. Boshier, R. (1991): Psychometric properties of the alternative from the Education Participation Scale. In: Adult Education Quarterly, 41, S. 150–167. Bremer, H. (2007): Soziale Milieus, Habitus und Lernen. Zur sozialen Selektivität des Bildungs wesens am Beispiel der Weiterbildung. Weinheim. Cerri, Ch. / Jentges, S. / Stork, A. (Hrsg.) (2012): Methoden empirischer Fremdsprachenforschung im Prozess. Göttingen. Doff, S. / Schmidt, T. (Hrsg.) (2007): Fremdsprachenforschung heute. Interdisziplinäre Impulse, Methoden und Perspektiven. Frankfurt / M.: Lang. Einhoff, J. (1993): Der interkulturelle Ansatz – Denkanstoß für die Textaufgabe? In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, H. 3, S. 248–256. Eggers, D. (Hrsg.) (1997): Sprachandragogik. Frankfurt / M. u. a.
164
Bildung an ihren Grenzen
Fuchs, Th. (2011): Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Bielefeld. Gardner, R. C . (1985): Social Psychology and Second Language Learning. The Role of Attitudes and Motivation. London. Gardner, R. C . / Tremblay, P. F. (1995): Expanding the Motivation Construct in Language Learning. In: The Modern Language Learning Journal, 79, S. 550–520. Grotlüschen, A. (2010): Erneuerung der Interessetheorie. Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung. Wiesbaden. Hinkel, E. (Hrsg.) (2005): Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning. Mahwah, N. J. / London. Humboldt, W. von (2008): Schriften zur Sprache. Frankfurt / M. Humboldt, W. von (1920): Gesammelte Schriften, Bd. X III. Kade, J. / Nolda, S (2014a): Individualitätsperformanz. Bildungsbiographische Aufführung und Ausführung von Anspruchsindividualitäten in sich wandelnden Kontexten. In: Geimer, A. / v. Rosenberg, F. (Hrsg.): Kulturelle Differenzen. Wiesbaden (im Erscheinen). Kade, J. / Nolda, S. (2014b): Zwischen Entscheidung und Ereignis. Okkasionelle Bildungsbiographien im Kontext des Lebenslaufs. In: Miethe, I. / Ecarius J. / Tervooren, A. (Hrsg.): Bildungsentscheidungen im Lebenslauf. Perspektiven qualitativer Forschung. Opladen, S. 227–246. Knapp, K. / K napp-Potthoff, A. (1990): Interkulturelle Kommunikation. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, H. 1, S. 62–93. Koller, Ch. / M arotzki W. / Sanders, O. (2007): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Erfahrung. Bielefeld. Küster, L. (2013): Bildungsanspruch und Bildungsgehalt schulischen Fremdsprachenunterrichts. Ein kritischer (Rück)Blick auf Postulate und Praktiken. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen, H. 1, S. 50–64. Ludwig, J. (2000): Lernende verstehen. Lern- und Bildungschancen in betrieblichen Modernisierungsprojekten. Bielefeld. Lütge, Ch. u. a. (2009): Empirische Fremdsprachenforschung – Konzepte und Perspektiven. Frankfurt / M. Müller-Neumann, E. / Nuissl, E. / Sutter, H. (1986): Motive des Fremdsprachenlernens. Eine Untersuchung der Motivationsstruktur insbesondere jüngerer Teilnehmer an Sprachkursen der Volkshochschule. Heidelberg. Nolda, S. (1996): Unspektakuläres Sprachenlernen. Zur Problematik der Erstellung und Analyse von lernbiographischen Texten. In: Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, Nr. 37, S. 85–93. Nolda, S. (2013): Anleitung für die Aneignung der Fremde. Reiseführerliteratur als Medium der Erwachsenenbildung. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung. Heft 3, 2013, S. 36–38. Nünning, A. (2007): Bildung durch Sprache(n) und Literatur. Zur Aktualität von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, H. 2, S. 143–164. Oxford, R. L . (2011): Meaning Making, Border Crossings, Complexity, and New Interpretive Techniques: Expanding our Understanding of Language Learner Narratives. In: Festschrift für Fremdsprachenforschung, H. 2, S. 221–241. Piepho, H.-E. (1974): Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Dornberg-Frickhofen. Quetz, J. / Bolton, S. / L auerbach, G. (1980): Fremdsprachen für Erwachsene. Berlin. Reich-Claasen, J. (2010): Warum Erwachsene (nicht) an Weiterbildungsveranstaltungen parti zipieren. Weiterbildungseinstellungen und prägende Bildungserfahrungen als Regulative des Weiterbildungsverhaltens. Münster.
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge
165
Reckwitz, A. (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der Bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist. Sarter, H. (2006): Einführung in die Fremdsprachendidaktik. Darmstadt. Schneider, K. (2004): Die Teilnahme und die Nicht-Teilnahme Erwachsener an Weiterbildung. Bad Heilbrunn. Schulze, Th. (2007): Modi komplexer und längerfristiger Lernprozesse. Beobachtungen und Über legungen zu einer Theorie des Lernens und der Bildung. In: Koller, Ch. / M arotzki, W. / Sanders, O. (Hrsg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformato rischer Bildungsprozesse. Bielefeld, S. 141–159. Tietgens, H. (1978) [1964]: Warum kommen wenig Industriearbeiter in die Volkshochschule? In: Schulenberg, W. (Hrsg.): Erwachsenenbildung. Darmstadt, S. 98–174. Wigger, L. (2004): Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, S. 478–493.
Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich von Harm Paschen
1.
Vorüberlegungen Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich
Für Lothar Wigger einen Beitrag zur Festschrift zu schreiben, ist nicht ohne Vorüberlegungen umzusetzen. Eine Festschrift macht ja eigentlich einen deutschen Professor erst zum richtigen Professor. So habe ich es empfunden, als mir 2002 von den Kollegen Norbert Meder und Lothar Wigger zu meiner wirklichen Überraschung eine Festschrift überreicht wurde. Überraschung, weil ich eigentlich Festschriften – abgesehen von den jeweiligen Inhalten – für überflüssig hielt und eine Anfrage zum 60-sten vehement abwies und etwas höflicher auf den Zeitpunkt der Pensionierung hinwies. Schon mit derartigen Hinweisen wird deutlich, dass Festschriften es irgendwie mit persönlichen oder fachlichen Reflexionen zu tun haben. Pädagogisch gewünschte Reflexionen, wie auch die neue Reflexive Erziehungswissenschaft, haben oft die Eigenheit, dass sie sich selbst nicht reflektieren, in dem Sinne, ob jeweils die Reflexion selbst pädagogisch praktisch ihre Resultate erbringt, sozusagen auch die heute gewünschte Qualitätsevaluation durchführt, zu deren Sinn und Resultat selbst reflektiert werden könnte. Qualitäten aller Arten sind ja erst notwendig, wenn die Qualität verloren ist und sie kaum wieder hergestellt werden kann (Vom Wiegen wird die Sau nicht fett, sagt ein alter Bauernspruch). Derartige Vorüberlegungen sind auch sinnvoll in einem anderen erziehungswissenschaftlichen Bereich, den auch Lothar Wigger bearbeitet, dem der Biografie. Auch hier gibt es erziehungswissenschaftlich reflexive Phänomene, wie z. B. bei den Pädagogen, die schon früh über Alterswissen Aussagen machten (Spranger, Bollnow, Litt), aber nicht darauf kamen, Alterswissen in der Pädagogik und sich selbst zu sehen (vgl. Klemenz / Paschen 2012). Innen und außen scheinen zwei Welten zu sein, die auch erziehungswissenschaftlich nicht leicht zu erkennen sind. Erst vor kurzem lernte ich, dass der bedeutende Psychologe Bowlby und seine Bindungstheorie sehr wohl aus eigener Erfahrung schöpfen – in der Kriegszeit wurde er von seinen Eltern getrennt auf das Land geschickt und sagte später lakonisch dazu: „Wer würde mit acht einen Hund ins Internat schicken“. Nun können einem viele derartige Ursprünge von Theorien, Aktivitäten und Verbreitungen und dabei ein besseres Verstehen eines Ansatzes einfallen, aber es gibt da noch ein biografisches und päda-
168
Bildung an ihren Grenzen
gogisches Problem, das bei wissenschaftlichen Reflexionen von einem besonderen und schwer zu operationalisierenden Phänomen auftaucht und das schon sprachlich auffällig ist. Einen Namen, den man nur selbst von innen aussprechen könne und von außen von keiner Person. Vieles könne man mit einem Namen ansprechen. „Bei dem Namen „Ich“ ist dies nicht der Fall. Es kann ihn keiner anwenden zur Bezeichnung eines anderen; jeder kann nur sich selbst „Ich“ nennen. Niemals kann der Name „Ich“ von außen an mein Ohr dringen, wenn er die Bezeichnung für mich ist. Nur von innen heraus, nur durch sich selbst könne die Seele sich als „Ich“ bezeichnen.“ (Hinweis auf Steiner 1904 von Fabrizio Venturini). Das Problem, das biografische Ich nach seiner Quelle zu verstehen, sei es bloß ein Konstrukt des Hirns oder eine elementare Erfahrung (begegnen können sich nur Iche, nicht Hirne), kann hier nicht gelöst werden. Pädagogisch interessant nur ist, dass mehr oder weniger gleichzeitig mehr Wahrnehmung der Individualität verlangt wird und dass Ich (das die Engländer sogar groß schreiben) nur ein (kontingentes) Konstrukt sein soll. Ein ähn liches Dilemma zeigt sich, wenn Hirnforscher vom Ich als Konstrukt des Hirns ausgehen und zugleich sich selbst und diese Entdeckung einem Ich mit Namen, also nicht dem (eigenen?) Hirn zuschreiben.
2.
Pädagogische Überlegungen zum pädagogischen Ich
Für die Pädagogik ergeben sich nun aus diesem Dilemma ganz konkrete Probleme. Wie kann es eine Selbstkompetenz geben, bzw. wie kann sie gefördert werden, wenn auch das Selbst eben kein Selbst sei? Zu welchem Ich soll ein Kind gebracht werden, wenn es nicht von Geburt eins hat? Wie muss das ernst genommen werden, dass sich jemand z. B. in seinem Körper oder seiner Umgebung (die Gesellschaft, die Schule) nicht adäquat mit seinem Ich findet und sich bemüht, das Fremde chirurgisch oder mit Auswanderung los zu werden? Im Hinblick aber auf die pädagogische Reflexion kann es nicht nur um die Individualität der anderen gehen, sondern um das eigene biografische pädagogische Ich. Das bedeutet nicht nur Analysen wer, wie und warum Pädagogin wird, über das wir einiges wissen vom Nichtkönnen (he who can – does; he who can’t – becomes a teacher;he who can’t teach – teaches teachers und wer das nicht kann, wird theoretischer Erziehungswissenschaftler) bis zur psychoanalytischen Einsicht: „Das was mir in der Schule passiert ist, darf nicht sein. Und so wiederhole ich, um das Erfahrene durch Wiederholung zu verdrängen“ (Brück 1986). Sondern interessant sind auch hierzu pädagogische Veränderungswünsche der Lehrkräfte. Gelegenheiten gibt es in der Regel nicht häufig (Ortswechsel) und sie werden amtlich oft ungern gesehen. Meist bleibt man dabei auch pädagogisch im selben Milieu. Frühere Generationen haben dagegen auch risikofreudiger wie die Reformpädagogen selbst die Schulen gegründet, die sie für richtig hielten, bzw. an denen sie sich pädagogisch wohl fühlten. Eine pädagogische Milieusuche findet man auch bei Eltern, von denen nicht viele, aber zunehmend mehr andere als die vornehmlichen Schultypen wählen. Auch gibt es – bisher wohl nicht empirisch untersucht – SchülerInnen, die von sich aus andere Schulen nicht nur wünschten, sondern auch erfolgreich wählen und erreichen.
Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich
169
Pädagogische Vielfalt, die es eigentlich paradigmatisch und nach Einseitigkeit jeder ädagogik mehr geben müsste, fehlt für mögliche Wechsel oder individuelle Adäquatheit P von Lehrkräften, Eltern und SchülerInnen, zumal die Zulassungen politisch wegen gesellschaftlicher Einheit und Sicherheit oft nicht gewollt sind. Umso interessanter sind Gelegenheiten, in denen gesellschaftliche Umwälzungen vor liegen, die auch die Pädagogik, die Schulen und damit Lehrer, Eltern und SchülerInnen betreffen. Da geht es nicht um eine gewollte Veränderung im Sinne einer moderneren Pädagogik (Kompetenzen), neuer Herausforderungen (Digitalisierung, Globalisierung) oder empirischer Forschungen (vgl. Hattie 2009; vgl. dagegen Zierer 2013), die alle nicht das päda gogische Ich betreffen. Daher ist von pädagogischem Interesse, welche Kontextbedingungen das pädagogische Ich tangieren. Dazu sollen drei Ansätze genannt werden: (1) Biografische Wirkungen gesellschaftlicher Umwälzungen für Lehrkräfte, (2) biografisch wirksame pädagogische Umgänge mit dem Ich der Auszubildenden, (3) die akademische Bedeutung des Ichs von Erziehungswissenschaftlern. Alle drei Gebiete können hier nur mit paradigmatischen Fleckchen erfasst werden. Für ostdeutsche Lehrkräfte war der Zusammenbruch der DDR oft von biografisch tiefgreifender Herausforderung des pädagogischen Ichs. Da es dazu empirische Untersuchungen gibt, kann eine speziell deutliche Untersuchung hier herausgegriffen werden (Fiedler 2011; 2012). Durchschnittlich vierstündige Interviews von Lehrkräften, die zur DDR-Zeit schon pädagogisch tätig waren und dann Waldorflehrkräfte wurden, zeigen, wie die neue Freiheit aber auch ihre Notwendigkeit unmittelbar dem pädagogischen Ich ermöglichten, die Arbeitsplätze und diejenigen Schulpädagogiken zu suchen und sich für die zu entscheiden, die den eigenen Vorstellungen adäquater entsprachen. Eine Situation, die sonst kaum gegeben ist, die aber bei allen Schwierigkeiten und Unsicherheiten auch stärkend, selbstwirksam und authentisch, jeweils sehr individuell bewältigt wurde. – Eigentlich ein Prozess der Selbstfindung, der allen Pädagogen möglich sein sollte, der aber wirtschaftliche, gesellschaftliche, bildungspolitisch vorhandene Kontexte erfordert. Wie Schiller schon, in einer einschränkenden, nicht demokratischen Gesellschaft lebend, mit dem berühmten Spruch (Über die Ästhetische Erziehung des Menschen) es konzentriert formulierte: Der Mensch sei nur da Mensch, wo er spielt. Hier, für heute wäre das ein Spielraum, die Passungen zwischen Personalität und Institutionen zu finden, die pädagogisch wichtige Voraussetzungen sind. (1) Neben Kontexten mit Spielräumen als Umgang mit dem pädagogischen Ich gibt es eine auf die Auszubildenden bezogene Wahrnehmung und Öffnung. Dies mag nach Lebensalter und Institution unterschiedlich verwirklichbar sein. Neben Familien mit ihren intimen Beziehungen, Kenntnissen und Erfüllungen der individuellen kognitiven, emotionalen, sozialen und ästhetischen Bedürfnisse ist es in Schulen, wo es ebenso pädagogisch bedeutsam ist, fast nicht möglich, individuelle Bedürfnisse empathisch wahrzunehmen. Dies lässt sich zunächst an der eigenen biografisch pädagogischen Erfahrung erfahren. Da kann es um verschiedene Wirksamkeiten gehen. Vom Lateinunterricht hat mich die Auf
170
Bildung an ihren Grenzen
deckung der Verschwörung Catilinas durch Cicero beeindruckt, die ihm möglich erschien, weil er Senator war. Was auch für Demokratie bedeuten kann, so war es bei mir eingeprägt, dass man in bürgerlicher Pflicht Positionen übernehmen muss, um gefährliche Situationen verändern zu können. So eine schulische Wirkung wird in keiner Evaluation aufgenommen werden können. Ähnlich von der intensiven Beschäftigung im Griechisch mit den antiken Tragödien war mir eingeprägt, dass Missverständnisse und Handlungen unschuldig Schuldige gebären können (z. B. Ödipus), also Prüfungen von Beziehungen auf Missverständnisse lebensnotwendig sein können. Und mit einem dritten Beispiel wird deutlich, dass individuelle Lernmöglichkeiten nicht von Pädagogen wahrgenommen werden können. Nie vergessen hatte ich aus einem Unterricht, dass unser Wort Ball etymologisch verbunden ist mit griechisch ballein = werfen. Dass mich Etymologien so interessieren, begriff ich erst im Germanistikstudium. Hätte mein Griechisch-Lehrer dies bemerkt und mich auf alt griechische Etymologie-Literatur hingewiesen, hätte ich alle Vokabeln nachgeschlagen und behalten und bessere Zensuren bekommen. (2) Als letzte Form der Berücksichtigung von pädagogischen Ichen will ich hier Beispiele aus der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung in einer (wiederum notwendig eigenen erfahrenen) Situation, wo Wissen und biografisch-pädagogische Leistungen im Unterschied zu Schulen möglich sind, zeigen. Eine interessante Aufgabe ist, das Thema der Diplomarbeit, der Masterthesis, einer Dissertation gemeinsam mit den Kandidaten zu eruieren. Was bewegt eigentlich den Kandidaten, was lässt sich erziehungswissenschaftlich nach Umfang, Aktualität und Anspruch machen? Hier zwei extreme Beispiele: von einem Kandidaten, von dem ich nebenbei erfuhr, dass er sich ernstlich mit Ufos beschäftigte, konnte eine für ihn und die Erziehungswissenschaft interessante Arbeit gemacht werden mit dem Thema: Gibt es Wissensbestände, die in der Schule nicht unterrichtet werden dürfen am Beispiel Ufos? Ein anderer ist vornehmlich beschäftigt mit einem gesellschaftlich politischen langfristigen Veränderungsprozess: Dem bedingungslosen Grundeinkommen, das aber für eine Dissertation kein pädagogisches, erziehungswissenschaftliches Thema ist. Der Prozess seiner Durchsetzung dagegen hat aber etwas zu tun mit argumentativen Überzeugungsversuchen, die durchaus demokratisch eine pädagogische Dimension haben, sodass eine historische Sammlung, Untersuchung und Systematisierung der Pro- und Kontraargumente eine erziehungswissenschaftliche Dissertation ermöglichte (vgl. Munko 2014).
3.
Biografie – Pädagogik – Ich
Diese drei Phänomene sind miteinander verknüpft oder moderner gesagt: verschränkt (vgl. Paschen 2005). Dies muss auch wirksam sein, wenn alle drei nur biografisch kon struiert sein sollen (vgl. Baacke 1986; Stoss 1991), was aber sich selbst widerspricht: Der Konstruktivismus ist eben auch nur ein Konstrukt. Eine Pädagogik der Begegnung (Buber, Bollnow, Loch: Kiowsky 2006) setzt voraus, dass sich zwei Ichs begegnen (und zwar nicht wie in dem der Enkelin Malena verdankten Witz: Zwei Jäger treffen sich). Auch die sog.
Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich
171
Selbstkompetenz setzt voraus, dass es ein Selbst gibt und dieses nicht allein ein Konstrukt sei, wohl aber selbst modelliert werden kann. D. h. jedes Selbst setzt ein Ich voraus. Eine pädagogische Begegnung mag nun einfach eine menschliche Begegnung sein (wie Kiowsky sagt), aber die Begegnung muss menschlich sein (nicht digitalisiert), und der Pä dagoge muss aus den eigenen (biografischen) Ich-Erfahrungen empathisch sich selbst und den Auszubildenden die biografisch notwendigen Spielräume ermöglichen. Das nenne ich: das pädagogische Ich, von dem verlangt wird, sich (also selbst) ein pädagogisches Wissen anzueignen, um Vielfalt zu beherrschen und kreative Passungen realisieren zu können.
Literatur Baacke, D. (1986): Autobiografische Texte als Beitrag zur Ich-Konstruktion. In: Neue Sammlung 26 / 3, S. 359–367. Brück, H. (1986): Die Angst des Lehrers vor seinen Schülern. Zur Problematik verbliebener Kindheit in der Unterrichtsarbeit des Lehrers – ein Modell. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Fiedler, H. (2011): Krise als Chance. Berufliche Neuorientierung nach der friedlichen Revolution. Biographien ostdeutscher Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer. Dissertation. Universität Bielefeld. Fiedler, H. (2012): Biografische Profile ostdeutscher Lehrkräfte: Das Beispiel der Freien Waldorfschulen. Wiesbaden: VS Verlag. Hattie, J. (2009): Visible Learning. London: Routledge. Kiowsky, H. (2006): Ich und der Andere – Begegnung in der Pädagogik. In: Pädagogische Rundschau 60 / 4, S. 439–448. Klemenz, D. / Paschen, H. (2012): Zum Erwachsenenwissen in der Erziehungswissenschaft. In: Bildung und Erziehung 65 / 1, S. 71–90. Munko, M. (2014): Das bedingungslose Grundeinkommen. Pädagogische Vermittlung eines neuen Paradigmas. Dissertation. Bielefeld. Paschen, H. (2005): Zur Entwicklung menschlichen Wissens. Die Aufgabe der Integration hetero gener Wissensbestände. Münster: LIT. Steiner, R. (1904 / 2000): Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. Dornach: Steiner-Verlag. Stoss, A. (1991): Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion. Historische Anthropologie 17. Berlin: Reimer; zugleich Dissertation Freie Universität Berlin (update 2001). Zierer, K. (2013): Hausaufgaben sind keineswegs sinnlos. In: FAZ 63, S. 7.
Erinnernde Bildung. Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin von Barbara Platzer
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
Die Arbeiten von Lothar Wigger stehen unter dem Zeichen der Vermittlung von Bildungsforschung und Bildungstheorie (vgl. z. B. Wigger 2004, 2006 und 2009). Zwischen beiden steht die Arbeit der Biografieforschung (vgl. Wigger 2004, S. 490 f.). Sie bietet den Vorzug, an einem konkreten Material Bildungsgestalten rekonstruieren zu können und so mög licherweise ein Korrektiv zu bilden bezüglich der „Bewertung und Realisierbarkeit der jeweils thematisierten Ziele und Konzepte von Bildung“ (Wigger 2004, S. 490). Dennoch ist das Material, mit dem man es in der Biografieforschung zu tun hat, fragil. Nicht umsonst verweist die Biografieforschung darauf, dass bei der Arbeit mit Interviews nicht davon auszugehen ist, dass sich das Berichtete wie erzählt auch abgespielt hat und dass es stattdessen um Rekonstruktionen von Deutungsmustern geht (vgl. z. B. Koller 2012, S. 156; Dietrich / Müller 2010, S. 14). Nicht eine Tatsachenwirklichkeit steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern Grundlage der Biografieforschung ist die Versionenhaftigkeit der Wirklichkeit (vgl. z. B. Helfferich 2009, S. 155). Erweitert werden können diese Rekonstruktionen durch die Interpretation litera rischer Texte, um der Gefahr zu entgehen, durch die Begrenzung auf wissenschaftliche Sprache „den Gegenstand der Erinnerung […] dauernd zu verfehlen“ (Dietrich / Müller 2010, S. 15, vgl. dazu auch Mollenhauer 1983). Der Vorteil der Untersuchung litera rischer Texte liegt darin, dass sie pointiert bestimmte Problematiken hervorheben können, die in biografischen Erzählungen auf diese Weise nicht zum Ausdruck gebracht werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass literarische Texte eine Perspektive einnehmen und veranschaulichen können, die fremd erscheint. Damit eröffnen sie neue Sichtweisen. Die Untersuchung literarischer Texte versteht sich jedoch nicht als ein Gegenentwurf zur Interpretation biografischer Erzählungen, sondern als deren Ergänzung. Rekurrierend auf diese Vorteile literarischer Texte wird in der vorliegenden Arbeit exemplarisch das Erinnerungsmaterial der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert von Walter Benjamin untersucht, als eine Kreuzung von Erinnerung und Literatur, als literarisch gestaltete Erinnerung. Diese Untersuchung vermittelt zwischen Bildungsforschung und Bildungstheorie, weil sich über die Interpretation des gestalteten Erinnerungsmaterials Aussagen treffen lassen über eine mögliche Konzeption von Bildung. Die Interpretation
174
Bildung an ihren Grenzen
folgt der Version der Berliner Kindheit, die als die letzte von Benjamin autorisierte ange sehen werden kann.1 Der Gedankengang der vorliegenden Überlegungen folgt drei Schritten. Ausgehend von der Prämisse, dass das zu untersuchende Material aus (gestalteten) Erinnerungen besteht, wird in einem ersten Schritt das Arbeiten mit Erinnerungen problematisiert. Diese Problematisierung führt dazu, nicht an den Grenzen der Erinnerung zu verweilen, sondern sich dem Nicht-Fiktiven, das sich in den Erinnerungen versteckt, anzunähern. In den Fokus gerät so der kindliche Blick auf die Welt. Dessen Strukturen gilt es in einem zweiten Schritt herauszuarbeiten. Dabei zeigt er sich unter anderem als rätselhaft, als ein Amalgam von Phantasie und Wissen, der sich von den Ansprüchen der Welt verlocken lässt und gleich zeitig nicht unbeschwert ist, sondern vom Phänomen des Abschieds begleitet wird. Da es nicht nur das Anliegen des vorliegenden Textes ist, die Berliner Kindheit auf die Beschaffenheit des kindlichen Blicks hin zu interpretieren, sondern darüber hinaus an ihr exemplarisch eine Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zu zeigen, soll in einem dritten Schritt gefragt werden, was die Erarbeitung des kindlichen Blicks über ein Konzept von Bildung verrät. Dieses wird abschließend konturiert als eine erinnernde Bildung, die in einer verweilenden Dialektik die Eigenheiten des kindlichen Blicks vergegenwärtigt und fortschreibt.
1.
An den Grenzen der Erinnerung
Das Material der Biografieforschung sind zumeist Erinnerungen. Die Voraussetzung, auf die sich die Biografieforschung mit ihren Untersuchungen einlässt, ist damit die Fragilität des Materials. Auf Erinnerungen kann man sich nicht verlassen, sie sind flüchtig und oft mitbestimmt durch die Zeit, aus der heraus sie erinnert werden. Weder lassen sie sich gesteuert hervorrufen noch ist steuerbar, was sie enthalten. Koller weist auf die Nachträglichkeit von Erinnerungen hin (vgl. Koller 1995, S. 133). Es kann demnach sein, dass sich die Erinnerung, beeinflusst zum Beispiel durch die Entwicklung des Erinnernden, verändert. Diese Veränderung wäre dann für den Erinnernden nicht mehr nachvollziehbar. Dieser Einwand gegen die Annahme der Authentizität der Erinnerung wird erweitert durch den Einwand der „konstruktiven Aktivitäten des Gedächtnisses“ (Koller 1995, S. 133). Das bedeutet, dass nicht von einem Wahrheitsgehalt der Erinnerungen ausgegangen werden kann. Außerdem unterstreicht Koller die Unstetigkeit von Erinnerungen, indem er darauf hinweist, dass das Erzählen und Erinnern im Raum des kollektiven Gedächtnisses statt findet und auch dadurch Veränderungen erfährt (vgl. ebd., S. 134). Tatsächlich scheinen Erinnerungen vor diesem Hintergrund der Zuverlässigkeit zu entbehren, da sie nicht in der Lage sind, Vergangenes abzubilden (vgl. Dietrich / Müller 2010, S. 14). Dennoch sind sie, und das ist entscheidend in diesem Zusammenhang, „auch nicht pure Fiktion“ (ebd., S. 14). Die folgenden Überlegungen zu den Erinnerungen Benjamins bewegen sich in diesem Zwischenraum: Wohlwissend, dass sie nicht Vergangenes abbilden, gilt es, ähnlich wie in der Biografieforschung, das in ihnen zu ergründen, was nicht fiktiv ist.
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
175
Die Besonderheit der Berliner Kindheit gegenüber biografischen Interviews oder anderen autobiografischen Erinnerungen liegt allerdings darin, dass sich Benjamin dem Diktum der Autobiografie verwehrt. In seinen Erzählungen verblasst das Ich, es macht lediglich die Bewegung in seiner Umwelt aus. Benjamins Schreiben gilt nicht der Ergründung der eigenen Identität, Subjektivität oder gar Bildungsgestalt, sondern er zeichnet ein Bild einer Kindheit in Berlin zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Berliner Kindheit ist der Versuch, kindliche Lebensbedingungen und Empfindungen wachzurufen und in Erinnerung zu halten vor dem Hintergrund, dass diese Welt – die relativ sorglose und geborgene eines Kindes aus dem Berliner Großbürgertum zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – schon zum Zeitpunkt des Schreibens dem Untergang geweiht ist, denn Benjamin schreibt die Berliner Kindheit im Pariser Exil der 1930er Jahre. Nicht nur die Kindheit, sondern auch die Stadt seiner Kindheit rücken ins Unerreichbare. Dass diese Skizzen nicht biografischer Natur sind, zeigt schon ihre geplante Unstetigkeit. Benjamin schreibt dazu einleitend in seinem Vorwort zur Fassung letzter Hand, „daß die biografischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten“ (Benjamin 2010, S. 9). Das bringt es mit sich, dass man in diesen Erinnerungen vergeblich nach Namen von Verwandten, Freunden oder anderen identifizierbaren Personen sucht. Dennoch steht dem Kind in den Textstücken immer jemand zur Seite, der in ihnen Beachtung findet, denn neben der kindlichen Perspektive spielt immer auch die Perspektive des Erinnernden selbst eine Rolle. Benjamin schreibt dazu in seinem Vorwort zur Berliner Kindheit über die Bilder seiner Großstadtkindheit: „In diesen wenigstens, hoffe ich, ist es wohl zu merken, wie sehr der, von dem hier die Rede ist, später der Geborgenheit entriet, die seiner Kindheit beschieden gewesen war“ (ebd., S. 9 f.). In den Bildern spricht der Autor nicht nur von sich als Kind, sondern auch von sich als Erwachsenem. In dem Erinnerten ist der Erinnernde doppelt anwesend. Diese Anwesenheit des Erinnernden hinterlässt ihre Spuren in den Erinnerungen. Sie macht deutlich, dass der Blick auf die Kindheit nicht klar ist, sondern gebrochen. In den Ansichten einer Kindheit, die hier gegeben werden, schwingen deshalb Aussagen des erwachsenen Erzählenden mit, wenn zum Beispiel die erinnerte Sichtweise des Kindes durch die des Gesellschaftskritikers überblendet wird (vgl. Witte 1984, S. 578). Witte beschreibt das zum Beispiel anhand des Textstücks Markthalle aus der Berliner Kindheit. Hier verwandeln sich die „Geschäfte, in denen die Mutter ihre Besorgungen macht, […] in unreine Tempel, in denen dem Fetisch Ware geopfert wird, und die zentrale Berliner Markthalle ist zur unterseeischen Schattenwelt entstellt, in der sich die Kunden als stumme Fische bewegen“ (ebd., S. 577 f.). Die Berliner Kindheit ist also weder, wie in einem Interview, eine spontane Erzählung noch verfährt sie chronologisch wie in einer Autobiografie, sondern sie ist ein hochgradig gestalteter, komponierter Text. Witte arbeitet heraus, dass „das ganze Buch wie jedes seiner Teile als eine Konstellation von Antinomien konzipiert“ (ebd., S. 577) ist. Der Autor ist in jedem Stück sowohl am Anfang seines Lebens als auch in der Jetztzeit des Schreibenden anwesend. Wie Witte ausführlich dargelegt hat, lässt auch die Anordnung der Stücke dialektische Züge erkennen (vgl. ebd., S. 582 f f.). Er erkennt „in der Berliner Kindheit eine zweigliedrige dialek tische Struktur […], wobei die Aufhebung des Widerspruchs in einer Synthese dem Leser als
176
Bildung an ihren Grenzen
Aufgabe vorbehalten bleibt“ (ebd., S. 582). Durch die literarische Gestaltung seiner Erinnerungen holt Benjamin gleichsam die Instanz des Vergessens mit ein, wenn zum Beispiel am Ende der Berliner Kindheit tritt das „bucklichte Männlein“ (Benjamin 2010, S. 78) auf, das an das Vergessen im Erinnern mahnt (vgl. Koller 1995, S. 141). Koller zieht in seinen Ausführungen zu Bildung und Gedächtnis in der Berliner Kindheit daraus den Schluss, dass diese daran erinnert, „sich der Grenzen der Erinnerung bewußt zu werden und sie als Grenzen der Transparenz eigener Vergangenheit anzuerkennen“ (ebd., S. 141). Mit der Problematisierung von Erinnerung und dem Aufzeigen ihrer Grenzen könnte der Beitrag enden. An dieser Stelle soll jedoch der Versuch unternommen werden, an der Grenze noch ein wenig zu verweilen und sie abzuschreiten. Die folgenden Überlegungen verstehen sich daher als Experiment, es nicht nur bei einer Benennung der Grenzen der Erinnerung zu belassen, sondern diese auch auszuloten. Wenn hier diese hochgradig gestaltete Erinnerung untersucht werden soll, dann in dem Wissen darum und ausgehend davon, dass es sich bei diesen Erinnerungen nicht um Abbilder einer Kindheit, schon gar nicht der Kindheit Benjamins handelt. Es geht nicht darum, aus ihnen eine Identität oder Bildungsgestalt herauszuarbeiten. Aber da Grenzen etwas eingrenzen, müsste eine, wenn auch negative, Bestimmung dessen möglich sein, was innerhalb der Grenzen liegt. In diesem Sinne soll hier den Spuren einer Kindheit nachgegangen werden, in dem Versuch, einen Blick auf das zu erlangen, was man unter Kindheit verstehen kann.
2.
Ansichten einer Kindheit
Die Berliner Kindheit gibt erinnernd ein Bild von einer spezifischen, aber in dieser Besonderheit auch typischen Erfahrung einer Großstadtkindheit zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. In den Bildern scheint die Sicht eines Kindes auf, die den gegenwärtigen Leser seinerseits daran erinnert, ein Kind gewesen zu sein und ihm so den Zugang zur Kinderwelt ebnet. Voraussetzung des Versuches, Inneneinblicke in das kindliche Erleben zu erhaschen, ist allerdings das Bewusstsein der prinzipiellen Fremdheit derselben. Dennoch liegt schon im Begriff der Fremdheit der Bezug auf das Andere. Das Fremde ist fremd in Bezug auf etwas. Demnach stellt sich die Frage, was sich entlang der Grenzen kindlicher Fremdheit erblicken lässt. Die gestalteten Erinnerungen Benjamins bieten dazu eine Möglichkeit, weil sie einen, wenn auch gebrochenen, Blick des erinnernden Erwachsenen auf seine Kindheit gewähren. Zu untersuchen ist, was sich in den erinnerten Spuren über Kindheit lesen lässt. Die erinnerte Perspektive des Kindes und die Perspektive des sich erinnernden Erwachsenen sind nicht die gleichen, aber sie sind aufeinander bezogen und scheinen gegenseitig in der Erinnerung durch sich hindurch. Die folgenden Überlegungen lesen die Erinnerungen der Berliner Kindheit daraufhin, was sie über den kindlichen Blick auf die Welt intendieren. Dieser Blick gestaltet sich, so wird zu zeigen sein, rätselhaft. Er trennt nicht grundlegend zwischen Wissen und Phantasie und nicht zwischen einer inneren und einer äußeren Perspektive. Dabei ist die Welt, die dem kindlichen Blick begegnet, nicht neutral, sondern eher etwas, das das Kind zu Erfah-
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
177
rungen verlockt. Das Kind, das deshalb danach strebt, sich die Welt anzueignen, verfährt dabei mimetisch. Es versucht, sich der Welt anzuähneln, um die Erfahrungen in ihr ein zuholen. Letztlich zeichnet Benjamin allerdings kein buntes, fröhliches Bild der Kindheit, sondern ein ambivalentes. In den Erinnerungen wird deutlich, dass auch das kindliche Erleben von Beschwernissen durchzogen ist, auch wenn diese anders gelagert sein mögen als die der Erwachsenen. Rätsel der kindlichen Welt
Die Rätselhaftigkeit der Kindheit ist die Rätselhaftigkeit, die sich durch das Erinnern selbst zieht (vgl. Jornitz 2002, S. 250). Rätselhaft ist, was man erinnert und warum – und unter Umständen auch, was nicht. Was sich an vielen der Textbilder zeigen lässt, ist die myste riöse Komponente des kindlichen Blicks. Benjamin selbst benennt diese Rätselhaftigkeit aus der Erwachsenenperspektive als eine Entstellung. In dem Textstück über die Mummerehlen, die eigentlich die Muhme Rehlen aus einem Kindervers ist, bezeichnet Benjamin die Kinderwelt deshalb als eine entstellte: „,Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.‘ Das Verschen ist entstellt; doch die ganze entstellte Kindheit hat darin Platz. Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen, als ich es zuerst gesagt bekam“ (Benjamin 2010, S. 59).
Was hier geschieht, ist charakteristisch für den von Benjamin beschriebenen kindlichen Umgang mit Sprache. Das Kind hört die Worte so, wie sie in den Bedeutungszusammenhang seiner Welt passen. Da es das Wort Muhme nicht kennt, legt es die Bedeutung des Versteckens, um das es in dem Vers auch geht, in das Wort Muhme Rehlen; es wird zu Mummerehlen und vermummt die Muhme damit doppelt. Das Kind sieht die Welt anders als die Erwachsenen. Sie ist ihm manchmal rätselhaft und manchmal klar, aber auf jeden Fall anders. Ein weiteres Beispiel für eine kindliche Bedeutungsverschiebung durch ein Verschleifen der Sprache findet sich in dem Textstück über die Markthalle. „Vor allem denke man nicht, daß es Markt-Halle hieß. Nein, man sprach ,Mark-Thalle‘, und wie diese beiden Wörter in der Gewohnheit des Sprechens verschliffen waren, daß keines seinen ursprünglichen Sinn behielt, so waren in der Gewohnheit des Gangs durch diese Halle verschliffen alle Bilder, welche sie gewährte, so daß ihrer keines sich dem ursprünglichen Begriff von Einkauf und Verkauf darbot“ (ebd., S. 36).
Angeregt durch die verschliffene – in der Berliner Chronik, der Vorgängerarbeit zur Berliner Kindheit, schreibt Benjamin noch „verschlissene“ (vgl. Benjamin 1996, S. 475) – Aussprache des Wortes Markthalle, wird der Platz zu einer Mark, einem weiten Gebiet mit dem ehrfürchtigen Namen Thalle, das wie ein eigenes Reich auf das Kind wirkt. Die Marktfrauen an den Ständen werden dem Kind zu Wesenheiten, die im Verbund mit einer Gottheit stehen und die Waren werden nicht einfach nur verkauft, sondern von den Frauen, befruchtet von einer Gottheit, geboren:
178
Bildung an ihren Grenzen
„Brodelte, quoll und scholl es nicht unterm Saum ihrer Röcke, war nicht dies der wahrhaft fruchtbare Boden? Warf nicht in ihren Schoß ein Marktgott selber die Ware: Beeren, Schalentiere, Pilze, Klumpen von Fleisch und Kohl, unsichtbar beiwohnend ihnen, die sich ihm gaben, während sie träge, gegen Tonnen gelehnt oder die Waage mit schlaffen Ketten zwischen den Knien, schweigend die Hausfrauen musterten“ (Benjamin 2010, S. 36).
In der Berliner Kindheit sehen die Augen des Kindes nicht klar, sondern wie durch einen Schleier (vgl. ebd., S. 31), der ihm so manches Rätsel aufgibt. Viele dieser Rätsel entstehen, wie auch im Fall der Markthalle, durch eine ineinandergreifende, verwischende Aussprache von Wörtern. Benjamin bietet dafür viele Beispiele. Eines ist die „Näh-Frau“ aus dem Textstück Der Nähkasten. Hier wird die Mutter geschildert, die, gleich der Königin im Märchen, am Fenster sitzt und näht. Damit kommt ihr eine Macht zu, die herrschaftlich anmutet. Der Fingerhut wird für das Kind zu einer Krone, die diese Macht bezeugt und so passt auch die Bezeichnung, die die Dienstboten der Mutter geben, gut ins Bild: „Wenn ich sie [die Krone in Form eines Fingerhutes; B. P.] auf den Finger schob, begriff ich, wie meine Mutter für die Mädchen hieß. Sie meinten ,gnädige Frau‘, verstümmelten jedoch das erste Wort; lange Zeit glaubte ich, daß sie ,Näh-Frau‘ sagten. Man hätte keinen Titel finden können, in welchem sich die Machtvollkommenheit der Mutter einleuchtender für mich bekundet hätte“ (ebd., S. 71).
Interessant ist hierbei, dass das Kind zwar eine ganze Bilderwelt zwischen die Worte „gnädige Frau“ und „Näh-Frau“ schiebt, dass aber die Bedeutungen der beiden Worte im Sprachspiel des Kindes gar nicht so sehr voneinander abweichen. Der Ausdruck „Näh-Frau“ übernimmt die gleiche Funktion wie der Ausdruck „gnädige Frau“, er zeigt die Macht, die der Mutter gegenüber ihren Bediensteten zukommt. In ähnlicher Weise funktioniert vielleicht die mit Phantasie angereicherte Welt der Kinder im Zusammenspiel mit der Erwachsenenwelt. Viele Bedeutungen mögen sich verschieben, funktionieren aber dennoch im Gebrauch, sie sind kompatibel. Die Art, wie die Worte hier ineinander verschliffen werden, kann als charakteristisch für den kindlichen Blick angesehen werden, auch er sieht – erinnert aus der Perspektive des Erwachsenen – ineinander verschliffene Bilder. Die Mutter mit dem Nähzeug vor dem Fenster wird verschliffen mit dem Bild der Königin im Märchen, so dass beide eine Einheit bilden, die Mutter selbst bekommt königliche Qualitäten. So wie die Mutter durch eine Bedeutungsverschiebung der Worte sich zu einer Königin wandelt, so wandelt sich die Großmutter in eine Blume. Die Adresse der Großmutter, der Blumeshof, wird in der kindlichen Wahrnehmung zu einer „Blume-Zof“: „Übrigens hieß es nicht Blumes-Hof, sondern Blume-zof, und es war eine riesige Plüschblume, die so, aus krauser Hülle, mir ins Gesicht fuhr. In ihrem Innern saß die Großmutter“ (ebd., S. 50). Die standesgemäße Halskrause der Großmutter fungiert dem Kind als Kranz der Blütenblätter, aus dem die Großmutter selbst als Herz der Blume herausschaut. Blütenhafte Leichtigkeit wird allerdings dennoch nicht assoziiert, sondern eine riesenhafte Plüschgestalt, der das Kind auch ein wenig ausgeliefert ist, wenn sie ihm ins Gesicht fährt. Am deutlichsten wird das Rätsel des kindlichen Blicks in dem Textstück über den Mond. Hier wird das Zimmer des Kindes durch das Licht des Mondes verwandelt in ein anderes.
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
179
Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine andere Perspektive auf das Zimmer, sondern um eine irritierende Verschiebung der Welt selbst: „Das Licht, welches vom Mond herunterfließt, gilt nicht dem Schauplatz unseres Tagesdaseins. Der Umkreis, der beirrend von ihm erhellt wird, scheint einer Gegen- oder Nebenerde anzu gehören. Sie ist nicht die, welcher der Mond als Satellit folgt, sondern die selbst in einen Mond trabanten verwandelte“ (ebd., S. 74).
Die Verschiebung der Welt hat Auswirkungen bis hin zur Wahrnehmung der Zeit, denn „alle Stellen der Nebenerde, auf die ich entrückt war, schien das Einst bereits besetzt zu halten“ (ebd., S. 75) – eine Verschiebung, in der sogar das eigene Selbst des Kindes Gefahr läuft, sich aufzulösen: „Von meinem eigenen Dasein war nichts mehr übrig als der Bodensatz seiner Verlassenheit“ (ebd., S. 75). Das Kind kann sich in dieser Umgebung nicht einmal mehr sich selbst sicher sein, sie wird ihm zum ewig zu entschlüsselnden Rätsel. Phantastisches Wissen und wissende Phantasie
Doch trotz der Unsicherheiten der kindlichen Welt steht nicht in Frage, dass das Kind vieles weiß. Sein Wissen ist jedoch nicht das eines Erwachsenen. Es ist anders verknüpft. Das kindliche Wissen verspinnt Faktenwissen mit phantastischen Elementen zu einer eigenen Auffassung von Welt. So beschreibt Benjamin, wie ihn als Kind im Zoologischen Garten besonders das Gehege des Fischotters fasziniert: „Und so blieb ich häufig, endlos wartend, vor dieser unergründlichen und schwarzen Tiefe, um irgendwo den Otter zu entdecken“ (ebd., S. 44). Während des wartenden Blicks auf das undurchsichtige Wasser entspinnt sich beim Kind die Phantasie, es „stürze Regen in alle Gullys der Stadt, nur um in dieses Becken zu münden und sein Tier zu speisen. […] Es [der Fischotter, B. P.] war das heilige Tier des Regenwassers“ (ebd., S. 44). Dennoch schleichen sich in diese phantastische Beschreibung logische, fast wissenschaftliche Vokabeln ein. Das Kind vergleicht sein Vergnügen, stundenlang am Gatter des Tiergeheges zu stehen und „lange Tage die Stirne an sein Gatter legen zu können“ (ebd., S. 44), mit dem Behagen, an einem verregneten Tag die Stirn an die Fensterscheibe zu legen und dem Regen mit den Blicken zu folgen. Durch diese Assoziation „bewies es [das Tier, B. P.] seine heimliche Verwandtschaft mit dem Regen“ (ebd., S. 44). Für das Kind ist es eine bewiesene Sache, dass der Fischotter magisch mit dem Regen verbunden ist, weil die Erfahrung, die es an dem Tiergehege macht, mit der verbunden ist, die es von Regentagen kennt. „In solchen Stunden hinterm trüben Fenster war ich bei dem Fischotter zu Hause“ (ebd., S. 45). Doch damit nicht genug, erläutert sich das Kind die naturwissenschaftlichen Erklärungen, die es von Erwachsenen bekommt, mit seinen eigenen phantasiereichen Verknüpfungen. So schreibt Benjamin in diesem Zusammenhang vom Regen, im „guten Regen war ich ganz geborgen. […] Wie gut begriff ich, daß man in ihm wächst“ (ebd., S. 45). Das Kind weiß, dass der Regen Pflanzen wachsen lässt und überträgt dieses Wissen, belegt durch das eigene Geborgenheitsgefühl, das es im Regen verspürt, auf sich selbst. Phantasie und Wissen verschwimmen zu einem Gesamtbild, so dass das phantas
180
Bildung an ihren Grenzen
tische Wissen und die wissende Phantasie zu einer Komponente des kindlichen Blicks auf die Welt werden. Innen und Außen – die kindliche Verschränkung der Perspektiven
Nicht genug damit, dass die Welt dem Kind Rätsel aufgibt und Gefahr läuft, sich ständig zu verwandeln. In dem stetigen Wechsel der Perspektiven findet zugleich auf einer weiteren Ebene ihre Verschränkung statt, nämlich die zwischen der Innen- und Außensicht. Das Kind benennt Inneres über die Beschreibung von Äußerem und legt dem Äußeren zugleich Begriffe zu, die es von sich selbst kennt. Schon im ersten Textstück der Berliner Kindheit wird diese Eigentümlichkeit der Welt des Kindes beschrieben. Das erste Textstück widmet sich den Loggien, „von deren […] eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte“ (ebd., S. 11). Diese Wiege, Geborgenheit ausstrahlend, bildet eine Grenzstation. Sie liegt zwischen den inneren Räumen der Wohnung und dem Außen der Stadt, bietet sowohl Schutz als auch Anregung. Diese Verwischung von Innen und Außen ist programmatisch für die Kindheit, wie Benjamin sie darstellt. In seinen Erinnerungen schreibt er über das innere Erleben des Kindes, indem er Äußeres beschreibt. Die Loggien werden beschrieben mit ihrer Lautkulisse, den Lichtverhältnissen und den Erfahrungsmöglichkeiten, die sie bieten, um gleichzeitig die Erfahrung zu verdeutlichen, die das Kind in ihnen macht, nämlich die einer grundlegenden Geborgenheit, in einer Wiege gebettet zu sein, und zugleich im Kontakt mit der Welt zu stehen. Aber nicht nur das Innere wird durch Äußeres ausgedrückt, auch das Äußere wird verbunden mit dem Inneren, was bis in die Wortwahl deutlich wird. So spricht Benjamin zum Beispiel über das „Schlürfen der Zweige“ (ebd., S. 11), um das Geräusch der Blätter zu beschreiben, die an der Hauswand vorbeistreichen. Indem er hier vom Schlürfen spricht, fasst Benjamin das Äußere in einem Begriff, den das Kind von sich kennt, ein Geräusch, dessen Verursacher es oft selbst ist (vgl. Jornitz 2002, S. 45). Die Verflechtung von Innerem und Äußerem kann als charakteristisch für das kindliche Erleben in der Berliner Kindheit verstanden werden. Das Kind wird zu dem, was es ist, durch die Aneignung seiner Welt. Die Berliner Loggien, die sich selbst auf der Grenze zwischen dem Innen und dem Außen befinden, stehen Benjamin dabei als sinnbildlich für ein kindliches Dasein, das noch nicht trennscharf zwischen beiden Perspektiven unterscheidet: „Seitdem ich Kind war, haben sich die Loggien weniger verändert als die anderen Räume. […] An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. […] In seinem Schutz finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bund gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf“ (Benjamin 2010, S. 13).
Auf der Loggia finden sowohl der Ort, als äußere Dimension, zu sich als auch die Zeit als innere Dimension. Die Zeit „veraltete in diesen schattenreichen Gelassen“ (ebd., S. 12) der
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
181
Loggia und indem sie sich hier niederlässt, finden Raum und Zeit, Äußeres und Inneres zu einander. Von dem Kind wird hier gesagt, dass es mit Raum und Zeit im Bunde war. Es ist ganz da und ganz gegenwärtig in dem, was es erlebt. Kindliches Erleben wird damit noch nicht so sehr gestört durch Vergangenes und Zukünftiges. Allerdings wird aus dem Rückblick des Erinnernden deutlich, dass diese Seinsform des Kindlichen schließlich abgelöst wurde. Das Kindliche stirbt unweigerlich und die Loggia ist zugleich ein Grab- und Denkmal. Die mimetische Aneignung von Welt
In der Verstrickung von Innen und Außen nimmt das Kind in mimetischer Weise Kontakt zur Welt auf. In der Berliner Kindheit zeigt sich das an vielen Stellen. In der Schmetterlingsjagd zum Beispiel postuliert Benjamin ausdrücklich einen mimetischen Vorgang, wenn er beschreibt, wie sich das Kind dem Schmetterling angleicht, um ihn erreichen zu können: „Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns zu herrschen: je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen menschliche Entschließung an“ (ebd., S. 20 f.). Das Kind wird in der Verfolgung und Konzentration auf den Schmetterling gleichsam selbst zu diesem. Andererseits gewinnt auch der Schmetterling menschliche Qualitäten; nur wenn man ihn fängt, so scheint es dem Kind, erlangt man das Menschsein zurück. Die Struktur des Angleichens wird damit eine doppelseitige, Kind und Umwelt verschmelzen ineinander. Am eindringlichsten zeigt sich das mimetische Weltverhältnis des Kindes in dem Stück über Verstecke. Hier wird die Angleichung so perfekt, dass für das Kind kein Unterschied mehr zwischen der Umgebung und sich selbst auszumachen ist: „Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Tür ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten“ (ebd., S. 61).
