Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses [1 ed.] 9783428521494, 9783428121496

Der Band enthält die schriftlichen Fassungen der Vorträge, die im März 2005 auf der Jahrestagung der Gesellschaft für De

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German Pages 156 [157] Year 2006

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Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses [1 ed.]
 9783428521494, 9783428121496

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L O T H A R MERTENS (Hrsg.)

Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 90

Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses

Herausgegeben von

Lothar Mertens

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-12149-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält die schriftlichen Fassungen der Vorträge, die am 4. und 5. März 2005 auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung in Berlin zum Rahmenthema Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses gehalten wurden. Der Direktor des Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, PD Dr. Rainer Eckert, setzt sich mit den verschiedenen politischen Aspekten der emotionalen Hinterlassenschaft und dem gewaltigen archivalischen Erbe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in ihren gesamtgesellschaftlichen Dimensionen auseinander. Materialreich beschäftigt sich Dr. Klaus Krakat mit dem Wirtschaftsund Technologiestandort Berlin und dessen Entwicklungspotential. Die familialen Auswirkungen des Vereinigungsprozesses sowie das Fortbestehen tradierter DDR-Gesellschaftsmuster beleuchtet PD Dr. Dr. Lothar Mertens. Da die Belletristik für die Menschen in der DDR eine wichtige soziale Dimension besaß und Lesen, in Ermangelung anderer medialer Zerstreuungsmöglichkeiten, im Osten Deutschlands einen wesentlich höheren Stellenwert als Freizeitbeschäftigung hatte, ist die Wahrnehmung des Vereinigungsprozesses in der ostdeutschen Literatur ein wichtiger zu berücksichtigender Aspekt, den Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt kenntnisreich erforscht und kommentiert. Eine ebenso kritische wie pointierte volkswirtschaftliche Bilanz des Vereinigungsprozesses, die darüber hinaus viele weiterführende anregende Hinweise auf durchaus denkbare mögliche politische Alternativen enthält, präsentiert Prof. Dr. Spiridon Paraskewopoulos in seinem Rückblick. Prof. Dr. Anton Sterbling vermittelt einen sehr anschaulichen und differenzierten Überblick über die Wahrnehmung des deutschen Vereinigungsprozesses in Ost- und Südosteuropa, wobei die kritische Distanz der ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten gegenüber dem einstmaligen sowjetischen Musterzögling DDR deutlich erkennbar wird. Als schriftliches Ergebnis einer spannenden zweistündigen Podiumsdiskussion liegen abschließend zwei weitere interessante Beiträge vor. Den Transformationsprozess und die Demokratieakzeptanz in den fünf neuen Bundesländern analysiert Prof. Dr. Günther Heydemann, während Prof. Dr. Rolf Reißig aus einer dezidiert ostdeutschen Sicht die gesellschaftliche Transformation und den deutschen Vereinigungsprozess kritisch untersucht und sachlich kommentiert. Dresden, im Frühjahr 2006

Lothar Mertens

Inhalt Rainer Eckert Geheimpolizei und historisches Bewusstsein: 15 Jahre Auseinandersetzung mit dem Erbe der Staatssicherheit

9

Klaus Krakat Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin im Vereinigungsprozess

23

Lothar Mertens Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen und Geburtenentwicklung in den fünf neuen Bundesländern 1990-2003

51

Ilse Nagelschmidt Texte nach 1989 in Ostdeutschland: Über Brüche, Spannungen und Kontinuität

69

Spiridon Paraskewopoulos Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses aus volkswirtschaftlicher Sicht

91

Anton Sterbling Die Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses aus ost- und südosteuropäischer Sicht

115

Günther Heydemann 1989/90 nach 15 Jahren: Historischer Kontext, Transformationsprozess und Demokratieakzeptanz - Versuch einer Bilanz

131

Rolf Reißig Transformation Ostdeutschlands und deutsche Vereinigung: Einige Überlegungen und Anmerkungen

143

Verfasserin und Verfasser

155

Geheimpolizei und historisches Bewusstsein: 15 Jahre Auseinandersetzung mit dem Erbe der Staatssicherheit Von Rainer Eckert I . Staatssicherheit - ein kurzer Abriss Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch als Stasi bezeichnet) war für die Staatspartei SED und ihre Politbürokratie das entscheidende Herrschaftsinstrument zum Erhalt und zum Ausbau der Macht. Es war nie Staat im Staate, sondern arbeitete stets als „Schild und Schwert" der Partei. In dieser Geheimpolizei vereinten sich die Unterdrückung der Bevölkerung im eigenen Staat mit Spionage- und Diversionsfunktionen besonders in der Bundesrepublik. Das MfS hatte die Befugnisse eines mit exekutiven Kompetenzen ausgestatteten Untersuchungsorgans mit eigenen Haftanstalten und eines geheimen Nachrichtendienstes, die auf der Grundlage eines Gesetzes vom 8. Februar 1950 arbeiteten und außerhalb der SED keinerlei Kontrolle unterlagen. Seine Zuständigkeiten waren niemals präzise formuliert, und so konnte die Führung dieser Partei ihre Geheimpolizei repressiv nach innen und aggressiv nach außen beinahe beliebig einsetzen. Entsprechend der politischen Situation ging die Geheimpolizei unter ihren Ministern Wilhelm Zaisser, Ernst Wollweber und Erich Mielke gegen wirkliche oder vermeintliche Gegner brutal vor. Dabei änderte sich die Strategie des aggressiven Terrors der fünfziger Jahre hin zum Versuch der „flächendeckenden Überwachung" der Bevölkerung und der systematischen „Zersetzung" der Opposition in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Zentrale des MfS in Berlin gliederte sich in 13 Hauptabteilungen und 20 selbständige Abteilungen, die sich auf Bezirks- und Kreisverwaltungen sowie Dienststellen in Universitäten und in Schwerpunktbetrieben stützten. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter, die in absoluter Treue und fanatischer Hingabe an kommunistische Ideale erzogen wurden, erreichte schließlich 91.000, die der inoffiziellen Spitzel und Zuträger (IM) betrug zuletzt 173.000. Die Überwachung dehnte sich auf praktisch alle Lebensbereiche aus, konzentrierte sich jedoch besonders auf Bürgerrechtler, Jugendliche, die Kirchen und die Streitkräfte. Dazu kam die systematische Kontrolle des Grenzverkehrs sowie des Funk- und Telefonverkehrs. Für besondere Aufgaben war der Staatssicherheit das Wachregiment „Feliks Dzierzynski" mit zuletzt 11.700 Angehörigen als Verfügungstruppe zugeordnet.

Rainer Eckert

10

Die Staatssicherheit verfügte weiterhin über eigene Ausbüdungseinrichtungen wie eine „Juristische Hochschule" mit Promotionsrecht, bildete ausländische Terroristen aus und hatte für den Spannungs- bzw. Kriegsfall Internierungslager für politische Gegner vorbereitet. Als ein wichtiges Ergebnis der friedlichen Revolution musste die SED ihre Geheimpolizei in ein „Amt für Nationale Sicherheit" (ANS) umwandeln und schließlich 1990 auflösen. Die bereits befohlene Aktenvernichtung konnten Bürgerkomitees zumindest zu einem großen Teil verhindern und so die Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich machen.

EL. Notwendigkeit und Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit der Geheimpolizei der SED entstanden zuerst aus ihrem geheimen Charakter, so dass die Bürgerrechtler der die Gedankenpolizei auflösenden Bürgerkomitees 1989/1990 vor einem weitgehend in seinen Strukturen unbekannten Feind standen. Es musste erst Klarheit geschaffen werden, wie die Geheimpolizei aufgebaut war, wer ihre verantwortlichen Leiter waren, wie mit den Archiven umzugehen war und welche Rolle die inoffiziellen Spitzel spielten. Und es war auch nicht von Anfang an selbstverständlich, dass die Sicherung der Akten eine ganz vorrangige Aufgabe war. Und so konnten die bereits Anfang 1989 begonnenen Aktenvernichtungen zumindest für die Auslandsspionage H V A fortgesetzt werden. 1 Aber auch andere Bestände wurden vernichtet oder der elektronische Zugang zu ihnen zumindest vorläufig unmöglich gemacht. Die Aufklärung erschwerte weiterhin massiv, dass sich die aufgelöste Geheimpolizei weiterhin weitgehend auf die Gefolgschaftstreue ihrer Mitarbeiter verlassen konnte. Und auch viele Mitglieder der Staatspartei stellten sich gegen eine Aufklärung der Aktivitäten ihrer Geheimpolizisten. So war es letztlich auch kaum verwunderlich, wenn das in der öffentlichen Diskussion oft als selbstverständlich vorausgesetzte Schuldgefühl der Träger und Profiteure der Diktatur nicht vorhanden war, oder verborgen wurde. Weitere Defizite etwa bei der Diskussion um die Verwicklung der Wissenschaft 2 in der DDR in die Fangarme der Stasi-Krake bestanden darin, dass nach ihren allgemeinen Strukturen, Arbeitsweisen und Folgen kaum gefragt wurde. Darüber hinaus hätte jede aufklärende Diskussion zuerst die ethischen Grundanforderungen an das Verhalten 1

Lucht, S. 81-97.

2

Eckert, S. 169 ff.

Geheimpolizei und historisches Bewusstsein

11

von Wissenschaftlern aber im nicht geringerem Maß von Politikern oder öffentlich Bediensteten klären müssen. Dazu wären Fragen wie die folgenden notwendig gewesen und hätten in einem gesellschaftlichen Konsens beantwortet werden müssen: -

Hat sich der erwähnte Personenkreis höheren moralischen Anforderungen zu stellen als ein „durchschnittlicher" Bürger?

-

Bedeutet dies, dass sie Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit über politische Überzeugungen und persönliche Ängste zu stellen haben?

-

Und sind sie zur Verteidigung von Gewissens- und Meinungsfreiheit verpflichtet?

Ich denke, in allen drei Fällen kann die Antwort nur , j a " lauten. Dieses „Ja" gilt übrigens in jedem gesellschaftlichen System in dem Falle, dass wesentliche Grundrechte geheimdienstlich bedroht werden. Unter den Bedingungen der Diktatur rückten aber auch Fragen wie die folgenden in den Mittelpunkt: -

Ist die Zusammenarbeit mit der Staatspolizei in jedem Fall verwerflich oder nur dann, wenn sie direkt und persönlich schadet?

-

Und wie sind aktive Tätigkeit aus Überzeugung, wie solche aus psychologischer Bedrängnis oder aus Angepasstheit und Feigheit zu bewerten?

Bei der Erarbeitung von Kriterien zur Beantwortung solcher Fragen und zur grundsätzlichen Einschätzung der Arbeit für die SED-Geheimpolizei verstrich in den Jahren nach 1989/90 viel Zeit ergebnislos und auch heute sind sie letztlich nicht vorhanden. Das erinnert in fataler Weise an den Umgang mit der Gestapo nach 1945. Auch bei dieser totalitären Geheimpolizei werden grundlegende Fragen nach ihrem inneren Funktionsmechanismus und nach der Bedeutung von Denunziation für ihre Arbeit erst in den letzten Jahren gestellt.3 Darüber hinaus sind ausreichende Grundlagen einer inhaltlichen Aktenkritik für beide Geheimdienste bis heute nicht geschaffen worden. So blieben Versuche, wie der frühzeitig von ,3ündnis 90" in Berlin unternommene, mit Hilfe eines differenzierten Fragenkatalogs eine Stasi-Mitarbeit qualitativ zu erfassen, eine Ausnahme. Empfohlen wurde damals, in jedem Einzelfall folgende Fragen zu beantworten: -

Wann und unter welchen Umständen ist jemand zum Inoffiziellen Mitarbeiter gemacht worden?

-

Mit welchem Ziel wurde er geworben und in welcher Funktion war er für das MfS tätig?

3

Siehe Diewald-Kerkmann.

Rainer Eckert

12

-

Hat jemand aus Überzeugung oder wegen seiner Karriere mitgemacht?

-

Wurden Menschen durch Zwang oder durch Erpressung in einer Lage der Abhängigkeit zur Mitarbeit gebracht?

-

Warum konnte jemand nicht widerstehen? Warum hat sich jemand nicht dekonspirativ verhalten? War jemand nur Gesprächspartner, oder gab es schwerwiegendere Formen der Mitarbeit?

-

Wie lange dauerte die Mitarbeit, wie weit liegt sie zurück, und wie intensiv war sie?

-

Wie groß war der Verrat oder der Schaden für den Betroffenen?

-

War jemand von Beruf oder Stellung in einer besonderen Vertrauensposition?

-

Hat jemand den MfS-Kontakt selbst abgebrochen, versuchte es, oder ließ man ihn fallen?

Und schließlich: Gibt es heute ein Unrechtsbewusstsein, hat sich jemand selbst offenbart, versucht, Schaden wieder gut zu machen und neu anzufangen? A u f der Grundlage eines solchen Fragenkatalogs wäre eine differenzierte Beurteilung inoffizieller Mitarbeit möglich gewesen, sie blieb ein Desiderat.

m . Entwicklung der Auseinandersetzung Noch heute sind bei der Auseinandersetzung mit Stasi-Verstrickungen diese Fragestellungen relevant und bis heute ist es zu keiner breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen gekommen. Noch wichtiger und negativer ist jedoch die einseitige Konzentration des öffentlichen Interesses auf die inoffiziellen und die Vernachlässigung der offiziellen Mitarbeiter sowie der hinter ihnen stehenden Strukturen der SED. Hier sind bis heute Versäumnisse unübersehbar, dagegen begann bereits 1989/1990 in der noch existierenden DDR eine ostdeutsche „Schlußstrichkampagne", die später auch gesamtdeutsch fortgesetzt wurde. So war bereits unter der Regierung de Maiziere/Distel zu hören, die Akten seien zu vernichten oder einzubetonieren, um so einen Bürgerkrieg zu verhindern. 4 A u f Seite der Bürgerrechtler gab es dagegen die Sorge, die Akten könnten unter veränderten politischen Bedingungen wieder geheimdienstlich benutzt werden. 5 4

Dazu: Heinrich, S. 9-32.

5

Gieseke, S. 244.

Geheimpolizei und historisches Bewusstsein

13

Selbst der Zentrale Runde Tisch votierte schließlich für die physische Vernichtung der MfS-Zentralkarteien auf Magnetbändern, teilweise in der irrigen Ansicht, die darin enthaltenen Informationen seien auch in Papierform vorhanden. Auch Mitglieder der Bundesregierung und der altbundesdeutschen Parteien konnten unter dem Gesichtspunkt der „Staatsräson" und mit Blick auf den „inneren Frieden" dem Gedanken der Aktenversiegelung viel abgewinnen und trafen sich hier mit den Funktionseliten der DDR. U m dies zu erreichen, sollten die Archivalien unter die Oberhoheit des Bundesarchivs und des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gestellt werden. Dies konnte die Bürgerbewegung zwar durch zahlreiche Protestaktionen verhindern und am 24. August 1990 sicherte die Volkskammer, die fraktionsübergreifend der DDR-Opposition in diesem Punkt nahe stand, durch Gesetz den Zugang zu den Akten. Diese Regelung übernahm nach einer, vor allem durch eine erneute Besetzung der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit durch Bürgerrechtler erzwungenen, Nachverhandlung der Einigungsvertrag, der ab dem 3. Oktober 1990 einen Sonderbeauftragten - den späteren Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR - für die MfS-Akten vorsah, um so die Überprüfung des öffentlichen Dienstes, die Opfereinsicht, die Verfolgung von Straftaten, die Rehabilitierung Verfolgter und nicht zuletzt den Zugang für die zeithistorische Forschung zu ermöglichen. Das Stasi-Unterlagengesetz von 1991 beschloss schließlich der erste gesamtdeutsche Bundestag. Es ist bis heute weltweit in dieser Form einzigartig geblieben. I m Kern verknüpfte das Gesetz das Vermächtnis der Bürgerbewegung mit rechtlichen Standards der Bundesrepublik. 6 In den folgenden Jahren konnte auch im Gespräch mit dem „Mann auf der Straße" immer wieder vernommen werden, dass diesen nicht die Staatssicherheitsproblematik sondern ganz andere Probleme wie Arbeitslosigkeit, die leeren öffentlichen Kassen oder die wirtschaftliche Misere bedrücken würden. 7 Dies ist zwar grundsätzlich richtig, geht am eigentlichen Problem jedoch vorbei, da hier ein künstlicher Gegensatz aufgebaut wird. Allerdings ist es auch richtig, dass in der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland die in Zielstellung und Konstruktion auf der Grundlage des „Stasi-UnterlagenGesetzes" von 1991 arbeitenden „Gauck-(jetzt Birthler) Behörde" nicht unumstritten bleiben konnte. Dies galt besonders für ihre „Abteilung Bildung und Forschung", der der Vorwurf der Staatsforschung, des Aktenmonopols und der Zensur nicht erspart blieb. 8 Diese Angriffe wollten auch bis heute nicht ver6 7 8

Birthler, S. 5. Meckel, S. 171.

Aus der zahlreichen - in einem eigenen Pressedienst dokumentierten - Literatur siehe Fuhrer.

Rainer Eckert

14

stummen. Immer wieder war die Forderung nach einer Herauslösung der Forschungsabteilung zu hören, und schließlich kulminierte die Auseinandersetzung mit dem Streit um das Buch des Behörden-Mitarbeiters Hubertus Knabe „Die unterwanderte Republik". 9 Der Streitpunkt entstand dadurch, dass Knabe ein Buch zu derselben Thematik - der Unterwanderung der Bundesrepublik durch die Staatssicherheit - im Auftrag der Behörde bereits in einem anderen Verlag herausgegeben hatte. 10 Jetzt schien das Prinzip des Datenschutzes dauerhaft gefährdet zu sein und in der dadurch ausgelösten Diskussion prallte das Argument der Wissenschaftsfreiheit auf das der wissenschaftlichen Solidität bzw. Behördenloyalität. Letztlich wurde der Konflikt nicht gelöst, sondern nur pragmatisch entschärft, da Knabe die Birthler-Behörde verließ und die Leitung der Gedenkstätte Hohenschönhausen übernahm.

I V . Weiterer Streit um die Stasi-Akten Die Verzerrung bei der Beschäftigung mit der DDR, die eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf das MfS mit sich bringt, zeigte sich wieder einmal in der Aufregung über das am 8. März 2002 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom 4. Juli 2001, dem zufolge der Birthler-Behörde untersagt wurde, Akten über den Altbundeskanzler Helmut Kohl herauszugeben. Kohl sah als Opfer von Abhörmaßnahmen des MfS seine Privatsphäre gefährdet und wollte die Verwendung des Materials gegen sich im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre verhindern. In der Diskussion ging es schließlich weniger um die Person Kohls, als vielmehr um die Sorge, dass das Urteil weitergehende Folgen haben und letztlich mit einem Ende der Regelanfrage über Staatssicherheitsverstrickungen verknüpft sein könnte. In dieser Situation stellte sich in der deutschen Öffentlichkeit jedoch der relativ weitgehende Konsens her, dass die Erforschung der Systemzusammenhänge des DDR-Staates auch mit Hilfe der Stasi-Akten weiter gewährleistet sein müsse. Auch müsse verhindert werden, dass sich die Täter der Diktatur zu ihren Opfern stilisieren könnten. U m dies zu erreichen, versuchte die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, durch die vorübergehende Sperrung der Internet-Seiten ihrer Behörde, durch die temporäre Schließung aller Ausstellungen und die Nichtbearbeitung von Akteneinsichtsanträgen durch Historiker und Publizisten öffentlichen Druck zu erzeugen. Dem sollte auch ein Brief an alle Nutzer der 9

Knabe, Republik. Knabe, Westarbeit Siehe auch Clauss; Henke, Nicht; Gauck weist Kritik...; Herzberg.

10

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Stasi-Akten dienen, der darüber informierte, dass sie Angaben über Funktionsträger des SED-Regimes nur noch mit deren Einwilligung erhalten würden. Und weiterhin wurde argumentiert, dass nach dem Kohl-Urteil in der Frage der Akteneinsicht Terroristen, SED-Funktionäre und Westpolitiker auf eine Stufe gestellt werden müssten und würden, da eine Gleichbehandlung von Amtsträgern in Ost und West unabweisbar wäre. Ähnlich strittig war die Forderung nach einer Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes,11 die besonders vom Bürgerkomitee Leipzig 1 2 aber auch von Forschern und Historikern 13 in die Diskussion gebracht wurde. Hier ging es um die Streichung des Paragraphen 14 dieses Gesetzes, der ab 1. Januar 2003 die Schwärzung oder Vernichtung von Akten auf Antrag von Opfern ermöglicht hätte, und um die Präzisierung der Beschreibung von Personen der Zeitgeschichte, von Amtsträgern und Funktionsinhabern in den Paragraphen 32 bis 34. Bei beiden Änderungen war der Deutsche Bundestag gefordert, bei beiden Novellierungswünschen gab es die Hoffnung auf einen parteiübergreifenden Konsens. Diese Hoffnung scheiterte am Einspruch der CDU, trotzdem konnte sich eine Mehrheit von Abgeordneten der SPD, der FDP und von Bündnis 90/ Die Grünen durchsetzen. Unterlagen mit Angaben zu Personen der Zeitgeschichte durften weiter herausgegeben werden, wenn sie ihre zeitgeschichtliche Rolle, ihre Funktions- und Amtsausübung betreffen. Allerdings sollten die Betroffenen von der Veröffentlichung von Unterlagen informiert werden, um dagegen Einspruch erheben zu können. Gestrichen wurde der § 14 StUG. Anfang Dezember 2004 gaben dann der Bundesinnenminister und die Staatsministerin für Kultur und Medien bekannt, dass die Birthler-Behörde mit dem 1. Januar in den Geschäftsbereich der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien wechseln würde. 1 4 Marianne Birthler begrüßte dies, klagte aber gleichzeitig darüber, dass sie in diese Entscheidungsfindung nicht einbezogen gewesen wäre. Die Resonanz in der Öffentlichkeit war gespalten: so meinten die einen, die Bedeutung der Behörde würde herabgestuft und dies könnte langfristig der Anfang vom Ende sein, dagegen die anderen die Historisierung der Auswertung der Akten der Staatssicherheit positiv. 1 5 Dies stützte die Absicht

11 Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, in: BGBl. 1,67 (28. Dezember 1991), S. 2272-2287. 12

Vorschlag des Bürgerkomitees Leipzig vom 7. Januar 2002 [Archiv des Vf.].

13

Weber/Steinbach/Müller, S. 740-743; Henke, Nachrichten, S. 34.

14

Pressestelle Bundesbeauftragte für Kultur und Medien: Geschichtsverbund Aufarbeitung der SED-Diktatur: Bundesregierung initiiert neue Konzeption, 3. Dezember 2004. 15

Stasi und Kultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Dezember 2004; Schlegel, Matthias: Der zweite Akt für die Akten. In: Der Tagesspiegel, 4. Dezember 2004; Ders.: Schily

Rainer Eckert

16

von Staatsministerin Weiss, diese Arbeit zum Teil eines neuen Konzepts „zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung der SED-Diktatur" mit dem Schwerpunkt auf Opposition und Widerstand zu machen. Insgesamt entwickelte sich eine erbitterte Diskussion um die Zukunft der Birthler-Behörde. Viele argumentierten, die Akten der Staatssicherheit seien nicht nur das Erbe der Bürgerbewegung und sie hätten ihre professionelle Archivzukunft am besten im Bundesarchiv. 16 Das würde dann bedeuten, dass alle Akten zur SED-Diktatur im Zusammenhang des gesamten Machtapparates analysiert werden könnten. Das könne auch dadurch ermöglicht werden, dass analog zur „Stiftung Archive und Bibliotheken der Parteien und Massenorganisationen der DDR i m Bundesarchiv" die Schutzfrist von 30 Jahren bei der Einsicht in Sachakten aufgehoben werde. So solle fur die Unterlagen der Staatssicherheit eine analoge Stiftung im Bundesarchiv mit einem unabhängigem Kurator an der Spitze gegründet werden, die die Akteneinsicht wie i m StasiUnterlagen-Gesetz regeln würde. 1 7 Unklar blieb, wie in einem solchen Fall mit den Aktenbeständen der Regionalarchive zu verfahren wäre, ob diese bei der neu zu gründenden Stiftung verbleiben oder den Landesarchiven zugeschlagen werden. Offen ist, wie in einem solchen Fall mit den Aktenbeständen der Regionalarchive zu verfahren wäre, ob diese bei der neu zu gründenden Stiftung verbleiben oder den Landesarchiven zugeschlagen werden. Und dies scheint zu einem der wichtigen Dissenzpunkten zu werden. 18 Und so meinten Kritiker der Birthler-Behörde auch, dass es nötig wäre, sich an den zu bewältigenden Aufgaben zu orientieren, statt die Aufarbeitungsbehörde zum Symbol der Revolution zu verklären. Dagegen wandte sich der Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde, Ilko-Sascha Kowalczuk, gegen die Auffassung, die Behörde sei vorrangig als Einrichtung ins Leben gerufen worden, um die Überprüfung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes auf ihre Staatssicherheitsverstrickungen zu sichern. 19 Statt dessen wäre es eine zentrale Forderung der friedlichen Revolution gewesen, den von der Verfolgung durch die Geheimpolizei der SED Betroffenen die Einsicht in „ihre Akten" zu ermöglichen. trennt sich von Stasi-Akten. In: Ebd.; Oschlies, Renate: Stasi-Akten: Neues Konzept der Aufarbeitung. In: Berliner Zeitung, 4./5. Dezember 2004; Bommarius, Christian: Schilys kleine Staatskunde. In: Ebd.; Wonka, Dieter: Schily kappt den Draht zur Birthler-Behörde. In: Leipziger Volkszeitung, 4./5. Dezember 2004; Interview mit Kulturstaatsministerin Christina Weiss. In: Ebd.; Görtz, Armin: Degradierung. In: Ebd. 16

Mönch.

17

Die Akten gehören....

18

Beleites, Stasi-Akten, S. 102-107; Stokar von Neuform, S. 108-112.

19

Kowalczuk.

Geheimpolizei und historisches Bewusstsein

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Dies wäre auch heute noch notwendig, da die Birthler-Behörde monatlich 7.000 bis 8.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht erhalten würde. Diese Aufgabe könne bei einer Regionalisierung der Akten nur noch schwer erfüllt werden und auch ihre Übergabe an das Bundesarchiv würde keine günstigeren Bedingungen für die Forschung schaffen, da dann die dort gültigen Sperrfristen angewandt werden müssten. Auch Marianne Birthler gab zu bedenken, dass die Daten in den Unterlagen der Geheimpolizei einen Ausgleich zwischen DatenSchutz- und Persönlichkeitsinteressen erfordern würde, der im Bundesarchiv nicht zu leisten wäre. 2 0 Außerdem würde eine Verlegung der Unterlagen der Bezirks- und Kreisverwaltungen des MfS in die Landesarchive zusammenhängende Bestände zerreißen, da die Herausgabe von Akten an Forscher und Betroffene am besten durch ihre Behörde zu regeln und diese auch besser als andere den speziellen Kassationsanforderungen gerecht werden könne. Dazu käme noch die hohe Anzahl von Anträgen auf Akteneinsicht, die einen archivuntypischen Aufwand bei der Beantwortung erforderlich machen würde. Auch dies spräche gegen eine Übergabe der Akten in staatliche Archive. Andere, die sich für die Behörde in die Bresche warfen, argumentierten mit ihrer internationalen, besonders mittelosteuropäischen Bedeutung. 21 Dieser Argumentation hielt der Sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, entgegen, dass die Zuordnimg der Akten zu den Landesarchiven gerade keine Ortsveränderung nach sich ziehen würde und dass sich die Bundesbeauftragte für die Staatssicherheitsunterlagen bewusst einer Verständigung auf langfristige Ziele verweigert und ihr Regionalkonzept dezidiert nicht mit den jeweiligen Archiven in den Bundesländern abgestimmt hätte. 22 Beleites warf der Aufarbeitungsbehörde vor, dass es ihr um eine Verewigung der Sonderverwaltung ihrer Akten gehen würde und sie sich gegen die Normalisierung, das heißt bei der Beschäftigung mit der Geschichte der DDR die Beendigung der Focussierung auf die Akten der Geheimpolizei, wehren würde. Ein Streitpunkt ist auch die politische Bildung, bei der besonders die Bundeszentrale für politische Bildung argumentierte, dass dies ihr Aufgabenfeld sei und die BirthlerBehörde sich auf die Akten der Staatssicherheit zu beschränken habe. Weiter hieß es, dass bei möglichen Änderungen die Komplementarität der politischen Bildung gewahrt werden müsste und dass die an der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit beteiligten Behörden (Birthler-Behörde, Bundeszentrale für politische Bildung und Stiftung Aufarbeitung) stärker ihre Arbeit aufeinander abzustimmen haben. 23 Kritisiert wurde dabei, dass die Birthler-Be20

Birthler, S. 5.

21

Rathenow.

22

Beleites, Verewigung.

23

Interview des Deutschlandfunks mit dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, am 4. Januar 2005: „Mehr Akzeptanz der Demokratie durch Partizipation".

Rainer Eckert

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hörde ihren gesetzlichen Auftrag, der sich auf die Unterlagen des MfS konzentrierenden politischen Bildung, über Gebühr ausdehnt, während Beleites etwa argumentiert, dass sich der Blick zu sehr auf die Staatssicherheit verenge. I m Gegensatz dazu befürchtete Silke Stokar von Neuform für das ,3ündnis 90 Die Grünen", dass die Birthler-Behörde zerschlagen werden sollte und die Bundeszentrale für politische Bildung sowie die Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur die Beute unter sich aufteilen wollten. 2 4 Diese wäre nur bei Aufrechterhaltung der gesetzlichen Unabhängigkeit der Behörde und einer engen Anbindung an den Bundestag und einer vom Parlament gewählten Leitung zu verhindern. 25 Bei der weiteren Diskussion sollte von den bisherigen Tätigkeitsbereichen der Behörde ausgegangen und diese von unabhängigen Experten evaluiert werden. Weiterhin ist die Frage zu beantworten, wie die bisherigen Aufgaben auch in Zukunft in den gegebenen Strukturen zu bearbeiten sind. Ausgehend von den Tätigkeitsberichten der Birthler-Behörde sind dies die folgenden Felder: -

Bearbeitung und Erschließung der Archivbestände;

-

Anträge von Bürgern und Bürgerinnen auf Auskunft über und Einsicht in die Akten sowie Bekanntgabe der Namen von Mitarbeitern der Staatssicherheit;

-

Verwendung der Unterlagen durch öffentliche Stellen wie der Justiz oder zur Klärung von Rentenansprüchen;

-

Unterstützung der politischen und historischen Aufarbeitung der Arbeit der Staatssicherheit, Forschung, politische Bildung, Bereitstellung von Unterlagen für Presse, Rundfunk und Film;

-

Eigenforschung und wissenschaftliche Publikationen;

-

Politische Bildungsarbeit. 26

Die Frage ist jetzt, ob auch in Zukunft all diese Bereiche und Themen in einer einheitlichen Behörde bearbeitet werden müssen. Bleiben wird in jedem Fall das Archiv der Staatssicherheitsunterlagen als einzigartige Quelle zur Geschichte von Opposition und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone 24

Stokar von Neuform, S. 110.

25

Typisch ist hier die abwegige Ansicht, dass die Übergabe der Akten an das Bundesarchiv ihre Verbringung nach Koblenz bedeuten würde. 26

Erster Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik 1993. Berlin 1993. Vgl. auch die folgenden Berichte.

Geheimpolizei und historisches Bewusstsein

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und in der D D R . 2 7 Dazu kommen naturgemäß Angaben zur Geheimpolizei der SED und eine ungeheure Informationsflut aus allen Bereichen der DDR-Gesellschaft, dazu zählen der marode Zustand der DDR-Wirtschaft, die realen Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft sowie Angaben zu Sozialverhalten und Alltag. Jedoch ist zu klären, ob diese Akten nicht auch im Bundesarchiv verwaltet und bearbeitet werden könnten. Hier sind unterschiedliche Argumentationsstränge denkbar, jedoch ist weiterhin ein nachträglicher Schlußstrich ganz unerträglich, und das allein schon deswegen, weil in den vergangenen Jahren Hunderttausende von Bürgern aus Ost und West die persönliche Akteneinsicht als Weg zur nachträglichen Aneignung der eigenen Lebenswirklichkeit gewählt haben. 28 Wenn die Akten also ins Bundesarchiv eingegliedert werden sollten, so ist die Auskunft zu nicht schlechteren Bedingungen als bisher zu garantieren, was dort eine personelle Aufstockung erfordern würde. Und es sind auch die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, die Möglichkeiten der Akteneinsicht nicht zu verschlechtern. Insgesamt kann es sich dabei nur um einen langfristigen Prozess handeln, bei dem die Erteilung von Auskünften an die Bürger nicht verschlechtert werden darf. Eine Teilung der Bestände zwischen denen der Zentrale, später i m Bundesarchiv, und den Regionalbeständen in den Landesarchiven ist zu vermeiden, um ihre Einheitlichkeit nicht zu gefährden. Weiterhin müssen spezielle Aufgaben wie die Auswertung der Rosenholz- und Sira-Dateien oder das Zusammensetzen zerrissener Unterlagen gewährleistet werden. Auch Bildung, Forschung und Ausstellungsgestaltung gehören zu den Aufgaben der Birthler-Behörde. Ob diese jedoch in der Abteilung Bildung und Forschung verankert bleiben müssen, ist zeitnah zu prüfen. Wenn dies jedoch positiv entschieden wird, muss der Zugang zu den Akten für in- und externe Forscher gleich sein. Auch ist die intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse der Abteilung Bildung und Forschung zu garantieren. Dagegen erscheint es nicht als sinnvoll, die Aufgaben der Abteilung ausschließlich auf die Staatssicherheitsproblematik zu beschränken. Stattdessen sollten es zwischen den Einrichtungen, die sich mit deutscher Zeitgeschichte beschäftigen, sinnvolle Kooperationen geben, die den einzelnen Beteiligten nicht fesseln oder einengen. Im Jahr 2005 besteht grundsätzlich massiver auf geschichtspolitischem Gebiet massiver Handlungsbedarf. Ob jedoch das Ziel der Erarbeitung einer einvernehmlichen Konzeption der bundesstaatlichen Geschichtspolitik bis zum Ende des Jahres 2005 erreicht werden kann, erscheint heute eher illusionär. Allzu vieles ist zu bedenken, zu klären, zu besprechen, zu finanzieren und um27

Vollnhals, S. 18.

28

Giesecke, S. 251.

20

Rainer Eckert

zusetzen. Dabei sollte kein unzumutbarer Zeitdruck entstehen. Je eher wir jedoch mit der Diskussion über den Umbau der bisherigen „Geschichtslandschaft" beginnen, um so besser für die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur.

Literatur Die Akten gehören ins Bundesarchiv: Interview mit Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildungen: Neues Deutschland, 15. Januar 2005. Beleites, Michael: Stasi-Akten in Bundes- und Landesarchive? Zur Kontroverse um der Perspektiven der Stasi-Unterlagen-Verwaltung. In: Deutschland Archiv, 38. Jg. (2005), H 1, Bielefeld, S. 102-107. — Verewigung Januar 2005.

der Sonderverwaltung filr Stasi-Akten? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.

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Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin im Vereinigungsprozess Von Klaus Krakat I. Einleitende Bemerkungen zur Standortproblematik Bei der Beurteilung Berlins als Wirtschafts-, Technologie-, Wissenschaftsoder Kulturstandort steht das Positive im Vordergrund. Man denkt an die Ausstrahlungskraft bestimmter Ausstellungen und Messen. Man bringt die Stadt aber ebenso mit den Namen bestimmter Unternehmen oder Zukunftstechnologien in Verbindung. Gleichzeitig wird schließlich die politische Funktion als Hauptstadt und Regierungssitz betont, die sich inzwischen zu einem entscheidenden Standortfaktor mit anhaltender Sogwirkung z.B. auf Wirtschaftsverbände, Produzenten oder Dienstleister usw. entwickelt hat. Hinsichtlich einer Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des Standortes Berlin können unter anderem folgende Aspekte von Bedeutung sein: Wenn im folgenden von Stärken und Schwächen des Standortes Berlin und Standortvergleichen die Rede ist, dann sollte man sich die durchaus berechtigte Frage stellen, ob mit der Übernahme der Hauptstadtfunktion zwangsläufig eine weitere Bedeutungssteigerung des Standortes Berlin unbedingt verbunden sein muss. Dabei könnte man kann zu folgendem Ergebnis kommen: Der Begriff Hauptstadt eines Landes ist ausschließlich politisch definiert. Daher hängt die Eigenschaft einer Hauptstadt nicht davon ab, dass sie auch in anderer Weise eine herausragende Stadt sein muss. Tatsache ist jedoch, dass bereits 1990 Aussagen und Aktivitäten der ersten gemeinsamen Landesregierung, gebildet von Magistrat und Senat sowie Repräsentanten der Kammern und aus der Wirtschaft darauf hin weisen, dass mit der Beseitigung teilungsbedingter Anomalitäten ein vitales Interesse an Umbruch und Wandel der Stadt in Richtung einer Qualitätssteigerung verbunden war. Mithin hatte man sich im Zeitverlauf auch dem zunehmenden Standortwettbewerb gestellt. Statistisch nachgewiesene Stärken und Schwächen flössen in die verschiedensten Rankings ein und deren Ergebnisse wurden zum Gradmesser der Leistungsfähigkeit Berlins. Es besteht Klarheit darüber, dass der Standort für Bundesländer, Städte oder Gemeinden usw. eine geographisch vorgegebene Größe darstellt. Eine Standortoptimalität kann in diesem Fall nicht durch einen Standortwechsel, sondern

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nur über eine Verbesserung gegebener Standortbedingungen erreicht werden. Dadurch ergibt sich der Druck auf die Landespolitik, diese für Unternehmen oder Wissenschaft so weit wie möglich optimal zu gestalten. Die festzustellenden Maßnahmen und Strategien des Berliner Senats zwecks Verbesserung der kommunalen Standortbedingungen zielten und zielen in der Regel auf eine positive Außenwirkung ab. Dabei wurden die eigenen Anspruchsniveaus weitgehend auch durch externe Maßstäbe gesetzt. Die Bedeutung des Standortmarketings hat in diesem Kontext besonders für Berlin einen hohen Stellenwert. Unternehmen können in der Regel „ihren" Standort unter Berücksichtigung der gegebenen Bedingungen frei wählen. Die Standortwahl hat in diesem Fall aus betriebswirtschaftlicher Sicht den Charakter einer konstitutiven Führungsentscheidung. Aus mikroökonomischer Sicht wird argumentiert, dass Unternehmen Standorte insbesondere nach hohen oder niedrigen Lohnkosten und damit die Konkurrenzfähigkeit ihrer Leistungen bewerten. Da im Falle vergleichsweise zu hoher Kosten die Renditeerwartungen der Shareholder nicht mehr erfüllt werden, wird Produktivkapital von Unternehmen auf kostengünstigere Standorte umgeleitet. Hierfür gab es allein für Berlin bis in die jüngste Vergangenheit hinein unzählige Beispiele. Die Stadt hat sich inzwischen z.B. zu einem anerkannten Kultur- und Wissenschaftsstandort entwickelt. Zudem gewähren ebenso neue Bauten und Plätze mit ihren Architekturen einen guten Einblick in die jüngste Geschichte der Stadtentwicklung. Als ein wirtschaftliches Zentrum mit vorzeigbaren Finanzdienstleistungen oder als ein Verkehrsknotenpunkt kann sie hingegen nicht bezeichnet werden. Belastend wirken sich auf die Imagebildung schließlich auch die hohen Arbeitslosenzahlen aus. Angesichts der Vielfalt diagnostizierter und anerkannter Schwächen besteht allgemein Klarheit darüber, dass nicht alle Probleme von heute auf morgen gelöst werden können. Zudem ist man sich nicht nur in Senatskreisen darüber einig, dass sämtliche Problemlösungen mit erheblichen Kosten verbunden sind und das Land Berlin auf Grund der bestehenden Haushaltsnotlage wohl kaum in der Lage sein wird, diese Kosten allein zu tragen. Bedenklich ist, dass der Handlungsdruck auf den Berliner Senat angesichts der zunehmenden Probleme und der sich häufenden Negativberichte über die Stadt weiter anwächst.

EL. Zur Startsituation Berlins nach Mauerfall und Vereinigung Wenn man Berlin mit anderen deutschen und europäischen Großstädten vergleicht und dabei deren wirtschaftliche Stabilität feststellt, dann werden für die gegenwärtige Problemsituation der vereinigten Stadt verschiedene Hauptursachen verantwortlich gemacht. Diese sollen kurz dargestellt werden.

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a) Die besondere Situation Berlins ist nach Mauerfall, Vereinigung und Veränderungen in Osteuropa in erster Linie auf die Auswirkungen der jahrelangen Teilung, ja der Teilung des gesamten Landes und in gewisser Weise des europäischen Kontinents als eine Folge des 2. Weltkrieges zurückzufuhren. b) Nach dem Fall der Mauer mussten zunächst hinreichende Voraussetzungen geschaffen werden, um zwei unterschiedlich entwickelte und strukturierte Stadthälften zusammen zu fuhren und die sich dabei auf engstem Raum offenbarenden Probleme und Gegensätze zwischen dem Ost- und Westteil lösen und überwinden zu können. c) Wesentlich war dabei nicht zuletzt, dass ab 1990 die zusammenwachsende Stadt in vergleichsweise kurzer Zeit einen Entwicklungsprozess nachholen musste, für den andere westdeutsche sowie auch europäische Ballungszentren weit aus mehr Zeit hatten und der dort mithin bereits vollzogen werden konnte. Somit hatte Berlin im Wettbewerb mit den wirtschaftlich starken und innovativen Regionen in Westdeutschland und darüber hinaus mit denen in Europa eine relativ ungünstige Ausgangssituation. Beispielhaft soll auf einige wesentliche Fakten eingegangen werden, welche für die Entwicklung des Standortes Berlin von Bedeutung waren.

IQ. Wesentliche Folgen der Teilung Berlins sowie Weichenstellungen und Entwicklungen am Anfang der neunziger Jahre 1. Erste Aufgabenstellungen des Senats nach dem Mauerfall Zurückblickend war von Bedeutung, dass sich erstmals wieder nach dem Fall der Mauer eine Gesamtberliner Landesregierung in einem ,3ericht über die Lage der Berliner Wirtschaft" über die bevorstehenden Aufgaben ihrer Wirtschaftspolitik äußern konnte. Zu diesen Aufgaben wurden gerechnet: 1 -

Sicherung und Ausbau der Attraktivität Berlins als Investitionsstandort,

-

Förderung des Zusammenwachsens der beiden Stadthälften und der Stadt mit dem Umland,

-

rasche Verwirklichung gleichwertiger Lebensverhältnisse,

-

Nutzung und Förderung der wissenschaftlich-technischen Potenziale,

1

Vgl. dazu u.a. Senatsverwaltung für Wirtschaft, S. 5-8.

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-

Gewährleistung der Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung bei der Entwicklung der Region usw.

2. Zu den Auswirkungen der Einführung der Marktwirtschaft i m Ostteil Berlins Die mit der Wirtschafts- und Währungsunion verbundene schnelle Einführung der D-Mark, der nunmehr unausweichliche Konkurrenzdruck durch westliche Unternehmen auf offenen Märkten, der an Dynamik zunehmende Zusammenbruch des einstigen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der drastische Verfall des sowjetischen Marktes mit den einst vorhersehbaren sicheren Absatzmöglichkeiten ließen die Erwartungen der Leitungen einstiger Kombinate und Volkseigener Betriebe (VEB) an die Marktwirtschaft in vielen Fällen relativ schnell auf den Nullpunkt sinken. Dabei musste zwangsläufig in den meisten Fällen eine nicht hinreichende Wettbewerbsfähigkeit akzeptiert werden. Hierfür waren vor allem in Industriebetrieben, die i m ersten Halbjahr 1990 z.B. von einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppe untersucht wurden, unter anderem folgende erkannte Mängel verantwortlich: 2 -

Ein relativ breites Produktspektrum, verursacht durch staatliche Planauflagen;

-

extrem lange Auftragsdurchlaufzeiten, bedingt durch hohe Fertigungstiefe und große Lageranteile;

-

geringe Prozesstransparenz auf allen Ebenen der Fertigimg;

-

hohe Herstellungskosten als Folge geringer Produktivität und großem internen Nachbearbeitungsaufwand;

-

zum überwiegenden Teil Einsatz überalterter und verschlissener sowie wartungsintensiver und teilweise ökologisch bedenklicher Produktionstechnik;

-

unzureichender Einsatz und relativ geringe Verfügbarkeit von Komponenten moderner Produktionsautomatisierung mit elektronischen Steuerungen außerhalb des Bereichs der sogenannten „Vorzeigebetriebe";

-

unzureichende und weitgehend nicht miteinander vernetzte Informationstechnik sowie

-

unwirtschaftliche Personalanhäufungen in bestimmten Funktionsbereichen, in denen sich die betriebliche Selbstversorgungswirtschaft ausdrückte usw.

2

Institut für Werkzeugmaschinen, S. 8 ff.

Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin

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Bereits im Verlauf des Jahres 1990 begannen sich einerseits Betriebe - oft gegen den Widerstand „ihrer" noch bestehenden Kombinatsleitungen - aus dem Zwangsverbund der Kombinate herauszulösen. Gleichzeitig erfolgten andererseits erste Herausgründungen aus den Betrieben. Darüber hinaus drängten neue Führungseliten in die Leitungsebenen. Parallel zu den vorgenannten Entwicklungen und Problemen wurde der Weg in die Marktwirtschaft auch für die im Ostteil der Stadt ansässigen Kombinate und Betriebe durch die Arbeit der Treuhandanstalt (Entflechtung, Liquidation, Sanierung und Privatisierung) 3 markiert. Diese begann bekanntlich 1990 und endete mit Ablauf des Jahres 1994. Damit war, wenn man z.B. die Entwicklung des Industriestandorts Oberschöneweide betrachtet, 4 vor allem in den Jahren 1990 bis 1995/96 wiederum ein radikaler Arbeitsplatzabbau verbunden. Kurz und kritisch hatte die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie in ihrem „Wirtschaftsbericht Berlin 1995" zur Privatisierung u.a. festgestellt: „Wie der Beschäftigungsabbau in der Industrie zeigt - im Ostteil Berlins zwischen 1989 und Dezember 1994 von 187.000 auf rd. 32.000 - wurden die vorhandenen Möglichkeiten einer Sanierungspolitik durch die Treuhandanstalt nur unzureichend genutzt. Vor allem die Arbeitsmarktbilanz widerlegt die positiv gefärbte Treuhandbilanz".5 Daneben waren zudem folgende Entwicklungen von Bedeutung: Bereits unmittelbar nach der Wirtschafte- und Währungsunion setzte, wie überall in den neuen Bundesländern, auch im Ostteil Berlins eine rege Gründertätigkeit ein. Hierbei lassen sich, wiederum dargestellt am Beispiel des Industriestandorts Berlin-Oberschöneweide, folgende Veränderungen feststellen. A n die Stelle der hier 1990/1991 noch existierenden großen Produktionsstätten mit überaus hohen Beschäftigungszahlen ist im Zeitverlauf eine breite Palette kleiner und mittlerer, zumeist technologieorientierter Unternehmen mit nunmehr deutlich geringeren Mitarbeiterzahlen getreten. Diese haben neben den hier zunächst noch existierenden größeren Unternehmen auf kleinzelligen Gewerbeflächen ehemaliger Kombinate und VEB, zum Teil in neuen oder hergerichteten denkmalgeschützten Gebäuden und Werkhallen aus der Gründerzeit, ihren Sitz gefunden. Dabei handelte es sich zunächst um Herausgründungen z.B. aus dem Werk für Fernsehelektronik (WF) oder aus dem Transformatorenwerk (TRO). Einige Ausgründer aus dem WF (nach der Privatisierung: Samsung) hatten sich zu einer Aktionsgemeinschaft mit dem Ziel zusammengeschlossen, unter Nutzung sich bietender Gegebenheiten ein Existenzgründerzentrum zu errichten, 3

Dazu zählte auch die Herauslösung „nicht betriebsnotwendiger Flächen" aus dem Vermögen der zu privatisierenden Betriebe. 4

Vgl. Krakat, Industrieregionen, S. 219 ff.

5

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Wirtschaftsbericht Berlin 1995, S. 63.

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um einer drohenden De-Industrialisierung des Standortes und der Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte vorzubeugen. Davon ausgehend wurde im April 1993 die Spreeknie-Nord GmbH gegründet. 6 I m Falle der Herausgründungen aus der nach 1990 in eine GmbH umgewandelten TRO Transformatoren- und Schaltgeräte GmbH hatten sich zu Beginn der 90er Jahre wiederum mehrere Management-Buy-Outs zu einer „Unternehmensgemeinschaft Wilhelminenhofstrasse 91/92 GmbH" auf dem TRO-Betriebsgelände vereinigt. Inzwischen sind einige von ihnen in andere Köpenicker Ortsteile oder Berliner Bezirke abgewandert, andere haben nicht überlebt. Verbunden mit derartigen Veränderungen, die mit dem Zusammenbruch ehemaliger großer Kombinats- und Betriebsverbunde einhergingen, vollzog sich - anders als i m Westteil - ein tiefgreifender struktureller Erneuerungsprozess.

3. Wissenschafts- und Forschungspotenziale in Ost-Berlin 1990 und deren Start Nach dem Fall der Mauer präsentierte sich im Ostteil der Stadt eine relativ breite Forschungs- und Wissenschaftslandschaft. Deren Potenzial war, wie in der gesamten ehemaligen DDR, hauptsächlich auf vier Sektoren verteilt: 7 Staatliche Akademien (Grundlagenforschung und angewandte Forschung i m Staatsauftrag bzw. i m Auftrag der Industrie); Universitäten und Hochschulen (Forschung und Lehre); (den Kombinaten zugeordneter) Industrieforschung einschließlich Ressortforschung der Ministerien (zweigspezifische Grundlagenforschung, Entwicklung und Rationalisierungsmittelbau) sowie Zentralinstitute der SED (parteikonforme, politiknahe, gesellschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre). Mehr als 20 % des gesamten Forschungspotenzials der ehemaligen DDR waren im Ostteil Berlins konzentriert. Allein die Akademie der Wissenschaften (AdW) unterhielt im Rahmen der ihr zugewiesenen außeruniversitären Forschung rund 36 Institute mit etwa 15.000 Mitarbeitern. Hauptstandorte existierten in Berlin-Adlershof, Berlin-Buch und an der Prenzlauer Promenade. Ausgehend von Empfehlungen des Wissenschaftsrates 8 hinsichtlich der Ausrichtung von Forschungskapazitäten der einstigen DDR auf die Bedürfhisse des Marktes und des Ausbaues ihrer Standorte mit dem Ziel der Herausbildung einer ein6

Dieses Gründerzentrum war Vorgänger des später unter Federführung der Berliner Landesentwicklungsgesellschaft mbH (BLEG) auf der Grundlage von Technologie-Entwicklungsplanungen des Berliner Senats geschaffenen Technologie- und Gründerzentrums Spreeknie, (TGS). 7 8

Vgl. hierzu Krakat, Probleme, S. 155 ff.

Wesentliche Voraussetzungen bildete hierfür der Artikel 38 (Wissenschaft und Forschung) des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 und dessen Kontrollnotizen.

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heitlichen deutschen Wissenschafts- und Forschungslandschaft, wurde unter anderem dem Land Berlin die Aufgabe zugewiesen, optimale Voraussetzungen für eine Integration von Forschungs- und Lehreinrichtungen der i m Ostteil Berlins bestehenden Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu schaffen. Dies galt insbesondere für die einstigen AdW-Institute. Damit war der Startschuss für eine Zusammenfuhrung der in beiden Stadtteilen existierenden FuE-Einrichtungen gefallen, der insbesondere mit der Schaffung von Technologieparks sowie Technologie- und Gründerzentren, so z.B. in Berlin-Adlershof, in Berlin-Buch oder in der Köpenicker Wuhlheide, verbunden war. A m Anfang sprach wenig für den späteren enormen Bedeutungsanstieg, den der Standort Adlershof nehmen sollte: Elf Institute AdW-Institute überlebten die Evaluierung durch den Wissenschaftsrat. Über 3.000 Wissenschaftler, Techniker und Angestellte wurden arbeitslos. Vielen von ihnen blieb keine andere Wahl, als sich selbständig zu machen. Ab 1991 entstand mit der Ansiedlung innovativer Forschungs- und Wissenschaftszentren schließlich eines der modernsten Forschungs- und Technologieareale Europas, eine Stadt für Wissenschaft, Wirtschaft und Medien: der Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort (WISTA). I m Zuge der Neugestaltung des Areals wurde ebenfalls 1991 das Innovationsund Gründerzentrum Berlin-Adlershof (IGZ) eröffnet. Dieses hatte sich in seiner Anfangsphase die Aufgabe gestellt, vor allem Ausgründungsvorhaben ehemaliger AdW-Mitarbeiter zu unterstützen. Ein Jahr später, 1992, wurde dann das Max-Delbriick-Centrum für molekulare Medizin aus den positiv evaluierten Zentralinstituten für Molekularbiologie, Krebs- und Herz-Kreislaufforschung, von Bund und Land gegründet. Die den einstigen Industriekombinaten sowie Fachministerien zugeordneten Forschungsbetriebe einschließlich des Rationalisierungsmittelbaus wurden der Zuständigkeit der Treuhandanstalt unterstellt und hier als so genannte Forschungs-GmbH entflochten, saniert und privatisiert. Viele von ihnen haben die weitere Entwicklung nicht überlebt, andere existieren noch und haben sich umbenannt.

4. Folgen der Abschnürung und Subventionierung der Wirtschaft West-Berlins Nach dem Fall der Mauer konnte die West-Berliner Wirtschaft zunächst einen kurzfristigen Nachfragezuwachs verzeichnen. Doch relativ schnell wurde immer deutlicher, dass sich die Folgen der erzwungenen Abschnürung von ihrem Umland als ein erstes Entwicklungshemmnis herausstellten. Wenig forderlich erwies sich ebenso die Tatsache, dass sich die Entscheidungs- und Forschungszentren besonders der großen Unternehmen im westdeutschen Wirtschaftsraum befanden. Vor allem das produzierende Gewerbe sah sich einem

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Bündel von Fakten gegenüber, die in den Zeiten der Berlin-Förderung 9 gewachsen waren und nunmehr unter den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen als Belastung hinsichtlich der Wirtschaftsentwicklung empfunden wurden. Hierbei handelte es sich beispielsweise -

um den Ausbau kapitalintensiver, wertschöpfungsarmer und flächenextensiver Industrieproduktionen, welcher „verlängerte Werkbänke" der in Westdeutschland agierenden Muttergesellschaften entstehen ließ;

-

hingenommene Strukturkonservierung und -Verzerrung und dem i m gegebenen Zusammenhang akzeptierten Ausbau einer wenig standortadäquaten Nahrungs- und Genussmittelindustrie;

-

verminderte Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmer, die unter den Bundesdurchschnitt absanken, sowie

-

hohe Erwartungshaltungen seitens der Unternehmer gegenüber dem Staat mit vergleichsweise geringen unternehmerischen Initiativen, die eine Subventionsmentalität ungewollt begünstigten.

In dieser Weise geprägt, musste die im Westteil Berlins angesiedelte Industrie insgesamt einen Bedeutungsverlust hinnehmen. Kennzeichnend für die ersten Jahre nach dem Mauerfall war zudem, dass die Unternehmen begannen, ihre Geschäftsprozesse neu zu ordnen und dabei für das Kerngeschäft nicht notwendige Funktionsbereiche ausgliederten. Da zudem für nicht wenige Unternehmen der Standort Berlin unter den neuen Bedingungen seinen Reiz verloren hatte, wanderten diese in andere Regionen ab. Insgesamt führten derartige Veränderungen bereits ab 1992/1993 zu einem Abbau von Arbeitsplätzen. 10 Dieser Wandel hinterließ insgesamt bis heute sichtbare Spuren. 11

5. Wissenschafts- und Forschungspotenziale in West-Berlin 1990 I m Westteil Berlins existierten 1990 rund 180, darunter auch international bekannte wissenschaftliche Institutionen, in denen etwa 40.000 Arbeitnehmer beschäftigt waren. Zu diesen Institutionen gehörten u.a.: das Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF)/Fraunhoferinstitut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) an der T U Berlin; 1 2 das Institut 9 Die Berlin-Subventionen liefen Ende 1994 aus: dem Berliner Landeshaushalt wurde die letzte Rate der Bundeshilfe am 1. Dezember 1994 zugewiesen. 10

Vgl. dazu im Einzelnen weiterhin Fischer/Pohl/Semlinger, S. 60.

11

Krakat, Entwicklung, hier insbesondere S. 91ff. u. S. 111 ff.

12

Das von Prof. Dr.-Ing. Georg Schlesinger 1904 gegründete Institut für Werkzeugmaschinen

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für Luft- und Raumfahrt der T U Berlin; das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); das Hahn-Meitner-Institut; das Institut für Genbiologische Forschung Berlin GmbH; die Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM); das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) usw. Zu nennen sind i m gegebenen Zusammenhang aber ebenso das Berliner Innovations- und Gründerzentrum (BIG) 1 3 , Focus TELEPORT 1 4 und nicht zuletzt weitere Potenziale der Universitäten (Technische und Freie Universität) und Hochschulen. Die Vernetzung der Westberliner Forschung mit internationalen Forschungsinstituten galt allgemein als gut. Relativ gering ausgebildet war hingegen die Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft. Da nach Angaben des IWF/EPK bis maximal 80 % der Aufträge von außerhalb Berlins kamen, fristeten daher auch Wissenschaft und Forschung ein Inseldasein. Der Grund hierfür bildete das etablierte unterentwickelte Industriepotenzial, für das zwar eine moderne Informations- und Produktionstechnik, jedoch nur in wenigen Fällen ausgeprägte Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten kennzeichnend waren. Zu den wenigen forschungsorientierten Unternehmen zählten beispielsweise die Schering AG, die am nationalen wie internationalen Markt nur auf der Grundlage einer intensiven Forschung und Entwicklung bestehen konnte, oder die von Wissenschaftlern der T U 1985 gegründete Biotronik GmbH.

I V . Grundsätzliche Bemerkungen zum Wandel der Berliner Industrie Bereits während der neunziger Jahre wurde zunehmend deutlich, dass es eine Industriekonzentration nach dem traditionellen Muster früherer Jahre nicht mehr geben konnte. Daher prägen heute neben traditionellen Industriezweigen nunmehr auch neue und Impuls gebende Aktionsbereiche das aktuelle Bild des Wirtschaftsstandorts Berlins. In diesem Sinn sind zu unterscheiden: Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung; Maschinenbau; Elektrotechnik und Informations- und Kommunikationstechnik; Fahrzeugbau und Verkehrstechnik;

und Fabrikbetrieb (IWF) ist eine der ältesten produktionstechnischen Forschungseinrichtungen Deutschlands. Seit der Gründung des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) 1976 ist die Arbeit beider Institute eng miteinander verbunden. 1986 zogen beide in das Produktionstechnische Zentrum (PTZ) am Moabiter Spreebogen. 13

1983 gegründet; Standort: Technologie- und Innovationspark Berlin (TIP) in Berlin Wedding, der als Keimzelle und Vorbild für sämtliche später in Deutschland errichteten Technologieund Gründerzentren gilt. 14

1990 als Gründerzentrum ins Leben gerufen; Standort: Gewerbe- und Innovationspark an der Spree in Berlin-Moabit.

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Metallerzeugung und -bearbeitung; Phannazie und Biotechnologie; Medizinund Messtechnik, sowie Druckgewerbe und Medien. Sämtliche Unternehmen dieser Bereiche zeichnen sich heute unter dem Druck der sich permanent wandelnden Marktbedingungen in der Regel vor allem durch folgende Besonderheiten aus: Permanente Anpassung an die sich verändernde globalisierte Wirtschaft, stete Ausrichtung auf neue Produkte und innovative Fertigungsverfahren oder wachsende Spezialisierung. Unabhängig davon kennzeichnen besondere Strukturveränderungen den Wirtschaftsstandort Berlin. Als wesentlich wird von einem Forscherteam der FHTW in seiner Analyse des industriellen Wandels Berlins in den Jahren 1989 bis 2001 festgestellt: Während gegenwärtig im Ostteil Berlins nach dem Zusammenbruch der durch die Planwirtschaft gekennzeichneten Industriestrukturen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, an die Stelle von Großbetrieben nunmehr weitgehend kleine forschungsintensive und technologieorientierte Unternehmen getreten sind, dominiert gegenwärtig im Westteil ein industrielles Erscheinungsbild, das »nur in Bezug auf die mengenmäßige Verteilung von Umsatz und Beschäftigung " geprägt ist. „Gemessen am Erneuerungsgrad und an der Dynamik der positiven Entwicklungstendenzen liegt der Osten der Stadt klar in Führung". 15 Davon ausgehend, lassen sich nach den Feststellungen der Verfasser der Studie ,3erlins Industrie nach der Wiedervereinigung" allein folgende Kennzeichen für den industriellen Wandel in Berlin feststellen: Ein insbesondere durch Neugründungen initiierter relativ frühzeitig einsetzender industrieller Wandlungsprozess, der zudem mit einer durchgreifenden qualitativen Strukturerneuerung im Ostteil der Stadt verbunden war. 1 6 Mehr als die Hälfte der neuen Arbeitsplätze entstanden dadurch in den neu gegründeten Unternehmen. 17 I m Westteü Berlins überlebten rund 40 Prozent, im Ostteil jedoch nur 20 Prozent der Altbetriebe. 18 I m Jahr 2001 waren darüber hinaus zwei von drei Industriebetrieben jünger als 10 Jahre. 19 Mithin profitiert der Wirtschafte- und Technologiestandort Berlin bereits seit einiger Zeit von der hohen Kompetenz der jungen und nicht zuletzt technologieorientierten Unternehmen. Kennzeichnend ist hierbei nicht minder, dass diese mehrheitlich in Wissenschafts- und Innovationsparks 20 oder Technologie- und Gründerzentren 21 angesiedelt sind. Der 15

Fischer/Pohl/Semlinger, S. 15.

16

Ebd., S. 13 u. S. 15. Der von den Autoren festgestellte Gründungsboom wird auch aufgrund eigener Recherchen, die insbesondere in Berlin-Oberschöneweide und ebenso in Berlin-Adlershof und Berlin-Buch sowie in Teltow und Stahnsdorf bei Berlin durchgeführt wurden, bestätigt. 17

Fischer/Pohl/Semlinger, S. 46.

18

Ebd., S. 60 ff.

19

Ebd., S. 64 ff.

20

Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Berlin-Adlershof (WISTA), Innovationspark Wühl-

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Vorteil solcher Standortgemeinschaften ergibt sich auf Grund des hier gegebenen optimalen Zusammenwirkens von Wirtschaft und Wissenschaft. Dies wird vor allem durch die räumliche Nähe von anwendungsnahen Forschungsinstituten, innovativen Mittelstandsunternehmen sowie neuen Technologiefirmen gewährleistet. Zu den Repräsentanten der Generation neuer und junger Unternehmen, die ihr Aktionsfeld inzwischen teilweise auch auf die internationale Ebene ausgerichtet haben, gehören zum Beispiel: micro resist technology Gesellschaft für Chemische Materialien Spezieller Photoresistsysteme mbH (Herausgründung aus dem Werk für Fernsehelektronik 1993, Standort: Innovationspark Wuhlheide, vom Bezirksamt Treptow-Köpenick für den Mittelstands-Oscar 2005 vorgeschlagen); Silicon Sensor International A G (Herausgründung aus dem WF 1991), heutiger Standort: Ostendstrasse/Oberschöneweide (OSW); sglux SolGel Technologie (Ostendstrasse/OSW, Gewinner des Innovationspreises Berlin/Brandenburg 2004, Preisträger Nr. 1); OSA Elektronik GmbH (Herausgründung aus dem WF 1991), heutiger Standort: Innovationspark Wuhlheide (IPW/OSW); CrysTec GmbH Kristalltechnologie (IPW/OSW); s&r Schaltund Regeltechnik GmbH (IPW/OSW); Scienion A G (gegründet: 2001 in Oberschöneweide, WISTA-Gelände/Adlershof, Gewinner des Innovationspreises Berlin/Brandenburg 2004, Preisträger Nr. 3); FMB Feinwerk- und Messtechnik GmbH (WISTA-Gelände/Berlin-Adlershof); First Sensor Technologie GmbH (WISTA-Gelände/Berlin-Adlershof); Animox GmbH, Umwelt- u. Biotechnologie (WISTA-Gelände/Adlershof); Eckert & Ziegler Strahlen- und Medizintechnik A G (Standort: Biomedizinischer Forschungscampus, Berlin-Buch); IMTEC Immundiagnostika GmbH; biognostic AG, oder CONGEN Biotechnik GmbH (alle Berlin-Buch). Die vorgenannte Palette mehrheitlich kleiner und innovativer Unternehmen wird komplettiert durch einen breiten und leistungsfähigen Mittelstand, der nicht zuletzt auch von den so genannten Alt- bzw. Bestandsunternehmen aus beiden Teilen Berlins geprägt wird. Trotz der in der Regel wenig günstigen Konjunkturentwicklung der letzten Jahre gehören viele Berliner Mittelständler zu denjenigen Unternehmen, die sich nicht nur Marktnischen erschlossen haben, sondern auch mit ihren Leistungen inzwischen als Marktführer ihrer Branche auf dem Weltmarkt erfolgreich tätig sind. Von diesen seien z.B. genannt: Eckert & Ziegler GmbH: Spitzenposition bei Kalibriergeräten für diagnostische Geräte; Flemming & Pehrsson GmbH: Produzent von Nummerier- und Prägeautomaten für Autohersteiler; Gerb Schwingungsisolierungen GmbH & Co. KG: Entwicklung und Einbau von Schwingungstilgern für Brücken (Millen-

heide (Köpenick) oder Biotechnologischer Forschungscampus Berlin-Buch (Biotechnologiepark Berlin-Pankow). 21

Z.B. Technologie- und Gründerzentrum Spreeknie (TGS) in Berlin-Oberschöneweide usw.

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nium-Bridge in London), Industrieanlagen, Gebäude usw.; Lichtmesstechnik GmbH: Lichtvermessung für nahezu alle internationalen Lampenhersteller; Mental Images GmbH: Liefert für die weltweite Filmindustrie Technik für visuelle Effekte und die entwickelte Software „mental ray" gilt unter Fachleuten als das weltweit beste Programm, um computergestützt reale Bilder zu erzeugen; Telefunkensendersysteme GmbH: Sonderstellung hinsichtlich des Einbaus von Sendern in Rundfunk- und Fernsehanstalten. Als Hoffnungsträger für Innovation, Wachstum und Arbeitsplätze in Berlin gelten natürlich ebenso die großen Unternehmen, vor allem die der Industrie. Sie alle präsentieren sich in der Regel mit starker Exportorientierung sowie hohen Forschungs- und Entwicklungsleistungen. 22 Abschließend kann an dieser Stelle festgestellt werden: Der Wirtschaftsstandort Berlin hat sich seit dem Fall der Mauer mit der Neugründung der vielen innovativen K M U sowie der großen Unternehmen gravierend verändert weist daher heute eine insgesamt mittelständische Wirtschaftsstruktur auf. Funktionen, die in früheren Jahren von der Industrie wahrgenommen wurden, gehören heute zum Aufgabenbereich von Dienstleistern. Die Industrie ist besonders für die unternehmensnahen Dienstleister als Auftraggeber von Bedeutung (unternehmensnahe Dienstleistungen). Sie hat sich insgesamt nicht nur zu einem stark innovativ ausgerichteten Wirtschaftszweig entwickelt, ihr wird inzwischen ebenso mit ihren Leistungen eine strategische Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zugewiesen. Schließlich sind sich Politik und Wirtschaft darüber einig, dass andere Branchen wie Handel, Tourismus usw. oder sich aus der Hauptstadtfunktion ergebenden Vorteile allein für eine Stadt wie Berlin kaum ausreichend sein können, um die Region durch neue Innovationen zu qualifizieren. Lange Zeit hindurch ließ der Berliner Senat hinsichtlich seiner wirtschaftspolitischen Prioritätenbildungen die Vermutung zu, dass nur durch Dienstleistungen ein Beschäftigungswachstum möglich sei. Dies hat sich inzwischen auf Grund der Betonung der Bedeutung der Industrie geändert.

V. Ausgewiesene Stärken und Schwächen des Wirtschafts- und Technologiestandortes Berlin Berlin-Besuchern und Berlinern präsentiert sich die deutsche Hauptstadt mit zwei Gesichtern: Die Stadt kann einerseits mit neuen Repräsentanzen von Regierung und Wirtschaft, mit ständig wechselnden Attraktionen oder mit einer anerkannten Wissenschaftslandschaft und einem guten Forschungsklima wu22

Vgl. hierzu: Berliner Wirtschaft in Zahlen, S. 12-14.

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ehern. Nicht zuletzt bildet sie einen Anziehungspunkt insbesondere für kreative junge Leute, weil es hier ein großes Potenzial für Kunst, Film, Mode oder Musik gibt und daher Kontakte für neue Bekanntschaften ermöglicht. Andererseits zählt die Stadt zu denjenigen deutschen Regionen, die ein vergleichsweise niedriges Wirtschaftswachstum aufweisen und neben anderen Regionen mit höchsten Arbeitslosenzahlen belastet ist. Im Folgenden soll auf einige wesentliche standortprägende Stärken und Schwächen näher eingegangen werden.

1. Anerkannte Stärken und positive Entwicklungstrends - Hoffhungsträger für Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen a) Der wachsende Tourismus als Wirtschaftsfaktor Berlin als Bundeshauptstadt hat sich inzwischen zu einem gefragten Reiseziel entwickelt. Die Stadt lockt inzwischen mit einer großen Palette neuer Bauten und Plätze, vielen kulturellen Angeboten, Ausstellungen, Kongressen, Messen, Sportveranstaltungen, Events usw. viele Besucher an. Dies führte zwangsläufig zu ansteigenden Besucherzahlen. Die Anzahl der Gäste stieg in den Jahren 1999 bis 2003 von 4.170.726 auf4.952.798 an und die der Übernachtungen betrug 2003 insgesamt 11.329.459.23 Damit steht Berlin i m Bereich des Städtetourismus innerhalb Deutschlands an erster Stelle 24 und belegt nach London und Paris 2003 den dritten Platz der beliebtesten Städtereiseziele in Europa. 25 Allein folgende Fakten sind i m gegebenen Zusammenhang interessant: 26 Jeder Berlin-Besucher, der sich im Jahr 2003 für nur einen Tag in der Stadt aufhielt, gab im Durchschnitt 30 Euro im Einzelhandel, i m Gastgewerbe und für sonstige Dienstleistungen aus. Der Tourismus ist vor allem als Quelle für Steuereinnahmen von wachsender Bedeutung. Er bewirkte 2003 Steuerzuflüsse in Höhe von 703 Millionen Euro. 2004 hatte sich der Berlin-Tourismus schließlich mit deutlich mehr als zwölf Millionen Übernachtungen im Beherbergungsgewerbe wie nie zuvor so erfolgreich fortentwickeln können. Schließlich werden ebenso mit dem Tourismus unterschiedliche Arbeitsplätze geschaffen und gesichert. Marketingexperten der Berlin Tourismus Marketing GmbH werben bereits seit einiger Zeit damit, dass ein Tourist täglich zwischen 1.500 Veranstaltungen jeder Art wählen kann. Zu den ständigen Attraktionen und Angebo-

23

Statistisches Landesamt Berlin, Statistisches Jahrbuch 2004, S. 321.

24

Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2004, S. 450.

25

So Senatsverwaltung für Wirtschaft, Tourismuskonzept, S. 27.

26

Entnommen aus: Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 10.

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ten der Stadt zählen in jedem Jahr: die Silvesterfeier am Brandenburger Tor, die Internationale Grüne Woche, die Internationalen Filmfestspiele von Berlin (Berlinale), die Lange Nacht der Museen, der Karneval der Kulturen, der Berlin-Marathon, die Internationale Funkausstellung oder die Berliner Festwochen usw. Hinzu kommen z.B. die Ausstellungen der Museen und Galerien. Von diesen seien nur drei des Jahres 2004 genannt: die Eröffnung des Kunstgewerbemuseums Schloss Köpenick und des Museums für Fotografie mit der Helmut Newton-Stiftung am Bahnhof Zoo sowie die Ausstellung des New Yorker Museums of Modern Art (MoMa) am Kemperplatz, die bekanntlich unzählige Besucher anlockte, usw.

b) Tagungen und Kongresse als Wirtschaftsmotoren wachsender Wirtschaftszweig

und

Nicht nur durch den ansteigenden Tourismus, sondern ebenso als Tagungsund Kongressziel gewinnt Berlin an Bedeutung. Bereits seit einigen Jahren wird dank einer verbesserten Infrastruktur und einem M i x aus abgelegenen Tagungsstätten „ i m Grünen" und innerstädtischem Ambiente eine von Jahr zu Jahr ansteigende Zahl unterschiedlicher Veranstaltungen registriert. So konnte im Jahr 2004 mit knapp 80 000 Veranstaltungen, die von mehr als 6,2 Millionen Teilnehmern besucht wurden, ein Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr verzeichnet werden. 27 Von weiteren Entwicklungserfolgen profitieren wiederum auch in diesem Fall nicht nur das Beherbergungsgewerbe, sondern ebenso der Einzelhandel oder Museen usw. Nach den Feststellungen der Berlin-Tourismus Marketing GmbH (BTM) bietet sich Berlin besonders auf Grund seiner anerkannten Bedeutung als Wissenschafts- und Technologiestandort für Tagungen und Kongresse an. Aber auch die IT-Branche sowie Handel, Banken und Versicherungen kommen gerne nach Berlin. M i t derzeit insgesamt 154 Tagungshotels und sechs großen Kongresszentren soll Berlin nach den Vorstellungen der B T M zu einer führenden europäischen Kongressstadt ausgebaut werden. Hinsichtlich des Umfangs der in Berlin stattfindenden Messen gilt die Hauptstadt bereits seit einiger Zeit als ein Messestandort mit Bedeutungszuwachs28 und rangiert daher bereits an vorderer Stelle in Deutschland.

27

Olkus, S. 17.

28

Vgl. hierzu Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 16-19.

Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin

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c) Mode in und aus Berlin - Kommender Standort mit neuen Impulsen für die Stadt? Das Gesicht der Modestadt Berlin hat sich inzwischen gewandelt. Charakteristisch sind heute viele kleinere Betriebe, die über die ganze Stadt verteilt sind. Manche Labels bestehen bereits seit dem Ende der achtziger Jahre. Berlin w i l l an frühere Erfolge anknüpfen und auch im Modebereich einen Bedeutungsanstieg erreichen. Man will Düsseldorf nicht nur einholen, sondern vielleicht auch überholen. Dem entsprechend sind die Erwartungen hoch gesteckt: Die Stadt soll international werden und in einem Satz mit Mailand oder Paris genannt werden. Begründet werden derartige Prognosen zum Beispiel mit der Absicht der österreichischen Firma BEV ein Showroom-Centrum am Osthafen unter dem Titel „Labels Berlin" zu errichten sowie dem Erfolg der jüngsten Modemessen. Bekanntlich fand im Januar 2005 die ,3-in-Berlin" zum ersten Mal in den Messehallen am Funkturm statt. Mit den etablierten großen Modemessen ,3read and butter" in Berlin-Spandau, „Premium" am Potsdamer Platz und verschiedenen weiteren Aktivitäten hofft man, Berlin zu einer Mode-Hauptstadt entwickeln zu können. 29

d) Rekordwachstum bei den Berliner Flughäfen und Erwartungen für die Zukunft Bereits „ in den ersten acht Monaten 2003 " konnte sich der Flughafenstandort Berlin nach Informationen der I H K Berlin mit einem Anstieg der Fluggastzahlen um 9,9 % auf Platz 2 im Vergleich mit den wichtigen deutschen Flughäfen etablieren. Den ersten Platz nahm Köln/Bonn uneinholbar mit 51,9 % ein. 3 0 Zu den positiven Entwicklungen gehört auch das für 2004 verzeichnete Rekordwachstum bei den Berliner Flughäfen: 31 Mit rund 15 Millionen Fluggästen wurde ein Anstieg um rund 12 % gegenüber dem Vorjahr 2003 erzielt. Beteiligt war hierbei vor allem Air Berlin, welche ihren Umsatz i m Jahr 2004 um 18,4 % steigern konnte und insgesamt 12 Millionen Passagiere befordert hatte. Für das Jahr 2005 erwartet die Flughafengesellschaft eine weitere Steigerung und zwar auf „mehr als 17 Millionen Passagiere". Verantwortlich sind hierfür folgende Angebote: 32 Die Fluggesellschaft Germanwings w i l l nach Easyjet mit zusätzlichen Linien nunmehr auch den Flughafen Berlin-Schöne29

Vgl. dazu Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 23.

30

Ullstein GmbH, 4. Quartal 2003, S. 30.

31

So Berliner Wirtschaft, Informationen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Airlines bauen Berlin-Angebot weiter aus, Nr. 2/ 2005, S. 16. 32

Ebd.

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feld zu „ihrem" Luftkreuz ausbauen. Air Berlin hatte Anfang 2005 wiederum verkündet, die Zahl der von ihr eingesetzten Jets von 45 auf 52 zu erhöhen sowie 350 weitere Mitarbeiter einzustellen. Die zum TUI-Konzern gehörende Hapag-Lloyd Express hat wiederum im Berliner Flugmarkt »ihr größtes Wachstumspotenzial" erkannt »und setzt dabei weiterhin auf Tegel" Die vorgenannten Angebote bzw. Planungen sind nicht zuletzt mit Hoffnungen auf einen erheblichen Wachstumsschub für neue Arbeitsplätze verbunden. Sollten ansteigende Fluggastzahlen nicht durch einen Rückschlag hinsichtlich des Ausbaus von Schönefeld zu einem Großflughafen gebremst werden, dann könnte sich der Flugverkehr von und nach Berlin zu einer tragenden Wachstumssäule entwickeln.

e) Entwicklungsimpulse durch neue Unternehmensansiedlungen, privaten Investitionen und Existenzgründungen? Neue Hoffnungen auf Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze verbinden sich insbesondere mit bereits erfolgten Unternehmensansiedlungen sowie diesbezüglichen Absichtserklärungen. Hierzu einige Fakten: Nach einer parlamentarischen Anfrage der FDP-Fraktion zur Ansiedlung von Unternehmen konnte der Berliner Senat darauf verweisen, dass sich zwischen 2001 und 2004 in Berlin insgesamt 278 Unternehmen angesiedelt haben und hier „11000 neue Arbeitsplätze schaffen und 700 Millionen Euro investieren wollen." 33 Der Chemiekonzern BASF sowie die Musiksender Viva und M T V beabsichtigen, sich in Berlin anzusiedeln. BASF plant im Ostteil ein Dienstleistungszentrum und kündigte an, hier 500-600 Arbeitsplätze zu schaffen. Viva und M T V kündigten an, ihr Musikfernsehgeschäft in Deutschland künftig in Berlin konzentrieren zu wollen. 3 4 Die zur italienischen Menarini-Gruppe gehörende Berlin-Chemie A G (Sitz in Berlin-Treptow) 35 beabsichtigt, die Zahl der Beschäftigten (2004: 3.700) »bis 2008 nahezu verdoppeln." Parallel hierzu sollen »die Produktionskapazitäten am Standort Berlin mit Investitionen von 45 Millionen € verdreifacht werden." 36 Daimler-Chrysler will in Marienfelde seinen neu entwickelten V-6-Dieselmotor produzieren sowie die Nockenwellenfertigung für Benzinund Dieselmotoren zentralisieren. Dazu sollen 300 neue Mitarbeiter eingestellt

33

Vgl. dazu im Einzelnen: Erfolgsbilanz, 278 Unternehmen, S. 7.

34

Beikler/Zawatka-Gerlach, S. 7 sowie ergänzend Beikler, S. 9.