Ist der kindliche Blick auf die Welt dadurch charakterisiert, dass er diese verwandelt, so schlägt sich diese Verwandlung auch auf das Kind selbst nieder. Nicht nur die Welt verwandelt sich, sondern in der mimetischen Struktur der Weltaneignung verwandelt sich auch das Kind. Sie geht soweit, dass das Kind sich selbst in den Dingen nicht mehr findet, es ist „entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was um mich war“ (ebd., S. 59). Andererseits eröffnet diese verändernde Angleichung auch neue Perspektiven der Wahrnehmung für das Kind. In den Überlegungen zu den Farben beschreibt Benjamin das Kind, das in einem Garten pavillon spielt und die bunten Fenster bewundert: „Wenn ich in seinem Innern von Scheibe zu Scheibe strich, verwandelte ich mich; ich färbte mich wie die Landschaft, die bald lohnend und bald verstaubt, bald schwelend und üppig im Fenster lag. […] Ähnliches begab sich mit den Seifenblasen. Ich reiste in ihnen durch die Stube und mischte mich ins Farbenspiel der Kuppel, bis sie zersprang“ (ebd., S. 70).
182
Bildung an ihren Grenzen
Durch die Angleichung mit der Welt eröffnen sich dem Kind Erfahrungsräume, es streift mit den Seifenblasen durch das Zimmer und sieht sich fast von oben selbst. Die Annäherung erfolgt aber nicht immer direkt an die Welt, sie kann auch den Umweg über die Sprache nehmen. Dem beschriebenen Kind zeigen sich Worte als Wolken, in denen man sich verstecken kann wie hinter Gardinen, die aber zugleich dazu ermuntern, sich anzuähneln (vgl. ebd., S. 59). Durch die mimetische Aneignung der Welt findet gleichzeitig eine Beheimatung des Kindes in dieser statt (vgl. Wulf 1993, S. 197). Die Verlockung der Welt
In der mimetischen Aneignung der Welt durch das Kind wird deutlich, dass die Welt der Berliner Kindheit dem Kind nicht neutral gegenübersteht, sondern dass sie es anspricht. Die Welt bietet ihm Möglichkeiten, droht manchmal und führt es in Versuchung. Die Ver lockung ist ambivalent, sie reizt und verführt, verschafft aber zugleich das Gefühl, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Benjamin beschreibt das am Beispiel der Schmetterlings jagden, „die mich so oft von den gepflegten Gartenwegen fort in die Wildnis gelockt hatten, in welcher ich ohnmächtig der Verschwörung von Wind und Düften, Laub und Sonne gegenüberstand“ (Benjamin 2010, S. 20). Das Kind erlebt die Natur als ein großes Verschworenes, Undurchdringliches. Die Möglichkeit, sich für oder wider die Jagd nach dem Schmetterling zu entscheiden, drängt sich ihm nicht auf. Es ist, als folge es einem Zwang, der ihn in die Jagd zieht. Die Verlockung der Welt ist der Ausgangspunkt für die mime tische Aneignung. Die Welt verlockt das Kind damit zu Erfahrungen. Diese Verlockungen können zu weilen so stark werden, dass das Kind meint, sich ihnen nicht entziehen zu können. Exemplarisch sei hierfür die Begegnung des Kindes mit dem mütterlichen Nähkasten angeführt. Dieser ist für das Kind nicht ein neutraler Gegenstand, sondern ein Wesen, das ihn lockt und ruft. „Ein Zweifel überkam mich, ob der Kasten von Haus aus überhaupt zum Nähen sei. Daß mich die Zwirn- und Garnrollen darin mit einer verrufenen Lockung quälten, bestärkte ihn. Sie ging von deren Hohlraum aus, der für die Achse bestimmt gewesen war, deren Drehung den Faden auf die Rolle gewickelt hatte. Nunmehr war dieses Loch von beiden Seiten von einer Oblate überdeckt, die schwarz war und mit goldnem Aufdruck Firmennamen und Nummer trug. Zu groß war die Versuchung, meine Fingerspitzen gegen die Mitte der Oblate anzustemmen, zu innig die Befriedigung, wenn sie riß und ich das Loch darunter ertastete“ (ebd., S. 72).
Mit erotischer Konnotation wird hier ausgemalt, dass selbst ein so harmloser Gegenstand wie eine Garnspule in der Lage ist, ein Kind zu verlocken. Das Verdeckte lockt, entdeckt zu werden. Das noch Unsichtbare, Unentdeckte verlangt die Erkundung durch das Kind, das sich dessen kaum erwehren kann. Dabei muss das, was den kindlichen Blick anlockt, nicht gleichbedeutend mit dem sein, was den Erwachsenen anspricht. Für das Kind kann zum Beispiel die Rückseite einer Näherei in ihrem bizarren Muster viel interessanter sein als die
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
183
ordentliche, durchschaubare Vorderseite (vgl. ebd., S. 73). An der Verlockung des Kindes durch die Dinge der Welt wird deutlich, dass diese nicht neutral ist, sondern immer schon eine gestaltete, sprechende (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 159 f f.). Diese Verlockung wird in den Beschreibungen des kindlichen Erlebens besonders deutlich, weil er hier so viel umgreift, er gilt aber in ähnlicher Weise auch für die Welt der Erwachsenen. Der Beginn der Mimesis liegt in der Verlockung. Abschied von der Unbeschwertheit
Aber auch wenn es dem Kind gelingt, sich in der verlockenden Welt eine Heimat zu schaffen, ist diese nicht idyllisch. Der erinnernde Blick Benjamins bezeugt Kindheit immer auch als eine Phase des Abschieds, der Verletzlichkeit und der Traurigkeit. Das wird unter anderem in dem Textstück über das Kaiserpanorama deutlich, einem Vorläufer der bewegten Bilder, mit dem Reisebilder vorgeführt werden konnten. Es handelte sich dabei um eine meist annähernd runde Holzkonstruktion mit beleuchteten Fenstern, in deren Inneren man verschiedene Bilder, meist Reiseimpressionen, aufleuchten sehen konnte. Der Zuschauer saß vor einem der Fenster und die Bilder dahinter rotierten im Uhrzeigersinn, so dass von einem Platz aus nacheinander alle Bilder betrachtet werden konnten. In der Beschreibung Benjamins klingt die Lust am Betrachten der Bilder durch, aber auch eine gewisse Wehmut, die damit verbunden war: „Musik, die Reisen im Film so erschlaffend macht, gab es im Kaiserpanorama nicht. Mir schien ein kleiner, eigentlich störender Effekt ihr überlegen. Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, ehe das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug. Und jedesmal, wenn es erklang, durchtränkten die Berge bis auf ihren Fuß, die Städte in ihren spiegelklaren Fenstern, die Bahnhöfe in ihrem gelben Qualm, die Rebenhügel bis ins kleinste Blatt, sich mit dem Weh des Abschieds“ (Benjamin 2010, S. 14).
Hier ist der Abschied das entscheidende Moment und nicht die Freude am Betrachten. Die Bilder, die gezeigt werden, sind „getränkt“ von dem nahenden Abschied, sie erscheinen in seinem Licht. Dieser Blick des Kindes verweist darauf, dass die Gegenwärtigkeit des von Benjamin beschriebenen kindlichen Erlebens nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es sich nicht nur um eine strahlende Phase des Lebens handelt, in der alles bunt, fröhlich und unbeschwert ist, sondern dass in den Erzählungen die Kindheit auch als eine Zeit mit Schatten erlebt wird, die oft das ganze Bild bestimmen. Das Erleben von Abschied wird von Benjamin in mehreren Textstücken thematisiert. Dabei geht es weniger um Abschied von Menschen als von Stücken der wohlbekannten Welt. Ein Beispiel dafür bietet die Beschreibung eines Schneegestöbers: „Was es [das Schneegestöber] erzählte, hatte ich zwar nie genau erfassen können, denn zu dicht und unablässig drängte zwischen dem Altbekannten Neues sich heran. Kaum hatte ich mich einer Flockenschar inniger angeschlossen, erkannte ich, daß sie mich einer anderen hatte überlassen müssen, die plötzlich in sie eingedrungen war“ (ebd., S. 27).
184
Bildung an ihren Grenzen
Selbst das Schneegestöber, an dem das Kind im Betrachten sich erfreut, ermahnt es, sich nicht zu fest an einzelne Elemente der Welt zu binden, da schon der Abschied droht. Sowohl beim Kaiserpanorama als auch beim Betrachten des Schneegestöbers ragt das Empfinden des Abschieds in eine Situation, die eigentlich für das Kind angenehm ist. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es vielfältige Situationen im erinnerten Kindeserleben gibt, die nicht selbstbestimmt und freudig konnotiert sind, sondern von Zwängen geprägt, sei es die allmorgendliche Schulpflicht, die Verpflichtung, alleinstehende Verwandte zu besuchen oder der verhasste regelmäßige Besuch des öffentlichen Schwimmbades. Letzterer wird mit Vokabeln belegt, die an einen endgültigen Abschied von der Welt denken lassen: „Den Fuß über die Schwelle setzen bedeutete, von der Oberwelt Abschied nehmen. Danach bewahrte einen nichts mehr von der überwölbten Wassermasse im Innern. Sie war der Sitz einer scheelen Göttin, die darauf aus war, uns an die Brust zu legen und aus den kalten Kammern uns zu tränken, bis dort oben nichts mehr an uns erinnern werde“ (ebd., S. 57).
Wie sehr sich die Welt in der Berliner Kindheit gegen das Kind verschwört, wird in ihrem letzten Textstück deutlich, das dem „bucklichten Männlein“ gewidmet ist. Dieses Männlein, einem Kindervers entsprungen, scheint dem kindlichen Blick als der Verursacher des eigenen Unglücks. Die Kümmernisse, die das Kind erfährt und die es sich nicht erklären kann, gleichgültig ob kleine Missgeschicke oder große Unglücke, schreibt es erklärend dem bucklichten Männlein zu, dass immer wieder in das kindliche Leben eingreift, um es auf betrübliche Weise durcheinander zu bringen. „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen: ,Will ich in mein Küchel gehn, / Will mein Süpplein kochen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mein Töpflein brochen.‘ Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn. […] Allein ich habe es nie gesehn. Es sah immer nur mich. Es sah mich im Versteck und vor dem Zwinger des Fischotters“ (ebd., S. 79).
Im Angesicht des bucklichten Männleins zeigt sich das Bedrohliche der Welt. Zieht man in Betracht, dass die Berliner Kindheit mit der Beschreibung der Geborgenheit in den Loggien beginnt und beim bucklichten Männlein endet, ergibt sich der Eindruck, dass das Kind, je älter es wird, desto mehr mit der bitteren Seite des Lebens zurecht zu kommen hat. Sind die Loggien, die am Anfang der Erinnerungen stehen, noch lichterfüllt und vermitteln sie noch Geborgenheit, so enden die Erinnerungen mit der Beschwernis des kindlichen Erlebens durch das bucklichte Männlein.
3.
Erinnernde Bildung
Liest man die Spuren der Erinnerung der Berliner Kindheit, so geben sie Aufschluss über einen kindlich erinnernden Blick und seine Spezifika, von denen einige hier benannt worden sind. An dieser Stelle sollte es aber nicht nur darum gehen, das quasi-empirische
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
185
Material der Erinnerungsbilder auf Besonderheiten des kindlichen Blicks hin zu unter suchen, sondern anhand dieser Lesarten eine exemplarische Vermittlung von empirischer und theoretischer Forschung zu versuchen. Folgt man Wigger, dann müssten sich über eine solche Vermittlung durch die Interpretation des empirischen Materials auch über Konzepte von Bildung Aussagen treffen lassen können (vgl. Wigger 2004, S. 490). Es stellt sich also die Frage, ob und wenn ja welche Aussagen über ein Konzept von Bildung sich mit Hilfe der Analysen der Erinnerungen der Berliner Kindheit treffen lassen. Zunächst fällt auf, dass der kindliche Blick auf die Welt die gewohnten erwachsenen Perspektiven durcheinander bringt. Die Perspektiven verschieben sich. Das beschriebene Kind in der Berliner Kindheit ist mühelos in der Lage, seine innere Perspektive, das, was es fühlt, was es von sich kennt, auch im Äußeren zu entdecken und es lässt ebenso Äußeres in sich wirken. Als Perspektivenverschiebung kann man auch Verschränkung von Phantasie und Wissen deuten. Das Wissen kann eine phantastische Note bekommen und die Phantasie verschwimmt mit dem, was das Kind weiß. In der Angleichung an die Welt übernimmt es die Blickwinkel desjenigen, in den es gleichsam schlüpft, sei es ein Schmetterling oder eine Seifenblase. Diese Weise des Kindes, spielerisch verschiedene Perspektiven einzunehmen und die Welt von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten, kann als ein Aspekt von Bildung gedeutet werden. Die von Humboldt eingeforderte Mannigfaltigkeit der Wechselwirkung mit der Welt scheint hier auf. Der kindliche Umgang mit Welt in der Berliner Kindheit ist ein mimetisch aneignender. Das Kind steht der Welt nicht unbefangen gegenüber, sondern es wird durch diese angesprochen, zuweilen verlockt. Wenn das Kind sich mimetisch der Welt annähert, macht es sich diese zu Eigen. Das Kind, das sich hinter der Tür versteckt, sieht sich selbst an der Stelle dieser Tür, es empfindet sich fast selbst als Tür, um dann wieder daraus aufzutauchen. Bei der kindlichen Bildung handelt es sich um eine Aneignung von Welt, einer Welt, die nicht verlässlich ist, sondern die sich jederzeit in eine andere verwandeln kann, wie unter anderem das Beispiel des Textstückes über den Mond zeigt (vgl. Benjamin 2010, S. 74 f.). Diese Aneignung ist auch kennzeichnend für Bildung. Der Reiz der Benjaminschen Untersuchungen für bildungstheoretische Überlegungen liegt unter anderem darin, dass sie nicht nur von einer Weltaneignung ausgehen, sondern von der Aneignung einer Welt, die in sich brüchig ist. Ein dritter Aspekt der Berliner Kindheit, der in Bezug auf bildungstheoretische Über legungen Bedeutung gewinnt, ist die Zeit.2 Zeit spielt im kindlichen Erleben der Welt eine große Rolle. In den Erinnerungen Benjamins dehnt sich die Zeit, sie staut sich und veraltet. All diese Metaphern verweisen darauf, dass das Kind ganz gegenwärtig in dem ist, was es tut. Das Verstreichen von Zeit wird dabei nicht beachtet. Wenn es zum Beispiel auf der Loggia weilt, veraltet die Zeit. Das Kind ist gegenwärtig im Betrachten der Wolken und der Hinterhöfe. Wie lange das dauert, liegt abseits des kindlichen Wahrnehmens. Interessant ist dabei, dass die pädagogischen Institutionen in der Berliner Kindheit die Rolle der Mahnerin der Zeit einnehmen. So sieht zum Beispiel die „Uhr auf dem Schulhof […] beschädigt aus […]. Sie stand auf zu spät“ (ebd., S. 26) und das Kind wird in dieser Stunde nicht mehr beim Namen genannt, verliert also bildlich gesprochen seine Identität durch das Zeitver-
186
Bildung an ihren Grenzen
säumnis (vgl. ebd., S. 26). Schulische Institution wäre damit überschattet durch das Erschweren von Bildung und nicht durch deren Wegbereitung.3 Diese drei Aspekte aus der Berliner Kindheit, das heißt die kindliche Fähigkeit der Verschränkung von Perspektiven, die mimetische Weltaneignung und das Dehnen der Zeit, ermöglichen in einem übertragenen Sinne auch Aussagen über Bildung. Diese bedeutet dann allerdings nicht Verlassen der Kindheit. Bildung ist nicht das Vorrecht des Erwachsenen, der durch die Erweiterung seiner Erfahrungen und Kenntnisse immer gebildeter würde und die Kindheit wäre in diesem Sinne nicht eine Phase im Leben, die es zu überwinden und der es zu entwachsen gilt, um sich zu bilden. Stattdessen zeigt sich im Anschluss an die Erinnerungen der Berliner Kindheit, dass Bildung auch eine erinnernde sein kann. Eine erinnernde Bildung wäre eine, die nicht die eigene Perspektive zur Garantie nimmt, sondern die sich vergegenwärtigend des eigenen kindlichen Blicks erinnert und damit auch der Möglichkeiten, die dieser in der Erschließung von Welt eröffnete. Da in den Erinnerungen der Berliner Kindheit die Perspektiven des sich Erinnernden durchscheinen, ist die Verbindung von erwachsenem und kindlichem Blick in ihr angelegt. Die Perspektive des Erwachsenen scheint zwar selten explizit, ist aber in den Bildern als dialektischer Hintergrund vorhanden. So entspinnt sich zwischen dem kindlichen, erinnerten Blick und dem erinnernden Blick des Erwachsenen eine Dialektik der Erinnerung. Damit wird die Dialektik der Erinnerung selbst zu einem Bildungsgeschehen. In der literarischen Gestaltung seiner Erinnerungen betont Benjamin dieses Wechselspiel von kind licher und erwachsener Perspektive. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie Bildung, nicht zu einem Abschluss findet. Damit gleicht sie einer Benjaminschen „Dialektik im Stillstand“ (vgl. Tiedemann 1983, S. 9 f f.), einer Dialektik ohne Synthese. Benjamin verwendet diesen Begriff zwar nicht in Bezug auf die Berliner Kindheit, sondern auf das Passagen-Werk. Die Dialektik steht still in dem Zwischenraum zwischen den Perspektiven. Im PassagenWerk sind das die Perspektiven von Vergangenheit und Gegenwart, ein ähnliches Bild zeigt sich aber auch in der Berliner Kindheit in der wechselseitigen Bezogenheit der Perspektive des Erinnernden und des Erinnerten. Auch in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte spricht Benjamin ein Moment des Verweilens an, das dem des Stillstandes ähnlich ist, diesmal in Bezug auf das Denken: „Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung“ (Benjamin 1974, S. 702). Mit Bezug auf die Berliner Kindheit könnte dieser Gedanke so erweitert werden, dass das Verweilen zwischen den Perspektiven des erinnerten kindlichen Blicks und der erinnernden Erwachsenenperspektive einen Raum eröffnet, in dem festgefahrene, selbstverständlich scheinende Urteile fraglich werden. Da in jedem Textstück der Berliner Kindheit sowohl die Kind- als auch die Erwachsenenperspektive zur Sprache kommt, schafft Benjamin eine Atmosphäre des gegenseitigen Befremdens durch die jeweils andere Perspektive und somit, positiv gewendet, eine Irritation, die einen Bildungsprozess initiieren kann. Bildung im Anschluss daran als eine erinnernde zu verstehen, bedeutet folglich nicht den konservierenden Rückbezug auf das Alther gebrachte, sondern eine Eröffnung von ungewohnten Denkräumen und Weltansichten in dem dialektischen Prozess der Erinnerung zwischen den Perspektiven. Die Dialektik im
Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin
187
Stillstand der Berliner Kindheit ist keine abgeschlossene, sondern eine, die zwischen der Perspektive des Erinnernden und der Perspektive des Erinnerten verweilt, die Räume zwischen beiden auslotet und sich ihrer Möglichkeiten vergewissert.
Literatur Benjamin, W. (2010): Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Benjamin, W. (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Band I.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 691–704. Benjamin, W. (1996): Berliner Chronik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Band VI. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 465–519. Dietrich, C. / Müller, H.-R. (2010): Die Aufgabe der Erinnerung in der Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Dörpinghaus, A. / Uphoff, I. K . (2012): Die Abschaffung der Zeit. Wie Bildung verhindert wird. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Equit, C. (2010): Gewalthandeln und Ehre. Versuch einer anerkennungstheoretischen Deutung. In: Wigger, L. / Equit, C. (Hrsg): Bildung, Biografie und Anerkennung. Interpretationen eines Interviews mit einem gewaltbereiten Mädchen. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 55–82. Helfferich, C. (2009): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 3., überarbeitete Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Jornitz, S. (2002): Berliner Kindheit pädagogisch interpretiert. Wetzlar: Büchse der Pandora. Koller, H.-C. (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Koller, H.-C. (1995): „Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen.“ Zur Bildungsfunktion von Gedächtnis und Erinnerung in Walter Benjamins „Berliner Kindheit“. In: Porath, E. (Hrsg.): Aufzeichnung und Analyse. Theorien und Techniken des Gedächtnisses. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 129–141. Meyer-Drawe, K. (2008): Diskurse des Lernens. München: Wilhelm Fink. Mollenhauer, K. (1983): Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. München: Juventa. Tiedemann, R. (1983): Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wigger, L. (2009): Über den schulischen Unterricht. Kritische Überlegungen zu seiner Reflexion, seinen Zielsetzungen und einigen seiner Effekte. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 85. Jg. H. 4, S. 456–475. Wigger, L. (2006): Bildung und Habitus? Zur bildungstheoretischen und habitustheoretischen Deutung von biografischen Interviews. In: Friebertshäuser, B. / R ieger-Ladich, M. / Wigger, L. (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VS Verlag, S. 101–118. Wigger, L. (2004): Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lage beschreibung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 80. Jg. Heft 4, S. 478–493.
188
Bildung an ihren Grenzen
Witte, B. (1984): Bilder der Endzeit. Zu einem authentischen Text der „Berliner Kindheit“ von Walter Benjamin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jg. 58. Heft 4, S. 570–592. Wulf, C. (1993): Was nie geschrieben wurde, lesen. Benjamins „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“. In: Herrlitz, H.-G. / R ittelmeyer, C. (Hrsg.): Exakte Phantasie: Pädagogische Erkundungen bildender Wirkungen in Kunst und Kultur. Weinheim / München: Juventa, S. 191–200.
Konjunktiv Plusquamperfekt. Alexander Kluge und Nicholson Baker von Markus Rieger-Ladich
Drei Todesfälle Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
Am 4. Dezember 1933 stirbt Stefan George in Locarno. Nicht nur seinen Anhängern gerät es zum Zeichen, dass er seine letzte Ruhestätte in der Schweiz findet – und eben nicht in Deutschland. Franz Neumann interpretiert dessen späten Grenzüberschritt gleichwohl als Ausdruck der Kritik, als Absetzungsbewegung zum „neuen Reich“. Christoph Steding, ein Rechtshegelianer, versuchte sich ebenfalls an einer Deutung der Umstände von dessen Ab leben. Ihm galt es als ausgemacht, dass es eine besondere Bewandtnis habe, dass der Dichterfürst hier – in der Nähe zu Basel (und Nietzsche) – seine ewige Ruhestätte gefunden hatte: „Im Leben von Männern dieser Größe gibt es keine Zufälle“ (zit. n. Raulff 2009, S. 82). Zweiunddreißig Jahre später, am 27. August 1965, kommt Le Corbusier beim Schwimmen im Meer ums Leben. Galt der französische Architekt bis in die 1950er Jahre hinein als einer der radikalsten Vertreter der Moderne, als Verkörperung der Avantgarde, wandte er sich danach mehr und mehr organischen Formen zu. Von besonderer Bedeutung sind dabei nicht zuletzt die zahllosen Muscheln, die er bei seinen ausgedehnten Strandwanderungen sammelte. Auch seine Todesumstände provozierten seinerzeit zahlreiche Interpretationen. Der Architekturhistoriker Bruno Chiambretto etwa hält fest, dass das letzte Bad, das dieser genommen habe, „seine Verbundenheit mit dem Mittelmeer besiegelt[e]“ (Chiambretto zit. n. Maak 2009, S. 128). Sechsundzwanzig Jahre später, am 27. November 1991, verunglückt Vilém Flusser bei einem Autounfall nahe der deutsch-tschechischen Grenze. Der polyglotte, äußerst umtriebige Kommunikationstheoretiker, der sich für die Geste der Fotografie nicht weniger interessierte als für jene des Rasierens oder des Telefonierens (vgl. Flusser 1994), war auf dem Rückweg von einem Vortrag, den er im Prager Goethe-Institut gehalten hatte. Auch sein Ableben wurde umgehend zum Gegenstand kühner Deutungen. So hieß es in einem Nachruf, der in Flussers Biografie die Spuren der Vertreibung nachzuzeichnen unternahm, dass er „in tragischer Angemessenheit in dem entstädterten Niemandsland, […] das er gefürchtet hat“, gestorben sei – genauer: „in der entkörperlichten Metropolis des elektronischen Überall“ (Flusser zit. n. Maak 2009, S. 127).
190
Bildung an ihren Grenzen
Horror vacui Was geschieht hier? Wie lassen sich solche Spekulationen und Mutmaßungen erklären? Ersichtlich handelt es sich dabei nicht um Äußerungen, die einfach damit zu erklären wären, dass sie eben der Logik von Nachrufen geschuldet sind. Sie sind nicht Ausdruck der bekannten Maxime, dass man über Verstorbene nicht schlecht rede. So unterschiedlich die erwähnten historischen Figuren sind – der legendenumrankte Dichterfürst Stefan George, der begeisterte Schwimmer Le Corbusier und der nomadische Vilém Flusser –, so sehr scheinen sich doch die Kommentare zu gleichen. Sie verraten eine untergründige Verwandtschaft; sie sind, so vermute ich, Ausdruck derselben Unruhe. Blickt man nur auf die Unfälle der beiden zuletzt Genannten, wird schnell deutlich, dass hier keinerlei Neigung zu erkennen ist, eine nüchterne, abgeklärte Suche nach den Ur sachen zu betreiben. So wenig bei Le Corbusier die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Wassertemperatur, Strömungsverhältnissen, physischer Konstitution und muskulärer Verfassung gelenkt wird, so gering ist offensichtlich die Neigung, im Falle Flussers das Augenmerk auf eine womöglich verhängnisvolle Konstellation von Reifendruck, Fahrbahnbeschaffenheit, Witterungs- und Lichtverhältnissen, von körperlicher Fitness und Konzentrationsfähigkeit zu richten. Dass es sich um eine unglückliche Verkettung einzelner Phänomene handeln könnte, die kein biografisches Muster erkennen lässt, keinen Urheber kennt und keine Intentionalität – mithin all das vermissen lässt, was nach Lothar Wigger (1983) Handlungen ausmacht –, wird offensichtlich kategorisch ausgeschlossen. Durchweg sind die Kommentare Ausdruck des Bemühens, das Faktische mit Sinn auszustaffieren (und Biografien zu erzeugen). Die Möglichkeit, dass wir uns in den genannten Fällen mit der nackten Kontingenz konfrontiert sehen, wird hier offensichtlich als Bedrohung wahrgenommen, der es entschlossen entgegenzutreten gilt. Es scheint fast, als müsste ein bedrohliches Sinnvakuum und die metaphysische Obdachlosigkeit bekämpft werden. Erstaunlich ist dies allein schon deshalb, weil es – so etwa Niklas Luhmann (1992) – als eines der auffälligsten Charakteristika moderner Gesellschaften gelten kann, dass sie fortwährend Kontingenz freisetzen (vgl. Vogt 2011). Ulrich Raulff und Niklas Maak, deren scharfsinnigen Studien über den George-Kreis und Le Corbusier ich die Girlanden zu den drei Todesfällen entnommen habe, kommentieren denn auch die rhetorischen Manöver hinreichend spöttisch. Mokant bemerkt Niklas Maak, dass es zu den „Seltsamkeiten der Geschichtsschreibung [gehört], dass sie die Todesumstände berühmter Menschen gern als stimmige Erfüllung ihres Lebens verkauft“ (Maak 2009, S. 127) – und dies durchaus auch dann noch, wenn jemand einem Unfall zum Opfer fällt. Ulrich Raulff ist in seiner Kommentierung noch etwas bissiger; er stellt heraus, dass hier eine bestimmte Variante der Geschichtsschreibung auf dem Spiel steht. Dass es im Leben großer Männer keinen Zufall geben könne, ist gleichsam die unausgesprochene Betriebsprämisse einer Form der Historiographie, die zuallererst an der Stiftung von Sinn interessiert ist, die folglich auch keine Lücken und Unbestimmtheiten im historischen Geschehen akzeptieren kann. Die Leugnung des Zufalls, die sich dabei unweigerlich einstellt, bezeichnet Raulff denn auch treffend als den „ersten Hauptsatz eines radikalen Antihisto-
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
191
rismus“. Und er fährt fort: „Absolut gesicherte Bedeutung gibt es nur in einer Welt ohne Zufall. Solange die Geschichte nicht ausgeschaltet ist, solange die Möglichkeit der Kontingenz besteht, kann jede Bedeutung nur eine mögliche, ihrer Natur nach nur relative sein.“ (Raulff 2009, S. 82) Es hieße, die damit angesprochene Problematik auf fatale Weise zu verharmlosen, würde man sie nun allein gattungstheoretisch diskutieren: Was in den zitierten Äußerungen zum Ausdruck kommt, kennzeichnet nicht allein weihevolle Nachrufe. Vielmehr scheint die inkriminierte Praxis der Sinnstiftung, die – bisweilen recht plump betriebene – Finalisierung biographischer Ereignisse, eine der größten Versuchungen zu sein, die mit dem Geschäft der Historiker / in verknüpft sind. Folgt man Reinhart Koselleck, verweist dieses Phänomen auf Entwicklungen, die sich im 18. Jahrhundert anbahnen: Als nach 1780 aus der Vielzahl von Geschichten die eine Geschichte wird, erscheint sie unweigerlich im Gewand einer überindividuellen Macht, die sich schicksalhaft vollzieht. In der Folge saugt sie als „Kollektivsingular“ sämtliche Einzelgeschichten in sich auf; sie wird geschichtsphilosophisch überhöht – und damit zu einer der großen Sinnstiftungsinstanzen (vgl. Koselleck 2010, S. 21).
Fluchtbewegungen und Siegesgeschichten Koselleck erinnert an den hohen Preis, den wir für diese Form der Geschichtsschreibung zu entrichten haben: So schmerzhaft die Konfrontation mit Phänomenen der Kontingenz fraglos sei und so groß das Bedürfnis nach Sinn – die Zuflucht zu teleologischen Darstellungen und der Glaube an geschichtliche Notwendigkeiten zeitigt Folgen, die für unser Selbstverständnis als historische Akteure fatal sind: „Der Geschichte eine Zwangsläufigkeit zu unterstellen bedeutet nichts anderes, als sich ihr zu unterwerfen, sich ihr zu fügen, um eine vermeintliche Notwendigkeit zu befördern. Die unterstellte Notwendigkeit injiziert der Geschichte einen Sinn, der die Menschen entmündigt“; als wirksames Gegengift empfiehlt er Friedrich Nietzsche, der eine Freiheit gefordert habe, „die aus jeder Situation, möglichst einem kairos heraus, einen Neubeginn evoziert“ (Koselleck 2010, S. 25). Dass dieser Versuchung nicht allein die Fachhistoriker / innen ausgesetzt sind, sondern eben auch jene, welche sich der Wissenschafts- und Disziplingeschichte verschrieben haben, hat der Soziologe Wolf Lepenies in einer bestechenden, kleinen Studie gezeigt. In Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte (Lepenies 1978) nimmt er eine erhellende Rahmung der disziplingeschichtlichen Unternehmen vor und erklärt deren wechselhafte Konjunkturen. „[N]ur selten“ – so Lepenies – „gerät eine Disziplin in eine Krise, ohne zu deren Bewältigung auf ihre eigene Geschichte zurückzugreifen, paradoxerweise hängt die zunehmende Häufigkeit der disziplingeschichtlichen Retrospektion gerade mit dem weitgehenden Verlust des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens zusammen“ (Lepenies 1978, S. 450). Insbesondere dann, wenn die Hoffnung auf den stetigen Fortschritt der eigenen Erkenntnisbemühungen getrübt ist und wissenschaftliche Disziplinen in die Krise geraten, vergewissern sie sich der eigenen Anfänge – und suchen in eben dieser Bewegung
192
Bildung an ihren Grenzen
ihre Identität zu bekräftigen oder zu erneuern. Strukturell betrachtet weisen denn auch disziplingeschichtliche Vorhaben zu den kritisch notierten Bemühungen um Sinnstiftung eine erkennbar größere Affinität auf als genuin wissenschaftsgeschichtliche Unternehmungen (vgl. Horn 2008). Es war sicher auch dieser verhängnisvollen Neigung geschuldet, als die Herausgeber / innen der Zeitschrift für pädagogische Historiographie 2001 dem Kontext in der disziplingeschichtlichen Forschung ein Themenheft widmeten. Daniel Tröhler stellt gleich im ersten Absatz des Editorials den Zusammenhang zu dem hier verhandelten Thema heraus. Er charakterisiert die etablierten Praktiken der Geschichtsschreibung der Pädagogik wie folgt: „Auf der einen Seite suggerieren sie eine mehr oder weniger geradlinige Entwicklung auf den Status quo der Schreibenden und übergehen Brüche und Diskontinuitäten, und auf der anderen Seite sind sie nicht selten idealisierend und zielen darauf, den Rezipierenden moralisch wirksame und zeitungebundene Wahrheiten aus der Geschichte zu vermitteln.“ (Tröhler 2001, S. 26) Damit ist eine weitverbreitete Praxis innerhalb der Disziplingeschichtsschreibung treffend charakterisiert: Nicht eben selten fällt der „Blick zurück“ allzu wohlwollend aus, werden Anleihen bei linearen Geschichtsmodellen gemacht und wird das historisch Gewordene als (vorläufiger) Endpunkt einer vernünftigen „Entwicklung“ ausgeflaggt. Und doch muss eingeräumt werden, dass die Sensibilität für die geschilderten Fallstricke nun auch innerhalb der Erziehungswissenschaft wächst. Es mehren sich die Stimmen, die für eine andere Praxis der Disziplingeschichtsschreibung plädieren. Heinz-Elmar Tenorth etwa räumte schon vor mehr als 20 Jahren ein, dass sich die Historiograf / innen der Erziehungswissenschaft in der Vergangenheit allzu schnell auf die Seite der Sieger / innen gestellt und die Geschichte aus deren Perspektive rekonstruiert hätten (vgl. Tenorth 1989). In der Tat sind die Kämpfe um die Ordnung des pädagogischen Diskurses in der Vergangenheit viel zu selten angemessen gewürdigt worden: die kognitive, die soziale und die historische Identität der Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum wurden bislang kaum einmal als Geschichte von Konflikten und Verwerfungen oder gar als Verkettung kontingenter Ereignisse und akademischer Machtspiele erzählt (vgl. Rieger-Ladich 2010; 2014b). Es stellt offensichtlich noch immer eine besondere Herausforderung dar, den Verlockungen der causa finalis zu widerstehen und hinsichtlich der geschichtsphilosophischen Anleihen eine gewisse Askese zu üben. Vor diesem Hintergrund bemühe ich mich um einen alternativen Zugang und inspiziere das Grenzgebiet zu literarischen Texten; von hier aus fahnde ich nach neuen Praktiken der Disziplingeschichtsschreibung. Durchaus im Wissen darum, dass Jürgen Habermas vor etwa 30 Jahren Jacques Derrida der „Einebnung des Gattungsunterschiedes“ geziehen hatte, werde ich im Folgenden genau damit experimentieren. Habermas hatte 1985 in seinem Vorlesungszyklus Der philosophische Diskurs der Moderne die Kritik an dem französischen Kollegen mit dem Vorwurf munitioniert, dass dieser die Differenz zwischen literarischen und philosophischen Texten leichtfertig einziehe, damit eine wichtige Errungenschaft preisgebe und in der Folge haltlosen Spekulationen Tür und Tor öffne (vgl. Habermas 1989, S. 219ff).
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
193
Ohne an dieser Stelle Habermas’ Philippika eingehend diskutieren zu können, verweise ich auf einen anderen Theoretiker, der sich ungleich seltener dem Verdacht ausgesetzt sieht, leichtfertig die Errungenschaften abendländischen Denkens aufs Spiel zu setzen. Thomas von Aquin warnte nachdrücklich davor, das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion zu schlicht zu fassen. Anders als es gewöhnlich praktiziert wird – eben: Wahrheit und Fiktion einander gegenüberzustellen und als sich wechselseitig ausschließende Größen zu betrachten –, betonte er, dass die Fiktion „weit davon entfernt [sei], eine Lüge zu sein“; vielmehr könne sie, richtig eingesetzt, zu einer „figura veritatis“ werden (Thomas von Aquin zit. n. Raulff 2010, S. 334). Mit Blick auf die narrativen Verfahren, die innerhalb der Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft praktiziert werden, wende ich mich zwei Autoren zu, die nicht allein das Fiktive als Medium der Wahrheitssuche zu rehabilitieren unternehmen, sondern auch eine Aussöhnung mit der Kontingenz betreiben. Die Arbeiten von Alexander Kluge und Nicholson Baker werden gerahmt von einer Reihe verwandter Unternehmungen, die in den letzten Jahren erschienen sind (vgl. Mulisch 2001; Englund 2009; Kühn 2010). Ohne diese bemerkenswerte Konjunktur von Texten erklären zu können, die aus durchweg sehr ernsthaften Absichten historische Spekulationen betreiben, verweise ich an dieser Stelle nur auf ein einziges: 2008 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger Hammerstein oder Der Eigensinn. Er spürt darin der Geschichte einer Familie nach, die auf abenteuerliche Weise in den Widerstand gegen Hitler verstrickt ist; Enzensberger führt hier mehrfach „posthume Unterhaltungen“ und fingiert Gespräche mit längst Verstorbenen – wiederholt auch mit dem General Kurt von Hammerstein (vgl. Enzensberger 2009). Ergänzt ist seine historische Reflexion um ein „Postskriptum“, in dem er erläutert, weshalb es sich bei dem vorliegenden Buch um keinen „Roman“ handelt (Enzensberger 2009, S. 344 f f.). Und hier erwähnt er auch Alexander Kluge, der sich in Die Lücke, die der Teufel lässt ebenfalls für Kurt von Hammerstein interessiert. Enzensberger erkennt in Kluge einen Geistesverwandten und spricht voller Respekt von dessen Buch. Und in einer grandiosen Wendung attestiert er Kluge einen „souverän[en], um nicht zu sagen skrupellos[en] [Umgang] mit den Tatsachen“ (Enzensberger 2009, S. 354 f.). Er will dies, das legt seine Formulierung nahe, durchaus nicht als Kritik verstanden wissen: „Auch wer hart an den Tatsachen vorbeischrammt, kann, wie das Beispiel zeigt, durchaus zu richtigen Einsichten kommen. Die Faktographie ist also nicht das einzige sinnvolle Verfahren.“ (ebd.)
Aufgestautes Begehren In einem seiner unzähligen Interviews, die er seit Jahrzehnten führt, konfrontiert Alexander Kluge den französischen Filmemacher Jean-Luc Godard mit der Frage, ob sich nach dem Fall der Mauer die ehemalige DDR auch mit Frankreich hätte vereinigen können. Kluge ist bei seinen Interviews fast nie zu sehen. Seine helle Stimme kommt stets aus dem Off (vgl. Seesslen 2002). In Großaufnahme zu sehen ist: Jean-Luc Godard. Es vergehen einige Sekunden, bis die Frage übersetzt ist. Godard blickt nicht direkt in die Kamera. Er schweigt.
194
Bildung an ihren Grenzen
Und verzieht zunächst keine Miene. Er mag sich in jenem Moment fragen, ob die Frage womöglich falsch übersetzt wurde. Er mag sich auch fragen, ob diese Frage, so sie denn korrekt übersetzt wurde, tatsächlich ernst gemeint sei. Oder ob er das Opfer eines Scherzes geworden ist. Kluge jedoch, der von der Kamera nicht eingefangen ist, aber Godard gegenübersitzt, scheint keine Spur von Heiterkeit oder von Albernheit erkennen zu lassen. Er hat auch diese Frage mit der ihm eigenen Dringlichkeit formuliert. Er relativiert sie nicht; er nimmt nichts davon zurück. Er wartet auf eine Antwort. Godard beginnt zu schmunzeln – und entgegnet: „Warum nicht?“ Und führt im Anschluss aus, dass es dem Kino noch nicht gelungen sei, die Geschichte darzustellen.1 Wie lässt sich diese Szene erklären? Wie Kluges Strategie beschreiben? Welchen Zweck verfolgt er? Indem ich mich diesen Fragen zuwende, suche ich einen Zugang zu dem EinMann-Unternehmen Alexander Kluge zu finden, das für das Autorenkino der 1960er und 1970er Jahre steht wie für eine Vielzahl von Koproduktionen mit dem Soziologen Oskar Negt, für voluminöse Bände mit schillernden Titeln, für die Etablierung experimenteller Formate, die das deutsche Fernsehen zuvor noch nicht kannte – und eben für zahllose Interviews.2 Als Kluge 1979 der Fontane-Preis für Literatur zugesprochen wird, bedankt er sich mit einem Vortrag, der den Titel trägt „Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle“. Den Konventionen entsprechend, führt er den Autor der Effi Briest und des Stechlin über den Begriff des Realismus ein. Dabei nimmt er allerdings eine besondere Akzentuierung vor. Er beschreibt den Realismus als eine besondere Haltung, die sich aus zwei Elementen speist: „Erstens. Die Genauigkeit in der Wiedergabe realer Erfahrungen. Das ist das, was man eine realistische Haltung nennt. Die gibt es aber nicht als Naturform.“ (Kluge 1987, S. 8 f.) Diese Haltung gerät nun in eine besondere Spannung durch das zweite Element. Erneut Kluge: „Zweitens. Die Wurzel einer realistischen Haltung, ihr Motiv: das ist eine Haltung gegen das, was an Unglück in den realen Verhältnissen ist; es ist also ein Antirealismus des Motivs, eine Leugnung des reinen Realitätsprinzips, eine antirealistische Haltung. Sie erst befähigt, realistisch und aufmerksam hinzusehen. Das ist die Dialektik des Realismus […].“ (ebd.) Fontane gilt Kluge mithin als ein Vertreter des Realismus par excellence. Er attestiert ihm einen präzisen Blick fürs Detail. Und indem er sich in vermeintlich randständige Sachverhalte vertieft, verändert er den Blick auf die Handlung des Romans, die in der Folge ihre Zwangsläufigkeit einzubüßen beginnt. „Fontane“ – so Kluge in seiner schmucklosen Sprache – „steht überhaupt nicht auf der Seite einer zwangsläufigen Tragik. Er bildet diese Zwänge sehr exakt ab, aber vom Gegenpol der Trauerarbeit und eines heiteren Angriffsgeistes gegen das Geschick“ (Kluge 1987, S. 11). Fontane gilt ihm daher als Erfinder des „Vielfältigkeitsromans“: Er verweigert sich simplifizierenden, linearen Erzählmustern; er verzweigt die Erzählstränge und reichert sie fortwährend mit Komplexität an. Er wendet sich den komplizierten Beziehungen zu, die sich zwischen diesen herausbilden, und wird so zum Protagonisten einer „realistischen Haltung“, die sich gerade nicht mit dem Status quo gemein macht. Noch einmal Kluge: „Er ist niemals in den Terror wirklicher Verhältnisse verliebt, sondern sucht nach Auswegen; und ein Grund für Montagetechnik, für Vielfältig-
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
195
keitsromane im fontanischen Sinne ist eben diese Suche nach Auswegen“ (Kluge 1987, S. 12; Hervorh. vom Verfasser). Hier ist der Glutkern von Alexander Kluges Arbeit zu erkennen: Fontane fasziniert ihn, weil dieser nach Auswegen sucht, weil er die schlichten Erzählmuster, die dem schicksalhaften Verlauf der Geschehnisse das Wort reden, unterläuft. Weil er die feindlichen Linien überquert und zwischen 1864 und 1871 immer wieder zwischen die Fronten gerät (vgl. Kluge 1987, S. 10). Fontane wagt sich also auf unsicheres Gelände vor; er attackiert einen plumpen Realismus und beweist dabei einen „heiteren Angriffsgeist gegen das Geschick“. Dem vermeintlich Unabänderlichen verweigert er seine Zustimmung – und sucht fortwährend nach anderen Optionen, nach bislang übersehenen Möglichkeiten. Es ist genau diese Haltung, die Alexander Kluge imponiert. Die fortwährende Suche nach Auswegen, das Fahnden nach neuen Erzählmöglichkeiten und die Attacken auf die Schicksalsergebenheit: Sie charakterisieren auch die theoretische wie die praktische Arbeit Kluges. Von hier aus erschließen sich sämtliche Arbeiten und Formate Kluges, so disparat sie auf den ersten Blick auch wirken mögen (vgl. Habermas 1997; Rieger-Ladich 2014a). Bevor ich diese These an der Chronik der Gefühle (Kluge 2000) näher erläutere, suche ich kurz Kluges Form der poetisch-wissenschaftlichen Arbeit theoriegeschichtlich zu situieren. Alexander Kluge ist Jurist und Kirchenmusiker, als er in den 1960er Jahren Theodor W. Adorno begegnet. Auf dessen Empfehlung hin volontiert er bei Fritz Lang, reüssiert bald darauf als Autorenfilmer und Schriftsteller. Wahrscheinlich war Adorno für Kluge der wichtigste Lehrer. Gleichwohl sucht er auf die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts eine andere Antwort als dieser zu finden. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten in der Dialektik der Aufklärung (1991) die Entwicklung der Moderne in einer Weise beschrieben, die eine gewisse Zwangsläufigkeit erkennen ließ und von einer Ausweglosigkeit grundiert schien. Wie sich nach einer solchen Diagnose überhaupt noch Theorie treiben ließe, stellte die zweite Generation der Kritischen Theorie vor keine geringe Herausforderung (vgl. Celikates 2009; Schmidt 2012). Jürgen Habermas etwa suchte emanzipatorische Momente zunächst durch die Arbeit an einer weitgespannten Kommunikationstheorie freizulegen; später ergänzt er diese um eine anspruchsvolle Theorie des Rechts, welche den zentrifugalen gesellschaftlichen Kräften entgegenwirken soll (vgl. Habermas 1988; 1992). Alexander Kluge steht vor derselben Herausforderung, wählt allerdings eine völlig andere Strategie. Statt sich um den argumentativen Nachweis zu bemühen, dass menschliche Kommunikationsakte – allen gegenteiligen Erfahrungen zum Trotz – in ihrer ursprüng lichen, unverstellten Form auf Verständigung und Kooperation hin angelegt sind und Akte der Rechtsprechung als normatives Rückgrat zeitgenössischer Gesellschaften fungieren, entwickelt er narrative Verfahren, die es ermöglichen sollen, einen neuen Blick auf die Vergangenheit zu werfen – und damit auch die Gegenwart in ein neues Licht zu tauchen. Die zwei Bände der Chronik der Gefühle zählen zusammen mehr als 2000 Seiten. Sie gliedern sich in zwölf Kapitel, die im Umfang beträchtlich variieren. Einige der Geschichten sind mit Fotografien und Abbildungen versehen. Das Themenspektrum ist weit gespannt: es reicht von historischen Begebenheiten wie der Bombardierung Halberstadts im Zweiten Weltkrieg und unterschiedlichen Lebensläufen über Skurrilitäten wie einen Friseurtermin
196
Bildung an ihren Grenzen
Hitlers oder eine Landkarte, die das „Königreich der Liebe“ abbildet, bis hin zu Spekulationen, die um ferne Galaxien kreisen. In vielen Fällen lässt sich kaum entscheiden, ob es sich dabei um die Schilderung realer Sachverhalte handelt oder ob sie der Phantasie des Autors entsprungen ist. Die beiden Bände sind ersichtlich als Hypertext organisiert (vgl. Stanitzek 1998): Die Zahl der Verbindungen, die sich zwischen den zahllosen Geschichten knüpfen lässt, ist kaum zu überblicken – und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie in erster Linie von den Interessen der Leserin abhängt. Der Leser ist es, der vor der Herausforderung steht, diese Fülle von Texten (für sich) zu organisieren: Er nimmt Fährten auf, verfolgt Spuren, stellt Zusammenhänge her, verliert sich immer wieder bei der Lektüre, erliegt neuen Lockstoffen. Diese anarchistische Lesehaltung wird von Kluge selbst ausdrücklich begrüßt. So heißt es im Vorwort: „Was Menschen in ihren Lebensläufen brauchen, ist ORIENTIERUNG. So wie Schiffe navigieren. Das ist die Funktion eines so umfangreichen Buches: dass einer vergleicht, sich abstößt oder sich anziehen lässt, weil ein Buch wie ein Spiegel wirkt. Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie beim Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft. Die subjektive Orientierung: Worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen?“ (Kluge 2000, S. 7). Die Lebensläufe sind für Kluge deshalb von Interesse, weil auch hier jenes spannungs reiche Mischungsverhältnis zum Vorschein kommt, das er schon bei Fontane entdeckt hat. Immer wieder lässt sich beobachten, dass Menschen einen Geschmack für das Über raschende entwickeln, dass sich in ihren Lebensläufen ein Begehren aufstaut, das eine ganz eigene, unverwechselbare Kraft entwickelt. Die „Gefühle“, so Kluge, „sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe.“ Sie sind wie energiereiche Elemente, die nie völlig still zu stellen sind. Sie „stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten […]. Sie finden sich in allem, was uns angeht“ (ebd.). Letztlich sind es also die Gefühle, welche die „Suche nach dem Ausweg“ befeuern; sie sind die Kraftquelle, aus der sich das Aufbegehren speist. Um dies zu illustrieren, sei hier die Geschichte „Der Unterwasserkünstler“ aus dem 2. Band der Chronik der Gefühle vollständig zitiert: „An Händen und Füßen gefesselt, ist er von der Belle-Island-Brücke in den vereisten Detroit River gesprungen. Das für ihn in das Eis gehackte Loch traf er. Die Strömung aber trieb ihn vom Loch weg unter die Eisdecke. Dank eines minimalen Raums zwischen Eisdecke und Wasseroberfläche hat er Atem geschöpft. Die Grenze zwischen den Aggregatzuständen Wasser und Eis ist nie genau. So waren die Flußwächter überrascht, als er Kilometer flussabwärts von unten an die dort dünne Eisoberfläche klopfte. Wie ein Geist war er unter der blanken Eisplatte zu sehen, die Nase eng an die Unterfläche der Eisdecke gepresst, um sich die wenigen Deziliter Sauerstoff zu sichern, die es an der Nahtstelle gibt. Man kann jeden beliebigen Punkt der Erde, auch die lebensunfreundlichen, ansteuern, sagte der Künstler nach seiner Rettung, indem man von seiner eigenen Mitte aus eine Spirale zieht“ (ebd., S. 1004). Es ist dieser Erfindungsreichtum bei der Suche nach den Zwischenräumen, den Kluge zu wecken sucht. Er erkundet fortwährend Zwischenräume; er prüft die Nahtstellen – und trägt damit genau jene Momente der Kontingenz in die Geschichtsschreibung hinein, welche
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
197
diese so gerne tilgt. Indem er die unterschiedlichsten Geschichten miteinander verwebt und die Frage nach fact und fiction kühn ignoriert, präsentiert er den Lesenden ein rhizomatisches Gebilde, das sie überfordern mag, solange sie sich an den traditionellen Lesepraktiken orientieren, das sie aber eben auch emanzipiert. Sie müssen eigene Wege durch die historische Landschaft bestreiten, müssen selbst zum Scout auf unwegsamem Gelände werden. Dabei lernen sie, dass die Gegenwart mit der Vergangenheit verstrickt ist und das Verhältnis zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen sehr viel komplizierter ist, als es den Anschein hat. Es überrascht denn auch nicht Kluges Verehrung für Robert Musil (1990), den Autor des Mann ohne Eigenschaften. Ähnlich wie in Alfred Döblins (2002) Berlin Alexanderplatz wird hier die „Zentralperspektive“ aufgegeben und das Individuum neu vermessen. Und so antwortet Kluge auf die Frage eines Interviewers, wie Döblin und Musil die Krise der Moderne literarisch abzubilden versucht hätten: „Ich glaube, diese Tendenz gibt es auch bei Musil, das Individuum zu ehren, Bilanz zu ziehen und den Bankrott darzustellen. Und innerhalb des Bankrotts entsteht neues Leben, parallele Leben, mehrere Gesellschaften. Also der reine Konjunktiv entsteht hier eigentlich, die Möglichkeitsform. Plötzlich ist alles möglich“ (Kluge 2001, S. 16). Vor diesem Hintergrund fällt auch ein anderes Licht auf das Interview mit Jean-Luc Godard. Es ist eben genau jener Möglichkeitssinn, den Kluge auch hier – im Gespräch mit dem Vertreter des französischen Avantgarde-Kinos – zu stimulieren sucht. Mit einer glücklichen Wendung Klaus Kreimeiers könnte man dies den „Konjunktiv Plusquamperfekt“ nennen (Kreimeier 2002, S. 47), zu dem Kluge seinen Gesprächspartner nötigt. Er lädt dazu ein, über Alternativen nachzudenken, über unterlassene Möglichkeiten, über andere, ebenfalls denkbare historische Verläufe. Die Gegenwart erscheint dann nicht länger als das Ergebnis schicksalhafter Fügungen. Und so lässt der Konjunktiv Plusquamperfekt auch die eingangs erwähnte Frage an Godard verständlich werden: Lässt man sich auf diese Übung ein, auf diese historischen Spekulationen in emanzipatorischer Absicht, fällt nicht nur ein anderer Blick auf die Vergangenheit – davon wird unmittelbar eben auch die Wahrnehmung der Gegenwart infiziert: Die Vergangenheit wird zu einer Verkettung kontingenter Ereignisse, zu einer endlosen Kette von getroffenen (und unterlassenen) Entscheidungen, die schließlich auch der Gegenwart das Kleid der Vernünftigkeit bestreitet.