35

Vormals VEB Berlin-Chemie, Betrieb des VEB Pharmazeutischen Kombinats GERMED Dresden; einziges Unternehmen im Ostteil der Stadt, das gegenwärtig mehr Mitarbeiter beschäftigt, als zu DDR-Zeiten (1990 = 2.009,1991 = 1.700). 36

Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 24.

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werden. Insgesamt 220 Millionen € wurden bereits investiert. 37 Hinzu kommt, dass sich ebenso mit dem Anstieg von Existenzgründungen in Berlin besondere Hoffhungen mit Blick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze verbinden. Daher wurde die Zunahme von insgesamt 16.700 Unternehmensgründungen (Saldo der Gewerbean- und -abmeldungen) im Jahr 2004 als ein positives Zeichen gewertet. 38 Dabei trug zur beschleunigten Aufwärtsentwicklung nach Angaben der Senatswirtschaftsverwaltung im hohen Maß auch die Förderung der Selbständigkeit durch Ich-AGs bei. Kritisch wurde im Rahmen unterschiedlicher Diskussionen vor allem seitens des Berliner Handwerks festgestellt, dass neu gegründete Einzelunternehmen bestehende Arbeitsplätze deswegen gefährden, weil mit der damit verbundenen dreijährigen staatlichen Unterstützung ein unlauterer Wettbewerb initiiert werde. Schließlich fallt auf, dass bei den Neugründungen der letzten Zeit die Bereiche „Spitzentechnologie" oder „Verarbeitendes Gewerbe" unterrepräsentiert waren. Sämtlichen wie auch immer ausgerichteten Aufwertungen des Wirtschaftsstandorts Berlin durch neue Unternehmen stehen in der Regel wiederum Produktionskonzentrationen und damit verbundene Produktionsverlagerungen in Richtung anderer Standorte gegenüber, die stets mit Arbeitsplatzverlusten verbunden sind. Zu hohe Kosten am Standort oder Umsatzrückgänge waren und sind Gründe, die den Unternehmen Probleme bereiten und sie auch zu einem Rückzug aus Berlin veranlassen.

f) Wissenschaft und Forschung als anerkannte Stärken Berlins Allgemein bekannt ist, dass Berlin eine für Deutschland einzigartige Dichte an Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen aufweist: 39 Vier Universitäten, einbezogen die Charite-Universitätsmedizin Berlin, zehn Fachhochschulen, drei kleinere Kunsthochschulen sowie über 60 öffentlich finanzierte außerhochschulische Forschungseinrichtungen. Damit steht ein umfangreiches Innovationspotenzial in den Wissensformen (Systemwissen, Produktwissen und Transferwissen) zur Verfügung, dass sich z.B. auf folgende Standortpotenziale begründet: Bio- und Medizintechnik einschließlich molekulare Medizin, Verkehrsforschung und -technik, Informations- und Kommunikationstechnik, Optoelektronik und Lasertechnik, Umweltforschung und -technik, Produktionstechnik und Maschinenbau. Den Nukleus im Wissenschafts- und Forschungsbereich bildet der Wissenschafts- und Forschungsstandort Adlershof (WISTA), welcher mit der Ansiedlung der naturwissenschaftlichen Fakultäten der Humboldt-Universität (HU) weitgehend komplettiert ist. In der gesamten „Stadt für Wissenschaft, 37

Ebd., S. 25.

38

Vgl. Senatsverwaltung für Wirtschaft, S. 23.

39

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht Berlin 2004, S. 64.

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Wirtschaft und Medien" befinden sich zurzeit insgesamt 375 Unternehmen, zwölf außeruniversitäre Institute sowie sechs Institute der HU. 2004 stieg hier die Beschäftigtenzahl um rd. 11 % gegenüber dem Vorjahr auf 3.585 an und der Umsatz erhöhte sich wiederum um rd. 14 % auf 336 Millionen Euro. 4 0 In Anbetracht ihrer Leistungen wurde die Wissenschaftsstadt Adlershof von der Europäischen Union bereits 2002 mit dem Titel „Region of Excellence" (Spitzenregion) ausgezeichnet. Dies führte zu der Aufnahme in ein Netzwerk, „das über 21 Forschungsregionen in Europa umfasst ." Weltweit zählt Adlershof zu den 15 größten Technologiestandorten seiner A r t . 4 1 Nicht minder bedeutungsvoll ist der Biomedizinische Forschungscampus Berlin-Buch, in dessen Aktionszentrum die Themenschwerpunkte Biomedizin, Biotechnologie, Gentechnik, Genomforschung und Bioinformatik stehen. Auf Grund der gegebenen räumlichen Verbindung von Forschungseinrichtungen wie dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, dem Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie und den Spezialkliniken der Charité für Krebs- und Herzkreislaufforschung ist der Campus auch ein gesuchter Standort für Biotechnologie-Unternehmen. Auf die Beantwortung neuer und bewährter Fragestellungen hat sich nicht zuletzt auch das Produktionstechnische Zentrum Berlin ausgerichtet. 42 Eine besondere Bedeutung haben neben den zuvor genannten beiden Großzentren zudem Innovationszentren bzw. -parks sowie Technologieorientierte Gründerzentren 43 einerseits sowie auch die Forschungspotenziale und die damit verbundenen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) der in Berlin ansässigen Wirtschaftsunternehmen wie Siemens, Schering, Daimler-Chrysler oder der Telekom 4 4 usw. andererseits. Die auch aus den vorgenannten Gegebenheiten resultierenden Stärken Berlins äußerten sich z.B. auf Grund folgender statistischer Daten: Hinsichtlich der ausgegebenen FuE-Mittel nahm Berlin 2001 mit 556 Millionen €uro den 6. Platz unter allen Bundesländern ein. Bei den FuE-Ausgaben der deutschen Hochschulen belegte Berlin 2001 mit 40

Diese und weitere Zahlen lt. Mitteilung der Geschäftsführung der WISTA-Management GmbH auf der Jahrespressekonferenz am 20.4.2005. 41

Hertel/Media Agentur und Verlag (Hg.), Hightech im Südosten Berlins; in: Bezirksmagazin Treptow-Köpenick, Ausgabe 2004/2005, S. 36. 42

Vgl. dazu dessen Jahresbericht 2003.

43

Aktuelle Informationen finden sich u.a. in: Wirtschaftsförderung, Förderfibel 2004/2005, Investitionsbank Berlin in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Wirtschaft, S. 124 ff. 44 Die Deutsche Telekom bündelt seit April 2005 mit der Eröffnung der Telekom Laboratories ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in Berlin, darüber hinaus hat die Siemens Information und Communikation Mobile in Berlin ein neues Tochterunternehmen, die Product Visionaires GmbH, gegründet, um hier insbesondere innovative Konzepte für Mobil-Geräte zu entwickeln.

Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin

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636,8 Millionen €uro im Ländervergleich den 4. Rang. 4 5 I m Falle der FuEAusgaben (Hochschulen und Wirtschaft) lag Berlin 2001 mit einem Anteil von 4,23 % seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) an der Spitze aller Bundesländer. 46 Das Ziel der Lissabon-Strategie, 3% des BIP zu erreichen, hatte Berlin damit überschritten. 47 Mit insgesamt 31.671 in FuE-Beschäftigten (Vollzeitäquivalent) 2001 entfielen auf Berlin 6,6 % des deutschen Forschungspotenzials. Nach Baden-Württemberg und Bayern (jeweils 20,7 %), Nordrhein-Westfalen (16,2 %), Hessen (8,7 %) und Niedersachsen (8 %) nahm Berlin den 6. Platz ein 4 8 Bei dem FuE-Personal der Hochschulen nahm Berlin bei fallender Tendenz mit 7.947 Personen weiterhin den 4. Rang ein. 4 9 In einer Studie des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg wurde auf der Grundlage einer neuen Berechnungsmethode für alle EU-Länder bzw. -Regionen ein Benchmarking der regionalen Innovationsfähigkeit in der EU durchgeführt. 50 Hier belegt Berlin im Ergebnis beim Innovationsranking hinter Baden-Württemberg Platz 2, gefolgt von Schweden und der île de France (Großraum Paris). I m Falle des Niveauindex ' rangiert Berlin ebenfalls nach Baden-Württemberg auf Platz 2 und im Dynamikvergleich schneidet Berlin von den fünf i m Niveauindex erstplazierten Regionen mit Platz 19 am besten ab.

g) Berlin: Gesundheitsstadt sowie Zentrum der Medizin und Medizintechnik A u f Grund der in Berlin entstandenen unterschiedlichsten Kompetenzzentren der Biotechnologie und Medizintechnik, nicht zuletzt gestützt durch die Forschungsaktivitäten in den Universitäten und Pharmaunternehmen, wird Berlin eine wachsende Bedeutung als Gesundheitsstadt und Zentrum der Medizin und Medizintechnik zugeschrieben. 51 Dies lässt sich u.a. durch folgende aktuelle Initiativen und Aktionen belegen: I m November 2004 wurde von der Siemens A G und der Universitätsklinik Charité das radiologische Forschungszentrum „Imaging Science Institute" als ein „Meilenstein " des Klinikums „ auf 45

Bundesministerium für Bildung, S. 381, S. 738 u. S. 742.

46

Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2004, S. 156.

47

Vorgabe des Europäischen Rates im März 2000 ftir die EU-Länder in Lissabon.

48

Bundesministerium fur Bildung, S. 744.

49

Bundesministerium ftir Bildung, S. 753.

50 Weinmann, S. 20-28. Die Grundlage für die hierbei notwendigen Berechnungen bilden Innovationsindikatoren wie z.B. FuE-Ausgaben, Patentanmeldungen, Beschäftigte in industriellen Hochtechnologie- und wissensintensiven Dienstleistungsbranchen usw., die zu einem Innovationsindex verdichtet werden. Der Innovationsindex (100 %) wird aus den Teilindices Niveauindex (75 %) und Dynamikindex (25 %) gebildet. 51

Vgl. Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht Berlin 2004, S. 66 ff.

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dem Weg zu einem föhrenden Zentrum der Medizin und der Innovation. " gegründet. Der vorgesehene Investitionsaufwand beträgt 4,5 Millionen € . 5 2 Darüber hinaus entsteht das „Center for Computational Neuroscience Berlin", ein neues Zentrum zur Erforschung der Hirntätigkeit. In den kommenden sieben Jahren stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung Fördermittel in Höhe von 10,3 Millionen € zur Verfügung. Das Projekt ist mit der Errichtung von drei neuen Lehrstühlen an der Charité, der H U Berlin und der T U Berlin verbunden. 53 Die Spitzenposition Berlins wird zudem durch zahlreiche medizinische Großveranstaltungen begründet. Bereits 2004 fanden im ICC zu den Themen Medizin oder Gesundheit insgesamt 670 Veranstaltungen statt, bei denen rund 287.000 Teilnehmer gezählt wurden. Der Bedeutungsanstieg wird auch 2005 von weiteren Veranstaltungen gestützt: dem „Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit" oder der „Jahrestagimg der Deutschen DiabetesGesellschaft". 54

h) Wachstumsbranchen Medien-, Informations - und Kommunikationswirtschaft Die besondere Bedeutung der Medien-, Informations- und Kommunikationswirtschaft für die Gesamtwirtschaft Berlins wurde sowohl im Wirtschaftsund Arbeitsmarktbericht Berlin 2004 der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen als auch im Bericht 2003/2004 der I H K Berlin hervorgehoben. 5 5 Dabei verweist die Senatswirtschaftsverwaltung z.B. auf folgende Fakten: Zwischen 1998-2001 wuchs sowohl die Zahl der Betriebe als auch die der erwirtschafteten Umsätze um 25 % an. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg zwischen 1998-2002 um 26 %; 2002 existierten in Berlin insgesamt 2.913 Betriebe mit 32.146 Beschäftigten; Berlin verfügt inzwischen über das größte und modernste Kommunikationsnetz Deutschlands. Die I H K Berlin verwies i m gegebenen Zusammenhang u.a. auf die Eröffnung von Firmenrepräsentanzen, den Zuzug von Verbänden oder etablierten Veranstaltungsreihen und nicht zuletzt auf die relativ breit gefächerte Struktur der Medien-, Informations- und Kommunikationsbranche.

52

Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 22.

53

Ullstein GmbH, 4. Quartal 2004, S. 27.

54

Ullstein GmbH, 1. Quartal 2005, S. 27.

55

Vgl. hierzu: Senatsverwaltung für Wirtschaft, Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht Berlin 2004, S. 68 ff. sowie Industrie- und Handelskammer zu Berlin (Hg.), Bericht 2004, S. 36.

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2. Ausgewiesene Schwächen Berlins Trotz der nur beispielhaft zusammengestellten umfangreichen Stärken haben sich die starkgewichtigen Schwächen Berlins überwiegend negativ im Rahmen von Standortvergleichen deutscher Städte und Länder ausgewirkt.

a) Bruttoinlandsprodukt

(BIP)

2004 ist die Berliner Wirtschaft erstmals wieder real um 0,4 % als Folge einer leichten konjunkturellen Besserung - wenn auch nur schwach - gewachsen. Damit erreichte die Stadt im Ländervergleich den letzten und damit 16. Platz hinter Brandenburg (0,9 %), Sachsen-Anhalt (0,9 %) und MecklenburgVorpommern (0,8 %). Bayern und Sachsen belegten mit jeweils +2,3 % die Spitzenplätze. Gegenüber 2003 konnte sich Berlin rangmäßig nicht verbessern, hier wurde ebenso Platz 16 belegt. 56 Die Wachstumsrückgänge in den Minusbereich setzten 1996 mit einem Spitzenwert von -2,5 % (gegenüber dem Vorjahr) ein. Nur im Jahr 2000 konnte ein deutliches Wachstumsplus von +1,1 % verzeichnet werden. 57

b) Arbeitsmarkt:

Arbeitslose und Arbeitslosenquote

Die Arbeitslosigkeit steigt in Berlin kontinuierlich an. I m Jahr 2003 waren im Jahresdurchschnitt insgesamt 288.285 und 2004 bereits 306.462 Arbeitslose (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen) erfasst. 58 Mit insgesamt 331.095 Arbeitslosen hat Ende Februar 2005 die Arbeitslosigkeit in Berlin einen neuen Höchststand erreicht. Bei einer Arbeitslosenquote von 19,6 % erreichte die Hauptstadt im Ländervergleich im Jahresdurchschnitt Platz 12. Baden-Württemberg belegte den ersten Platz (7,2 %), gefolgt von Bayern (9,1 %), Hessen (9,3 %), Rheinland-Pfalz (9,8 %). Hinter Berlin rangieren Sachsen (20,1 %), Brandenburg (20,6 %), Sachsen-Anhalt (22,6 %) und Mecklenburg-Vorpommern (23,6 % ) . 5 9 Noch im Jahr 2003 wurde für Berlin eine Arbeitslosenquote von 18,1 % (jahresdurchschnittlich) ermittelt. Damit lag die Hauptstadt weit hinter Baden-Württemberg (6,2 %), Bayern (6,9 %), auf Platz 13, jedoch noch 56

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Zur wirtschaftlichen Lage in Berlin 1/2005, S. 7. Nach dem inzwischen auf Bundesebene leicht nach unten veränderten BIP liegt die reale Veränderungsrate für 2004 bei+ 0,6. 57

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Zur wirtschaftlichen Lage in Berlin IV/2004, S. 33.

58

Vgl. Statistisches Landesamt Berlin, Statistisches Jahrbuch 2004, a.a.O., S. 227.

59

Eubel/Beikler, S. 15 (Datenquelle: Bundesagentur für Arbeit).

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vor Brandenburg (18,8 %), Mecklenburg-Vorpommern (20,1 %) und SachsenAnhalt (20,5 % ) . 6 0 Zunehmende Arbeitslosigkeit wird in Berlin nicht nur im Bereich des Produzierenden Gewerbes registriert. Der Prozess des Arbeitsplatzabbaus vollzieht sich besonders im Baugewerbe mit einer großen Dynamik. Doch ebenso der Einzelhandel ist betroffen und auch der Banken- und Versicherungsbereich baut im Rahmen von Kostenreduzierungen Arbeitsplätze ab.

c) Anstieg der Insolvenzen Seit dem Anfang der neunziger Jahre nehmen in Berlin die Insolvenzen vor dem Hintergrund anhaltender wirtschaftlicher Schwächen zu. 2003 wurden insgesamt 2.161 Insolvenzen registriert, mehr als in den vorangegangenen Jahren. 6 1 Angestiegen sind die Insolvenzen vor allem im Handel, Gastgewerbe und in der Bauwirtschaft. Betroffen von Insolvenzen waren 1.153 zumeist jüngere, bis acht Jahre alte Unternehmen. Zu den Gründen für Insolvenzen zählen insbesondere Finanzierungsfehler sowie ebenso Marketing-Mängel usw.

d) Exportschwäche Berliner Unternehmen Anders als die Importe, verringern sich die Exporte im Jahr 2004 gegenüber dem Voijahr um 1,3 %. Kritisch wird dazu im Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht 2004 der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen festgestellt: „Nach wie vor gilt, dass die Berliner Exportquote immer noch niedrig ist (im Vergleich zum Bundesdurchschnitt) " . 6 2 Als eine der Ursachen wird hierfür eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit Berliner Unternehmen - mit Ausnahme der forschungsintensiven Großunternehmen - verantwortlich gemacht. Fest steht, dass Berlin ohne ein ausgeprägtes Exportvermögen der Unternehmen keine Chancen für ein Wirtschaftswachstum hat und ein Abbau der Arbeitslosigkeit nur über ein deutliches Wirtschaftswachstum realisiert werden kann.

e) Verbesserungsbedarf

bei Patentanmeldungen

I m Rahmen eines Vergleichs der 16 Bundesländer hatte Berlin i m Jahr 2002 mit einem Anteil von 2,2 % an den deutschen Patentanmeldungen Platz 8 erreicht. A n der Spitze lag Bayern (27,5 %), gefolgt von Baden-Württemberg 60

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht Berlin 2004, S. 25.

61

Vgl. Statistisches Landesamt Berlin, Statistisches Jahrbuch Berlin 2004, S. 238.

62

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht Berlin 2004, S. 14.

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(24,9 %) und Nordrhein-Westfalen (17,5 %). Bezieht man hingegen die Anzahl der angemeldeten Patente auf jeweils 100.000 Einwohner, dann würde Berlin (Berechnungsjahr 2002) mit 34 Anmeldungen ebenso Rang 8 belegen. Die Spitzenpositionen nahmen in diesem Fall Baden-Württemberg (122), Bayern (116) und Hamburg (71) ein. 6 3 Fest steht, dass mit Ausnahme des Jahrs 1998 die Anzahl der Berliner Patentanmeldungen von Jahr zu Jahr weniger geworden sind. Obwohl Berlin hinsichtlich seiner Forschungsausgaben einen hohen Rang einnimmt, muss es hinnehmen, dass es im Fall eines nationalen oder internationalen Vergleichs der Patentintensitäten der EU zwischen 1990-2000 nicht berücksichtigt w i r d . 6 4

f) Schulden des Landes Berlin und Haushaltsnotstand Ein Kardinalproblem des Landes Berlin stellt dessen extrem hohe Verschuldung dar. Der Schuldenstand beträgt gegenwärtig insgesamt 56 Mrd. €. 2006 wird die 60 Milliardengrenze überschritten. Die Verschuldung hat i m Jahr 2004 den Landeshaushalt mit 2,3 Milliarden € belastet. Hinsichtlich seines Schuldenstands liegt Berlin im Vergleich zu den anderen Bundesländern mit einer Verschuldung von 63,1 % des Bruttoinlandsprodukts 2003/2004 weit vor Bremen (45,4 %), Sachsen-Anhalt (45,2 %), Brandenburg (40,1 %) und MecklenburgVorpommern (39,1 %). A n letzter Stelle steht Bayern mit 9,3 %. Die Sanierung des defizitären Haushalts zwingt zu drastischen Sparmaßnahmen. So werden die öffentlichen Investitionen über 2007 hinaus auf 1,6 Milliarden € eingefroren. Das einzige Großprojekt, das neu in die Investitionsplanung eingestellt wird, ist die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW), die in Oberschöneweide für 108 Millionen € einen neuen Campus erhält. Bund und Land teilen sich die Kosten. 65

V I . Ausgewiesene Schwächen des Standorts Berlin Die nachfolgenden vier Beispiele aus der Palette aktueller Untersuchungen greifen erkannte Probleme und ausgewiesene Schwächen der Stadt auf und sind der Grund für die Zuweisung hinterer Plätze i m Rahmen von Rankings oder 63

Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt, zit. in Senatsverwaltung für Wirtschaft, Innovationsbericht des Landes Berlin 2003, S. 3. 64

Vgl. Zopp6, S. 1-7.

65

Zawatka-Gerlach, S. 9.

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Berlinspezifischen Standortanalysen. In der Regel rangierte Berlin im Fall von Ländervergleichen nur auf den letzten Plätzen, bei Städtevergleichen hingegen bestenfalls i m Mittelfeld. Advis-Studie vom Dezember 2003: 6 6 Hiernach wird die Funktion Berlins als Hauptstadt und Regierungssitz im In- und Ausland als wichtigstes Merkmal Berlins angesehen. Bei der Beurteilung als Wirtschaftsstandort stand das Positive im Vordergrund. Was hingegen die möglichen Auswirkungen der Haushaltsnotlage anbetrifft, neigte die Mehrheit der deutschen Befragten zu einer pessimistischen Sicht. Berlins Stärken als Wissenschaftsstandort wurden in erster Linie von den befragten Wissenschaftlern wahrgenommen, bei den Befragten aus den Unternehmen standen diese Stärken hingegen nicht im Vordergrund. Die Beantwortung der Frage nach der Wissenschaftsfreundlichkeit der Berliner Landespolitik erhielt die schlechteste Bewertung der gesamten Befragung. 6 7 Die Kultur-, Freizeit- und Erholungsangebote wurden allgemein im Inund Ausland positiv bewertet. Aus deutscher Sicht wird Berlin zudem als Stadt für junge Menschen wahrgenommen. Zeitschrift Wirtschaftswoche vom April 2004: 6 8 I m Fall der gewählten Bewertungsindikatoren Wohlstand, Arbeitsmarkt, Standortqualität, Wirtschaftsund Sozialstruktur sowie Kommunalfinanzen der 50 größten Städte Deutschlands erreichte Berlin, ausgehend von einem Niveau- und Dynamikranking, in der Gesamtwertung Rang 48 mit 70,2 Punkten. I m Falle des Niveauranking wurde Platz 47 mit 34,3 Punkten und des Dynamikrankings Platz 49 mit 35,8 Punkten erreicht. Zeitschrift Capital vom Januar 2005: 6 9 60 deutsche Großstädte wurden auf Basis der gewichteten Bewertungsindikatoren Wirtschaftsleistung, Arbeitsplätze, Bevölkerung und Kaufkraft pro Kopf miteinander verglichen. Bei diesem Ranking erreichte Berlin Platz 32. Prognos A G vom Januar 2005: 7 0 Untersuchung über die Familienfreundlichkeit der 439 deutschen Kreise und kreisfreien Städte nach 16 Indikatoren der Familienfreundlichkeit. Analysiert wurden z.B. Geburtenrate, Bildungsund Arbeitsmarkt, Kinderbetreuungsangebot, Sicherheit und Wohlstand. In der Untersuchung wurden Berlin wie anderen Städten und Regionen in den neuen 66

Advis, Das Image Berlins.

67

Advis, Das Image Berlins, S. 47.

68

Losse, S. 22-31.

69

Luca, S. 14-19.

70

Familienatlas 2005, erstellt im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit" und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zitiert in: Süddeutschland ist für Familien, S. 1 sowie S. 8 f.

Der Wirtschaft- und Technologiestandort Berlin

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Ländern fehlende Perspektiven bescheinigt. Für Berlin waren hierfür im Einzelnen die hohe Arbeitslosigkeit, die hohen Schulabbruchsquoten, die niedrigen Geburtenraten und damit sinkende Kinderzahlen sowie die Abwanderungen von Familien in das Umland verantwortlich. Die Hauptstadt wurde daher mit den ebenfalls besonders kritisch bewerteten Städten und Regionen an die vorletzte Stelle des Städtevergleichs eingeordnet. Andererseits schnitt Berlin in den Bereichen Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf überdurchschnittlich ab.

V I I . Resümee: Forderungen und Empfehlungen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit Berlins Allgemein wird anerkannt, dass die im Zeitablauf steigenden Anforderungen an den Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin stets neue Antworten auf gestellte Fragen und Handlungsansätze verlangen, damit sich die Stadt und ihre Akteure den sich im Prozess wandelnden Bedingungen erfolgreich anpassen können. Dazu ist es notwendig, dass Berlin seine eigenen Stärken ausbauen muss, um aus eigener Kraft eine Standortqualifizierung auf der Grundlage bereits bewährter und neuer Schwerpunktsetzungen zu erreichen. Nur allein auf Hilfen von Außen zu hoffen, wäre ein Trugschluss. Auf Handlungszwänge weisen bereits die genannten Schwächen hin. Schwachpunkte stellt eine im Auftrag des Regierenden Bürgermeisters 2003 erarbeitete „Berlin-Studie" aus. Hierin wird betont, dass für erkannte Handlungsfelder und Maßnahmenbereiche „ Umsetzungs- und Implementationsdefizite" erkennbar seien. „Ursachen sind vor allem strukturelle Probleme und Defizite des politisch-administrativen Systems 71 der Stadt. " Aus der Fülle der in der Studie aber auch von anderer Seite vorgetragenen Handlungszwänge sind zu nennen: Quantitativer Ausbau der Hochschulen und deren regionale Vernetzung; Ausbau regionaler Wachstumskerne und Kompetenzzentren durch gezielte Wirtschaftsforderung zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit; Förderung von Kristallisationspunkten einer ergebnisorientierten Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft sowie einer nachfragegestützten Forschung; Lösung von Transferproblemen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft; Die für Berlin wichtige Ausrichtung auf Innovationen muss sich in der Politik des Senats ausdrücken und auch die Bezirksverwaltungen erfassen. Bei allen Problemen und notwendigen Handlungszwängen ist festzustellen: Berlin weist im Vergleich mit anderen deutschen Städten umfangreiche Stärken auf. Es verfugt über eine anerkannte Erlebniswelt sowie erstklas-

71

Vgl. Die BerlinStudie, S. 34. Zu den Handlungsfeldern vgl. S. 33 ff.

48

Klaus Krakat

sige wissenschaftliche und kulturelle Qualitäten. Aufgrund der vielen Neubauten hat es sich ebenso zu einem besonderen Zentrum von Architektur und Design mit besonderer Ausstrahlungskraft entwickelt.

Literatur Advis. Das Image Berlins als Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort, Ergebnisse einer nationalen und internationalen Unternehmensbefragung, Ergebnisse einer Wissenschaftlerbefragung, Studie der Partner für Berlin im Auftrag der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Berlin, Dezember 2003. Beikler , Sabine: Für Berlin spricht die Qualität des Personals. In: Der Tagesspiegel vom 2.3.2005, Berlin, S. 9. — / Zawatka-Gerlach , Ulrich: Hier stimmt die Chemie, hier spielt die Musik. In: Der Tagesspiegel vom 1.3.2005, Berlin, S. 7. Berliner Wirtschaft. Februar 2005.

Informationen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, 55. Jg., Nr. 2,

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Bundesbericht Forschung 2004, Deutschland. Das von morgen. Bonn-Berlin 2004. Die BerlinStudie - Strategien für die Stadt. Hg.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei. Berlin 2003. Erfolgsbilanz . 278 Unternehmen kamen nach Berlin. In: Der Tagesspiegel vom 1.3.2005, Berlin, S. 7. EubeU CovduXdJBeikler, Sabine: Dramatischer Rekord, Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Keine neuen Antworten. In: Der Tagesspiegel vom 2.3.2005, Berlin, S. 15. Fischer , Joachim/fW, Ramona/Semlinger, Klaus: Berlins Industrie nach der Wiedervereinigung, Was bringt die neue Gründerzeit? Investitionsbank Berlin (Hg.): Edition StadtWirtschaft, Berlin 2000,2. Aufl. Industrie - und Handelskammer zu Berlin (Hg.): Bericht 2004, Redaktionsschluss: 4. März 2004. Industrie - und Handelskammer zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Handwerkskammer Berlin, Berliner Wirtschaft in Zahlen, Neuauflage [o.O., o.J.]. Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TU Berlin und die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen (Hg.): Gestaltung des modernen Fabrikbetriebes im Spannungsfeld neuer Fertigungstechnologien, ökonomischer Chancen und sozialen Wandels in der DDR, vorgezogener Bericht der Pilotphase eines gemeinsamen Forschungsprojektes, Berlin, den 30.5.1990. Investitionsbank Berlin in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Wirtschaftsförderung, Förderfibel 2004/2005. Der Ratgeber für Unternehmen und Existenzgründungen, Berlin, April 2004.

Der Wirtschafts- und Technologiestandort Berlin

49

Krakau Klaus: Die Entwicklung der Industrie in Berlin seit der Wiedervereinigung. In: Deutschland auf dem Weg zur inneren Einheit. Hrsg. von Karl Eckart/Konrad Scherf. Berlin 2004, S. 69-118. — Deutsche Industrieregionen: Strukturwandel am Beispiel des Industriestandortes Oberschöneweide in Berlin. In: Berlin - Brandenburg, Raum- und Kommunalentwicklung im Spannungsfeld von Metropole, Umland und ländlichem Raum. Hrsg. von Karl Eckart/Klaus Birkholz. Berlin 1999, S. 219-241. — Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/1990). In: Am Ende des realen Sozialismus, Band 2, Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren. Hrsg. von Eberhard Kuhrt/Hannsjörg F. Buck/Gunter Holzweißig. Opladen 1996, S. 137-176. Losse, Bert: Lichtjahre entfernt, München - Frankfurt/Main - Berlin, kommunale Vergleichsstudie von Wirtschaftswoche, der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft (INSM) und der Kölner IW Consult GmbH über Wachstum, Wohlstand, Jobs sowie Lebensqualität der 50 größten Städte. In: Wirtschaftswoche vom 15.4.2004, S. 22-31. Luca, Claudio de: Die Hoffhungsträger. Die wirtschaftliche Flaute hinterlässt ihre Spuren auch in den großen deutschen Städten. Ein Capital-Test zeigt, welche Kommunen gegen den Trend überaus erfolgreich sind. In: Capital H. 2,5. Januar 2005, S. 14-19. Olkus, Harald: Treffpunkt Hauptstadt. Tagungen und Kongresse sind ein wachsender Wirtschaftszweig in Berlin. In: Der Tagesspiegel vom 22.3.2005, Berlin, S. 17. Produktionstechnisches Zentrum Berlin, Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb der TU Berlin und Fraunhofer Institut Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (Hg.): Jahresbericht 2003. Senatsverwaltungför Wirtschaft (Hg.): Gesamtberliner Landesregierung von Senat und Magistrat, 19. Bericht über die Lage der Berliner Wirtschaft, November 1990. Senatsverwaltung für Wirtschaft, 2003.

Arbeit und Frauen (Hg.): Innovationsbericht

des Landes Berlin

Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen (Hg.): Tourismuskonzept Hauptstadtregion Berlin, Stand: Juli 2004. Senatsverwaltung für Wirtschaft 1995.

und Technologie (Hg.): Wirtschaftsbericht

Senatsverwaltung för Wirtschaft, Arbeit und Frauen (Hg.): WirtschaftsBerlin 2004, Redaktionsschluss: 30.6.2004.

für die

Berlin 1995, Stand

und Arbeitsmarktberi

Senatsverwaltung för Wirtschaft, IV/2004.

Arbeit und Frauen (Hg.): Zur wirtschaftlichen

Lage in Berlin

Senatsverwaltung för Wirtschaft, 1/2005.

Arbeit und Frauen (Hg.): Zur wirtschaftlichen

Lage in Berlin

Standke, Kl&us-Heinrich/Ronzheimer, Manfred: Der Innovationsstandort Berlin, Zusammenfassung der Ergebnisse des Faktenberichts zum Wirtschaftsforum „Wie aus Wissen Arbeit wird - Der Innovationsstandort Berlin", 21. Juni 2004, als Manuskript gedruckt. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hg.): Statistisches Jahrbuch 2004 für die Bundesrepublik Deutschland. Statistisches Landesamt Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch 2004.

Klaus Krakat

50

Süddeutschland ist für Familien am besten. In: Der Tagesspiegel vom 21.1.2005, Berlin, S. 1, 8-9. Ullstein

GmbH, Wirtschaftsstandort

Berlin 4. Quartal 2003 mit freundlicher Unterstützung der

IHK Berlin. — Wirtschaftsstandort

Berlin 4. Quartal 2004 mitfreundlicher Unterstützung der IHK Berlin.

— Wirtschaftsstandort

Berlin 7. Quartal 2005 mitfreundlicher Unterstützung der IHK Berlin.

Weinmann , Thomas: Baden-Württemberg ist die innovativste Region der EU. In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Statistisches Landesamt Baden-Würtemberg, Nr. 10/2004, S. 20-28. Zawatka-Gerlach , Ulrich: Nur Bildung darf noch was kosten. In: Der Tagesspiegel vom 16.2.2005, Berlin, S. 9. Zoppe , Alice: Patentaktivitäten in der EU: Trend zu High-Tech-Patenten 1990-2000; Statistik kurz gefasst, Wissenschaft und Technologie, Thema 9-1/2002, Eurostat, Europäische Gemeinschaften, 2002, S. 1-7.

Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen und Geburtenentwicklung in den fünf neuen Bundesländern 1990-2003 Von Lothar Mertens I . Einleitung Fünfzehn Jahre nach der deutschen Vereinigung kann für die Eheschließungen und -Scheidungen in den fünf neuen Bundesländern eine Zwischenbilanz gezogen werden. 1 Generell ist ein schneller Wandel und eine rasche Anpassung in den Lebensformen sowie ein verändertes Scheidungsverhalten auf dem Gebiet der früheren D D R 2 in den ersten Jahren des Vereinigungsprozesses zu konstatieren. I m Vergleich zur alten Bundesrepublik war in der DDR der institutionelle Charakter der Ehe schwächer ausgeprägt. Die Funktion der Familie war tendenziell auf die Funktionen Konsum und Versorgung beschränkt, 3 da andere familiäre Aufgaben, wie etwa die Erziehung und Betreuung von Kindern, infolge der hohen Frauenerwerbstätigkeit aus dem inneren Zirkel der Familie ausgelagert und weitgehend staatlichen Einrichtungen oblagen, die dafür einen umfangreichen sozialpolitischen Katalog bereithielt. Der reduzierte Verpflichtungscharakter der Ehe begünstigte ebenso eine hohe Bereitschaft zur Heirat, da die institutionelle »Abschreckungsfunktion" (Höhn/Dorbritz) nur vermindert gegeben war, die sozialpolitischen Maßnahmen der SED wie zinslose Kredite für Eheleute begünstigten die Eheschließungen noch. Die Institution Ehe wurde in der DDR immer seltener als eine lebenslange, unauflösliche Verbindung angesehen. Die Auflösung der Partnerschaft war ein von vornherein einkalkuliertes Risiko bei der Eheschließung,4 da die soziale Funktion der Ehe als einer sicherheitsspendenden Einrichtung sich in der DDR, aufgrund der allumfassenden Sozialpolitik des sozialistischen Staates, mehr und mehr aufgelöst hatte. Die Paarbeziehung als einer langjährigen Schicksalsgemeinschaft wandelte

1

Siehe auch Mertens, Eheschließungen, S. 982 ff.

2

Ausführlich dazu Mertens, Familiennorm; Ders., Ulbricht.

3

Höhn/Dorbritz, S. 156.

4

Meyer, S. 40. Vgl. Klein, Ehescheidung, S. 76 ff.

Lothar Mertens

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ihren Charakter daher faktisch zunehmend immer mehr zu einer befristeten Lebensabschnittsgemeinschaft, wenngleich der Wert einer lebenslangen Partnerschaft nach wie vor noch Bestand hatte.5 Mit der stetig ansteigenden Zahl von Zweit- und Dritteheschließungen büßte, parallel zum Bedeutungsverlust der Institution Ehe, auch das gesellschaftliche (konfessionell unterstützte) Stigma der Geschiedenen stark an Bedeutung ein, 6 die sozialen und normativen Barrieren sanken, da Eheauflösung und Partnertrennung zu einem festen Bestandteil des realen Familienbildes wurden. Die deutliche Veränderung dokumentierte der wachsende Prozentsatz von Ehen, in denen beide Partner bereits einmal geschieden waren. Waren im Jahre 1950 nur bei jeder 25. Trauung beide Ehepartner schon einmal geschieden, so hatte sich der Anteil bis zum Jahre 1970 verdoppelt, als bereits bei jeder zwölften Eheschließung beide Partner zumindest einmal geschieden waren. Es heirateten immer mehr bereits Geschiedene ein zweites, drittes oder gar viertes Mal. 7 Die soziologische Kategorisierung zeitweilig zusammenlebender Personen als „Lebensabschnittspartner" war daher in der DDR bereits frühzeitig berechtigt.

n . Eheschließungen Durch die Aufhebung der staatlichen Reglementierung bei der Wohnungsvergabe, die eine Zuteilung generell nur an verheiratete Paare vorsah und daher als existentielles Eheschließungsmotiv in der DDR sehr häufig war, kam es in den neuen Bundesländern nach 1990 bei den Lebensformen nicht nur zu einer Pluralisierung, sondern auch zu einer raschen Anpassung an die Verhältnisse in den alten Bundesländern. Die Stichproben des Familiensurvey veranschaulichen diesen Wandel. 8 Waren in den fünf neuen Ländern i m Jahre 1990 noch 70,3 % der Befragten verheiratet, so sank die Ziffer bis zum Jahre 1994 bereits auf 63,4 % ab. Der Anteil der zusammenwohnenden Ledigen hatte sich von 4,8 % (1990) auf 7,5 % (1994) erhöht, 9 wobei fast jede zweite nichteheliche Lebensgemeinschaft mindeijährige Kinder umfasste. 10 Noch deutlicher ist der 5

Winkler, S. 273 f. Siehe auch Kaufmann, S. 39.

6

Kuhrig, S. 806; Meyer, S. 40.

7

Grandke/Rieger, S. 68. Zu deren Eheschließungsmotiven siehe ausführlich Grutza, S. 42 ff.

8

Siehe auch „'Ehen ohne Trauschein* in jedem 15. Privathaushalt"; Thüringer Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 135 vom 14. Mai 2004. 9

Berechnet nach MaTbach/Bien/Bender, S. 29, Tab. 1.

10

,Jedes zweite Paar ohne Trauschein in Thüringen mit Kindern"; Thüringer Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 197 vom 23. Juli 2004.

Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen

53

Trend des Zusammenlebens ohne Trauschein in der Gruppe der 18- bis 30-Jährigen, der mit einer veränderten Einstellung zur Ehe korreliert. 11 Hier sank die Quote der Verheirateten von 44,3 % (1990) um ein Drittel auf 30,4 % (1994) ab, während im gleichen Zeitraum der Anteil der zusammenwohnenden Ledigen um über die Hälfte anstieg: von 13,5 % auf 22,1 % (1994). 1 2 Als Gründe für diese Entwicklung sind nicht nur ein Wegfall des Heiratszwangs aufgrund eines freien Wohnungsmarktes sowie die fehlenden staatlichen finanziellen Anreize (in der DDR erhielten junge Ehepaare unter 26 Jahre zinslose Kredite von bis zu 10.000 DDR-Mark) zu nennen, sondern auch die berufsbedingte Notwendigkeit zur Mobilität, welche die Bereitschaft zu festen, längerfristigen Bindungen minderte. In Tabelle 1 sind die Eheschließungen der letzten sechs DDR-Jahre denen der ersten sechs Vereinigungsjahre gegenübergestellt, um die enorme Veränderung zu dokumentieren. Tabelle 1 Eheschließungen in der DDR 1984-1989 und den fünf neuen Bundesländern 1991-1996 Jahr 1984 1985 1986 1987 1988 1989

Eheschließungen 133.900 131.514 137.208 141.283 137.165 130.989

Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996

Eheschließungen 45.131 42.784 43.976 46.919 48.810 50.824

Das Heiratsalter stieg innerhalb einer Dekade um rund drei Jahre an, das durchschnittliche Heiratsalter lediger Männer bei der Eheschließung erhöhte sich zwischen 1992-2002 von 26,3 auf 30,7 Jahre und das der Frauen von 24,4 auf 27,8 Jahre. 13 Gründe für das gestiegene Heiratsalter waren neben der entfallenen Notwendigkeit einer Eheschließung bei der Wohnungssuche, die längeren Ausbildungszeiten (insbesondere beim Studium), sowie die allgemeine

11 Bei der Frage „Ehe als Lebenssinn" sank der Skalenwert von 3,25 (1990) auf 3,15 (1994), während die Zustimmung bei der Frage „Ehe als Belastung" von 2,47 (1990) auf 2,54 (1994) stieg; Bien, S. 262, Tab. 10. 12 13

Berechnet nach Marbach/Bien/Bender, S. 32, Tab. 2.