„Häppchenhistorie“ Zugleich ist damit exakt jener Punkt bezeichnet, an dem Nicholson Bakers Studie Menschenrauch. Wie der zweite Weltkrieg begann (2009) ansetzt. Der US-amerikanische Schriftsteller Baker, der hierzulande leider noch immer im Schatten von Don DeLillo, Philip Roth und John Updike steht, hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe faszinierender, überaus origineller Bücher verfasst, die sich den traditionellen Genres weitgehend entziehen: Vox (1998) protokolliert ein erotisch hoch aufgeladenes Telefongespräch; Rolltreppe (2000) ist eine luzide Betrachtung über die Bedeutung der Dinge. Mit Der Eckenknick (2005)
198
Bildung an ihren Grenzen
sprach er sich gegen die Digitalisierung (und Vernichtung) von Zeitungsbeständen aus. Der Anthologist (2010) wiederum schildert vordergründig das Ringen eines Autors, dem das Verfassen einer Einleitung zu einer Anthologie nicht gelingen will, enthält aber zugleich eine sehr kundige Meditation über die Eigenart der Lyrik. Und unlängst hat er mit Haus der Löcher (2012) einen pornografischen Roman vorgelegt, der das Hohelied der Lust anstimmt, ohne je obszön zu werden. Als Baker, der in den USA auch für seinen radikalen Pazifismus bekannt ist, hier 2008 sein Buch Human Smoke vorlegte, sah er sich heftigen und gegensätzlichen Reaktionen ausgesetzt. Die New York Times bezichtigte ihn des „Verrats an den Toten“, während die Los Angeles Times es eines der wichtigsten Bücher zu diesem Thema nannte (vgl. Steinfeld 2008). Hierzulande wurden die Einschätzungen ähnlich temperamentvoll vorgetragen: Hans-Ulrich Wehler erfand eigens die Gattung der „Häppchenhistorie“, um die Studie (dis-) qualifizieren zu können, und Michael Rutschky bescheinigt dem Buch, dass ihm der Zweite Weltkrieg zur „Freakshow“ gerate. Thomas Steinfeld, Literaturchef der Süddeutschen Zeitung, wiederum kennzeichnete das Buch wie folgt: Es ist „kein Roman und kein Sachbuch: Es ist die Geschichte der ersten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs in Gestalt einer subjektiven Chronik mit hohem Anspruch auf Wahrhaftigkeit“ (Steinfeld 2008, S. 13). Baker beschränkt sich in seiner Studie auf den relativ kurzen Zeitraum von 1939 bis 1941: Ende des Jahres 1941 – die ersten Konzentrationslager existieren und die USA treten in den Krieg ein – scheint ihm ein Stadium der Brutalisierung erreicht, das gleichsam das „Ende der Zivilisation“ (Baker 2008) markiert. Ihn interessiert also weniger eine möglichst vollständige Rekonstruktion der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, stattdessen wendet er sich der verhängnisvollen Logik der Eskalation zu. Er sucht mithin jene Dynamiken freizulegen, die eine historisch völlig neuartige Enthemmung der Gewalt bewirkten und an deren Ende der systematisch betriebene Mord an Millionen von Juden, von Sinti und Roma, Homosexuellen, Kommunist / innen und politischen Widerstandskämpfer / innen stand. Zu diesem Zweck hatte er historische Archive durchforstet, Augenzeugenberichte und wissenschaftliche Studien gelesen, Tagebücher und Denkschriften konsultiert, Memoiren und öffentliche Bekanntmachungen studiert und, nicht zuletzt, die Berichterstattung renommierter Tageszeitungen geprüft. Er greift aus diesen ganz unterschiedlichen Dokumenten jeweils kleine Begebenheiten heraus, zitiert und rahmt sie auf sparsame Weise. Dabei verzichtet er weitgehend auf eine besondere literarische Aufbereitung. Scheinbar tritt er hinter das Material zurück, das er präsentiert: Im Stile eines Journalisten, der nach gründlicher Recherche nun Einblicke in sein Archiv gewährt, breitet er eine Vielzahl k leiner Fundstücke aus. Diese sind kaum einmal spektakulär und den Spezialist / innen für Zeit geschichte denn auch meist längst geläufig (vgl. Seibt 2009). Der besondere Reiz liegt vielmehr in dem literarischen Verfahren, das Baker hier zur Anwendung bringt: das Buch kennt keinerlei Gliederung, keine Kapiteleinteilung; es besteht aus hunderten kleiner Absätze, deren Umfang von wenigen Zeilen bis zu mehreren Seiten reicht, und die ganz unterschiedliche Personen aus Deutschland, England oder etwa China zu Wort kommen lassen: neben prominenten politischen Akteuren wie Adolf Hitler, Winston Churchill und Theodore Roosevelt begegnet man Literaten wie Victor Klemperer und
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
199
hristopher Isherwood. Aber auch namenlose deutsche Kriegsgefangene, amerikanische C Frauenrechtlerinnen und japanische Journalisten werden zitiert. Es entsteht auf diese Weise ein komplexes, uneindeutiges textuelles Gewebe, das keine Zentralperspektive kennt, keinen auktorialen Erzähler, allenfalls unterschiedliche Zonen der Intensität. Es ist zwar ganz fraglos Baker selbst, der diesen Text arrangiert hat, aber er verschwindet doch hinter dem ausgebreiteten Material. Im Unterschied zu Alexander Kluges „Kanzleideutsch“ verleiht er seinem Text jedoch dadurch einen gewissen Rhythmus, dass er präzise das Datum verzeichnet und dies meist mit der an das Märchen gemahnenden Formel „Es war …“ verknüpft. Der Effekt dieser Form der Aufbereitung des historischen Materials besteht darin, dass sich plötzlich Lücken auftun. Präsentiert werden einzelne, mikrologische Ereignisse, die in ihrer isolierten Schilderung ganz unterschiedliche Rahmungen zulassen. Der Zeitraum zwischen 1939 und 1941 wird also gerade nicht als eine historische Phase geschildert, in der eine unheilvolle Entwicklung ihren Lauf nimmt: Vielmehr konstituiert er sich über eine Vielzahl kaum zu überblickender historischer Ereignisse, die erst durch eine ganz spezi fische Verkettung eine unheilvolle Dynamik freisetzen. Baker trennt also die Kausalketten auf, mit denen viele historische Darstellungen arbeiten; er interessiert sich stattdessen für die Zwischenräume. Er erinnert mit seiner akribischen Aneinanderreihung kleiner Szenen an die unendlich vielen Wegegabelungen, die schließlich dazu führten, dass es zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam. Auf diese Weise führt er wieder menschliche Akteure ein: Er schildert sie eben nicht als Medien einer unheilvollen Geschichte, die sich mit dem ehernen Gesetz der Notwendigkeit vollzieht. Auf sehr erhellende Weise hat Gustav Seibt die Eigenart dieser Form der Geschichtsschreibung beschrieben. Er kontrastiert Bakers Verfahren mit jenem Walter Kempowskis, das dieser in seinen Echolot-Büchern verwandte. Der kleine Unterschied dieser beiden Collage-Künstler ist freilich jener ums große Ganze: Während Baker streng diachron verfährt, arbeitet Kempowski synchron. Treffend hält Seibt die unterschiedlichen Effekte der beiden narrativen Verfahren fest: „Wo bei Kempowski der Eindruck überwältigender tragischer Notwendigkeit steht – der eines Mahlstroms –, konstruiert Baker eine Zeitreihe, die jeden Moment offen erscheint, ja den Sprung hinaus erlauben könnte. In jedem Augenblick könnten die Handelnden, so suggeriert es diese Zeitform, das Schicksal wenden, sich besinnen und das Unheil verlassen. Der Strahl der Erlösung ist immer bereit. Bakers Springen und Hüpfen von Moment zu Moment im Ablauf der tickenden Weltuhr kennt keine Notwendigkeit über das bloße Voranschreiten der Zeit hinaus.“ (Seibt 2009, S. 14)
Methodische Konsequenzen und wissenschaftspolitische Überlegungen Interpretiert man Wissenschaft nun als ein agonal verfasstes soziales Feld, das seine charakteristische Struktur nicht zuletzt den Kämpfen um symbolisches Kapital – also um Anerkennung, Einfluss und Wertschätzung – verdankt (vgl. Bourdieu 1998), und berücksichtigt man darüber hinaus, dass auch dessen Beziehungen zu den benachbarten sozialen Feldern von
200
Bildung an ihren Grenzen
Konkurrenzverhältnissen geprägt sind (vgl. Honegger 2007), erschließt sich sofort, dass auch die Praktiken der Disziplingeschichtsschreibung weder „Neutralität“ noch „Objektivität“ für sich reklamieren können. Auch sie sind verstrickt in die Auseinandersetzungen um die „Ordnung des Diskurses“ (Foucault 1991). Die hegemonialen Kämpfe um das, was als „vernünftig“, als „wahrheitsfähig“, als „legitim“ und wissenschaftlich „plausibel“ gilt, was A nspruch auf „Gehör“ und auf „Förderung“ erheben kann, was als „valide“, „belastbar“ und „publikationswürdig“ gilt, werden auch auf dem Feld der Erinnerung ausgetragen. Und so ist stets zu fragen, wer die Geschichte der Disziplin erzählt, wie sie „punktiert“ wird – was also als Anfangspunkt gilt, was als (vermeintlicher) Höhepunkt oder als (angebliche) Phase des Niedergangs –, was als erwähnenswert gilt (und was nicht). Es gilt zu fragen, wie dies geschieht, welche Interessen dabei berührt werden (und welche nicht). Und es gilt das Augenmerk auf die narrativen Verfahren zu richten, die dabei zum Einsatz kommen, wie jene die Ereignisse rahmen, darstellen und kommentieren (vgl. Wigger 1995).3 Notwendig scheint mir dies, weil der Status quo eben nicht einfach den aktuellen „Stand des Wissens“ abbildet. Die Organisation der Disziplin ist daher nicht allein – und womöglich nicht einmal in erster Linie – deren „kognitivem Profil“ (und einer Logik der Sache) geschuldet (vgl. Fleck 2011; Arnold 2004). Wie die Ressourcen und die Aufmerksamkeiten verteilt sind, wie die unterschiedlichen Interessengruppen in Verlagen und Publikationsorganen, bei Stiftungen und privaten Förderern repräsentiert sind, wie die Fachgesellschaft organisiert ist – all dies ist das Ergebnis einer Verkettung historischer und kontingenter Ereignisse, die keiner schlichten Entwicklungslogik geschuldet ist. Die Struktur der Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum muss daher eben auch als das Ergebnis sozialer Praktiken der Grenzziehung (vgl. Gieryn 1999; Beer / König 2009) sowie heftiger Verteilungskämpfe gelten, die mit den benachbarten Disziplinen ausgetragen (vgl. RiegerLadich 2007), die aber auch intern geführt wurden – und zudem als Effekt einer Überlagerung nationaler Wissenschaftskulturen, lokaler Besonderheiten und feldübergreifender Koalitionsbildungen. Die Arbeiten von Alexander Kluge und Nicholson Baker könnten nun als Stimulanz w irken, innerhalb der Disziplingeschichtsschreibung eine gewisse Reflexivität einzuüben. In der Folge müssten die Praktiken und die narrativen Verfahren, die hier zum Einsatz kommen, daraufhin befragt werden, welche Effekte sie erzeugen, wie sie das Gelände kartieren und welche Formen der Sinnstiftung sie betreiben. Intellektuell reizvoll und die wissenschaftliche Selbstbeobachtung stimulierend sind disziplingeschichtliche Studien folglich insbesondere dann, wenn sie nicht länger mit Blick auf „Legitimationserwerb und Identitätsstärkung“ (Lepenies 1978, S. 449) betrieben werden, sondern die vertrauten Fortschrittsgeschichten durchkreuzen und die Perspektiven vervielfältigen, wenn sie neue, bislang übersehene oder vernachlässigte Akteure identifizieren und die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse, innerhalb derer sich wissenschaftliche Disziplinen konstituieren und fortwährend transformieren, erhellen. Sie müssten also nicht allein für die Phänomene der Kontingenz sensibilisieren, sondern auch an die zahllosen Weggabelungen erinnern, das Gedächtnis schärfen für versäumte Chancen der Theorieentwicklung, für Pfade, die eben nicht erkundet wurden, und für verpasste Gelegenheiten. Es ist durchaus nicht so, dass
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
201
hierzu keine Studien vorliegen; es scheint allerdings, dass sie derzeit weder sonderlich hoch im Kurs stehen, noch besonders kultiviert würden. Als ein Beispiel für eine solch widerständige Praxis sei an dieser Stelle an die Gründungsphase der Kommission Wissenschaftsforschung erinnert. Nachdem es 1977 an der Universität Tübingen zu einem DFG-geförderten Kolloquium zur Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik gekommen war, konstituierte sie sich nur ein Jahr darauf im Rahmen des DGfEKongresses „Die Handlungsrelevanz erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse“ als „Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaftsforschung (AfW)“. Ulrich Herrmann, der zu den Initiatoren zählte, hielt schon in einem der ersten Papiere fest, dass es „nicht um die antiquarische Pflege der Tradition“ gehen könne (Hermann 1989, S. 14). Und Jürgen Oelkers, der sich in diesem Kontext ebenfalls engagierte, präsentierte dabei das „Ende des Herbar tianismus“ als eine Fallgeschichte, in der er ein bemerkenswert „kriegerisches Vokabular“ bemühte: Er sprach seinerzeit von „Abwehrkämpfen“ und „Verteidigungsstrategien“, identifizierte eine „Doppelzange“ und einen veritablen „Theorieputsch“ (vgl. Oelkers 1989). Schließlich wies Heinz-Elmar Tenorth, um hier einen dritten Akteur zu nennen, schon damals auf versäumte Chancen hin und erinnerte an die Rezeption der empirischen Erziehungswissenschaft um die (vorletzte) Jahrhundertwende (vgl. Tenorth 1989; Schäfer 1990). An solche Praktiken der Disziplingeschichtsschreibung ließe sich künftig anknüpfen, wenn es darum geht, die Geschichte unserer Disziplin zu rekonstruieren und die ausgetretenen Pfade der Disziplingeschichtsschreibung zu verlassen, indem die Perspektiven vervielfältigt, der Blick für die Kontexte geschärft und die Phänomene der Kontingenz nicht länger geleugnet werden. Ich nenne zum Schluss nur drei Beispiele, um mein Anliegen zu verdeutlichen. Wer würde behaupten, dass das Spektrum der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften, das von den Hessischen Blättern für Volksbildung und dem Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft über die Pädagogische Korrespondenz und Terticum comparationis bis hin zur Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik und Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation reicht, allein eine Sachlogik abbildet, dass hier allein der argumentative Wettstreit ausgetragen wird? Wer würde ernsthaft behaupten, dass die Organisation unserer Fachgesellschaft – also die Gliederung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) – in ihrer Vielzahl von Sektionen und Kommissionen – ausschließlich einer höheren Vernunft geschuldet sei? Dies ist freilich durchaus kein „deutscher Sonderweg“. Denn dieselbe Frage ließe sich selbstverständlich auch an den europäischen Dachverband der erziehungswissenschaftlichen Fachgesellschaften – die European Educational Reserach Association (EERA) – richten: Auch dieser könnte fraglos ganz anders organisiert werden. Ersichtlich folgt die Binnengliederung der EERA, die über zahlreiche „Networks“ organisiert ist, einer ganz anderen Logik als die DGfE und erzeugt bzw. kommuniziert Erkenntnis auf andere Weise. Die jeweiligen Entscheidungen – sei es nun auf der Ebene der Publikationsorgane, der DGfE oder der EERA – mögen durchaus nicht frei sein von einer sachlichen Logik; aber eine nüchterne Betrachtung legt doch eher nahe, hier auch noch mit den Effekten ganz anderer Logiken und Kräfteverhältnisse zu rechnen. Und
202
Bildung an ihren Grenzen
eben auch mit einer Verkettung hoch kontingenter Ereignisse. Diese aufzuklären, wäre eine interessante Herausforderung für künftige machtkritische und hegemonietheoretisch informierte disziplingeschichtliche Studien.
Literatur Arnold, M. (2004): Disziplin & Initiation. Die kulturellen Praktiken der Wissenschaft. In: M. Arnold / R . Fischer (Hrsg.): Disziplinierungen. Kulturen der Wissenschaften im Vergleich. Wien: Turia + Kant, S. 18–52. Baker, N. (1998): Vox. Reinbek: Rowohlt. Baker, N. (2000): Rolltreppe oder die Herkunft der Dinge. Reinbek: Rowohlt. Baker, N. (2005): Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen. Reinbek: Rowohlt. Baker, N. (2008): Menschenrauch: Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. Reinbek: Rowohlt. Baker, N. (2010): Der Anthologist. München: Beck. Baker, N. (2012): Haus der Löcher. Reinbek: Rowohlt. Beer, B. / Koenig, M. (2009): Grenzziehungen im System wissenschaftlicher Disziplinen – der Fall der „Kulturwissenschaft(en)“. In: Sociologia Internationalis 47 / 1, S. 3 –38. Bourdieu, P. (1998): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK. Celikates, R. (2009): Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt u. a.: Campus. Döblin, A. (2002): Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München: dtv. Englund, P. (2009): Stridens skönhet och sorg. Första världskriget i 222 korta kapitel. Stockholm: Atlantis. Enzensberger, H. M. (2009): Hammerstein oder Der Eigensinn. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Fleck, L. (2011): Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. S. Werner / C . Zittel (Hrsg) Berlin: Suhrkamp. Flusser, V. (1994): Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt / Main: Fischer. Foucault, M. (1991): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt / Main: Fischer. Gieryn, T. F. (1999): Cultural Boundaries of Science. Credibility on the Line. Chicago u. a.: The University of Chicago Press. Habermas, J. (1988): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1989): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1997): Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Lessing-Preis für Alexander Kluge. In: Ders.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays. Frankfurt / Main: Suhrkamp, S. 136–149. Herrmann, U. (1989): Die „Kommission Wissenschaftsforschung“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Gründung, Entwicklung, Perspektiven. In: P. Zedler / E . König (Hrsg.): Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte. Fallstudien, Ansätze, Perspektiven. Weinheim: Beltz, S. 1–19.
Konjunktiv Plusquamperfekt – Alexander Kluge und Nicholson Baker
203
Honegger, C. (2007): Konkurrenzverhältnisse: Disziplinen, wissenschaftliche Felder, epistemische Kulturen. In: C. Honegger / H.-U. Jost / S. Burren / P. Jurt (Hrsg.): Konkurrierende Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. Zürich: Seismo, S. 19–41. Horkheimer, M. / A dorno, T. W. (1991): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt / Main: Fischer. Horn, K.-P. (2008): Disziplingeschichte. In: G. Mertens / W. Böhm / U. Frost / V. L adenthin (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. Band 1: Grundlagen Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, S. 5 –31. Jäger, L. (2009): Nachrichten aus dem Pandämonium. Eine Collage von Stimmen als literarisches Ereignis: Nicholson Baker glaubt nicht an Bomberpiloten als Helden und lässt den Zweiten Weltkrieg aus leisen Vorzeichen entstehen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 62, Literatur, 14. März, S. Z5.4 Kluge, A. (1987): Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit. Berlin: Wagenbach. Kluge, A. (2000): Die Chronik der Gefühle. 2 Bände. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Kluge, A. (2001): Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin: Merve. Koselleck, R. (1995): Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt / Main: Suhrkamp, S. 38–65. Koselleck, R. (2010): Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Kühn, D. (2010): Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Lepenies, W. (1978): Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 4, S. 437–451. Luhmann, N. (1992): Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Beobachtungen der Moderne. Maak, N. (2009): Der Architekt am Strand. Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke. München: Hanser. Mulisch, H. (2001): Siegfried. Eine schwarze Idylle. München: Hanser. Musil, R. (1990): Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt. Oelkers, J. (1989): Das Ende des Herbartianismus. Überlegungen zu einem Fallbeispiel der pädagogischen Wissenschaftsgeschichte. In: P. Zedler / E . König (Hrsg.): Rekonstruktionen pädago gischer Wissenschaftsgeschichte. Weinheim: Beltz, S. 77–116. Raulff, U. (2009): Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München: Beck. Rieger-Ladich, M. (2007): Akzeptanzkrisen und Anerkennungsdefizite: Die Erziehungswissenschaft als subalterne Disziplin? In: N. R icken (Hrsg.): Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialen – Perspektiven. Wiesbaden: VS, S. 159–182. Rieger-Ladich, M. (2010): Gedächtnis der Kämpfe. Neue Impulse für die Disziplingeschichtsschreibung. In: C. Dietrich / H.-R. Müller (Hrsg.): Die Aufgabe der Erinnerung in der Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 227–243. Rieger-Ladich, M. (2014a): „Gegen-Schicksalsgeschichten“ erzählen. Konturen einer Politischen Ästhetik nach Jacques Rancière und Alexander Kluge. In: R. C asale / H.-Ch. Koller / N. R icken (Hrsg.): Das Pädagogische und das Politische. Paderborn: Schöningh. Rieger-Ladich, M. (2014b): Erziehungswissenschaft als Kritische Theorie? Intellektuelle Stellungskämpfe nach 1945. In: J. Oelkers / R . Fatke (Hrsg.): Die Erziehungswissenschaft und ihr Selbstverständnis heute. 60. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim, S. 67–85.
204
Bildung an ihren Grenzen
Rutschky, M. (2009): Der Pazifist als zorniger Gott. In Nicholson Bakers Buch „Menschenrauch“ wird der Zweite Weltkrieg zur Freakshow: Frankfurter Rundschau 70, Feuilleton, 24. März, S. 35.5 Schäfer, A. (1990): Kritische Pädagogik – Vom paradigmatischen Scheitern eines Paradigmas. In: D. Hoffmann (Hrsg.): Bilanz der Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft. Leistungen, Defizite, Grenzen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 111–125. Schmidt, C. (2012): Die Kritische Theorie der Frankfurter Tradition als Projekt. In: Philosophische Rundschau 59, S. 50–77. Schulte, C. / Siebers, W. (Hrsg.)(2002): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Seesslen, G. (2002): Interview / Technik oder Archäologie des zukünftigen Wissens. Anmerkungen zu den TV-Interviews Alexander Kluges. In: C. Schulte / W. Siebers (Hrsg.): Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Frankfurt / Main: Suhrkamp, S. 128–137. Seibt, G. (2009): Menschen mögen Krieg. Nicholson Baker rekonstruiert in „Menschenrauch“ die Geschichte vom Untergang der Zivilisation im Zweiten Weltkrieg auf kontroverse Weise. In: Süddeutsche Zeitung 51, Literatur, Dienstag, 3. März, S. 14.6 Stanitzek, G. (1998): Autorität im Hypertext: „Der Kommentar ist die Grundform der Texte“ (Alexander Kluge). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23, Heft 2, S. 1–48. Steinfeld, T. (2008): Der Krieg und das Händewringen. Ein Bestseller empört die Kritik: Nicholson Bakers „Human Smoke“. In: Süddeutsche Zeitung 71, Feuilleton, 26. März, S. 13 Tenorth, H.-E. (1989): Versäumte Chancen. Zur Rezeption und Gestalt der empirischen Erziehungswissenschaft der Jahrhundertwende. In: P. Zedler / E . König (Hrsg.): Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte. Fallstudien, Ansätze, Perspektiven. Weinheim: Beltz, S. 317– 343. Tenorth, H.-E. (2004): Erziehungswissenschaft. In: B. Dietrich / J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim: Beltz, S. 342–382. Tröhler, D. (2001): Pädagogische Historiographie und Kontext. In: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 7, Heft 1, S. 26–34. Tröhler, D. (2005): Geschichte und Sprache der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 51, Heft 2, S. 218–235 Vogt, P. (2011): Kontingenz und Zufall. Eine Idee- und Begriffsgeschichte. Mit einem Vorwort von Hans Joas. Berlin: Akademie. Wigger, L. (1983): Handlungstheorie und Pädagogik. Eine systematisch-kritische Analyse des Handlungsbegriffs als pädagogische Grundkategorie. Sankt Augustin: Richarz. Wigger, L. (1995): Zur Theorie pädagogischen Argumentierens. Habilitationsschrift. Universität Bielefeld, Fakultät für Pädagogik.
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung von Jörg Ruhloff
1.
Anknüpfung Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
In seiner erweiterten Bielefelder Antrittsvorlesung zu der Frage, wie „Systematische Pädagogik heute möglich“ sei, brach Lothar Wigger eine Lanze für die Vergewisserung über den „Common Sense der Disziplin“ (Wigger 2004, S. 302). Er tat das nicht, um eine „triviale Dogmatik“ zu etablieren oder gar deren „verpflichtende Fortschreibung“ anzuraten und die „Geltungsfrage“ zu „suspendieren“ (ebd.). Stattdessen unterstrich er, dass am „Beweis- bzw. Geltungsproblem als dem zentralen Merkmal von Wissenschaftlichkeit“ (ebd.) festzuhalten sei. Die Empfehlung, auf den Common Sense der Erziehungswissenschaft zu rekurrieren, der in den von ihm untersuchten erziehungswissenschaftlichen Einführungsschriften „versteckt [ist] unter dem Angebot unterschiedlicher Mixturen konventioneller Rezeptionen und individueller Selektionen“ (ebd., S. 301), beruft sich auf eine andere Argumentation. Die Überlegung geht dahin, dass über positionale wissenschaftliche Differenzen hinweg in der akademischen „Ausbildung für pädagogische Professionen“ die „Pflicht und Notwendigkeit“ besteht, „einen Überblick zu geben über die Disziplin, ihr allgemeines Wissen und ihre theoretischen und methodischen Grundlagen“ (ebd., S. 303). Dafür sei die Beziehung auf den Common Sense bedeutsam. Der „disziplinäre Common Sense in den Bestimmungen der Grundbegriffe und der Strukturtheorie“ (ebd.), den Lothar Wigger ausfindig gemacht hat, ist angesichts der vielfachen Klage über das pluralistische Auseinanderdriften der Erziehungswissenschaft in der Tat ziemlich verblüffend. Er wird von Wigger nun aber keineswegs als ein harmloser Ausgangsboden für die Lehre der Erziehungswissenschaft nahegelegt oder gar für die sachliche Grundlage einer zeitgemäßen Systematischen Pädagogik ausgegeben. Wohl hingegen sei er geeignet, als eine der Referenzen für die Lehre Systematischer Pädagogik zu dienen. Angeführt werden insgesamt vier Referenzen, von denen für das Folgende außer derjenigen auf die „Geltungsfrage“ nur noch eine besonders interessieren wird. Lothar Wigger bezeichnet sie als „Rückgriff auf Lehrstücke der Tradition oder vernachlässigte Konkurrenzpädagogiken“, welche „die Alternativen verdeutlichen“ (ebd.) könnten. Den Impuls aus diesem Gedankengang annehmend, könnte eine Einführung in das pä
206
Bildung an ihren Grenzen
dagogische Denken und in die Allgemeine Erziehungswissenschaft andere Gangarten wählen als den häufig an den Anfang gestellten Durchmarsch durch Grundbegriffe. Begriffe an den Anfang von Lehre zu stellen, sie vielleicht überdies mit Definitionen zu imprägnieren, so dass keine Frage hineintropfen kann, und sie sodann, wie es in erziehungswissenschaftlichen Einführungsschriften geschieht, graphisch zu exponieren, das ist misslich und könnte eher vom Studieren zum Konsumieren hinführen. Erst im Zusammenhang mit Gedankenbewegungen beziehungsweise mit Theorien werden Begriffe als Abgrenzungen bestimmter Sachverhalte überhaupt verständlich. Da haben sie ihren Ort, lassen sich in ihrer Reichweite nachvollziehen und finden die Begründung ihres Gebrauchs in einem Gefüge einander wechselseitig fordernder und stützender Gesichtspunkte, deren Zusammenspiel etwas erklärt, deutet oder erläutert. Isoliert dagegen drohen Begriffe als Wort geklingel zu verhallen, als Gedächtnismüll zu verrotten oder als Prüfungsvorrat gehortet zu werden. Eine vorangestellte Exposition von Begriffen, wie sie vermutlich einmal aus der vermeintlichen Vorbildlichkeit mathematisch-axiomatischen Vorgehens entsprungen ist und danach zu einem unbedacht immer wieder nachgeahmten Stützgerippe verkalkte, provoziert allzu leicht einen Vorgriff und Zugriff auf repetierbaren Prüfungskenntnisvorrat. Von Wissen sollte dafür nicht die Rede sein, weil zum Wissen die Fähigkeit zur herleitenden Analyse sowie zur Synthese der einander fordernden Gesichtspunkte zur Erkenntnis eines Sachverhalts gehört. Die Aufmerksamkeit auf herausgelöste Grundbegriffe zu lenken, beispielsweise durch deren definitorische oder definitionsähnliche Präsentation, blockiert Nachdenklichkeit und Bemühungen um eine selbständige Durchdringung der Themen. Das verdirbt ein Studium von Anfang an, mag diese Bankiersdidaktik auch den Erwerb von Portfolio-Erträgen und Kompetenzbescheinigungen beschleunigen und dem Selbstmanagement beim Bau potemkinscher Eigenheime dienen.
2.
Variation
An Lothar Wiggers Empfehlung knüpfe ich mit einer Variante an. In Absicht einer Einführung in das Studium von Allgemeiner oder Systematischer Pädagogik, möglicherweise aber auch generell in Pädagogik und Erziehungswissenschaft, kann gefragt werden: Welcher Konsens über Erziehung und Bildung wird wahrscheinlicher Weise die überwiegende Erwartungs- und Aufmerksamkeitsrichtung von Studienanfängerinnen und -anfängern bestimmen? Und welche Lehrstücke der pädagogischen Tradition könnten geeignet sein, den mitgebrachten Konsens zu erschüttern, um generell fähig zu werden, ungewohnte Gedanken und wissenschaftsspezifische Redeformen der Erziehungswissenschaft leidlich vorurteilslos wenigstens erst einmal überhaupt wahrzunehmen, ohne ihnen deswegen bereits zuzustimmen. So an eine Einführung in die Allgemeine Pädagogik heranzugehen, unterstellt, dass Anfängerinnen und Anfänger in die von ihnen gewählten Studiengänge nicht als unbeschriebene Blätter eintreten. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn kein entsprechendes Schulfach vorausging, was im Übrigen nicht unbedingt von Vorteil sein muss, sondern auch zu einer Verhärtung von Vorurteilsstrukturen beigetragen haben kann, wie
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
207
Erfahrungen mit Studierenden nahelegen, die schulische Grund- oder Leistungskurse in Erziehungswissenschaft absolviert haben und ihr Studium mit einer profilierten Wahrnehmungsdogmatik beginnen. Der überwiegende und von einer tief dringenden Reflexion noch gar nicht oder kaum angetastete pädagogische Konsens beim Studienbeginn von Erziehungswissenschaft dürfte am ehesten in dem Vorurteilshorizont zu finden sein, der alltäglich umläuft und der unter anderem fortlaufend gespeist wird mit medialen Darstellungen von Erziehung, Bildung, Ausbildung, Schule, Unterricht, Lehre und Lernen bzw. von Meinungen und angeb lichen Expertisen darüber. Heute wird in diesem Sinne dann beispielsweise mit Selbstverständlichkeitsüberzeugung der Gemeinplatz bejaht, dass Kinder Grenzen brauchen, oder die Dummheit, dass uns die Hirnforschung bereits Auskunft gegeben habe über das, was wir pädagogisch wissen sollten, und dass sie uns in Zukunft noch genauer darüber aufklären wird, was wir heute noch nicht wissen. Verstärkt sein werden derartige Vormeinungen vermutlich durch je eigene Erfahrungen von Erziehungspraktiken und Sozialisationserfahrungen. Dazu gehört heute zum Beispiel die verbreitete Erfahrung, dass in pädagogischen Gesprächssituationen annähernd beliebige Äußerungen zu Sachverhalten, falls das nicht gerade mathematische und naturwissenschaftliche Sachverhalte sind, zur Disposition von ,Diskussion‘ stehen, und dass dazu nichts weiter mitgebracht zu werden braucht als Beteiligungsbereitschaft. So wird denn im Seminargespräch freigiebig ein entblößendes denke ich wie ein Argument ausgestülpt, während der gedankenlose Redefluss dahinrauscht und Anerkennung erheischt. Eine erziehungswissenschaftliche Vorurteilsforschung, speziell eine gegenwartsnahe Erforschung gängiger erziehungs- und bildungsthematischer Meinungen und habitueller Einstellungen, könnte den teils trägen, teils raschen Wandel des Vorurteilshorizonts mitsamt den zugehörigen Haltungen auch fortlaufend systematisch zu erheben versuchen, anstatt ihn nur punktuell und bei relativ zufälliger Gelegenheit im Rahmen anderer Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu registrieren. Diese Spur werde ich hier jedoch nicht weiter verfolgen. Stattdessen möchte ich an einem berühmten pädagogischen Lehrstück unserer Tradition verdeutlichen, dass und inwiefern es geeignet sein kann, vermutlich verbreitete Vormeinungen und Erwartungen zu erschüttern, die heute in das professionsbezogene Studium von Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft mitgebracht werden. Bei insgesamt schwindendem geschichtlichen Wissen und einer zunehmenden Neigung zur Abschottung auch erziehungswissenschaftlicher Experten gegen „das All gemeine“ (Wigger) und gegen eine Einlassung auf Grundfragen, können dieselben oder ähnliche Vormeinungen und Unbeirrtheiten auch im Überzeugungshorizont mancher Kolleginnen und Kollegen angetroffen werden. Das Lehrstück, das herangezogen wird, um Kontraste, Alternativen und Vorurteile zur Sprache zu bringen in Beziehung auf das, worauf in Pädagogik und Erziehungswissenschaft das Fragen allgemein und von Anfang an auszurichten sei, ist das Höhlengleichnis. Sein Ort ist das siebte Buch von Platons Schrift über das Politische oder das Staatswesen, Politeia, zumeist irreführend übersetzt als Der Staat. Die betreffende Passage kann dann zu einer allgemeinpädagogischen Einführung taugen, wenn das Gleichnis einmal nicht nur historisch gelesen und gegen sachsystematische Geltungsfragen immunisiert wird. Der Inhalt
208
Bildung an ihren Grenzen
des Höhlengleichnisses darf als bekannt vorausgesetzt werden. Er wird hier nur in den Hauptzügen in Erinnerung gerufen, um ihn für die nachfolgenden Erwägungen präsent zu haben. Platon führt das Gleichnis mit der erklärten Absicht ein, den Unterschied zwischen Bildung und Erziehung (paideia) einerseits sowie Unbildung und Unerzogenheit (apaideusia) andererseits zu erläutern.1 Das Gleichnis soll mithin dazu dienen, die Aufgabenstellung von Erziehung und Bildung zu klären. In dieser Absicht ermuntert Platon seine Leser dazu, sich Folgendes vorzustellen: Menschen befinden sich von Kindheit an in einer höhlenartigen Behausung, die über einen steilen Aufweg weit oben eine Öffnung ins Freie hat. Die Höhlenbewohner – beiläufig wird eingestreut, sie seien „uns ähnlich“, – sind sitzend gefesselt, und zwar derart, dass sie nur geradeaus schauen können. Die Gefesselten können aber miteinander sprechen, und sie nehmen auch etwas wahr, worüber sie zu reden haben. In ihrem Gesichtsfeld erscheinen nämlich figürliche Schatten auf der Wand am Ende der Höhle vor ihnen. Die Schattenrisse sind deutlich unterschieden. Sie erscheinen in einer wiederholten, offenbar aber ziemlich variantenreichen Abfolge, so dass die Gefesselten sogar miteinander wetteifern können, wer die Reihenfolge wiederkehrender Schattenserien richtig erfasst hat und zutreffend vorauszusagen versteht. Gleichzeitig hören die Gefangenen das Echo von Stimmen, die sie den Schatten zuordnen. Echo und Schatten rühren her von einem Geschehen im Rücken der Gefesselten. Da werden hinter einer niedrigen Mauer von anderen Menschen, die miteinander sprechen, die aber nicht über die Mauer hinaus ragen, Skulpturen von Menschen und anderen Lebewesen sowie Geräte von vielerlei Formen getragen. Deren Schatten sind es, die von einem dahinter brennenden Feuer auf die Wand vor den Gefesselten projiziert werden. Aus dem gefangenen Anfangszustand ist eine Befreiung möglich. Je einzeln kann jemand von seinen Fesseln entbunden, zum Aufstehen und zur Umwendung gegen das Licht des Feuers genötigt werden. Wer entfesselt und umgewendet ist, kann unter Schmerzen und gegen Widerstand mit einiger Mühe zunächst zu den Schatten verursachenden Vorgängen und danach ins Freie gezogen beziehungsweise geführt werden. Dort ist das Welt geschehen ungeschmälert und bei vollem Licht zu sehen. Nach langer Gewöhnung und Einübung kann der Blick endlich sogar, obzwar nur für kurze Momente, auf die Sonne selbst gerichtet werden und nicht nur auf deren Abbilder als Spiegelungen im Wasser. Der Anblick der Sonne befähigt dazu, in eine zusammenbringende Überlegung einzutreten und die Sonne als den Grund aller sichtbaren räumlichen und aller erfahrbaren zeitlichen Ordnung, damit auch allen Lebens, zu erkennen. Wenn nun jemand von dieser Einsicht aus zurückdenkt und sich daran erinnert, was im anfänglichen Wahrnehmungshorizont der Gefesselten als Weisheit anerkannt und mit Lob und Ehre bedacht wurde, dann dürfte er oder sie sich glücklich preisen. Sie oder er würde die Gefangenen bedauern und lieber als Tagelöhner das Dasein fristen als in die alte Lebensform zurückzukehren. Käme es jedoch dahin, dass jemand wieder in die Höhle hinabstiege, um sich noch einmal am Wettkampf um die beste Schattenwahrnehmung zu beteiligen, so würde er oder sie wegen der Umstellung vom Sonnenlicht auf die schummerige Höhlenbeleuchtung im Wettkampf zunächst nicht mithalten können. Erzählungen von
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
209
e inem Höhlenaußerhalb erschienen den Gefangenen als unglaubwürdig und lächerlich. Jeden, der sie von den Fesseln lösen und hinaufbringen möchte, würden sie darum am liebsten umbringen, da es für sie evident ist, dass verdorbene Augen bekommt, wer aus der vertrauten Position gelöst und wohin auch immer geführt wurde. Vor weiterführenden Überlegungen sei an dieser Stelle eine Bemerkung zu Platons Veranschaulichung der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse eingeschoben. Die anschau liche Schilderung der Höhlenverhältnisse regt häufig zu piktografischen Erläuterungen des Höhlengleichnisses an. Platon hat darauf verzichtet und zwar vielleicht in voller Absicht. Möglich gewesen wäre eine Skizze auch auf einer Buchrolle. Die Textüberlieferung schweigt über dergleichen, und andernorts nennt Platon Gründe dafür, warum eine zeichnerische Lageskizze oder etwas Ähnliches eher irreführend als klärend sein könnte. Platon bevorzugte die sprachliche Diskursivität und Logizität der Darstellung, weil sie der vernünftigen Einsicht in das Gemeinte näher zu kommen scheint als eine Piktografie. Das, worüber er wenigstens im Sinne einer Annäherung glaubt vernünftig sprechen zu können, kann nach anderen seiner Äußerungen sogar noch durch das Medium der Sprache nur unzulänglich zum Ausdruck gebracht werden. Der gedanklich-begriffliche Sinn kann streng genommen weder durch eine anschaulich sichtbare noch durch eine sprachlich symbolische Darstellung endgültig befriedigend eingefangen werden. So ist es sowohl noch dem siebten Buch von Platons Staatsschrift als auch dem inzwischen überwiegend für echt gehaltenen siebten Brief zu entnehmen. Für Deutungsversuche müsste daraus geschlossen werden, dass alle Interpretationen, die sich eng an eine (zutreffende) zeichnerische Darstellung des schriftlich Mitgeteilten anschließen, die sich also gewissermaßen piktografisch gängeln lassen, in Gefahr geraten, das Gleichnis zu verfehlen. Statt in einem gezeichneten Bild der Höhlenkonstellation nach Bedeutung zu graben, wird es für ein angemessenes Verständnis geradezu notwendig sein, sich von jeder möglichen piktoralen Darstellung, wie sie sich a llerdings zunächst aufdrängt, sobald wie möglich wieder zu lösen.
3.
Kontraste und Alternativen
Die vorurteilsartigen Meinungen und Einstellungen, gegen die Platons Gleichnis zum Grundproblem von Erziehung und Bildung kontrastiert, dürften am leichtesten zu ent decken sein, wenn einmal gefragt wird, wovon im Höhlengleichnis nicht die Rede ist: Da kann zuerst auf den Ansatz der pädagogischen Fragestellung Licht fallen und eingefahrene Erwartungshaltungen stören: "" Von Kindern ist nicht die Rede. Zwar setzen Erziehung und Bildung bei einem Zustand ein, der „von Kindheit an“ besteht. Aber weder sind Kindheit und Kindlichkeit von einem irgendwie exponierten pädagogischen Interesse noch ist es der Prozess des Groß- und Erwachsenwerdens. "" Die Aufmerksamkeit wird nicht auf so etwas wie die Funktionalität von Erziehung und Bildung für die Gesellschaftserhaltung gelenkt oder auf den Transport sogenannter kultureller Güter und Werte von der älteren zur jüngeren Generation.
210
Bildung an ihren Grenzen
"" Es wird nicht erkennbar an eine bereits bestehende Tradition pädagogischen Fragens angeknüpft. Erst im Nachgang, bei Platons eigener Auslegung des Gleichnisses, kommt zum Vorschein, dass das Gleichnis sehr wohl in eine bestimmte geschichtliche Situation hinein geschrieben wurde, und dass es von einer Alternative zu einer zeitgenössisch vorgefundenen und scharf zurückgewiesenen Konträrvorstellung von Lernen, Erziehung und Bildung überzeugen möchte. "" Irrelevant für Platons pädagogischen Ansatz im Höhlengleichnis bleiben auch irgendwelche anthropologischen Erwägungen, wie sie heute umlaufen und unter anderem im erziehungswissenschaftlichen oder im Biologie-Unterricht höherer Schulen verbreitet werden. Aus dergleichen hergeleitete Erziehungserfordernisse bleiben ohne Belang und müssten in ihrem Geltungsanspruch eingeklammert werden, falls Platons Gedankengang zur systematischen Deutung der Frage herangezogen wird, worum es in der Pädagogik geht. Weder wird beispielsweise auf angebliche anthropologisch verankerte Mängel angespielt, die einen Mängelkompensationsbedarf erzeugten und darum Er ziehung erforderlich machten, noch kommen als Alternativmodell nach einer heute sogenannten Abundanztheorie angebliche Triebüberschüsse der Menschengattung ins Spiel, die einen Regulierungsbedarf und darum die gattungsspezifische Ausbildung einer Erziehungsfunktion stimulierten, obwohl beide Modelle bereits formuliert waren, das Mängelkompositionsmodell besonders prägnant in Platons Dialog Prota goras. "" Auch andere gattungsbezogene Grundannahmen über die Beschaffenheit von Menschen, die sich heute leicht aufdrängen, bleiben für Platons Frageansatz im Höhlengleichnis ohne erkennbare Bedeutung. So scheint es für seine Frage nach Bildung und Unbildung unerheblich zu sein, ob oder dass Menschen ein biologisches, ein sozial zu geschriebenes Geschlecht oder beiderlei Geschlechtsarten nachzusagen sind. "" Nichts ist gesagt über gesellschaftliche Zugehörigkeiten. Familienherkunft, Sozialschichteinbettung, Klassenzugehörigkeit, Migrationshintergrund oder andere soziale Einteilungen und Etikettierungen, die eine gesellschaftliche Merkmalskohorte begründen mögen, bleiben für die Problemexposition unmaßgeblich. "" Auch ist nicht gleichsam ersatzweise für das Fehlen von direkten oder indirekten Hin weisen auf soziale Determinationen und Dispositionen von so etwas wie Individualität oder Personalität die Rede. Äußerungen, die die Aufmerksamkeit darauf lenken würden, kommen schlechterdings nicht vor, und entsprechende Deutungen verfehlen Platons Gedanken. Wird auf näherliegende Bedingungen für das mögliche Gelingen oder Misslingen von Erziehung und Bildung geachtet, so kann weiter verwundern: "" Die Höhlenbewohner nagen nicht am Hungertuch. Sie leiden offenbar keine Not und befinden sich in keiner ökonomischen Gefährdungslage. Dass sie gefesselt sind, erscheint insofern als ein völlig harmloser Zustand, der nicht als Belastung empfunden wird. Die Gefesselten klagen nicht darüber. Sie nehmen die Gefangenschaft überhaupt nicht als eine Besonderheit wahr, weil sie der Erzählung des Gleichnisses zufolge so weit in das frühe Lebensalter zurückreicht, dass sie ihnen wie natürlich vorkommt.
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
211
Noch verwunderlicher dürfte sein, dass aus dem gefesselten Höhlendasein heraus überhaupt kein Beweggrund für erzieherische Aktionen und für Bildungsbewegungen zu erkennen ist: "" Die Höhlenbewohner kennen und können nicht etwa nichts oder zu wenig Überlebenswichtiges, so dass sie aufgrund von Lebensqualitätsanalysen zu Qualifizierungsoffen siven veranlasst würden. Das Gleichnis hebt als bildungs- und erziehungstheoretischen Ansatzpunkt nicht heraus, dass etwa noch fehlende Kompetenzen zu modellieren und durch Erziehung zu etablieren wären, um das Überleben auf wohlbefindlichem Zivilisierungsniveau von Grund auf zu gewährleisten oder aufzubessern. "" Die „uns“ ähnlichen Gefangenen scheinen sich auf einem zu ihrer Gegenwartslage passenden durchschnittlichen intellektuellen Niveau zu befinden. Sie können sprechen, kombinieren, vergleichen. Sie können sogar Wahrscheinliches voraussagen und darüber miteinander debattieren. Alle angesprochenen und aus einem heutigen Vorurteilshorizont mehr oder weniger naheliegenden Konnotationen, mit denen Bildungs- und Erziehungsfragen zunächst verknüpft werden könnten, bleiben im Höhlengleichnis nicht darum außen vor, weil es für den griechisch-sprachigen Kulturraum vor zweieinhalbtausend Jahren überhaupt abwegig wäre, ähnliche Fragestellungen auch nur analogisch als denkbar in Betracht zu ziehen. Für die Mehrzahl der angedeuteten Kontraste und Alternativen trifft das nicht zu. Spurenelemente von Problemkonstellationen, die erst zu viel späterer geschichtlicher Stunde, erst in unserer Gegenwart virulent oder mit breiter sozialer Durchschlagskraft relevant wurden und ihnen entsprechende Fragestellungen sind in der antiken Pädagogik überreichlich zu entdecken. Als besonders prominentes Beispiel gehört dazu beispielsweise die Geschlechterthematik, zu der gerade Platon kühne Fragen aufgeworfen hat, die mit den in seiner sozialen Wirklichkeit gegebenen und versteinerten gesellschaftlichen Rangordnungsunterschieden im Geschlechterverhältnis radikal brachen. Platon begründet die ausnahmslose Gleichstellung der Geschlechter in Beziehung auf Erziehungs- und Bildungsanforderungen und -möglichkeiten sowie für die Ausübung von staatlichen Regierungsämtern. Die Seltsamkeit anderer seiner geschlechterbezogenen Reformvorstellungen, wie insbesondere das Gemeineigentum an Sexualpartnerinnen und die Anonymisierung der biologischen Herkunft der Kinder, brauchen deswegen nicht verschwiegen zu werden. Bemerkenswerter dürfte jedoch der Sachverhalt sein, dass Platon eine kompromisslos durchdachte Alternative zur Realität des herkömmlichen und für zwei Jahrtausende nahezu unangefochten aufrecht erhaltenen Geschlechterverhältnisses vorgetragen hat. Sogar auf seine eigenartigen geschlechter-kommunistischen Vorstellungen kann ein freundlicheres Licht fallen, wenn im Kontrast zu ihnen die Athener Lebenswirklichkeit mit ihrer heterosexuellen und Frauen verachtenden Libertinage vieler freigeborener Männer der klassischen Epoche beachtet wird.2 Das normalisierte Frauenschicksal beschreibt und bejaht insbesondere Xenophon in seinem noch in der italienischen Renaissance einflussreichen Oikonomikos, seiner kleinen Schrift über das Hauswesen. Danach bleiben frei geborene Frauen ihr Leben lang rechtlich unmündig. Sie werden im Alter von ungefähr 14 Jahren, aus überlegtem Kalkül noch in halbfertiger Verfassung, einem rund doppelt so alten Ehemann übergeben, der sie in der Leitung des
212
Bildung an ihren Grenzen
Hauswesens (des oikos) nach seinen Vorstellungen instruiert und dem sie jederzeit rechenschaftspflichtig bleiben.
4.
Zur Lehre Systematischer Pädagogik
Für andere der erwähnten und der unerwähnt gebliebenen Alternativen, für die es weniger offensichtlich ist, ob sie möglicherweise unter Gesichtspunkten historischer Realität und Wahrscheinlichkeit abwegig sind oder nicht, müsste jeweils geprüft werden, ob oder inwieweit sie mit Platons Ansatz systematisch kompatibel verbunden werden können. Das ist aber jetzt nicht die Argumentationsrichtung der weiteren Erörterung. Die Überlegung zielte darauf ab, Platons Abweichung gegenüber einem heutigen und vermutlich teilweise auch schon gegenüber einem damals zeitgenössischen alltäglichen, wenngleich nicht mit dem heutigen identischen Vorurteilshorizont in ihrer Befremdlichkeit hervortreten zu lassen. Das Bewusstwerden dieser Befremdlichkeit bei der akademischen Einführung von A nfängern der Systematischen (Allgemeinen) Pädagogik sollte diese zu einer Revision der unvermeidlichen Fehlausrichtungen oder Unzulänglichkeiten des zunächst mitgebrachten Aufmerksamkeitshabitus anregen. Damit allein ist es nicht getan. Eine erfolgreiche Irritation mitgebrachter Vormeinungen und vorurteilsartiger Einstellungen zur Sache der Pädagogik und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis sorgt nicht auch schon für positives Sachwissen. Ebenso wenig ist durch die Störung der Maßgeblichkeit von Vorwegeinstellungen bereits diejenige wissenschaftlich gebildete Haltung gewährleistet oder angebahnt, die das weitere Studium zu tragen vermag und nach dessen Abschluss die angestrebten Aufgaben und Tätigkeiten in einem akademischen Beruf dauerhaft grundieren kann. Die Irritation anfänglich mitgebrachter Vorurteile und die Zerstörung ihrer Glaubwürdigkeit können von sich her nicht verhindern, mehr oder weniger bald danach in andere als die anfangs mitgebrachten Vorurteilsgewebe zu geraten und sich darin zu verfangen. Das später erworbene Vorurteilsnetz könnte sogar stabiler geraten als das zum Studienanfang mitgebrachte, weil es durch Halteschlingen aus dem Abfall der universitären Wissenserzeugung verstärkt, befestigt, durch Prüfungen versiegelt und durch Zeugnisse anerkannt worden ist. Der Bruch mit anfänglichen Vorurteilen schließt mithin nicht schon aus, dass der nachfolgende Universitätsaufenthalt zu einer Akademisierung der Unbildung beiträgt. Auch ein begleitendes Training in Selbstmanagement während der universitären Eingangsphase kann da nicht weiterhelfen. Das maßgebliche Kriterium akademischer Lehre und eines durch Lehre geleiteten, nicht nur ,begleiteten‘ Studierens kann durch psycho logisch unterfütterte betriebswirtschaftliche Techniken zur autopoetischen Selbstkonstruktion weder ersetzt noch geschmeidiger gemacht werden. Die kriteriale Hauptanforderung an Lehre wird auch nicht durch die heute verbreiteten hochschuldidaktischen Prozeduren erfüllt. Die neuere, explizite Didaktisierung der akademischen Lehre mag zwar in wohlmeinenden philanthropischen und sozialen Absichten verwurzelt sein, obwohl auch das keineswegs gewiss ist; es könnte sich auch um gouvernementale Techniken han-
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
213
deln. Jedenfalls erscheinen die entsprechenden Absichten als schlecht durchdacht und eher in unhaltbaren Begründungen verankert (vgl. Gruschka 2002). Sie kommen auch den Studierenden sogenannter ,bildungsferner‘ sozialer Herkunft keineswegs zugute. Vielmehr schadet eine an deren Ohren gleichsam didaktisch angepasste Lehre gerade den sozial Benachteiligten in höherem Grade als den durch ihre soziale Herkunft begünstigten Studentinnen und Studenten. Der Schaden wird darum vergrößert, weil diese Studierenden zusätzlich zu ihrem misslichen soziokulturellen Herkunftsschicksal nun auch noch mit der narkotisch wirkenden Illusion von Chancengleichheit umnachtet werden.3 Das ist hinreichend lange bekannt, theoretisch überzeugend begründet und empirisch solide bekräftigt worden. Heute scheinen einige geneigt zu sein, nach dem Anschluss an eine Irritation von Vorurteilshorizonten bei Studienbeginn alles Weitere einem unwissenden Lehrmeister anzuvertrauen. Eine derartige Imagination mag verlockend sein (vgl. Rancière 2009).4 Sie bringt aber den Nachteil mit, dass unwissende Lehrer schlechterdings auch nichts mitzuteilen haben. Wirkliche Lehrende wissen etwas, und sie vermögen auch, in ein Wissen einzuführen. Das gehört bereits zur Logik des Sprachspiels Lehre. Damit wird aber wiederum nicht ausgeschlossen, dass eine lehrende Wissensübermittlung ihrerseits noch einmal in ein Bewusstsein des Nichtwissens, also in ein Bewusstsein der Problematizität und der Vor läufigkeit von Wahrheitsansprüchen einbehalten bleibt. Dazu folgen einige abschließende Bemerkungen. Infolge einer vorwiegend elenktischen, Vorurteile entdeckenden und diese zersetzenden Studieneingangsphase müssten Studienanfängerinnen und -anfänger fähig geworden sein, Lehren überhaupt als solche wahrzunehmen und sie unbefangen sachkritisch zu prüfen. Noch einmal auf das Höhlengleichnis Platons zurück sehend, könnte dann z. B. die Aufmerksamkeit auf den Grund gelenkt werden, aus dem die erwähnten Kontraste und Alternativen bei Platon außen vor bleiben und von ihm in systematischer Konsequenz zu Recht unerwähnt bleiben. Die zunächst sinnvoll erscheinenden Alternativen zur Einführung in die Differenz von Bildung und Unbildung brauchen ihn nicht zu interessieren. Sie sind sogar kontraproduktiv und vom Hauptproblem ablenkend, wenn dieses darin besteht, die Differenz aus ihren allgemeinen Gründen zu verstehen. Ein Verstehen des Allgemeinen in der Unterscheidung zwischen Bildung und Unbildung verlangt in Abhebung gegen veranschaulichende Erläuterungen durch Beispiele den Rückgang auf den begrifflichen Grund der sprachlichen Unterscheidung zwischen und der Entgegensetzung von Bildung und Unbildung. Platon knüpft dabei noch einmal an die sokratische Was-ist-x-Frage an. Darauf lenkt er die Aufmerksamkeit seiner Leser. Sie sollen wie durch die gleichnishafte Schilderung sozusagen hindurchsehen auf den begrifflichen Kern der Unterscheidung und Ent gegensetzung. Sie sollen die Idee von Bildung zu ahnen beginnen und deren gedankliche Implikationen wenigstens erst einmal als Problem in den Blick bekommen. Zu diesen Implikationen gehört, wie Platon in seiner eigenen Auslegung erklärt, insbesondere ein neues Verständnis von Lehren und Lernen. Das wohl wichtigste Argument für diese Deutung ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass das Gleichnis am Beginn des siebten Buches der Staatsschrift nur der Auftakt zu einer aus-
214
Bildung an ihren Grenzen
gedehnten Erörterung des gesamten Lehrplans und der Organisation der höheren Bildung ist. Diese spitzt sich in der Auswahl einiger weniger, im Bildungsgang übrig bleibender Staatslenkerinnen und Staatslenker zu, die auch den größten dialektisch-philosophischen Schwierigkeiten und den höchsten Anforderungen an das intellektuelle Vermögen und an eine entsprechende Lebensführung gewachsen sind. Sie erlangen die Befähigung zur ,Aufhebung‘ der hypothetischen Beweisunterlagen, die von allen anderen (mathematikförmigen) Wissensdisziplinen als gültig nur unterstellt, nicht aber begründet oder bewiesen worden sind. Auf dem höchsten Plateau der Bildung geht es um ein methodologisch diszipliniertes ,dialektisches‘ und gemeinsames Philosophieren, um auf dem Boden der gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten, die aus der Analyse und der synthetischen Zusammenschau der vernünftigen begrifflichen Grundlagen einer bestmöglichen Polis erwachsen, diese so lange wie möglich zu erhalten5 und damit die gedanklichen, ordnungspolitischen und materiellen Bedingungen für ein möglichst glückliches Leben aller, auch der Bürger der untersten Sozialschicht, der Bauern, Handwerker und Händler, zu gewährleisten. Das braucht jetzt nicht im Einzelnen entfaltet zu werden. Deutlich werden sollte nur so viel, dass – mit Platon – im Anschluss an die Erschütterung der Vorurteile und an einen ersten Blick auf eine mögliche Alternative ein Wissen zu lehren ist, das aus der Abschüttelung der Vorurteile nicht einfach autopoietisch hergeleitet werden kann, sondern auf Übermittlung durch Lehrer und Lehrerinnen angewiesen ist. Auf dem höchsten Bildungsplateau, das nach Erfahrungen und nicht auf Grund einer dogmatischen Apriori-Unterstellung nur wenige erreichen werden, erscheint dann in Erinnerung an die sokratische Skepsis6 innerhalb des gebildeten Philosophierens das Bewusstsein des Nichtwissens noch einmal in der Form eines problematisierenden statt dogmatisch behauptenden und vergeblichen Beweisansprüchen nachjagenden Vernunftgebrauchs.7 Das Beispiel des Bildungsdenkens bei Platon würde demnach in einem dreigliedrigen Vorgehen von einer Phase 1 der anfänglichen elenktischen Zerstörung des falschen Bewusstseins, seines Nichtwissens nicht gewahr zu sein, übergehen in eine Phase 2 von Lehrgängen, in denen von anderen bereits erreichtes Wissen autoritativ und systematisch gelehrt und studiert werden müsste, um überzugehen in eine Phase 3, in der die Gebildeten „Selbständigkeit im Denken“ (Ballauff) bewähren, indem sie bei der Beratung über das gerechte Zusammenleben aller philosophierend und Voraussetzungen problematisierend nicht zu wissen vorgeben, wonach sie fragen, sondern das Fragen erweitern und vertiefen, ohne vorweg zu postulieren, dass es für alle wichtigen unserer Lebensprobleme auch Lösungen geben muss. Die historisch nachfolgenden, echten Alternativen, nicht nur die Varianten dieses Modells im europäischen Kulturraum, dürften nicht allzu zahlreich sein. Vermutlich sind es kaum mehr als an einer Hand abzuzählen ist. Würden sie ermittelt und ausgearbeitet, dann ließe sich ein Hauptfachstudium der Allgemeinen Erziehungswissenschaft konzipieren, das der Geschichte von Pädagogik und Erziehungswissenschaft zugleich systematisch und historisch angemessen ist, das also über das gegenwärtig verbreitete unbefriedigende Nebeneinander weniger historischer Kenntnisbrocken und ebenso weniger frei schwebender systematisch-pädagogischer Erinnerungsfetzen hinausgelangt. Wie weit wir heute von
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung
215
dieser Möglichkeit entfernt sind, mögen Kolleginnen und Kollegen jeweils selber erwägen. Klar ist aber, dass wir dieser Möglichkeit der Verbesserung von Studium und Lehre Allgemeiner Pädagogik niemals näher kommen werden, wenn wir sie nicht einmal erwägen und dann vielleicht auch wenigstens versuchsweise anstreben.
Literatur Davidson, J. N. (2002): Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen. Berlin: Siedler. Fischer, W. (2004): Sokrates pädagogisch. Hrsgg. v. Ruhloff, J. / Schönherr, C. Würzburg: Königshausen & Neumann Gruschka, A. (2002): Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung. Elf Einsprüche gegen den didak tischen Betrieb. Wetzlar: Büchse der Pandora. Mugerauer, R. (2007): Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens. Der Bildungsbeitrag Platons und seine Marginalisierung bei Plotin, Augustin, Eckhart und Luther sowie im reformatorischen Schulwesen. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Grundlegung eines sokratisch-skeptischen Bildungskonzeptes. 2 Bde. Marburg: Tectum. Platzer, B. (2012): Politik der Erziehung. Vom Scheitern der Erziehung und der Macht der Kinder. In: Vierteljahrsschrift f. wiss. Pädagogik 88,4, S. 624–638. Rancière, J. (1987 / 22009): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien: Passagen. Rieger-Ladich, M. (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz: UVK. Wigger, L. (2004): Wie ist Systematische Pädagogik heute möglich? Oder: Über den Common Sense in der Erziehungswissenschaft. In: Dörpinghaus, A. / Helmer, K. (Hrsg.): Topik und Argumen tation. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 283–308.
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung von Alfred Schäfer
1.
Selbst-Bildung und das Motiv der Überschreitung Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
Wenn man nicht auf entelechiale Wachstumsvorstellungen eines inneren Kerns oder auf simple organische Wachstumsmetaphern zurückgreifen will, erhält die Vorstellung der Selbst-Bildung einen eher dramatischen Charakter. Wachstumsvorstellungen erlauben die Annahme einer sich gleich bleibenden Substanz; Vorstellungen einer Selbst-Bildung, die diese Annahme nicht teilen, werden von Prozessen des Anderswerdens ausgehen müssen. Ein sich bildendes Selbst wird sich verändern. Eine solche Rede scheint nur dann Sinn zu machen, wenn das Individuum nach durchlaufenen Bildungsprozessen ein anderes ist als vorher. Diese Vorstellung kann nun aber das Individuum kaum zu einem Subjekt seiner Bildungsprozesse in dem Sinne stilisieren, dass dieses aus sich heraus noch seine Selbst- Änderungen entwerfen und kontrollieren könnte. Eine solche Selbst-Verfügung über den eigenen Bildungsprozess würde eben eine qualitative Veränderung des eigenen Selbst ausschließen. Wenn aber die Selbst-Verfügung über den eigenen Bildungsprozess nicht möglich erscheint, ohne letztlich wiederum auf ein zugrunde liegendes Substrat zurückzugreifen, dann ist die Vorstellung einer Selbst-Bildung mit einer eigentümlichen Implikation verbunden: Prozesse der Selbst-Bildung scheinen sich einer verfügenden Subjektivität zu entziehen. Und gerade die damit angezeigte Grundlosigkeit scheint ein bedeutsames Bestimmungs moment dessen zu sein, was man unter dem modernen Konzept der ,Bildung‘ aufruft. Das sich verändernde Selbst kann seinen Grund weder in einem vorhergehenden Selbst- und Weltverhältnis haben noch in einem ä ußeren Anstoß, einer Determination. Wie also soll man sich Prozesse der Selbst-Bildung vorstellen, wenn deren Grund weder in einem der Bildung vorgängigen Selbst noch in einer Außen-Determination gesehen werden kann? Die Figur einer ,bildenden Erfahrung‘ kann als eine wirksame Vorstellung gelten, mit dieser Problematik umzugehen. Eine solche ,bildende Erfahrung‘ wird durch das Scheitern der eigenen Selbst- und Weltverständnisse an einem irritierenden, fremden Sachverhalt hervorgerufen. Diese Konfrontation führt zur Unterbrechung dieser Selbstund Weltverhältnisse und zur Notwendigkeit eines Anderswerdens, die weder auf das vorherige Selbst noch auf die irritierende Fremdheit zurückgeführt werden kann – und die als
218
Bildung an ihren Grenzen
Prozess vom veränderten Selbst letztlich nur nachträglich rationalisiert werden kann. ,Bildende Erfahrungen‘ machen also den Entzug des vorhergehenden Selbst, wie er durch die Konfrontation mit einer irritierenden Fremdheit induziert wird, zum zentralen Moment einer Selbst-Bildung, zu der man sich erst nachträglich – als ein Anderer – in ein Verhältnis setzen kann. Dabei scheint das Anderswerden, die Überschreitung der bisherigen Selbstund Weltverhältnisse, selbst schon ein Indikator für den unterstellten Wert der Bildungsprozesse abzugeben. Dies ist wiederum nur vorstellbar, wenn man dieses formale Kriterium mit inhaltlichen Motiven in eine wie auch immer geartete Verbindung bringt. Dabei kann es um die Überschreitung sozialer oder vorurteilsbehafteter Selbstverständlichkeiten gehen, um die Erweiterung des Eigenen oder auch um einen bedeutsamen Zugang zur Selbst-Ständigkeit. Es dürfte die Verbindung des formalen Kriteriums des Anderswerdens mit diesen inhaltlichen Konnotationen sein, die gleichzeitig eine Abwehr anderer ,Bildungsprozesse‘ hervorbringen. Als eine besonders geeignete Abgrenzungsfolie bietet sich geradezu die Konsum orientierung an. Konsumgüter, d. h. warenförmig auf die vermuteten Bedürfnisse der Kunden zugeschnittene Erlebnisangebote, erscheinen deshalb als besonders geeignet, weil sie unter formalem Gesichtspunkt die Veränderung des eigenen Selbst ausschließen: Wenn die Individuen – kulturindustriell – mit dem versorgt werden, was sie schon wünschen, verweigert man ihnen die Möglichkeit des Anderswerdens (vgl. Horkheimer / A dorno 1969). Man verweigert ihnen damit zugleich (mit Macht) die Möglichkeit, sich zu sich selbst in ein problematisierendes Verhältnis zu setzen: Man bleibt in seinen Selbst- und Weltverhältnissen gesellschaftlich geformt und von jenen irritierenden Erfahrungen abgeschlossen, die erst eine Bildung des Selbst induzieren könnten. Vor dem Hintergrund einer solchen Figur erscheinen Verweise auf die Bedeutsamkeit eines erlebten Erlebens für die Bildung des Selbst, wie sie im Kontext medialer Inszenierungen, der ,Erlebnisgesellschaft‘ oder auch konsumistischer Perspektiven auf gegenwärtige Überschneidungen von Konsumorientierung und Selbst-Bildung artikuliert werden, eher als oberflächliche und kritikwürdige In-Anspruch-Nahmen des Gedankens der Selbst-Bildung. In den nachfolgenden Überlegungen soll nun die Gegenüberstellung von ,bildender‘ oder ,authentischer Erfahrung‘ und jener eines konsumorientierten ,erlebten Erlebens‘ im Hinblick auf die Figur der Selbst-Bildung überprüft werden. Das Argumentationsziel besteht dabei darin zu zeigen, dass die Frage ihre Berechtigung hat, ob es sich bei der Figur des erlebten Erlebens nicht um eine andere Artikulationsmöglichkeit der Selbst-Bildung handelt, die von einer anderen „Ontologie“, einem nur möglichen Wirklichkeitsverständnis, und dem bodenlosen und doch ernsthaften Spiel eines ,authentischen Selbst‘ ausgeht. Als eine wichtige Voraussetzung dieser Untersuchung ist dabei zu beachten, dass hier davon ausgegangen wird, dass sich Prozesse der Selbst-Bildung nicht einfach beobachten oder eindeutig identifizieren lassen. Solche Prozesse sind nur in ihrer Artikulation, ihrer rhetorischen Figuration gegeben. Eine solche Voraussetzung hat wichtige Implikationen, deren Aufweis das zweite Argumentationsziel dieser Untersuchung bildet. Wenn Bildungsprozesse nur in ihrer Thematisierung zugänglich sind, dann impliziert dies einerseits, dass kategoriale Bestimmungen alleine nicht in der Lage sind, die Frage der Bildung stillzustellen. Das, was Bildung sein soll, hängt an kon-
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
219
text- oder fallbezogenen Artikulationen, die durch kategor iale Festlegungen letztlich nicht zu normieren sind. Dies verweist auf die Notwendigkeit einer Verbindung von kategorialen Überlegungen mit der Analyse empirischer Artikulationen. Eine solche Verbindung deutet andererseits darauf hin, dass auch empirische Untersuchungen, die auf ihren objektivierendidentifizierenden Charakter vertrauen, im Hinblick auf die Frage nach dem Vorliegen von Bildungsprozessen nicht so recht weiterhelfen. Um auf die Frage nach dem Verhältnis der beiden Figurationen von ,authentischer Erfahrung‘ und ,erlebtem Erleben‘ eine Antwort geben zu können, erscheint es eher sinnvoll, kategoriale Überlegungen offen zu handhaben und (kultur-)wissenschaftliche wie empirische Ansätze mit einer kategorialen Sensibilität zu versehen. Genau in diesem Spannungsraum von philosophischer Reflexion, kulturwissenschaftlichen Theorien und empirischen Forschungsbefunden versuchen sich die folgenden Über legungen zu platzieren.
2.
Von der Dramatik einer Selbsttransformation durch authentische Erfahrung
Wenn Hegel das Subjekt als Substanz auffasst, dann meint dies zunächst, dass es keine substantielle, keine ,wahre und dem Subjekt vorgegebene Wirklichkeit gibt, die diesem seinen Platz in der Ordnung der Welt anweist‘ (vgl. Hegel 1986). Es ist die Verabschiedung einer transzendenten Wirklichkeit, die seine Wirklichkeit wie Möglichkeit bestimmt. Zugleich aber scheint eine solche Rede auf den ersten Blick selbst äußerst fragwürdig: Dass das Subjekt mit seinem Grund identisch sein soll, erscheint eher als eine anmaßende Behauptung, die den transzendenten Grund nun im Subjekt selbst behauptet. Dieses wäre dann immer schon das, was es sein soll. Hegel fasst daher auch die Rede vom Subjekt als Substanz nicht so auf, dass sie einfach deren Identität behauptet. Das Subjekt mag zwar einerseits (nach dem Wegfall transzendenter Gewissheiten) als einzig verbleibende Substanz anzusehen sein, aber doch nur derart, dass es erst seiner selbst als grundlegend ansichtig werden muss. Dies setzt wiederum einen Erfahrungsprozess voraus, in dem es allererst zu sich selbst als dem Grund seines Selbst- und Weltverhältnisses kommt und damit zu seiner Wahrheit f indet. Mit dieser Perspektive ist Hegel für das Nachdenken über Bildung bedeutsam geworden. Allerdings scheiden sich hier die Geister. In einer naiven und wohl nicht auszurottenden Version wird dieser Prozess des Zu-sich-selbst-Kommens so aufgefasst, dass von der Einheit einer substanziellen Subjektivität oder Individualität ausgegangen wird, von einem metaphysischen Wesenskern, der dann im Prozess der Erfahrung zu sich selbst findet. Die Umgebung ist dann bloßes Material für einen zunehmend perfektionierten Selbstausdruck. Will man nicht einer solchen naiven Metaphysik des subjektiven Wesenskerns verfallen, wird man – mit Hegel – berücksichtigen müssen, dass Erfahrungen Dezentrierungen darstellen. Man kann nur über ein Anderes zu sich selbst kommen. Und die Qualität eines solchen Anderen muss so sein, dass sie gegebene Gewissheiten im Selbst- und Weltverhältnis derart unterbricht, dass diese nicht mehr greifen. Nur durch die ,Entfremdung‘ vom ge-
220
Bildung an ihren Grenzen
gebenen Selbst, wie es durch die Widerständigkeit des Anderen notwendig wird, ist überhaupt die Möglichkeit einer Erfahrung gegeben, die einen Schritt auf dem Weg zum ,wahren‘ Selbst darstellt. Das Selbst muss sich verlieren, um zu sich zu gelangen. Der Weg zum Selbst führt über eine Welt, die das begründete Verhältnis des Selbst zu sich, die Einheit von Substanz und Subjekt, immer wieder neu infrage stellt. Man kann nun fragen, wie vor diesem Hintergrund ein Bildungsprozess des Selbst zu denken ist, in dem dieses zu seiner Wahrheit kommt. Wenn die ,Phänomenologie des Geistes‘ im absoluten Wissen endet, so lässt sich dieses ,absolute Wissen‘ (mindestens) auf eine zweifache Weise verstehen. In der ersten Version ist damit ein Zustand angegeben, in dem das Subjekt nach dem Durchgang durch die es dezentrierenden Erfahrungen zu sich selbst als dem Grund seines Selbst- und Weltverhältnisses kommt. In dieser Version wäre damit ein Zustand anvisiert, in dem es keine weiteren Dezentrierungen durch ein widerständiges Anderes, keine weitere Notwendigkeit der Dezentrierung geben würde. Es scheint aber, dass eine solche Figur der dialektischen Konzeption der Hegelschen Theorie nicht gerecht wird. Eine zweite Version (vgl. etwa Gamm 1997) geht daher davon aus, dass das ,absolute Wissen‘, also jene Wahrheit, in der das Subjekt zu sich als Substanz kommt, genau in der Einsicht in die immer wieder aufs Neue entzweiende Figur der Erfahrung selbst besteht. Das Subjekt wird demnach seiner selbst als jener Instanz ansichtig, die sich zwar zugrunde liegt, die das aber – aufgrund des Anderen – nur in einer differentiellen, niemals zur Identität zu bringenden Form tun kann. Die Erfahrung bildet die Art und Weise, wie das Subjekt zu sich als dem Grund der Erfahrung (und damit des Selbst- und Weltverhältnisses) kommen kann; sie ist aber auch die Bewegung, in der dem Subjekt der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die Andersheit als Andersheit, als das, worüber nicht verfügt werden kann, bildet seitdem ein entscheidendes Merkmal der Rede von Erfahrung. Adorno (1966) hat darauf hingewiesen, dass Erfahrungen nur dann gemacht werden, wenn weder die gegebenen subjektiven Perspektiven einfach dem Anderen übergestülpt werden noch auf objektiviertes Wissen zurückgegriffen wird, um dieses Andere zu kategorisieren und damit verfügbar zu machen. Erfahrungen werden nur dort möglich, wo weder subjektivistische Vorannahmen noch objektives Wissen die Ausgesetztheit gegenüber der Fremdheit des Anderen verhindern. Erfahrungen setzen den Verlust dieser (Selbst-)Gewissheiten voraus, eben jene Entfremdung vom eigenen Selbst, die eine Aussetzung gegenüber einem Anderen bedeutet. Dessen Zugänglichkeit muss neu konstituiert werden – und damit auch die eigene Position im Verhältnis dazu. Vorausgesetzt ist ein Bruch mit der bisherigen Sicht auf Selbst und Welt, der zwar nachträglich verständlich gemacht werden, aber als solcher nicht überbrückt werden kann, weil die nachträgliche Konstruktion der vorgängigen Subjektivität deren Gewesenheit nicht mehr einholen kann. Das Ergebnis von Erfahrungsprozessen ist demnach eine nicht zu schließende Differenzerfahrung im Hinblick auf das eigene Selbst. Die Erfahrung der ,Wahrheit‘ des eigenen Selbst besteht darin, dass es nur in einer Erfahrung zu sich selbst kommen kann, die es zugleich von sich (als Identität) trennt. Für eine Perspektive, die Bildungsprozesse im Lichte einer solchen Erfahrungsstruktur betrachtet, wird daher die dezentrierende Irritation, das Scheitern der subjektiven Voran-
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
221
nahmen und objektiven Erklärungsmuster, mit denen man hinreichend gerüstet ist, zu einem entscheidenden Einsatzpunkt (vgl. Meyer-Drawe 2008; Thompson 2009). Es ist das Fremde, das Rätselhafte, das Unzugängliche, das nicht zuletzt für die Grenze scheinbar selbstverständlicher Selbst- und Weltverhältnisse steht. Das 18. Jahrhundert kannte – mit Rousseau – zwei Kandidaten für eine solche Fremdheit: das Kind und die (guten) ,Wilden‘. In beiden Fällen wurde nicht nur die Andersartigkeit zum Thema, sondern gerade auch eine in sich geschlossene andere, dem ,erwachsenen‘ oder eurozentrischen Blick unzugängliche Rationalität, die diesem seine Selbstverständlichkeit raubte (vgl. Lévi-Strauss 1975). Im vorliegenden Zusammenhang einer Konfrontation der ,authentischen Erfahrung‘ mit dem ,erlebten Erleben‘ soll der Blick auf die irritierende Fremdheit anderer Kulturen gerichtet werden, denen man auf (Fern-)Reisen zu begegnen sucht. Fernreisen scheinen die irritierende Erfahrung des Fremden zu ermöglichen; zugleich aber scheinen sie – worauf dann im nächsten Abschnitt zurückzukommen ist – nicht jenseits einer kulturindustriellen Vermarktung zu liegen. Mag es auch ganz unterschiedliche Reisemotive geben (vgl. Cohen 1979), unter denen die Begegnung mit dem Fremden nur eine Zielstellung angeben mag, so war doch MacCannell in einem einflussreichen Aufsatz (auf den Cohen relativierend reagiert) davon ausgegangen, dass es im Aufeinandertreffen mit fremden Kulturen um eine authentische Erfahrung gehe (vgl. MacCannell 1973). Und diese Erfahrung sei – so MacCannell in der Hegelschen Spur – nur möglich, wenn die besuchten Völker selbst auch authentisch in dem Sinne seien, dass ihre fremde und irritierende kulturelle Eigenart zum Vorschein kommt. Unter Rückgriff auf Goffman (1969) wendet er allerdings kritisch ein, dass das, worauf die Touristen treffen, eher Inszenierungen einer Authentizität seien, dass man nur die Vorderbühne zu sehen bekomme, zu der (authentischen) Hinterbühne aber keinen Zugang finde. Auf diese Weise würden authentische Erfahrungen für Touristen gar nicht erst möglich. In der touristischen Inszenierung werden sie um das, was ihnen symbolische Ressourcen wie Reiseführer, Prospekte o. Ä . versprechen, betrogen. Sie werden mit dem konfrontiert, was sie schon kennen, worüber sie sich informiert haben; verwehrt wird ihnen die Erfahrung der Fremdheit als einer zugäng lichen Unzugänglichkeit (vgl. Waldenfels 1997), des rätselhaften, rituellen oder magischen Hintergrunds. Nun könnte man allerdings darauf hinweisen, dass gerade eine solche Differenz wie jene von Inszenierung und Authentizität, die MacCannell mit entlarvender Intention aufruft, nichts anderes darstellt als eine Bekräftigung des Rätsels der Anderen: Sie verbergen ihre Authentizität in der Inszenierung, aber man kann sie selbst durch die Inszenierung hindurch noch erahnen. Die wahre Wirklichkeit der Anderen ist in ihrer Abwesenheit dennoch anwesend – es gibt vielleicht Zeichen, die darauf schließen lassen. Dagegen könnte eingewendet werden, dass das doch bloße Spekulation sei. Ein solcher Einwand lebt allerdings davon, dass die Unterscheidung von wahrer Authentizität und Inszenierung ein deutig, d. h. objektiv gezogen werden könnte. Doch das ist nicht nur für die Touristen schwierig: Es ist gerade die Handhabung dieser Unterscheidung, die die Unzugänglichkeit noch und gerade über die Zugänglichkeit artikuliert. Und es ist auch für die Einheimischen nicht immer einfach: So stellt etwa Gillespie (2006) für die Ladakhi fest, dass die Inszenie-
222
Bildung an ihren Grenzen
rung von Volks-, aber gerade auch Klostertänzen Touristen möglicherweise als inszeniert erscheint, für die Einheimischen aber kein Unterschied zum ,Original‘ besteht. Man kommt dieser Frage der möglichen Authentizität näher, wenn man – erneut mit Hegel, diesmal aber gegen MacCannell – darauf verweist, dass Erfahrungen nicht einfach (und schon gar nicht durch das sie übergreifende ,Subjekt‘) zu identifizieren sind. Sie bedürfen einer nachträglichen Artikulation von einem Ort aus, der gegenüber einem vor gängigen Selbst- und Weltverständnis als ,neuer‘ erscheint und der auch nicht einfach derjenige sein kann, den man (wer denn?) zum Zeitpunkt des Erfahrungsgeschehens selbst innehatte. Merleau-Ponty hat im Anschluss an Husserl und durchaus auf der Linie des Hegelschen Erfahrungsbegriffs auf die Dialektik des Ausdrucks hingewiesen (vgl. zusammenfassend Waldenfels 1995). Er bezeichnet das (leiblich-sinnliche) Geschehen als eine stumme Erfahrung – als ein Geschehen, das berührt und das artikuliert werden will. Ihm einen Ausdruck geben zu wollen, wird so durch die dezentrierende Kraft des Geschehens notwendig; aber jeder Versuch, das Geschehen selbst in einem nachträglichen Ausdruck, einer Narration der Erfahrung, die dem Selbst einen Ort in dieser Erfahrung gibt, zu fassen, wird dessen Signifikanz, seine Bedeutsamkeit immer verfehlen müssen. Und es ist gerade diese Verbindung von notwendig erscheinender und scheiternder Identifikation der Erfahrung, die jene Differenz konstituiert, in der das Selbst zu sich selbst als Erfahrendem wie zur in der Erfahrung sich zeigenden Wirklichkeit verbleibt. Wenn man diese Dialektik des Ausdrucks, die motivierende Differenz des Geschehens und seiner Artikulation als Erfahrung ernst nimmt, dann bedeutet dies, dass authentische Erfahrungen nicht einfach vorkommen, sondern dass sie in einer (etwa das Vorher und Nachher, die Grenzen des eigenen Verständnisses usw. dramatisierenden) Artikulation erst zu solchen werden. Dies bedeutet (und darauf weist die ,stumme Erfahrung‘ bei MerleauPonty hin) nicht, dass diese Artikulation beliebig erfolgt; sie verlangt einen Anlass, eine irritierende Widerstandserfahrung, eine Dezentrierung des Selbstverständlichen und Verfügbaren. Zugleich aber ist die Artikulation der Erfahrung nicht deren einfacher und gleichsam unmittelbarer Ausdruck. Vor dem Hintergrund dieser Differenz kann es kein eindeutiges Kriterium geben, um die Authentizität der Erfahrungsartikulation (im Hinblick auf das ,stumm‘ Erfahrene) selbst noch beurteilen zu können. Anders formuliert: Es fällt schwer, die Grenze zwischen einer ,authentischen‘ und einer ,rhetorischen‘ Erfahrungsartikulation zu ziehen. Nun könnte man zunächst sagen, dass ein solcher Verweis auf das Problem der Identifikation authentischer Erfahrung (auch für das erfahrende Individuum selbst) sich durchaus an ,traditionelle‘ Figurationen bildender Erfahrung anschließen lässt. Auch dort erschien die Rede von solchen Erfahrungen nur da sinnvoll, wo der Ort des Selbst und der des Anderen sich nicht mehr einer identifikatorischen Logik fügen, wo sich das Problem der identifikatorischen Gewissheit selbst stellt. Und dennoch ergibt sich – vor dem Hintergrund der kulturwissenschaftlichen These MacCannells und des Verweises auf die Differenz von Erfahrung und Artikulation – eine Frage, die nicht einfach durch den Verweis darauf abzuweisen ist, dass diese Problematik schon ,traditionell‘ und kategorial bedacht worden sei. Es stellt sich nun auch (etwa mit Cohen 1979) die empirische Frage, inwieweit denn überhaupt
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
223
noch ,bildungsbedeutsame‘ Prozesse als solche authentischer Erfahrung konfiguriert werden, inwieweit also die Rhetorik ,authentischer Erfahrung‘ überhaupt noch die Konfrontation mit und die Irritation durch das Fremde regiert. Das Verfolgen dieser empirischen Frage richtet sich auf performative Prozesse, in denen etwas als ,authentische Erfahrung‘ hervorgebracht wird – oder eben nicht. In Übereinstimmung mit der bereits aufgezeigten kategorialen Problematik wird eine solche Untersuchung keine Auskunft darüber geben können, ob solchen Artikulationen eine Wirklichkeit des Geschehens entspricht; sie wird nur untersuchen können, inwieweit und in welcher Form ein Konzept wie das der ,authentischen Erfahrung‘ mit dem ihm inhärenten Differenzkonzept die Diskurse der Fernreisenden regiert. Das Verfolgen einer solchen Fragestellung setzt voraus, dass es nicht einfach selbstverständlich ist, dass sich Fernreisende eines allgemein akzeptierten Deutungsmusters der ,authentischen Erfahrung‘ bedienen. Es ist gerade die Frage, ob sich in den erhobenen Erfahrungs-Artikulationen von Fernreisenden und durch sie hindurch eine Bedeutsamkeit dessen ergibt, was man eine authentische Erfahrung nennen könnte. Es wird also nicht einfach von einer vorab gültigen diskursiven Ordnung ausgegangen, die Bildungsprozesse als Erfahrungsprozesse angibt. Wenn man zudem die Differenz von Erfahrung und Artikulation berücksichtigt, wird man auch nicht davon ausgehen können, dass das Individuum über die Bedeutung seiner Erfahrungs-Artikulationen souverän verfügen kann. Seine Re ferenz auf die Erfahrung bleibt in der Artikulation ebenso prekär wie der Rückgriff auf g ültige Artikulationsmuster. Erst damit ist der Raum für die offene Untersuchung einer performativen Hervorbringung von Gegenstands- und Selbstfigurationen gegeben. Um die damit anvisierte Untersuchungsperspektive auf die empirische Figuration von Bildungsprozessen als authentische Erfahrung anzudeuten, soll hier auf eine Untersuchung der ,Begegnung mit dem Fremden‘ rekurriert werden. Diese fand im Rahmen eines DFGProjekts in Mali in den Jahren 2007 bis 2010 statt (vgl. Schäfer 2011). Neben ethnographischen Zugängen standen hier (dann diskursanalytisch ausgewertete) Leitfadeninterviews als Erhebungsmethode im Vordergrund. In diesen vor Ort erhobenen Interviews standen Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie der Wahrnehmung des Eigenen durch die Anderen sowohl für die einheimischen Dogon wie auch für die aus unterschiedlichen Ländern stammenden Touristen im Mittelpunkt. Bei den Reisenden handelte es sich um Individualtouristen, die mit einem einheimischen Führer für mehrere Tage zu Fuß im Land der Dogon unterwegs waren und dabei in einfachen Unterkünften (ohne fließendes Wasser und Elektrizität) in den Dörfern übernachteten. Es zeigte sich dabei, dass in den Touristeninterviews die Fremdheit der Dogon eine signifikante Rolle spielte. Die Dogon waren nicht einfach (auf eine zu bestimmende Weise) anders, sondern vor allem fremd, eine eigene unzugängliche Kultur – etwas, über das man eigentlich nichts sagen kann und es doch versucht. Fremdheit stellte sich als ein Problem heraus, das die unterschiedlichen, die heterogenen Artikulationen der Interviews strukturierte. Der Raum der authentischen Dogon wurde gegen mögliche Entwicklungen, wie sie etwa durch den Tourismus oder die Entwicklungshilfe hervorgerufen wurden, abgegrenzt; er zeigte sich an einzelnen Indikatoren, an persönlichen Begegnungen, an den Erzählungen der Führer über geheime Rituale und
224
Bildung an ihren Grenzen
nicht zuletzt gerade daran, dass man die Unmöglichkeit von und den Wunsch nach einer stärkeren Zugänglichkeit artikulierte. Das Problem der Fremdheit ließ sich also über die unterschiedlichsten Signifizierungen aufrufen; es wirkte wie ein „leerer Signifikant“ (vgl. Laclau 2002), dessen Wirkungsmacht gerade durch die heterogenen, aber im Hinblick auf das Problem ähnlichen Artikulationen stabilisiert wurde. Das Aufrufen der Dogon als fremd, als unzugänglich, macht dabei den Ort des Artikulierenden prekär: Er verweist auf eine Fremdheit, über die er eigentlich nichts sagen kann, ohne sie ihres Charakters als Fremdheit zu berauben. In seinen Artikulationen nimmt er prekäre Subjektpositionen ein, in denen er sich gegenüber der zugänglichen Unzugänglichkeit der Dogon nur in der Differenz von Bestimmtheit und Unbestimmbarkeit situieren kann. Der Diskurs artikuliert also die Grundelemente einer ,authentischen Erfahrung‘. Es ist die artikulierte Konfrontation mit einer Fremdheit, die eine identifizierende Positionierung des Selbst im Rahmen herkömmlicher symbolischer Verfügungsmuster problematisch macht und die zugleich eine Selbstvergewisserung erschwert, die in einer nachträglichen Verhältnisbestimmung die Lücke zwischen ,Erfahrung‘ und ,Ausdruck‘ zu schließen vorgibt. Die hegemoniale Signifikanz der Fremdheit über die im Dogonland erhobenen touristischen Diskurse hinweg zeigt sich auch in der paradoxen Struktur zweier weiterer Signifikanten: jenen der Hilfe und der Anwesenheit. Die Artikulation der Hilfe ist dabei – auf welche heterogene Weise auch immer – kulturell (und damit über die Fremdheit der Dogon) konnotiert. (Entwicklungs-)Hilfe sei schon wichtig, aber man könnte doch damit die authentische Dogon-Identität zerstören. Die Einwirkungen würden von außen erfolgen und unüberschaubare Gefährdungspotentiale entfalten. Und selbst wenn die Dogon selbst solche Hilfe fordern würden, könnten sie dies vielleicht nur tun, weil der Einfluss von außen schon ihre Authentizität beeinträchtigt hat. Die Fallstricke des Paternalismus sind, geht man einmal von der authentischen Fremdheit der Anderen aus, unerschöpflich. Die Hilfe erscheint dabei als ebenso notwendiges wie unlösbares Problem und alle Versuche damit umzugehen, stärken ihre Funktion als ,leerer Signifikant‘, der die Ordnung des von den Touristen Sagbaren zu regieren scheint. Ein anderes, die diskursiven Hervorbringungen der Reisenden regierendes Problem ist die Frage der eigenen Anwesenheit. Auch diese kann ja die Authentizität der Anderen zerstören und ist daher im Grunde nicht zu rechtfertigen, obwohl sie – qua Präsenz vor Ort – gerechtfertigt werden muss. Im Fall der touristischen Reisenden ins Land der Dogon deutet die Analyse der erhobenen Erfahrungsdiskurse darauf hin, dass die Figur der authentischen Erfahrung angesichts einer irritierenden Fremdheit, die die Bestimmtheit vorgängiger Selbst- und Weltverhältnisse prekär werden lässt, eine strukturierende Bedeutsamkeit erhält. Diese Figur, die sich um die problematisierenden Signifikanten der Fremdheit, der Hilfe und eigenen Anwesenheit zentriert, kann hier als etwas angesehen werden, das die Ordnung des Sagbaren auf eine Weise regiert, die die Möglichkeit von Bildungsprozessen im Sinne einer ,authentischen Erfahrung‘ nicht ausschließt. Nun schließt ein solches Untersuchungsergebnis nicht aus, dass sich – selbst unter ähn lichen Konstellationen einer Begegnung mit ,Fremdheit‘ – durchaus Erfahrungsdiskurse erheben lassen, die von anderen problematisierenden Signifikanten regiert werden. Diese
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
225
könnten wiederum andere Figurationen möglicher Bildungsprozesse nahelegen. Eine solche Möglichkeit ist dann anzunehmen, wenn – wie im vorliegenden bildungsanalytischen Zusammenhang – auf die Annahme vorab gültiger Deutungsmuster verzichtet wird. Um die Möglichkeit einer anderen Figuration von Bildungsprozessen zu prüfen, wurde eine Nachfolgeuntersuchung unternommen. Dieses (bis Juni 2013 laufende) Forschungsprojekt findet in Ladakh statt und ist von der Hypothese getragen, dass dort statt der ,authen tischen Erfahrung‘ vielleicht das kontrastive Erleben des eigenen Erlebens die Ordnung des Sagbaren und damit die Diskurse der Selbst-Bildung regieren könnte.
3.