Siehe Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung 188 vom 10. Nov. 2003. Analog die Entwicklung in Thüringen, wo im Jahre 2002, nach Jahren des kontinuierlichen Anstiegs ein leichtes Absinken um durchschnittlich ein Jahr konstatiert wurde: Thüringer Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 321 vom 6. Nov. 2003.

Lothar Mertens

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soziale Unsicherheit. In den achtziger Jahren war der Anstieg deutlich geringer ausgefallen (1980 und 1989: bei ledigen Männern von 23,4 auf 25,3 Jahre und bei ledigen Frauen von 21,3 auf 23,2 Jahre). Während sich die Zahl der Ehen in Sachsen und Thüringen i m Vergleich der Jahre 1991 und 2003 kaum veränderte, stieg sie in Mecklenburg-Vorpommern deutlich um fast die Hälfte; allerdings war i m nördlichsten Bundesland auch zu Beginn der neunziger Jahre der Rückgang besonders dramatisch gewesen. Tabelle 2 Eheschließungen in den neuen Bundesländern 1991-2003 Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Brandenb. Meckl.-V. 8.328 7.901 7.901 8.502 8.775 8.756 8.709 9.266 10.219 9.804 9.744 9.650 9.974

5.465 5.386 5.458 5.626 6.113 6.490 6.299 6.903 8.029 8.083 7.869 7.901 7.872

Sachsen 14.731 13.405 13.808 14.795 15.474 15.402 15.287 15.648 17.145 16.482 15.421 15.188 14.778

Sachs.-A. Thüringen 8.301 8.329 8.854 9.415 9.667 9.534 9.285 9.485 10.667 10.310 9.359 9.274 9.314

8.306 7.763 7.955 8.581 8.781 8.646 8.619 8.591 9.296 9.067 8.575 8.597 8.372

Gesamt 45.131 42.784 43.976 46.919 48.810 50.824 48.199 49.893 55.356 53.746 50.968 50.610 50.310

Seit dem allgemeinen Tiefpunkt der Eheschließungen 1992 stieg ihre Zahl in allen fünf Ländern relativ kontinuierlich bis 1999. Doch seit diesem absoluten Höchststand in der Nachwendezeit nahm die Heiratsbereitschaft wieder deutlich ab; vor allem der anhaltend hohe Fortzug junger Menschen ist dabei ein wichtiger Grund. Der sprunghafte Anstieg der Eheschließungen im Jahre 1999 war überdies einem besonderen Datum geschuldet, dem 9.9.99. So ließen sich z.B. in Brandenburg alleine an diesem Tag 1.167 Paare standesamtlich trauen: d.h. 11,4 % aller Eheschließungen des Jahres erfolgten an dem Datum, während es sonst in Brandenburg nur durchschnittlich 25 Heiraten je Werktag gab. I m Vergleich zu den 1980-er Jahren mit ca. 20.000 Eheschließungen jährlich in den damaligen DDR-Bezirken Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam, lag die Zahl in den 1990-er Jahren nur noch halb so hoch. 14 14

Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg, Pressemitteilung 89 vom 23. Juni 2004.

Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen

55

Für Brandenburg, wo der Familienstand bei der Eheschließung gesondert ausgewiesen ist, ergibt sich für 1999 eine kontinuierlich sinkende Zahl von Eheschließungen, in denen beide Partner ledig waren (55,2 gegenüber noch 58,2 % i m Jahre 1997) und zugleich eine wachsende Anzahl von Eheschließungen, wo zumindest ein Partner schon einmal geschieden war (1997 40,8 %, i m Jahre 2002 60,7 %). Aber auch der Anteil der Trauungen, in denen Mann und Frau schon eine gescheiterte Ehe hinter sich hatten, stieg beharrlich auf ein Fünftel aller Eheschließungen an (1999: 19,6 %, im Jahre 1997: 17,5 % ) . 1 5

H I . Ehescheidungen Die sozio-ökonomischen Unsicherheiten im Vereinigungsprozess haben die Scheidungsbereitschaft deutlich absinken lassen, da die allgemeine Verunsicherung anfanglich sehr groß war. Der immense Rückgang der Scheidungsziffern zu Beginn der neunziger Jahre war außerdem eine Folge der Umstellung des Rechtssystems, durch die es aufgrund der personellen Neuordnung des Justizwesens zu einer verzögerten Antragsbearbeitung kam, höhere Verfahrenskosten entstanden,16 und darüber hinaus, infolge der nun geltenden bundesdeutschen Rechtsbestimmungen, die Bedingung des einjährigen Trennungsjahres einzuhalten war. 1 7 Außerdem wurden aufgrund der unvertrauten neuen Situation anfänglich Ehen noch aufrechterhalten, die dann, mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung, doch noch geschieden wurden. 18 Die deutlich geringere Zahl von Eheauflösungen beeinflusste zu Beginn der neunziger Jahre sogar die gesamtdeutschen Scheidungsziffern nachhaltig, obgleich die Bevölkerung in den fünf neuen Ländern quantitativ nur etwa einem Fünftel der Gesamtpopulation der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Auffallend ist eine steigende Zahl von Scheidungen langjähriger Ehen. Erfolgten zum Beispiel in Thüringen im Jahre 1995 noch 27,5 % aller Scheidungen nach einer Ehedauer von unter sechs Jahren, so entfielen 1999 nur noch 15,6 % der gerichtlichen Trennungen auf diese Gruppe.

15 Statistische Berichte. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene im Land Brandenburg 1997 bzw. 1999. Potsdam 1998 bzw. 2000, S. 4. 16

Wagner, S. 158 ff.; Dorbritz, S. 190; Peuckert, passim.

17

In Brandenburg dauerten die Verfahren 1995 durchschnittlich 13,8 Monate, im Jahre 1996 bereits 16,2 Monate: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg, Pressemitteilung 54 vom 22. Mai 1996 u. Nr. 63 vom 22. Apr. 1997. 18

Schneider, S. 307.

Lothar Mertens

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Tabelle 3 Ehescheidungen in allen fünf neuen Bundesländern (ohne Ost-Berlin) zusammen 1991-2003 Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Ehescheidungen absolut 8.130 9.103 17.268 20.992 21.480 22.752 26.537 29.033 28.805 29.437 29.071 28.988 30.151

je 10.000 Einwohner Fünf neue Altes Bundesländer Bundesgebiet 5,6 19,9 6,5 19,2 11,7 21,1 21,7 14,7 15,1 21,9 16,0 22,5 18,8 23,7 20,7 24,0 20,6 23,8 21,2 24,2 24,6 21,1 21,2 25,5 22,2 26,7

Der Anteil der Scheidungen nach 21 und mehr Ehejahren stieg i m gleichen Zeitraum erheblich (von elf auf 18 %), so dass immerhin jedes 13. Paar bereits die Silberhochzeit schon hinter sich hatte. 19 I m Land Brandenburg war dies i m Jahre 2000 bei jeder zehnten Trennung und 2002 bereits bei jeder achten Scheidung der Fall; dies galt auch für Thüringen. 20 I m Freistaat Sachsen erfolgte im Jahre 2003 sogar jede siebte Ehescheidung nach mehr als 25 Jahren Dauer. 21 I n Sachsen verfünffachte sich außerdem die Zahl der Ehen von 58 (1991) auf 299 (1999), welche nach über dreißig Jahren Ehedauer geschieden wurden. Das Klageverhalten hat sich gegenüber der Zeit vor 1990 kaum verändert. So wurden in Thüringen 1999 die Scheidungsanträge zu über zwei Dritteln (69 %) von Frauen gestellt, in Sachsen-Anhalt zu 71 % . 2 2 Erheblich sind regionale Unterschiede i m Klageverhalten, die mit dem Grad der Frauenerwerbstätigkeit korre19

Thüringisches Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 49/2000.

20

Landesamt ftir Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg, Pressemitteilung 48 vom 9. Apr. 2001 u. Nr. 32 vom 13. März 2003; Thüringisches Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 321 vom 6. Nov. 2003. 21 22

Statistisches Landesamt Freistaat Sachsen, Pressemitteilung 119 vom 13. Mai 2004.

Thüringisches Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 49/2000; Statistischer Bericht. Gerichtliche Ehelösungen 1991-1999 Land Sachsen-Anhalt, Halle/S. Juni 2000, S. 3.

Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen

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lieren und die ein Indiz für eine größere ökonomische Unabhängigkeit sein dürften. Tabelle 4 Ehescheidungen in den fünf neuen Bundesländern 1991-2003 Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Brandenb. 1.614 1.687 3.341 3.851 3.949 4.016 5.231 5.543 5.561 6.010 6.043 5.829 6.107

Meckl.-V. 1.180 1.256 2.126 2.540 3.128 3.595 3.815 3.891 3.456 3.951 4.021 3.505 3.677

Sachsen 2.194 2.010 5.116 6.519 7.043 7.754 8.470 9.337 8.748 8.775 8.430 8.515 8.946

Sachs.-A. 1.519 1.917 4.042 4.287 3.867 3.432 4.494 5.274 6.080 5.823 5.829 5.838 5.863

Thüringen 1.623 2.233 2.643 3.795 3.493 3.955 4.527 4.988 4.960 4.878 4.748 5.301 5.558

Nim: 0,4 % der Frauen in Mecklenburg-Vorpommern (und 1,2 % in Thüringen) beantragten ohne Zustimmung des Mannes die Scheidung, während dies 15,2 % der Brandenburgerinnen und 10,2 % der sächsischen Frauen taten. Umgekehrt reichten 6,3 % der brandenburgischen und 4,2 % der sächsischen Männer ohne die Zustimmung ihrer Frau die Ehescheidung ein. In Sachsen-Anhalt lag der Prozentsatz bei 0,9 % und in Mecklenburg-Vorpommern tat dies 1998 nur ein Mann. Wie eng die Scheidungsbereitschaft mit der kommunalen ökonomischen Situation und dem regionalen Arbeitsmarkt verknüpft ist, zeigt sich im Freistaat Sachsen bei einem Vergleich der Regierungsbezirke Chemnitz und Leipzig am Anfang und Ende der neunziger Jahre. Während in Chemnitz in den Jahren 1991-1993 die Zahl der Ehescheidung je zehntausend Einwohner noch deutlich über den Durchschnittswerten Leipzigs lagen, fiel in den Jahren 1997-1999 das ehemalige Zentrum des Maschinenbaus hinter die Handelsmetropole zurück, da im früheren Karl-Marx-Stadt der ökonomische Transformationsprozess nur mühsam vorangeht und auch die Arbeitslosenquote deutlich höher liegt. Die Pressemitteilungen der Statistischen Landesämter lesen sich mitunter wie Erfolgsmeldungen, wenn etwa von kaum angestiegenen Ehescheidungs-

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Ziffern gesprochen wird. 2 3 Stellt man jedoch die infolge der ungebremsten Westwanderung kontinuierlich stark sinkenden Bevölkerungsziffern in Relation zur Zahl der Eheauflösungen, so relativieren sich diese Aussagen. Gab es beispielsweise in Sachsen-Anhalt 24 im Jahre 2000 je 449 Einwohner eine Scheidung, waren es i m Jahre 2003 bereits je 430 Einwohner der Fall. Ähnlich auch das Bild i m Freistaat Sachsen, dem östlichen Bundesland mit der durchschnittlich höchsten Ehestabilität. Hier kam im Jahre 2001 auf 520 Einwohner eine Eheauflösung, 2003 war dies bereits je 482 Einwohner der Fall. So kommt es zwar aufgrund einer weiter abnehmenden Bevölkerung nicht mehr zu absoluten Rekordziffern bei den Ehescheidungen, doch in der Relation steigt die Zahl der Trennungen weiter an. Das Scheidungsverhalten differiert nicht nur zwischen den einzelnen Bundesländern, sondern erheblich auch auf der regionalen Ebene. So lagen z.B. in Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 2001 die größeren kreisfreien Städte Neubrandenburg, Rostock und Schwerin mit 33 bzw. 34 Scheidungen je zehntausend Einwohner leicht über dem Bundesdurchschnitt, während die Landkreise Bad Doberan, Parchim und Uecker-Randow mit zwölf bzw. 13 Scheidungen deutlich darunter lagen. 25 Kontinuierlich stieg in den vergangenen Jahren der Anteil der gescheiterten Ehen ohne Kinder (1994 28,9 %, 1995 29,3 %, 1996 30,6 %). Hier dürften sich zum einen der starke Geburtenrückgang 26 zu Beginn der neunziger Jahre und zum anderen die große Zahl von Ehescheidungen nach relativ kurzer Ehedauer widerspiegeln. Insgesamt gesehen jedoch, stieg die durchschnittliche Ehedauer durch die verzögerten Trennungen aus der Wendezeit etwas an. I m Freistaat Thüringen z.B. hatten die aufgelösten Ehen statt durchschnittlich vier Jahre (1993) nun in der Regel sieben Jahre (1996) bestanden. Dies galt auch für Brandenburg, wo bereits sechs Prozent der Ehepaare bei der Eheauflösung die „Silberne Hochzeit" hinter sich hatten. 27 Aber auch die prinzipielle Einstellung gegenüber Kindern, die gegenüber den alten Bundesländern von einer höheren

2 3 „ E h e s c h e i d u n g e n seit der Jahrtausendwende kaum angestiegen"; Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung 107 vom 16. Juli 2004. Vgl. dagegen: „Im Jahr 2003 etwa 1XA mal soviel Eheschließungen wie Ehescheidungen - aber neuer Scheidungsrekord"; Thüringer Landesamt für Statistik, Pressemitteilung 224 vom 3. Aug. 2004.

24

Die Bevölkerung Sachsen-Anhalts schrumpfte von 2.738.928 (31.12.1995) auf 2.522.941 Personen (31.12.2003) ab, d.h. minus acht Prozent. Gegenüber dem Bevölkerungstand vom 3.10. 1990 (2.890.474) sank die Bevölkerung sogar um ein Achtel (12,7 %); Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Gebietsinformationen aktualisiert am 17. Juni 2004. 25

Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, Presseinformation vom 17. Mai 2002.

26

Zum Wertewandel bei jungen Frauen siehe Schröter, S. 144 ff.; Klein et al., S. 72 ff.

27

Pressemitteilung Thüringer Landesamt für Statistik 97/97 vom 4. Juni 1997; Pressemitteilung Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg 63/97 vom 22. Apr. 1997.

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Wertschätzung von Elternschaft und Kindern geprägt war, 2 8 hat sich grundsätzlich gewandelt, insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Kindern mit einer weiblichen Erwerbstätigkeit, 29 da sich die außerfamiliären Betreuungsverhältnisse seit der Vereinigung gegenüber den DDR-Verhältnissen deutlich verschlechterten. 30 Auch bei der Hausarbeit kann keinerlei Rede von einer partnerschaftlichen Arbeitsaufteilung sein, da auch in den neuen Bundesländern die Frauen immer noch überproportional damit belastet sind, 31 trotz aller propagandistischen Verlautbarungen zu DDR-Zeiten. 32 Neben den direkt involvierten Erwachsenen sind jährlich mehrere zehntausend Kinder von der Eheauflösung betroffen, da sie durch die Trennung ihrer Eltern aus der vertrauten Familiensituation 33 herausgerissen werden. I m Zeitverlauf der Jahrzehnte zeigte sich, dass die Funktion der Kinder als „Kitt" einer Ehe deutlich abnimmt. Die Rolle der Stabilisatoren wurde auch bei mehreren leiblichen Kindern immer geringer. Von gut der Hälfte auf zwei Drittel aller Scheidungen stieg die Zahl der Eheauflösungen an, in denen mindeijährige gemeinsame Kinder von der Trennung betroffen waren. So verdreifachte sich die Zahl der Ehescheidungen mit drei, vier oder mehr Kindern, obgleich allgemein die Hypothese gilt, dass die Stabilität einer Ehe mit der Zahl der leiblichen gemeinsamen Kinder steigt.3^ Dass diese Ziffer bereits in den achtziger Jahren wieder leicht sank, lag weniger an einer Umkehrung dieses fortschreitenden Trends als vielmehr an der Tatsache, dass immer weniger Familien mehr als zwei Kinder hatten und ergo auch die Gesamtzahl der Scheidungsfälle mit mehreren Kindern deutlich zurückging. 35 Ein Muster ohne Aussagewert bleibt die amtliche Statistik hingegen bei den gescheiterten Ehen, in denen einer der Partner eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit hat. Durch die unreflektierte Übertragung des westdeutschen Erhebungssystems auf die neuen Bundesländer wird dort seit Jahren, wie z.B. in Sachsen28

Siehe ausführlich Bien, S. 258 f., insbesondere Tab. 7.

29

Nauck/Joos, S. 276 f.; Höckner, S. 343 f.; Schreier, S. 160 f.

30

Siehe Joos, S. 208 ff. Zum kontinuierlichen Rückgang der Kindergarten- und -hortplätze siehe auch Höckner, S. 337 ff.; Klein et al., S. 67, Abb. 2. 31

Siehe ausführlich dazu Ehling, S. 272 f.; Bertram, S. 277 ff.

32

Mertens, Familiennorm, S. 56 ff.

33

Zur Typologie von Familienmilieus siehe Nauck, S. 98 ff..

34

Hartmann, S. 75; Klein et al., S. 79.

35

Presseinformation des Statistischen Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 31/97 vom 26. März 1997. Danach waren 1996 im Vergleich zum Voijahr nur in 71,1 % statt 74,3 % (1995) der Scheidungen mindeijährige Kinder betroffen, doch zugleich stieg die Gesamtzahl der „Scheidungswaisen" um 9,0 % an. Im Freistaat Thüringen lag die Steigerung sogar bei 9,2 %; Pressemitteilung Thüringer Landesamt für Statistik 97/97 vom 4. Juni 1997.

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Anhalt, tabellarisch dokumentiert, dass die Staatsangehörigkeiten Griechisch nie oder Spanisch (lediglich 1996 zweimal) nur selten vorkommen (Italienisch war in den Jahren 1996, 1998 und 1999 je einmal, Türkisch ist seit 1997 [13mal], 1998 [15-mal] und 1999 [21-mal] häufiger präsent). Die Unzulänglichkeit dieser schematischen Erfassimg und speziell die für Ostdeutschland fehlende Transparenz wird an der Kategorie „Sonstige" deutlich, wo u.a. die vormaligen osteuropäischen ,3niderländer" subsumiert werden und die dort das Gros der nicht näher differenzierten Ausländer stellen dürften (1999 immerhin 126 „sonstige" bei den Ehescheidungen in Sachsen-Anhalt). 36

I V . Geburtenentwicklung Besonders brisant ist die allgemeine Geburtenentwicklung in den neuen Bundesländern nach 1990. Gegenüber dem Jahr der deutschen Vereinigung halbierte sich in den Jahren 1993 und 1994 der Anteil der ostdeutschen Geburten an der bundesdeutschen Gesamtzahl. Zwar sank auch das westdeutsche Niveau von 1990 (= 100) auf 82,2 % im Jahre 2003 ab, doch der Rückgang in den fünf neuen Bundesländern betrug im gleichen Zeitraum über 40 % (auf 59,3 % im Jahre 2003). Neben den zahlreichen sozio-ökonomischen Veränderungen und Verunsicherungen (Arbeitsplatzverlust, fehlende Kindergartenplätze, entfallende staatliche Unterstützung wie die Familienkredite mit dem typischen „Abkindern") 3 7 zeigt sich zugleich, wie schon bei der negativen Entwicklung der Eheschließungen ein massiver gesellschaftlicher Veränderungsprozess. 38 Der Geburtenrückgang 39 war zum einen ein Reflex auf die mit der Vereinigung weggefallenen staatlichen Fördermaßnahmen und reduzierte zum anderen die Zahl der kinderreichen Familien. Dies war keine grundsätzliche Entscheidung gegen Kinder, da die Ziffer der kinderlosen Ehen im Vergleich zum alten

36

Statistischer Bericht. Gerichtliche Ehelösungen 1991-1999 Land Sachsen-Anhalt, Halle/S. Juni 2000, S. 14. 37

Familiengründungskredite über 5 000 DDR-Mark etwa für die Wohnungseinrichtung wurden Jungverheirateten Ehepaaren gewährt. Die Kredite mit einer Laufzeit von acht Jahren waren die ersten drei Jahre tilgungsfrei. Von der Rückzahlungssumme wurden für das erste Kind 1 000, für das zweite 1 500 und filr das dritte Kind 2 500 DDR-Mark erlassen: im DDR-Volksmund wurde der Familienkredit daher „abgekindert". 38

In Thüringen kam es 1996 gegenüber 1995 zwar zu einem Geburtenanstieg von 11 %, doch trotzdem entsprachen die 15.200 Babys nicht einmal der Hälfte der Geburtenziffer vor 1989; Pressemitteilung Thüringer Landesamt für Statistik 20/97 vom 11. Feb. 1997. 39

Die Zahl der Lebendgeborenen in der DDR im Jahre 1989 hatte 198.900 betragen.

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Bundesgebiet deutlich niedriger blieb. 4 0 Zum anderen war bereits Mitte der achtziger Jahre, aufgrund der sinkenden Zahl von Frauen im gebärfahigen Alter, mit einem Rückgang der Geburten zu Beginn der neunziger Jahre gerechnet worden; wobei die Vereinigungsfolgen diesen Trend noch verstärkten. Tabelle 5 Lebendgeborene in Deutschland 1990-2003

Jahr 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Lebendgeborene in Deutschland Deutschland Fünfneue Altes Bundesländer gesamt Bundesgebiet abs. abs. abs. 1 in % in % 18,0 905.675 163.030 742.645 82,0 99.057 830.019 730.962 88,1 11,9 809.114 80.541 10,0 728.573 90,0 798.447 73.010 725.437 90,0 9,1 71.112 769.603 9,2 698.491 90,8 765.221 75.732 9,9 689.489 90,1 84.651 10,6 796.013 711.362 89,4 91.093 11,2 812.173 721.080 88,8 785.034 93.702 691.332 88,1 11,9 12,6 770.744 97.002 87,4 673.742 101.202 13,2 766.999 665.797 86,8 734.475 98.027 13,3 636.448 86,7 719.250 96.350 13,4 622.900 86,6 706.721 96.631 13,7 610.090 86,3

Erst i m Jahre 1996 kam es in den neuen Bundesländern im Vergleich zum Vorjahr wieder zu einem Anstieg der Geburten. 41 Nicht nur die wieder ansteigenden Geburtenziffern belegen die Auffassung, dass es sich lediglich um einen, durch die Umbruchssituation des Vereinigungsprozesses ausgelösten, partiellen Aufschub des Kinderwunsches gehandelt habe. 42 Auch das deutlich nach oben verschobene Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes bestätigt dies. So waren die Frauen in den fünf neuen Bundesländern 43 im Jahre 1991 bei der ersten Niederkunft im Mittel 24,9 Jahre, i m Jahre 1996

40

So Peuckert, S. 275 f. Siehe auch Helwig, Familie, S. 77.

41

Pressemitteilung, Statistisches Bundesamt vom 18. Feb. 1997.

42

Peuckert, S. 278 f.

43

Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 2. Okt. 1997. Imfrüheren Bundesgebiet lag das Durchschnittsalter 1996 mit 28,4 Jahren sogar noch um ein Jahr höher.

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hingegen bereits 27,3 Jahre alt. 4 4 Beide Phänomene wurden zwar durch den deutschen Vereinigungsprozess und dessen sozio-ökonomische Probleme in den neuen Bundesländern hervorgerufen. Zugleich ist dies als ein deutliches Zeichen für eine rasche Abkehr vom realsozialistischen Lebensentwurf, der durch staatliche Vorgaben geprägt war. Typisch für die DDR waren eine frühe Heirat (eigene Wohnung nur für Verheiratete - aber auch ein höheres Scheidungsrisiko) und eine frühe Mutterschaft (erleichtert durch die umfangreichen Sozialleistungen). 45 Hier erfolgte eine schnelle Anpassung 46 an das „Westniveau" und die Situation im alten Bundesgebiet, wo eine späte Heirat 4 7 sowie Geburten im höheren Lebensalter den statistischen Durchschnitt kennzeichnen. Tabelle 6 Geburtenentwicklung in den fünf neuen Bundesländern 1990-2003 Jahr

Brandenburg

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

29.238 17.215 13.469 12.238 12.443 13.494 15.140 16.370 17.146 17.928 18.444 17.692 17.704 17.970

Mecklenb.Vorpomm. 23.503 13.635 10.875 9.432 8.934 9.S78 11.088 12.046 12.246 12.589 13.319 12.968 12.504 12.782

Sachsen 49.672 31.278 25.298 23.423 22.734 24.004 27.006 29.008 30.190 31.383 33.139 31.943 31.518 32.079

SachsenAnhalt 31.837 19.459 16.284 14.610 14.280 14.568 16.152 17.194 17.513 18.176 18.799 18.073 17.617 16.889

Thüringen 28.780 17.470 14.615 13.307 12.721 13.788 15.265 16.475 16.607 16.926 17.577 17.351 17.007 16.911

Da im Vergleich zur früheren DDR in der ersten Dekade nach der Vereinigung allgemein die Geburtenziffern in Ostdeutschland zurückgegangen sind, 44

In der DDR hatte 1989 das Durchschnittsalter bei 22,9 Jahren gelegen; Meyer, S. 40.

45

Informativ dazu ist die Gegenüberstellung der frauenspezifischen arbeits- und sozialpolitischen Regelungen in der DDR und der Bundesrepublik in Trappe, S. 40 f., Tab. 1. 46 47

Nauck/Joos, S. 253, Tab. 1. Siehe auch Höhn/Dorbritz, S. 150.

Presseinformation Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 109/97 vom 13. Okt. 1997, wonach 1996 das durchschnittliche Heiratsalter bei 29,3 (Mann) und bei 26,8 (Frau) Jahren lag, in der DDR war es unter 25 bzw. unter 24 Jahre. Bertram, S. 282.

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sinkt zugleich die Zahl der von der Ehescheidung betroffenen Kinder leicht ab. Allerdings ist zugleich das Phänomen zu beobachten, dass die Zahl der gescheiterten Ehen mit fünf und mehr Kindern ebenfalls deutlich angestiegen ist, so dass auch eine große Kinderzahl immer seltener ein Garant für den Bestand einer Ehe ist. So wurden 1999 allein in Sachsen-Anhalt zehn Ehen mit fünf und mehr Kindern geschieden; davon fünf nach über 18-jähriger Ehedauer; dies ist umso bemerkenswerter, da familiensoziologisch mit wachsenden Kinderzahl die Ehen als stabiler werdend eingeschätzt werden und ab vier und mehr Kindern in der Regel nur noch sehr selten geschieden werden. Besonders zu berücksichtigen ist, dass in den zurückliegenden 15 Jahren über eine Million, zumeist junger Menschen, aus der DDR/neuen Bundesländern in Richtung altes Bundesgebiet abwanderten. Vor allem aufgrund des sehr hohen beruflich motivierten Wegzugs 48 junger Frauen sinken die Geburtenziffern seit dem Nachwendehöchstwert im Jahre 1999 wieder kontinuierlich ab: Ein Trend, der sich in den nächsten Jahren verstärkt fortsetzen wird. Der überproportional große Anteil von jungen Frauen bis dreißig Jahren an den Personen, die weiterhin Monat für Monat Ostdeutschland Richtung West- und Süddeutschland verlassen, zeigt sich bereits in der Gesamtpopulation. So sank der Frauenanteil in der Bevölkerung des Freistaates Sachsen in der vergangenen sechs Jahren (1997-2003) von 51,7 % auf 51,3 % ab. 4 9 Noch keine Anpassung ist hingegen beim Anteil der nichtehelichen Geburten zu konstatieren. In beiden Teilen Deutschlands steigt der Anteil der unehelich geborenen Kinder kontinuierlich an. 5 0 Prozentual gesehen, stieg deren Zahl zwar in der alten Bundesrepublik in den letzten fünf Jahren rascher an, jedoch bei deutlich niedrigerem Ausgangsniveau. So ist in den neuen Bundesländern der Anteil der von unverheirateten Müttern zur Welt gebrachten Lebendgeborenen noch immer viermal so groß (1996: 423,9 je 1.000 Geburten) als i m alten Bundesgebiet (1996: 136,8 je 1.000 Geburten). Neben der Fortsetzung alter DDR-Schemata dürfte dies in der fast völlig fehlenden konfessionellen Bindung und einer deutlich geringeren Stigmatisierung unehelicher Geburten begründet sein. Darüber hinaus ist auf dem Gebiet der früheren DDR die Zahl

48 Die Perspektivlosigkeit vieler junger Ostdeutscher verdeutlicht z. B. die Zahl erwerbsloser Personen unter 25 Jahren, die in Sachsen-Anhalt bei zurückgehender Bevölkerung von 26.280 (1999) auf 29.927 (2003) anstieg. 49

In Sachsen-Anhalt sank der weibliche Bevölkerungsanteil zwischen 2000 und 2003 von 51,4 % auf 51,2 %. Die Landesbevölkerung verringerte sich in diesem Zeitraum von 2,615 Mio. auf 2,522 Mio. Personen, also um 92.434 Personen, von denen 55,9 % weiblich waren. 50

Im Jahre 1992 waren es im alten Bundesgebiet 115,9 und in den neuen Bundesländern 418,2 je 1.000 Lebendgeborene gewesen.

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nichtehelicher Lebensgemeinschaften seit der Wende stark angestiegen,51 da nun auch unverheiratete Paare eine Wohnimg erhalten. Wie nachhaltig der Bedeutungsverlust von Ehe ist, wird am Anteil nichtehelich geborener Kinder deutlich, welche die Hälfte aller Geburten ausmachten. Tabelle 7 Lebendgeborene und davon nichteheliche Geburten in Ostdeutschland 1990-2003 Lebendgeborene fünf neue Bundesländer insgesamt Jahr abs. 163.030 1990 99.057 1991 80.541 1992 73.010 1993 71.112 1994 75.732 1995 1996 84.651 91.093 1997 93.702 1998 97.002 1999 101.202 2000 2001 98.027 96.350 2002 96.631 2003

Darunter: Nichtehelich Geborene fünf neue Bundesländer abs. in % 34,4 56.099 40.844 41,2 33.239 41,3 29.574 40,5 29.057 40,9 31.295 41,3 35.447 41,9 39.747 43,6 43.740 46,7 47.944 49,4 51.680 51,1 52.634 53,7 53.332 55,4 55.060 57,0

Nichtehelich Geborene altes Bundesgebiet in % 11,1 11,5 12,0 12,2 12,8 13,3 14,1 14,7 16,4 18,2 19,2 20,6 21,6 22,2

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen wurden im dritten Quartal 2001 bereits 51,3 % der Lebendgeborenen von nichtverheirateten Müttern zur Welt gebracht. Noch deutlicher die Situation in Brandenburg, wo schon 56,7 % aller Geburten von unverheirateten Frauen waren. 52 Die nichtehelichen Geburten stellen ein regionales ostdeutsches Phänomen dar, da deren Anteil im alten Bundesgebiet noch nicht einmal halb so hoch ist. Bereits in den 1980er 51

In Mecklenburg-Vorpommern kam es 1996 zu einer Zunahme um 2,3 %. Insgesamt gab es 45.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern, 69.000 in SachsenAnhalt und 70.000 in Brandenburg; Pressemitteilung 23/97, Statistisches Landesamt MecklenburgVorpommern vom 10. März 1997; Pressemitteilung Nr. 23, Statistisches Landesamt SachsenAnhalt vom 27. Feb. 1997; Pressemitteilung 09/97, Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg vom 22. Jan. 1997. 52

Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik Land Brandenburg: Statistische Berichte Eheschließungen, Geborene und Gestorbene im Land Brandenburg 2003, Potsdam Juni 2004.

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Jahren begannen alleinerziehende Mütter in der DDR eine familienpolitische Sonderstellung einzunehmen, da die entsprechenden Regelungen zur Arbeitsund Urlaubszeit, dies attraktiv erscheinen ließen, 53 so dass fast ein Drittel der Kinder nichtehelich geboren wurden.

V . Resümee Die rasante prozentuale Fortentwicklung dieses Trends dürfte durch die weitgehend fehlende konfessionelle Bindung in den fünf neuen Bundesländern und die daraus resultierende geringere gesellschaftliche Stigmatisierung unehelicher Geburten bedingt werden. Darüber hinaus ist auf dem Gebiet der früheren DDR die Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften seit der Wende erheblich angestiegen, da nun auch unverheiratete Paare eine Wohnung erhalten, was vor Herbst 1989 aufgrund der staatlichen Restriktionen kaum möglich war. Wie dramatisch zugleich der Geburtenrückgang in Ostdeutschland in den ersten Jahren nach der Wende insgesamt war, zeigt sich daran, dass im Jahre 1990 die 56.099 nichtehelichen Geburten nur ein gutes Drittel (34,4 %) aller Lebendgeburten ausmachten, während die 57 % nichtehelichen Geburten (55.060) des Jahres 2003 als absolute Ziffer nicht an den Wert des Jahres 1990 heranreicht. I m Mai 2003 lebten in Mecklenburg-Vorpommern bereits ein Drittel aller Kinder nur noch mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen; 1991 war es lediglich ein Fünftel. 54 Wie die Landesstatistiker i m Rahmen des Mikrozensus ermittelten, unterschied sich das Familieneinkommen deutlich. Während Ehepaare mit einem Kind in 82,3 % aller entsprechenden Haushalte ein Monatseinkommen von 1 500 Euro und mehr zur Verfügung hatten, waren es bei den Alleinerziehenden mit einem Kind nur ein Viertel (24,6 %) der Befragten. Neben tradierten grundsätzlichen Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland bei Eheschließungen und Ehescheidungen weist das Phänomen der unehelichen Geburten deutlich auf die sinkende Bedeutung von Familie in den fünf neuen Bundesländern hin. Die typischen ehestabilisierenden Faktoren wie Hausbesitz und religiöse Bindung sind in Ostdeutschland nach vierzig Jahren Sozialismus deutlich niedriger ausgeprägt wie im alten Bundesgebiet. Der Wegfall großzügiger materieller familienpolitischer Fördermaßnahmen und 53

Helwig, Jugend, S. 94, die Anzeichen eines Missbrauchs der Sozialleistungen konstatierte. Alleinerziehende Mütter hatten u.a. Anspruch auf Freistellung bei Erkrankung der Kinder, brauchten keine Nacht- und Schichtarbeit zu leisten und besaßen einen besonderen Kündigungsschutz (ebd., S. 116). 54

Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, Presseinformation vom 9. Juni 2004.

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staatlicher Interventionen i m privaten Bereich (u.a. Wohnungszuteilung) haben die Erosion der klassischen Familienform befördert. D i e neuen Freiheiten einer parlamentarischen Demokratie hinsichtlich der M ö g l i c h k e i t e n des Zusammenlebens ohne Trauscheins scheinen familien- u n d sozialpolitisch ein n o c h k a u m wahrgenommenes gesellschaftliches Auflösungspotential entwickelt z u haben, was i n den nächsten Jahren insbesondere hinsichtlich der Rolle u n d Förderung v o n Alleinerziehenden u n d ihrer Kinder i n der bundesdeutschen Gesellschaft noch einen enormen politischen Handlungsbedarf bedingen dürfte, der nicht nur m i t d e m B a u einiger neuer Kindertagesstätten gelöst werden kann, sondern ein gesamtgesellschaftliches Konzept verlangt.

Literatur Bertram, Barbara: Die Wende, die erwerbstätigen Frauen und die Familien in den neuen Bundesländern. In: Familie und Lebenslauf im gesellschaftlichen Umbruch. Hrsg. von Bernhard Nauck/Norbert F. Schneider/Angelika Tölke. Stuttgart 1994, S. 267-284. Bien, Walter: Einstellungen, Werte und familiale Ereignisse. In: Ders. (Hg.): Familie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen. Opladen 1996, S. 253-269. Dorbritz, Jürgen: Nuptialität, Fertilität und familiale Lebensformen in der sozialen Transformation. Übergang zu einer neuen Bevölkerungsweise in Ostdeutschland? In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 18. Jg. (1992), H. 2, Boppard, S. 167-196. Ehling, Manfred: Zeitverwendung in Ost- und Westdeutschland. In: Wolfgang Glatzer/Heinz-Herbert Noll (Hg.): Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung. (Soziale Indikatoren, Bd. XVIII). Frankfurt/M.-New York 1995, S. 263-281. Grandke, Anita! Rieger, Wolfgang: Zu den Aufgaben der Gerichte im Eheverfahren. In: Neue Justiz, 24. Jg. (1970), H. 3, Berlin (Ost), S. 67-73. Grutza, Hans-Günther: Gedanken zur Stabilität von Ehe und Familie in der sozialistischen Gesellschaft und über die Aufgaben des Gerichts im Eheverfahren (dargestellt aus der Sicht wiederholter Ehescheidungen). Diss. A Humboldt-Universität Berlin (Ost) 1978. Hartmann, Peter H.: Warum dauern Ehen nicht ewig? Eine Untersuchung zum Scheidungsrisiko und seinen Ursachen. Opladen 1989. Helwig, Gisela: Frau und Familie. Bundesrepublik Deutschland DDR. Köln 1987, 2. völlig überarb. Aufl. — Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch. Köln 1984. Höckner, Marianne: Der Staat hat viele Väter - wo bleiben die Mütter? Ein Beitrag zur Vereinbarkeit von Erwerbstätigen- und Mutterrolle in Deutschland-Ost und -West. In: Bernhard Nauck/ Hans Bertram (Hg.): Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich. Opladen 1995, S. 333-356.

Familie ade? Eheschließungen, Ehescheidungen

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Lothar Mertens

Schröter, Ursula: Ostdeutsche Frauen zwischen Verlieren und Gewinnen. In: Sozialer und demographischer Wandel in den neuen Bundesländern. Hrsg. von Hans Bertram/Stefan Hradil/Gerhard Kleinhenz. Berlin 1995, S. 141-157. Trappe, Heike: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik. Berlin 1995. Wagner, Michael: Scheidung in Ost- und Westdeutschland. Zum Verhältnis von Ehestabilität und Sozialstruktur seit den 30er Jahren. Frankfurt/M.-New York 1997. Winkler, Gunnar (Hg.): Sozialreport DDR 1990. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR. Berlin(Ost) 1990

Texte nach 1989 in Ostdeutschland Über Brüche, Spannungen und Kontinuität Von Ilse Nagelschmidt I. Brüche -Trümmer - Utopieverluste „Und sind nicht von jeher Menschen, die mit dem Sinnverlust, den sie verspüren, nicht mehr leben wollen oder können, Urheber großer Veränderungen geworden." (Christa Wolf 1998)1

Diesen Aufsatz möchte ich mit drei Leseeindrücken einleiten, um auf die noch immer angespannte Situation zwischen Deutschland Ost und West am Ende des letzten Jahrtausends zu verweisen. Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung i m Sommer 1999 über die ehemalige Paradestraße im Ostteil Berlins, die Karl-Marx-Allee, ist überschrieben mit „Zuhause unter Fremden". 2 Heinrich Senfft, westdeutscher Autor und Rechtsanwalt, kann nicht viel Verbindendes zwischen Ost und West entdecken und überschreibt so seinen Aufsatz, in dem er von der These ausgeht, dass von der DDR fast nichts übriggeblieben sei und sowohl der seelische als auch der wirtschaftliche Schaden groß wären mit „Die Wüstenei der Westler". 3 I m Jahr Zehn der Erinnerung an die friedlichen Demonstrationszüge in Leipzig, Berlin und anderen Städten erscheint ein Buch, das sich schwer mit all denen in Übereinstimmung bringen lässt, die einst in den Herbsttagen unter den Rufen „Wir sind das Volk" auf die Straße gegangen sind. Gabriela Mendling, die unter dem Pseudonym Luise Endlich veröffentlicht, Frau eines Chefarztes aus Wuppertal (Deutschland-West), nun im tiefsten Osten, Frankfurt an der Oder (Deutschland-Ost), angekommen - schreibt über Eindrücke in einer merkwürdigen, fremden, wenn nicht sogar feindlichen Welt, in der Frauen Lurexpullover bevorzugen, Männer ausgebeulte Trainingshosen tragen und wo - Gipfel der Unkultur - Lasagne mit den Händen gegessen wird. 4 Damit will ich es bewenden lassen. Der Fokus meiner Aufmerksamkeit 1

Wolf, Hierzulande S. 219.