Das Erleben des Erlebens: Vom Ernst des Spiels möglicher uthentizität A
Ladakh, im Transhimalaya ,zwischen‘ Kashmir und Tibet im oberen Industal auf etwa 3500 m gelegen, wird wegen seiner buddhistischen Klosterkultur trotz seiner politischen Zugehörigkeit zu Indien häufig als ,Klein-Tibet‘ bezeichnet. Aufgrund der Grenzkonflikte mit Pakistan und China, welches das angrenzende Tibet besetzt hält, wurde Ladakh erst 1974 für den Tourismus zugänglich. Dabei entschloss man sich – vor dem Hintergrund der Zerstörung buddhistischer Klöster in Tibet während der chinesischen Kulturrevolution – die Klöster selbst für Touristen zugänglich zu machen (vgl. Rabgyas 2004). Touristen, die zunächst als kulturell Interessierte oder als Trekker kamen, erhielten nun Zutritt auch zu jenen Räumen in den Klöstern, in denen etwa Statuen der Schutzgottheiten aufbewahrt wurden. Der tibetische Buddhismus, der mit seinen fünf Hauptschulen in Ladakh vertreten ist, bildet eine eigentümliche und durchaus rätselhafte Mischung aus dem Mahayana- Buddhismus, tantrischen Praktiken und der vormals im Transhimalaya herrschenden BönReligion, die nicht nur ein breites Feld von Gottheiten umgreift, sondern auch bis heute schamanistische Heil- und Orakelpraktiken kennt. Die Komplexität dieser Religion, in der zudem die zentralen Figuren in einer Vielzahl von Erscheinungsformen und Inkarnationen auftreten, bildet für den westlichen Besucher eine Unzugänglichkeit, mit der er mit jedem Klosterbesuch konfrontiert wird – seien es die Wandmalereien oder auch der Besuch einer rituellen Veranstaltung. Auch wenn es in Ladakh im Unterschied zu Mali also eine Zugänglichkeit zu Zeremonien und heiligen Orten gibt, könnte man vermuten, dass in den touristischen Interviews auch hier die diskursive Artikulation einer zugänglichen Unzugänglichkeit, einer dezentrierenden Fremdheit bedeutsam sein könnte. Genau das aber ist in den analysierten Interviews nicht der Fall. Zwar wird das Andere der Ladakhi als Anderes artikuliert: die buddhistische Klosterkultur; die traditionelle Kleidung, deren Fehlen zunehmend kritisiert wird; die materialistische Überformung einer heilen und friedlichen Welt, in der die Gemeinschaft, die Friedlichkeit und die wechselseitige Hilfe so wichtig gewesen sei. Es kommt hier nicht darauf an, dass solche Vorstellungen sich an imaginären Bildern orientieren, dass sie symbolische Ressourcen mobilisieren, die in Reiseführern oder auch auf den Postkarten und Bildbänden vor Ort kolportiert werden. Wichtig ist vielmehr, dass in diesen Artikula
226
Bildung an ihren Grenzen
tionen Ladakh auf unterschiedlichste Weise als bestimmte Andersheit hervorgebracht wird. Die Authentizität Ladakhs liegt nicht in einer dem touristischen Interesse unzugänglichen Sphäre. Auch wenn etwa auf unterschiedlichste Weise ein Signifikant wie ,Spiritualität‘ auf gerufen wird, so geschieht dies im Hinblick auf den ,eigenen‘ Zugang zu jener Spiritualität, wie man sie auch hier findet. Signifikanten wie die der ,Spiritualität‘ verweisen so nicht auf eine befremdende Rätselhaftigkeit, sondern auf den individuellen Zugang. Die Spiritualität in Ladakh kann in ihrer Erlebnisqualität als das Besondere an Ladakh, als etwas, das Ladakh von spirituellen oder nicht-spirituellen Erlebnissen an anderen besuchten Orten unterscheidet, aufgerufen werden. Das in den Diskursen produzierte ,erlebende Ich’ wird zum Bezugspunkt für die Art und Weise, wie über das Andere, die ,Kultur’ Ladakhs, gesprochen, dieses in Szene gesetzt wird. Um es – da die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind – für den vorliegenden Zusammenhang hypothetisch zuzuspitzen: Die Andersheit des Anderen bildet in den touristischen Erfahrungsdiskursen keinen problematischen Bezugspunkt eines sich daran vergeblich abarbeitenden und daher gerade produktiven Diskurses ,authentischer Erfahrung‘. Eher droht es gerade als Anderes zum Bezugspunkt, manchmal sogar zur Kulisse eines sich als erlebendes Ich signifizierenden Selbst zu werden. Diese Zuspitzung, in der das erlebende Ich sich gleichsam auf sich selbst im Kontext des Anderen zurückwendet, bildet für ein auf die Dramatik der authentischen Erfahrung verpflichtetes Bildungsdenken eine Provokation. Aus dessen Perspektive rückt die angesichts des Fremden mögliche dezentrierende Erfahrung, aus der man als ein Anderer zurückkehrt, in die Nähe des bloßes Konsumierens, eines Sightseeings, in der sich das Ich gerade nicht mehr aufs Spiel setzt und daher auch die Möglichkeit vergibt, dezentrierende Erfahrungen ,über sich selbst‘ zu machen. Diesem Verdacht soll nun nachgegangen werden. Nach einer kurzen systematischen Bemerkung wird zunächst auf die Einsätze von Ethnologie und Tourismusforschung und deren Nähe zum Denken über Selbst-Bildung verwiesen, bevor ich dann eine philoso phische Position aufrufe, von der her sich vielleicht ebenfalls das konsumistische ,Erleben des Erlebens‘ als bildungsrelevante Artikulation einsichtig machen lässt. Auch das Erleben braucht einen Gegenstand, der affiziert, der herausgehoben, erregend, wenn nicht spektakulär ist. Erleben beinhaltet demnach eine Widerfahrnis, etwas, in das man verwickelt wird, ohne dass man sich ihm entziehen könnte. Im Erleben verschränken sich Widerfahrenes und aktive Beteiligung in einer Art Zwischenbereich. Ohne eine solche phänomenologische Perspektive einzunehmen, hatte Friedrich Schiller die Qualität von Bildungsprozessen in einem solchen Zwischenbereich lokalisiert (vgl. Schiller 1973). In einer dualistischen Anthropologie ging er davon aus, dass Menschen entweder nur verstandesmäßig strukturierend (formend) die Welt in Verfügung nehmen oder sich sinnlich von der Materialität der Welt gefangen nehmen lassen. Diese doppelte (triebhafte und daher zwanghafte) Strukturierung des Menschen erlaube keinen freien (bildenden) Umgang mit sich und der Welt. Dieser sei nur möglich, wenn der zwanghafte Charakter des Begreifens und des Affiziertwerdens aufgehoben sei: Neben dem ,ästhetischen Zustand‘ nennt Schiller bekanntlich das Spiel als jenen Ort der Versöhnung des Menschen mit sich und der Welt –
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
227
eine Versöhnung im Rahmen eines ,schönen Scheins‘ (vgl. Schäfer 2009). In seiner Untersuchung über das Spiel verweist Huizinga (2004) auf das eigentümliche Phänomen, dass spielende Menschen einerseits zwar wissen, dass sie ,nur‘ spielen, dass sie das aber andererseits keineswegs darin hindert, in der Logik des Spiels befangen und engagiert zu bleiben. In dieser Sicht wird das Spiel zu einem Zwischenbereich, in dem sich Wirkliches und Imaginäres kreuzen, also sowohl unterschieden wie auch miteinander verschränkt sind. In einer ganz ähnlichen Weise hat der Ethnologe Appadurai (1996) nun die Bereiche beschrieben, in denen (z. B. im touristischen Setting) Menschen unterschiedlicher ,Kulturen‘ aufeinandertreffen. In diesen Zwischenbereichen, die Appadurai ,ethnoscapes‘ nennt, werden Wirklichkeiten ausgehandelt, hervorgebracht, in die immer schon das imaginierte Andere als Anderes eingeht. Es sind Zwischenbereiche, in denen – unabhängig davon, inwieweit sie auch kommerzialisiert sein mögen – die Selbstverständlichkeiten des jeweils Eigenen angesichts des projizierten Anderen relativiert werden müssen. Man bewegt sich also in einem Raum, in dem sich die vermeintlichen Wirklichkeitsreferenzen der jeweils eigenen Sichtweise mit den möglichen Wirklichkeitsreferenzen der Perspektiven der jeweils Anderen kreuzen. Es entsteht ein Raum, in dem – wie im Spiel – die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit selber produktiv wird. Appadurai betont einen Effekt solcher Räume, der darin besteht, dass die Beteiligten lernen, ihre eigenen Perspektiven, ihr eigenes Leben durch die Brille imaginärer, möglicher anderer Lebensweisen zu sehen – wodurch sich nicht zuletzt der Wirklichkeitsstatus der eigenen Selbstverständlichkeiten relativiert (vgl. ders. 1996, S. 198). Dieser praktische Lernprozess ist keiner im Sinne des Zuwachses eines objektivierbaren Wissens. Er hat zumindest ebenso einen phantasmatischen Charakter: „fantasy is now a social practice“ (ebd.). Rojek hat darauf hingewiesen, dass solche Wirklichkeitskonstruktionen, solche Signifizierungen von Selbst- und Weltverhältnissen in der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit, nun nicht einfach als Leistungen eines souveränen Subjekts zu verstehen sind (vgl. Rojek 1997). Um anzugeben, mit wem man es zu tun hat, was einem widerfährt, wo Gemeinsames und Trennendes verlaufen, ist man letztlich auf vertraute, ,mitgebrachte‘ Zeichen, Bilder und Symbole angewiesen. Es ist der Rückgriff auf Bilder, auf in Filmen ge sehene Landschaften, auf in populärkulturellen Medien inszenierte Bedeutsamkeiten und Assoziationen, aus denen dann (vielleicht auch in Verbindung mit einem eher kodifizierten Wissen) eine mögliche Wirklichkeit der Anderen aufgebaut wird. Auch wenn diese Kon struktion nicht zuletzt auf der Bestätigung durch andere Reisende basiert oder durch ein Distinktionsverhalten gesichert wird, nach dem etwa (selbst wiederum mit imaginären A kzenten) einfache Touristen von ,wahren Travelern‘ unterschieden werden (vgl. Binder 2004; Gillespie 2006), so wissen Touristen dabei doch immer darum, dass sie durch ,eine Brille‘ sehen (vgl. Rojek 1997, S. 71). Dies wiederum bedeutet nur, dass sie den Möglichkeitsstatus ihrer eigenen Wirklichkeitsentwürfe selber im Rahmen der möglichen Wirklichkeit der ,ethnoscapes‘ zu verorten scheinen. ,Ethnoscapes‘ deuten sich damit als Kreuzungspunkte von selbstverständlich Wirklichem und spielerisch Möglichem an, als ein ,Erfahrungsraum‘, in dem die Differenz von Wirk lichem und Möglichem dadurch bearbeitet und hervorgebracht wird, dass man sich prak-
228
Bildung an ihren Grenzen
tisch in einen Raum verstrickt, in dem diese Unterscheidung in ihrer Stringenz fraglich wird. Dieser Perspektive möchte ich nun in vier Schritten nachgehen. Zunächst werde ich auf Verweise eingehen, die diese Sichtweise mit der Hervorhebung des Erlebens als Bezugspunkt touristischer Aktivitäten in Verbindung bringen und dabei auch auf Bezüge zu dem hinweisen, was häufig als Konsumismus angesprochen wird (a). In einem zweiten Schritt werde ich dann den Gesichtspunkt aufnehmen, dass die Perspektive auf die Wirklichkeit als Möglichkeit eine genuin moderne Perspektive ist. Dies beinhaltet zugleich, dass die in der ,authentischen Erfahrung‘ dramatisierte Figur zur Thematisierung von Bildungspro zessen unwahrscheinlicher wird (b). Der dritte Schritt geht dann einer eher analog zum Modell der authentischen Erfahrung angelegten Struktur nach, die das ,Erleben‘ als stummen Grund akzentuiert, der dann aber – und sei es als Erleben des Erlebens – artikuliert werden muss (c). In einem vierten Schritt wird schließlich das Selbst-Konzept Kierkegaards als ein philosophischer Bezugspunkt aufgerufen, von dem her eine Grundlosigkeit oder Dezentrierung deutlich wird, die sich mit einer Selbstbezüglichkeit verbinden lässt, die die Verstrickung in eine Welt nicht loswird – eine Verstrickung, die sich als solche weder subjektivistisch noch objektivistisch auflösen lässt (d). (a) Mitte der 1990er Jahre spricht der Tourismusforscher Armin Günther von einem zunehmend veraltenden Tourismus des Authentischen. Bedeutsamer werde ein Tourismus der Inszenierung, der sich über eine ,postmoderne Form‘ des Erlebens angeben lasse (vgl. Günther 1996, S. 95). Hier gehe es um die „Selbsterzeugung eigener Sinnwelten“, darum, „das ,wirkliche Leben‘ durch die Inszenierung einer in sich stimmigen Sinnwelt, interessanten, originellen und möglichst fesselnden Erlebniswelt zu überhöhen“ (ebd., S. 107). Bedeutsam sei gerade der Kontrast zu anderen, vorhergehenden Erlebnissen. Dabei – und das macht einen entscheidenden Unterschied zur Inszenierung der ,Erfahrung‘ – gehe es nicht um den Kontrast im Erlebten, im Anderen als Gegenstand des Erlebens, sondern um das „Erleben von Kontrasten des eigenen Erlebens“ (ebd., S. 116). Galani-Moutafi weist mit Blick auf Griechenland darauf hin, dass es in einer solchen neuen Perspektive immer noch um Bildung (education) geht. Jedoch hat sich deren rhetorischer Ort nicht nur zum Marketing verschoben. Die traditionelle Vorstellung habe auf einer Trennung des Tourismus von Bildungserlebnissen bestanden, die etwa durch die Konfrontation mit einer lebendig werdenden Antike ermöglicht werden sollten. Nun sei das Bildungserlebnis selbst in den Tourismus als Reisepraxis eingewandert. Bildung / Education „can take place in non-conventional settings and situations“ (Galani-Moutafi 2000, S. 211), in Kontakten mit Einheimischen in fremden Ländern. Hervorgerufen werden so „,leisurely‘ experiences; this underlying orientation provides evidence of de-differentiation of spaces and functions, one of the key characteristics of postmodernity“ (ebd.). Auch Wöhler verweist auf die Aufhebung von Raum- und Zeitkoordinaten während einer Reise, die das Vorgefundene dekontextualisiert und depolitisiert (vgl. Wöhler 2001). Und es ist diese ,Leere‘, die einen Freiraum der Reisenden konstituiert. Es scheint notwendig und möglich, diesen Freiraum praktisch (etwa durch die Organisation ihres Tagesablaufs) und durch die Erfindung von ,Geschichten‘ zu füllen, die die eigenen Erlebnisse dramatisieren. In einer späteren Veröffentlichung sprechen Wöhler, Pott und Denzer von Tourismusräumen als „Möglichkeitswelten des Sich-
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
229
Bestimmens“ (Wöhler / Pott / Denzer 2010, S. 12). Wie kommodifiziert und arrangiert auch immer, bieten solche Räume die letztlich nicht determinierbare Möglichkeit einer performativen touristischen Praxis: „Die unbestimmte touristische Aktualisierung eines Raumes paart sich mit der Unbestimmtheit des Raums selbst“ (ebd. S. 15). Solche Räume bieten nicht nur – wie die Autoren in quasi bildungstheoretischer Diktion sagen – Freiräume, „in denen und durch die andere Selbst- und Weltverhältnisse sowie soziale Be ziehungen gebildet und erprobt werden können“ (ebd. S. 13); sie sind auch zu sehen „als Möglichkeiten der Markierung von Individualität, Selbstbestimmung oder ästhetischer Stilisierung, als Möglichkeiten des Etwas-für-und-aus-sich-Machens“ (ebd.). Es mag unterschiedliche Herkünfte des Faszinosums solcher Möglichkeitsräume geben. Deren Bedeutung scheint allerdings nicht nur ein Phänomen zu sein, das im Reisen einen (vielleicht exponierten) Ausdruck findet. Folgt man Schulze, so hat sich seit den 1970er Jahren eine Veränderung vollzogen, die von einer stärkeren Orientierung hin auf die Sicherung des Lebens zu einer Innenorientierung geführt hat, in der es vorrangig darum geht, das Leben zum „Erlebnisprojekt“ zu machen (Schulze 2005, S. 13). Eine solche Entwicklung ist dabei nicht unabhängig zu sehen von der Entwicklung eines Erlebnismarktes, der die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens umfasst. Pine II und Gilmore (1999) sprechen von einer „Experience Economy“, einer Wirtschaft, die nicht einfach auf den Gebrauch von Waren abstellt, sondern diese mit Lebensentwürfen, Ideen und Erlebnisversprechen – mit Identitätsaufhängern als ästhetischen Projekten – versieht (vgl. auch Reich 2001). Ein solcher Erlebnismarkt, der durchaus eine soziale Segregation in Erlebniswelten und Lebensstile induzieren mag, lebt dabei nicht zuletzt vom Traum einer endlosen Transformation (vgl. Bolz 2002, S. 100 f.). Wer sich auf die Perspektive des Erlebens einlässt, dem droht nicht nur das Risiko einer Enttäuschung, sondern selbst im Falle eines Gelingens nur ein kurzfristiger Wunscherfüllungseffekt. Es entstehen „Konventionen der Überschreitung“ (ebd., S. 133), aber diese Konventionen sind offen: Sie verweisen auf performative Gestaltung: „Entscheidend ist, dass immer mehr Menschen ihre Existenz in einem umfassenden Sinn als gestaltbar ansehen“ (Schulze 2005, S. 58). (b) Koppelt man derart die Logik einer auf das eigene Selbst bezogenen Überschreitung mittels eines intensivierten und kontrastiven Erlebens an die Verwertungslogik einer profit orientierten Ökonomie, dann scheint man in das Fahrwasser einer älteren Diskussion zu geraten. In dieser wurde die Bedürfnissteuerung durch den kapitalistischen Markt einer bildungs- oder subjektivierungstheoretisch angelegten (reinen) Form der Selbstüberschreitung gegenübergestellt. Obwohl sich für die Opposition beider Sichtweisen Argumente f inden lassen, scheint es gerade der Verweis auf die notwendige Performativität der Adressaten zu sein, der einen einfachen Determinismus-Vorwurf gegenüber einer bloßen kulturindustriellen Gängelung schwierig macht. Im Performativitätstheorem verschränken sich macht- und marktinduzierte Vorgaben mit dem, was man diesem gegenüber als Sphäre der Selbst-Bildung angesehen hat. Dies zeigt sich nicht zuletzt an jener Verschränkung von Möglichkeit und Wirklichkeit, die als Voraussetzung für Selbst-Bildungsprozesse angesehen werden kann. Die Verschränkung von Kontroll- und Steuerungsprozeduren mit Selbstformungen – wie man sie etwa auch und gerade im Bereich medialer Präsentation findet (vgl. Bublitz 2010; Musil
230
Bildung an ihren Grenzen
1999) – ist auf die Gleichzeitigkeit der Entstehung von statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnung und fiktionalem Roman im 17. Jahrhundert zurückzuführen (vgl. Esposito 2007). Eine bedeutsame soziale Referenz scheint aber mit dem von Koselleck (1979) für die ,Schwellenzeit‘ um die Wende zum 19. Jahrhundert konstatierten Auseinandertreten von tradiertem Erfahrungswissen und offenem Erwartungshorizont gegeben zu sein. Dessen gleichsam alltägliche Etablierung führt zur quasi-prinzipiellen Annahme, dass das Gegebene auch anders möglich ist – dazu, dass eine „verallgemeinerte oder zumindest prinzipiell verallgemeinerbare Fiktionalisierung des Selbst- und Weltverhältnisses“ angenommen werden kann (Makropoulos 2008, S. 11). Für Makropoulos ist diese Kontingentsetzung des Wirklichen ein Kennzeichen der Moderne, das in seinen Effekten für eine selbstverständlich erscheinende Wirklichkeit so lange jedoch nicht zum Tragen kam, wie eine stabile Bedeutungs politik Bestand hatte. Deren bürgerliche Form war zwar nicht mehr an eine transzendental verbürgte objektive Referenz der Zeichen gebunden, sondern erlaubte z. B. wissenschaftlich pluralisierte Bedeutungssysteme, deren Referenz auf eine von den Zeichen unabhängig erscheinende Wirklichkeit Stabilität versprach. Für Makropoulos sind es zunächst die avantgardistischen Kunstbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dann aber vor allem deren Verbreitung durch die massenmediale Popkultur der 1960er Jahre, die dazu geführt haben, dass sich die scheinbar starren Verbindungen von Zeichen und Bedeutungen aufgelöst haben (vgl. ebd., S. 12). Es sind für Makropoulos gerade die Massenmedien, über die gleichsam die ,kulturelle‘ (zeichentheoretische) Modernisierung erfolgt, die sich wiederum als Komplement zu der bereits lange – mit der Differenz von Erfahrung und Erwartung – realisierten sozialen Modernisierung des Kontingenzbewusstseins verstehen lässt. Die moderne Form der Kontingenz umfasst nicht nur die individuelle Positionierung in der Welt, sondern auch die Kontingenz der Welt selbst (vgl. ebd., S. 18). Die Massenkultur bringt demnach ein positives Verhältnis zu einer Wirklichkeit hervor, die auf eine selbstverständliche Weise immer auch anders möglich ist. Zugleich wird mit ihr eine bestimmte Bearbeitungsfigur von Wirklichkeit und Selbst konstituiert, die von der Veränderbarkeit, der Überbietung dessen ausgeht, was gleichsam ,normal‘ erscheint. Am Phänomen der Mode hat Esposito nicht nur auf die Paradoxie hingewiesen, dass das Versprechen der Individualität selbst wiederum an Kriterien der Normalisierung gebunden ist, sondern dass es sich auf zeitlicher Ebene um eine „Verbindlichkeit des Vorübergehenden“ (Esposito 2004) handelt. Was im vorliegenden Zusammenhang an der Mode interessant erscheint, ist, dass sie sich im 18. Jahrhundert von schichtspezifischen Ausdrucksformen, d. h. einem sachlichen Ordnungspunkt, löst und zu einer gegenseitigen und selbstbezo genen Reflexion von Perspektiven nötigt, wenn man ,modisch‘ sein will. Mit der sozialen Referenz entfällt zugleich eine stabile Ordnung von Original und Kopie, Sein und Schein; zugleich verlangt das Genießen der ständig wechselnden Mode die Beobachtung dessen, was in den Augen der anderen gerade als schön erscheint. Die Mode nötigt – wie Esposito in systemtheoretischem Vokabular sagt – zu einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung. Deren Kennzeichen besteht in nichts anderem als der Kontingentsetzung des scheinbar Selbstverständlichen, wie es sich in der einfachen und unreflektierten Verstrickung in einen modischen Prozess darstellt. Die Bindung und Orientierung an dem, was jeweils
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
231
,Mode‘ ist, kann nur gelingen, wenn diese Orientierung deren Kontingenz, deren Wirklichkeit als Möglichkeit immer schon annimmt. Dieser Punkt, der die Reflexivität des erlebenden Genießenes nicht einfach nur als unmittelbarer oder direkt induzierbarer Effekt angesehen werden kann, wurde auch bereits im Hinblick auf die Erlebnisorientierung im Kontext einer ,Erlebnisgesellschaft‘ wie auch des Reiseerlebnisses deutlich. Es liegt daher nahe, das Verhältnis von Erlebnis und Re flexion bzw. Beobachtung zweiter Ordnung, von verbindlichem Erlebnis und dessen kontingentierender Artikulation näher zu betrachten, wobei sich eine gewisse Analogie zu der behandelten Paradoxie des Ausdrucks im Bereich der ,authentischen Erfahrung‘ aufdrängt. (c) ,Authentische Erfahrungen‘ wie auch ,schöne Erlebnisse‘ kann man suchen: Sie können als Reisemotivation artikuliert werden. Das Eintreten der beiden steht nicht in der eigenen Verfügung, sondern hängt von Verstrickungen in Situationen und Kontexte ab. Zugleich aber ist ihr Vorliegen nur über eine diskursive Artikulation zugänglich, die immer schon in einem verschiebenden, reflexiven, verfehlenden – oder: möglichen – Verhältnis zu dem steht, was sie artikuliert. Die authentische Erfahrung bleibt ebenso wie das ,wirkliche Erlebnis‘ eine diskursive, eine dramatisierende oder authentifizierende Signifizierung. Dabei wird nicht nur im Falle der authentischen Erfahrung das dezentrierende Scheitern der selbstverständlichen Welt- und Selbstverhältnisse so stilisiert, dass sie als eine Art Nullpunkt einsehbar wird, aus dem her sich ein neues Selbst- und Weltverständnis einsehen lässt. Eine solche ,fundierende Rolle‘ für das Selbst- und Weltverständnis wurde auch – zumindest in der geisteswissenschaftlichen Tradition – lange dem ,Erleben‘ zugeschrieben. Für Dilthey bildete in seiner ,Einleitung in die Geisteswissenschaften‘ (1990) das Erlebnis die Grundlage jeder objektivierenden Erkenntnis. Im Erlebnis waren für ihn Subjektivität und Objektivität als Einheit gegeben: Noch vor jeder Unterscheidung von Selbst- und Weltverhältnissen, vor jeder reflektierenden Erkenntnis und Objektivierung wird hier der Grund gelegt für eine umgreifende Gewissheit, die diese reflexive Selbstvergewisserung wie auch die objektivierende Erkenntnis zu tragen vermag. Der frühe Dilthey stellte sich dieses Fundierungsverhältnis von Erlebnis, Reflexion und Erkenntnis noch als eine Art linearen Prozess vor, in dem sich letztere quasi aus dem ersten ergeben, in dem der Grund also ,trägt‘. Und noch der späte Dilthey (1970), der den Dreischritt von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen favorisierte und damit dem (sprachlichen) Ausdruck, der Artikulation eine stärkere Rolle zumutete, hielt diese Dreierkonstellation für relativ unproblematisch: Das Erlebnis blieb der Grund des Ausdrucks, dessen Verständnis durch den Anderen wie auch durch den Artikulierenden selbst dann wiederum die Brücke zum Verständnis des Erlebens bildete. Der Ausdruck schien also weiterhin dem Erlebnis selbst adäquat zu sein. Folgt man nun jenen Überlegungen, die oben im Hinblick auf die touristische Artikulation des Erlebens und den massenmedialen ,Konsum‘ erwogen wurden, so stellt sich die Lage gegenüber einer solchen pathetischen Betonung des Erlebens als ,Grund‘ doch anders dar. Dort wurde hervorgehoben, dass der Referenzpunkt eines solchen Erlebens die Verstrickung in eine Situation oder in Beziehungen darstellt, in denen die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit als unbestimmt erscheint. Das Erleben wird in dieser Konstellation zur Grundlage einer zwischen Kontingenz und Verbindlichkeit schillernden Möglichkeit einer als
232
Bildung an ihren Grenzen
bedeutsam erscheinenden Selbstartikulation. Es ist dieses eher spielerische Szenario der Verhältnisbestimmung zu einem niemals hinreichend bestimmbaren Raum der Verstrickung, von dem her angesichts der ,tiefen‘ Bedeutung authentischer Erfahrungen der Eindruck einer subjektzentrierten Oberflächlichkeit entsteht. Nun mag es zwar sein, dass – etwa in den analysierten touristischen Interviews – die Widerständigkeit des Anderen, des Fremden und dessen Unzugänglichkeit nicht mehr als jener die (existenzielle) Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen auslösende Punkt erscheint. Wenn man aber die unaufhebbare Differenz von Erfahrung und Erfahrungsartikulation und damit den bloßen Möglichkeitsstatus ,authentischer Erfahrungen‘ berücksichtigt, dann dient die Dramatisierung ihres ,realen‘ Verlustes rhetorisch-strategisch eher nur zur Bekräftigung von deren herausgehobener Bedeutsamkeit. Wendet man demgegenüber den Blick auf das Erleben des Erlebens, auf das artikulierte Verhältnis zum Erleben, das dessen Bedeutsamkeit für das eigene Selbst zu figurieren versucht und sich dabei am gleichzeitigen Entzug des Erlebnisgeschehens rhetorisch abarbeiten muss, dann scheint zumindest ein zweifacher Unterschied angebbar zu sein. Zum Ersten wird – in den analysierten Interviews – das Erleben als Grund nicht an einer dramatisierten Unzugänglichkeit und Fremdheit festgemacht, sondern am Verhältnis von Eigenem und Anderen, das als solches ebenfalls nicht bestimmbar ist. Statt Fremdheit als Grund des ,Entzugs‘ wird nun ein Möglichkeitsraum aufgerufen, der als solcher bestimmt werden muss, ohne dies mit Bestimmtheit tun zu können. Zum Zweiten ist dazu eben jener ,Möglichkeitssinn‘ erforderlich, der die eigenen Artikulationen nicht darauf verpflichtet, der wahren Bedeutsamkeit trotz allem auf die Spur zu kommen, sondern der – bei aller Dramatisierungs-, Selbstbestimmungs- und Authentifizierungsrhetorik – eine Praktik darstellt, mit dem Spielerischen und d. h. gerade auch: dem zugleich Unverbindlichen und Verbindlichen der Selbstartikulation umzugehen. (d) Es war Sören Kierkegaard, der in der ,Krankheit zum Tode‘ die Figur eines Selbst entwarf, das in sich selbst keinen Grund zu finden vermag. Er bezeichnet das Selbst nicht einfach nur als ein Verhältnis zu sich selbst: Dies wäre eine subjektivistische Figur der Selbstermächtigung. Für ihn ist das Selbst ein Verhältnis zu sich selbst als einem Verhältnis (vgl. Kierkegaard 1992, S. 8) – zu sich selbst als einem Selbst- oder Weltverhältnis. Dass man hinter dieses Verhältnis, zu dem man sich verhält, nicht zurückgehen kann, dass man sich also angesichts dieser Verstrickung weder in der Welt noch in sich selbst zu gründen vermag, dies löst bei ,ernsthaften Gemütern‘ Verzweiflung aus. Doch Kierkegaard kennt auch noch eine andere Möglichkeit, die der ,religiöse Schriftsteller‘ gerne als nachrangig behandeln möchte: diejenige eines ästhetischen (oder spielerischen) Verhältnisses zu den eigenen Selbst- und Weltverhältnissen (vgl. ders. 1993). Diese Herangehensweise führt zu einer Souveränität in der strategischen Überlegenheit gegenüber anderen Personen, die auf die Intensivierung des eigenen Genießens ausgerichtet ist. Was aber wäre, wenn dieses ästhe tische Verhältnis zu sich selbst als Verhältnis zur Signatur eines Möglichkeitsraums geworden wäre, der bei aller kulturindustrieller Aufbereitung doch durch die Suche nach einem ,authentischen Selbst‘ angetrieben würde? Eine solche Suche, in deren Artikulation sich die ,verzweifelte‘ Suche und die ästhetische Inszenierung als Strukturierungsmomente er
Authentische Erfahrung und erlebtes Erleben – Figurationen der Selbst-Bildung
233
weisen könnten, würde immer schon durch den Möglichkeitssinn, das Eingedenken der Verbindlichkeit des Vorübergehenden, gebrochen. Vielleicht steht das Erleben des Erlebens für den Ernst eines spielerischen Umgangs mit einer Grundlosigkeit des eigenen Selbst, deren Wirklichkeit nur als Möglichkeit behauptet werden kann? Und vielleicht deuten sich damit andere Figuren der Selbst-Bildung an, deren Dramatik sich nicht wie im Fall der ,authentischen Erfahrung‘ gegen die Selbstverständlichkeit des Gegebenen richtet, sondern die aus der Verstrickung in das Gegebene resultiert. Vielleicht lässt sich in der marktför migen Präformierung der Möglichkeiten und Wünsche noch der Möglichkeitsraum von Prozessen der Selbst-Bildung eher auf eine spielerische Weise öffnen.
Literatur Adorno, T. W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt a. M. Appadurai, A. (1996): Global Ethnoscapes. Notes and Queries for a Transnational Anthropology. In: Fox, R. G. (Hrsg.): Recapturing Anthropology. Working in the Present. Santa Fe. Binder, J. (2004): Globality. Eine Ethnographie über Backpacker. Münster. Bolz, N. (2002): Das konsumistische Manifest. München. Bublitz, H. (2010): Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld. Cohen, E. (1979): A Phenomenology of Tourist Experiences. In: Sociology 13, S. 179–201. Dilthey, W. (1990): Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. In: Ders. (Hrsg.): Gesammelte Schriften I. Stuttgart. Dilthey, W. (1970): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. Esposito, E. (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M. Esposito, E. (2004): Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Frankfurt a. M. Galani-Moutafi, V. (2000): The Self and the Other. Traveler, Ethnographer, Tourist. In: Annuals of Tourism Research 27, S. 203–224. Gamm, G. (1997): Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart. Gillespie, A. (2006): Becoming Other. From Social Interaction to Self Reflection. Greenwood. Günther, A. (1996): Reisen als ästhetisches Projekt. Über den Formenwandel touristischen Er lebens. In: Hartmann, H. A . / H aubl, R. (Hrsg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz. Opladen. Hegel, G. W. F. (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. Hoffman, E. (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München. Horkheimer, M. / A dorno, T. W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. Huizinga, J. (2004): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg. Kierkegaard, S. (1993): Entweder / Oder. Gütersloh. Kierkegaard, S. (1992): Die Krankheit zum Tode. Gütersloh. Koselleck, R. (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. Laclau, E. (2002): Emanzipation und Differenz. Wien. Lévi-Strauss, C. (1975): Strukturale Anthropologie II. Frankfurt a. M. MacCannell, D. (1973): Staged Authenticity. Arrangements of Social Space in Tourist Settings. In: American Sociological Review 79, S. 589–603.
234
Bildung an ihren Grenzen
Makropoulos, M. (2008): Theorie der Massenkultur. München. Meyer-Drawe, K. (2008): Diskurse des Lernens. München. Musil, R. (1999): Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg. Pine II, B. J. / Gilmore, J. H. (1999): The Experience Economy. Work is Theatre and every Business a Stage. Boston. Ragbyas, T. (2004): Ladakh. Tradition and Change. Delhi. Reich, R. B. (2001): The Future of Success. Working and Living in the New Economy. New York. Rojek, C. (1997): Indexing, Dragging and the Social Construction of Tourist Sights. In: Rojek, C. / Urry, J. (Hrsg.): Touring Cultures. Transformations of Travel and Theory. London / New York, S. 52–74. Schäfer, A. (2011): Irritierende Fremdheit: Bildungsforschung als Diskursanalyse. Paderborn. Schäfer, A. (2009): Die Erfindung des Pädagogischen. Paderborn. Schiller, F. (1973): Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart. Schulze, G. (2005): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. Thompson, C. (2009): Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn. Waldenfels, B. (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a. M. Waldenfels, B. (1995): Deutsch-französische Gedankengänge. Frankfurt a. M. Wöhler, K. (2001): Aufhebung von Raum und Zeit. Realitätsverlust, Wirklichkeitskonstruktion und Inkorporation von Reisebildern. In: Köck, C. (Hrsg.): Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung. Münster. Wöhler, K. / Pott, A. / Denzer, V. (2010): Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen. In: Dies. (Hrsg.): Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens. Bielefeld, S. 11–19.
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen1 von Heinz-Elmar Tenorth
Die Ausgangsannahmen – eine methodische Vorbemerkung „Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
Über Bildung kann man schon seit langem nicht mehr ohne methodische Vorbemerkungen reden, nicht über ihren Status als Theorie und schon gar nicht über ihre Zeitlichkeit. Auch wenn Einführungen in die „Theorie der Bildung“2 – sic, sogar im Singular – geschrieben worden sind, und ganz aktuell ein Band über „Zeit und Bildung“3 publiziert wurde, ist das Thema nicht nur kontrovers und brisant, sondern riskant, theoretisch wie bildungs- und disziplinpolitisch. Theoretisch riskant ist das Thema z. B., weil mit ihm ganz radikale Konsequenzen verbunden scheinen, z. B. wird heute bildungstheoretisch nichts weniger als die „Abschaffung der Zeit“ verkündet, zusammen mit einem Ratschlag – oder ist es doch nur eine Beobachtung? –, „… wie man Bildung erfolgreich verhindert“. Politisch ist das Thema brisant, weil sich in der Öffentlichkeit, vor allem aber in den beteiligten Disziplinen über „Bildung“ theoretische Fraktionen erzeugen und erbittert bekämpfen. Eine kleine Vor bemerkung, um sich nicht nur gegen unbescheidene Erwartungen zu wappnen, sondern auch gleich die Karten offen zu legen, also die bescheidenen Absichten und die begrenzte Kompetenz einzuräumen, ist deshalb unentbehrlich. Was das letztere angeht, ich argumentiere, wie immer, nur als theoretisch interessierter Historiker. Die Frage bleibt also unentschieden, ob es wirklich eine, und nur eine, Theorie der Bildung gibt. Meine Referenz ist deshalb neben der Wirklichkeit der Bildung auch nur die kursierende Bildungssemantik. Die Zeitlichkeit der Theorie, Theorie ist natürlich auch Teil dieser Semantik und hat eine eigene Zeitlichkeit, damit meine Anfangsoptionen klar sind und keine Verwirrung entsteht, diese Zeitlichkeit, sagt der Historiker, ist nicht die Zeitlichkeit von Lebensformen, d. h. die Wirklichkeit der Bildung in der ihr eigenen histo rischen Praxis. Diese historisch-gesellschaftliche Praxis, „Bildungswirklichkeit“, hat in a llen Dimensionen der Zeitlichkeit, also z. B. nach Herkunft und Vorgeschichte, in der historischen Spezifik der Gegenwart und den Formen ihrer Präsenz, z. B. als Gegenwärtigkeit von Vergangenheiten oder als Zäsur zwischen vergangenen Gegenwarten und neu eröffneten Realitäten, als Option einer Zukunft oder als Vorwegnahme künftiger Zeiten, auch in Rhythmus und Dauer, in den sozialen oder physischen Referenzen (etc.), insgesamt eine
236
Bildung an ihren Grenzen
Zeitlichkeit, die sich von jener, der Zeitlichkeit der Theorie, eindeutig unterscheiden lässt (mögen sie auch hier und da gemeinsame Merkmale zeigen). Es wäre daher eher ein Zufall, wenn die Zeit der Theorie und die Zeit der Praxis, z. B. der Praxis von Bildung, zusammen, also in eine Zeit fallen, die sich dann vielleicht sogar als identisch beschreiben lässt. Theoriezeit, mit anderen Worten, ist nicht gesellschaftliche Zeit. Ungeachtet aller Rela tionen, kausaler oder korrelativer oder interaktiver Natur, die man hier und da sicherlich behaupten oder demonstrieren kann, und von denen Wissenschaftssoziologen und -historiker erzählen können, hat Theorie dennoch ihre eigene Zeit, bis in die zentralen Kriterien von Wissenschaftlichkeit hinein. Selbst „Objektivität“ ist kein zeitloses Ideal oder Kriterium, sondern hat als „epistemische Tugend“ (neben den anderen der „Gewißheit, Genauigkeit, Wiederholbarkeit“) ihre eigene Geschichte, seit man sie im späten 18. Jahrhundert in ihrer modernen Form wahrzunehmen beginnt.4 Sie entfaltet sich in einer eigenen Geschichte, die v. a. in den historisch-epistemologischen Analysen von Lorraine Daston und Peter Galison jüngst noch erhellt wurde. Hier kann man am Beispiel der beobachtenden Wissenschaften die drei jeweils dominierenden Gestalten in ihrer strenger Abfolge sehen (ohne dass eine der Gestalten dabei gänzlich verschwindet), nämlich als „Naturwahrheit“, als „mechanische Objektivität“ und als „geschultes Urteil“, immer basierend im „wissenschaftlichen Selbst“ der Forschergemeinschaft, der diese Tugend ihre Geltung in den wissenschaftliche Praktiken im Alltag der Arbeit verdankt. Das ist aber kein allein soziolo gisches Argument, sondern ein Argument der historischen Epistemologie, die zeigen kann, dass die Geltungsbedingungen des Wissens den Anforderungen folgen, die sich mit und in den Themen der Erkenntnis im Forschungsprozess stellen, also methodischer, nicht etwa logischer Natur sind. Daston & Galison stellen deshalb auch die Sequenzierung der verschiedenen Varianten von Objektivität als Konsequenz einer Folge von Weisen des Sehens dar, d. h. als „Erkenntnistheorie des Auges“, dokumentiert in ihrer zentralen Quelle, den Atlanten, in denen sich „die Bildergeschichte der Objektivität“ manifestiert. Sie gehen also von der Praxis der Wissenschaften aus, von ihren Praktiken, hier: der Beobachtung, und sie zeigen deshalb auch die „Objektivität in Hemdsärmeln, nicht in der Tunika einer Marmorstatue“ (Daston / Galison 2007, S. 56). Diese Praktiken, Methoden in einem umfassenden Sinne5, also das sachbezogene Kernkonzept und -geschäft von Wissenschaft, zeichnen aber eine jede Wissenschaft aus, und die Methoden konstituieren sie dann auch in ihrer Dif ferenz. Mag die historische Epistemologie pädagogischer Forschungspraxis auch noch fehlen6, es gibt bisher auch keinen mir erkennbaren Grund, dass ausgerechnet die Erziehungswissenschaft davon dispensiert wäre, ein solches methodenbasiertes Sachkonzept auszuweisen, schon weil sie als beobachtende Disziplin selbst im späten 18. Jahrhundert einsetzt. Auch in dem Spezialfall, dass sie sich Bildung als Thema theoretischer Anstrengungen einer an der Wirklichkeit zu prüfenden Erkenntnis vornimmt (und nicht allein philosophisch argumentiert), muss sie ihr Methodenrepertoire entwickeln, explizieren und prüfen, um Objektivitätsansprüche einzulösen. Diese Ausgangsannahmen könnte man jetzt natürlich noch ausführlich begründen und entfalten; ich will das nicht tun, denn das wäre ein selbstständiges und zeitfressendes Unterfangen, das zu weiten Ausflügen in unterschiedliche Referenzräume zwischen Ge-
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
237
schichtsphilosophie und der Metatheorie der Historie, jeweils in relativ unübersichtlicher Gemengelagen, nötigen würde. Schon der ja nicht ganz unbekannte Satz, um wenigstens einen Theoretiker zu nennen, der bei Bildungstheoretikern einigen Kredit genießt, dass eine bestimmte Theorieform, jetzt: die Philosophie, nichts anderes sei als „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ (Hegel 1821, S. X XII) 7, wirft ja das Problem auf, auf welche Zeit denn das hier genutzte „ihre“ referiert: auf die Umwelt der Philosophie, und damit auf die historischgesellschaftlich definierte Welt und ihre Zeit, die meist Thema ist, wenn man von „Bildung in der Zeit“ (Nieke / M asschelein / Ruhloff 2001) spricht, oder auf die eigene Welt der Philosophie und damit auf die epistemisch definierte Zeit, die ja im Prozess und Progress der Erkenntnis8 ihr eigenes Zeitmuster hat? Aber, ich beende meine Vorbemerkung, das a lles will ich nicht für sich diskutieren, mein Interesse gilt der Zeitlichkeit der Bildung, als Theorie und als Lebensform, in Forschung und Handeln (und als „Theorie und Praxis“ will ich das ungern codieren, denn das unterscheidet nicht hinreichend), in der Relation ihrer je eigenen Zeiten.
Zeitlichkeit im Ursprung – Einheit, Koexistenz, Kovarianz Gegen die Eindeutigkeit der Differenzbehauptung, ich beginne meine historiographische Argumentation, könnte man ja einwenden, dass zumindest im Ursprung von einer Gleichzeitigkeit von Lebensform und Theorie der Bildung geredet werden kann, für die wir noch heute deskriptiv wie programmtisch oder normierend und reflexiv den Bildungsbegriff benutzen. Selbst die meist relativ theoriedistanten Bildungshistoriker 9, könnte man gleichzeitig sagen, platzieren zumindest den Ursprung des aktuell kursierenden, des modernen Begriffs der Bildung in eine Zeit, für die sie auch eine Zäsur in der Bildungspraxis behaupten. Das ist leider kein präziser Tag oder ein Jahr, auch nicht 1762; aber wenn man eine präzise Datierung braucht, kann man vielleicht den 23. Mai 1769 nehmen – ein Dienstag übrigens –, als Herder sich von Riga aus auf die Seereise nach Frankreich macht und in dem „Journal meiner Reise im Jahre 1769“ sich seiner „Bildung“ vergewissert, also auch eine sehr bildungstypische Gattung für die Reflexion seiner Praxis nutzt.10 Ich würde eher für einen Zeitraum plädieren, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine eigene historische und theoretische Struktur erzeugt hat und danach auch anhaltend-nachhaltig wirksam bleibt, also für die Zeit von ca. 1770 bis 1810 / 20. Man kann jetzt von Bildung als einer Wirklichkeit von eigenständigem Charakter reden und zugleich von Bildung als Thema eigenständiger, mit theoretischem – philosophischem oder erfahrungswissenschaftlichem – Anspruch auftretender Reflexion. Von hier aus wird deshalb datiert, und wenn man nicht national fixiert ist (Bildung also nur für ein deutsches Thema hält, was ich nicht tue), dann finden sich für die theoretischen Anstrengungen auch, z. T. sogar früher, Gewährsmänner in Schottland oder England, Frankreich oder der Schweiz, genau so wie man für die Wirklichkeit des Aufwachsens in Gesellschaften deut liche Zäsuren europaweit markieren kann: Nimmt man den kollektivbiografischen Indika-
238
Bildung an ihren Grenzen
tor der Alphabetisierung, dann sieht man in Schweden oder Schottland oder den Niederlanden schon seit dem späten 17. Jahrhundert andere Welten als früher, betrachtet man die Staatstätigkeit und Systemstrukturen für Bildung, etwa das Schulwesen, allein in grund legenden Verfassungstexten und fortwirkenden politischen Programmen, dann bietet Paris – in und nach 1789 mit der Erklärung der Menschenrechte und der Prinzipien der modernen Demokratie – genau so wie Preußens Berlin 1794 – im Allgemeinen Landrecht, also schon vor den preußischen Reformen und ihren Texten – ebenfalls eindeutige Zäsur indikatoren; denkt man schließlich Individuen zentriert und biografisch für die Einheit, zumindest das Zusammenfallen von Bildungsreflexion und neuer Bildungspraxis, dann kann man in Deutschland nach der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits die Sozialfigur des gebildeten Intellektuellen identifizieren, zwar nicht massenhaft, aber doch auch von Lessing bis Schleiermacher nicht mehr zu übersehen. Bildung und der Gebildete sind hier natürlich auch literarisch präsent, zumal in den eigens sich entwickelnden „Bildungsromanen“. Die hier, gesellschaftlich wie literarisch, anzutreffenden Menschen, die „Gebildeten“, emanzipieren sich über „Bildung“ sozial wie beruflich in einer noch ständischen Gesellschaft und geben damit dem Aufwachsen in Gesellschaften fern der alten religiös-ständischen Prägung und der damit verbundenen historischen Form eine neue, in der Zäsurqualität nahezu revolutionäre Gestalt. Es sind Personen, wie die genannten und andere, aber auch der preußische Staat, die den Gedanken der „Selbstbildung“ und des „Selbstlernens“, also der Selbstkonstruktion und Selbstkonstitution des Subjekts als den Kern der neuzeitlichen Bildungsidee, in dieser Zeit formulieren. Sie tragen der Bildungsidee und -praxis zugleich die fortwirkenden Hypotheken ihrer weiteren Geschichte ein, und zwar durch die gleichzeitig formulierte Erwartung – jetzt theoretisch – dass in der Entfaltung des Bildungs-Themas, gleich ob reflexiv oder als Praxis, ein paar Themen mit bedient oder auch nur genutzt werden, die sich als ausgesprochen sperrig erweisen werden. Das gilt für die Bindung, gelegentlich sogar Gleichsetzung der säkularen Bildungsvorstellung mit dem alten theologischen Problem, die „Bestimmung des Menschen“ zu klären, sie jedenfalls wesentlich als Referenzpunkt für „Bildung“ zu nehmen und jetzt anthropologisch, nicht mehr theologisch zu beantworten11. Die Erschwerung aus dem Ursprung rührt aber auch daher, dass sich Bildung auch dann noch unverdrossen in universalistischer Anspannung und Ambition geriert, wenn sie nicht allein den Menschen oder die Gattung im Sinn hat, sondern Mensch und Welt in ihrer gesellschaftlich gegebenen Einheit und in ihrer den Lebenslauf strukturierenden Form, z. B. im Bildungssystem, wie das die Aufklärer tun. Bei Betrachtung dieser Reflexion und ihres systemischen Substrats erschrecken einige Bildungstheoretiker über die Differenz, die sich dann zwischen Realität und Ambition auftut. Ein berühmtes „Nordlicht“ z. B., das in Bayern seit 1804 Schulreform betreibt, wird prominent durch die dualisierende Beschreibung, die er aus dieser Perspektive der Bildungswirklichkeit und ihrer philanthropischen Re flexion gibt, und er erzeugt eine folgenreiche Disjunktion von Welten, von solchen, die dem „Geist“ gehorchen und der Bildung, und anderen, die nichts als „utilitaristisch“ sind. Niethammers Problem ist in der Welt, schon in der Ursprungsphase von Bildung, als Disjunktion der Zeiten und Welten von Bildung hier, systemrelativer Qualifizierung und Verwertung
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
239
von Kompetenzen dort, mit der Schwierigkeit allerdings, dass nicht einmal alle neuhumanistischen Bildungstheoretiker ihm folgen12 und späte, heutige Neuhumanisten seine Disjunktion für entbehrlich, wenn nicht falsch halten.13 Die Erschwerung setzt sich ferner darin fort, dass die Rede über Bildung auch gleich zeit diagnostisch genutzt und kritisch aufgeladen wird, auch wenn der Begriff noch nicht fixiert und z. B. als „ästhetische Erziehung“ eingeführt wird (die klare Unterscheidung von „Bildung“ und „Erziehung“ ist selbst noch Thema der Ursprungsphase). Auch Schiller sucht – in den Briefen wie in der Antrittsvorlesung (Schiller 1801 / 2009; ebd. 1789 / 1966) – die Zeit der Bildung, kann sie aber in seiner Welt so wenig finden wie bei den meisten Studenten in der Universität; denn dort überwögen die an Status und Beruf interessierten „Brotgelehrten“ den an Bildung und Wissenschaft orientierten „philosophischen Kopf“, wie Schiller, bildungs theoretisch, die disjunkten Klassen von Studierenden in Jena identifiziert – und im Grunde die „Brodgelehrten“ zum Verlassen seiner Vorlesung aufgefordert hatte (Schiller 1789 / 1966)14. Bildung jedenfalls findet er nicht in der Gesellschaft, sondern allein in der Kunst und der ästhetischen Reflexion sowie in der so weltvergessenen wie zeitabgehobenen Form des Spiels.15 Das verweist auf klassische Fluchträume, die bildungstheoretisch bis heute gern – und durchaus mit Anerkennung bei Bildungstheoretikern oder Protagonisten „kultureller Bildung“ – gesucht werden, wenn man die Wirklichkeit der Bildung identifizieren will, ohne sich des Escapismus schuldig oder verdächtig zu machen. Die von mir systematisch – aber ohne normative Implikationen – behauptete Disjunktion von Bildungswelten und -zeiten charakterisiert also, das will ich festhalten, offen kundig schon den Ursprung der Rede von Bildung, dann aber auch höchst wertthematisch codiert. Bestenfalls sind die neuen Zeiten des Bildungsbegriffs und die neuen Zeiten der Bildungswirklichkeit simultan präsent, gelegentlich fallen sie in der Lebensform der Gebildeten punktuell zusammen, so wie sie in der Renaissance, die ganz offenkundig das sich tradierende Vorbild für die Disjunktion von Arbeit und Bildung ist, im adlig-höfischen Lebenswandel zur Einheit kam. Aber das ist dann eine Lebensform, die das Attribut des Universalistischen nicht mehr verdient, sondern Bildung gegen ihren eigenen Anspruch a llein als sozial exklusive Praxis einiger weniger Intellektueller, gleich ob adlig oder bürgerlich, konkretisiert.16
„Systemdynamik“ – der Prozess und Progress der Bildung in ihrer Wirklichkeit Aber, und ich trete in die weitere Geschichte ein, das muss ja nicht so bleiben, der Ursprung determiniert nicht die Folgezeit, die Zeit der Reflexion und die historisch-gesellschaftliche Zeit der Bildung entwickeln ihre eigene Dynamik – wohin hat sie geführt? Ich skizziere, stilisierend, zunächst die Realität und gesellschaftliche Wirklichkeit von Bildung, systemisch, für das Bildungssystem, und individuell, im Blick auf die Subjekte, wie sie sich historisch identifizieren lassen. Ich versuche das, die Beschreibung der Bildungsgeschichten, die man dann betrachten muss, bei aller an sich gegebenen Schwierigkeit, ja Unlösbarkeit der
240
Bildung an ihren Grenzen
Aufgabe in der begrenzten Zeit, die ich hier habe, dennoch in einer Weise, die nicht allein die vorliegende Forschung rekapituliert. Diese Forschung meide ich schon deswegen, weil sie eine Beschreibung der in sich höchst ambivalenten, spannungsreichen, vielfältigen, aber – je nach Referenzraum und -welt – widersprüchlichen, jedenfalls nicht einfach zur Einheit formenden Bildungsgeschichten im Grunde gar nicht gibt. In der aktuellen, zumal der vom Bildungsbegriff inspirierten Historiographie dominieren nämlich, zu meinem Missfallen, wie ich einräume, stark wertthematisch besetzte Geschichten. Ihre Erzählmuster (um nicht Narrativ sagen zu müssen) treten z. B. explizit als „Verfallsgeschichten“ auf, liest man z. B. die ältere Forschung, für die etwa Clemens Menze stehen mag17, oder als Geschichten einer systematischen, weil gesellschaftlich unausweichlich erzeugten Deformation, liest man die von Foucault inspirierten Geschichten, die zwar weniger historiographisch und auf eigene neue Quellen gestützt als exegetisch oder geschichtsphilosophisch organisiert sind18 . Schließlich gibt es Geschichten, in denen die Trennung, gar die Widersprüche von Bildung und Erziehung, Freiheit und Unterwerfung zum Leitfaden werden, als seien „Bildung und Macht“ oder „Bildung und Herrschaft“ nur in Metaphern der Deformation des Subjekts zu sehen, für die selbstverständlich die Strukturprinzipien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verantwortlich sind, wie man bei Heydorn und seinen Jüngern (vgl. auch Heydorn 1970) lesen kann. Für den Historiker sind diese Darstellungen schon deswegen unbefriedigend, weil sie über Bildung reden, in der Regel aber nur Systemgeschichten erzählen, des öffentlichen Bildungssystems oder der Systeme von Ideen in ihrer eigenen Referentialität. Das Individuum in seiner Praxis aber, die doch für Bildung angeblich überhaupt erst konstitutiv ist, wird dabei meist gar nicht zur Geltung gebracht. Germanisten, die solchen Fixierungen nicht folgen, organisieren ihre Bildungsgeschichten deshalb auch nicht zufällig „jenseits von Utopie und Entlarvung“.19 Historiker wiederum, die das Thema einer Geschichte von Individualität und den Prozessen der Individualisierung ernst nehmen20, können zwar die Vielfalt subjektiv konstruierter Bildungsgeschichten zeigen, und zwar jenseits der Alter native von Emanzipation oder Deformation 21, aber am Ende regiert Kontingenz (und gelegentlich Kulturkritik). Auch für unsere Gegenwart, nehmen wir dafür die Zeit seit dem 20. Jahrhundert, ist das nicht allein eine Verfallsgeschichte, wie die Systemzeit angesichts des Zivilisationsbruchs im Holocaust nahelegt, sondern durchaus eine individualisierbare Zeit in ihrer ganzen Ambivalenz. Auch dafür kann ich hier nur wenige Indizien nennen, so weit, dass ich mich nicht dem Verdacht voltairscher Welten aussetze. Meine These gilt, erster Bereich, ausdrücklich auch für das Bildungssystem. Der Prozess seiner historischen Dynamik ist nämlich jenseits der Verfallsklage eindeutig als Progress beschreibbar, vor allem als fortschreitende Inklusion in das Bildungssystem und seine Logik und Zuschreibung der Bildsamkeit, also als Realisierung eines Bildungsversprechens der Aufklärung, und als Inklusion bis dato ausgeschlossener Populationen: der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiter, wenn man das Elementarschulwesen betrachtet, der Frauen zuerst und dann auch der gesamten Mittel- sowie, zeitlich bald folgend, von relativ großen Teilen der Unterschichten, wenn man die höheren Bildungsanstalten, wie die Zeitgenossen unterscheiden, in den Blick nimmt. Diese Zunahme der Beteili-
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
241
gung an Bildungsangeboten setzt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht allein nur individuell, sondern kollektiv in das tertiäre Bildungssystem hinein fort. Ich beschreibe das als „Progress“, weil ich natürlich weiß, dass die wertthematische Betrachtung solcher zunehmender und sich offenbar selbst verstärkender 22 Inklusionsprozesse auch andere Referenzen als „Teilhabe“ einführt, z. B. „Chancengleichheit“, und dann neben der pädagogischen auch gesellschaftliche Egalitätsindikatoren verwendet und die Fortdauer von Ungleichheit, aber: gesellschaftlicher, nicht pädagogischer Ungleichheit, konstatiert. Ich bestreite das nicht, würde aber, zweiter Indikator, neben Inklusionsprozessen auch Autonomisierungsgewinne als Effekt der Systemdynamik behaupten, also individuell folgenreiche Prozesse der Emanzipation der Subjekte durch und wegen der erweiterten Teilhabechancen an Bildungsprozessen. Das gilt dann auch für die Elementarbildung, deren Bildungswert ich nicht dadurch abwerten würde, dass man hier den Zugang zu bloßen „Kulturtechniken“ sieht und das in bildungstheoretischer Perspektive gering schätzt 23. Die Zunahme an Handlungschancen, wie sie mit dieser schulisch generalisierten Form von Grundbildung verbunden sind, würde ich im Gegenteil sehr hochschätzen, an Arbeiterkindern seit dem frühen 19. Jahrhundert belegen, und deshalb zunehmende Beschulung nicht im Bilde der Indoktrination in der Schule des Untertanen beschreiben, sondern als Emanzipation, v. a. aus der Herkunftsschicht und gegenüber den politischen Zumutungen der Herrschenden. Die Geschichte der Sozialdemokratie als Bildungsbewegung würde ich jedenfalls so deuten, und ohne die Garantie des Bildungsminimums, das die Sozialdemo kratie explizit vom Staat einfordert, ist diese Geschichte nicht zu erklären. Die Beschulung der Massen war für diesen Emanzipationsprozess notwendige, wenn auch allein nicht hinreichende Bedingung. Das geschieht natürlich – aus der Perspektive der bildungspolitischen Planer – gegen deren Intentionen, aber, dritter Indikator, Bildungsprozesse sind ja nicht Resultante von Intentionen (und deshalb einfach beschreibbar), sondern je subjektive und interaktive Prozesse des Umgangs mit Welt, natürlich dann auch gegen intendierte Zumutungen. Solche Effekte gibt es deshalb auch, und nicht nur zufällig oder vereinzelt, unter Bedingungen der Diktatur. Ute Frevert beschreibt jedenfalls die Effekte der nationalsozialistischen Frauenpolitik als „nicht intendierte Emanzipation“, und sie belegt es an Bildungsbiografien im Kontext von NS-Organisationen, die diese Effekte als Leistungen der Subjekte in schwierigen Umwelten darstellen24. Wir haben selbst in eigenen Forschungsprojekten für die Grenzen von Indoktrination am Beispiel der (NS- und) DDR-Erziehungswirklichkeit geforscht und sie demonstriert (vgl. Tenorth 1995; ders. u. a. 1996; ders. 1997; Schuch 2013). Auch hier sind es unverkennbar die Leistungen der Subjekte, die solche Brechungen zwischen Intention und Wirkung erzeugen und den fortdauernden Eigensinn von Lernprozessen demonstrieren. Eine wesentlich an Intentionen – der regierenden Politiker, der Pädagogen, der Theoretiker – ansetzende Historiographie oder Kritik verfehlt systematisch die Bildungswirklichkeit in ihrer eigenen Dynamik; eine Fixierung auf Systemgeschichten wiederum verfehlt die Praktiken der Selbstkonstruktion der historischen Individuen und deshalb auch die Realität von Bildungsprozessen. Aber vielleicht müssen zumal die Kritiker ja so ansetzen, also Geschichte zum Stein-
242
Bildung an ihren Grenzen
bruch der eigenen Suppositionen und zum Beleg der eigenen Kritikfähigkeit machen, weil sie sich von ihren geliebten Verfallsgeschichten und den Diagnosen der zunehmenden Sozialpathologie von Gesellschaft und Schule nicht verabschieden wollen. Ich komme also zur Bildungstheorie, frage danach, wie die von Historikern gezeichnete Bildungswirklichkeit – natürlich, eine in voller Ambivalenz gezeichnete Bildungswirklichkeit – sich in der Theorie spiegelt, wie sie beobachtet und analysiert wird.