2

Kämmerer.

3

Senfft.

4 Endlich. Diesem Text sowie der Situation in Ostdeutschland widmete die New York Times einen Aufsatz: Cohen. Das ZDF-Magazin „Frontal" führte in seiner Oktobersendung 1999 vor, dass

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liegt darauf, wie Autorinnen und Autoren der DDR nach 1989 mit den Veränderungen umgehen, wie sie Begriffe wie Heimat und Fremde reflektieren, ob und auf welche Weise sie inneres Zerrissensein registrieren und wie sie wieder herausfinden können. Dabei erweist sich Jessica Benjamins Konzept von Identität und besonders der von ihr verwendete Begriff der Balance 5 als eine Zugangsmöglichkeit zur Analyse der Texte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Ostdeutschland. Sehr subjektiv - und über einen Zeitraum von nunmehr fünfzehn Jahren zu verfolgen - sind Äußerungen ostdeutscher Autorinnen und Autoren wie die folgenden, die von Aufbruch, Angst, endgültigen Verlusten, aber auch von Trotz und Ironie bestimmt sind. Für das linke Spektrum der DDR symbolisierten die Ergebnisse der ersten freien und geheimen Wahlen am 18.03.1990 das offenkundige Ende der Herbstereignisse des Jahres 1989. „Das Spiel mit den Masken ", schreibt Helga Königsdorf Anfang 1990 verbittert, sei nun zu Ende. M i t „ ungelenken Schritten heißt es weiter, „ taumele " (sie; I.N.) „in die Freiheit, aber es ist die Freiheit der anderen", denn sie habe „keine Verwendung dafür "ß Die Autorin begründet ihre damalige Trauer aus einem trügerischen Bild der Wende-Realität. Von der Schönheit, die sie i m Herbst 1989 empfand, blieb im Folgejahr nur noch der „schöne falsche Schein "? Es war bei ihr weniger die Unkenntnis der Sachlage als vielmehr die Überschätzung des persönlichen Einflussbereiches, der den Denkfehler zur Folge hatte 8 . „Verfuhrt vom schönen Anfang unserer Revolution, verführt vom Glauben an die Möglichkeit großer Inszenierungen, wollten wir endlich selbst Regisseure sein (...) Aber zugleich, indem wir Kunst und Leben vermischt haben, sind wir nun hineingeraten in das Spektabel."9 Auch W o l f Biermann hat für diese Ereignisse Theatermetaphern gefunden: „Diese Revolution ist eine Weltpremiere: eine Revolution ohne Revolutionäre. Sonst hatten wir in Deutschland immer das Umgekehrte: lauter Revolutionäre, die nie eine Revolution zustande brachten. Ja, es ist ein absurdes Stück, und alle Rollen sind phantastisch falsch besetzt."10 die „alte DDR" in Frankfurt/Oder weiterleben und die Stadt von Arbeitslosen und Rechtsradikalen dominiert werden würde. Dagegen erhob sich ein Bürgerprotest und ein ebenfalls vom ZDF angestrebtes Forum ermöglichte schließlich in Ansätzen einen deutsch-deutschen Dialog. Das Ehepaar Mendling lebt und arbeitet inzwischen in Berlin (West). 5

Benjamin.

6

Königsdorf, 1989, S. 5.

7

Königsdorf, Dilemma, S. 91.

8

Vgl. dazu: Schulze, Teppich.

9

Königsdorf, Dilemma, S.9.

10

Biermann.

Texte nach 1989 in Ostdeutschland

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Die Jüngeren dagegen, wie Uwe Kolbe, hatten diesen Irrtum beizeiten erkannt. Während eines damaligen Amerika-Aufenthaltes in Austin/Texas, Kolbe hatte somit auch eine geographische Distanz zu den Herbst-Ereignissen, schrieb er in einem Offenen Brief an die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: „ Wir haben zu erhalten, indem wir sie reformienicht das Recht, die Minderheitsherrschaft ren, sie lediglich um unsere eigene Teilnahme vermehren und so weiterfuhren (...) Ich denke an ein Referendum, das Volk soll selbst sprechen in seiner Gesamtheit. " l 1 Dabei wurde immer wieder das artifizielle Erlebnis dieser Monate an der befreiten Sprache, am literarischen Volksvermögen 1 2 festgemacht. So heißt es bei Christa Wolf im Berlin-Essay: „Die Blumenfrau in der Ossietzkystraße, die so redete wie der Namenspatron ihrer Straße " , 1 3 In ihrer Begeisterung über die freigelegte, kollektive Artikulationsfahigkeit begriffen viele Autorinnen und Autoren erst allmählich, dass sich das Volk nicht nur von der Regierung, sondern auch von ihnen, ihren stellvertretenden Wortfuhrerinnen und Wortführern emanzipiert hatte. Die Volksfront aus intellektueller Avantgarde und Masse, die für kurze Zeit wirklich existierte, brach auseinander. Die linksdemokratischen Autorinnen und Autoren mit ihrer Sozialismussehnsucht standen jetzt denjenigen im Weg, die die deutsche Einheit, egal aus welchen Gründen, i m Blick hatten. Diese so stilisierte Revolution mit ihrem utopischen Hintergrund wurde von der pragmatisch(er) denkenden Bevölkerung zerstört. Und so hat Helga Königsdorf ihr Buch , Adieu DDR" mit folgender Passage eingeleitet: „Wir geben es auf, dieses Land, das mit seinen falschen Strukturen unser Wollen unmöglich machte. ,Grau* wurde es genannt. Doch wir, die wir nicht genau wussten, wie die Welt aussieht, die wir krank waren vor Femweh, haben in ihm, fast ohne es selbst zu bemerken, jede Menge Leben gelebt. (...) Was bleiben wird, sind wir, die Menschen in diesem Territorium. Ohne den Ort zu verändern, gehen wir in die Fremde. Heimat aufgeben kann eine lebenswichtige Operation sein. Doch immer, wenn das Wetter umschlägt, werden wir einander ansehen, lange noch, und diesen Schmerz empfinden, diese Vertrautheit, die sonst keiner versteht."14 Genau in dieser Situation schreibt Volker Braun das Gedicht „Das Eigent u m " , 1 5 erstmals im August 1990 erschienen, in dem er sich in einem festen Bezugsfeld zwischen Hölderlin und Büchner bewegt. 16 Die Spannung dieses

11

Kolbe, S. 198 f.

12

Vgl dazu: Wo ist euer Lächeln geblieben? Brachland Berlin 1990. In: Wolf, Weg, S. 28-57.

13

Ebd., S. 45.

14

Königsdorf, Helga: Adieu.

15

Von einem Land, S. 51.

16

Vgl. dazu: Welzel,, S. 51.

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Gedichts und die anhaltende Wirkung resultieren aus der Zitatevielfalt sowohl eigenen als auch vorgefundenen Sprach- und Literaturmaterials. Das Eigentum „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text. Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle."17 Der erste Vers verweist auf das wohl bekannteste Werk neuerer deutscher Literatur: Goethes „Faust", 1. Teil. Während es bei dem Weimaraner heißt: „Da steh ich nun, ich armer Tor" - lässt Braun sein lyrisches Ich im Jetzt und Hier verharren: Da bin ich noch. Auf der einen Seite steht das beobachtende Abwarten des Autors, während die andere Seite mit den Füßen abstimmt, die DDR verlässt, um im Westen eine neue Existenz aufbauen zu wollen. Längst ist der von Leipzig, der Stadt der Montagsdemonstrationen ausgegangene Ruf „Wir sind das Volk" verklungen. Maueröffiiung, Konsumerlebnisse, das fragwürdige „Geschenk" von 100 D M pro Person als Begrüßungsgeld sowie undifferenzierte Blicke auf den anderen Teil Deutschlands haben zur Abwandlung des Rufes in „Wir sind ein Volk" geführt. I m 2. Vers wird das berühmte Wort Büchners aus dem „Hessischen Landboten", das in der DDR jedes Kind in der Schule lernte, verkehrt: „KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN". Die Dinge sind aus dem Lot. Der Westen, in der DDR für viele Synonym für Freiheit, Menschenwürde, ein anderes Leben, ist gleichermaßen aber auch ein Code der Sklavensprache 18 all das beinhaltend, was Sehnsucht hieß, das ANDERE umschloss, wird nun zum Moment der Bedrohung. Das Eigentum des Landes DDR, das individuelle und kollektive, wird bedroht, die ehemals gültigen Ideale und Wertvorstellungen werden dekonstruiert. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt - impliziert sowohl das Bewusstsein über kritische schriftstellerische Leistungen in der DDR als auch die Scheinmoral und das -leben vor 1989. Doppelzüngig aufgewachsen und geprägt lebten die DDR-Bürgerinnen 17

Von einem Land, S. 51.

18

Vgl. dazu: Mayer, S. 261.

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und Bürger mit der Duldung des Staates in zwei Welten: In der realen Welt des Sozialismus und der irrealen Welt des Westfernsehens, der Inter-Shops sowie der Genex-Kataloge. 19 Dieser Gedanke wird in Vers 4 fortgeführt: Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Knapp 16 Millionen DDR-Bürger sind in ihrem Tanz um das goldene Kalb - sprich der Deutschen Mark - bestrebt, all das wie eine zweite Haut abstreifen zu wollen, was das Leben in der DDR trotz eingeschränkter Reisefreiheit, individueller Beeinträchtigung und der allgegenwärtigen Staatssicherheit ausgemacht hat. DDR-Errungenschaften wie das Recht auf Arbeit, die Gleichstellung der Frau, kostengünstige Kinderbetreuungseinrichtungen, Wohnraum für alle, gesicherte und kostenfreie Ausbildungsmöglichkeiten und das Brechen des Bildimgsprivilegs gelten nichts mehr. Dem Winter, den Montagsdemonstrationen in Leipzig und vor allem dem 4. November 1989, dem Tag der größten demokratischen Massenkundgebung, die Ost-Berlin jemals erlebt hat und die zum Symbol für Aufbruch und Hoffnung wurde, folgt der Sommer der Begierde. A m 1. Juli 1990 wird die D-Mark in beiden deutschen Staaten zur Hauptwährung. Damit einher gehen der kollektive Wille in Ostdeutschland, nur noch West-Produkte kaufen zu wollen und somit der Verfall der DDR-Betriebe. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst - dieses Zitat ist in seiner Ambivalenz zu interpretieren. Zum einen als pejorativ gebrauchte, umgangssprachliche Redewendung, zum anderen als der Un-Ort, Irgend» und Nirgendwo auf dieser Welt, sehr weit i m Osten: Indien oder Madagaskar, die von der NS-Diktatur zu Beginn der vierziger Jahre angedachten Orte, den Juden Asyl geben zu wollen. Genau in der Mitte des Gedichts finde ich den für Braun und für die anderen ostdeutschen Autorinnen und Autoren entscheidenden Satz: Und unverständlich wird mein ganzer Text. Dieser impliziert sowohl die Angst des Autors, seine Leserinnen und Leser zu verlieren, nicht mehr verlegt zu werden als gleichermaßen auch die Bedrohimg der Entwertung eigenen Lebens und des Lebenskontextes.20 Was ich niemals besaß, wird mir entrissen offenbart die Doppelbödigkeit des Augenblicks. Das kollektive Eigentum, das als Volkseigentum galt, wird nun von den meisten mit den Füßen getreten und das nie als das Eigentum anerkannte, wird von dunklen Mächten 19

Während bis zu Beginn der Machtübernahme von Erich Honecker (1971) das Westfemsehen als reaktionär abgestempelt und an vielen Orten direkt verboten wurde, liberalisierte sich die Haltung dahingehend, dass Westfemsehen stillschweigend geduldet wurde und Gemeinschaftsantennen auf den Dächern großer Häuser einen reibungslosen Empfang garantierten. In den Intershops konnten DDR-Bürger gegen Devisen Westwaren einkaufen. Das Netz dieser Läden wurde bis zum Ende der DDR systematisch erweitert. Um der ständigen Devisenknappheit zu entgehen, wurde die Möglichkeit des Genex-Handels geschaffen. In der DDR hergestellte Waren konnten von Westbürgern, die mit D-Mark bezahlten über Kataloge bestellt werden und wurden danach in der DDR ausgeliefert. Dazu zählten begehrte Konsumgüter wie Autos, Tiefkühlschränke, Teppiche bis hin zu Reisen in das sozialistische Ausland. 20

Vgl. dazu: Welzel, S. 101.

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entrissen. In Anlehnung an den letzten Vers von Friedrich Hölderlins Gedicht „Andenken" 2 1 ist zu schlussfolgern: Was bleibet aber, stiften NICHT mehr die Dichter: zurück bleibt Resignation. Einmal Gehabtes, aber nie Angenommenes entschwindet, die große Utopie seit der Weimarer Klassik wurde nicht eingelöst; der DDR-Sozialismus erwies sich nicht als lebbare Alternative: Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. I m nächsten Vers wird wiederum ein Sprichwort aufgenommen: Mein Eigentum„ jetzt habt ihrs auf der Kralle. Auch dieser Satz ist vielfach deutbar. Es geht nicht mehr dominant um das kollektive, materielle Eigentum, was als Grundlage der DDR galt, sondern gleichermaßen auch um das geistige Eigentum. Die Angst des Autors Braun, nicht gehört, verstanden und angenommen zu werden, wird leitmotivisch aufgenommen. Schließlich findet er im letzten Vers nochmals zu einem seiner zentralen Probleme seit den sechziger Jahren zurück: dem Verhältnis vom Ich zum Wir. Und so ist dieser Vers auch im Kontext der Werke des Autors als Eigenzitat zu lesen: Wann sag ich wieder mein und meine alle. Die Sommermonate des Jahres 1990 waren noch durch ein weiteres Ereignis bestimmt, das große Folgen haben sollte. A m 10. Juni 1990 trafen sich auf Einladung der Bertelsmann-Stiftung im Schloss Cäcilienhof führende Politiker und Autorinnen und Autoren aus Ost und West. Im Mittelpunkt der Debatten standen die Ängste sowohl vor dem Verlust der literarischen Eigenständigkeit als auch vor dem westlichen Literaturbetrieb i m Kontext der Frage, ob die führenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR eine autoritätsgläubige Stillhalteliteratur geschrieben haben, die das undemokratische System der DDR stabilisieren sollte. 22 Die Ausgangslage war in dieser Polarisierung bereits sehr deutlich. Während vor allem Christa Wolf und Stephan Hermlin vorgeworfen wurde, sich nicht oder kaum um die politisch Verfolgten der SED-Zeit gekümmert zu haben und sich nun als Widerstandskämpfer darstellen zu wollen, ohne mit den eigentlichen Opfern des Regimes den Kontakt gesucht zu haben, hielten Günter Grass und Walter Jens dagegen, dass westliche Intellektuelle nicht das Recht besitzen würden, sich in die Vergangenheitsauseinandersetzung der DDR einmischen zu dürfen. Was danach kam, ist heute bereits in die Literaturgeschichte als der deutschdeutsche Literaturstreit 23 eingegangen. Entzündet hatte sich dieser an dem von 21

Der letzte Vers von Hölderlins Gedicht,Andenken" heißt: Was bleibet aber, stiften Dichter. Dieser Vers wird von Wolf im 1990 erschienenen Text „Was bleibt" aufgegriffen. 22 Dieses Problem wurde seit Ende der siebziger Jahre vor allem von den Autorinnen und Autoren thematisiert, die die DDR nach der Biermann-Ausbürgerung verlassen mussten. In seiner Paderborner Universitätsrede vom 17.12.1984 referierte Loest über die vier Arten von DDR-Literatur und verwies auf eine Möglichkeit von Literatur als die das System stabilisierende. 23

Vgl. dazu: Es geht nicht um Christa Wolf.; Der deutsch-deutsche Literaturstreit.

die

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Christa W o l f bereits Ende der siebziger Jahre geschriebenen und später überarbeiteten Text „Was bleibt" 2 4 ; die Ausweitung der Auseinandersetzung erfolgte jedoch sehr schnell. Als die wichtigsten Problemkreise der spannungsgeladenen Debatte, die sich vor allem in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitschriften vollzog und die sich schnell auch auf die nicht aufgearbeitete Literatursituation in Deutschland (West) in den fünfziger Jahren erstreckte, sind die beiden Problembereiche der politischen Rolle der Intellektuellen und der Beziehung zwischen Moral und Ästhetik hervorzuheben. Die ostdeutschen Autorinnen und Autoren waren somit in den verschiedensten Diskursen verortet. Beweggründe, Absichten, Biographien und Werte wurden dominant in Ostdeutschland auf den Prüfstand gehoben. Eine neue Zeitrechnung ohne die Einbeziehung der alten schien angefangen zu haben, polarisierende Ein- und Zuordnungen dominieren. Über seine Erfahrungen in dieser Zeit, die in den Spannimgsfeldern zwischen Nähe und Ferne zu sehen ist, berichtet der Theologe Klaus-Peter Hertzsch aus Jena: „Als die Bundesrepublik und sehr bald danach die DDR gegründet wurden, hatte ich gerade Abitur gemacht. Als die DDR der Bundesrepublik beitrat, hatte ich gerade meinen 60. Geburtstag gefeiert. Das war mein Leben. Und dies, mein Leben, wird heute nun als Vergangenheit aufgearbeitet und auf den Prüfstand gestellt. Das geschieht im Gespräch mit unseren Landsleuten aus den alten Bundesländern. Dabei stellt sich erstens die Frage - und das ist jetzt im Grunde die Schlüssel- und Ausgangsfrage für meine Überlegungen - : Nach welchen Kriterien geschieht das? Was ist der Maßstab, der an mein, an unser Leben angelegt und nach dem entschieden wird, was in der Vergangenheit Bewährung war und was Versagen? Die Menschen aus den alten Bundesländern versichern uns, daß sie durchaus bereit sind, auch für unser Versagen Verständnis aufzubringen; aber sie fordern mit Recht, daß vorher eine ehrliche Bilanz gemacht wird, ein ehrliches Eingeständnis des Gewesenen. Aber mit welchen Kriterien soll das geschehen, nach welcher Norm wird hier geurteilt? Wir machen die Erfahrung, daß als Norm selbstverständlich die alte Bundesrepublik vorausgesetzt wird. Das, was hier war und heute ist, gilt als das Normale."25 Neben der immer wieder angemahnten Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk und der eigenen Biographie standen Währungsunion, die Auflösung der DDR, Unsicherheit und Zukunftsangst. Ernst-Ullrich Pinkert hat diese Situation in seinem Vortrag anlässlich des 3. Leipziger Internationalen Kolloquiums zu den Kulturstudien (2001) zum Thema „Die Wende als Kulturschock" 26 hervorgehoben. Dabei versteht er auf Wierlacher/Albrecht Bezug nehmend:

24

Wolf, Was bleibt.

25

Nähe und Ferne, S.16.

26

Pinkert, S. 273 ff.

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„Kulturschock ist ein Begriff, der in der Anthropologie und Ethnologie, in den Erziehungswissenschaften, der (Sozial-)Psychologie und der modernen Fremdsprachendidaktik verwendet wird. Er bezeichnet zusammenfassend individuelle psychische Reaktionen auf engen Kontakt mit einer fremden Kultur." 27 Für viele Autorinnen und Autoren waren die Ereignisse des Jahres 1989 in erster Linie eine Erfahrung des Religions- und Utopieverlustes. 28 In den meisten unmittelbar nach 1989 geschriebenen Gedichten überwiegen Brüche, Beschädigungen und Melancholie; die Veränderungen erscheinen „weniger hoffnungsvoll als vielmehr niederschmetternd\ weniger utopisch als vielmehr orientierungslos, weniger stabilisierend als vielmehr ich-geföhrdend. " 2 9 Ein Lyriker ragt aus dieser Reihe einer relativen Einheitlichkeit heraus: Durs Grünbein. M i t seiner biologischen Poesie 30 führt er eine konzeptionelle Linie weiter, die beginnend mit den französischen Materialisten, über Büchner und Benn, den Körper zum Ausgangspunkt der poetologischen Betrachtungen erhebt. Der Gedanke einer kartesischen Trennung wird bei Grünbein wie auch schon bei Büchner abgelehnt. Es sei falsch, das Seiende in zwei Substanzen, eine ausgedehnte Materie und einen denkenden Geist zu zerlegen. Das Denken sei vielmehr eine Funktion des Körpers. Für den Autor bildet gleich seinem Vergnügen die sinnliche Wahrnehmung den Ausgangspunkt der Erkenntnis. Nach der Stufe der sinnlichen Erfahrung der Welt wirkt unser Gehirn als Präsenzgenerator, indem es verschiedenste Wahrnehmungen, Wirklichkeiten und Geschichten zu einem poetisch aufgeladenen Bild verknüpfen kann. Für den Inhalt der Gedichte bedeutet das multilinguale Härte, die Unverwandtes in schockhafter Montage aufeinanderprallen lässt. Die Form, bei Grünbein zunehmend die Versmaße der Antike, ist nur ein Mittel, damit der Gedanke in die rückwärtigen Räume des Gedächtnisses eindringt, 31 zur Schädelbasislektion wird. I m Folgenden sollen unter diesem Aspekt von Entwurf und Gegenentwurf zwei Gedichte verglichen werden: Volker Braun: Der 9.November „Das Brackwasser stachellippig, aufgeschnittene Drähte Lautlos, wie im Traum, driften die Tellerminen Zurück in den Geschirrschrank. Ein surrealer Moment: 27

Wierlacher/Albrecht, S. 158.

28

Vgl. dazu Welzel, S. 105. Welzel überschreibt ein Teilkapitel seiner Auseinandersetzung mit Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren „Die Wende als Trauma" (S. 104-107). 29

Erhart, S. 165. Vgl. dazu auch: Wehdeking.

30

Grünbein, S. 45.

31

Ebd., S. 26.

Texte nach 1989 in Ostdeutschland

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Mit spitzem Fuß auf dem Weltriß, und kein Schuß fällt. Die gehetzte Vernunft, unendlich müde, greift Nach dem erstbesten Irrtum der Dreckverband platzt. Leuchtschriften wandern okkupantenhaft bis Mitte BERLIN NUN FREUE DICH, zu früh. Wehe, harter Nordost."32

Durs Grünbein: 12/11/89 „Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt. Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels Schmalland Vorbei wie das stählerne Schweigen. Heil Stalin. Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt. Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders. Pech für die Kopffüßler, in Brackwasser abgesackt. Revolutionsschrott en masse, die Massen genasführt Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt ein Gebet: Heiliger Kim IlSung, Phönix Pjönjangs, bitt für uns."33 Beide Titel scheinen zunächst eine Antwort auf den hoffnungsvollen Winter 1989, der am 4. November seinen Höhepunkt in Berlin fand, zu sein. Wenige Tage danach verkündet Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, eher versehentlich, denn als Absichtserklärung, vor der Presse die endgültige Öffnung der Mauer zwischen Deutschland Ost und West. Während Volker Braun eine surreale Landschaft, die Wendewüste, konstruiert, der Grundgestus des Gedichts durch unendliche Müdigkeit bestimmt wird und voll böser Vorahnungen ist, entwirft Durs Grünbein eine Anti-These zu Braun. Der Tag der MauerÖffnung, des unaufhaltsamen Reisestroms der Ostdeutschen nach Westdeutschland offenbart die tödliche Langeweile in Hegels Schmalland. I m Gegensatz zu Gedichten von Volker Braun, Heinz Czechowski, Annerose Kirchner, Jürgen Rennert und anderen ist von einem Neuanfang die Rede, überwunden das stählerne Schweigen. Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders. Dieser Satz steht genau in der Mitte des Gedichts. Es wird kein leichter Beginn sein, verstärkt durch die dunkle fast beschwörend wirkende Assonanz - Uhren; Touren. Es wird Mühen geben, die an Brechts berühmte Verse Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns/vor uns liegen die Mühen der Ebenen, 34 erinnern. Vorbei auch die Zeiten der Kopffüßler, die Monstranzen verglühen. I m B i l d der jeweils anders gehenden Uhren wird die Verantwortung des einzelnen ange32

Braun zit. in: Von einem Land, S. 86.

33

Grünbein zit. in: Von einem Land, S. 26.

34

Brecht, S. 39.

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mahnt und eine Perspektive nach der Maueröffnung beschworen, die sich als kompliziert erweisen wird. Die in vielen Texten artikulierten Ängste nach Vereinnahmung und folgenschweren Wiederholungen, nach dem Verlust von Heimat, nach erneuter Sprachlosigkeit und Kolonisierungen - ein Begriff, der von Autorinnen und Autoren wie Heiner Müller und Christa W o l f sehr häufig gebraucht wurde, sind in dieser Häufung auffallend. 35 I m veränderten Umfeld nach 1990 - am 3. Oktober 1990 erfolgte die staatliche Vereinigung - kommt es in Ostdeutschland zum Aufbruch von Rollenidentitäten, damit korrespondieren neben dem Werteverlust, Minderwertigkeitsgefühl und Ohnmacht. Dabei gehört die Problematik der Ostidentität bis in das neue Jahrtausend zu den Brennpunkten in den politischen und kulturellen Diskussionen Deutschlands. Es ist zunächst auffallend, wie differenziert sich Autorinnen und Autoren in den letzten Jahren mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt haben. Über ihre Art, sich von dem Heute i m Vergangenen zu sehen, dachte Brigitte Burmeister im Gespräch mit Margarete Mitscherlich nach: „Das gibt es auch bei einigen ehemaligen DDR-Schriftstellern, die sich fast zwanghaft mit ihrem Trauma DDR auseinandersetzen. Ich selbst fühle mich nicht traumatisiert. Bei mir gab es Phasen, in denen ich entschlossen war, mich mit der sozialistischen Idee zu identifizieren und mir die Wirklichkeit entsprechend , schönsah' und Phasen, in denen ich gedacht habe, die Idee ist gar nichts, wenn die Verhältnisse so sind, wie ich sie erlebe. Zu einer klaren Identität bin ich nicht gekommen und befinde mich in höchster Verlegenheit, wenn jemand mich fragt, worin besteht denn nun deine DDR-Identität."36 Daniela Dahn, Tucholsky-Preisträgerin des Jahres 1999, rechnet mit dem Mythos der DDR-Identität ab. Sie plädiert für das Aushalten von Spannungen und das Halten von ,3alancen", will nicht pauschalisierend verurteilen, sondern konstatiert, dass „die Summe der Repressionen in den beiden Staaten in etwa gleich ist"} 1 In diesem Zusammenhang sind ihre „Unzeitgemäße(n) Gedanken über ostdeutsche Identität" (1994) zu verstehen.

35 In ihrem autobiographischen Text hält Gisela Steineckert (S. 13) fest: „ Wir beide wußten damals nicht, ob wir weiterleben wollten, oder könnten. Aber wir wußten, daß wir nie mehr empfinden würden. Heimat ist etwas, das gibt es außerhalb der eigenen Person nicht."

Weitaus unpathetischer, voll ironischer Anspielungen dagegen fällt das Fazit von Katja LangeMüller (S. 17) aus, die 1984 aus der DDR nach West-Berlin übergesiedelt ist: „Nein, mir wenigstens fehlt sie noch immer nicht, die DDR, und auch nichts aus ihr, gar nichts. Nicht die Laub ich dort stehen und verfallen lassen mußte, nicht die Bücher, Briefe, Topfpflanzen, die ich nehmen konnte, nicht der rotbärtige, Corso '-Reiner. Nur ich selbst fehle mir manchmal. So, damals war, so unkorrumpierbar, leidenschaftlich, gütig und jung werde ich nie mehr." 36

Wir haben ein Berührungstabu, S. 86.

37

Bahr, S. 18.

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„Mit dem Wort Identität habe ich im Zusammenhang mit der DDR immer Schwierigkeiten. Es unterstellt, daß die Leute mit irgend etwas identisch gewesen sein müssen. Das beste an der DDR war, daß 90% der Leute gegen sie waren. Mehr oder weniger natürlich."38 Aus der Fülle der wissenschaftlichen Texte sollen drei Abhandlungen stellvertretend für die Hauptdiskussions- und Forschungsrichtungen stehen. Laurence Mc Falls geht von einer sozialempirischen Perspektive aus und widerspricht der Meinung, die kulturelle Einheit der Ost- und Westdeutschen bleibe nach der politischen Einheit noch aus und würde erst nach mehreren Generationen gelingen. Dagegen entwickelt er die These, die kulturelle Vereinigung der Ostund Westdeutschen sei bereits abgeschlossen, obwohl subjektive Unterschiede zwischen beiden Gruppen weiter bestehen. Die Ostdeutschen hätten längst unbewusst ein ganz neues Repertoire an Fähigkeiten erworben. Sie hätten es bereits gelernt, in einer Struktur zu leben, die erhöhte Individualisierung und soziale Fragmentierung fordere. Eine solche Gesellschaftsordnung sei den Mitgliedern hochentwickelter, postindustrieller westlicher Gesellschaften geläufig, ebenso das mit ihr verbundene Wertegefüge. Für die Ostdeutschen sei dieses aber neu gewesen. Die mit dem Übergang in eine solche Gesellschaftsordnung verbundenen Anforderungen hätten einen radikalen Bruch mit der bisherigen Lebenserfahrung der Ostdeutschen dargestellt, die sich an einer „stagnierenden, wenn nicht statischen, äußerst kargen sozioökonomischen Gemeinschaftsordnung" 39 orientiert hätten. Die Umerziehung von einer sozialistischen zu einer (post-)kapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre abgeschlossen. Die Ostdeutschen hätten sich eingelebt. Diese These stellt eine Variante der in der Mentalitätsforschung dominierenden Konzeption von der DDR als provinziellem Lager dar, die den Ostdeutschen eine provinzielle Mentalität zuschreibt. Eine solche Mentalität, so der Grundtenor, die auf den permanenten ökonomischen Mangelzustand der DDR zurückzuführen ist, sei jetzt dem Konsumrausch der neuen Zeit gewichen. Die während der Umfrage festgestellten Antagonismen zwischen Ost- und Westdeutschen schreibt Mc Falls der Konstruktion einer „posthumen DDR-Identität" zu. Die Konstruktion einer solchen unabhängigen Identität in Opposition zur Dominanz des Westens stelle aber einen notwendigen Schritt dar, damit sich der einzelne in den neuen Gesellschaftsstrukturen aufgehoben fühle und impliziere somit die prinzipielle Anerkennung der kritisierten Gesellschaftsordnung. 40 Der Hallenser Hans-Joachim Maaz geht dagegen von der psychoanalytischen Perspektive aus, um die Situation der Bürger in den neuen Bundeslän38

Dahn, S. 104.

39

Mc Falls, S. 23.

40

Vgl. dazu Mühlberg, S. 30-38.

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dem zu analysieren. Maaz hält die Zweiteilung der DDR-Bevölkerung in Opfer und Täter für unzutreffend. Die Lebensweise des ganzen Volkes sei durch die deformativen Wirkungen des totalitären Regimes gestört gewesen. Dabei war es nicht möglich, sich der Deformation zu entziehen; Unterschiede habe es lediglich darin gegeben, wie man auf repressive Gewalt reagieren konnte. Davon seien nicht nur die Politik, die Wissenschafts- und Wirtschaftspraxis, sondern gleichermaßen auch das Rechtswesen und die Bildimg betroffen gewesen. Diese Zerstörungen hätten bis in die Alltagskultur des zwischenmenschlichen Zusammenlebens und vor allem bis in die psychischen Strukturen jedes einzelnen hineingewirkt. 41 Als Folge dieser allseitigen Repression nennt Maaz das Mangelsyndrom; ein Zustand, der dadurch entstehe, dass Grundbedürfhisse nur mangelhaft befriedigt werden. Manifestationen eines solchen Zustandes seien Spannung, Gereiztheit, Unzufriedenheit und Angst. Wird auch noch das Fühlen untersagt, wie i m Falle der DDR-Bevölkerung, so entsteht der Geßihlsstau. Die Erfahrung der Unsicherheit, der Minderwertigkeit, des Misstrauens sowie der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, die für Maaz zu den Grunderfahrungen aller Bürger Ostdeutschlands zählen, ist nichts anderes als das Resultat eines chronischen Mangelzustandes. Einen wichtigen Beitrag zur Interpretation literarischer Texte i m Hinblick auf die Identitätsproblematik stellt die Arbeit von Karsten Dümmel dar. Er analysiert, dass in zahlreichen Erzähltexten der DDR-Literatur in den siebziger und achtziger Jahren (u.a. von Thomas Brasch, Christoph Hein, Volker Braun, Monika Maron) die zerstörerischen Auswirkungen einer „ verordneten kollektiven Identität " 4 2 ästhetisch verarbeitet sind, wie beispielsweise der Verlust der Konfliktfahigkeit, ein manipuliertes Gedächtnis oder ein gepeinigtes Gewissen. Der Arbeit liegt die Opposition Individuum/Gesellschaft zugrunde, wobei dem Prozess der Auslöschung der Ich-Identität besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. A n den Texten weist er die stetige Zurücknahme des privaten Ich hinter die Normen des kollektiven Ich nach, was zu einer Verkümmerung der Individualität geführt habe. Dabei ergeben sich wesentliche Spannungsmomente und Brüche in der Auseinandersetzung sowohl mit dem gelebten Leben als auch mit der Literatur. Die kollektive Ich-Identität war in der DDR stark ausgeprägt; hervorhebenswerte Momente sind das Verflochtensein des Individuums in sozialen Gefugen und das Bewusstsein des Individuums, mit dem Gemeinschaftsgefuge im kollektiven Austausch zu stehen.

41

Vgl. Maaz, S. 12.

42

Dümmel, S. 13.

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I I . Spannungen - Ent- und Verortungen - Kontinuität „Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen: sie gleichen Kindern einer Familie, die getrennt in verschiedenen Umwelten aufwuchsen und auf die eine andere Art von Erziehung eingewirkt hat. Denn der Eiserne Vorhang der fünfziger Jahre, der in den sechziger Jahren in Deutschland zu einer Betonmauer wurde und nach 28 Jahren gewaltlos beseitigt werden konnte, trennte nicht nur Militärblöcke, Wirtschaftsgefüge, sondern auch Lebensgefühle, die nicht so schnell wie die Mauer zu beseitigen sind." (Günter de Bruyn 1990)43 A n dieser Stelle ist es dringend geboten, sich mit dem spannungsgeladenen Begriff der Wende auseinander zu setzen. Diese Zeit und die darin ablaufenden Prozesse sind mit vielerlei Bezeichnungen wie Umbruch, friedliche Revolution, Zeitenkehre und Wende belegt worden. In diesem Kontext sind die Aussagen von Karl Otto Conrady 44 und Bernd Schirmer 45 von Interesse. Beide betonen die Bestrebungen, Klassifizierungsmuster aufzustellen und somit mit dem Schlagwort Wende eine Erklärung für die Ereignisse des Herbstes 1989 haben zu wollen. Conrady hebt zudem die Vereinnahmimg des Wortes Wende durch die SED-Funktionäre hervor, in deren Formulierungen Ende Oktober, Anfang November 1989 erstaunlich häufig, vor dem Hintergrund der eigenen Absicherung, von der Wende die Rede ist. Was verbirgt sich hinter diesem Allerweltswort? I m „Grimmschen Wörterbuch" ist nachzulesen, dass sich seine Verwendung „ im wesentlichen auf die Anwendung im Sinne von Umschlag, Wechsel, Wendepunkt ' 4 6 beschränkt. Also auf Anwendungsbereiche, die nicht lediglich an ein Ereignis gebunden sind, sondern auch Gesellschaftsprozesse durchziehen können, das Moment der Wiederholung implizieren. Für mich ergibt sich die zwingende Frage, ob dieser Begriff der Wende für die literaturwissenschaftliche Analyse tauglich ist, da er mehr Fragen provoziert, als Probleme klären kann. I m Einklang mit und der Weiterführung des Ansatzes von Schirmer seien diese benannt: Die Wende als Stoff?; Wendeliteratur; Literatur der Wende?; der gewendete Autor?; gewendete Texte, Motive und ästhetische Konzeptionen? ... Ich könnte diese Reihe fortführen und stoße auf ein Problem, das auch Hanno Möbius auf der Tagung 1995 in Halle/S. zur Thematik „Literatur als Wegbereiterin zur geistig kulturellen Einheit Deutschlands" 47 in seinem Beitrag aufgegriffen hat. Die so beschriebene Literatur dient in der Literaturkritik dominant zur Kennzeichnung der inhaltlichen Aspekte, nicht aber zur Erkundimg ästhe43

Bruyn, S. 28.

44

Vgl. Von einem Land.

45

Schirmer, S. 3-5.

46

Deutsches Wörterbuch, S. 1742.

47

Möbius, S. 46-53.

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tischer Konzeptionen. Aus diesem Grund stehe ich diesem Begriff skeptisch gegenüber, weil er zum einen meiner Intention, auch Kontinuität zeigen zu wollen, entgegensteht und zum anderen zu sehr auf die politische Hülle der Texte fokussiert. Die nach 1989 geschriebenen Texte von Thomas Brussig, Volker Braun, Kurt Drawert, Wolfgang Hilbig u.a. sind stets i m Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Ästhetik zu lesen. Als eine direkte Antwort auf den Versuch der SED-Führung, den alten Machtanspruch zu retten, werte ich Christa Wolfs Rede auf der bereits genannten Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz: „Mit dem Wort „Wende" habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe ein Segelboot, der Kapitän ruft: „Klar zur Wende", weil der Wind sich gedreht hat, und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärtstreibenden Lage?"48 Als eine Zugangsmöglichkeit zur Bestimmung und Interpretation der Texte nach 1989 erweist sich das Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie. Die DDR-Literatur hat, viele , Ersatzfunktionen' bedienend, im Zentrum gestanden. Dieser Platz ist unter den veränderten politischen, sozialen, marktorientierten und künstlerischen Bedingungen nicht mehr realisierbar und musste auf Grund des „radikale(n) Umwandlungsprozess(es)" 49 aufgegeben werden. Dabei gehe ich von der These aus, dass vor und nach 1989 den Peripherien sowohl in der DDR als auch in Ostdeutschland entscheidende Bedeutung zukommen. Homi K. Bhabha schreibt i m Aufsatz „Dissemi Nation: Time, Narrative and the Margins of the Modern Nation", 5 0 dass heute die moderne Nation von den Rändern neu erschrieben wird, von denen, die an den Rändern leben. Die Literatur Ostdeutschlands befindet sich zum einen an den Rändern und diese wollen, wie es Brigitte Burmeister 1995 in einem Vortrag an der Leipziger Universität formuliert hat, gefüllt sein. 51 Zum anderen befinden sich gleichermaßen viele Autorinnen und Autoren durch diese beschriebenen Bewegungen an den Rändern und haben so die Chance, von hier aus, durch ihre persönlichen, politischen und ästhetischen Verortungen, sowie durch die Neu- und Andersartigkeit ihrer poetologischen Ansätze, ihrer Unduldsamkeit, ihrer doppelten Blickweisen zu neuen Orten zu finden.

48

Wolf, Christa: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz, In: Dies., Reden, S. 119.

49

Hohendahl, S. 133 f.

50

Bhabha.

51 Brigitte Burmeister formulierte im Rahmen ihrer Poetik-Vorlesung zum Thema „Am Ende der Lesekultur" am 5.12.1995 an der Leipziger Universität, dass die Literatur in der gegenwärtigen Phase der 3. technologischen Revolution nicht mehr im Zentrum stehen kann, dass sich diese vielmehr nun am Rand befände und „diese Ränder wollen gefüllt sein

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Nach 1989 leben Autorinnen und Autoren in »Zwischenzeiten' und ,Zwischenorten \ Das Leben an den Peripherien bedeutet konsequentes Hinterfragen, rigoroses Überdenken, aber auch die bewusste Weiterfuhrung ästhetischer Konzeptionen. Ich bin sowohl in den poetologisch-essayistischen Selbstaussagen als auch in den poetischen Texten vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf die Begriffe Ort, Grenzsituation und Marginalisierung gestoßen. Dabei verstehe ich den Begriff des Ortes vieldimensional: als räumliche, zeitliche und politische Größe, zu dem sich das Individuum in Beziehung setzt, als Größe von Sprache, als Moment von Rekonstruktion und Imagination und als marginales Moment, das somit Begrenzungen unterlegen ist, an das und von dem sich das Individuum sowohl herantasten als auch lösen kann. Daraus ergeben sich Konsequenzen, die in den ästhetischen Schreibprozessen der Jahre nach 1989 in Spannimgsfeldern nachweisbar sind: 1. Die Entortung i m Sinne des Herausfallens und des Reibens an Grenzen; 2. Die Verortung des Individuums im Sinne des Ab- und Herantastens, des Ort-Findens und Ort-Bestimmens. Indem Orte begrenzt sind, können Marginalisierungen beschrieben werden. Das EIGENE und das ANDERE - FREMDE - werden so erhellt. Die Distanzierung und Näherung des schreibenden Ich von und an das Andere erscheinen bei dieser Betrachtung in einem schärferen Licht. Carsten Gansei spricht von der nach 1989 in Ostdeutschland entstandenen Literaturlandschaft als von der „Freiheit des Falls" 52. Dabei wiegt das Verschwinden der eigenen Bedeutung sehr schwer. Während Heiner Müller in einer wahren Selbstverzweiflung Interview auf Interview gegeben hat, war Volker Braun zunächst bestrebt, auf Lesereisen und i m Rahmen verschiedener Stipendien, den Standpunkt des engagierten Literaten und Kritikers in veränderter politischer Landschaft zu verorten. Der für ihn neuen Situation der Nivellierung von Widersprüchen unter demokratisch-marktwirtschaftlichen Bedingungen setzt er seine Sprachwut über den Verlust von einmal eingenommenen Haltungen inmitten einer unter Klassengesichtspunkten polarisierten Gesellschaft entgegen. 53 Ganz ähnliche Gedanken äußerte Helga Königsdorf im Gespräch mit Günter Gaus in „Zurück in die Alltagsgeschichte" (1994). 5 4 Aus den genannten Veränderungen ergeben sich differenzierte Schreibansätze, die sich in einer Vielzahl von Genres, Themen und Gestaltungstechniken realisieren. Diese anderen Situationen werden hauptsächlich in der ostdeutschen Literatur reflektiert, die Blicke westdeutscher Autoren wie Günter Grass, Rolf Hochhuth und Martin Walser sind Gegenstand einer anderen Betrachtung. 52

Gansei, S.41.

53

Vgl. dazu: „Ideale in der Kolonie". Die Rede des Schillerpreisträgers Volker Braun. In: Stuttgarter Zeitung vom 11.09.1992. 54

„Zurück in die Alltagsgeschichte", S. 79 ff.

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Zu dem von Christa Wolf und anderen Autorinnen und Autoren angestrebten Dialog gehört auch das Aufschreiben von Biographien zur Selbst- und Fremderkundung. Identitätsfindung ist stets von der Akzeptanz der anderen abhängig. Einverständnis und das notwendige Kennen lernen können nur erzielt werden, wenn sich Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen. Über dieses Geschichtenerzählen, so Christa Wolf 1991 im Briefwechsel mit Jürgen Habermas, kann sich Toleranz einstellen. 55 Das große Gespräch wurde von der ostdeutschen Literatur in Gang gesetzt. Davon zeugt die Fülle autobiographischer Texte von Günter de Bruyn bis Hedda Zinner. 5 6 Wolfgang Emmerich spricht von diesem Phänomen als der „ Wiederaneignung des Verschwiegenen in Autobiographie und Dokument " . 5 7 Monika Maron nennt ihren Text „Pawels Briefe - Eine Familiengeschichte". Anhand von Briefen aus dem Nachlass ihres Großvaters und durch Gespräche mit ihrer Mutter will Maron dessen Lebensgeschichte rekonstruieren. A m Beginn des Textes erörtert sie ihr Verfahren: „ Seit ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben, frage ich mich, warum jetzt, warum erst jetzt, warum jetzt noch. " 5 8 Der Rekonstruktionsprozess nimmt einen breiten Raum in diesem Werk ein. Über die Darstellung der Beziehung zur Mutter und die Beziehungen zum Großvater wird dieser zur Verortung und Selbstvergewisserung der Autorin wichtig. Erich Loest gelingt es mit dem Roman „Nikolaikirche" 5 9 - der parallel zum Schreibprozess verfilmt wurde Historisches mit Fiktionalem zu verbinden. Seine große Vertrautheit mit der Stadt Leipzig, die er 1981 verlassen musste und in die er unmittelbar nach 1989 zurückgekehrt ist, macht es ihm möglich, seine Figuren an authentischen Schauplätzen agieren zu lassen, Stimmungen einzufangen und über eine Familiensaga, in deren Mittelpunkt der Volkspolizeigeneral Alfred Bacher steht, die allmächtige Präsenz der Staatssicherheit offen zu legen. Heiner Müller hat die Vereinigimg beider deutscher Staaten mit tiefer Skepsis begleitet. Wider der Aufbruchsstimmung von Hunderttausenden hat er am 4. November 1989 den ökonomischen Zusammenbruch und eine düstere soziale Zukunft prophezeit. Dieser Autor der Differenz und der provokanten Zuspitzung ist bis zu seinem Tod 1995 auf Widerspruch und Widersprüche ausgewesen, wenn auch sein Schreiben stagnierte. Dabei waren die heftigen Angriffe des deutschen Feuille55

Vgl. dazu: Wolf, Weg, S. 150-155.

56

Vgl. dazu: de Bruyn, Günter: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992); Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996); Endler, Adolf: Tarzan am Prenzlauer Berg. Sudelblätter 1981-1983 (1994); Janka, Walter: Schwierigkeiten mit der Wahrheit (1990); Kant, Hermann: Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart (1991); Kunert, Günter: Erwachsenenspiele. Erinnerungen (1997); Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992). 57

Emmerich, S. 479.

58

Maron.

59

Loest, Nikolaikirche.

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tons wegen angeblicher Staatssicherheitskontakte noch das kleinste Übel. 6 0 Ihm schien sein Gegner abhanden gekommen sein, das Material aus dem Leben in zwei Diktaturen fehlte. M i t der Bevorzugimg des Komischen - von humorvoll bis kritisch, von ironisch-satirisch bis grotesk - wird auf die grundlegenden gesellschaftlichen Prozesse geantwortet, die durch die Jahre 1989/90 verschärft oder in Gang gesetzt wurden. Die von mir benannten Brüche verlangen nach diskontinuierlichen Darstellungsformen, wie sie die Stilarten des Komischen bieten. Volker Braun hat sich der grotesken Figur des Wendehalses angenommen. Auch hier ist es lohnenswert, der Bedeutung des Wortes nachzugehen. Kurz nach 1600 wird diese Figur erstmals moralisierend gegen die Ketzer ins Feld geführt, die vom katholischen zum reformierten Glauben übergetreten waren. 61 Bei Braun heißt es: „Ich gehe umher, und wie ich mich eben herumwende, sehe ich, wie sich auch mein Hintermann herumgewandt hat und statt, wie erwartet den Kopf wieder zurückzudrehen, mit so verrenktem Halse fortmarschiert " 6 2 Thomas Brussig zeigt im Roman „Helden wie w i r " 6 3 das Absurde i m DDR-Alltag und nimmt endgültig Abschied von der älteren Autorengeneration der DDR und deren Über-Ich-Funktion, indem er Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz der weitbesten Eiskunstlauf-Trainerin, die einst Katharina Witt zu olympischen Ehren führte, Jutta Müller, in den Mund legt. Ironisch sind Thomas Rosenlöchers „Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern" 64 und Ingo Schutzes „Simple Storys" 65 zu lesen und zu verstehen. Schulzes Text, in der 1. Person Singular erzählt, bietet einen Reigen von Ostschicksalen. Diese aneinandergereihten Geschichten, verknüpft durch die Verwandtschaftsverhältnisse der Protagonistinnen und Protagonisten, führen den Alltagswahnsinn in Umbruchzeiten vor. Dabei hält der Autor die Balance zwischen Ernst und Witz, zwischen einem distanzierten, oft lakonischen Erzählen und einer konkreten Anteilnahme. Fremdheitserfahrungen werden u.a. von Christa Wolf und Wolfgang Hilbig thematisiert. Im Text „Medea" stehen das ferne Kolchis und die verlorengegangenen Utopien dem Ort Heimat nah, nachdem die Protagonistin erfüllt ist: „Reden steigert das Heimweh ins nicht zu Ertragende". 66 In der Sehnsucht

60

Vgl. dazu: Noll, S. 63.

61

Vgl. dazu: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, S. 1751.

62

Braun, S. 9.

63

Brussig.

64

Rosenlöcher.

65

Schulze, Storys.

66

Wolf, Medea, S. 30.

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nach diesem Ort wird der Versuch einer erinnernden Rekonstruktion unternommen: „Korinth und alles, was in ihm geschehen war und geschah, ging mich ja nichts an. Unser Kolchis ist mir wie mein eigener vergrößerter Leib gewesen, an dem ich jede seiner Regungen spürte. Den Niedergang von Kolchis ahnte ich wie eine schleichende Krankheit in mir selbst, Lust und Liebe entwichen".67 In dem Roman „Das Provisorium" klopft Wolfgang Hilbig „noch einmal mit kalter Wut die Unvereinbarkeiten von Ost und West " 6 8 fest. Als Entorteter zwischen Ost und West vor 1989 zwischen den Welten pendelnd, lässt er, die Nähe zu seiner Biographie ist stets präsent, seinen Helden, den Autor C. die Hölle durchschreiten. Fremdheitserfahrungen wie Alkoholismus, Panik vor Beziehungen und Bindungen werden sprachlich genau beschrieben, nichts wird beschönigt oder weggelassen. Dieser Roman ist auch als Absage an die Literatur und den Literaturbetrieb des Westens zu lesen. Die Bücher-Mangelwirtschaft im Osten gewohnt, muss er nun in einer Buchhandlung des Westens desillusionierend erfahren: „ Und dann erkannte er, daß die Bücher hier im Westen nichts mehr wert waren. Es dauerte eine ganze Weile, bevor dieser Gedanke in seinem Hirn Fuß faßte, um so nachhaltiger war der Schock, den er auslöste. " 69 Bei Hilbig wird die Diktatur des Proletariats höchst problematisch konturenlos von der Diktatur des Geldes abgelöst. Der verdreckte Leipziger Hauptbahnhof unmittelbar nach 1989 wird so von den Strahlen eines siegreichen Markenzeichens erhellt: AEG.

IQ. Resümee Ostdeutsche Autorinnen und Autoren schreiben nach 1989 aus unterschiedlichen Richtungen und mit differenzierten Haltungen. Es ist falsch von einer ,Stunde Null' im Sinne eines künstlerisch-ästhetischen Neuanfanges auszugehen. In meinem Aufsatz „Das Weben am ganzen Faden - Prosa von Angela Krauß" 7 0 habe ich das Fortschreiben einer ästhetischen Konzeption am Werk der Leipziger Autorin analysiert. Diese Kontinuität, die sich u.a. in formal-ästhetischen Verfahren wie der Collage, der Allegorie, dem Selbst- und Fremd-

67

Wolf, Medea, S. 98.

68

Arend.

69

Hilbig, S. 180.

70

Nagelschmidt, S.41 ff.

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zitat realisiert, 71 ist für die ostdeutsche Literatur bestimmend. Iris Radisch entwirft in ihrer Einschätzung der deutschen Literaturen nach 1990 das einprägsame Bild von zwei Zügen, die auf getrennten Streckennetzen fahren. 72 Ich stimme ihrer Wertung zu, dass im Gegensatz zur westdeutschen Literatur „ der reinen Immanenz, die sich häuslich oder postmodern soundtraeckmäßig (...) an der Oberfläche der Erscheinungen " 7 3 eingerichtet hat, die ostdeutsche Literatur „in einem beinahe vergessenen Sinn gesellschaftskritisch " 7 4 ist. Es gehört viel Mut dazu, sich nicht dem immer stärker werdenden Druck des Marktes, der Banalität und der Mode zu unterwerfen. Kerstin Hensel hat diese Gefahren bereits 1990 sehr deutlich gesehen. Als es noch eine DDR gab, konnte, unter vielen tumben und schwer zu überwindenden Widersprüchen, geschaffen werden. Und zwar eigene, anspruchsvolle, hochkarätige Werke; über die man, spricht man über die Kunst des 20. Jahrhunderts, sprechen wird. Vom Aphorismus bis hin zur Operninszenierung war das Unverwechselbare möglich. Man musste nur können oder wollen. Heute walten in großen Weiten die Geschmäcker. Den Geschmack (der das Geld gibt oder nicht gibt) bestimmt die Mode, Mode ist Zensur. Was wir heute schaffen werden, ist unbestimmt und fällt leicht durch das Raster. 75

Literatur Arend, Ingo: Die Anrufung des toten Gottes. In: Freitag-Literatur, Berlin, 24.03.2000. Bahr t Egon: Laudatio für Daniela Dahn. In: Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 1999 an Daniela Dahn. Hrsg. von Michael Hepp im Auftrag der Kurt TucholskyGesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1999. Benjamin, Jessica: Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M. 1990. Bhabha, Homi K.: Nation and Narration. London 1990. Biermann, Wolf: Nur, wer sich ändert bleibt sich treu. Der Streit um Christa Wolf, das Ende der DDR, das Elend der Intellektuellen: Das alles ist komisch. In: Die Zeit, Hamburg, 24.08.1990. Braun, Volker: Der Wendehals. Eine Unterhaltung. Frankfurt am Main 1995. Brecht, Bertolt: Wahrnehmung (1949). In: Ders.: Gedichte VII: 1948-1956. Frankfurt/M. 1964.

71

Vgl. dazu Schulze, Teppich.

72

Radisch, S. 26.

73

Ebd., S. 25.

74

Ebd., S. 26.

75

Gute Nacht, S. 121.

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Brussig, Thomas: Helden wie wir. Berlin 1995. Bruyn, Günter de: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten. Frankfurt/M. 1994. Cohen, Roger: Germanys East and West. Still Hostile States of Mind. In: The New York Times International. October 25,1999. Dahn, Daniela: Vertreibung ins Paradies. Unzeitgemäße Texte zurZeit. Reinbek b. Hamburg 1998. Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder: „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge". Analysen und Materialien. Hrsg. von Karl Deiritz/ Hannes Krauss. Hamburg 1991. Deutsches Wörterbuch Leipzig 1955.

von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 28, bearbeitet von Alfred Götze.

Dümmel, Karsten: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt/M. u.a. 1997. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig 1996, erw. Neuausgabe. Endlich, Luise: Ganz einfache Geschichten. Berlin 1999. Erhart, Walter: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Hrsg. von Walter Erhart/Dirk Niefanger. Tübingen 1997. Es geht nicht um Christa Wolf. Anz. Frankfurt/M. 1995.

Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hrsg. von Thomas

Gansei, Carsten: Auf der Suche nach dem Gral aber kein Seeweg nach Indien? Deutsche Literatur zwischen Gegendiskurs und dem Prinzip Hoffnung. In: »Angekommen?! DDR-Literatur in Deutschland". II. Uckermärkisches Literatursymposium in Angermünde vom 3.-5. Mai 1994. Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle. Aufsätze. Frankfurt/M. 1999. Gute Nacht, du Schöne. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt/M. 1990. Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium. Frankfurt am Main 2000. Hohendahl, Peter-Uwe: Wandel der Öffentlichkeit. Kulturelle und politische Identität im heutigen Deutschland. In: Zwischen Traum und Trauma - Die Nation. Hrsg. von Claudia MayerIswandy. Tübingen 1994, S. 133-134. Jdeale in der Kolonie". Die Rede des Schillerpreisträgers Volker Braun. In: Stuttgarter Zeitung, 11.09.1992. Jäger, Andrea: Schriftsteller der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Frankfurt/M. 1995. Kämmerer, Steffi: Zuhause unter Fremden. Einst Paradestraße, dann vom Klassenfeind gekauft. Die Karl-Marx-Allee wartet auf den Aufbruch. In: Süddeutsche Zeitung, München, 17./18.07. 1999. Königsdorf,

Helga: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Berlin 1990.

Königsdorf,

Helga: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Reden und Aufsätze. Hamburg-Zürich

1991. — 1989 oder Ein Moment Schönheit. Eine Collage aus Briefen, Gedichten, Texten. BerlinWeimar 1990. Kolbe, Uwe: Offener Brief an Bärbel Bohley vom 8.11.1989. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990.

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Angela Krauß und Christa Wolf. - Biographische, textkritische und literatursoziologische Diskurse. Dissertation. Universität Leipzig 1996. SenffU

Heinrich: Die Wüstenei der Westler. In: Süddeutsche Zeitung, München, 14./15.08.1999.

Steineckert, Gisela: Das Schöne an den Frauen. Berlin 1999. Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 1999 an Daniela Dahn. Hrsg. von Michael Hepp im Auftrag der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg 1999. Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990. Hrsg. mit einem Essay von Karl-Otto Conrady. Frankfurt/M. 1993. Wehdeking, Volker: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart-Berlin-Köln 1995. WelzeU Claus: Utopieverlust - die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren. Frankfurt/M. 1993. Wierlacher, Alois/Albrecht, Corinna: Fremdgänge. Eine anthologische Fremdheitslehre für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn 1995. Wir haben ein Berührungstabu. Zwei deutsche Seelen ~ einander fremd geworden. Margarete Mitscherlich und Brigitte Burmeister im Gespräch. München 1991. Wolf.; Christa: Hierzulande Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994-1998. München 1999. — Medea. Stimmen. Frankfurt/M. 1996. — Reden im Herbst. Berlin-Weimar 1990. — Was bleibt. Frankfurt/M. 1990. — Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Berlin 1994. Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Hrsg. von Walter Erhart/Dirk Niefanger. Tübingen 1997. Zwischen Distanz und Nähe. Eine Autorinnengeneration in den achtziger Jahren. Hrsg. von Helga Abret/Ilse Nagelschmidt. Bern u.a. 1998. Zurück in die Alltagsgeschichte". Helga Königsdorf im Gespräch mit Günter Gaus. In: ndl: Neuere deutsche Literatur, H. 5,1994, S. 79-92. Zwischen Traum und Trauma - Die Nation. Hrsg. von Claudia Mayer-Iswandy. Tübingen 1994.

Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses aus volkswirtschaftlicher Sicht Von Spiridon Paraskewopoulos I. Die Entwicklung vor der Wiedervereinigung 1. Einführende Bemerkungen 1990, das Jahr der deutschen Wiedervereinigung, markiert einen Neubeginn der deutschen Gesamtstaatlichkeit nach dem zweiten Weltkrieg. Heute befinden wir uns i m 15. Jahr nach der Wiedervereinigung. Die fünfzehn Jahre des Miteinander liefern ausreichende und vielfältige ökonomische Daten, um eine Bilanz über die bisherige Entwicklung des wiedervereinigten Deutschlands aus ökonomischer Sicht zu ziehen. Die Fragen, die sich, aus meiner Sicht, dabei stellen, sind zusammengefasst die folgenden: Erstens: Wie ist der gesamtdeutsche Wirtschaftsprozess bisher verlaufen? Zweitens: Wie können die entsprechenden Daten bewertet bzw. interpretiert werden? Drittens: Was kann man daraus heute über die weitere ökonomische Entwicklung Deutschlands ableiten? Diese Fragen lassen sich plausibel beantworten - und vor allem sind bewertende Vergleiche für die Zeit vor und nach der Wiedervereinigung möglich, wenn auch die ökonomische Entwicklung der letzten 15 Jahre vor der Wiedervereinigung in die Betrachtung einbezogen wird.

2. Die Entwicklung der alten Bundesländer 1975-1990 a) Bevölkerung, Erwerbspotential,

Beschäftigung

Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln 1 nahm die westdeutsche Bevölkerung von 61,8 Mio. im Jahre 1975 auf 63,7 Mio. Menschen im Jahre 1990 zu. Die Bevölkerung wuchs also in dieser Zeit um 1,9 Mio. Menschen. Die Bevölkerung im Erwerbsalter, d.h. die Zahl der 15jährigen bis 65jährigen Personen (Arbeitspotential), nahm dabei von 39,6 Mio. (1975) auf 1

Siehe Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (Hg.): Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 1993-2000; Dies.: Deutschland in Zahlen, 2001-2004.

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Spiridon Paraskewopoulos

44.2 Mio. (1990), d.h. um 4,6 Mio. Personen zu. Damit stieg der Anteil der potentiell aktiven Personen an der Gesamtbevölkerung von 64,1 % (1975) auf 69,4 % (1990). Die Zahl der Erwerbspersonen (Erwerbswillige und -fähige, d.h. Erwerbstätige und Arbeitslose) bzw. die daraus errechnete Erwerbsquote (Erwerbspersonen i m Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) stiegen in der gleichen Zeit von 27,2 Mio. bzw. 44,0 % auf 31,3 Mio. bzw. 49,6 %. Damit erhöhte sich die Zahl der Erwerbspersonen um 4,1 Mio. und die Erwerbsquote um 5,6 Prozentpunkte. Dies heißt, dass die Zahl der Erwerbspersonen um etwa doppelt so viel wie die Bevölkerungszahl zunahm. In der gleichen Zeit stieg sowohl die Zahl der Erwerbstätigen von 26,1 Mio. (1975) auf 29,3 Mio. (3,2 Mio.) als auch die der Arbeitslosen von ca. 1,1 Mio. (4,0%) auf 1,9 Mio. (6,0 %). Die Entwicklung dieser Größen erlaubt zunächst folgende rechnerische Überlegungen: Erstens, wäre die Erwerbsquote des Jahres 1975 (44,0 %) bis 1990 unverändert geblieben, dann hätte die Zahl der Erwerbspersonen im Jahre 1990 nicht 31.3 Mio., sondern 28,0 Mio. betragen. Daraus folgt, dass es 1990 nicht nur keine Arbeitslosigkeit in Westdeutschland gegeben hätte, sondern vielmehr 1,3 Mio. unbesetzte Arbeitsplätze. Zweitens, würde man umgekehrt die Erwerbsquote von 1990 (49,6 %) auch für das Jahr 1975 anwenden, dann wären nicht 1,1 Mio. (4,0 %), sondern 4,6 Mio. (15,0 %) Personen arbeitslos gewesen. Drittens, die westdeutsche Volkswirtschaft hat in diesem Zeitabschnitt 3,2 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit nur um 1,9 Mio. Menschen zugenommen hat. Viertens, die Beschäftigungsquote (tatsächlich beschäftigte Personen bezogen auf die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter) stieg von 65,9 % i m Jahre 1975 auf 66,3 % im Jahre 1990. Diese Zahlen sprechen meines Erachtens trotz des Anstiegs der Arbeitslosenquote auf 6 % eindeutig für eine in dieser Zeit dynamisch gewachsene Volkswirtschaft, da im Jahr 1990 absolut und relativ (prozentual) mehr Menschen beschäftigt waren als im Jahre 1975. Letztere Aussage widerspricht der ständig wiederholten - allerdings für mich unbegründeten - Behauptung des renommierten Münchener Ökonomen Hans-Werner Sinn, der sagt, dass die westdeutsche Volkswirtschaft seit Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an Dynamik und Wachstumsfähigkeit verloren hat. Dass dennoch im Jahre 1990 die westdeutsche Volkswirtschaft mit dem Problem der Arbeitslosigkeit, die 1,9 Mio. Menschen (6,0 %) traf, zu tun hatte, ist nicht zu leugnen. Die primäre Ursache dafür war allerdings nicht eine geringere gesamtwirtschaftliche Arbeitsnachfrage - die tatsächliche Beschäftigungsquote stieg i m Gegenteil um 0,4 Prozentpunkte - sondern eindeutig das überdurchschnittliche

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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Wachstum des Arbeitsangebots, das die Erwerbsquote um 5,6 Prozentpunkte, d.h. gegenüber dem Bevölkerungswachstum überdurchschnittlich erhöhte. Zu dieser Entwicklung haben maßgebend zwei Faktoren beigetragen. Erstens machten sich auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere ab Ende der siebziger Jahre, die überdurchschnittlich geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre bemerkbar, was auch die Erwerbsquote der Männer von 57,2 % auf 60,8 % erhöhte. Zweitens, erhöhte die emanzipatorische Bewegung der Frauen deren Erwerbsquote von 31,9% (1975) auf 39,2% (1990). Diese Entwicklung hatte ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die gesamte Erwerbsquote. Dieser Einflussfaktor, der nach der Wiedervereinigung Deutschlands zusätzlich verstärkt wurde, beeinflusst den deutschen Arbeitsmarkt bis heute nachhaltig. b) Bruttoinlandsprodukt Auch die Werte des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) sprechen für eine dynamische Entwicklung der westdeutschen Volkswirtschaft i m betrachteten Zeitraum. So stieg das reale BIP (in Preisen von 1995) von 1.002,8 Mrd. € im Jahre 1975 auf 1.479,6 Mrd. € im Jahre 1990.2 Dies bedeutet, dass die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP 2,6 % betrug. M i t einer solchen jährlichen Wachstumsrate verdoppelt sich das reale Bruttoinlandsprodukt in 27 Jahren.

1.479,6 1400 1200

o 3 UJ "O ^

1000

1.002,8

800 600 400 200 0 1975

1990

Abbildung 1: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes von 1975 bis 1990

2

Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.): Jahresgutachten 2004/05, Tabelle 24*.

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Das reale BIP pro Kopf stieg in der gleichen Zeit von 16.210 6 auf 23.390 €, d.h. mit einer jährlichen durchschnittlichen Wachstumsrate von 2,5 %. Auch das reale BIP pro Beschäftigten nahm in dieser Zeit von 38.240 € (1975) auf 48.870 6 (1990) zu. Somit stieg die jährliche durchschnittliche Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten um 1,6 %. Dies bedeutet auch, dass eine Arbeitskraft i m Jahre 1990 real 27,8 % mehr leistete als eine Arbeitskraft im Jahr 1975.3

60000

1975

1990

( • B I P je Einwohner E3BIP je Erwerbstätigen

Abbildung 2: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf und je Erwerbstätigen von 1975 bis 1990 in Euro

c) Außenwirtschaftliche

Tätigkeit

Viel deutlicher werden die dynamische Entwicklung und die Stärke der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft durch ihre Exporttätigkeit angezeigt. So nahmen die realen (in Preisen von 1995) Exporte von Waren und Dienstleistungen von 204,5 Mrd. € (1975) auf 449,3 Mrd. € (1990) zu. 4 Die Exportwerte haben sich damit innerhalb von 15 Jahren mehr als verdoppelt, die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate betrug 5,4 %. In dieser Zeit betrug der reale Exportüberschuss von Waren und Dienstleistungen 866,4 Mrd. €.

3 4

Vgl. Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder".

Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Jahresgutachten 2004/05, Tabelle 31*.

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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Der Anteil der Exporte am BIP erhöhte sich von 20,4 % (1975) auf 30,4 % (1990). Dieser positive Trend wird noch deutlicher sichtbar durch den Anstieg des Anteils Westdeutschlands am globalen Warenhandel von 10,7 % (1975) auf 11,9 % (1990). Diese Entwicklung ist ein besonderer Hinweis darauf, dass in diesem Zeitabschnitt die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Volkswirtschaft deutlich zugenommen hat.

n. Die Periode nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1991 bis 2003 1. Alte Bundesländer a) Bevölkerung, Erwerbspotential,

Beschäftigung

Nach der Wiedervereinigung setzte sich, vor allem bedingt durch den Zustrom aus den neuen Bundesländern und aus dem Ausland (primär Auslandsdeutsche), die verstärkte Zunahme der Bevölkerung in Westdeutschland fort, die schon 1990 eingesetzt hatte. Die Bevölkerung stieg von 64,5 Mio. (1991) auf 67,7 Mio. Menschen im Jahre 2003. 5 Diese Zunahme von 3,2 Mio. Menschen in diesen 12 Jahren war um mehr als 1 Mio. höher als die Zunahme in den 15 Jahren davor. Während die Bevölkerung also um mehr als 3 Mio. Menschen gewachsen ist, war der Anstieg der Zahl der Personen i m Erwerbsalter (15 bis 65 Jahre), wesentlich geringer. Sie stieg lediglich von 44,6 Mio. (1991) auf 45,1 Mio. (2003). Somit nahm der Anteil der potentiell aktiven Personen an der Gesamtbevölkerung von 69,1 % auf 66,6 % ab. Diese Entwicklung wird von vielen Bevölkerungsexperten als Verschärfung des demographischen Problems in Deutschland interpretiert. Diese Deutung ist allerdings unverständlich, da von den 45,1 Mio. im aktiven Alter befindlichen Menschen, nur ca. 30 Mio. eine Beschäftigung finden können. Die Erwerbspersonenzahl stieg von 31,4 Mio. (1991) auf 32,9 Mio. (2003) Personen, somit nahm die Erwerbsquote von 49,1 % (1991) auf 48,6 % (2003) geringfügig ab. Durch den Anstieg der Erwerbspersonen um 1,5 Mio. und die Zunahme der Zahl der Personen im Erwerbsalter um 0,5 Mio. Personen verringerte sich die Differenz zwischen potentiell aktiven und Erwerbspersonen von 13,2 auf 12,2 Mio. Personen. Dieses ungenutzte Arbeitspotential von 12,2 Mio. Personen ist als Quelle für die Erwerbspersonen so beachtlich, dass man von einem demo5

Vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.), Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Ausgaben 1993-2000 und Deutschland in Zahlen, Ausgaben 2001-2004 und Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2004.

Spiridon Paraskewopoulos

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graphischen Problem in Westdeutschland, jedenfalls in der Gegenwart, nicht sprechen kann. In der gleichen Zeit stiegen sowohl die Zahl der Beschäftigten als auch die Zahl der arbeitslosen Personen. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg von 29,68 Mio. (1991) auf 29,85 Mio. (0,17 Mio.) i m Jahre 2003 und die Zahl der Arbeitslosen von 1,7 Mio. (5,4 %) auf 2,9 Mio. (8,8 %). Die Entwicklung dieser Größen erlaubt zunächst folgende rechnerische Überlegungen: Erstens, würde man die Erwerbsquote des Jahres 1975 (44,0 %) auch für das Jahr 2003 anwenden, dann betrüge die Zahl der Erwerbspersonen im Jahre 2003 nicht 32,9 Mio., sondern 29,8 Mio. Daraus folgt, dass 2003, bei einer tatsächlichen Beschäftigung von 29,85 Mio. eine Überbeschäftigung von 50.000 Menschen geherrscht hätte! Es gäbe in den alten Bundesländern also einen Mangel an Arbeitskräften. Zweitens, die westdeutsche Volkswirtschaft hat in diesem Zeitabschnitt etwa 0,2 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Da aber zugleich die Zahl der Erwerbspersonen um 1,5 Mio. gestiegen ist, stieg die Arbeitslosigkeit trotzdem um 1,2 Mio. an. 6 Drittens, die Beschäftigungsquote (Zahl der tatsächlich Beschäftigten bezogen auf die Zahl der 15- bis 65jährigen Personen) sank geringfügig von 66,5 % (1991) auf 66,2 % i m Jahre 2003. Dies bedeutet, dass i m Jahre 2003 zwar 0,3 Prozentpunkte weniger erwerbsfähige Personen beschäftigt waren als im Jahre 1991, aber 0,3 Prozentpunkte mehr als im Jahr 1975. Diese Zahlen sprechen meines Erachtens trotz der neunprozentigen Arbeitslosigkeit, dafür, dass sich die relative Beschäftigungssituation, sowohl gegenüber dem Jahr 1991 als auch gegenüber 1975 nicht verschlechtert hat. Dennoch waren i m Jahre 2003 in der westdeutschen Volkswirtschaft 2,9 Mio. (8,8 %) Menschen arbeitslos. Die Ursache dafür war aber auch in diesem Zeitabschnitt nicht primär eine mindere Arbeitsnachfrage der Volkswirtschaft, sondern die Zunahme des Arbeitsangebots um 1,5 Mio. Personen. Hauptursache dafür war ein Anstieg der Erwerbsquote der Frauen von 38,8 % i m Jahre 1991 auf 41,9 % im Jahr 2003, der dazu führte, dass das Arbeitsangebot der Frauen um 1,7 Mio. zunahm, während das der Männer gleichzeitig um 0,2 Mio. zurückging. b) Bruttoinlandsprodukt Das reale BIP (in Preisen von 1995, alte Bundesländer ohne Berlin) stieg von 1.494,4 Mrd. € im Jahre 1991 auf 1.696,4 Mrd. € im Jahre 2003. 7 Dies bedeutet, dass die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP

6

Aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungen von Erwerbs- und Arbeitslosen weicht die Summe aus Erwerbstätigen und Arbeitslosen geringfügig von der Anzahl der Erwerbspersonen ab. 7

Vgl. Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder".

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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1,0 % betrug. Das reale BIP pro Kopf stieg in der gleichen Zeit von 24.150 € auf 25.880 €, d.h. mit einer jährlichen durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,6 %. So nahm in dieser Zeit das reale BIP insgesamt um 13,4 % zu.

Abbildung 3: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Westdeutschland (ohne Berlin) von 1991 bis 2003

Das reale BIP pro beschäftigte Person stieg von 49.840 € (1991) auf 54.560 € (2003). Somit betrug das jährliche durchschnittliche Wachstum der Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten 0,8 %. 60000

50000

40000

30000

20000

10000

1991

2003

[ • B I P je Einwohner • BIP je Erwerbstätigen

Abbildung 4: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Westdeutschland (ohne Berlin) pro Kopf und je Erwerbstätigen von 1991 bis 2003 in Euro

Spiridon Paraskewopoulos

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c) Außenwirtschaftliche

Tätigkeit

Die dynamische Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Volkswirtschaft nach der Wiedervereinigung werden auch durch ihre Exporttätigkeit angezeigt. So nahmen die realen Exporte (Ausfuhren in Preisen von 1995, ohne Berlin) von ca. 340 Mrd. € (1991) auf ca. 575 Mrd. € (2003) zu. 8 Für diese Zunahme der Exportwerte um ca. 69 % innerhalb von 12 Jahren, war eine jährliche durchschnittliche Wachstumsrate der Exportwerte von 4,5 % verantwortlich. Der Anteil des Exports am BIP wuchs damit von ca. 23 % (1991) auf ca. 34 % (2003). Diese Entwicklung ist ein besonderer Hinweis dafür, dass in diesem Zeitabschnitt die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Volkswirtschaft deutlich zugenommen hat.

2. Die neuen Bundesländer Da vergleichbare Daten für die Jahre 1975 bis 1990 für die ehemalige DDR schwer ermittelbar sind, werden in den folgenden kurzen Ausführungen die wichtigsten ökonomischen Daten der neuen Bundesländer erst ab dem Jahr 1991, dem ersten Jahr für welches es vergleichbare Zahlen gibt, dargestellt. Somit soll das ökonomische Potential der neuen Bundesländer im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung als Basis für die Bewertung der weiteren Entwicklung dienen. a) Bevölkerung, Erwerbspotential,

Beschäftigung

I m Jahr 1991 lebten in der ehemaligen DDR 15,79 Mio. Menschen. Davon waren 8,73 Mio. Erwerbspersonen, d.h. die Erwerbsquote betrug 55,3 %. Tatsächlich waren in diesem Jahr ca. 7,8 Mio. Personen beschäftigt und 0,9 Mio. (10,5 %) arbeitslos 9. Würde man allerdings die Erwerbsquote der alten Bundesländer, die 1991 48,7 % betrug, zugrunde legen, dann hätte man in den neuen Bundesländern nur 7,7 Mio. Erwerbspersonen gehabt. Da in diesem Jahr ca. 7,8 Mio. Personen beschäftigt waren, hätte man dann nicht 0,9 Mio. Arbeitslose sondern 0,1 Mio. unbesetzte Stellen gehabt.

8

Eigene Berechnungen nach Daten des Statistischen Bundesamtes und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Jahresgutachten 2004/05. 9

Vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (Hg.), Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung 1993 und Deutschland in Zahlen 2001 und Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2004.

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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I m Jahre 2003 betrug die Zahl der Bevölkerung in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) 14,85 Mio. Menschen. Die Zahl der Erwerbspersonen betrug 7,9 Mio. bzw. 53,2 %. Davon waren nur 6,3 Mio. Personen beschäftigt, ca. 1,5 Mio. bzw. 19,0 % waren arbeitslos. Würde man auch für das Jahr 2003 die Erwerbsquote von 48,6 % der alten Bundesländer zugrunde legen, dann betrüge die Zahl der Erwerbspersonen in den neuen Bundesländern nicht 7,9 Mio. Personen, sondern nur 7,2 Mio. Daraus folgt, dass sich die Zahl der Arbeitslosen nicht auf 1,5 Mio. (19,0 %), sondern nur auf 0,8 Mio. bzw. 11,1 % beliefe. Die Arbeitslosigkeit läge damit in den neuen Bundesländern um nur 2,3 Prozentpunkte höher als in den alten Bundesländern. b) Das Bruttoinlandsprodukt Das reale BIP der neuen Bundesländer (ohne Berlin) betrug im Jahre 1991 143,1 Mrd. €. Damit betrug das reale BIP pro Kopf 9.780 € . 1 0 Die Wirtschaftsleistung pro Beschäftigten betrug 21.090 €. Verglichen mit der Leistung pro Beschäftigten in den alten Bundesländern (49.840 €) entsprach dies 42,3 %.

Abbildung 5: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Ostdeutschland (ohne Berlin) von 1991 bis 2003

10

Vgl. Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder".

Spiridon Paraskewopoulos

100

Zwölf Jahre später (2003) betrug das reale BIP der neuen Bundesländer 220,4 Mrd. € und das BIP pro Kopf 16.240 €. Dies bedeutet, dass das BIP um 54,0 % und das BIP pro Kopf um 66,1 % gestiegen sind. Auch die reale Leistung pro Beschäftigten hat enorm zugenommen. Sie stieg auf 39.000 € (2003) und war somit um 84,9 % höher als im Jahre 1991. Damit erreichte die Leistung je Beschäftigten 71,5 % des Wertes der alten Bundesländer.

2003 [ • B I P je Einwohner q BIP je Erwerbstätigen

Abbildung 6: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Ostdeutschland (ohne Berlin) pro Kopf und je Erwerbstätigen von 1991 bis 2003 in Euro

Aus den Zahlen lässt sich bewertend feststellen, dass es nur wenige Regionen in der Welt gibt, in welchen in diesen zwölf Jahren ein so hohes reales Wirtschaftswachstum erzielt worden ist. Von den gegenwärtigen Mitgliedsstaaten der EU sind nur Irland und Polen schneller gewachsen. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten des BIP und des BIP pro Kopf betrugen in dieser Zeit 3,7 % und 4,3 %. c) Außenwirtschaftliche

Tätigkeit

Auch die Entwicklung der außenwirtschaftlichen Tätigkeit der neuen Bundesländer zeigt, dass hier in den letzten 12 Jahren enorme Fortschritte erzielt wurden. So stiegen die realen Exporte (Ausfuhren in Preisen von 1995, ohne Berlin) von ca. 9 Mrd. € (1991) auf ca. 40 Mrd. € (2003). 1 1 Dies bedeutet, dass

11

Eigene Berechnungen nach Daten des Statistischen Bundesamtes und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Jahresgutachten 2004/05.