„Theoriedynamik“ – der Prozess und Progress der Analyse von Bildung in ihrer historischen Dynamik und Realität Mein dominierender Eindruck im Blick auf die zumal im pädagogischen Milieu aktuell kultivierte Theorie der Bildung lautet: Angesichts der hier nur angedeuteten, aber unverkennbaren Dynamik von Bildungssystemen und individuellen Bildungsprozessen in der Zeit seit dem Ursprung neuzeitlicher Bildungsorganisation überrascht es denn doch, dass der Diskurs über Bildung, zumal bei solchen Teilnehmern, die für ihre Rede epistemisch Theorieund zeitdiagnostisch Kritikstatus beanspruchen, inzwischen eine eigentümliche Zeitlosigkeit gewonnen hat. Man erkennt das daran, dass bestimmte historisch identifizierbare Gestalten der Theorie als unveränderlich stilisiert und in der Kritik der Zeit immer neu und immer gleich beansprucht werden. Nicht selten werden bestimmte Fassungen des Bildungsbegriffs und seine Implikationen sogar als „wahr“, also in einer Weise attribuiert, mit der die Bestimmungen von Bildung, die man bei einem Autor findet, von aller Zeitlichkeit gereinigt werden. Aussagen eines bestimmten Autors, nicht selten (aber nicht nur) die von Wilhelm von Humboldt, werden dabei als Maßstab genommen, alle anderen Autoren in ihren Aussagen, seien es programmatische über wünschenswerte Welten oder empirische Urteile über die Wirklichkeit, zu messen und zu bewerten. Dabei wird dann zwar deren Historizität notiert, in der Regel aber nur als Ungenügen und Zeitverhaftetheit bewertet, die eigene Theorie aber nicht nur als wahr, sondern auch – in Nietzsches Bahnen – als einzig „unzeitgemäß“, insofern auch theoretisch angemessen, weil als widerständig gegen den „Zeitgeist“ qualifiziert. Damit wird die maßstabsetzende Theorie aber der Geschichtlichkeit entzogen und sie gewinnt nicht selten die Qualität des Wesenhaften und Wahren in der Artikulation dessen, was den Namen der Bildung wirklich verdient. Im Blick auf die Zeitlichkeit eines theoretischen Gedankens verweist diese Beobachtung auf zwei Aspekte, die der Kritik bedürfen: Wie rechtfertigt sich, das ist die eine Frage, solche Stabilität und Zeitlosigkeit des Arguments, das der Wirklichkeit konstant im Modus der Verurteilung und Kritik begegnet, gegenüber allem empirischen Wandel aber immer nur ein „umso schlimmer für die Wirklichkeit“ bereithält? Die Antwort auf diese Frage ist relativ einfach. Man findet sie im dominant normativen (und programmatischen) Duktus der Rede von Bildung, auf die man hier stößt, im beharrlichen Verweis darauf, wie Bildung eigentlich oder an sich zu sein habe und in der mitlaufend tradierten Beobachtung, dass die Realität dem nicht entspricht. Die normativen Implikationen der Bildungstheorie, radi kaler, und mit Wolfgang Fischer, die „positionelle Metaphysik“ (Fischer 1987), die jede
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
243
ildungstheorie offenbar ausbildet, die sich mit den schon genannten Schwierigkeiten – B etwas Unstrittiges und Wahres über das Wesen des Menschen zu sagen z. B. – einlässt, diese normativen Implikationen schützen offenbar gegen Erfahrung, wie man für den utopischen Diskurs weiß, der gegen alle Empirie immun ist. Das bestätigen schon die großen Autoritäten: „Empirische Beweisgründe wider das Gelingen dieser auf Hoffnung genommenen Entschließungen richten hier nichts aus“ (Kant 1793, S. 186) 25 – kann man bekanntlich bei Kant lesen. Aber bei dem gilt auch: Sollen impliziert Können, ohne Realitätsbezug keine Norm begründung – deshalb heißt ja auch meine zweite Frage: Lernen Bildungstheoretiker gar nichts aus den Erfahrungen der permanenten Differenz von Bildungsambition und Bildungswirklichkeit, oder, anders gesagt, auch wenn sie die normativen Vorgaben konstant halten und bekräftigen, dass es auf die Realisierung von Bildung, Freiheit und Individua lität, auf die Herrschaft der Vernunft oder sogar, auch den Pleonasmus kann man hören, einer „humanen Vernunft“ (Nida-Rümelin 2013) ankommt, wie immunisiert sich diese Reflexion gegen Erfahrung? Ist es tatsächlich so, dass der Gedanke der Bildung allein als Norm existiert, aber nicht als Theorie, also nicht als ein Wissen, das sich methodisch kontrolliert auf die Wirklichkeit einlässt und ihre eigenen Annahmen – etwa über die Bildungsprozesse von Subjekten – auch an der Wirklichkeit prüft und die eigenen Annahmen im Notfall auch revidiert, sich also gegen die Zeitlichkeit nicht sperrt, die für eine Theorie typisch ist, d. h. das methodisch kontrollierte und theoretisch reflektierte Lernen an der Erfahrung? Ist, mit anderen Worten, Bildungstheorie gar nicht Theorie? Man kann das angesichts der Dominanz binärer Codierungen und der Konstruktion der Bildungswirklichkeit in Bildern von „Unbildung“ oder der „Sozialpathologie“ gesellschaft licher Wirklichkeit, wie sie im Umkreis kritischer Theorien und kritischer Pädagogik kursieren (oder bei konservativen Historikern, die den Untergang bürgerlicher Lebensformen kulturkritisch beklagen26), vielleicht sogar mit guten Gründen vermuten. Aber das ist offenbar auch kein Naturgesetz, dass Kritik an der Bildungswirklichkeit, selbst scharfe Kritik, mit einer Immunisierung gegen die Erfahrung dieser Wirklichkeit anscheinend notwendig parallel geht, selbst wider besseren Wissens. In Theodor W. Adornos „Theorie der Halbbildung“27, der affirmativen Position wohl unverdächtig, findet sich nach aller scharfen Kritik an der „Bildungskrise“ der Gegenwart „als eine Art negativen objektiven Geistes“ und der Diagnose, dass Bildung „zu sozialisierter Halbbildung geworden (ist), der Allgegenwart des entfremdeten Geistes“, dann doch die selbstkritische Reserve: „Wohl wären der These vom Absterben der Bildung ebenso wie von der Sozialisierung der Halb bildung, ihrem Übergreifen auf die Massen, triftige empirische Befunde entgegenzu halten. […] Gemessen am Zustand jetzt und hier ist die Behauptung von der Universalität der Halbbildung undifferenziert und übertrieben.“ (Adorno 1962, S. 175) Adorno deklariert dann seine eigene theoretische Absicht um, es gehe nur darum, „eine Tendenz [zu] konstruieren“, und er nimmt auch die Kritik an der alten Idee der Bildung, sie sei „in ihrer Reinheit“ selbst nicht mehr als „Ideologie“ (ebd., S. 175 f.) nicht nur zurück, sondern sieht in der Vergegenwärtigung der Tradition sogar einen Modus der Bewahrung der richtigen Idee, von der auch die Analyse profitiert. „Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt,
244
Bildung an ihren Grenzen
läßt nirgends anders sich ablesen, als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt.“ (ebd.) Für die „Idee der Bildung“ hat das eigenartige Konsequenzen. Sie sei „in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag.“ (ebd.) Ihre Existenzform sei die einer sehr eigenartigen Zeitlichkeit, die in Gegenwart und Vergänglichkeit zugleich lebt: „Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt.“ (ebd., S. 176) Wenn man Geschichtsphilosophie der Bildung für Theorie hält, dann gibt es für den Theoretiker, der sich nicht allein auf Normativität reduzieren lassen will, diese Rückzugsposition – auch sie enthebt natürlich von Erfahrung. Man kann auch noch weit radikaler argumentieren, und den spezifischen Theoriestatus erst in der Kontraposition gegenüber aller Erfahrung, ja gegenüber der Sagbarkeit des Phänomens behaupten, wie das Herwig Blankertz getan hat: „Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung [sic, bei Blankertz nur Erziehung] enthält einen analytisch prinzipiell nicht ausschöpfbaren Sinn – dieser Sinn ist eine in der europäischen Bildungstradition aufgehobene Realität. Darum […] ist [die Pädagogik] […] um ihrer kri tischen Funktion willen an die Überlieferung von Philosophie und Umgangsweisheit rück gebunden“ (Blankertz 1979, S. 41).28 Heißt das, dass eine pädagogische Theorie der Bildung deshalb auch nur diesen Status hat, eher Traditionsbewahrung und „Umgangsweisheit“, aber nicht szientifisch rekonstruierbar, deshalb auch gegen Erfahrung immun, so dass relative Zeitlosigkeit als Alleinstellungsmerkmal beansprucht wird? Der Zeitmodus einer Theorie verlangte aber andere Aktivitäten, vor allem die methodisch kontrollierte Verarbeitung von Erfahrungen mit und an der Wirklichkeit der Bildung, Forschung über Bildung also. Die wird aber offenbar an andere Disziplinen delegiert, an die historischen und sozialwissenschaftlichen z. B. oder die entsprechenden Abteilungen in der Erziehungswissenschaft, auf Disziplinen also, aus denen ja auch meine Argumente kamen. Von solchen Disziplinen kann man aber nur lernen, wenn man das eigene Thema auch in anderen Begriffen wiedererkennen kann, denen von Lernen oder Sozialisation oder von biografischer Erfahrung zum Beispiel. Aber kritische Bildungstheorie weigert sich, diese Begriffe als Operationalisierungen von Bildung anzuerkennen, immunisiert sich also gegen die darin transportierten Erfahrungen genau so wie gegen die historische Bildungspraxis der Individuen. Diese Verlagerung der theoretischen Zeitlichkeit an die anderen Disziplinen zugunsten der eigenen Zeitlosigkeit wäre dann allerdings auch mit allen Folgeproblemen solcher Arbeitsteilung zwischen normativ bestimmten Bewahrungsdiskursen und der Forschung über Bildung verbunden, z. B. der Unfähigkeit der kritischen Bildungs theorie in der Pädagogik, die alltägliche Bildungspraxis der Subjekte überhaupt wahrzu nehmen.29 Aber, das ist eine letzte Vermutung, vielleicht will die Bildungstheorie im pädagogischen Milieu ihren Theoriestatus ja dadurch gewinnen, dass sie für Bildung an andere Zeiten und Welten als die hier und jetzt gegebenen denkt, etwa an den „Geist“ und seine Zeit, die vielleicht sogar zeitlos ist. Man lese nur in Schleiermachers „Monologen“. Dort, aber bezeichnender Weise nicht in seinen Vorlesungen über Pädagogik, findet man einschlägige Thesen
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
245
über Bildung, d. h. präziser über „Individualität und Weltverhältnis“ (Schleiermacher 1800 / 2008, S. 203): „So bist du Freiheit mir in allem das ursprüngliche, das erste und innerste. Wenn ich in mich zurückgehe, um dich anzuschaun, so ist mein Blick auch aus gewandert aus dem Gebiet der Zeit, und frei von der Notwendigkeit Schranken; es weichet jedes drückende Gefühl der Sklaverei, es wird der Geist sein schöpferisches Wesen inne, das Licht der Gottheit geht mir auf, und scheucht die Nebel weit zurück, in denen jene Sklaven irrend wandern“ (ebd., S. 206). Und Schleiermacher erwartet: „… jeden Augenblick kann der Mensch außer der Zeit leben, zugleich in der höheren Welt“ (ebd.). Aber diese Abkehr von den „sinnlichen Menschen“ (ebd., S. 207) und der Rückzug auf die „Menschheit in mir“ (ebd., S. 209) bzw. auf das „Bewußtsein der allgemeinen Menschheit“ (ebd., S. 211) hat methodisch dann doch wieder den Status der Metaphysik oder der theo logischen Schwärmerei, nur zur Realität führt sie nicht. Aber sie verrät die Fallstricke der Selbstbildung als der Bildung des Selbst: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses Einen [sic, groß] Willens.“ (ebd., S. 238) Dann herrscht auch Freiheit, wenn ich die äußere Welt zu ignorieren gelernt habe und allein das als Bildung bezeichne: „So lange ich alles auf diesen ganzen Zweck beziehe, und jedes äußere Verhältnis, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich wert sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdrücken, und zu seiner inneren Bildung, seinem Wachstum mir Stoff aneignen; … so lange beherrscht mein Wille das Geschick, und wendet Alles, was es zu bringen mag zu seinen Zwecken mit Freiheit an.“ (Ebd.) Natürlich, diese Position kann man bildungstheoretisch einnehmen, man kann es ja jeden Tag beobachten. Mir fällt das allerdings schwer, zumal dann, wenn man die bundesdeutsche Wirklichkeit betrachtet, etwa in Dortmund und im Revier, und die Bildungsprobleme der Akteure sieht, mit denen wir es zuerst zu tun haben. Die „Sinneswelt“ dann zu vergessen und sich den klassischen Texten zuzuwenden, das fällt heute nicht einmal mehr Theologen ein. Warum sollen ausgerechnet Erziehungswissenschaftler so zeitlos gültig, jenseits der Sinnenwelt, denken und das dann Bildungstheorie nennen? Für wen ist das, jenseits des exegetischen Diskurses und der in spezifischen Milieus kultivierten Selbst bestätigung, ein produktives Unterfangen?
Literatur Adorno, T. W. (1962): Theorie der Habbildung. In: Sociologica II. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 168–192 Bayer, H. (1975): Zur Soziologie des bürgerlichen Bildungsbegriffs. In: Paedagogica Historica 15 / 2, S. 321–355. Benner, D. / Brüggen, F. (2004): Bildsamkeit / Bildung. In: D. Benner / J. Oelkers (Hrsg.): Histo risches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim / Basel: Springer, S. 174–215. Blankertz, H. (1979): Kritische Erziehungswissenschaft. In: K. Schaller (Hrsg.).: Erziehungswissenschaft der Gegenwart. Prinzipien und Perspektiven moderner Pädagogik. Bochum: Kamp, S. 28–45.
246
Bildung an ihren Grenzen
Blankertz, H. (1963): Berufsbildung und Utilitarismus. J. Derbolav (Hrsg.). Band 3: Problemgeschichtliche Untersuchungen. Düsseldorf: Schwann. Bosse, H. (2012): Bildungsrevolution 1770–1830. Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg: Winter. Daston, L. / Galison, P. (2007): Objectivity. New York: Zone Books. dt. Übers.: Daston, L. / Galison, P. (2007): Objektivität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dörpinghaus, A. / Poenitsch, A. / Wigger, L. (2006): Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: WBG. Dörpinghaus, A. (2012): Zeit und Bildung. Über die Selbstaffektion der Erfahrung. In: S. SchmidtLauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster u. a.: Waxmann, S. 61–70. Dörpinghaus, A. / Uphoff, I. K . (2012): Von der Abschaffung der Zeit. Oder wie man Bildung erfolgreich verhindert. Darmstadt: WBG. v. Dülmen, R. (Hrsg.) (2001): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u. a.: Böhlau. Elias, N. (1977): Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse. In: Zeitschrift für Soziologie 6 / 2, S. 127–149. Fischer, W. (1987): Was kann Allgemeinbildung heute bedeuten? In: J.-E. Pleines (Hrsg.): Das Pro blem des Allgemeinen in der Bildungstheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 9 –25. Flach, W. (1994): Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie. Würzburg: Königshausen & Neumann. Fuhrmann, M. (2004): Der europäische Bildungskanon. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. u. a.: Insel-Verlag. Geulen, E. / Pethes, N. (Hrsg.) (2007): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg: Rombach. Habermas, R. (2004): Selbstreflexion zwischen Erfahrung und Inszenierung. Schreiben im Bürgertum um 1800. In: S. H äder / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim / Basel: Beltz, S. 30–47. Häder, S. (2004): Zeugnisse von Eigen-Sinn – Punks in der späten DDR. In: S. H äder / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim / Basel: Beltz, S. 68–84. Häder, S. / Tenorth, H.-E. (Hrsg.) (2004): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim / Basel: Beltz Hegel (1821): Philosophie des Rechts. Frankfurt / Berlin / Wien. Ullstein. Heydorn, H. J. (1970): Bildung und Herrschaft. Frankfurt a. M.: Syndikat. Horn, K.-P. / Link, J.-W. (Hrsg.) (2011): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Jeismann, K.-E. (1987): Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert. In: Ders. / P. Lundgreen (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. Band III: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. München: CH Beck, S. 1–21. Jeismann, K.-E. / Lundgreen, P. (1987) (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. Band III: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. München: CH Beck. Kant, I. (1793): Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Kant-Werke, Ed. Weischedel, Bd. I X. Koch, L. (2004): Allgemeinbildung oder Grundbildung, Identität oder Alternative. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7 / 2, S. 183–191.
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen
247
Lichtenstein, E. (1971): Bildung. In: J. R itter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel: Schwabe, Sp. 921–937. Menze, C. (1975): Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover: Schroedel Nida-Rümelin, J. (2013): Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg: edition Körber-Stiftung. Nieke, W. / M asschelein J. / Ruhloff, J. (Hrsg.) (2001): Bildung in der Zeit. Zeitlichkeit und Zukunft – pädagogisch kontrovers. Weinheim / Basel: Beltz. Ricken, N. (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden: VS. Schiller, F. (1801 / 2009): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von S. Matuschek (Hrsg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schiller, F. (1789 / 1966): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: ders., Werke, Bd. II. München: Hanser, S. 9 –22. Schleiermacher, F. D. E . (1800 / 2008): Monologen. Eine Neujahrsgabe. (1800) In: Ders.: Über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe. C. A lbrecht (Hrsg.). Frankfurt a. M. u. a.: Verlag der Weltreligionen, S. 195–259. Schuch, J. (2013): Mosambik im pädagogischen Raum der DDR. Eine bildanalytische Studie zur ,Schule der Freundschaft‘ in Staßfurt. Wiesbaden: Springer. Tenorth, H.-E. (2009): Allgemeines Normativ von 1808. Niethammer als Schulreformer. In: G. Wenz (Hrsg.): Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Beiträge zu Biographie und Werk geschichte. Bayerische Akademie der Wissenschaften. Heft 133. München: BAdW, S. 65–81. Tenorth, H.-E. (2007a): Widerstand und Opportunismus, Normative Distanzierung und analy tische Ratlosigkeit. Erziehungswissenschaft angesichts von Bildung und Erziehung in Diktaturen. In: C. Crotti / P. Gonon / W. Herzog (Hrsg.): Pädagogik und Politik. Historische und aktuelle Perspektiven. Bern u. a.: Haupt, S. 131–149. Tenorth, H.-E. (2007b): Basiskompetenzen – Über die Ignoranz gegenüber dem Selbstverständ lichen in der Bildungstheorie. In: K. F. Wessel (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung und die Bildung für die Zukunft. Bielefeld: Kleine-Verlag, S. 32–41. Tenorth, H.-E. (1997): Politisierung des Schulalltags im historischen Vergleich – Grenzen von Indoktrination. In: Erinnerung für die Zukunft. Band II. Ludwigsfelde: PLIB, S. 37–48. Tenorth, H.-E. / Pilarczyk, U. / Mietzner, U. / Wünsche, K. (1996): Umgang mit Indoktrination: Erziehungsintentionen, -formen und -wirkungen in deutschen „Erziehungsstaaten“. In: D. Benner / H. Merkens / F. Schmidt (Hrsg.): Bildung und Schule im Transformationsprozeß von SBZ, DDR und neuen Ländern. FU Berlin, S. 11–32. Tenorth, H.-E. (1995): Grenzen der Indoktrination. In: P. Drewek / K .-P. Horn / Ch. K ersting / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Ambivalenzen der Pädagogik. Zur Bildungsgeschichte der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts. Weinheim: Studien-Verlag, S. 335–350. Tenorth, H.-E. (1989): Widersprüche einer Philosophie – Notizen zur Sozialgeschichte des Neukantianismus. In: J. Oelkers / W. K . Schulz / H.-E. Tenorth Hrsg.): Neukantianismus. Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie. Band 5: Studien zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Dt. Studien-Verl., S. 39–78. Vierhaus, R. (1972): Bildung. In: W. Conze / R . Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 508–551. Weil, H. (1930 / 1967): Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn: Bouvier. Welter, N. (2003): Herders Bildungsphilosophie. St. Augustin: Gardez.
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs von Peter Vogel
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs
Wenn es hinsichtlich des Begriffs „Erziehung“ unter deutschen Erziehungswissenschaftlern so etwas wie Einigkeit gibt, dann besteht sie sicherlich darin, dass der Begriff uneindeutig, vieldimensional, insofern schwer gegen andere Begriffe wie „Bildung“ oder „Sozialisation“ abgrenzbar ist und als theoretisches Konzept allenfalls in konkurrierenden und sich teilweise gegenseitig ausschließenden Modellen zu fassen ist: „Vor dem Hintergrund einer Pluralität von Ansätzen bemüht sich die Erziehungswissenschaft um eine abstrakte, allgemeine Definition von Erziehung, die aber kontrovers bleibt“ (Wigger 2011, S. 338). Dessen ungeachtet scheint der Begriff, der zugleich die Denomination der Disziplin Erziehungswissenschaft prägt, nicht entbehrlich zu sein; er steht am Beginn der erziehungswissenschaftlichen Re flexion in der Moderne: „Erziehung, nicht Bildung wird […] in der sich ausdifferenzierenden Reflexion über das Aufwachsen – also jenseits der philosophischen Texte – zunächst zum theoretisch leitenden Begriff, vor allem dann, wenn diese soziale Tatsache in eigener theoretischer und methodischer Anstrengung als Grundlage einer eigenen Wissenschaft beobachtet werden soll“ (Tenorth 2011, S. 357), und steht – so Elmar Tenorth – im Unterschied zu „Bildung“, mit der sich auch andere Kulturwissenschaften beschäftigen, für den disziplinären Fokus der Erziehungswissenschaft (vgl. ebd., S. 358 f f.). Im folgenden Text geht es nicht darum, den zahlreichen Versuchen der theoretischen Fassung des Erziehungsbegriffs einen weiteren hinzuzufügen, sondern es sollen Über legungen angestellt werden, unter welchen Bedingungen der Erziehungsbegriff trotz seiner Unschärfe in erziehungswissenschaftlichen Theoriekontexten verwendet werden kann. Zunächst wird versucht, die metatheoretischen Probleme, die mit der Bestimmung des Begriffs verbunden sind, zu sortieren und zu diskutieren; dabei dient der Lexikonartikel „Erziehung“ von Lothar Wigger (Wigger 2011) als Folie. Im 2. Teil geht es um die Folge rungen für erziehungswissenschaftliche Forschung unter Nutzung des Erziehungsbegriffs. Der Text gliedert sich in durchnummerierte Thesen (kursiv gesetzt) und ihre Erläuterungen / Begründungen, um die Argumentation möglichst transparent zu machen.
250
Bildung an ihren Grenzen
1.
Zur Möglichkeit einer allgemeinen abstrakten Definition von „ Erziehung“
1) Bei der Diskussion der Frage, welche Elemente zum Erziehungsbegriff gehören (sollen), ist zu unterscheiden zwischen Erziehung als theoretischem Begriff (mit allem, was ein Begriff in einer Theorie zu leisten hat) und Erziehung als umfassendem, eher alltagsweltlichem Denkmodell. 1.1 Wer in Alltagsgesprächen mit dem Begriff „Erziehung“ operiert, kann damit rechnen, dass der Gesprächspartner versteht, was damit gemeint ist; Studierende wissen schon, was „Erziehung“ bedeutet, bevor sie ein Studium der Erziehungswissenschaft aufnehmen. Dieses alltagsweltliche (im strengen Sinn vortheoretische) Denkmodell ist hinreichend genau, um in alltäglichen Diskussionen einen Bereich sozialen Handelns bzw. Handlungen, Motive und Eigenschaften von Personen zu beschreiben, gleichzeitig aber zu unscharf bzw. zu inkonsistent für theoretische Diskussionen. 1.2 Den zentralen Grundbegriffen der Pädagogik / Erziehungswissenschaft (Erziehung, Bildung, Schule, Unterricht, Lernen) ist gemeinsam, dass sie – jenseits ihrer Bedeutung in theoretischen Kontexten – auch in der Alltagswelt genutzt werden, um sich über die entsprechenden Phänomene zu verständigen (vgl. Vogel 1994, S. 378 f f.). Das bedeutet für den Versuch einer theoretischen Bestimmung, dass sie nicht völlig jenseits des alltagsweltlichen Vorverständnisses ansetzen kann, und Elemente der alltagsweltlichen Bedeutung berücksichtigen muss; insofern kann es hilfreich sein, die Elemente der Alltagsbedeutung von Erziehung zu bestimmen, um vor diesem Hintergrund dann die erziehungswissenschaftlich-theoretischen Bestandteile / Probleme zu identifizieren. 1.3 Die alltagssprachliche Bedeutung von Erziehung ist für die theoretische Diskussion um den angemessenen Erziehungsbegriff insofern unverzichtbar, als sonst nicht erklärbar wäre, worauf sich die unterschiedlichen elaborierten Erziehungstheorien als Referenz beziehen. Diesen Umstand nutzt z. B. Friedrich Schleiermacher, der erst vom „populären Begriff“ ausgeht, „um allmählich zu einer Erklärung zu gelangen“ (Schleiermacher 1813, S. 7), wenn er seine Vorlesung zum Thema „Erziehung“ mit der Feststellung beginnt: „Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen“ (Schleiermacher 1826, S. 7), bevor er dann versucht, den Begriff auf 150 Druckseiten theoretisch zu fassen. Auch Lothar Wigger startet mit der „populären“ Vorstellung von Erziehung: „Erziehung ist eine in allen historischen und gegenwärtigen menschlichen Gesellschaften vor zufindende soziale Praxis des Umgangs von Menschen mit ihren Kindern“ (Wigger 2011, S. 338), bevor er mit Hilfe von Siegfried Bernfeld eine erste theoretische Fassung verfolgt (vgl. ebd.). 2) Wenn man so unterscheidet, dann lassen sich die Merkmale des alltagsweltlichen Denkmodells Erziehung (mit dem Maß an Genauigkeit, das so ein Modell haben kann) einiger maßen bestimmen. 2.1 Mit Erziehung ist in der Regel gemeint eine Form von sozialem Handeln (genus proximum), das den Zweck hat, die Einstellungen / Haltungen des Adressaten dieses Handelns
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs
251
im Sinn von erwünschten Einstellungen / Haltungen zu verändern (differentia specifica). Das soziale Setting, auf das sich das alltagsweltliche Denkmodell bezieht, ist in der Regel die Familie; Eltern erziehen ihre Kinder, ausnahmsweise andere Familienangehörige oder andere Erwachsene (z. B. Lehrer oder Mitarbeiter in sozialpädagogischen Einrichtungen). 2.2 Dieser Begriff wird meistens für die Beschreibung und Diskussion aktueller oder geplanter Handlungen einschließlich ihrer Begründung und der erwarteten Effekte genutzt („Fernsehverbot als Erziehungsmaßnahme, damit der Junge lernt, sein Zimmer aufzuräumen“), aber auch für das Ergebnis dieser Handlungen („Das Mädchen ist einfach schlecht erzogen“), wobei der Erziehungserfolg oder Misserfolg in der Regel den Eltern zugerechnet wird („Sie hätten sie mal anständig erziehen sollen“). Dass dabei – aus theoretischer Sicht – von der Handlungs- in die Beobachterperspektive gewechselt wird (vom „Absichtsbegriff“ zum „Produktbegriff“), ist im Rahmen alltagswelt licher Denkmodelle unproblematisch (vgl. dazu Punkt 5). 2.3 Die Statusdifferenz zwischen Erzieher und Zögling ist gleichfalls bei dem lebensweltlichen Denkmodell mitgedacht; Kinder als noch nicht selbstverantwortliche und insofern erziehungsbedürftige Personen werden von erwachsenen und selbstverantwortlichen Personen erzogen. Wer als Erwachsener den Eindruck bekommt, dass sein Gegenüber Erziehungsabsichten hat, fühlt sich als Kind behandelt; das wird z. B. dann deutlich, wenn etwa in einer Beziehung vermeinte oder tatsächliche Erziehungsabsichten durch den Partner / die Partnerin mehr oder weniger empört zurückgewiesen werden. 3) Die theoretischen Fassungen des Erziehungsbegriffs gehen vom Alltagsverständnis aus – alle Elemente des Alltagsverständnisses von Erziehung finden sich auch in den unterschied lichen theoretischen Bestimmungsversuchen –, wobei diese Elemente auf der Basis der er ziehungswissenschaftlichen Tradition problematisiert und ergänzt werden. Die Art der Problematisierung beruht auf theoretischen Vorentscheidungen, d. h. sie hängen von jeweils unterschiedlichen Erziehungstheorien ab. 3.1 Das Problem „Erziehungshandeln ist ein Handeln, dessen Erfolg ungewiss ist“, ist ein gravierendes Problem nicht (oder wenigstens nicht primär) deshalb, weil die Erfahrung zeigt, dass Erziehungsabsichten gelegentlich nicht erfolgreich sind – medizinische Therapien sind auch nicht immer erfolgreich, was aber weder die medizinische Forschung noch die medizinische Praxis grundsätzlich in Frage stellt –, sondern weil die Bemühungen, die Haltungen / Einstellungen eines Zöglings zu ändern, ihre strukturelle Grenze darin haben, dass ausschließlich der Zögling selbst diese Haltungsänderung vollziehen kann. „Erziehung ist […] ein Handeln oder Geschehen, dessen Erfolg vom Akteur nicht garantiert werden kann. Der Erfolg beruht auf der selbsttätigen Leistung des Adressaten. Erziehung als Vermittlung ist auf das Lernen und die Aneignung durch den Adressaten angewiesen“ (Wigger 2011, S. 339). Eine durchaus vergleichbare Charakterisierung dieses Problems findet sich in der systemtheoretischen Reformulierung durch Niklas Luhmann: die Erziehung steht „vor dem Problem, dass sie nicht kann, was sie will. Sie hat es mit psychischen Systemen zu tun, die
252
Bildung an ihren Grenzen
nur das tun, was sie tun. Ein Schüler, der grinst, grinst. Ein Schüler, der rechnet, rechnet. Man kann durch Tadel oder Lob darauf kommunikativ reagieren, aber es gibt keine Möglichkeit, die Bewußtseinsverläufe, die sich daraufhin ergeben. durch Kommunikation zu spezifizieren. […] Überdies handelt es sich nicht um Trivialmaschinen, die nach der immer gleichen Transformationsfunktion reagieren, sondern um selbstreferentielle Maschinen, die durch eigene Operationen selbst bestimmen, wovon sie bei der anschließenden Operation ausgehen“ (Luhmann 1981, S. 23). Ein Nebenproblem dieser theoretischen Konstellation ist übrigens, dass selbst dann, wenn der Zögling sich in der gewünschten Weise verhält, keine Sicherheit besteht, ob er es aus Einsicht tut (also seine Haltung wirklich geändert hat), oder nur, um Ärger zu vermeiden oder dem Erzieher einen Gefallen zu tun. Beiden Problematisierungen der Möglichkeit von Erziehung ist gemeinsam, dass das Problem erst durch grundsätzliche Annahmen über den Zögling und seine Verfasstheit entsteht: Bei Wigger die Unterstellung der Intentionalität des Zöglings, die in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zur Intentionalität des Erziehers steht, bei Luhmann die Unterstellung, dass Zöglinge „selbstreferentiell“ operieren. Diese Unterstellungen sind auf der Ebene der Menschenbildannahmen angesiedelt, die den Unterbau jeweils unterschiedlicher Erziehungstheorien ausmachen (vgl. 3.5). 3.2 Die Statusdifferenz, die bei „Erziehung“ immer mitgedacht ist (vgl. 2.3), wird zum theoretischen Problem insofern, als das immer asymmetrische erzieherische Verhältnis und die damit implizierte Machtausübung in einem Spannungsverhältnis zur angestrebten Autonomie des Zöglings stehen. „Erziehung ist […] ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, in dem die Akteure gesellschaftlich berechtigt werden, in ihrem Sinn und mit ihrer Macht Andere zu beeinflussen und zu verändern. Daraus resultiert das Dilemma, wie sich Zustimmung, Einsicht und vernünftige Selbstbestimmung in und mit diesem Machtverhältnis erreichen lassen“ (Wigger 2011, S. 339). Wilhelm Flitner diskutiert die Frage, ob Erziehung überhaupt sittlich erlaubt ist, zunächst unter Hinweis auf die kantische Moralphilosophie: „Nach dieser Denkweise ist die Würde des Menschen unaufhebbar, seine Unterwerfung unter einen fremden Willen immer ein schwer zu verantwortender Eingriff in seine humane Freiheit“ (Flitner 1979, S. 499). Erschwerend kommt hinzu, dass die moralische Autonomie des Zöglings, die auf freier Selbstbestimmung beruht, von einem Dritten nicht erzeugt werden kann (sonst wäre sie nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung), ohne dass man diese Autonomie einschränkt oder zerstört; gut funktionierende Erziehung steht also möglicherweise im Widerspruch zum Ziel der Erziehung, nämlich „moralische Autonomie“. Diese antinomische Konstellation wurde allerdings schon von Johann Friedrich Herbart kritisch diskutiert: „Philosophische Systeme, worin entweder Fatalismus oder transzendentale Freiheit angenommen wird, schließen sich selbst von der Pädagogik aus. Denn sie können den Begriff der Bildsamkeit, welcher ein Übergehen von der Unbestimmtheit zur Festigkeit anzeigt, nicht ohne Inkonsequenz in sich aufnehmen“ (Herbart 1841, S. 165 (§ 3); näheres bei Vogel 1990, S. 54 f f). In unserem Zusammenhang soll diese Kritik nur eines deutlich machen: Der oben be-
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs
253
schriebene Widerspruch zwischen Erziehungsmacht und anzustrebender Autonomie des Zöglings („Wie erreiche ich die Freiheit bei dem Zwange“) ist, wiewohl im Problemrepertoire der Erziehungstheorien gut eingeführt, keineswegs „naturwüchsig“; er verdankt sich – wie das Problem unter 3.1 – bestimmten Menschenbildannahmen in bestimmten Erziehungstheorien. 3.3 Die Zielorientierung erzieherischen Handelns ist schon in der alltagsweltlichen Bedeutung des Begriffs „Erziehung“ impliziert und insofern auch ein Problem für seine t heoretische Fassung: „Es variieren die Ziele der Erziehung und ihre Legitimationen wie die Mittel und deren Begründungen“ (Wigger 2011, S. 338). Das Problem der Legitimation von Erziehungszielen (z. B. „Glückseligkeit“, „moralische Autonomie“, „Emanzipation“, „Selbststand der Person“), das die Erziehungswissenschaft bearbeiten muss, wenn sie es auch nicht wissenschaftlich lösen kann, verweist auf die verschiedenen historischen und gegenwärtigen Erziehungstheorien, die jeweils mit unterschiedlichen Erziehungszielen, beruhend auf unterschiedlichen Menschenbildannahmen, operieren. Es ist keine „abstrakte“ oder „formale“ Erziehungstheorie vorstellbar, die einen Erziehungsbegriff formuliert, der gewissermaßen eine Leerstelle für die unterschiedlichen Erziehungsziele lässt, weil Erziehungsziele und Menschenbildannahmen untrennbar miteinander verknüpft sind. Selbst die Konstruktion Wolfgang Brezinkas, die einem solchen formalem Erziehungsbegriff am Nächsten kommt und bei der als Erziehung „Handlungen bezeichnet [werden], durch die versucht wird, das Dispositionsgefüge menschlicher Persönlichkeiten mit psychischen (Verhaltenssysteme) und / oder sozial-kulturellen Mitteln (Soziale Systeme) in Richtung auf größtmögliche Annäherung an gesteckte Lernziele zu verändern“ (Brezinka 1971 S. 33; i. O. H.), beruht auf Annahmen hinsichtlich der Adres saten von Erziehung und ihrer „Dispositionsgefüge“, die eine solche Definition sachlogisch möglich machen. 3.4 Erziehungstheorien entsprechen – wie Bildungstheorien – einem Theorietypus, der in der Erziehungswissenschaft endemisch ist und gewissermaßen die Urform pädago gischer Theoriebildung seit der Antike darstellt und dreistufig organisiert ist: "" Ein pädagogisches Handlungssystem (aufeinander bezogene Urteils- und Handlungs regeln für pädagogische Situationen einschließlich der Regeln für die Gestaltung von Lebens- und Lernumwelten von Kindern und Jugendlichen), "" das auf pädagogischen / erziehungswissenschaftlichen Theorien (Beschreibungen der Erziehungs- oder Bildungsziele und der daraus folgenden pädagogischen Aufgaben, Problemdefinitionen und Legitimationsfiguren pädagogischen Handelns einschließlich empirischer Annahmen über Handlungseffekte) beruht, mit denen die pädagogischen Handlungssysteme begründet werden, "" wobei die Erziehungs- und Bildungstheorien explizit oder implizit mit Annahmen über den Menschen arbeiten, sein Verhältnis zur Welt, zur Gesellschaft, seine Erkenntnismöglichkeiten, seine moralische Verfasstheit, den Zweck seines Daseins usw.. In der Regel beziehen sich pädagogische Theorien auf elaborierte philosophische oder theologische Theorien oder auf dominierende „Weltanschauungen“ (näheres zu dem Modell bei Vogel 2010).
254
Bildung an ihren Grenzen
Das bedeutet, dass – wegen der Rückbindung der Erziehungstheorien an erziehungswissenschaftlich analysierbare, in Grenzen plausibilisierbare, aber nicht wirklich beweisbare Menschenbildannahmen – eine formale / a llgemeine / abstrakte Erziehungstheorie nicht möglich ist. Die schon einmal herangezogene Feststellung von Lothar Wigger: „Vor dem Hintergrund einer Pluralität von Ansätzen bemüht sich die Erziehungswissenschaft um eine abstrakte, allgemeine Definition von Erziehung, die aber kontrovers bleibt“ (Wigger 2011, S. 338) wäre dann zu korrigieren im Sinne von „die kontrovers bleiben muss“. 4) Zwischenergebnis: „Erziehung“ als allgemeinen Begriff haben wir nur in seiner Alltagsversion; darüber hinaus haben wir nur konkurrierende Erziehungsbegriffe (im Plural), die sich je spezifischen konkurrierenden Erziehungstheorien verdanken.
2.
Was ist bei der Nutzung des Begriffs „Erziehung“ in rziehungswissenschaftlichen Theoriekontexten zu beachten? e
5) Traditionelle und gegenwärtige Erziehungstheorien werden in der Regel aus der Perspektive der pädagogischen Handlungstheorie konzipiert („Was ist zu tun?“); dabei ist das Verhältnis zur Beobachterperspektive auf Erziehung („Was passiert?“) weitgehend ungeklärt. 5.1 In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um den Erziehungsbegriff wird meist auf das Konzept der „funktionalen Erziehung“ verwiesen (vgl. Wigger 2011, S. 338 f.). Diese Referenz verdankt sich der erziehungswissenschaftlichen Theorietradition; das Konzept wird nur in begriffstheoretischen Grundlagenerörterungen herangezogen, eine aktuelle elaborierte Theorie der funktionalen Erziehung existiert nicht. Die Einführung des Begriffs „funktionale Erziehung“ als Ergänzung oder Alternative zu „intentionaler Erziehung“ durch Ernst Krieck ist einerseits ein früher und schwer abweisbarer Hinweis darauf, dass nicht alle Prozesse von Einstellungs- oder Haltungsbildung auf intentionalen Erziehungsakten beruhen: „Ganz von selbst aber bedeutet das Leben in der Gemeinschaft erzieherische Einwirkung: die erziehende Funktion der Gemeinschaft ist notwendige Vorbedingung für das Wachstum der Seele“ (Krieck 1936, S. 23 f.). Andererseits ist der Begriff damit belastet, dass er in späteren Theorien Kriecks in eine völkische Ideologie implementiert wurde (im Sinne von „In der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft erzieht Jeder Jeden“). Wenn man den Begriff heute benutzt, ist nicht klar, ob mit „funktionaler Erziehung“ das gleiche gemeint ist wie mit „Sozialisation“. Theoretisch bedeutsamer ist jedoch, dass mit der Gegenüberstellung der Begriffe in der Regel ein impliziter Perspektivenwechsel vollzogen wird: intentionale Erziehung beschreibt die Handlungsperspektive, funktionale Erziehung (oder Sozialisation) kann man nur aus der Beobachterperspektive diskutieren. 5.2 Erziehungstheorien haben insofern „intentionale Erziehung“ zum zentralen Gegenstand, als sie die Legitimation der erzieherischen Intentionen, die moralische Qualität von pädagogischen Zielvorstellungen, besonders auch im Hinblick auf die Differenz von gesell-
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs
255
schaftlich erwünschten und pädagogisch legitimierbaren Intentionen diskutieren, dabei die Situierung des Zöglings als moralisch verantwortliches Subjekt im Auge behalten und auf diesem Hintergrund Regeln pädagogischer Verantwortung und professionsethische Standards pädagogischer Berufe entwickeln. Insofern sind diese Theorien wenig geeignet, die Wirklichkeit von Erziehung theoretisch zu erfassen, weil einerseits angesichts konkurrierender Erziehungstheorien schwer auszumachen ist, was man eigentlich genau beobachten soll, wenn die Konstitution des Gegenstandes „Erziehung“ von unterschiedlichen normativen Implikationen abhängig ist und andererseits – geht man von Erziehung als sozialer Tatsache aus – einzuräumen ist, dass möglicherweise der weit überwiegende Teil unserer Haltungen und moralischen Einstellungen nicht das Ergebnis der erzieherischen Aktivi täten von pädagogischen Akteuren ist, sondern das Ergebnis des Aufwachsens und Mit- Lebens in sozialen Gemeinschaften (vgl. dazu den Versuch von Helmut Heid, den „Absichtsbegriff“ und den „Wirkungsbegriff“ von Erziehung auseinanderzuhalten – Heid 1994, S. 51 f f.) 5.3 Im Unterschied zur alltagssprachlichen Verwendung von „Erziehung“, bei der der Perspektivenwechsel vom „Absichtsbegriff“ zum „Wirkungsbegriff“ im Rahmen von Alltagskommunikation keine Rolle spielt (vgl. oben Punkt 2 b), führt er im Rahmen von erziehungswissenschaftlicher Erziehungstheorie zu ständigen, strukturbedingten Problemen und Missverständnissen (vgl. den nächsten Punkt). Die sachlich vernünftigste Lösung wäre, von „Erziehung“ zu sprechen, wenn es um die Handlungsperspektive geht, und von „Sozialisation“ (unter der Voraussetzung einer anspruchsvollen Sozialisationstheorie, die auch die Individuierungsseite des Sozialisationsprozesses im Blick hat), wenn es um die Beobachterperspektive geht (ausdrücklich auch bei der Beobachtung der Effekte intentionaler Erziehungsaktivitäten); der Theorierahmen der modernen Sozialisationstheorie lässt das zu, wenn z. B. Sozialisation verstanden wird als der „Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in produktiver Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen (der „inneren Realität“) und mit der sozialen und physikalischen Umwelt (der „äußeren Realität“)“ (Hurrelmann 2006, S. 7). Mit soviel Bewusstsein für die wissenschaftslogischen Implikationen des Erziehungsbegriffs (Details bei Vogel 1996) wird man aber im erziehungswissenschaftlichen Diskurs kaum rechnen dürfen – und es widerspräche ja auch der gewohnten alltagssprachlichen Nutzung des Begriffs. 6) Berücksichtigt man nicht, dass die erziehungswissenschaftlichen Erziehungstheorien (im Unterschied zur Alltagstheorie von Erziehung) auf die Handlungsperspektive fokussiert sind, können bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit „Erziehung“ Probleme entstehen, die schwer zu bearbeiten sind, weil sie (im weitesten Sinn) auf Kategorienfehlern beruhen. Wenn im lebensweltlichen Kontext von Erziehung als Handlungskonzept („Kinder brauchen Regeln“) und einem Satz später von den Effekten von Erziehung („das funktioniert aber nicht immer“) gesprochen wird, entstehen für die Kommunikation über Erziehung keine Schwierigkeiten (im Sinne von logischen oder Kategorienfehlern). Im (erziehungs-) wissenschaftlichen Diskurs ist das anders: wer zunächst von einem (immer normativ aufge-
256
Bildung an ihren Grenzen
ladenen) Erziehungskonzept spricht, und dann davon, dass der Zögling trotz aller Ambitionen des Erziehers auch immer anders kann, muss wissen, dass er dabei die theoretische Perspektive von der Handlungs- zur Beobachterperspektive gewechselt hat. An einem Beispiel sollen die Probleme durchgespielt werden. 7) Der Satz „In der Hitlerjugend fand nicht Erziehung, sondern Manipulation statt“ ist auf den ersten Blick für jeden historisch gebildeten Pädagogen verständlich; als theoretische Aussage wirft er dennoch Fragen auf. 7.1. Im Sinn des alltagsweltlichen allgemeinen Denkmodells von Erziehung ist die Aussage unverständlich oder falsch: natürlich gab es in der HJ soziales Handeln mit dem Ziel, die Haltungen / Einstellungen der Zöglinge zu verändern; es war einfach faschistische Erziehung. Auch die wissenschaftliche Definition von Erziehung von Brezinka deckt durchaus diese Art von Erziehung ab. Der historisch gebildete Pädagoge wird nun einwenden, dass der Satz ja so nicht gemeint ist: es geht um eine bestimmte Qualität von erzieherischem Handeln, mit der man „Erziehung“ von „Manipulation“ sehr wohl unterscheiden kann, und dann war es keine Erziehung. 7.2 Damit wird es aber erst richtig unübersichtlich: Was müsste man gegebenenfalls machen, um den Satz zu plausibilisieren / zu beweisen / zu stützen? 7.2.1 Wenn gemeint ist: die Erziehungstheorie / das Erziehungsmodell der HJ (rekonstruierbar aus einem Korpus unterschiedlicher Texte und als Modell aufbereitet – pädagogisches Setting, pädagogische Theorie, Menschenbildannahmen) entspricht nicht einem anspruchsvollen Begriff von „Erziehung“, dann kann man 7.2.1.1 entweder diese Erziehungstheorie analysieren / k ritisch diskutieren und die Menschenbildannahmen und ihre Folgen herausarbeiten und die Frage stellen (wenn auch nicht gültig beantworten), ob man das wollen kann, und beschreiben, wo die Theorie immanent widersprüchlich ist und ihre Menschenbildannahmen den gängigen Annahmen über den Menschen seit Beginn der Moderne in der Aufklärungszeit widersprechen und wie; mehr ist wissenschaftlich nicht möglich; 7.2.1.2 oder die NS-Theorie mit der „richtigen“ im Sinne von moralisch legitimen Erziehungstheorie kontrastieren, was aber voraussetzen würde, dass eine überzeugende theoretische Legitimation einer solchen normativen Theorie möglich ist. Man kann wissen, dass das zum Scheitern verurteilt ist. 7.2.2 Wenn aber gemeint ist: die Wirklichkeit des sozialen Umgangs in der HJ entspricht nicht den Charakteristika des sozialen Umgangs, die wir Erziehung nennen, entsteht (theorietechnisch) das Problem, dass ich einen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit zunächst empirisch analysieren (dazu gibt es ein breites Spektrum von Methoden) und dann gewissermaßen evaluieren muss: haben die tatsächlichen Handlungsweisen und ihre Effekte Merkmale, die einem bestimmten Satz von gesuchten Merkmalen (als empirische Kriterien für „Erziehung“) entsprechen? Dass man dabei mit Überraschungen rechnen muss, zeigen die – nicht nur vereinzelten – Berichte von Mittelschicht-Töchtern, die ihre Tätigkeit als Jungmädel- oder BDM-Füh-
Überlegungen zur theoretischen Leistungsfähigkeit des Erziehungsbegriffs
257
rerin als eklatanten persönlichen Emanzipationsprozess beschreiben, also die intendierten Erziehungsabsichten und die entsprechenden pädagogischen Settings zu durchaus unerwünschten Effekten führen konnten. 7.3 Die Konstruktion des Messinstruments (Merkmale einer „richtigen“ Erziehung) wiederum ist 7.3.1 entweder etwas, was bei jeder sozialwissenschaftlich-empirischen Arbeit vorkommt (ich muss plausibel, trennscharf und valide bestimmen, wonach ich suche und woran ich es erkenne), also eine Reihe von möglichst transparenten und plausiblen theoretischen Entscheidungen treffen (das gilt für alle denkbaren zu erforschenden Bereiche sozialen Handelns von Fürsorge bis Prostitution und insofern auch für Erziehung); 7.3.2 oder sie wird – wozu philosophisch gebildete Erziehungswissenschaftler / innen neigen – verknüpft mit der Frage nach dem „richtigen“ Begriff von Erziehung im Sinne der richtigen, letztendlich normativen Erziehungstheorie. Nach meiner Auffassung impliziert diese letzte Verknüpfung einen schweren, dabei völlig unnötigen Kategorienfehler, der sicheres empirisches Wissen („ sicher“ in dem Rahmen und mit den Einschränkungen, die für solches Wissen überhaupt gelten -– was aber für a lles empirische Wissen über die soziale Welt und nicht zuletzt auch für jede Erfahrungserkenntnis gilt) über die Wirklichkeit einer sozialen Praxis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt, da dieses Wissen immer davon abhängig ist, dass man erst einen Satz von Normen für wahr halten muss, bevor die empirischen Ergebnisse als Erkenntnisse gelten können.