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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sich innerhalb von 12 Jahren die Exporte fast verfünffacht haben, d.h. eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von ca. 13 % aufwiesen. Der Anteil des Exports am BIP wuchs so von ca. 6 % (1991) auf ca. 18 % (2003). Diese Entwicklung ist ein Hinweis darauf, dass in diesem Zeitabschnitt die neuen Bundesländer stark an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen haben.

m . Entwicklung Gesamtdeutschlands nach 1991 1. Bevölkerung, Erwerbspotential, Beschäftigung Die Zahl der gesamtdeutschen Bevölkerung betrug im Jahre 1991 80,3 Mio. Personen und stieg auf 82,5 Mio. im Jahre 2003. 1 2 Auch die Zahl der Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 65 Jahre) nahm zu. Sie ist von 55,1 Mio. (1991) auf 55,5 Mio. (2003) gestiegen. Allerdings nahm der Anteil der potentiell aktiven Personen, aufgrund des schnelleren Anstiegs der Gesamtbevölkerung, von 68,6 % (1991) auf 67,3 % ab. Auch diese gesamtdeutsche Entwicklung kann nicht als Verschärfung des demographischen Problems in Deutschland interpretiert werden, da von den über 55 Mio. Personen, die im erwerbsfähigen Alter sind, nur ca. 36 Mio. Personen tatsächlich beschäftigt werden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass man es in Deutschland primär mit einem Beschäftigungsund weniger mit einem demographischen Problem zu tun hat. Die Beschäftigungsquote (Beschäftigte im Verhältnis zur Bevölkerung im Erwerbsalter) nahm von 68,0 % (1991) auf 65,2 % (2003) ab. Damit ist auch die Zahl der Arbeitslosen von 2,6 Mio. (1991) auf 4,4 Mio. (2003) gestiegen. Maßgebend zu dieser negativen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben, außer der geringen Wachstumsentwicklung, die Zunahme der Zahl der weiblichen Erwerbspersonen (1,2 Mio.) sowie die noch anhaltende Umstrukturierung und Anpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die marktwirtschaftlichen Bedingungen mit den enormen Finanzierungslasten, die dabei entstanden sind (ca. 1.200 Mrd. €) beigetragen. Die Arbeitslosigkeit wäre noch höher ausgefallen, wenn die Anzahl der männlichen Erwerbspersonen in dieser Zeit nicht um ca. 0,5 Mio. Personen abgenommen hätte.

12

Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hg.), Deutschland in Zahlen 2001 und Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch 2004.

Spiridon Paraskewopoulos

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2. Bruttoinlandsprodukt Das reale BIP (in Preisen von 1995) stieg von 1.710,8 Mrd. € im Jahre 1991 auf 1.987,70 Mrd. € im Jahre 2003. Somit betrug die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP 1,3 %. Das reale BIP pro Kopf stieg in der gleichen Zeit von 21.400 € auf 24.100 6, d.h. es nahm mit einer jährlichen durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,0 % zu. 1 3

Abbildung 7: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Gesamtdeutschland von 1991 bis 2003

Das reale BIP pro Beschäftigten nahm bei einer annähernd konstanten Beschäftigungszahl von 44.490 € (1991) auf 51.970 € (2003) z u . 1 4 Das Wachstum der jährlichen Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten betrug somit durchschnittlich 1,3 %. Insgesamt wuchs das reale BIP pro Beschäftigten zwischen 1991 und 2003 um 16,2 %.

13

Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hg.), Deutschland in Zahlen, 2004, S. 17.

14

Ebd., S. 21.

Bilanz und Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht

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60000 50000

20000

1991

2003

• BIP je Einwohner • BIP je Erwerbstätigen ;

Abbildung 8: Die Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktes in Gesamtdeutschland pro Kopf und je Erwerbstätigen von 1991 bis 2003 in Euro

3.Außenwirtschaftliche Tätigkeit Die dynamische Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft lassen sich auch und insbesondere durch ihre Exportdynamik belegen. So nahmen die realen Exporte von Waren und Dienstleistungen (in Preisen von 1995) von 414 Mrd. € (1991) auf 740 Mrd. € (2003) z u . 1 5 Die Exportwerte wuchsen damit innerhalb von 12 Jahren um 78,7 %, die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Exporte betrug 5,0 %. So wuchs der Anteil des Exports am BIP von 24,2 % (1991) auf 37,2 % (2003). Diese Entwicklung ist ein besonderer Hinweis darauf, dass in diesem Zeitabschnitt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft deutlich zugenommen hat.

4. Die Staatstätigkeit Viele liberale deutsche Ökonomen sehen eine maßgebliche Ursache der Beschäftigungskrise und der Finanzierungsprobleme der Sozialsicherangssysteme in Deutschland in der zunehmenden Staatstätigkeit. Als Indikatoren dafür werden vorwiegend die Entwicklung der Steuer- und der Sozialabgabenquote (in Prozent des BIP), der Ausgabenquote und der Staatsverschuldungsquote verwendet. Die Entwicklung der drei erstgenannten Indikatoren zeigt allerdings, 15

Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Jahresgutachten 2004/05, Tabelle 31*.

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dass es in den letzten 30 Jahren keine nennenswerte Zunahme dieser Quoten gegeben hat. Die Steuerquote ist von 23,5 % im Jahre 1975 auf 22,1 % i m Jahre 1990 zurückgegangen. Sie nahm auch nach der Wiedervereinigung von 23,5 % (1991) auf 23,2 % (2003) ab. Die Sozialabgabenquote (Beiträge zu den sozialen Einrichtungen) stieg in den alten Bundesländern von 14,4 % (1975) auf 15,0 % (1990) und von 16,2 % (1991) auf 17,5 (2003) i m vereinigten Deutschland. Somit entwickelte sich die Abgabenbelastung insgesamt von 37,9 % (1975) auf 37,1 % (1990) vor und von 39,8 % (1991) auf 40,7 % (2003) nach der Wiedervereinigung. 16 Die Ausgabenquote ging in der alten BRD von 49,9 % (1975) auf 44,5 % (1990) zurück und nahm dann im vereinigten Deutschland von 47,1 % (1991) auf 48,9 % (2003) z u . 1 7 Die Frage, die sich bei der Interpretation dieser Daten stellt ist, ob diese Quoten übertrieben hoch sind, mit der Folge, dass sie eine Beeinträchtigung der Wachstumsentwicklung der Volkswirtschaft darstellen könnten. Es gibt keine ökonomische Theorie, die eine Antwort auf diese Frage liefert. Man kann allerdings Vergleiche mit anderen Ländern anstellen und fragen, ob niedrige bzw. hohe Abgaben- und Ausgabenquoten mit niedrigen bzw. hohen Arbeitslosigkeitsquoten verbunden sind. Als Beispiele kann man Österreich, Belgien, Dänemark oder Schweden anfuhren, die höhere Abgaben- und Ausgabenquoten als Deutschland aufweisen und dennoch niedrigere Arbeitslosigkeitsquoten haben 18 . Insofern kann nicht ernsthaft behauptet werden, dass die Abgaben- und Ausgabenquoten Deutschlands schuld an der Arbeitslosigkeit sind. Ähnliches lässt sich aus ökonomischer Sicht auch hinsichtlich der Staatsverschuldung anfuhren. In letzter Zeit wird die Höhe der deutschen Staatsverschuldung besonders hervorgehoben und dabei der Versuch unternommen sie in Zusammenhang mit der Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirtschaft zu bringen. Die geführte Diskussion verunsichert meines Erachtens die Bevölkerung, erzeugt Ängste, dämpft den privaten Konsum und die privaten Investitionen und fuhrt letztlich zur Schrumpfung des Wirtschaftswachstums und zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit. Deshalb soll i m Folgenden kurz diskutiert werden, inwieweit diese negative Bewertung der Höhe und der Folgen der gegenwärtigen deutschen Staatsverschuldung ökonomisch und politisch berechtigt ist. I m Jahr 2003 betrug die gesamte Staatsverschuldung (Bund, Länder und Gemeinden) 1,32 Bio. €. Dies bedeutet 61,9 % des BIP bzw. 15.977 € pro Kopf 16

Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2004. Deutschland in Zahlen, S. 65.

17

Ebd., S. 67.

18

Ebd., S. 127 u. S. 132.

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der Bevölkerung. 19 U m beurteilen zu können, ob die Höhe der Staatsverschuldung ökonomisch und politisch verkraftbar ist, sind Kriterien erforderlich, die eine objektive Beurteilung ermöglichen. Nach dem Stabilitätspakt, der im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag beschlossen wurde, darf die Verschuldung der Länder der Europäischen Währungsunion 60 % des BIP nicht übersteigen. Legt man dieses Kriterium zugrunde, dann verletzt die Bundesrepublik Deutschland, indem sie die vereinbarte Staatsverschuldungsgrenze um 1,9 Prozentpunkte überschreitet, dieses Kriterium tatsächlich. Die Frage, die sich hier stellt ist, wie ökonomisch objektiv dieses Kriterium ist. Die 60%-Grenze der Staatsverschuldung wurde nicht durch eine ökonomische Theorie begründet. Eine solche Theorie existiert meines Wissens nicht. Die Begründung für dieses Kriterium liegt vermutlich darin, dass in der Zeit der europäischen Verhandlungen über die Entstehung des Maastricht-Vertrages und des Stabilitätspaktes die durchschnittliche Verschuldung der potentiellen Währungsunionsländer bei 60 % lag und deshalb diese 60 % durchschnittliche Verschuldung der Europäischen Unionsländer als Kriterium übernommen wurden. Daraus kann aber keine allgemein gültige ökonomische Objektivität abgeleitet werden. Ein weiterer Grund für die Festsetzung der 60 %-Grenze könnten übertriebene Ängste der damaligen deutschen Regierung, die maßgebend für die Entstehung des Stabilitätspaktes und für die Festlegung von Stabilitätskriterien verantwortlich war, vor möglichen Gefährdungen der Stabilität der neuen Währung gewesen sein. Die deutsche Regierung war offensichtlich der Auffassung, dass die übrigen potentiellen Währungsunionsländer, insbesondere Italien und Frankreich, eine höhere Verschuldungsmentalität als die Deutschen besaßen, die die Stabilität der potentiellen Europäischen Währung gefährden könnte, wenn sie weiter so bestehen bliebe. Zunächst kann hier gesagt werden, dass aufgrund der höheren Inflationsraten, die in diesen Ländern in der Vergangenheit herrschten, diese Befürchtung möglicherweise als berechtigt angesehen werden konnte. M i t dem Abschluss des Maastrichtvertrags wurde dieser Argumentation allerdings die theoretische Basis entzogen. In der Vergangenheit, vor dem Abschluss des Maastricht-Vertrags, durften die Zentralbanken der Mitgliedsstaaten der EU - mit Ausnahme der Deutschen Bundesbank - ihren Regierungen Kredite gewähren. Dies war auch eine der Hauptursachen für die - verglichen mit Deutschland - höheren Inflationsraten dieser Länder in der Vergangenheit. Nach dem Maastricht-Vertrag darf die Europäische Zentralbank keine Kredite, noch nicht einmal vorübergehende Kassenkredite - dies durfte die Deutsche Bundesbank früher - gewähren. Damit

19

Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2004. Deutschland in Zahlen, S. 71.

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entfällt eine wesentliche Quelle der Staatsverschuldung, die die Kaufkraftstabilität der einheitlichen Europäischen Währung gefährden könnte. Wenn aber renommierte deutsche Ökonomen trotzdem weiter behaupten, dass die gegenwärtige deutsche Staatsverschuldung überhöht und gefahrlich für die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft und besonders für die Beschäftigungssituation ist, dann argumentieren sie nicht im Rahmen der ökonomischen marktwirtschaftlichen Theorie. Nach dieser Theorie können sich Staaten solange auf dem Kapitalmarkt verschulden, wie die Märkte diesen Staaten Vertrauen entgegen bringen und ihnen Kredite gewähren. Aus marktwirtschaftlicher theoretischer Sicht wäre dann jede Höhe der Staatsverschuldung, die die Märkte akzeptieren, ökonomisch in Ordnung. Aus ökonomischer Sicht wäre allerdings die Grenze der Staatsverschuldung dort erreicht, wo die staatliche Kreditaufnahme die private Kreditnachfrage überproportional verdrängen würde mit der Folge, dass die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage zurückginge und damit zusätzliche Arbeitslosigkeit entstünde. Eine solche Verdrängung käme dann zustande, wenn die staatliche Kreditnachfrage die Zinsen so erhöhen würde, dass die privaten Wirtschaftssubjekte diese nicht mehr zahlen könnten oder wollten. Ginge durch einen solchen Prozess die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage in der Volkswirtschaft tatsächlich zurück, dann würde die zusätzliche Staatsverschuldung das Arbeitslosigkeitsproblem verschärfen. Damit wäre eine theoretisch begründbare Grenze der Staatsverschuldung erreicht. Betrachtet man die gegenwärtige Situation in Deutschland hinsichtlich dieser Prozesse, dann stellt man fest, dass die realen Zinssätze seit Jahren stagnieren oder sogar abnehmen, und dass nicht nur in Deutschland sondern weltweit. Daraus kann man schlussfolgern, dass die bisherige Zunahme der Staatsverschuldung die Kreditmärkte und die Zinssätze überhaupt nicht beeinflusst hat und demzufolge auch keine Verdrängung von privater Kreditnachfrage und damit auch keine Beeinträchtigung der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage stattgefunden hat. Es kann sogar das Gegenteil behauptet werden. Die gegenwärtige private Konsum- und Investitionsgüternachfrage schrumpft, weil unter anderem das Sparvolumen der Bürger aufgrund der wirtschaftspolischen Unsicherheit wächst, obwohl die Zinssätze sehr niedrig sind. Diese momentan zu beobachtenden Prozesse erlauben zumindest das Nachdenken darüber, ob es in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation aus beschäftigungspolitischer Sicht nicht wünschenswert wäre, über eine zusätzliche Staatsverschuldung die privat nicht beanspruchten Ersparnisse für staatliche Güternachfrage zu verwenden um so die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage zu erhöhen und damit die Konjunktursituation zu beleben. Ein weiteres Kriterium, welches Aufschluss über die Grenze der Höhe der Staatsverschuldung geben kann, ist der Vergleich Deutschlands hinsichtlich der Verschuldung mit an-

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deren hoch entwickelten Volkswirtschaften. Die deutsche Pro-Kopf-Verschuldung ist verglichen mit derjenigen der übrigen Länder der Europäischen Union, der USA und Japans unterdurchschnittlich. Auch mit diesem Kriterium kann die Behauptung einer angeblich überdimensionierten deutschen Staatsverschuldung nicht begründet werden. Die Grenze der Höhe der Staatsverschuldung kann man auch politökonomisch diskutieren und möglicherweise bestimmen. Die Staatsverschuldung lässt sich zunächst mit der Verschuldung einer privaten Person vergleichen. Eine private Person verschuldet sich in der Regel, wenn sie in der Gegenwart ein erwünschtes Konsumgut erwerben will, welches sie mit ihrem gegenwärtig verfügbaren Einkommen nicht finanzieren kann. Ökonomisch ist dieses Verhalten nur dann zu rechtfertigen, wenn durch die Verschuldung diese Person einerseits durch den Erwerb dieses Konsumgutes ihr gegenwärtiges und zukünftiges Nutzenniveau erhöhen kann und andererseits die laufenden Kosten und die Tilgung der Verschuldung mit dem gegenwärtigen und zukünftigen verfügbaren Einkommen dieser Person finanzierbar sind. Diese laufenden Kosten i m Zusammenhang mit dem erwarteten höheren Nutzen bestimmen die Grenze der Höhe der Verschuldung einer privaten Person. So trägt die Verschuldung dazu bei, dass diese Person in ihrem Leben eine höhere Bedürfnisbefriedigung erreicht, welche sie ohne die Möglichkeit des Verschuldens nicht hätte erreichen können. Analog lassen sich diese Überlegungen auch auf die Staatsverschuldung übertragen. Würde allein das gegenwärtige oder allein das zukünftige Einkommen der Bürger eines Staates für die Finanzierung von gewissen öffentlichen Gütern, die die Lebensqualität gegenwärtiger und zukünftiger Generationen erhöhen, wie beispielsweise der Aufbau von Bildungs- und Forschungseinrichtungen, öffentlichen Erholungsstätten, Krankenhäusern, Verkehrseinrichtungen etc., nicht ausreichen, dann bietet sich auch hier die Möglichkeit der Staatsverschuldung an. Das Problem, welches sich hier allerdings stellt ist, dass ausschließlich die gegenwärtige Generation sowohl über das Nutzenniveau, welches solche Einrichtungen gewähren sollen, als auch über die Aufteilung ihrer Finanzierungskosten zwischen der gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen entscheidet. Die jeweils gegenwärtige Generation hat also den Vorteil, allein entscheiden zu können. Sie trägt aber zugleich eine enorm hohe Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen bei der Bestimmung der Höhe der Staatsverschuldung. Der geschilderte Sachverhalt zeigt auch, dass die gegenwärtige Generation aus menschlich verständlichen (egoistischen) Gründen stets der Gefahr unterliegt, einen hohen Anteil der Kosten der Verschuldung auf die zukünftigen Generationen zu überwälzen. Da also die jeweiligen Entscheidungsgenerationen nicht sicher sein können, wie die Bewertungen und die Prioritäten der zukünftigen Generationen bei der Auswahl öffentlicher (kollek-

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tiver) Güter sein werden, sind Sorgfalt, politisches Verantwortungsbewusstsein und vor allem erhöhte Zurückhaltung bei Staatsverschuldungsentscheidungen geboten. In einem demokratischen Staat, in welchem die Menschenwürde, Rechtstaatlichkeit und die Soziale Marktwirtschaft die gesellschaftlich gesetzten und breit akzeptierten Basiswertelemente sind, kann man generell davon ausgehen, dass diese Werte eine Art automatische Garantie gewähren, dass die Höhe der Staatsverschuldung nicht solche Dimensionen annehmen kann, die in der Gegenwart wie auch in der Zukunft einzelne Prinzipien, die diese Basiselemente beinhalten, verletzen (beispielsweise die Menschenwürde zukünftiger Generationen). So garantiert der demokratische Wettbewerb in der Politik, dass sich die politischen Akteure gegenseitig kontrollieren, damit die Bürgerinteressen auch im Zusammenhang mit der Höhe der Staatsverschuldung berücksichtigt werden. Selbst dort, wo der Markt eine bestimmte Höhe der Staatsverschuldung ermöglicht, haben die Bürger in einem demokratischen Staat die Möglichkeit, die politisch Verantwortlichen zu zwingen, diesen Spielraum des Marktes, wenn sie ihn aus welchen Gründen auch immer nicht akzeptieren, nicht vollständig auszunutzen. Auch wenn die heutigen Bürger zukünftigen Generationen übermäßige Schuldenbelastungen zumuten würden und politisch durchzusetzen versuchten, besitzt der demokratische Rechtsstaat Institutionen, die einen solchen Prozess in der Regel verhindern können. Hierzu gehört vor allem in Deutschland das Bundesverfassungsgericht, welches auch die Würde zukünftiger Generationen schützen muss. Insofern ist die gegenwärtige deutsche Diskussion über eine angeblich überdimensionierte und unkontrollierte Verschuldung auch aus dieser Sicht zumindest unverständlich. Eine weitere Frage, die im Zusammenhang mit der deutschen Staatsverschuldung angesprochen werden muss, ist die Frage der Kosten der Wiedervereinigung Deutschlands. Jahrelang war die Vereinigung Deutschlands ein primäres Ziel der deutschen Außenpolitik. Diese historische Möglichkeit, die die deutsche Politik sehr gekonnt und sehr rasch aufgegriffen und realisiert hat, ist den Deutschen i m Jahre 1990 gegeben worden. Hätte dafür die Sowjetunion damals von den Deutschen einen Preis von über 100 Mrd. € verlangt, dann wären meines Erachtens die deutsche Politik und die deutsche Bevölkerung bereit gewesen, diesen Preis zu zahlen. Die Folgekosten der Wiedervereinigung waren allerdings, wie die Deutschen später gemerkt haben, um ein vielfaches höher als die 100 Mrd. €, die die Sowjetunion nicht verlangt hat. Die Staatsverschuldung der alten Bundesrepublik Deutschland betrug Ende 1989 weniger als 40 % des BIP (ca. 680 Mrd. €). Heute beträgt die gesamtdeutsche Staatsverschuldung ca. 62 % des BIP (ca. 1,32 Bio. €). Dies bedeutet, dass sie nach der Wiedervereinigung um 22 % Prozentpunkte bzw. um ca. 600 Mrd. € zugenommen hat. Bis heute sind seit 1990 ca. 1,2 Bio. € von den alten in die

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neuen Bundesländer geflossen. Diese Transfers, die die enorm hohen Kosten der Wiedervereinigung angeben, und die Entwicklung der Staatsschulden zeigen eindeutig, dass hier ein enger Zusammenhang zwischen Vereinigungskosten und Staatsverschuldung besteht. Vergleicht man aber die gegenwärtig unterdurchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung Deutschlands i m Verhältnis zu den übrigen industriellen Volkswirtschaften nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt, dann ist diese Entwicklung der deutschen Staatsverschuldung angesichts der Bedeutung des Ereignisses der Wiedervereinigung eine staatspolitisch, gesellschaftspolitisch und sogar ökonomisch notwendige und für die deutsche ökonomische Leistungsfähigkeit tragbare Entwicklung gewesen.

IV. Bewertung der bisherigen Entwicklung und Perspektiven M i t Ausnahme der niedrigen Wachstumsraten und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (hohe Arbeitslosigkeit), zeigen die dargestellten deutschen Wirtschaftsdaten nichts auffallend Negatives. Das Gegenteil ist der Fall. Die Daten zeigen, dass es in Deutschland nach wie vor ein sehr hohes reales BIP pro Beschäftigten gibt, welches mit der weltweit kürzesten Jahresarbeitszeit realisiert wird. Die sehr hohe Arbeitsproduktivität pro Stunde erlaubt, dass fast die höchsten Löhne der Welt gezahlt und der längste Jahresurlaub der Welt gewährt wird (ca. 30 Arbeitstage). Die daraus resultierende Zufriedenheit der Menschen in Deutschland hat dazu geführt, dass die deutsche Volkswirtschaft in den letzten dreißig Jahren kaum Arbeitskämpfe hatte und nach der Schweiz und Österreich die wenigsten Arbeitstage je Tausend Beschäftigte durch Streiks verlor. 2 0 Dies ist auch ein Indiz dafür, dass dank des bisherigen leistungsfähigen und sozialen Wirtschaftssystems in Deutschland immer noch ein beneidenswerter gesellschaftspolitischer Frieden herrscht. Die Pro-Kopf-Konsumausgaben in Deutschland gehören trotz der momentanen Zurückhaltung immer noch zu den höchsten der Welt, obwohl zugleich über 151 Mrd. € (2003) 2 1 , mit steigender Tendenz, gespart werden. Die materielle Infrastruktur, wie die Verkehrs- und Telekommunikationswege, Sporteinrichtungen, Erholungsstätten etc. und die soziale Infrastruktur, wie Krankenhäuser, universitäre und sonstige Ausbildungsstätten, gelten - trotz einiger Defizite im Bildungsbereich, die besonders in der letzten Zeit sichtbar wurden 20 21

Vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (Hg.), Deutschland in Zahlen 2004, S. 139.

Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Jahresgutachten 2004/05, Tabelle 36*.

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als die besten der Welt. Deutschland gehört auch zu denjenigen Ländern der Welt, die sehr hohe, wenn nicht sogar die höchsten Umweltschutzausgaben tätigen. Alle hier kurz angeführten Erfolgsindikatoren sprechen im Prinzip eindeutig dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft nach wie vor dynamisch und sehr produktiv ist. Deshalb ist das existierende Arbeitslosigkeitsproblem nicht mit den angesprochenen hohen Kosten des Sozialstaates zu begründen, wie dies zurzeit in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert wird. Die bisherigen Erfahrungen in der Sozialen Marktwirtschaft deuten an, dass in der Regel Arbeitslosigkeit durch mangelhafte Beschäftigungspolitik entsteht, die sich aufgrund der Abnahme der Finanzkraft des Staates nicht finanzieren lässt. Hierzu führt allerdings wiederum eine verfehlte Steuer- bzw. Abgabenpolitik. Insofern ist die heutige hohe Arbeitslosigkeit zumindest teilweise auf mangelhafte Beschäftigungs- und Abgabenpolitik zurückzuführen. Die gegenwärtig behauptete grundsätzliche Ineffizienz der staatlichen Sozialpolitik, die angeblich eine dynamische Entfaltung des freien marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems behindert, lässt sich theoretisch und empirisch nicht belegen. Die Realisierung einer lehrbuchmäßigen freien Marktwirtschaft mit der Herbeiführung von optimalen ökonomischen und gesellschaftlichen Gleichgewichten ist eine Utopie. In der realen Welt herrschen vielfaltige asymmetrische Informationen und unvollständige Marktstrukturen. Die unter diesen realen Bedingungen entstehenden Marktergebnisse können deshalb sozioökonomisch nicht optimal sein. Das war auch einer der Hauptgründe, die zur Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg geführt haben. In einer solchen unvollkommenen marktwirtschaftlichen Welt ist es allerdings möglich, durch entsprechende staatliche Eingriffe (Beschäftigungs-, Steuer-, Sozialpolitik etc.), die zu mehr Wachstum und zu ausgleichenden Korrekturen führen, die Mehrheit der Menschen in der Gesellschaft ökonomisch und sozial besser zu stellen. Obwohl das Volumen der gegenwärtigen deutschen Wirtschaftsleistung (z.B. gemessen am BIP pro Kopf) ausreicht, eine solche sozialmarktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik zu betreiben, wird dies von der Politik nicht wahrgenommen. Stattdessen wird immer wieder und ohne Berücksichtigung der realen Wirtschaftsdaten pauschal behauptet, dass die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufgrund der staatlichen Überbeanspruchung am Ende ist. Dieses Ende signalisieren nach dieser Auffassung folgende Entwicklungen: 1. Das bisherige dicht geknüpfte Netz des Sozialstaates habe nicht nur ökonomische und soziale Sicherheit geschaffen, sondern habe auch die wirtschaftlichen Aktivitäten eingeengt, zu Missbrauch geführt und die Eigenverantwortung der Menschen zurückgedrängt.

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2. Die gewerkschaftliche Lohnpolitik und die staatliche Steuer- sowie Sozialpolitik haben maßgebend zu der hohen Dauerarbeitslosigkeit beigetragen und gefährden damit die wichtigste finanzielle Quelle der umlagefinanzierten Systeme der sozialen Sicherung. 3. Die fortschreitende Globalisierung, die eine steuerliche Unterbietungskonkurrenz provoziert und dadurch die Gesamtsteuereinnahmen des Staates gefährdet, verschärfe permanent die Wirtschaftskrise. Auch der durch die Globalisierung verstärkte Konkurrenzdruck im Welthandel erhöhe die Mobilität von Kapital und die der hochqualifizierten Arbeit zunehmend und erschwere damit die Finanzierung der bestehenden Systeme der sozialen Sicherung und des sozialen Ausgleichs und erhöhe die Arbeitslosigkeit der wenig qualifizierten Arbeitskräfte in der Bundesrepublik Deutschland erheblich. Daraus leiten viele Ökonomen und die Politik die Schlussfolgerung ab, dass ein radikales Umdenken in Deutschland notwendig sei, um die vorhandenen Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft, die bisher erfolgreich für den Interessen- und ökonomischen Machtausgleich gesorgt haben, zu erneuern. Diese Kritik richtet sich unübersehbar gegen das soziale Element der Sozialen Marktwirtschaft, welches aufgrund seiner angeblichen Überdimensionierung die Leistungsfähigkeit der Akteure beeinträchtige und deshalb nicht mehr finanzierbar sei. Diese Art der Argumentation hat in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Niedergangsstimmung geführt. Der Pessimismus hat heute Hochkonjunktur. Politiker fast aller Parteien, die Medien und die breite Öffentlichkeit sind davon überzeugt, dass die hohe Zahl der Arbeitslosen und die Probleme in der Finanzierung der Sozialsicherungssysteme primär auf die hohen Kosten der Institutionen der Steuer-, der Sozial- und der Lohnpolitik zurückzuführen sind. Der allgemeine Grundtenor ist: Der Sozialstaat muss radikal reformiert, d.h. sein sozialausgleichender (interessenausgleichender) Kernbereich muss abgeschafft werden. Die generelle These, die der Sachverständigenrat, die Mehrheit der deutschen Ökonomen, die Massenmedien, die Bundesregierung und die Opposition vertreten, ist zusammengefasst folgende: Die deutsche Volkswirtschaft hat wegen der übertriebenen Sozialen Marktwirtschaft an Schwung und Dynamik und damit an Bedeutung verloren. Deshalb werden ständig und hartnäckig tief greifende Reformen der sozialmarktwirtschaftlichen Elemente bzw. Institutionen gefordert. Inzwischen, wie die politischen Entscheidungen i m Rahmen der Agenda 2010 zeigen, werden diese Forderungen schrittweise und zielstrebig durchgesetzt. Die gegenwärtigen Forderungen nach mehr Markt und möglichst wenig Sozialstaat verlangen letztlich einen radikalen Wechsel in der Wirtschaftsordnungspolitik Deutschlands mit dem Ziel, mehr freie und weniger soziale Markt-

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Wirtschaft zu erreichen. Dadurch soll die angeblich unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft gesteigert werden. Ein geeignetes Mittel dafür, welches versteckt oder sogar offen angepriesen wird, soll die Erhöhung der ökonomischen (finanziellen) Ungleichheit in der Gesellschaft (weitere Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich) sein. Diese Forderung verlangt eindeutig eine Umverteilung zu Gunsten der reicheren Schichten der Bevölkerung, weil dies, so die Erwartung, zu mehr Motivation, mehr Leistung und letztlich mehr Beschäftigung führen würde. Mit einer solchen Politik, die primär den Abbau der bisherigen Sozialsicherungssysteme zum Ziele hat - und mit der Verabschiedung der Agenda 2010 wurden die ersten Schritte in diese Richtung gemacht - wird nicht nur die soziale, die ökonomische und letztlich die politische Stabilität Deutschlands aufs Spiel gesetzt, sondern auch der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems Deutschlands insgesamt geschadet. Diese These, die nicht mit dem gegenwärtigen „Mainstream" übereinstimmt, soll i m Folgenden kurz begründet werden. Die zentrale Forderung ist, dass das bisherige erfolgreiche Wirtschaftssystem einer Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich beibehalten werden muss. Ordnungspolitische Veränderungen sollen nur dort vorgenommen werden, wo der strukturelle Wandel sie erzwingt (z. B. die radikale Veränderung des Wirtschaftssystems der neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung). Die lang anhaltende Beschäftigungskrise in Deutschland hat bisher nicht dazu geführt, dass Deutschland (auch das vereinigte Deutschland) ärmer geworden ist. Das Gegenteil ist richtig. Das BIP ist absolut und pro Kopf gestiegen und Deutschland gehört immer noch zu den reichsten Ländern der Welt. Der von den Kritikern der Sozialen Marktwirtschaft behauptete negative Zusammenhang zwischen Sozialsicherungssystemen und Beschäftigung, der die Kostenseite besonders hervorhebt ist auch theoretisch nicht ganz plausibel. Soziale Absicherung verursacht nicht nur Kosten, sondern ist auch ein Inputfaktor, der wesentlich zur Sicherheit und zur Zufriedenheit und damit auch zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität der Akteure beiträgt. Hinzu kommt noch, dass durch den geforderten Umbau des Sozialstaates auch andere durchaus legitime sozialpolitische Ziele tangiert werden, wodurch die Würde des Menschen massiv beeinträchtigt wird. Dies dürfte in demokratischen Gesellschaften mehrheitlich, wie die letzten Wahlen in Nordrhein-Westfalen gezeigt haben, nicht akzeptiert werden. Fakt ist, dass durch den praktizierten Umbau des Sozialstaates Langzeitarbeitslose, alte, chronisch kranke und allgemein sozial schwache Menschen relativ und absolut härter getroffen werden. Daher stellt sich hier nicht nur die gesellschaftspolitische, sondern auch die ökonomische Frage, ob man zugunsten eines unsicheren Beschäftigungseffekts massive Einbußen bei sozialpolitischen Zielen hinnehmen darf. Vor allem würde man damit die mühsam aufgebaute ökonomische, soziale und politische Stabilität und damit den sozialen Frieden der letzten 50 Jahre aufs Spiel setzen.

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Die Fokussierung der Politik auf den umstrittenen negativen Zusammenhang zwischen den sozialen Elementen des Wirtschaftssystems und der Beschäftigung greift damit angesichts der massiven sozialen Auswirkungen dieser Entscheidungen zu kurz und kann nur wenig zur Lösung des gegenwärtigen Beschäftigungsproblems in Deutschland beitragen. Aus prozesstheoretischer Sicht versprächen in der gegenwärtigen Konjunkturphase verstärkte prozesspolitische staatliche Eingriffe auf den Gebieten der Beschäftigung, des Verteilungsprozesses und der sozialen Sicherheit mit dem primären Ziel, die binnenwirtschaftliche Nachfrage zu stärken, mehr Erfolg. Der begonnene Umbau des Sozialstaates, der die Einkommen bzw. die Nachfrage breiter Schichten der Bevölkerung nachhaltig schmälert, ist dagegen wenig geeignet, zur Lösung des Beschäftigungsproblems, das zunehmende soziale Armut in Deutschland verursacht, beizutragen. Die Umverteilungspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft war in der Vergangenheit ein notwendiges und erfolgreiches Korrektiv, welches die Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft erhöhte und das soziale und politische Klima stabilisierte. Den Verantwortlichen der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik ist vorzuwerfen, dass sie bei ihrer negativen Darstellung und Bewertung der Ergebnisse der Sozialen Marktwirtschaft bewusst oder unbewusst ignorieren, dass Deutschland trotz des gegenwärtig niedrigen Wirtschaftswachstums, der hohen Arbeitslosigkeit und der hohen öffentlichen Kosten der Wiedervereinigung (mehr als 1,2 Billionen €) immer noch zu den reichsten Ländern der Welt gehört. Unverständlich ist auch die gegenwärtige Auffassung von Politikern und Wissenschaftlern, dass die Volkswirtschaft Deutschlands an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsmöglichkeiten gekommen ist. Wie lässt sich aber eine solche Wertung glaubhaft begründen, wenn die gegenwärtigen Wirtschaftsdaten Deutschlands zeigen, dass -

die deutsche Exportwirtschaft bereits den höchsten Handelsanteil in der Welt erreicht hat,

-

die deutschen Ersparnisse der Vergangenheit zu einem Geldvermögen von etwa 4 Bio. €uro geführt haben,

-

die Gewinnquote mit 30,7 % den höchsten Stand seit 1970 erreicht h a t 2 2

-

und das gegenwärtige reale BIP pro Kopf im Vergleich zu den siebziger Jahren um mehr als 50 % gestiegen ist?

Würde man dies zur Kenntnis nehmen und mit dem betriebenen Abbau des Sozialstaates aufhören, dann liefern die Wirtschaftdaten Deutschlands vielfältige Möglichkeiten sowohl mit dem Beschäftigungsproblem als auch mit dem Problem der Finanzierung der Sozialsicherungssysteme fertig zu werden.

22

Vgl. Statistisches Bundesamt, http://www.destatis.de.

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Verfolgt man dagegen die Politik der Agenda 2010 weiter, dann ist mit einer Verschärfung der genannten Probleme zu rechnen, die die ökonomische, die soziale und letztlich die politische Stabilität Deutschland gefährden werden. Die seit Jahren auf hohem Niveau verharrende Arbeitslosigkeit fuhrt dazu, dass immer mehr Menschen Sozialhilfeempfänger werden (verarmen). Die gesellschaftspolitisch negativen Folgen, die durch diese Zunahme der Armut verursacht werden, können trotz des existierenden dichten und bewunderten Sozialnetzes Deutschlands, nicht aufgehalten werden. So ist es inzwischen Realität, dass die Kriminalität unaufhaltsam steigt. Die überfüllten Gefängnisse zeigen es. Insbesondere in den letzten Jahren ist die Zahl der Gefangenen nahezu explosionsartig gestiegen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es in Deutschland 1997 zum Stichtag 31.03. insgesamt 51.600 Strafgefangene, 5,6 % mehr als 1996 (48.900) und 30,8 % mehr als im Jahr 1992 (39.450), für das erstmalig gesamtdeutschen Zahlen vorlagen. I m Jahre 2003 ist die Zahl der Strafgefangenen auf 62.394 gestiegen, dies bedeutet eine Steigerung um 20,9 % gegenüber dem Jahr 1997 und um 58,2 % gegenüber 1992. Was haben in der nächsten Zukunft auf dem Gebiet der Kriminalität zu erwarten, wenn die Kürzungen im sozialen Bereich, die im Rahmen der Agenda 2010 beschlossen wurden, wirksam werden?

IV. Resümee Die kurz dargestellten unterschiedlichen Bewertungen der bisherigen Ergebnisse der Sozialen Marktwirtschaft lassen sich in der folgenden Frage zusammenfassen: Waren und sind die bisherige Sozial- und Steuerpolitik (Umverteilungspolitik) sowie die Lohnpolitik, wie sie in der Sozialen Marktwirtschaft Deutschlands in den letzten 55 Jahren praktiziert wurden und noch werden, ein Korsett, welches die Leistungsdynamik des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems eingeengt hat und weiter einengt, Faulheit und Arbeitslosigkeit förderte und damit auch einzel- und gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste verursachte, wie die Kritiker der Sozialen Marktwirtschaft behaupten? Die Antwort, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigten, ist eindeutig: Nein. Schuld an der Entstehung der gegenwärtigen Probleme war und ist allerdings unter der Mitwirkung vieler Ökonomen - die Politik. Politiker und Ökonomen sind damit auch diejenigen, die aus dieser Situation herausführen können. Die einen - die Ökonomen - müssen die entsprechenden Empfehlungen liefern, die anderen - die Politiker - müssen sie umsetzen. Die gegenwärtigen Ereignisse in der deutschen Politik geben Anlass zur Hoffnung.

Die Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses aus ost- und sttdosteuropäischer Sicht Von Anton Sterbling

I. Einleitung Vor einigen Jahren fand ein Symposion zum Thema: „Kennt Südosteuropa Südosteuropa? Wo und wie forschen die Südosteuropäer über ihre südosteuropäischen Nachbarn?" statt.1 Die Vorträge von Vertretern verschiedener, mit Südosteuropa beschäftigter Wissenschaften kamen nahezu im Gleichklang zu der Feststellung, dass die entsprechenden Forschungsaktivitäten recht begrenzt, und dass das Forschungsinteresse an den Nachbarn in Südosteuropa auffällig gering sei. Als Erklärung dazu wurde unter anderem gegeben, dass es in der Zeit des Kommunismus nicht ganz einfach und nicht unverfänglich war, sich wissenschaftlich mit anderen kommunistischen Staaten zu beschäftigen, und dass der Blick der meisten südosteuropäischen Wissenschaftler wie der Südosteuropäer überhaupt in der Gegenwart vornehmlich auf den Westen und natürlich auch auf die Probleme der eigenen Gesellschaft gerichtet sei, so dass für die Beschäftigung mit den Nachbargesellschaften, mit denen man sich ohnehin eher in einem Konkurrenzverhältnis im Wettlauf um die Aufmerksamkeit des Westens sieht, wenig Ressourcen und nur geringes Interesse übrig blieben. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage sicherlich aufschlussreich, welches Interesse, welche Deutungen und welche Bewertungen der deutsche Vereinigungsprozess und dessen Ergebnisse aus der Sicht der Ost- und Südosteuropäer fand und findet, gehört Deutschland doch zu jenem „Westen", auf den sich so viel Aufmerksamkeit und Interesse der Ost- und Südosteuropäer konzentriert, wobei das wiedervereinte Deutschland zugleich die Besonderheit aufweist, dass es auch, auf Grund der kommunistischen Vergangenheit seines östlichen Teils, ein Stück „Osten" im Sinne der vormaligen, Europa spaltenden Systemdifferenz bildet. Die angedeutete Frage ist natürlich denkbar weit gefasst, so dass es zunächst einer Präzisierung des damit verbundenen Vorhabens bedarf, die keineswegs einfach erscheint.

1

Es handelte sich um ein Symposion des Wissenschaftlichen Beirates der SüdosteuropaGesellschaft, das am 19. Februar 1999 in Jena stattfand; Sterbling, Beschäftigung, S. 121 ff.