Literatur Brezinka, W. (1971): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim. Flitner, W. (1979): Ist Erziehung sittlich erlaubt? In: Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), S. 499– 504. Heid, H. (1995): Erziehung. In: Lenzen D.: (Hrsg.): Erziehungswissenschaft – Ein Grundkurs. Reinbek, S. 43–68. Herbart, J. F. (1841): Umriß pädagogischer Vorlesungen. In: Ders.: Pädagogische Schriften (Hrsg. von Asmus, W.) 3 Bde. Düsseldorf 1965, Bd. 3, S. 161–283. Hurrelmann, K. (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie. 9. Aufl.. Weinheim. Krieck, E. (1936): Grundriß der Erziehungswissenschaft. Leipzig. Luhmann, N. (1981): Das Kind als Medium der Erziehung: In: Zeitschrift für Pädagogik 37, S. 19–40. Schleiermacher, F. (1826): Vorlesungen aus dem Jahre 1826. In: Ders., Pädagogische Schriften (hrsg. von Weniger, E.). Düsseldorf und München 1957, S. 1–369. Schleiermacher, F. (1813): Über die Theorie der Erziehung. In: Nicolin, F.: (Hrsg.): Pädagogik als Wissenschaft. Darmstadt 1969, S. 6 –17. Tenorth, H.-E. (2011): „Bildung“ – ein Thema im Dissens der Disziplinen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14, 351–362. Vogel, P. (2010): Zu welchem Zweck studiert man Erziehungs- und Bildungstheorien? Zur Lehr-gestalt der Allgemeinen Pädagogik in modularisierten Studiengängen. In: Gaus, D. / Drieschner, E. (Hrsg.): „Bildung“ jenseits pädagogischer Theoriebildung? Wiesbaden, S. 311–322.
258
Bildung an ihren Grenzen
Vogel, P. (1996): Scheinprobleme der Erziehungswissenschaft: Das Verhältnis von „Erziehung“ und „Sozialisation“. In: Zeitschrift für Pädagogik 42, S. 481–490. Vogel, P. (1994): Klassifikationsprobleme als Ausdruck des defizitären Charakters der Erziehungswissenschaft? In: Horn, K.-P. / Wigger, L. (Hrsg.): Systematiken und Klassifikationen in der Erziehungswissenschaft. Weinheim, S. 371–387. Vogel, P. (1990): Kausalität und Freiheit in der Pädagogik. Studien im Anschluß an die Freiheitsantinomie bei Kant. Frankfurt / Bern. Wigger, L. (2011): Erziehung. In: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (hrsg. von Horn, K.-P. u. a.), Band 1, Bad Heilbrunn, S. 338–340.
Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger
1. Selbstständige Veröffentlichungen und Herausgeberschaften Einführung in die Theorie der Erziehung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (in Vorb.). Zusammen mit Claudia Equit: Bildung, Biographie und Anerkennung. Interpretationen eines Interviews mit einem gewaltbereiten Mädchen. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2010. Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2009. Zusammen mit Winfried Marotzki: Erziehungsdiskurse. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2008. Zusammen mit Andreas Dörpinghaus und Andreas Poenitsch: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. (2. Durchgesehene Auflage 2008; 3. Auflage 2009; 4. Auflage 2011) Zusammen mit Barbara Friebertshäuser und Markus Rieger-Ladich: Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. (2. Auflage 2009) Zusammen mit Jutta Ecarius: Elitebildung – Bildungselite. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit. Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft (DGfE), Bd. 1. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2006. Zusammen mit Franzjörg Baumgart und Ute Lange: Theorien des Unterrichts. Erläuterungen, Texte, Arbeitsaufgaben. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2005. Zusammen mit Ernst Cloer, Jörg Ruhloff, Peter Vogel und Christoph Wulf: Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 5. Jg., Beiheft 1. Opladen: Leske und Budrich 2002. Zusammen mit Norbert Meder: Raum und Räumlichkeit in der Pädagogik. Festschrift für Harm Paschen. Bielefeld: Janus Verlagsgesellschaft 2002. Beiträge zur Diskussion um ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Dokumentation der Tagung der Kommission Wissenschaftsforschung an der Hochschule Vechta 21.–22.06.1999. Schriften des Instituts für Erziehungswissenschaft, Heft 2. Vechta 2000. Zusammen mit Christel Adick und Margret Kraul: Was ist Erziehungswissenschaft? Festschrift für Peter Menck. Donauwörth: Auer Verlag 2000. Zusammen mit Harm Paschen: Schulautonomie als Entscheidungsproblem. Zur Abwägung heterogener Argumente. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996. Zur Theorie des pädagogischen Argumentierens. (Habilitationsschrift) Bielefeld 1995. Zusammen mit Klaus-Peter Horn: Systematiken und Klassifikationen in der Erziehungswissenschaft. (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 15) Weinheim: Deutscher Studienverlag 1994. Zusammen mit Harm Paschen: Pädagogisches Argumentieren. (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 12) Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992. Zusammen mit Harm Paschen: Zur Analyse pädagogischer Argumentationen. Bericht des For-
260
Bildung an ihren Grenzen
schungsprojekts „Bielefelder Katalog pädagogischer Argumente“. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992. Zusammen mit Harm Paschen: Über die Bedingungen der Verbesserung des Argumentierens. Tagungsdokumentation. Bielefeld 1990. Zusammen mit Dietrich Benner, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Josef Derbolav. Impulse europäischer Geistesgeschichte. St. Augustin: Verlag Hans Richarz 1987. Was soll ich tun? Einführung in die philosophische Ethik. (Reihe „Philosophia Propaedeutica“, hrsg. von Bruno H. R eifenrath) Frankfurt: Verlag Moritz Diesterweg 1987. Handlungstheorie und Pädagogik. Eine systematisch-kritische Analyse des Handlungsbegriffs als pädagogischer Grundkategorie. St. Augustin: Verlag Hans Richarz 1983.
2. Buchreihen-Herausgeberschaft: Zusammen mit Peter Vogel: Grundwissen Erziehungswissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 f f. (15 Bände geplant, bisher erschienen sind 6 Bände)
3. Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden 2012
Zusammen mit Christiane Ruberg: Lehramtsstudiengänge. In: W. Thole / H. Faulstich-Wieland / K .-P. Horn / H. Weishaupt / I. Züchner (Hrsg.): Datenreport Erziehungswissenschaft 2012. Erstellt im Auftrag der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2012, S. 54–66. Zusammen mit Anna Stisser, Klaus-Peter Horn, Christiane Ruberg und Ivo Züchner: Studiengänge und Standorte. In: W. Thole / H. Faulstich-Wieland / K .-P. Horn / H. Weishaupt / I. Züchner (Hrsg.): Datenreport Erziehungswissenschaft 2012. Erstellt im Auftrag der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2012, S. 17–18. Zusammen mit Anna Stisser, Klaus-Peter Horn, Christiane Ruberg und Ivo Züchner: Fazit. In: W. Thole / H. Faulstich-Wieland / K .-P. Horn / H. Weishaupt / I. Züchner (Hrsg.): Datenreport Erziehungswissenschaft 2012. Erstellt im Auftrag der deutschen Gesellschaft für Erziehungs wissenschaft (DGfE). Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2012, S. 67–69. 2011
Anerkennung und Bildung. In: L. Koch / S. Döwenstein (Hrsg.): Freiheit, Wille, Willensfreiheit. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2011, S. 115–137. Was heißt Bildungsgerechtigkeit? Über Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit. In: T. M ayer / U. Vorholt (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit als politische Aufgabe. Bochum & Freiburg: Projekt Verlag 2011, S. 21–39. 2010
Über die Rationalität des pädagogischen Handelns. In: G. Bittner / M. Dörr / V. Fröhlich / R. Göppel (Hrsg.): Allgemeine Pädagogik und Psychoanalytische Pädagogik im Dialog. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2010, S. 199–215. Institutionelle Zwecke, Anerkennungskonflikte und Bildung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 86. Jg., Heft 4. 2010, S. 542–557.
Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger
261
Das Kerncurriculum Erziehungswissenschaft in der Lehrerbildung – Erfahrungen und Probleme. In: Erziehungswissenschaft. 21. Jg., Heft 4. 2010, S. 33–39. Argumentationsanalyse als erziehungswissenschaftliche Forschungsmethode. In: B. Friebertshäuser / A . L anger / A . Prengel (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. München: Juventa Verlag 2010, S. 353–365. 2009
Über den schulischen Unterricht. Kritische Überlegungen zu seiner Reflexion, seinen Zielsetzungen und einigen seiner Effekte. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 85. Jg., Heft 4. 2009, S. 456–475. 2008
Zusammen mit Klaus-Peter Horn und Ivo Züchner: Standorte und Studiengänge. In: K.-J. Tillmann / T. R auschenbach / R . Tippelt / H. Weishaupt (Hrsg.): Datenreport Erziehungswissenschaft 2008. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2008, S. 19–40. Zusammen mit Nicole Börner, Claudia Equit und Barbara Platzer: Erziehungswissenschaftliche Alternativen im Pädagogikunterricht. In: Pädagogik Unterricht. 28. Jg., Heft 1. 2008, S. 15–27. 2007
Bildung heute. In: A. Holling / E . Ockel / R . Siedenbiedel (Hrsg.): Identität als Lebensthema. Festschrift für Arnold Schäfer. Vechta-Langförden: Geest Verlag 2007, S. 209–225. Bildung und Habitus? Zur bildungstheoretischen und habitustheoretischen Deutung von biographischen Interviews. In: H.-R. Müller / W. Stravoravidis (Hrsg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 171–192. 2006
Habitus und Bildung. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitusformationen und Bildungsprozessen. In: B. Friebertshäuser / M. R ieger-Ladich / L . Wigger (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 101–118. Zusammen mit Barbara Friebertshäuser und Markus Rieger-Ladich: Reflexive Erziehungswissenschaft. Stichworte zu einem Programm. In: B. Friebertshäuser / M. R ieger-Ladich / L . Wigger (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 9 –19. Von der Erziehung zur Beziehung? Zum Wandel der Familienerziehung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 82. Jg., Heft 6. 2006, S. 240–255. Zusammen mit Jutta Ecarius: Bildung im Spannungsverhältnis von Allgemeiner Bildung und Elitebildung. Eine Einleitung. In: J. Ecarius / L . Wigger (Hrsg.): Elitebildung – Bildungselite. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit. Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft (DGfE), Bd. 1. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2006, S. 7–15. Zusammen mit Yoichi Kiuchi und Kazuaki Kajii: Bildungstheorie und Bildungsforschung in Deutschland im 20. Jahrhundert. In: Bulletin of Center for Collaboration in Community, Naruto University of Education, No. 21, 2006, S. 1–11. (in japan. Übersetzung) 2005
Standardisierung des Studiums der Erziehungswissenschaft durch ein Kerncurriculum. In: I. Gogolin / H.-H. K rüger / D. Lenzen / T. Rauschenbach (Hrsg.): Standards und Standardisierungen in
262
Bildung an ihren Grenzen
der Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft 4 / 2005, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 107–118. 2004
Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lagebeschreibung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 80. Jg., Heft 4. 2004, S. 478–494. Handlungsorientierung in der Didaktik. Einige kritische Anmerkungen. In: K. Beyer (Hrsg.): Planungshilfen für den Fachunterricht. Die Praxisbedeutung der wichtigsten allgemein-didak tischen Konzeptionen. Hohengehren: Schneider Verlag 2004, S. 162–197. Argumentationsanalyse als Forschungsmethode und als Bildung. In: L. Koch (Hrsg.): Pädagogik und Rethorik. Systematische Pädagogik Bd. 1. Würzburg: Egon Verlag 2004, S. 179–194. Wie ist systematische Pädagogik heute möglich? Oder: Über den Common Sense in der Erziehungswissenschaft. In: A. Dörpinghaus / K . Helmer (Hrsg.): Topik und Argumentation. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2004, S. 283–308. Kerncurriculum Erziehungswissenschaft und die Reform der Lehrerbildung. In: W. H abel / J. Wildt (Hrsg.): Gestufte Studiengänge – Brennpunkte der Lehrerbildungsreform. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2004, S. 57–77. Zusammen mit Klaus-Peter Horn und Ivo Züchner: Neue Studiengänge – Strukturen und Inhalte. In: R. Tippelt / T. R auschenbach / H. Weishaupt (Hrsg.): Datenreport Erziehungswissenschaft 2004. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 15–38. Zusammen mit Simone Austermann, Judith Freitag und Peter Vogel: Kerncurriculum Erziehungswissenschaft – Konzepte und Erfahrungen. In: Erziehungswissenschaft. 15. Jg., Heft 28. 2004, S. 37–48. 2003
Bildung als Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: H.-E. Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim, Basel & Berlin: Deutscher Studienverlag 2003, S. 69–88. Pädagogische Entscheidungen, Begründungen und Skepsis. In: N. Meder (Hrsg.): Zwischen Gleichgültigkeit und Gewissheit. Herkunft und Wege pädagogischer Skepsis. Beiträge zum Werk Wolfgang Fischers. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2003, S. 33–44. Öffentliche Sorge um die Erziehung und die Erziehungstheorie. In: Pädagogik Unterricht. 23. Jg., Heft 1. 2003, S. 10–13. Über die methodischen und bildungstheoretischen Grenzen von PISA. In: Pädagogik Unterricht. 23. Jg., Heft 1. 2003, S. 29–30. Innovationspotentiale der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. (Symposium: „Innovationspotentiale der Allgemeinen Erziehungswissenschaft“) In: I. Gogolin / R . Tippelt (Hrsg.): Innovation durch Bildung. Beiträge zum 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske & Budrich 2003, S. 415–420. Lokale Studienkultur und Wissensaneignung. Eine Projektskizze. In: P. Nitschke (Hrsg.): Kulturvermittlung und Interregionalitäten. Collegium Polonicum, Frankfurt a. d. Oder & Slubice 2003, S. 235–242. 2002
Humboldts Universitätsidee und das erziehungswissenschaftliche Studium in der Lehrerbildung heute. In: R. Elm (Hrsg.): Universität zwischen Bildung und Business. Mit einem Anhang zur europäischen Bildungspolitik. Schriftenreihe der Universität Dortmund. Bd. 48. Bochum 2002, S. 117–132.
Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger
263
Zusammen mit Klaus-Peter Horn: Das Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. In: H.-U. Otto / T. R auschenbach / P. Vogel (Hrsg.): Erziehungswissenschaft: Lehre und Studium. (Erziehungswissenschaft in Studium und Beruf, Bd. 2) Opladen: Leske & Budrich 2002, S. 185–200. Universität als Lernfabrik. Über die Hochschularchitektur der Universität Bielefeld. In: N. Meder / L . Wigger (Hrsg.): Raum und Räumlichkeit. Festschrift für Harm Paschen. Bielefeld: Janus Verlag 2002, S. 241–266. Neue Herausforderungen und neue Perspektiven der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 78. Jg., Heft 3. 2002, S. 261–266. 2001
Öffentliche Bildungsdiskurse, Argumentationstheorie und Allgemeine Erziehungswissenschaft. In: A. Dörpinghaus / G. Herchert (Hrsg.): Denken und Sprechen in Vielfalt. Bildungswelten und Weltordnungen diesseits und jenseits der Moderne. Festschrift für Karl Helmer zum 65. Geburtstag. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2001, S. 231–251. Bildungspolitische Argumente und Schulentwicklung. Zur Diskussion um das Privatschulwesen aus der Reichsschulkonferenz. In: H. J. A pel / H. K emnitz / U. Sandfuchs (Hrsg.): Das öffentliche Bildungswesen. Historische Entwicklung – Gesellschaftliche Funktion – Pädagogischer Streit. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2001, S. 274–289. 2000
Erziehungswissenschaft im Aneignungsverhalten von Studierenden der Hochschule in Vechta. In: L. Wigger (Hrsg.): Beiträge zur Diskussion um ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Schriften des Instituts Erziehungswissenschaft. Heft 2. Vechta 2000, S. 21–29. Die akademische Ausbildung im Professionalisierungsdiskurs der Sozialpädagogik. In: H. G. Homfeldt / J. Schulze-Krüdener (Hrsg.): Wissen und Nichtwissen. Herausforderung für Soziale Arbeit in der Wissensgesellschaft. Weinheim & München: Juventa Verlag 2000, S. 297–311. Zusammen mit Christiane Henkel: Differenzierung der Erziehungswissenschaft. Zur Entwicklung ihrer Lehrgestalt an der Reformuniversität Bielefeld. In: J. Schlömerkemper (Hrsg.): Die Deutsche Schule. 6. Beiheft: Differenzen. Über die politische und pädagogische Bedeutung von Ungleichheiten im Bildungswesen. Hans-Georg Herrlitz zur Emeritierung gewidmet. Weinheim & Müchen: Juventa Verlag 2000, S. 208–230. Kontingenz oder Kritik? Fragmentarische Anmerkungen zu Jörg Ruhloffs Kritik der Systemtheorie. In: K. Helmer u. a. (Hrsg.): Spielräume der Vernunft. Jörg Ruhloff zum 60. Geburtstag. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2000, S. 398–407. Konturen einer modernen Erziehungswissenschaft. Überlegungen im Anschluss an die Diskussion um die Allgemeine Erziehungswissenschaft. In: C. A dick / M. K raul / L . Wigger (Hrsg.): Was ist Erziehungswissenschaft? Festschrift für Peter Menck. Donauwörth: Auer Verlag 2000, S. 35–56. 1999
Zur gegenwärtigen Situation des Ausbildungswissens in erziehungswissenschaftlichen Studien gängen. Eine Problemskizze. In: Zeitschrift für Pädagogik. 45. Jg., Heft 5. 1999, S. 741–748. Erziehungswissenschaftliche Forschung und Lehre an der Reformuniversität Bielefeld. In: A. L angewand / A . von Prondczynsky (Hrsg.): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1999, S. 299–314. Kritik der rhetorischen Argumentation. Zu den Kriterien der Beurteilung öffentlicher Rede. In: A. Dörpinghaus / K . Helmer (Hrsg.): Zur Theorie der Argumentation in der Pädagogik. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann Verlag 1999, S. 53–75.
264
Bildung an ihren Grenzen
Allgemeine Pädagogik und Erziehungswissenschaftliches Studium. Antrittsvorlesung an der Hochschule Vechta am 23. 07. 1998. In: Schriften des Instituts für Erziehungswissenschaft, Heft 1, Vechta 1999. 1998
Pädagogik und Ethik. Eine inhaltsanalytische Untersuchung allgemein-pädagogischer Zeitschriften. In: A. M. Stross / F. Thiel (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplinen und Öffentlichkeit. Themenfelder und Themenrezeption der allgemeinen Pädagogik in den achtziger und neunziger Jahren. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998, S. 193–211. 1997
Was haben Pädagogik-Studenten gelesen? In: Zeitschrift für Pädagogik. 43. Jg., Heft 5. 1997, S. 791–801. Josef Derbolav (1912–1987) und die geisteswissenschaftliche Pädagogik. In: W. Brinkmann / W. H arth-Peter (Hrsg.): Freiheit – Geschichte – Vernunft. Grundlinien geisteswissenschaft licher Pädagogik. Winfried Böhm zum 22. März 1997. Würzburg: Echter Verlag 1997, S. 323–338. 1996
Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik. Einige Überlegungen zu den Aufgaben einer Allgemeinen Pädagogik und ihrem Verhältnis zur Sozialpädagogik anlässlich der Diskussion um eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft. In: H.-U. Otto (Hrsg.): Zum Verhältnis von Allgemeiner Pädagogik und Sozialpädagogik, 1996 (unveröffentlichtes Manuskript). Zur aktuellen Kontroverse um die Allgemeine Pädagogik. Eine Auseinandersetzung mit ihren Kritikern. In: Zeitschrift für Pädagogik. 42. Jg., Heft 6. 1996, S. 915–931. Erziehungswissenschaftliches Gewichten und Abwägen. In: H. Paschen / L . Wigger (Hrsg.): Schulautonomie als Entscheidungsproblem. Zur Abwägung heterogener Argumente. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996, S. 89–108. Zusammen mit Harm Paschen: Einleitung. In: H. Paschen / L . Wigger (Hrsg.): Schulautonomie als Entscheidungsproblem. Zur Abwägung heterogener Argumente. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996, S. 7–10. Ausgrabungen. Auf der Suche nach rhetorischen Scherben in Darstellungen pädagogischen Wissens. In: Waben. Colloquium paedagogicum. Karl Helmer zum 28.05.1996. Wuppertal. 1996, S. 72–77 (unveröffentlichtes Manuskript). Systematische Enttäuschungen. Zur aktuellen Lage der Diskussion um Theoriegestalt und Selbstverständnis der Disziplin und das Problem der Ordnung des Wissens. In: D. Rusch-Feja / P. Diepold / B. Christopher (Hrsg.): Information im Bildungswesen – Zugriff, Verfügbarkeit und Qualität. 3. GIB-Fachtagung 22.–23. November 1995 in Soest. Berlin 1996, S. 49–62. 1994
Zusammen mit Karl-Heinz Walter und Cornelia Hilbrich: Strukturentscheidungen aus argumentationsanalytischer Sicht. Am Beispiel der Reform der Abiturstufe in der DDR. In: H.-H. K rüger / W. M arotzki (Hrsg.): Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Opladen: Leske & Budrich 1994, S. 137–160. Zusammen mit Klaus-Peter Horn: Vielfalt und Einheit. Über Klassifikationen und Systematiken in der Erziehungswissenschaft. In: K.-P. Horn / L . Wigger (Hrsg.): Klassifikationen und Systemat iken in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1994, S. 13–32. Probleme der Klassifikation und pädagogischer Argumente. In: K.-P. Horn / L . Wigger (Hrsg.): Klas-
Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger
265
sifikationen und Systematiken in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1994, S. 319–337. Pädagogik und Religion in Hegels System. In: M. Heitger / A . Wenger (Hrsg.): Kanzel und Katheder. Zum Verhältnis von Religion und Pädagogik seit der Aufklärung. Paderborn: Schöningh 1994, S. 249–282. 1993
Die Differenzierung von privater und öffentlicher Erziehung in der Moderne. In: D. Timmermann (Hrsg.): Erziehung und Bildung zwischen privater und öffentlicher Verantwortung. Bielefeld: KTVerlag 1993, S. 17–38. Die Erfahrung der Kontingenz in der Moderne. Zum ästhetischen Begriff der Moderne bei Baudelaire. In: L. Koch / W. M arotzki / H. Peukert (Hrsg.): Revision der Moderne? Beiträge zu einem Gespräch zwischen Pädagogik und Philosophie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1993, S. 117–131. Das Recht auf Erziehung. Hegels Analyse des modernen Erziehungsverhältnisses. In: W. M arotzki / H. Sünker (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft – Moderne – Postmoderne 2. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1993, S. 129–154. Die Wende der DDR-Pädagogik. Eine Inhaltsangabe von „Pädagogik“ und „Pädagogik und Schulalltag“. In: P. Dudek / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Transformationen der deutschen Bildungslandschaft. Zeitschrift für Pädagogik. 30. Beiheft. Weinheim: Beltz Verlag 1993, S. 161–180. Kritik und Kontroversen der DDR-Pädagogik in argumentationsanalytischer Sicht. EUDIS-Bericht Teil 1. In: D. Benner / J. Schriewer / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Strukturwandel deutscher Bildungswirklichkeit. Arbeitstexte aus dem Institut für Allgemeine Pädagogik. Berlin 1993, S. 87–98. 1992
Wie viele Argumente gibt es in der Pädagogik? In: H. Paschen / L . Wigger (Hrsg.): Pädagogisches Argumentieren. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992, S. 235–252. Zusammen mit Harm Paschen: Einleitung. In: H. Paschen / L . Wigger (Hrsg.): Pädagogisches Argumentieren. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992, S. 9 –13. 1991
Defizite – Exempel der Argumentation. Die Landschulreform und die Wiedereinführung kleiner Grundschulen. In: J. Oelkers / H.-E. Tenorth (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. Zeitschrift für Pädagogik. 27. Beiheft. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1991, S. 251–272. 1990
Die praktische Irrelevanz pädagogischer Ethik. Einige Reflexionen über Grenzen, Defizite und Paradoxien pädagogischer Ethik und Moral. In: Zeitschrift für Pädagogik. 36. Jg., 1990, Heft 3. 1990, S. 309–330. Was können wissenschaftliche Argumentationsanalysen leisten? Bericht über die Tagung „Bedingungen der Verbesserung des Argumentierens“ vom 27. / 28.4.1989 in Bielefeld. In: Pädagogische Rundschau. 44. Jg., Heft 1. 1990, S. 97–102. Der Bielefelder Katalog pädagogischer Argumente. Voraussetzungen – Ziele – Methoden. In: H. Paschen / L . Wigger (Hrsg.): Über die Bedingungen der Verbesserung des Argumentierens. Bielefeld. 1990, S. 177–204. 1989
Pädagogikgeschichte im Spiegel der postmodernen Philosophie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 65. Jg., Heft 4. 1989, S. 361–377.
266
Bildung an ihren Grenzen
Wissenschaftsemigration und Exilforschung. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau. 12. Jg., Heft 19. 1989, S. 65–72. 1988
Tradition als pädagogisches Argument. Beispiele aus dem Bielefelder Katalog. In: Bildung und Erziehung. 41. Jg., Heft 4. 1988, S. 427–444. 1987
75 Jahre kritische Hegel-Ausgaben. Zu Geschichte und Stand der Hegel-Edition. In: Pädagogische Rundschau. 41. Jg., Heft 1. 1987, S. 101–116. Mitleid – ein ethischer Grundbegriff? Überlegungen zur Struktur und Problematik eines mora lischen Gefühls. In: P. Menck u. a. (Hrsg.): Bildung zwischen Herausforderung durch die Gegenwart und Aneignung der Tradition. Festgabe für Josef Derbolav. 1987, S. 259–280. Zum 75. Geburtstag von Josef Derbolav. In: Pädagogische Rundschau. 41. Jg., Heft 2. 1987, S. 248– 249. Zum Begriff des Glücks. Philosophisch-pädagogische Überlegungen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 63. Jg., Heft 4. 1987, S. 457–473. 1986
Pädagogisches Wissen – pädagogisches Ethos – Berufsethik. Bericht vom 22. Salzburger Symposion. In: Pädagogische Rundschau. 40. Jg., Heft 5. 1986, S. 615–623. 1984
Der Schulbegriff in Hegels Gymnasialreden. Probleme und Aspekte. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch Bd. 10. 1984, S. 119–144. (auch in engl. und span. Übersetzung: The Concept of the school in Hegel’s High-school Addresses. In: Education Vol. 36, 1987, S. 82–95. El concepto de escuela en los discursos gimnasiales de Hegel. In: Education Vol. 36, 1987, S. 25–39.) Acción y educación – Un análisis critic de las concepciones de acción en las teorías educativas. In: Education Vol. 30, 1984, S. 39–59. (auch in engl. Übersetzung: Action and Education. A Critical Analysis of Action Concepts in Education Theories. In Education Vol. 31, 1985, S. 7–25. Wiederabgedruckt in: Indien Journal of Community Guidance Service Vol. 3, No. 2, 1986, S. 1–24.) Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik: Ein notwendiger Dialog. Einleitung in das Themenheft „Waldorfpädagogik“. In: Pädagogische Rundschau. 38. Jg., Heft 4. 1984, S. 403–404. Aspekte der Bildungstheorie Hegels. Ein Literaturbericht. In: Pädagogische Rundschau. 38. Jg., Heft 5. 1984, S. 625–634. 1983
Handlungsforschung und ihre Stellung in der wissenschaftstheoretischen Grundlagendiskussion der bundesdeutschen Pädagogik. In: Kultur und Erziehung. Beiträge aus Deutschland und Japan Nr. 5 1983, S. 73–80. (in jap. Übersetzung) Zu den Voraussetzungen einer Erziehung zur Handlungsfähigkeit. Kritische Bemerkungen zur Grundannahme des integrierten Bildungskonzepts der Freien Waldorfschule Kassel. In: Pädagogische Rundschau. 37. Jg., Heft 1. 1983, S. 83–86. Der Begriff des Handelns. Thesen zur philosophischen Problementfaltung und pädagogischen Relevanz. In: Pädagogische Rundschau. 37. Jg., Heft 2. 1983, S. 223–229.
Bibliographie Prof. Dr. Lothar Wigger
267
1980
Situationsanalyse und Praxeologie. Ein kritisch-konstruktiver Beitrag zur curricularen Leistungsfunktion der Praxeologie, dargestellt am Beispiel des Pädagogikunterrichts. In: Pädagogische Rundschau. 34. Jg., Heft 4 / 5. 1980, S. 309–314. 1976
Exkurs zum Konkretisierungs- und Wahrheitsproblem in der politischen Strukturtheorie. In: Josef Derbolav (Hrsg.): Kritik und Metakritik der Praxeologie, im besonderen der politischen Strukturtheorie. Kastellaun: Henn Verlag 1976, S. 83–86.
4. Lexikonartikel 2011
Adorno, Theodor W. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 17. Zusammen mit Lutz Reuter: Bildungsforschung. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 166–168. Bildungstheoretische Didaktik. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 189–190. Derbolav, Josef. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 250. Dialektik. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 269. Erziehung. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 338–340. Halbbildung. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 2, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 15. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 2, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 28. Informationstheoretische Didaktik. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 81. Kritisch-konstruktive Didaktik. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 2, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 251. Lerntheoretische Didaktik. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 2, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 312. Praxeologie. In: K.-P. Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2011, S. 29–30. 2004
Didaktik. In: D. Benner / J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Verlag 2004, S. 244–278.
Autoreninfo Autoreninfo
Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Dietrich Benner Humboldt-Universität zu Berlin Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik und Systematische Erziehungswissenschaft; Theorien der Erziehung, der Bildung und der pädagogischen Institutionen; Theoriegeschichte der Erziehungswissenschaft und der Reformpädagogik; Allgemeine Didaktik, Lehrplan- und Schultheorie; Bildungs- und Kompetenzforschung im Bereich von Ethik und Moral, Theologie und Religion Prof. Dr. Wilfried Bos Technische Universität Dortmund Lehrstuhl für Bildungsforschung und Qualitätssicherung und Direktor des IFS – Institut für Schulentwicklungsforschung, Dortmund Forschungsschwerpunkte: Empirische Forschungsmethoden, Qualitätssicherung im Bildungs wesen, Internationale Bildungsforschung, Evaluation, Pädagogische Chinaforschung Prof. Dr. Nils Berkemeyer Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung Forschungsschwerpunkte: Steuerung des Schulsystems, Schulreform, Regionalisierung im Schul system, Netzwerke im Bildungsbereich, Schul- und Unterrichtsentwicklung Prof. Dr. Andreas Dörpinghaus Julius-Maximilians-Universität Würzburg Lehrstuhl: Systematische Bildungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Systematische Bildungswissenschaft, Bildungsphilosophie und Bildungsgeschichte, Temporalphänomenologie, pädagogische Rhetorik Prof. Dr. Andreas Gruschka Goethe-Universität Frankfurt am Main Professur für Schulpädagogik und Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Kritische Theorie der Pädagogik; Pädagogische Rekonstruktion des Unterrichtens; Schultheorie und Theorie zum Wandel von Schule; Ontogenese bürgerlicher Kälte als Entwicklung des moralischen Urteils; Pädagogische Einsichten in und durch Bilder Prof. Dr. Klaus-Peter Horn Georg-August-Universität Göttingen Professor für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Theorie, Geschichte und Empirie pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Wissens
270
Bildung an ihren Grenzen
Prof. Dr. Toshiko Ito Universität Mie Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Wirkungsgeschichte der modernen Erziehungsideen; Deutung der reformpädagogischen Bewegungen PD Dr. Peter Kauder, Technische Universität Dortmund Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkt: Wissenschaftsforschung der Erziehungswissenschaft Prof. em. Dr. Lutz Koch Universität Bayreuth Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Logik des Lernens und Lehrens, Pädagogik und Rhetorik, Ästhetische Bildung Dr. Veronika Manitius Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung Forschungsschwerpunkte: Bildungsgerechtigkeit, Schulentwicklung, vergleichende Schulsystemforschung, Bildungsberichterstattung Prof. Dr. Ulrike Mietzner Technische Universität Dortmund Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik Forschungsschwerpunkte: Anthropologische Grundlagen von Bildung und Erziehung, Forschungsprojekte zum Zusammenhang von Bild und Erziehung. Forschungen zum 20. Jahrhundert, insbesondere DDR und jüdische Jugendbewegungen Prof. Dr. Hans-Rüdiger Müller Universität Osnabrück Lehrstuhl: Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Erziehung und Bildung, Pädagogische Anthropologie; Pädagogische Ästhesiologie / Ä sthetische Bildung; Generationenverhältnisse / Familien erziehung; Qualitative Erziehungs- und Bildungsforschung Prof. Dr. Sigrid Nolda Technische Universität Dortmund Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit Forschungsschwerpunkte: Videographien von Kursen der Erwachsenenbildung, Bildungsbiographien Erwachsener, Pädagogik der Medien / Darstellungen von Erwachsenenbildung in den Medien, Rezeption referenzwissenschaftlicher Theorien in der Erwachsenenbildung Prof. em. Dr. Harm Paschen Universität Bielefeld Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 1: Allgemeine Erziehungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Päd. Argumentation, Wissensentwicklung, Päd. Dogmatik
Autoreninfo
271
Dr. Barbara Platzer Technische Universität Dortmund Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik Forschungsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Sprachtheorie, pädagogische Ethik, Forschung zu Konzepten der Sichtbarkeit im pädagogischen Kontext Prof. Dr. Markus Rieger-Ladich Eberhard Karls Universität Tübingen Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Sozialtheorie, Geschlechterforschung, Ästhetische Theorie Prof. em. Dr. phil. Dr. phil. h. c. Jörg Ruhloff Bergische Universität Wuppertal Systematische / Historische Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Systematik skeptischer und problematisch-vernünftiger Konzepte in Pädagogik und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Alfred Schäfer Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Systematische Erziehungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Konstitutionsprobleme von Erziehungstheorien, Bildungsethnologie, kulturwissenschaftliche Bildungsforschung Ina Semper, B. A . Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung Forschungsschwerpunkte: Bildungsgerechtigkeit, Bildungstheorie, Schulentwicklung Prof. Dr. Dariusz Stnpkowski, Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität Warschau Allgemeine Grundlagen der Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Allgemeine Didaktik, Theorie der ästhetischen Bildung, Hochschuldidaktik Prof. (i. R .) Dr. Dr. h. c. Heinz-Elmar Tenorth Humboldt-Universität zu Berlin Historische Erziehungswissenschaft Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte pädagogischen Wissens, Universitätsgeschichte, Pädagogische Zeitgeschichte Prof. Dr. Peter Vogel Technische Universität Dortmund Erziehungswissenschaft und Soziologie Allgemeine Pädagogik Forschungsschwerpunkte: Methodologie und Theoriebildung in der Erziehungswissenschaft, Differenz und Zusammenhang pädagogischer Wissensformen, Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft, insbes. Entstehung der wissenschaftlichen Pädagogik in der Aufklärungszeit
Anmerkungen Anmerkungen
Anerkennung als Kategorie in der Bildungsberichterstattung 1 Die Frage, inwiefern Bildungsberichte tatsächlich „Steuerung durch Indikatoren“ ermöglichen, bzw. welche Steuerungsvorstellungen mit Monitoringsystemen verknüapft sind, wird an anderer Stelle breit diskutiert (vgl. Tippelt 2009a). 2 Der Forschungsschwerpunkt „Kommunale Bildungsberichterstattung“ am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) verspricht hier zukünftig mehr Auskunft zu geben. 3 Der Nationale Bildungsbericht verzichtet explizit auf Handlungsempfehlungen und starke Bewertungsnahmen der Befunde. Dieses soll der Politik vorbehalten bleiben (vgl. Weishaupt 2012, Rürup et al., 2010). 4 Erste vertiefte Überlegungen zur Weiterentwicklung von Indikatoren für den Nationalen Bildungsbericht finden sich im Band von Baethge et al. 2011. Aktuell sind vereinzelte Veröffent lichungen zu spezifischen thematischen Diskussionen der Indikatorenentwicklung zu beobachten, z. B. zur kulturellen Bildung (vgl. Weishaupt & Zimmer 2013). 5 Vgl. auch Hartmut Rosa (2012), der die Qualität der Weltbeziehungen hinsichtlich des Gelingens menschlichen Lebens untersucht und hierbei kategoriale Unterschiede zwischen dem Weltbeziehungsmodus des Getragen- oder Geworfenseins ausmacht. 6 So untersucht seit 2010 ein Verbundprojekt des DIPF mit der Universität Bremen und der Universität Göttingen „Gemeinschaft und soziale Heterogenität in Eingangsklassen reformorientierter Sekundarschulen (GemSe)“ gegenwärtig ethnographisch Anerkennungsverhältnisse in Grundschulen. Ein weiteres Verbundprojekt der Universitäten Bremen, Oldenburg, Halle-Wittenberg und der TU Berlin forscht unter dem Titel „Anerkennung als Dimension pädagogischer Praktiken. Ethnographische und rekonstruktive Studien zu Formen, Mustern und Prozessen der Subjektkonstitution in pädagogischen Feldern“. 7 In der anerkennungstheoretischen Diskussion wird an dieser Stelle eingewendet, dass die Zuweisung zu Förderprogrammen für bestimmte Schülergruppen gleichzeitig für eine Festlegung der Beteiligten auf ein Merkmal, wie z. B. Migrationshintergrund, sorgen und dadurch Schüler als vorherbestimmt durch ihre Herkunft charakterisiert werden (vgl. Stojanov 2011). Diese Diskussion soll hier vernachlässigt werden, da unterstellt wird, dass die jeweilige pädagogische Absicht der Programme zuvorderst bestehenden (Anerkennungs-)bedarfen gerecht zu werden beabsichtigt und eine Zuweisung individuell erfolgt.
Bildung als Fähigkeit zur Distanz 1 Die Rede von begrifflichen Fähigkeiten unterstreicht, dass der Mensch gerade keine apriorischen Begriffe besitzt, diese sich vielmehr im Gebrauch und unter der Gestalt von Lebensformen entwickeln.
274
Bildung an ihren Grenzen
2 Diese natürliche Empfänglichkeit weist Kant insbesondere in seiner eigentlichen Quasi-Anthropologie aus, seiner Theorie vom radikal Bösen. Hier erörtert er einen Sinn für den intelligiblen Bereich als eine natürliche Anlage des Menschen, den er als Empfänglichkeit für die Persönlichkeit bezeichnet. Für Kant ist das Intelligible „unerforschlich“, aber es zeigt sich lebensweltlich als Erfahrung. 3 Hans Blumenberg betont die Bedeutung von Begriffen für die natürliche Ausstattung des Menschen und verweist auf das Desiderat einer anthropologischen Bestimmung des Begriffs (vgl. Blumenberg 2007). 4 Begriffe stehen nicht dem Sinnlichen gegenüber, auch sind sie nicht notwendig Formen der Weltbemächtigung (vgl. Horkheimer / A dorno 2008) oder lediglich problematische Abstrak tionen von Wirklichkeiten, die im Grunde komplexer sind. Begriffe sind vielmehr konstitutiver Bestandteil unserer Erfahrung von Welt und ihren reflexiven Verstehensprozessen. 5 Erfahrungen sind keine bloßen Wahrnehmungsurteile, sondern Erkenntnisurteile, also Urteile der Reflexion, die in der Distanz zur Wahrnehmung dieser gleichwohl verhaftet bleiben. Ihnen entspricht nicht die Exklusivität begrifflicher Gehalte gegenüber oder jenseits einer von der Erfahrung abgelösten Wahrnehmung. 6 Späterhin wird sich zeigen, dass es für den Bildungsbegriff einen empirischen Gehalt geben muss, der sich aber von der Vorstellung einer empirischen Logik gänzlich unterscheidet und von ihr nicht eingefangen werden kann. 7 Auch Wittgenstein bindet in den Philosophischen Untersuchungen die begrifflichen, auf die Regelexplikation bezogenen Verstehensleistungen an das Sehen. 8 Das Fundament dieser Fähigkeit ist im Übrigen bei Kant die Einbildungskraft, die den Möglichkeitsraum des Denkens eröffnet. 9 Der Begriff impliziert die Negativität, die Abwesenheit, die Nicht-Sichtbarkeit seines Gegenstandes (vgl. Blumenberg 2007, S. 9). Es geht bei dem Begriff Bildung um eine Komplexität von Prozessen, die nur durch wissenschaftlich geleitetes Nachdenken und Prüfen untersucht und erforscht werden können, insofern Bildungsprozesse nicht empirisch (im Übrigen leider auch historisch) trivialisiert werden sollen.
Wer gewinnt den „Deutschen Schulpreis“? – Vom Preisen, von Wettbewerben und von der Selbsterhöhung 1 Um dann, wie der Fall Rainer Winkel belegt, bei diagnostiziertem Fehlverhalten eines Ausgezeichneten ihm den Preis wieder zu entziehen. 2 Die Beispiele sind Legion und schreien förmlich nach einer aufschließenden Analyse. Dass sie nicht stattfindet, lässt sich wohl auch damit erklären, dass man lieber dabei sein möchte, als sich zum Außenseiter zu machen. Der wird zum Neider und Zukurzgekommenen gestempelt. Der Frankfurter Adorno-Preis ist samt Jury und Ausgezeichneten ein schönes Beispiel für eine Kartellbildung, mit der die herausgehalten werden, die im Sinne des Namenspatrons den Preis verdient hätten. Quod errat demonstrandum! 3 Als wissenschaftlicher Begleiter einer solchen Schule war es mir ein Vergnügen zu beobachten, wie der Bericht der Schulinspektion bei den Inspizierten eine diebische Freude darüber auslöste, dass keine Beschwerde geführt werden konnte: „Was sollen wir sagen, Sie machen das alles nicht nur schon lange so, wie es nun gewünscht wird, sondern Sie machen es auch ausgezeichnet!“
Anmerkungen
275
Lothar Wigger: Werdegang und Themenschwerpunkte – Eine bio-bibliografisch-thematische Spurensuche 1 Überarbeitete Fassung der Laudatio beim Symposion anlässlich des 60. Geburtstages von Lothar Wigger am 5. Juli 2013. Die persönlichen Anmerkungen am Anfang und am Schluss wurden für diese Druckfassung weggelassen. 2 Informationen, die nicht den hier genutzten Dokumenten, sondern der langjährigen Bekanntschaft und Freundschaft mit Lothar Wigger entstammen, sowie spekulative Erwägungen, die nicht durch die Dokumente gedeckt sind, werden in eckigen Klammern und kursiv hervor gehoben. Es wurde versucht, solche Einsprengsel möglichst gering zu halten. 3 Zur Quelle Ego-Dokumente s. Häder, Sonja: Der Bildungsgang des Subjekts: Thema – Kontext, Quellen – Methode – Theorie. In: Zeitschrift für Pädagogik, 48. Beiheft, 2004, S. 7–27, hier bes. S. 15 f f. 4 Diese und die folgenden Angaben basieren auf dem Lebenslauf in der Dissertation von 1981: Handlungstheorie und Pädagogik. Eine systematisch-kritische Analyse des Handlungsbegriffs als pädagogischer Grundkategorie. St. Augustin: Richarz (Beiträge zur Pädagogik, Band 2 = Beiheft 2 zur Pädagogischen Rundschau). Die Informationen zur Geburtsstadt entstammen den Weiten des Internets. 5 Das tut die Chronik der Schule im Internet kund (http: / / w ww.huma-gym.de / index.php? option=com_content&view=article&id=21&Itemid=56). 6 Fündig wurde ich in insgesamt 44 Büchern und Zeitschriften sowie in der Dissertation, wobei oft nur die Angabe der je gegenwärtigen Tätigkeit zu finden war. Auf Einzelnachweise wird hier verzichtet und dafür auf das Publikationsverzeichnis von Lothar Wigger am Ende dieses Bandes verwiesen. 7 Siehe http: / / w ww.wordle.net. Der Algorithmus von Wordle stellt Texte bzw. Wortsammlungen grafisch dar, wobei häufigere Wörter stärker hervorgehoben werden als weniger häufige. Die Darstellungen der Wörterwolken beruhen allerdings auf dem Zufallsprinzip, nicht auf einer Analyse des Textes. In den Grafiken werden die Wörter nach Häufigkeit größer oder kleiner wiedergegeben. Die Anordnung ist jedoch beliebig und folgt keiner analytischen Überlegung. Das Ganze ist nett anzusehen, stellt aber keine Analyse dar, sondern bietet allenfalls spiele risches Ausgangsmaterial für inhaltliche Analysen.
Inazo Nitobe (1862–1933) und die Widersprüche der japanischen Modernisierung: Ein Leben zwischen dem Fremden und dem Eigenen 1 Die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung hat damit den Auftrag, „den traditionellen Hiatus von Bildungstheorie einerseits und empirischer Bildungsforschung andererseits zu überwinden“ (Krüger 2006, S. 27). 2 Es fordern auch Jutta Ecarius und Thorsten Fuchs den „Ausbau einer bildungstheoretisch orientierten und empirisch fundierten Biografieforschung“ (Ecarius / Fuchs 2012, S. 197). 3 Während seiner Amtszeit in Genf gehörte er auch zum Freundeskreis der Redaktion der Zeitschrift Das Werdende Zeitalter, die im Rahmen des 1921 gegründeten Weltbundes für Erneuerung der Erziehung unter der Leitung von Elisabeth Rotten (1882–1964) und Karl Wilker (1884–1950) in deutscher Sprache erschien. Er saß auch im Ausschuss der Internationalen Schule in Genf, die 1924 von Adolphe Ferrière (1879–1960) gegründet worden war. 4 Die klassische Bildungsreflexion erreichte bei Hegel ihren „Höhepunkt und zugleich Abschluß“ (Jäger / Tenorth 1987, S. 80). 5 Diese Entwicklung läuft folgendermaßen ab: Das Kind, „der in sich eingefüllte Geist“ (Hegel
276
6 7 8
9
10
11
12 13
14
Bildung an ihren Grenzen
1970c, S. 75), verwandelt sich in den Jüngling, der sich in der „Spannung einer selbst noch subjektiven Allgemeinheit […] gegen die unmittelbare Einzelheit, d. i. gegen die vorhandene, denselben nicht angemessene Welt“ (ebd.) befindet. Der Mann gelangt nun zur „Anerkennung der objektiven Notwendigkeit und Vernünftigkeit der bereits vorhandenen, fertigen Welt, an deren sich an und für sich vollbringenden Werke das Individuum seiner Tätigkeit eine Bewährung und Anteil verschafft“ (ebd.). Der Greis mündet schließlich auf die „Vollendung der Einheit mit dieser Objektivität“ (ebd.). „Dies Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens ist der absolute Wert der Bildung“ (Hegel 1970b, S. 71). Bei Hegel koinzidierten, nach Adorno, „Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten“ (Adorno 1970, S. 145). Nitobe brachte die Vervollendung der Persönlichkeit immer wieder zum Ausdruck: „Western mentality will make many contributions to our culture. Foremost among them is the appreciation of personality. De-personalization has sadly been an oriental trait, from which follow some grave moral consequences“ (Nitobe 1930a, S. 42). Er klagte über die Geringschätzung der Persönlichkeit im Osten, wo die Bildung nicht auf den „good man“ sondern auf „loyal subjects“ und auf „patriotic citizens“ abziele, und nicht auf die „good woman“ sondern auf „good wives“ und auf „wise mothers“ (Nitobe 1927, S. 462). Der Erste Weltkrieg erschien ihm angesichts dieses Mangelzustandes als Anlass zur Wende: „The Great War has, however, mercilessly shattered the fetish of De-personalization. Man in the East will now come to his birthright of personality“ (ebd.). Im moralischen Empfinden stehen Japaner und Briten nach Nitobe in einer engen Verwandschaft: „moral sentiments are the common meeting ground of all the branches of the human family. There is brotherhood between an English gentleman and a Japanese samurai, a spiritual bond between them“ (Nitobe 1909, S. 459). Nitobe soll in seiner Jugend englische Bücher leichter gelesen haben als japanische (vgl. Nitobe 1933a, S. 354). Als er an der Landswirtschaftshochschule Sapporo unterrichtete, hatte er, nach der Aussage eines damaligen Studenten, weiter mit japanischen Schriften Schwierigkeiten (vgl. Kan 1987, S. 107). Die Hochschule, die 1872 provisorisch in Tokio gegründet worden war zur Ausbildung der administrativen Elite der nördlichen Hauptinsel Hokkaido, wurde 1875 nach Sapporo, Hokkaidos Hauptstadt, verlegt. Auf Initiative des Generaldirektors Kiyotaka Kuroda (1840–1900) lehrte die Hochschule ab 1976 amerikanische Techniken der Urbarmachung. Deren Prinzipien etablierten sich unter der Leitung des Amerikaners William Smith Clark (1826–1886), der die Hochschule für acht Monate als „the first Agricultural College in the Orient“ (Nitobe 1893, S. 13) begleitete. Im ersten Jahrgang (1876) wurden 24 Studenten aufgenommen, von denen 13 den Kurs vier Jahre später abschlossen. Im zweiten Jahrgang (1877) wurden 20 Studenten – darunter auch Nitobe – aufgenommen, von denen 10 den Kurs vier Jahre später abschließen konnten (ebd., S. 30). Nitobe schreibt: „To transmit a thought from one to another may not require an intellect of high order or an original cast of mind“. Er fand sich also damit ab, bloß „a second or even a third part“ (Nitobe 1912, S. 9) zu spielen. Zu Nitobes Schülern in Sapporo zählten unter anderen Kokichi Morimoto (1877–1950), der nach seiner Lehrtätigkeit an der Kaiserlichen Universität Tokio eine Wirtschaftsfachschule für Frauen gründete und Nitobe als deren Gründungsrektor berief, und Takeo Arishima (1878– 1923), der nach seiner Lehrtätigkeit an der von Nitobe gegründeten Abendschule zum Schriftsteller der idealistisch und humanistisch geprägten Shirakaba-Schule wurde. Nitobe unterstützte den japanischen Kolonialismus schon sehr früh. An der Landwirtschaftshochschule Sapporo übernahm er 1893 als Nachfolger von Shosuke Sato (1856–1939) die Lehr-
Anmerkungen
15
16
17
18
19
20
21 22
277
veranstaltung zur „Kolonialwissenschaft“, in welcher er Adam Smith (1723–1790) behandelte. Nach dem Dienst in Taiwan, der ersten (Ausland-)Kolonie Japans, wurde Nitobe 1908 als erster Professor der Kolonialpolitik an die Kaiserlichen Universität Tokio berufen, und er förderte 1910 die Gründung der Gesellschaft der Kolonialpolitik. Nitobe gilt damit als Gründer der Kolonialpolitik Japans. Er definierte eine Kolonie als „Siedlung von einem Teil der Landsleute von seinem Heimland zum neuen Territorium“ (Nitobe 1917, S. 61). In der Kolonialpolitik hielt er das Interesse der Kolonialisierten und die humane Herrschaft der Kolonialisierenden für wichtig, und äußerte sich zuversichtlich im Geist des Sozialdarwinismus: „Colonization is the spread of civilization“ (ebd., S. 167). Nitobe forderte von der Schule, einen „sense of proportion“ zu wahren zur harmonischen Entwicklung des Menschen. Das landläufige Bildungskonzept orientiere sich, nach Nitobe, schlicht an der Entwicklung des Einzelnen, genauer an der körperlichen Entwicklung (vitality), der geistigen Entwicklung (mentality) und der sittlichen Entwicklung (morality), damit aber zu wenig an der Entwicklung der zwischenmenschlichen Handelskraft (sociality) (vgl. Ishii 1934, S. 251 f.). Als Nitobe von seinen Gegnern der Gleichsetzung der Geselligkeit mit der Kriecherei angeschuldigt und zum Rücktritt aufgefordert wurde, nahm er auf die Rugby School Bezug, und äußerte, dass er zufrieden wäre, wenn zwanzig oder dreißig Jahre später ein einziger Absolvent dieser Schule sich an seine Worte erinnern würde (vgl. Ishii 1934, S. 257 f f.). Als Lehrer an der Ersten Oberschule – einschließlich seines Lesezirkels – unterrichtete er zahlreiche künftige Bildungspolitiker und Lehrer: Tamon Maeda (1884–1962), Kotaro Tanaka (1890– 1974) und Tatsuo Morito (1888–1984) wurden Kultusminister, und Shigeru Nanbara (1889–1974) und Tadao Yanaihara (1893–1961) wurden Rektoren der Universität Tokio. Morito bezeichnete Nitobe in erster Linie als ausgezeichneten Erzieher (vgl. Morito 1987, S. 294). Schüler diskutierten oft, ob „to be (innerliche Vervollendung der Persönlichkeit)“ wichtiger sei als „to do (äußerliche Tätigkeit bzw. Leistung in der Gesellschaft)“ (ebd., S. 301). Nach Morito nahm Nitobe weder die amerikanische Universität zum Vorbild mit ihrem Prinzip der beruflichen Effizienz, noch die deutsche Universität mit ihrem Prinzip der objektiven Wissenschaft, sondern die englische Universität mit ihrem Prinzip der Kultivierung der Persönlichkeit (ebd., S. 303). Nitobes Gesammelte Werke, die von Nitobes Schülern – vor allem von denjenigen der Ersten Oberschule – herausgegeben wurde, erwähnt Nitobes Amt an der Kolonialfachschule nicht. Dies wohl aus dem Grund, dass die Herausgeber Nitobes Leistung ohne Belastung durch seinen Imperialismus zu würdigen suchten (vgl. Kusahara 2001, S. 323). Er gestand eingangs sein Unbehagen, dass er eine Rede über Taiwan an Schüler richtete, die zwei oder drei Jahre lang Taiwan intensiv studiert hatten. Zu diesem Zeitpunkt war er wohl in seinem dritten Amtsjahr, hatte sich aber kaum zehn Monate in Taiwan aufgehalten, weil er sich meist auf Reisen befand (vgl. Nitobe 1903, S. 65). Als Verfechter der Kolonialpolitik äußerte Nitobe seine Zufriedenheit, dass Taiwan nun ein Teil Japans war. Er bereute jedoch, dass Japan zu spät mit seiner Kolonial-Politik begonnen habe: „25 Jahre früher, und es wäre die Hälfte Amerikas zu einem Teil Japans geworden“ (vgl. Nitobe 1903, S. 72). Er empfahl ihnen damit keine individualistische Haltung, sondern Selbstbeherrschung (vgl. Nitobe 1918, S. 268). Selbst das Christentum könne durch die östliche Mystik bereichert werden: „before very long the Christian faith, enriched by the intellectual treasures of centuries and deepened by Oriental mysticism, will be a part of the forces which will drive the nation towards its destiny“ (Nitobe 1927, S. 382). Denn das Mystische, das auch den Kern des Christentums ausmache, sei im Orient stärker entwickelt (vgl. Nitobe 1926, S. 334). Nitobe meinte: „If the West is dissatisfied with Christianity, as it seems to be, will it not find a fresh clue to some of its teachings in the East?“
278
Bildung an ihren Grenzen
(Nitobe 1929, S. 594). Ferner: „Its theologies do not take us into the Holy of Holies. That mysterious Love, the man Jesus Christ, can be approached better by intuition and mysticism – capacities oriental“ (ebd., S. 595). 23 “selective imitation means assimilation and that assimilation is not ‘cheap imitation’. This, then, is the ideal of accepting exotic influence“ (Nitobe 1929, S. 595). 24 Nach Nitobe geht der Internationalismus vom Nationalen aus, während dem Kosmopolitismus dieser Ausgangspunkt fehlt: „An international mind is not the antonym of a national mind. Nor is it a synonym for a cosmopolitan mind, which lacks a national basis“ (Nitobe 1932c, S. 358). Die Antithese des Internationalismus sei mithin nicht „patriotism“ oder „exophilism“, sondern „chauvinism“, „xenophobia“ (ebd.) oder „fantastic cosmopolitanism“ (Nitobe 1932b, S. 285). Nitobe warnte auch vor dem Internationalen ohne das Nationale: „Take away national from inter-national, and one has only an ‘inter’, a ‘between’ space, into which to fall!“ (Nitobe 1932c, S. 320). Um die Hochachtung vor dem Nationalen zum Ausdruck zu bringen, zog er – gemäß Galen M. Fisher – den eingrenzenden Begriff des „matriotism“ dem ausgrenzenden Begriff des „patriotism“ vor (vgl. Nitobe 1931, S. 155; Nitobe 1932b, S. 283 f.). 25 Dies im Gegensatz zu seiner Generation. Denn: „it is hard to conceive and realize by one who, like myself, was born under the shadow of a feudal castle or brought up in the air of the intense nationalism that characterized the nineteenth century“ (Nitobe 1932c, S. 320).
„Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt“. Zum Vorwurf der Empiriefeindlichkeit gegen Alfred Petzelt. Eine Studie aus Sicht der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung 1 Zur Petzelt-Schule zähle ich (s. K auder 2010 u. 2013) außer Petzelt selbst (in alphabetischer Reihung) Margret Böndel, Ines Maria Breinbauer, Wolfgang Fischer, Ommo Grupe, Marian Heitger, Rudolf Hülshoff, Renate Jahn, Peter Kauder, Hubertus Kunert, Volker Ladenthin, Michael Langer, Magdalena Linnenborn, Walter Müller, Karl Gerhard Pöppel, Aloysius Regenbrecht, Jürgen Rekus, Jörg Ruhloff, Alfred Schirlbauer, Günter Scholz, Rudolf Stipsits, Gustav Vogel, Peter Vogel, Bernd Wolterhoff. 2 Zum Umkreis der Petzelt-Schule gehören viele (nicht alle) Personen des Stammpersonals des „Salzburger Symposions“, etwa Ballauff, Ipfling, Ritzel (s. R itzel 1984). 3 Der Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Teilen eines Vortrags am 10.01.2014 in der Universität Wien zum Thema „Das Empirieproblem in der Allgemeinen Pädagogik – Anfänge des Problems: Exemplarische Positionen und Stationen“. 4 Das ist aber noch nicht die ganze Kritik an Petzelt, denn Lochner kritisiert zusätzlich, dass Petzelt seinen Wissenschaftsbegriff nicht offenlege, der „im tiefsten Sinn ungesichert und undeutlich“ (ebd., S. 275) sei, worin „er sich keiner Weise von der Mehrzahl der Idealisten und Kritizisten“ (ebd., S. 278) unterscheide. 5 Dies sagt 25 Jahre später auch Ingenkamp: „Wieder einmal werden […] die Vertreter empirischer Vorgehensweisen […] nach einer Äußerung Brezinkas beurteilt […]. Aber Brezinka ist nicht der Sprecher der empirischen Pädagogik.“ (Ingenkamp 1992a, S. 12) 6 Bis zur 10. Auflage seiner „Geschichte der Pädagogik“ wird Petzelt einzig mit dem Hinweis erwähnt, Schüler von Hönigswald zu sein; erst in der 11. Auflage 1971 geht Reble mit der dargestellten Beurteilung auf ihn ein und hält diese Beurteilung wortwörtlich bis zur 18. Auflage 1995 bei. 7 Für dieses „immer wieder“ bleibt Menze die Belege schuldig, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Vorwurf in schriftlich-publizierter Form bis 1976 eher – wie gezeigt – selten vorgetragen worden ist; Menze dürfte hier wohl eher sein Wissen um informell Tradiertes zum Ausdruck ge-
Anmerkungen
8
9 10
11 12
13
279
bracht haben, denn schließlich gehört er seit den frühen 1960er- Jahren zum festen Personenkreis des Salzburger Symposions. Ich ergänze dies um den Hinweis, dass Petzelt die Relation zwischen Tatsachen und Prinzipien für unauflöslich hält, denn: Wer einerseits allein auf Basis von Tatsachen argumentiere und auf Prinzipien verzichte, könne die gewonnenen Tatsachen weder ordnen noch legitimieren und damit keine gültigen pädagogischen Entscheidungen treffen; wer andererseits völlig unabhängig von Tatsachen argumentiere, verliere sich (in Anlehnung an Kant) „in Spekulationen, […] auf deren hohen Türmen gemeiniglich viel Wind weht“ (Petzelt 1962a, S. 65), d. h. man isolierte sich bzw. hätte (paradoxerweise) keinen Ausgangspunkt mehr für die Herleitung und Reklamierung von Gültigkeitsansprüchen. Es wäre wissenschaftsgeschichtlich der Bedeutung nachzugehen, die Blankertz – der nicht zur Petzelt-Schule, sondern zur Nohl-Weniger-Schule gehört (vgl. Kauder 2009) – sowohl für die Petzelt-Schule als auch für das Salzburger Symposion gehabt hat. Rekonstruiert man die Tradierung des Wortes der „Empiriefeindlichkeit“ innerhalb der PetzeltSchule, ist festzustellen, dass Kauder 1987 keinen Beleg dafür nennt, dass Vogel seine Einschätzung auf Texte von Menze, Reble, Schriewer und Brezinka (vgl. Vogel 1989, S. 127) stützt und dass sich Fischer / Ruhloff auf die Texte Kauders (1987) und Vogels (1989) berufen – auf Blankertz’ Text hingegen, bei dem der Ausdruck nachzulesen ist, geht niemand ein. Das kann man oft lesen, z. B. bei Ruhloff (1982, S. 21 f.) oder bei Menze (1976, S. 78), der von „unpraktischer Verbalistik“ spricht. Das ist m. E . eine Folge seiner politisch verursachten Isolierung bereits in den 1930er- Jahren. In seinen Texten nach 1945 schreibt Petzelt ausschließlich als theoretisch-prinzipienwissenschaftlicher Pädagoge, der weder zu erkennen gibt, ob er die akademische „Szene“ der 1950erJahre kannte, noch zu erkennen gibt, ob und welche der vielfältigen Forschungsansätze und Konzepte innerhalb der Pädagogik er zur Kenntnis genommen hat. Nimmt man den Bericht über „Die gegenwärtige Situation des Wissens von der Erziehung“ (Derbolav 1956) zum Vergleich, dann scheint Petzelt – der während der NS-Zeit ohnehin vom Fachdiskurs abgeschnitten war –, fachlich sehr isoliert (abgesehen von Kontakten zur Polizeischule in Münster und zum Vortragspublikum in katholischen Bildungswerken) und ausschließlich mit der publizistischen Entfaltung seiner Systematik beschäftigt gewesen zu sein. Man kann das z. B. an dem „Bericht über Deutschland“ (Petzelt 1954a) sehen, in dem Petzelt zum Einen die vielfältigen und oft genug zueinander kontroversen Ansätze selbst innerhalb der Systematischen Pädagogik nahezu einebnet, er zum Zweiten Teile seiner eigenen Anschauungen vorträgt und zum Dritten in recht allgemeiner Weise einige Probleme und Fortschritte der Organisation des akademischen Studiums im Nachkriegsdeutschland referiert. Noch deutlicher wird diese Selbstreferentialität in dem Lexikonbeitrag „Pädagogik als Wissenschaft“ (Petzelt 1954b), in dem er ausschließlich seinen eigenen Ansatz darlegt und keinen einzigen, wie man erwarten dürfte, Hinweis auf alternative Konzepte gibt. Ich deute diese Indizien als Zeichen dafür, dass die in den 1930er- Jahren einsetzende Isolierung Petzelts vom Fachdiskurs sich in den 1950er-Jahren fortgesetzt hat, jetzt jedoch hat Petzelt selbst Anteil daran, weil er sich darauf konzentriert, seine Systematik publizistisch auszubauen und in nahezu 100 Vorträgen in zumeist katholischen Bildungswerken, Polizeiakademien und Blindenschulen weiterzugeben. – Es gibt keinerlei Belege dafür, dass er mit Kollegen in intensivem Austausch stand (es gibt 2 knappe Mitteilungen zwischen ihm und Litt, aber in den Werken z. B. von Spranger, Flitner, Nohl wird sein Name niemals genannt). Dieser Aspekt ist bislang in der Petzelt-Forschung nicht untersucht: Es wäre ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Gesamtwerks Petzelts, wenn man seine nach 1945 erschienenen Hauptwerke zueinander ins Verhältnis setzen würde, also herausfände, ob die Bücher, die nach den „Grundzügen systematischer Pädagogik“ geschrieben wurden („Grundlegung der Erziehung“, „Von der Frage“, „Wissen und Haltung“, „Kindheit – Jugend – Reifezeit“), nur der (genauer
280
14
15
16
17 18 19 20
21
22
Bildung an ihren Grenzen
zu konkretisierenden) Entfaltung der dort platzierten Themen dienen (wie nahezuliegen scheint), oder ob Petzelt eine Art Gesamtplan hatte, in dem jedem Buch sein bestimmter Ort und entsprechend ein Teilbeitrag zum Gesamtplan zugemessen wurde. Zusätzlich wäre dabei herauszuarbeiten, dass und welche Themenkreise Petzelt in diesen Büchern anspricht, etwa praktische Fragen von Erziehung und Unterricht, politische Einflussnahmen, wissenschaftstheoretische Reflexionen zum Platz der Pädagogik innerhalb der Wissenschaften, Rekurse auf Philosophie, Psychologie, problemgeschichtliche Analysen etc. Denn wenn man sich „Von der Frage“ genauer ansieht, so würde man erwarten, dass es um die „Struktur des Frageaktes“ ginge, aber diesen Aspekt nimmt Petzelt im Vorwort ausdrücklich aus, sondern geht auf diejenigen Fragen ein, die sich zum einen für das Ich und zum anderen für die Pädagogik als Wissenschaft stellen. Es sind die Bücher „Grundzüge systematischer Pädagogik“, die „Grundlegung der Erziehung“, „Von der Frage“ und „Kindheit – Jugend – Reifezeit“ sowie die Aufsätze „Pädagogik und Philosophie“, „Psychologie und Pädagogik“, „Über das Lernen“ und „Kant: Das Fürwahrhalten läßt sich nicht mitteilen“. – „Tatsache und Prinzip“ lasse ich fort, weil es erst 1982 publiziert worden ist, und in „Wissen und Haltung“ gibt es keine Stellen zu Empirie. Die meisten Petzelt-Kritiker beziehen sich auf sehr wenige Texte Petzelts, so Brezinka auf die „Grundlegung der Erziehung“ und die „Grundzüge systematischer Pädagogik“ (vgl. Brezinka 1959, S. 6, 31), Lochner nur auf die „Grundzüge systematischer Pädagogik“ (vgl. Lochner 1963, S. 552). – Von den späteren Interpreten bezieht sich Reble auf alle genannten Texte, ausgenommen „Kindheit – Jugend – Reifezeit“ (vgl. Reble 1971, S. 342), Menze lediglich auf die „Grundzüge systematischer Pädagogik“ und die „Grundlegung der Erziehung“ (vgl. Menze 1976, S. 106). Weitere Passagen siehe: Petzelt 1964, S. 207, 341; 1962a, S. 46, 53, 74, 122; 1961a, S. 210; 1962b, S. 10, 29, 241, 255; 1961b, S. 12, 23; 1961c, S. 28; 1961d, S. 88; 1963, S. 49. – Zusatznotiz: Ein Vergleich der Passagen zeigt, dass Petzelt fast alle Stellen aus 1964, 1961a, 1962a, und 1961c im Rahmen einer Neuauflage (nach denen hier zitiert worden ist) sozusagen verschärft hat. Rekus stellt fest, dass Petzelts „Kritik an der Empirie in vielen Fällen heute überzogen erscheint“ (Rekus 1993, S. 107). Gleiches gilt für alle Stellen, in denen Petzelt auf „Kausalität“ in der Pädagogik eingeht. Die Spaltung der Psychologie in eine rationale und eine empirische hat Petzelt seit den 1920erJahren immer wieder thematisiert (vgl. Petzelt 1928). Diese Lesart Vogels dürfte zutreffend sein: Der gravierende Nachteil von Petzelts oft verwendetem problemgeschichtlichen Zugriff besteht darin, dass die Originalität dieses Zugriffs mit dem (Petzelt nicht interessierenden) Preis einer philosophisch-philologisch sauberen Interpretation, etwa hier Kants, erkauft ist (vgl. Petzelt 1982, S. 120; 129; 143). Petzelt will seinen eigenen Ansatz weiterentwickeln und bedient sich dabei der klassischen Texte in rhapsodischer Form. In diesem Sinn macht er den „Unterschied zwischen dem Ich-denke in transzendentalem Sinne und jenem anderen Ich-denke, das Kant empirisch nennt“ (ebd., S. 129), nicht mit. Er rechtfertigt das damit, dass es ihm um das Problem der Psychologie gehe, das Kant „in seiner ganzen Breite nicht aufgerollt“, sondern das er nur bezogen auf die Psychologie „seiner Zeit“ (ebd., S. 131) behandelt hat. Insofern lässt sich Petzelts problemgeschichtlicher Zugriff als Prolongierung des eigenen Ansatzes auf klassische Texte verstehen, die als Stichwortgeber fungieren. Blankertz unterstellt, dass es sich um eine „uneingestandene Anthropologie“ (Blankertz 1982, S. 288; Hervorh. v. PK) handle. Dass sie „uneingestanden“ sei, vermag ich nicht nachzuvollziehen, wenn ich sehe, dass es fast keinen Text Petzelts nach 1945 gibt, in dem er diese Aktivität nicht anspricht. In einem Aufsatz geht Petzelt schon 1928 auf den Anwendungsbegriff ein. Damals nahm er an, dass die empirische Psychologie sich im Niedergang befand: „Vorbei ist es mit dem dunklen Be-
Anmerkungen
23
24
25
26
27
28
281
griff der ,Anwendung‘ der Psychologie auf die Pädagogik und sonstige Wissenschaften. Psychologie kann nie so etwas wie Operationsmechanismus werden, den man wie ein Instrument verfügbar für sich bereit hält, und den man wie ein Werkzeug benutzt. Wohl betreibt man Physik mathematisch, und das hat seine guten Gründe, aber nicht so darf Pädagogik systematisch verbunden mit Psychologie gedacht werden. Es gilt nie eine schematische Übertragung in ein anderes Gebiet, sondern es gilt, Zusammenhänge als notwendig zu erweisen, sie allein schützen vor ungerechtfertigten Grenzüberschreitungen.“ (Petzelt 1928, S. 58; s. a. 1961d, S. 88) Vor allem in Petzelt 1964, S. 24 f., 36, 46, 73 f., 90, 106 f., 110, 121, 149, 200 f., 207–209, 226, 238, 298 f., 319, auch in 1961a, S. 16, 22, 118, 227, 264 gibt es zahlreiche Beispiele dafür, und vor a llem sind die vielen Passagen aus 1962b zu nennen, in denen er sich auf Tagebucheinträge von Kindern und Jugendlichen bezieht. Schließlich ist auch an viele Passagen zu denken, in denen er die von den Nationalsozialisten verursachte „Unterrichts- und Erziehungskatastrophe“ in diesen oder ähnlichen Worten anspricht (vgl. Kauder 1997, dort v. a. S. 159 f f.). Für das Empirieproblem kommt „Von der Frage“ eine besondere Rolle zu, denn in keinem Werk macht Petzelt so viele kritische Bemerkungen zur Empirie (die seine Kritiker nicht kennen und mit denen Petzelt seine Empiriefeindlichkeit untermauert), und dort gibt es sogar ein mit „Empirie“ überschriebenes Kapitel (vgl. Petzelt 1962a, S. 116–124), das allerdings derart hermetisch abgefasst ist, dass es auch Petzelt-Kennern nur schwer zugänglich ist. In diesem Werk findet man aber auch die nachfolgend interpretierte sehr abgewogene Auseinandersetzung mit Tatsachen aus der Soziologie. Petzelt schreibt, wiederum mit Kant: „Tatsachen allein […] sind unmöglich als Letztheiten“, können also Prinzipien nicht ersetzen; „umgekehrt nun: Voraussetzungen“, sprich: Prinzipien, „getrennt von Tatsachen, sind ebensowenig möglich. Man steigt ins logische Reich des a priori, verliert den Boden unter den Füßen, gibt das Band zu den Tatsachen, zum fruchtbaren , ,Bathos der Erfahrung‘ auf, kommt in Gefahr, sich in Spekulationen zu verlieren“ (Petzelt 1962a, S. 65). Der Gedanke des Zusammenhangs zwischen Tatsachen und Prinzipien bzw. Theorie und Praxis kann konkretisiert werden: Wann immer Tatsachen oder Maßnahmen als angeblich pädagogisch relevant ausgegeben werden, hat man – damit liegt der gegebene Anlass vor – zu fragen, mit welcher Begründung diese Tatsachen oder Maßnahmen legitimerweise als (rechtens) pädagogische bezeichnet werden (vgl. Petzelt 1964, S. 41 u. 229). Ein Beispiel: Die aufgrund einer zurechtweisenden Ermahnung seitens des Lehrers erfolgte Erledigung einer Hausaufgabe durch einen Schüler ist nicht deshalb schon eine pädagogische Maßnahme, weil die Ermahnung in einer öffentlichen Schule stattgefunden hat und eine Lehrperson daran beteiligt gewesen ist. Abgesehen von dem nicht zu billigenden Mittel (eine zurechtweisende Ermahnung) wäre die Motivierung zur Hausaufgabenerledigung erst dann eine rechtmäßige pädagogische Maßnahme, wenn es dem Lehrer gelänge, dem Schüler zur Einsicht zu verhelfen, dass eine Hausaufgabe dem vertiefenden Verständnis helfen und dass ein vertieftes Sachverständnis intrinsisch motivierend das Interesse des Schülers an einem Schulfach und damit die von Petzelt immer anthropologisch vorausgesetzte grundsätzliche Aktivität des Ich befördern würde. Kauder (1987) und vor allem Fischer / Ruhloff haben in ihrem Text mit den ausgewogenen Darlegungen zu soziologischer Empirie zum einen und mit Petzelts Tatsachenbezug zum anderen ihn gegen „schlechthinnige ,Empiriefeindlichkeit‘“ (Fischer / Ruhloff 1998, S. 110) verteidigt, während andere wie Brezinka (1959) und Lochner (1963) sich an die kritischen Stellen gehalten oder wie Blankertz (1966) den Anschein der „Empiriefeindlichkeit“ eingeräumt (ebd., S. 71) oder von „rüder Ablehnung empirischer Pädagogik“ (Menze 1976, S. 78) gesprochen haben. Ich selbst habe angesichts dieser Ambivalenzen die ausgeführte dreiteilige erste These vertreten. Ob sich seine Kritik also auf Theoriekontexte in den 1920er- oder in den 1940er-Jahren oder später bezieht.
282
Bildung an ihren Grenzen
29 Ich halte es auch für möglich, dass Petzelt, wenn er „empirische Pädagogik“ sagt, „empirische Psychologie“ meint, das legen z. B. die Partien 1961c, S. 27, 1961d, S. 88 und 1964, S. 207 nahe. 30 Siehe Petzelt 1961d, S. 88; 1964, S. 207; 1961c, S. 27; 1962a, S. 42) – gemeint sind, wie man bei Koch (2002, S. 77) lesen kann, Ebbinghaus und Meumann. 31 Wenn Petzelt z. B. schreibt „Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Natu robjekt“ (Petzelt 1961b, S. 24) oder wenn man sich die vielen empirieablehnenden Passagen ansieht, so entsteht der Eindruck (den Petzelt allerdings niemals ausdrücklich formuliert), als sei philosophische Pädagogik vom Aufkommen empirischer Pädagogik in ihrer Fortexistenz bedroht (immerhin schreibt er „philosophisch werden“ – als ob philosophische Pädagogik um ihre Fortexistenz ringen muss). Meines Erachtens überträgt Petzelt die Dominanz der empirischen über die rationale Psychologie (vgl. Schmidt 1995), die er mehrfach in den 1920er- und 1930erJahren angesprochen hat (vgl. Petzelt 1928), auf die Pädagogik und befürchtet hier Ähnliches. Dass Petzelt aber nicht der Einzige ist, der die Pädagogik in der Gefahr einer Überwindung sieht, kann man bei Klafki lesen, der allerdings keine konkreten Referenzen angibt: „Es scheint uns jedoch ein Missverständnis zu sein, wenn man gegenwärtig vielfach meint, die Entwicklung empirischer Forschung in der Pädagogik als ,Gegenschlag‘ oder ,Überwindung‘ der sogenannten ,geisteswissenschaftlichen Pädagogik‘ deuten zu müssen, statt als Weiterentwicklung bereits in jener erziehungswissenschaftlichen Forschungsrichtung aufspringender, aber von ihr wissenschaftsmethodisch nicht bewältigter Fragestellungen.“ (Klafki 1968, S. 147) Als „Weiterentwicklung“ jedenfalls sieht Petzelt (* 1886) – anders als der fast zwei Generationen später geborene Klafki (* 1927) – empirische Pädagogik nicht. 32 Benner argumentiert 1973 ähnlich, dass Petzelt seine Argumentation ad absurdum führt, wenn er das Ich vor jeder Empirisierung schützen will: Das Resultat der Petzeltschen Argumentation: ,Pädagogik muß philosophisch werden – oder das Ich wird Naturobjekt‘ läßt sich jedoch auf diese Weise nicht rechtfertigen. Die Sinnlosigkeit jedweder Differenzierung zwischen innerer und äußerer Erfahrung besagt nichts über die Möglichkeit einer Differenzierung der Erfahrung nach Gegenstandsbereichen. Zwar kann das empirische Ich als Ich nicht Objekt theoretischer Naturerfahrung werden; daraus jedoch zu folgern, es könne deshalb auch nicht Gegenstand praxeologischer Erfahrung sein, wäre mehr als voreilig. Wenden wir Petzelts These […] auf die gegenwärtigen Bemühungen um eine empirische Erziehungswissenschaft an, so verkehrt sie sich in ihre eigene Antithese und verlangt: ,Die philosophische Pädagogik muß empirisch werden oder das Ich bleibt Naturobjekt.‘“ (Benner 1973, S. 245; Hervorh. v. PK). Mit dem letzten, sehr kryptisch formulierten Satz will Benner m. E . deutlich machen, dass eine philosophische Pädagogik mit einer strikt-radikalen Ablehnung jedweder Empirie geradewegs den empirischen Zugriffen, die das Ich naturobjekthaft betrachten, das Feld überließe. Um demgegenüber das Ich davor zu schützen, auf Naturobjekthaftigkeit ausschließlich reduziert zu werden, wäre es seitens der philosophischen Pädagogik notwendig, sich der Empirie zu öffnen und zu zeigen, wie eine soz. ,intelligentere‘ Empirie aussehen könnte, die sowohl der Sinn- als auch der Objekthaftigkeit des Ich zu entsprechen versucht. 33 In seiner Argumentation beginnt Blankertz (vgl. 1966, S. 71 f.) mit einer Erläuterung der transzendentalen Fragestellung Petzelts (vgl. ebd., S. 72 Fußnote), gegen die er anschließend – ohne Petzelts Namen zu verwenden – mehrere Einwände formuliert und indirekt Petzelt als Repräsentanten entsprechender prinzipienkritischer Ansätze meint. 4 Petzelt kritisiert in diesem Sinn die Experimente mit sinnlosen Silben: Man „glaubte, das Ler3 nen zu treffen. In Wahrheit aber war man gar nicht beim Lernen, denn man hatte das Wesent liche, sie Sinngebung, ausgemerzt“ (Petzelt 1961d, S. 88). 35 Das war mit dem obigen Hinweis gemeint, dass er es seinen Kritikern leicht macht, ihm Empiriefeindlichkeit vorzuwerfen. 36 Die letzten drei Möglichkeiten findet man sogar bei Petzelt selbst (vgl. für das Erfragen von
Anmerkungen
37
38
39
40 41 42
43
44 45 46
283
Motiven Petzelt 1964, S. 149, für Typenbildung ebd., S. 24 f.; für Kontextualisierung von Gewusstem ebd., S. 121, 125). Blankertz’ Argument ist 1966 formuliert, während Petzelts Texte teils Ende der 1940er- Jahre bis ca. 1961 geschrieben worden sind. Blankertz und Mollenhauer – beide 1927 geboren – be wegen sich als intensiv Publizierende und frisch Professorierte zum Teil in anderen Theorie kontexten als der 40 Jahre ältere Petzelt, der altersbedingt seine Theorieproduktion damals allmählich einstellte und am ebenfalls damals einsetzenden Beginn der sozialwissenschaft lichen Öffnung der Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin nicht mehr interessiert gewesen sein dürfte. Derartige Vorstellungen über Empiriker scheinen in den 1950er- und 60er-Jahren zu kursieren: „Nicht immer wurde […] das Zerrbild einer theorie-feindlichen Empirie vermieden; […] Gibt es wirklich noch […] den armen Irren, der beobachtet und zählt und mißt und rechnet, um am Ende seiner komplizierten Operation die gefundenen Ergebnisse mit Hilfe einiger impliziter Vorannahmen zu interpretieren, oder ist es nicht inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden, daß es keine empirische Forschung ohne ein gewisses Vorverständnis des Gegenstandes geben kann, keine experimentelle Untersuchung ohne eine mehr oder minder willkürliche Eingrenzung und Isolierung der Fragestellung […].“ (Weinert 1969, S. 5) So stellt Menze 1966 aus Sicht der Ersteren fest, dass die empirische Pädagogik „immer entschiedener und nachdrücklicher und mit zunehmender radikaler Einseitigkeit die pädago gische Wissenschaft […] bestimmt“ (Menze 1966, S. 26), während Roeder 1964 aus Sicht der empirischen Forschung konstatiert, dass ihr „mit einem tief eingewurzelten Mißtrauen“ begegnet werde, und zwar mit der „Folge, daß die Präzisierung und Differenzierung empirischer Verfahren über die Anfänge der Entwicklung bisher kaum hinausgelangt ist“ und „daß ein blinder Empirismus neben einer um die Realität unbekümmerten Theorie sein Dasein fristet“ (Roeder 1964, S. 238). Diese Einschätzung findet man sinngemäß auch in Flitners „Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft“ (Flitner 1957 / 1989, S. 14 f.). Diese Behauptung gilt trotz des Umstands, dass nicht alle Teilnehmer Petzelts Werk gleichermaßen gut gekannt haben dürften. März schreibt 1965: „Pädagogik als Geisteswissenschaft richtet sich nicht wie die Naturwissenschaften an den Menschen als ,problematisches‘, erforschbares und grundsätzlich erfahrbares ,Objekt‘; wollte sie so verfahren, würde sie den Menschen gänzlich verfehlen.“ (März 1965, S. 17; den Hinweis finde ich bei Weinert (1969, S. 6), der März aber falsch und mit falscher Seitenzahl zitiert). „So ist es durchaus berechtigt, daß auch eine deskriptive Methode in der pädagogischen Forschung gefordert und verwendet wird. Auch das Experiment hat darin seine allerdings sehr begrenzte Bedeutung. Aber die Einengung der pädagogischen Forschungsmethoden auf die Deskription oder ein anderes einseitiges Verfahren entspricht nicht dem Gegenstand und der Aufgabe dieser Wissenschaft.“ (Flitner 1957, S. 19) Neben einem Referat von Hartmann zum Problembestand der Symposien 1964–1966 sind mit Weiss und Robinsohn ein Statistiker bzw. ein Bildungsforscher als Gastredner eingeladen worden, seitens des Stammpersonals haben Fischer und Funke referiert. Es handelt sich um einen von Menze angeregten Vortrag (vgl. Menze 1966, 47) zu einer „fiktiven Untersuchung über die Wirkung von Strafen“. Das Symposion 1968 „Empirie und Geschichte im Begründungsproblem der Pädagogik“ war thematisch zweigeteilt in einen Teil, in dem es nochmals um die Empirieproblematik ging, und einen Teil, in dem es um die legitimationstheoretische Rolle der Historischen Pädagogik ging. Für den Empirieteil sind als Gastredner Weinert und Wenzel eingeladen worden, also Vertreter der empirischen Psychologie bzw. Soziologie.
284
Bildung an ihren Grenzen
47 Die Kooperationsoption, die Ruhloff als Fazit des Symposions 1968 anspricht, hat Heitger zwei Jahre (jedoch nicht auf einem Salzburger Symposion) zuvor in drei Aspekten ausführlich dargelegt (s. 1966b, S. 95), und diese Aspekte werden von Weinert bereits aufgegriffen (s. Weinert 1969, S. 19). 8 „Zieht man […] ein Resümee, so darf […] vielleicht doch mindestens dieses Ergebnis festgehalten 4 werden: Das Konstitutionsproblem der Pädagogik ist innerhalb der Denkmöglichkeiten streng empirischer Wissenschaftsverständnisse unentscheidbar. Dieses Mindestresultat ist nicht so kärglich, wie es vielleicht die knappe Formulierung erscheinen läßt.“ (Ruhloff 1969, S. 101)
Hegel über den Anfang der logischen Bildung 1 Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf den jeweiligen Band der im Literaturverzeichnis angegebenen Gesamtausgabe Hegels, die arabischen auf die Seitenzahlen.
Beobachtungen des Selbst und der Welt im Medium der Fotografie. Bildungstheoretische Überlegungen 1 Arno Holzer Editorial Fotogeschichte. Fotobücher im 20. Jahrhundert, Heft 116, 2010. 2 Kentaro Kawashima (2011) untersucht Romane bzw. autobiografisch angelegte Texte, die sich entweder direkt auf Fotografien beziehen oder diese in ihren Text einbinden wie Benjamins „Berliner Kindheit“ oder Sebalds „Die Ausgewanderten“. Er hält Fragmentarität für deren Grundstruktur (vgl. ebd., S. 282). 3 Paul Graham, Photography is Easy, Photography is Difficult. Ich danke Sarah Hübscher für den Hinweis auf diesen Fotografen, seine Fotografien, Texte und dieses Zitat. 4 Gemeint ist ihre Lehrerin, die bekannte Fotografin Ute Mahler, eine der Gründerinnen der Fotoagentur und Fotoschule Ostkreuz, an der Wegener studierte. 5 Rafa Castells empfangen von http: / / rcastells.tumblr.com / post / 76891649840 – Abfrage am 26. 4. 2014 6 Video „La forma del Món“ empfangen von http: / / v imeo.com / 76474964 – Abfrage am 26. 4. 2014
Bildung in biografischen Konfigurationen 1 Druckfassung meines Vortrags auf dem Symposium „Biografie und Bildung“ anlässlich des 60. Geburtstags von Lothar Wigger an der Universität Dortmund am 05. 07. 2013. 2 Der Wortlaut des Interviews mit Hakan findet sich abgedruckt in Koller & Wulftange (2014); darin enthalten ist auch eine ausführliche Fallinterpretation des Verfassers (Müller 2014).
Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungsfolge 1 Zur Bedeutung Humboldts für die Fremdsprachendidaktik vgl. auch Nünning 2007. 2 Der vor allem von Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung an der Universität Mainz verwendete Begriff Sprachandragogik meint speziell auf das Fremdsprachenlernen Erwachsener bezogene ,pädagogische‘ Überlegungen und Vorschläge, schließt aber (die Berücksichtigung von) Forschungen zum Lernverhalten erwachsener Lerner nicht aus (vgl. Eggers 1997).
Anmerkungen
285
3 In der Studie „Weiterbildungsverhalten in Deutschland“ (Bilger u. a. 2013) ist dementsprechend ein Kapitel dem Thema „Weiterbildungsbarrieren und Teilnahmemotive“ gewidmet, wo u. a. die Ergebnisse einer Befragung nach 12 vorgegebenen Teilnahmemotiven (von „Berufliche Tätigkeit besser ausüben“ über „Erwerb eines Zertifikats“ bis zur Absicht „sich selbstständig zu machen“) referiert werden. 4 Eine der wenigen Ausnahmen bildet Ludwig (2000), der sich explizit mit neueren Bildungskonzepten der Allgemeinen Pädagogik auseinandersetzt und für seine Zwecke auf die von Dietrich Benner entwickelte ,politische‘ Bildungstheorie – erweitert um den Holzkampschen Lernbegriff – zurückgreift. 5 Das vorletzte Kapitel seines Aufsatzes lautet „Bildung im Horizont von Lernen“ (Schulze 2077, S. 154). 6 Es handelt sich um das seit 2009 laufende DFG Projekt „Prekäre Kontinuitäten. Der Wandel von Bildungsgestalten im großstädtischen Raum in einer Phase der forcierten Institutionalisierung des Lebenslangen Lernens“ (DFG-Gz. KA 642 / 4-1) und ein davon unabhängiges, aber in der letzten Bewilligungsphase mitberücksichtigtes Projekt, in dem erwachsene Fremdsprachen lerner wiederholt zu ihren Lernaktivitäten befragt wurden. 7 Tatsächlich gestalten sich auf das Fremdsprachenlernen fokussierte Interviews häufig schwierig, weil die Befragten diese Aktivität kaum ausführlich beschreiben können oder wollen und den fachspezifischen Fragen der Interviewer nach Lehrwerk, Methode und grammatischen Eigenheiten der zu lernenden Sprache eher ausweichen. 8 Trotz gegenteiliger Absichtserklärungen ist der Volkshochschule kaum gelungen, Angehörige der Unterschicht als Teilnehmer zu gewinnen (vgl. Tietgens 1968 [1964]). Auch der Anteil an Absolventen des sekundären oder tertiären Bildungsbereichs blieb zunächst eher gering. Eine Veränderung ergab sich erst im Laufe der Bildungsexpansion mit dem Anstieg der Abiturientenquote. Anfang der 1980er Jahre betrug der Anteil von Abiturienten an der Gesamtbevölkerung Westdeutschlands aber immer noch unter 22 % Prozent (vgl. Wohlstandsbilanz Deutschland 2009 [www. wohlstandsbilanz-deutschland.de / bildung-zahl-der-abiturienten-auf-rekordhoch. html]). 9 Die Chemielaborantin fährt mehrfach in skandinavische Länder und verbindet dies auch mit dem Besuch entsprechender Sprachkurse: „Norwegisch habe ich mal angefangen, weil ich in Norwegen zweimal war und Schwedisch, ich wollte mal nach Schweden und dann habe ich vorher versucht, ein bisschen Schwedisch zu lernen, aber ich bin dann doch nie nach Schweden gefahren und habe es dann auch wieder aufgehört“. 10 Der Tourismus als Massenphänomen wurde in der Bundesrepublik Deutschland durch die schrittweise Verlängerung des Jahresurlaubs, das tariflich vereinbarte Urlaubsgeld, die Ausweitung des Auto- und Flugverkehrs sowie durch die Tourismus-Branche bestimmt. 11 Die realen Namen der Befragten wurden durch fiktive andere ersetzt. 12 Dieser Gegensatz ist auch charakteristisch für die zahlreichen Reiseführer in in gedruckter oder via Internet zugänglicher Form, die, indem sie ein individuelles Bildungserlebnis versprechen, dieses verunmöglichen (vgl. Nolda 2013). 13 Als Formen der Radikalität können die Umwertung als von relevant zu irrelevant, aber auch das Nicht-Erwähnen bzw. Vergessen von Lernaktivitäten – speziell nach einem großen Zeitabstand – auftreten. 14 Es machte für das Sprachenlernen im Erwachsenenalter durchaus einen Unterschied, ob man in den 1980er Jahren in der DDR oder in der Bundesrepublik lebte, welche Schulen man in der Schule lernte bzw. lernen musste und welche Reisemöglichkeiten bestanden. 15 Die Zunahme des Spanischunterrichts für Erwachsene war in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren eng mit der touristischen Erschließung der iberischen Halbinsel einerseits und mit dem politischen Interesse an der Befreiungsbewegung in Südamerika andererseits verbunden.
286
Bildung an ihren Grenzen
Pädagogik biografisch. Einige Überlegungen zum pädagogischen Ich 1 Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf den jeweiligen Band der im Literaturverzeichnis angegebenen Gesamtausgabe Hegels, die arabischen auf die Seitenzahlen.
Erinnernde Bildung. Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Walter Benjamin 1 Zu einer ausführlichen Rekonstruktion der Entstehung der Berliner Kindheit und den verschiedenen Versionen ihrer Veröffentlichung vgl. Witte 1984. 2 Zum Thema Bildung und Zeit vgl. auch Dörpinghaus / Uphoff 2012. 3 Zur Aufgabe der Biografieforschung, Weltverhältnisse herauszuarbeiten, vgl. Wigger 2004, S. 489. Zur Institutionenkritik in der Biografieforschung vgl. exemplarisch Equit 2010.
Konjunktiv Plusquamperfekt. Alexander Kluge und Nicholson Baker 1 Das 24-minütige Interview wurde in dem Format „10 vor 11“ ausgestrahlt und ist – im November 2013 – unter dem Titel „Blinde Liebe. Jean-Luc Godard befragt von Alexander Kluge“ bei YouTube zu sehen: http: / / w ww.youtube.com / watch?v=rAr__FRmSQw. 2 Wie weitverzweigt das schriftstellerische und filmische Schaffen Alexander Kluges ist, lässt sich am ehesten über seine Homepage ermessen: www.kluge-alexander.de. 3 Zur Klärung dieser Fragen hatte ich gemeinsam mit Karin Amos im Rahmen des Jubiläumskongresses der DGfE, der 2014 unter Motto „Traditionen und Zukünfte“ in Berlin stattfand, ein Symposium organisiert und unter dem Titel „Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis“ ein Augenmerk auf Formen symbolischer Erinnerungspolitik gelenkt. Auch das von Rita Casale, Hans-Christoph Koller und Norbert R icken veranstaltete Symposium „Verschüttete Traditionen – versperrte Zukünfte?“ war Fragestellungen dieser Art gewidmet und erinnerte an Theorietraditionen, Wissensbestände und Problemstellungen, die von dem Vergessen bedroht sind.
Kontraste und Alternativen – Über den Anfang allgemeinpädagogischer Belehrung 1 Die Übersetzung von paideia mit Erziehung und Bildung ist daraus begründet, dass das Wort paideia sowohl den Wandlungsvorgang (Bildung einschließlich Lernen) als auch die darauf abzielenden Praktiken (Erziehung einschließlich Unterricht und Belehrung) umgreift. Paideia bezeichnete anfänglich ohne Emphase den Bereich der Sorge um das Erwachsen- und Tüchtigwerden von jungen Menschen. Einen engeren Sprachgebrauch, der dem sublimen bzw. mit Theorietraditionen aufgeladenen Gebrauch von Bildung im Deutschen ähnelt und der, ohne die Bedeutungskomponente von Erziehung aufzugeben, auf die Abgrenzung gegen Berufsausbildung zugespitzt ist, stellt Platon in Anknüpfung an die prüfende sokratische Gesprächspraxis als allgemein unter Griechen üblich heraus. In seinem späten Dialog Sophistes (229 d) grenzt er paideia ausdrücklich von didaskalia ab. Didaskalia umschreibt die Unterrichtung und Einübung von technikförmigen professionellen Kenntnissen und Fertigkeiten, wie beispielsweise der Beherrschung eines Musikinstruments, wobei das Wort Technik (techne) nicht als Hinweis auf eine Mechanik der Ausführung, sondern nur als Hinweis auf durchdachte Regelhaftigkeit zu verstehen ist. Schleiermachers Übersetzung unterschied in der betreffenden Sophistes-Passage
Anmerkungen
2 3 4 5 6 7
287
„Lehren im Sinne der Handwerker“ von dem, was „eigentlich Erziehung“ genannt wird. Die Vermeidung von Bildung als Übersetzungsbegriff nötigte demnach anscheinend zur Einführung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, was schwerlich ein hilfreicher begrifflich differenzierender Zugewinn war. Beschreibungen und Belege dazu bei: Davidson, J. N. (2002). Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von Pierre Bourdieu und den gleichlautenden Titel des Buches von Bourdieu und Jean-Claude Passeron, in deutscher Übersetzung seit 1971. Deutend und weiterführend dazu: Rieger-Ladich, M. (2002). Vgl. dazu auch: Platzer, B. (2012). Die nachfolgenden Bücher der Staatsschrift erklären u. a., warum von einem beliebig langen Überdauern sogar der besten Staatsverfassung nicht ausgegangen werden kann. Zur Deutung des Sokrates als Skeptiker vgl. Fischer, W. (2004). So nach der Deutung Roland Mugerauers (2007), hier insbes. Bd. 1, Kap. 2, S. 31–281.
„Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen 1 Um Literaturnachweise und Anmerkungen versehene, aber um anlassgemäß personenbezogene Hinweise gekürzte Version des Vortrags beim Symposion „Biografie und Bildung. Engagiertes Denken zwischen Bildungsphilosophie und Empirie“ anlässlich des 60. Geburtstages von Lothar Wigger, TU Dortmund, 5. Juli 2013. 2 Meine Anspielung gilt dem Band von Dörpinghaus, A. / Poenitsch, A. / Wigger, L. (2006). 3 Jetzt beziehe ich mich auf den Beitrag von Dörpinghaus, A. (2012) (vgl. dazu auch meine Rezension in ZfPäd 59 (2013) 6, S. 935–938); Dörpinghaus verweist zudem in und für diesen Beitrag und sein Thema auf den 2012 erschienenen Band: Dörpinghaus, A. / Uphoff, I. K . (2012). 4 Das hat jüngst erst eine luzide Studie gezeigt: Daston, L. / Galison, P. (2007); vgl. zum Einstieg meine hinführenden Bemerkungen in Zeitschrift für Pädagogische Historiographie 15(2009)1, S. 29–30. 5 In der dominanten Rolle der Methoden schließe ich an eine zu Unrecht wenig beachtete (freilich auch nicht leicht und eingängig zugängliche) Konzeption von Werner Flach an, vgl. Flach, W. (1994). 6 Die historischen Rekonstruktionen metatheoretischer Kontroversen, an denen ja kein Mangel ist, bieten das natürlich nicht, sie gehören vielmehr in den Objektbereich einer solchen historischen Epistemologie der Pädagogik. 7 Ich nehme systematisch also auch Überlegungen auf und führe sie fort, die ich an anderer Stelle erstmals vorgetragen habe, vgl. Tenorth, H.-E. (1989). 8 Bei Werner Flach wird in der Methodenlehre die zentrale These entfaltet, in der theoretische Zeitlichkeit über den „Prozeß-, Progreß-, Differentiations- und Integrationscharakter“ von Erkenntnis erläutert wird, den die „Methodenbestimmtheit der Erkenntnis“ verleiht (vgl. Flach 1994, S. 355 f f.). 9 Statt leicht ausufernder Literaturhinweise gebe ich nur vier Titel, die in unterschiedlicher Methodik vergleichbar argumentieren. Begriffsgeschichtlich zuerst, und zwei Beiträge, weil man sieht, dass Philosophie und Begriffsgeschichte hier, für den Ursprung des modernen Bildungsbegriffs, übereinstimmen: Lichtenstein, E. (1971); Vierhaus, R. (1972); sozialgeschichtlich: Jeismann, K.-E. (1987) in Jeismann, K.-E. / Lundgreen, P. (1987), daraus vor allem, „Das Jahrhundert der Bildung und der Gebildeten“ (ebd., S. 1 f f.); schließlich, als einen sehr jungen, die Literatur selbst noch kritisch resümierenden Beitrag aus der Literaturgeschichte: Bosse, H. (2012).
288
Bildung an ihren Grenzen
10 Für dieses Ereignis im Kontext der Bildungstheorie vgl. Welter, N. (2003), S. 301 f f. – mit weiterer Literatur und natürlich mit den Hinweisen auf Herders Texte. 11 Diese Koppelung findet sich bis heute, vgl. Benner, D. / Brüggen, F. (2004); aber auch noch bei einem Autor, der der Anthropologie skeptisch gegenübersteht wie: Nida-Rümelin, J. (2013); bes. S. 21 f f. 12 Für Niethammer und die Differenzen zu Humboldt ausführlich Tenorth, H.-E. (2009). 13 Das gilt jedenfalls für Herwig Blankertz und seine Thesen über den Zusammenhang von Bildung und Beruf (bekanntlich: Der Weg zur / der Bildung führt über den Beruf, und nur über den Beruf), vgl. Blankertz, H. (1963). 14 für die Unterscheidung bes. S. 10. 15 „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller 1801 / 2009 S. 481) 16 Das ist schon bei Hans Weil sozialhistorisch zutreffend beschrieben, vgl. Weil, H. (1930 / 1967); sowie für die ältere Vorgeschichte der Disjunktion Bayer, H. (1975). 17 Statt vieler Titel die Schlusskapitel in Menze, C. (1975); in ähnlichem Duktus auch Bosse (2012), für den allerdings Humboldt selbst schon das Elend einleitet, das Menze dann – anderen zugeschrieben – für die Zeit nach Humboldt diagnostiziert. 18 Es gibt Differenzen in der Qualität der Argumentation, immerhin diskussionswürdig, weil er auch die Schwächen seiner vermeintlich verwandten Weggefährten nennt, ist Ricken, N. (2006). 19 Dafür, wenn auch noch sehr diskursfixiert, noch nicht biografisch, E. Geulen / N. Pethes (Hrsg.) (2007). 20 Besonders schön – und gewichtig – R. v. Dülmen (Hrsg.) (2001). 21 Vgl. auch die biografisch ansetzenden, auf Ego-Dokumenten basierenden Analysen in: S. H äder / H.-E. Tenorth (Hrsg.) (2004) und dort u. a. H abermas, R. (2004) oder Häder, S. (2004) – um die historische Spannweite individueller Biografiekonstruktionen zu sehen. 22 Deshalb sind es im Sinne von Elias „Prozesse“, nicht politisch gesteuerte Verlaufsmuster der D ynamik des Bildungssystems; vgl. für die historiographische Kategorie: Elias, N. (1977). 23 Das geschieht etwa bei Koch, L. (2004); auch Nida-Rümelin verkennt den bildungstheoretischen Sinn der Grundbildung, wenn er – eher abwertend – über „Zivilisationstechniken“ spricht (vgl. Nida-Rümelin 2013, S. 11). 24 Man kann dazu die ganze historische BDM-Forschung lesen, vgl. zur Gesamtproblematik von Intention, Prozess und Wirkung der NS-Erziehung jetzt die Übersichtsartikel in K.-P. Horn / J.-W. Link (2011); und für die systematischen Erträge der Analyse von Diktaturen für die Erziehungswissenschaft Tenorth, H.-E. (2007a). 25 Und er fährt fort: „Denn: daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht aufzugeben …; noch weniger aber eine moralische, welche, wenn ihre Bewirkung nicht demonstrativunmöglich ist, Pflicht wird.“ 26 Manfred Fuhrmann ist dafür ein Beispiel, auch in seiner Kritik der aktuellen Bildungsreformen, vgl. Fuhrmann, M. (2004). 27 für die Krise: S. 168, erster Satz. 28 Blankertz wiederholt das wörtlich in seiner Geschichte der Erziehung (1982), daraus zitieren Dörpinghaus / Poenitsch / Wigger 2006, S. 36 – und fügen, in didaktisch-pädagogisierender Absicht? hinter „Erziehung“ dann ein „[und Bildung]“ ein. 29 Vgl. zu diesen Formen der durch Theoriekritik erzeugten Selbstbeschränkung Tenorth, H.-E. (2007b).