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Anton Sterling

II. Zum Vorhaben Wenn es allgemein um die ,3ilanz des deutschen Vereinigungsprozesses aus ost- und südosteuropäischer Sicht" gehen soll, so kann man sich keineswegs allein auf wissenschaftliche oder publizistische Arbeiten, die Entsprechendes thematisieren, beschränken, wiewohl auch diese schon kaum noch zu überblicken sind. Dies wäre aber eine andere, speziellere Aufgabenstellung. Auch kann in diesem Überlegungszusammenhang nicht ganz ausgeblendet werden, welche ,3ilanz" die Deutschen in Ost und West selbst im Hinblick auf den Vereinigungsprozess ziehen, wenngleich dies in den weiteren Ausführungen nur nebenbei berücksichtigt werden soll. Zunächst möchte ich, eher impressionistisch, einige Anmerkungen zu typischen Meinungsbildern und Denkfiguren machen, denen man in öffentlichen Diskursen, aber auch in privaten Gesprächskreisen, in den ost- und südosteuropäischen Gesellschaften immer wieder begegnet2 und die in ihrem Gesamtbild - dies sei bereits an dieser Stelle angemerkt - deutliche Ambivalenzen wie auch Verständnisschwierigkeiten gegenüber dem deutschen Vereinigungsprozess und der Situation der Ostdeutschen im Besonderen erkennen lassen. Diese Ambivalenzen sind meines Erachtens zum Teil recht gut unter Rückgriff auf das, das von Albert O. Hirschman als „Tunneleffekt" bezeichnet wurde, 3 zu interpretieren, wie ich später ausführen möchte. Unter der Perspektive des „Tunneleffektes" können aber wohl auch die Differenzen und Ambivalenzen in der „subjektiven Bilanz" der Ostdeutschen selbst besser verstanden werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann möglicherweise eher begriffen werden, weshalb es so große und mithin schwer erklärbare Diskrepanzen zwischen „objektiven" und „subjektiven" Aspekten der Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses und ebenso zwischen „eigenen" und „fremden" Bewertungen dieser Bilanz gibt.

2

Auf ständige Verweise auf Quellen und Belege wird angesichts einer so heterogenen empirischen Erfahrungsgrundlage bewusst verzichtet Ost- und Südosteuropaexperten werden die herausgestellten Meinungsbilder und Denkfiguren nicht nur höchst vertraut, sondern wahrscheinlich auch weitgehend trivial erscheinen. Dennoch soll auf ihre Darstellung nicht verzichtet werden, da vermutlich nicht nur mit Experten im Leserkreis dieser Ausführungen zu rechnen ist und diese daher durchaus informativ sein dürften. 3

Siehe Hirschman, Entwicklung, S. 71 ff.; Ders., Engagement.

Vereinigungsbilanz aus ost- und südosteuropäischer Sicht

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m . Wie sehen Ost- und Südosteuropäer den deutschen Vereinigungsprozess und die Situation der Ostdeutschen? Wie bereits erwähnt, sollen im Folgenden zunächst einige auf die deutsche Vereinigung und insbesondere auf die Situation der Ostdeutschen bezogene typische Meinungsbilder und Denkfiguren, wie sie sich in den öffentlichen und privaten Diskursen in ost- und südosteuropäischen Gesellschaften finden lassen, angesprochen und kurz kommentiert werden. Dabei geht es natürlich um eine recht begrenzte und daher auch mehr oder weniger willkürliche Auswahl, die aber doch wichtige Aspekte und Tendenzen des gesamten Perzeptions- und Bewertungszusammenhanges erfassen dürfte. Ein zentraler Leitgesichtspunkt ist dabei, die vielfaltigen Ambivalenzen erkennbar zu machen, die diese Sichtweisen bestimmen und die sich nicht zuletzt mit dem „Tunneleffekt" erklären lassen.

1. Der Fall der Berliner Mauer als entscheidender Impuls zum, »Dominoeffekt" Wie unterschiedlich auch sonst die Sichtweisen sein mögen, i m Fall der Berliner Mauer wird nahezu überall in Ost- und Südosteuropa ein ausschlaggebender Impuls zum sogenannten „Dominoeffekt" gesehen, der in wenigen Monaten in allen ost- und südosteuropäischen Staaten zum Ende der kommunistischen Alleinherrschaft und zum demokratischen Aufbruch führte und der später - in der Folge dessen und in der Reaktion darauf - auch das Ende der Sowjetunion herbeiführte. 4 Zwar wird die Bedeutung anderer Ursachen und Faktoren und anderer Entwicklungszusammenhänge, etwa die Rolle der Solidarnosö-Bewegung in Polen, der „runden Tische", der Dissidentenaktivitäten oder der verbreiteten Massenunzufriedenheit in verschiedenen Ländern, der Reformbestrebungen in der Sowjetunion selbst, der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und vieles mehr mit in Betracht gezogen und insbesondere im Hinblick auf die Entwicklungsdynamik in den einzelnen Ländern entsprechend gewichtig in Rechnung gestellt,5 dem Fall der Berliner Mauer wird aber doch vielfach eine entscheidende und insbesondere in symbolischer Hinsicht 6 unübertroffene Bedeutung zuerkennt. 4

Siehe zu diesem Gesamtkomplex auch Ash; Dahrendorf; Sterbling; Balla/ Sterbling; Maier.

5

Zum demokratischen Aufbruch und zu seinen Bewegkräften und Verlaufsformen in den einzelnen Ländern siehe auch Ismayr. 6 Es wäre sicherlich ein aufschlussreiches Unterfangen, sich historisch-vergleichend mit solchen hervorragenden symbolischen Ereignissen und mit ihrem Einfluss und ihre Fortwirkung auf den Gang der Geschichte zu beschäftigen. Siehe dazu auch Stagl, S. 345 ff.

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Dieses spontane Ereignis zeigte wohl wie kein anderes die Unhaltbarkeit der überkommenen, einige Jahrzehnte lang als unerschütterlich geltenden Herrschaftsverhältnisse, ihre tiefe innere Erschütterung und ihre relativ leichte Überwindbarkeit durch einen mobilisierten kollektiven Willen. Welche rationalen, nicht zuletzt von nationalen Interessen geleiteten Bedenken die Vorgänge in Berlin aus der Sicht des Auslandes auch immer begleitet haben mögen, 7 beim Fall der Berliner Mauer waren die Sympathien der Menschen in Europa, im Westen wie im Osten, sicherlich ganz überwiegend auf der Seite der nach Freiheit strebenden Menschen. Die Freiheitsidee und der Freiheitswille haben damit europaweit eine unter dem Eindruck des Augenblicks unbegrenzt erscheinende, vielfach auch unmittelbar handlungsrelevante Entfesselung erfahren, wenngleich alsbald dann auch wieder die Probleme und Sorgen des Alltags gegenüber diesem außerordentlichen Zustand der wiederentdeckten und wiederherstellbaren Freiheit ein Übergewicht erlangten. 8

2. Die deutsche Einheit und die verloren gegangene Illusion des „Dritten Weges" Aus der Sicht linksalternativer Bewegungen, die Ende der achtziger Jahre und insbesondere mit dem demokratischen Aufbruch auch in Ost- und Südosteuropa Gestalt gewannen,9 bedeutete der deutsche Vereinigungsprozess gleichsam das Ende der Illusion eines „Dritten Weges" zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der in diesen Kreisen vielfach angestrebt wurde. M i t der deutschen Einheit wurden in Europa nämlich Weichen gestellt, die die Möglichkeit eines „Dritten Weges" recht unwahrscheinlich machten. Dies wurde aus ost7 Die Bedenken und Widerstände gegen die deutsche Einheit und ein mithin wiedererstarktes Deutschland waren in verschiedenen europäischen Ländern, nicht zuletzt aus nationalen Erwägungen, zweifellos stark verbreitet. 8 Heute stellt sich vielfach die Frage, ist diese Freiheitsidee verblasst? Gelegentlich tritt die Bedeutung der Freiheit in den Gesellschaften Ost- und Südosteuropas wie auch im östlichen Teil Deutschlands in den Hintergrund, sei es, dass man ihren Wert nicht recht zu schätzen vermag, wenn sie selbstverständlich gegeben ist, sei es, dass man in einer prekären materiellen Lebenssituationen andere Prioritäten setzt, zumal in einer solchen Lage die Nutzung der Möglichkeiten der Freiheit (z.B. der Reise-, Niederlassungs- oder Konsumfreiheit, der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung) aus subjektiver Sicht durchaus begrenzt erscheinen mögen. Dennoch bleibt die wiedergewonnene Freiheit — hier kann man sich Ralf Dahrendorf uneingeschränkt anschließen — eine wesentliche Errungenschaft der demokratischen Revolution in Europa. Der Wert der Freiheit wird nicht nur stets von bestimmten Intellektuellenkreisen geschätzt, sondern wird der Bevölkerung auch durchaus bewusst, wenn die Freiheits- und Menschenrechte — wie in anderen Teilen des östlichen Europa (z.B. in Weißrussland oder jüngst in der Ukraine) — gefährdet erscheinen. 9

Siehe dazu auch Szabö, insbesondere S. 19 ff.

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und südosteuropäischer Sicht, aber natürlich auch von linksalternativen Kräften und Milieus im Osten und Westen Deutschlands, bereits damals weitgehend so empfunden. Daher auch der Widerstand, der von dieser Seite gegen die deutsche Einheit entfaltet wurde. Aus einiger Distanz kann man wohl befinden, die deutsche Einheit führte rasch das Ende der ohnehin wenig wahrscheinlichen Möglichkeit eines ,»Dritten Weges" in der europäischen Entwicklung herbei. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch heute noch manche, die der Zerstörung dieser Illusion 1 0 wehmütig nachtrauern.

3. Der „Modellcharakter" des deutschen Vereinigungsprozesses Der deutsche Vereinigungsprozess und seine Folgen hatten aus ost- und südosteuropäischer Sicht in vielen Hinsichten so etwas wie einen „Modellcharakter" oder zumindest eine Orientierungsfunktion. Ich w i l l dazu nur drei Aspekte aufgreifen. Zunächst kann man eine gewisse Orientierungsfunktion im Hinblick auf den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, wie problematisch deren Bewältigung aus kritischer Sicht auch gesehen werden kann, feststellen. Natürlich gingen die einzelnen Gesellschaften durchaus verschiedene Wege in der Behandlung kommunistischer Spitzenfunktionäre, im Umgang mit den ehemaligen Sicherheits- und Geheimdiensten, in der Auseinandersetzung mit kommunistischen Verbrechen und deren Dokumentation usw. Dennoch lassen sich gleichsam auch ähnliche Grundmuster ausmachen, die wahrscheinlich auf eine Orientierung am Vorgehen der Anderen und nicht zuletzt an der Handhabung der Dinge in Deutschland feststellen lassen. So heißt es i m Hinblick auf die Behörde der Bundesbeauftragten für die „Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", unter anderem: „Häufig wurde versucht, die rechtliche Grundlage dieser Behörde zu übernehmen." Wie auch: „Sie mögen aus diesem Beitrag vorwiegend herausgelesen haben, dass die Behörde der BStU ein Modell für andere war und für einige noch ist." Dennoch wird aber auch auf verschiedene Einzelaspekte hingewiesen, die diese Behörde als „Sonderfall" im osteuropäischen Vergleich erscheinen lassen. 11 Ein Orientierungsmodell bildete der deutsche Vereinigungsprozess in einzelnen Fällen, wie zum Beispiel im Falle Rumäniens und der Republik Moldau, 10 11

Siehe auch Sterbling, Macht.

Siehe Neubert, S.33f. u. S.58. Zu den Besonderheiten der Securitate in Rumänien und ihrem Erbe: Oprea, Marius: Banalitatea räului. O istorie a securitä^ii in documente 1949-1989 [Die Banalität des Bösen. Eine Geschichte der Securitate in Dokumenten 1949-1989]. Bucure§ti 2002; Oprea, Erbe, S. 345 ff.

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auch insofern, als er zunächst Bestrebungen zur staatlichen Wiedervereinigung in beiden Ländern starken Auftrieb gab. Die Erfahrungen und insbesondere die Kosten der Einheit, die natürlich auch in Ost- und Südosteuropa zur Kenntnis genommen wurden, haben solche Bestrebungen aber rasch gedämpft und heute relativ unrealistisch werden lassen. Lediglich extrem nationalistische Parteien wie die Partei „Romänia Mare" („Großrumänien") und die ihnen nahestehenden politischen Kräfte halten konsequent am Gedanken der rumänischen Wiedervereinigung fest. 12 Dennoch sind diese Bestrebungen und die damit zusammenhängenden Probleme sicherlich noch nicht endgültig aus der Liste offener historischer Fragen in Europa zu streichen. Unbestreitbar am stärksten wirkte der Modellcharakter des deutschen Vereinigungsprozesses aber im Hinblick auf die Integration in die NATO und in die EU. Die gleichsam automatische, mit der deutschen Einheit verbundene Aufnahme Ostdeutschlands in die NATO und in die EU führte in vielen Staaten Ostmitteleuropas, aber auch Ost- und Südosteuropas, zu unverzüglichen Bemühungen und Anstrengungen um ebenfalls eine Aufnahme in das transatlantische Bündnis und in die Europäische Union zu erreichen. Diese Bestrebungen waren in einigen Fällen bereits Ende der neunziger Jahre, im Hinblick auf die Aufnahme in die NATO, oder Anfang des 21. Jahrhunderts, i m Hinblick auf die Mitgliedschaft in der EU bzw. der NATO, erfolgreich oder erscheinen heute zumindest aussichtsreich. 13 Dabei standen Sicherheitsbedürfhisse, aber auch und vor allem wirtschaftliche Entwicklungserwartungen und Wohlstandshoffnungen i m Vordergrund. Aus der Sicht der Ostdeutschen wurde und wird die Aufnahme neuer Länder in die EU insofern ambivalent beurteilt 14 als damit natür12

Das Wohlstandsgefälle zwischen Rumänien und der Republik Moldau ist relativ groß, so dass zu dessen Ausgleich erhebliche Transferleistungen erforderlich wären. Zu beachten sind zudem die ungelösten territorialen Binnenprobleme der Republik Moldau selbst. Siehe auch Gabanyi, Systemwechsel; Dies., Moldau. 13 Bekanntlich gehören Polen, die Tschechische Republik und Ungarn seit 1999 und nach der zweiten Erweiterungsrunde 2004 auch die baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, die Balkanländer Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei und Slowenien der NATO an. Mit der EUErweiterung am 1. Mai 2004 wurden acht ost- und ostmitteleuropäische Länder: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn in die EU aufgenommen. Gute Aussichten auf eine EU-Mitgliedschaft im Jahre 2007 haben Bulgarien, Rumänien und eventuell auch Kroatien; Sterbling, Südosteuropa, S. 46 ff. 14 Dies zeigte sich auch in einer von uns im November 2004 durchgeführten Bevölkerungsbefragung in der Grenzstadt Görlitz, die eine Wiederholungsuntersuchung zu bereits 1998 und 2002 in Hoyerswerda und 1999 in Görlitz durchgeführte Untersuchungen darstellt. Auf die Frage, wie die EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 beurteilt wird, antworteten 10 % „sehr positiv", 23 % „eher positiv", 47 % „teils/teils", 13 % „eher negativ" und 6 % „sehr negativ". Zu dieser Untersuchung siehe eingehend Sterbling/Burgheim. Zu den vorausgegangenen Untersuchungen: Sterbling, Lebensqualitätswahrnehmung, S. 209 ff.

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lieh neue, für viele ostdeutsche Regionen ungünstigere Verteilungsrelationen von EU-Mitteln (insbesondere aus den Struktur-, Regional- und Agrarfonds) sowie neue Konkurrenzsituationen, insbesondere in den Grenzregionen, eintreten. 15 Es wurde vielfach sicherlich auch versäumt - so lassen zum Beispiel Beobachtungen i m Dreiländereck der Oberlausitz insbesondere im Hinblick auf die mittelständische Wirtschaft erkennen - sich auf die Herausforderungen und Chancen der EU-Osterweiterung richtig einzustellen.

4. Die ostdeutsche Situation als Bezugs- und Vergleichsmaßstab für wirtschaftliche Entwicklungen und Wohlstandserwartungen Die Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung in Ostdeutschland bildet seit der deutschen Einheit für viele Menschen aus allen ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Gesellschaften einen wichtigen Vergleichsmaßstab für den Entwicklungsstand der einheimischen Wirtschaft und der eigenen Wohlstandssituation. 16 Dabei werden natürlich die durch massive Transferleistungen aus dem Westen in den Osten Deutschlands bewirkten infrastrukturellen und wirtschaftsstrukturellen Hilfen wie auch die wohlstandsfordernden Transferleistungen, z.B. in Bereich der sozialen Sicherung, gesehen und aus osteuropäischer Sicht zumeist als beneidenswerter Vorteil und Glücksfall der Ostdeutschen eingeschätzt. Gerade diesbezüglich lassen sich aber auch merkwürdige Ambivalenzen erkennen. Einerseits erzeugt das erhebliche Wirtschaftsleistungs- und Wohlstandsgefälle zwischen Ostdeutschland und anderen osteuropäischen Gesellschaften erkennbare Unzufriedenheit mit der „zurückgebliebenen" Wirtschafts- und Wohlstandslage in diesen Gesellschaften, andererseits wird aber wie eben schon angedeutet - auf den Unterschied in den Rahmenbedingungen hingewiesen und werden mit der europäischen Integration auch - zum Teil weitreichende und sicherlich nicht ganz illusionsfreie - Hoffnungen auf eine stärkere Teilhabe am Wohlstand fortgeschrittener westlicher Gesellschaften verbunden. Aus der Sicht der Ostdeutschen scheint der Vergleich mit der Wirtschaftsund Wohlstandslage der anderen osteuropäischen Gesellschaften, mit denen sie sich am Ende der kommunistischen Herrschaft in einer ähnlichen Ausgangslage befanden, die durch einen wachsenden technologischen Rückstand zum Westen, weitgehend ausgebliebene Erneuerungsinvestitionen in den industriellen und infrastrukturellen Bereichen, eine hohe Staats- und Auslandsverschuldung, 15 16

Siehe auch Heidenreich, S. 1ff.; Sterbling, Überlegungen, S. 181 ff.

Zu den wichtigsten „objektiven" ökonomischen Kennziffern siehe auch Heidenreich, S. 1 ff.; Knogler/Vincentz, S. 6 ff; Statistisches Bundesamt, insbesondere S. 439 ff.

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massive Umweltprobleme usw. gekennzeichnet war, nahezu irrelevant zu sein. Für sie erscheint häufig als einzig legitimer und „sozial gerechter" Vergleichsmaßstab die Wohlstandssituation im Westen Deutschlands. Wie verständlich dieser Standpunkt auch aus dem kollektiven Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsverständnis aller Deutschen ist und als Solidaritätsgedanke - übrigens auch den deutschen Aussiedlern gegenüber - aufgrund der ungleichen Chancen» und Lastenverteilung der deutschen Nachkriegsgeschichte zusätzlich gerechtfertigt erscheint, dürfen die realen ökonomischen Leistungsverhältnisse und insbesondere die schwerwiegenden Hinterlassenschaften der sozialistischen Wirtschaftsmisere nicht verkannt werden. Ein ausgeprägtes Anspruchsdenken, bei gleichzeitiger Unkenntnis der objektiven ökonomischen Gegebenheiten und nostalgischer Verklärung der sozialistischen Vergangenheit, finden nicht nur im Westen, sondern vielfach auch in ost- und südeuropäischen Gesellschaften kaum Verständnis, wiewohl auch dort die Neigimg zur Verklärung des Kommunismus durchaus verbreitet ist.

5. Das deutsche Modell der „sozialen Marktwirtschaft" aus ost- und südosteuropäischer Sicht Das deutsche Modell der „sozialen Marktwirtschaft" wurde und wird aus ost- und südosteuropäischer Sicht ebenfalls ambivalent beurteilt, insbesondere seit es unter einen starken Reformdruck angesichts verschärfter wirtschaftlicher Wettbewerbsbedingungen und neuer Standortoptionen infolge dynamischer europäischer und globaler Entwicklungen geriet. 17 Natürlich sind in den meisten ost- und südosteuropäischen Gesellschaften etatistische Orientierungen und auf den Staat gerichtete Versorgungserwartungen noch stark verbreitet. 18 Die politischen Eliten in Ost- und Südosteuropa haben aber mehr oder weniger schnell erkannt, dass der alte Bevormundungs- und Versorgungsstaat nicht aufrechtzuerhalten ist, denn er "bildete ja gerade einen Hauptgrund des Scheiterns des sozialistischen Wirtschaftssystems, und dass die Menschen - angesichts der Ressourcenknappheit zur Finanzierung eines ausgebauten sozialen Sicherungssystems und einer ungünstigen demographischen Entwicklung 1 9 - auch in dieser Hinsicht in die „Freiheit", das heißt in die weitgehende Eigenverantwortung in Hinblick auf die Vorsorge für Risiken und Wechselfälle des Lebens, entlas17

Siehe dazu auch Sterbling, Umbau, S. 137 ff.

18

Siehe Gabanyi/Sterbling.

19

Die ungünstige demographische Entwicklung, die sich in Deutschland abzeichnet, verschärft sich in vielen ost- und südosteuropäischen Ländern, insbesondere in kleineren wie Albanien, Republik Moldau oder Bulgarien, auch auf Grund von massiven Abwanderungsverluste insbesonderejüngerer, gut qualifizierter Menschen. Siehe auch Sterbling, Geschichte, S. 75 ff.

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sen werden müssen. 20 In jenen Ländern, in denen zeitweilig eine stärkere politische Orientierung am „Sozialstaatsmodell" gegeben war, wie z.B. in Rumänien bis Ende der neunziger Jahre, verzögerte dies nur die notwendigen wirtschaftlichen Strukturreformen und Entstaatlichungsprozesse und verschärfte damit die gegebene Wirtschaftskrise. In vielen anderen Gesellschaften hat man indes, oft zum Leidwesen breiter Bevölkerungskreise, auf neoliberale Wirtschaftsstrategien und einen schlanken Sozialstaat gesetzt, also gleichsam auf eine Abwendung vom Modell der sozialen Marktwirtschaft, und sieht sich damit heute i m Wettbewerbsvorteil in einer sich immer weiter und rascher globalisierenden Welt. 2 1

IV. Das Problem der Eliten aus ost- und südosteuropäischer sowie aus ostdeutscher Sicht Es ist ein mittlerweile kaum noch umstrittener Befund, dass es in Ost- und Südosteuropa zwar einen Wandel der Elitenkonfigurationen im Sinne der weltanschaulichen Pluralisierung und der funktionalen Ausdifferenzierung, aber nur begrenzt einen Elitenwechsel gegeben hat. Wenn keine direkte personelle Kontinuität zwischen den „alten" und „neuen" Eliten besteht - ein Sachverhalt der natürlich auch häufiger gegeben ist sind die „neuen Eliten" doch vielfach ihren Herkunftsgruppen und ihren Aufstiegs- und Karrierewegen nach eng mit den „alten Eliten" und deren Trägergruppen verbunden. Eine Erklärung dafür liegt darin, dass das kommunistische Herrschaftssystem durch verschiedene Mechanismen, nicht zuletzt durch die ideologische und politische Kontrolle der Bildungs- und Beschäftigungssysteme und Aufstiegswege, die Entstehung alternativer Elitenpotenziale weitgehend verhindert h a t . 2 2 Anders erscheint aus ost- und südosteuropäischer Sicht die Situation in Ostdeutschland gelagert zu sein. Hier hat es durch die Rückgriffsmöglichkeit auf Eliten aus dem Westen für nahezu alle institutionelle Bereiche die Möglichkeit eines weitgehenden Elitenaustauschs gegeben, während in ehemaligen kommunistischen Gesellschaften Ost- und Südosteuropas allenfalls kleinere, aus dem Westen in ihre Heimatländer zurückgekehrte Emigrantengruppen in dieser Hinsicht zur Verfügung standen. Auch dieser Aspekt wird natürlich im Vergleich 20 Fortbestehende traditionale Orientierungen, starke Familien- und Verwandtschaftsbindungen und entsprechende Solidaritätsleistungen bilden übrigens ein wichtiges funktionales Äquivalent des weitgehend abgebauten Sozialstaates. Siehe dazu auch Kaser/Gruber/Pichler. 21

Siehe auch Fürstenberg/Oesterdiekhoff.

22

Sterbling, Intellektuelle; Ders., Elitenwandel, S. 10ff.; Veen.

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höchst ambivalent beurteilt. Manche Ost- und Südosteuropäer sehen i m weitgehenden Fehlen alternativer Elitenpotenziale einen erheblichen Nachteil und ein wichtiges Hindernis rascher Modernisierungsfortschritte, andere sehen darin eine Bewährungschance für die einheimischen Eliten, insbesondere wenn es um die Frage des Engagements ausländischer Experten, Unternehmer usw. sowie um die „Wahrung nationaler Interessen" geht. Ähnlich ambivalent wird dies auch von den Ostdeutschen betrachtet, unabhängig davon, dass eingehendere empirische Analysen das Bild von einem weitgehenden Elitenaustausch in Ostdeutschland ohnehin vielfach korrigieren bzw. weitaus differenzierter erscheinen lassen, 23 als dies aus der Alltagsperspektive wahrgenommen wird. Die einen sehen in dem Elitenzugang aus dem Westen eine notwendige und hilfreiche Unterstützung der Entwicklungen in den neuen Bundesländern, die anderen eine dauerhafte Bevormundung und nicht zuletzt ein eigenes Chancenhandicap, insbesondere i m Vergleich zur Situation in anderen östlichen Nachbargesellschaften.

V. Erfahrung des Kommunismus - Einstellungen zur Demokratie Eine grundlegende und oft nachhaltig belastende Erfahrung teilen viele ältere Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa, die Erfahrung des Kommunismus, manche auch die Erfahrung des Stalinismus und der Diktatur. 2 4 Auch der Umgang mit dieser vielfach verdrängten, jedenfalls noch keineswegs hinreichend verarbeiteten Erfahrung erscheint ambivalent, wenn man die gegenwärtigen Einstellungen der Menschen zur Demokratie und den Zustand der politischen Kultur in vielen ost- und südosteuropäischen Gesellschaften betrachtet. Die demokratischen Prinzipien und Wertideen werden in diesen Gesellschaften - und noch deutlicher in Ostdeutschland - vom größten Teil der jeweiligen Bevölkerungen zwar positiv bewertet, anders sieht es hingegen hinsichtlich der Bewertung des Funktionierens der gegebenen politischen Institutionen und der Leistungen der politischen Akteure aus, die - auch in Ostdeutschland - deutlich kritischer als in Westdeutschland und in anderen konsolidierten Demokratien des Westens beurteilt werden. So stimmten i m Jahre 2000 der Idee der Demokratie in Bulgarien 63 %, in Ungarn 71 %, in Rumänien 81 % und in Albanien 91 % der Bevölkerung, in Westdeutschland 97 %, in Ostdeutschland 94 % und in Spanien 95 % zu. Die „Demokratieperformance", 23 24

Siehe auch Hornbostel; Pohlmann, S. 93 ff.

Zu den deprimierenden Erfahrungen von Diktatur und Stalinismus siehe Sterbling, Wesen, S. 165 ff.; Ders., Stalinismus.

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also das tatsächliche Funktionieren der Demokratie, erhielt indes in Bulgarien nur von 19 %, in Ungarn von 31 %, in Rumänien von 11 %, in Albanien von 35 % und in Ostdeutschland von 49 % der Bevölkerung eine positive Bewertung, während die entsprechenden Anteile in Westdeutschland bei 65 %, und in Spanien bei 57 % lagen. 25 Auch die noch wenig konsolidierten Parteiensysteme, die starke Personalisierung der Politik, die häufigen Regierungswechsel, die zum Teil recht geringen Wahlbeteiligungen, die relativ hohen Stimmenanteile radikaler oder extremistischer Parteien und manch anderes sprechen dafür, dass der Weg zu reifen Demokratien vielfach noch lang sein dürfte.

VI. Die Sicht der Ost- und Südosteuropäer auf Deutschland und der „Tunneleffekt" Vieles von dem bisher Angesprochenen, insbesondere soweit es die Wirtschaftsentwicklung- und Wohlstandserwartungen in Ost- und Südosteuropa und die dabei aufscheinenden Ambivalenzen in der Beurteilung der Situation in Ostdeutschland, aber auch die ambivalente Sicht der Ostdeutschen selbst betrifft, kann man in der Perspektive des sogenannten „Tunneleffektes" interpretieren. Greift man - stark vereinfacht - die dazu entwickelten Gedanken Albert O. Hirschmans auf, der diese Erkenntnisse aus seiner langjährigen Beschäftigung mit Entwicklungsländern gewonnen hat, so kann man zunächst feststellen: „Das Wohlergehen eines Individuums hängt vom gegenwärtigen und dem erwarteten Grad seiner Zufriedenheit ab ", 26 Es orientiert sich dabei zugleich an Vergleichen mit anderen, die als „seinesgleichen" gelten und die als seine signifikanten Bezugspersonen oder Bezugsgruppen zu betrachten sind. Wenn eine Anzahl anderer Menschen, die in diesem Sinne als relevante Bezugspersonen oder Bezugsgruppen angesehen werden, eine merkliche Verbesserung ihrer Wohlstandslage erleben, so kann das Individuum - selbst wenn sich an seiner Situation nicht viel geändert hat - dies i m Sinne des „Tunneleffektes" als positives Anzeichen, als Aussicht auf eine zukünftige Verbesserung seiner eigenen Situation deuten. Es wird daher zeitweilig auch bereit sein, entsprechende soziale Benachteiligungen, in der Hoffnung und Aussicht auf eine bessere Zukunft, hinzunehmen. Schlägt die Erwartung dieses Individuums aber nach einer gewissen Zeit der Hoffnung in die Überzeugung um, die anderen haben die Chancen und Ressourcen so weit genutzt, dass diese für ihn daher nicht mehr oder nicht mehr in gleichem Maße zur Verfügung stehen, so ent25

Siehe dazu Pickel, S. 217.

26

Siehe Hirschman, Entwicklung, S. 72.

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steht, gerade „seinesgleichen" gegenüber, ein Gefühl der „relativen Deprivation" und ein soziales Ungerechtigkeitsempfinden, ein Gefühl massiver „Enttäuschung". 27 Nun kann man diese Überlegungen - natürlich nur mit großer Vorsicht - auch auf die Sicht der Ost- und Südosteuropäer dem deutschen Vereinigungsprozess gegenüber anzuwenden versuchen, um die konstatierten Ambivalenzen zu erklären. Einerseits können die Ost- und Südosteuropäer in den raschen Wirtschaftsund Wohlstandsfortschritten in Ostdeutschland ein Modell oder einen Weg zur Erfüllung eigener Wohlstandserwartungen sehen, insbesondere soweit der europäische Integrationsprozess auch ihnen einigermaßen realistische Perspektiven dazu eröffnet. Andererseits kann sich aber auch das Gefühl, von solchen Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen dauerhaft abgeschnitten und abgehängt worden zu sein, und ein entsprechendes Gefühl der „relativen Deprivation" oder der Resignation einstellen. Beide Haltungen und Ansichten finden sich in den Gesellschaften Ost- und Südosteuropas typischerweise vor, und sie erklären zumindest teilweise die angesprochenen Ambivalenzen dem deutschen Vereinigungsprozess gegenüber. Aber auch in Ostdeutschland finden sich typischerweise beide Haltungen, hier allerdings nicht im Bezug auf die Osteuropäer, sondern auf die Westdeutschen als signifikante Bezugsgesellschaft ausgerichtet. I m Sinne des „Tunneleffektes" verspricht man sich entweder, die westdeutsche Wohlstandslage ebenfalls in Zukunft zu erreichen und geduldet sich mithin etwas; oder aber es stellt sich die Überzeugung ein, dass man von solchem Wohlstand dauerhaft ausgeschlossen bleibt und entwickelt ein entsprechendes Gefühl „relativer Deprivation". Zum Gesamtzusammenhang sei noch angemerkt, dass der „Tunneleffekt" auch umgekehrt wirken kann. 2 8 Sieht man viele „Seinesgleichen" i m Abstiegsprozess oder in der Krise, so hegt man für sich selbst alsbald ähnliche Befürchtungen. Man wird dann geneigt sein, sich rasch von diesen Bezugsgruppen, von diesen „Seinesgleichen", loszusagen oder abzukoppeln, indem man andere, eigene Wege zu gehen sucht. Dies haben die Ostdeutschen i m Verhältnis zu den anderen ehemaligen sozialistischen Gesellschaften getan, wobei die vormalige Gemeinschaft mit diesen natürlich eine hegemonial bestimmte Zwangsgemeinschaft und die Loslösung davon mithin sicherlich legitim war. Das sich Trennen und voneinander Lossagen und eigene Wege Gehen ist aber auch eine Tendenz unter vielen anderen Staaten des östlichen Europa, bis hin zur staatlichen Sezession, gewesen, nicht nur in Südosteuropa, wie eingangs angedeutet wurde. Es zeigt sich übrigens auch i m ambivalenten Verhältnis der Ostdeutschen zur EU-Osterweiterung.

27

Zum Phänomen der Enttäuschung siehe auch Hirschman, Engagement, S. 17 ff.

28

Siehe Hirschman, Entwicklung, insbesondere S. 85 ff.

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VTL Resümee In Deutschland muss sicherlich aufgepasst werden, w i l l man die erreichte, durchaus vorzeigbare Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses nicht gefährden, dass nicht auch noch ein negativer „Tunneleffekt" zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen um sich greift, der dann entstehen kann, wenn sich die Überzeugung bei den Westdeutschen verbreitet, dass sie von „Ihresgleichen" in einen Prozess des Wohlstandsverlustes mitgezogen werden. U m dem entgegenzuwirken, ist Aufklärung erforderlich - nicht zuletzt über die objektive Wirtschafte- und Wohlstandslage in Deutschland, über ihre Grundlagen und über die Bedingungen und Möglichkeiten des Fortbestandes des Erreichten. A n falschen Maßstäben orientierte subjektive Ansprüche und soziale Gerechtigkeitsforderungen, so zeigt uns gerade die ost- und südosteuropäische Sichtweise auf die deutsche Situation, haben in einer Gesamtkonstellation fortschreitender europäischer Integration und Globalisierung eigentlich keine tragfähige Grundlage. Insofern ist diese Sichtweise von außen für eine realistische und kritische Selbstreflexion der deutschen Einheit und ihrer Bilanz durchaus aufschlussreich.

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1989/90 nach 15 Jahren: Historischer Kontext, Transformationsprozess und Demokratieakzeptanz Versuch einer Bilanz Von Günther Heydemann

1.1989/90 in der deutschen und europäischen Geschichte Angesichts der fortbestehenden Probleme des Transformationsprozesses, der im Zuge der Vereinigung beider deutscher Staaten ab 1990 auf allen Ebenen einsetzte, wird heute allzu leicht übersehen, dass jener denkwürdige „Herbst 89" der bisher letzte und bei weitem positivste Umbruch in jener Kontinuität von Brüchen gewesen ist, welche die deutsche Geschichte seit mehr als einem Jahrhundert charakterisieren. Erinnert sei nur an die Jahre 1870/71, 1918/19, 1933, 1945 und 1949. Sie alle verkörpern historische Zäsuren, von der die neuere und jüngste deutsche Zeitgeschichte und nicht zuletzt die Deutschen selbst nachhaltig geprägt worden sind. 1989/90 stellt in dieser Kette schon deshalb die erfreulichste Zäsur dar, weil eine friedliche, unblutige und vor allem demokratische Revolution die „Wende" in Gang setzte und dadurch das diktatorische Regime der SED überwand. Pointiert ließe sich sagen, dass die erfolgreiche demokratische Revolution in der DDR die Demokratie als politisches System nicht nur grundsätzlich, sondern auch im Hinblick auf den in der Bundesrepublik seit über 40 Jahren bestehenden demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat gleichsam im doppelten Sinne legitimiert hat. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des früheren Ostblocks und der sowjetischen Führungsmacht führte das Ende der DDR als spezifischer Typ einer realsozialistischen Diktatur gleichzeitig zur Überwindung der bis dahin existierenden Spaltung Deutschlands und damit zur Wiedergewinnimg des Nationalstaats. Diesen hatte es seit der Gründung von Bundesrepublik Deutschland und DDR i m Herbst 1949 nicht mehr gegeben und seine Realisierung schien im Verlauf der vierzigjährigen Teilung immer unrealistischer. Zugleich stand die am 3. Oktober 1990 staats- und völkerrechtlich wiedergewonnene nationalstaatliche Einheit Deutschlands am Beginn einer umfassenden Neuordnung Europas und der bis dahin existenten Bündnissysteme, die erst 2004 einen vorläufigen, aber noch nicht endgültigen Abschluss gefunden hat.

Günther Heydemann

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Dass die Wiedervereinigung Deutschlands gleichsam die Basis dieser Neuordnung verkörperte, entspricht durchaus historischer Logik. Aufgrund der äußerst negativen Erfahrungen, welche die europäischen Nachbarstaaten mit Deutschland im 20. Jahrhundert gemacht hatten, standen sie einem erneuten deutschen Nationalstaat, der schon allein in demographischer und ökonomischer Hinsicht einen beträchtlichen Machtzuwachs implizierte, verständlicherweise eher misstrauisch bis ablehnend gegenüber. Lediglich die USA befürworteten und unterstützten die deutsche Wiedervereinigung vorbehaltlos. Die Aufrechterhaltung eines geteilten Deutschlands als politische Option, wie damals besonders von Großbritannien unter Margaret Thatcher gewünscht, erwies sich jedoch als politisch und normativ nicht durchsetzbar, weil es gerade eine demokratische Revolution gewesen war, die den neuen deutschen Nationalstaat erkämpft hatte.1 Hinzu kam die außerordentlich günstige internationale Konstellation, dass die sowjetische Hegemonialmacht ebenfalls in einem Auflösungsprozess begriffen war. Militärisch zwar zu einem Eingreifen in der DDR nach wie vor durchaus fähig, konnte sie i m Zeichen proklamierter Reformpolitik (Perestroika; Glasnost) ein solches Vorgehen nicht mehr rechtfertigen - wie noch 1953, 1956 oder 1968. Die revolutionäre Erringung eines parlamentarischen Rechts- und Verfassungsstaates, durch die Wahlen vom 18. März 1990 in der noch existierenden DDR Wirklichkeit geworden, beruhte auf den gleichen demokratischen Prinzipien, auf denen der westdeutsche Teilstaat, die Bundesrepublik Deutschland, seit 1949 basiert hatte - nicht anders als die übrigen westlichen europäischen Staaten selbst. Die normative Übereinstimmung der demokratischen Revolution in der DDR war mit den politischen Überzeugungen und demokratischen Strukturen der übrigen europäischen Staaten identisch - Osteuropa zu diesem Zeitpunkt noch ausgenommen. Schon deshalb konnte man den Deutschen den daraus hervorgehenden Nationalstaat nicht verweigern. Insofern hängen demokratische Revolution in der DDR und nationale Wiedervereinigung aller Deutschen aufs engste zusammen, zumal der Nationalstaat auch in Europa immer noch als eigene Normgröße gilt, auch wenn sich zunehmend supranationale Strukturen in den Mitgliedstaaten der EU herausbilden. Die Akzeptanz eines deutschen Nationalstaats wurde aber auch dadurch ermöglicht, weil sich die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung in nahezu alle relevanten Bündnisse integriert hatte, allen voran in die NATO 1955 und die EWG (später EG und EU) 1957. Insbesondere nach den Erfahrungen mit der Barbarei des Nationalsozialismus war diese Politik zutiefst von demokratischen Überzeugungen getragen, welche die junge Bundesrepublik mit den westlichen Partnerstaaten grundsätzlich teilte; sie entsprang aber auch eige1

Siehe hierzu jüngst Jackisch.

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nen fundamentalen sicherheitspolitischen sowie wirtschaftlichen und finanzpolitischen Interessen. Erstmals seit 1949 stimmten somit politische Ideologie und praktische Politik (West-)Deutschlands mit der großen Mehrheit der übrigen Staaten in Europa überein, sieht man, wenigstens zu diesem Zeitpunkt, erneut von Ost- und Südosteuropa ab. Zweifellos hatte diese grundsätzliche Übereinstimmung auch eine entsprechende internationale Vertrauensbildung zur Folge, die im „annus mirabilis" 1989/90 Früchte tragen sollte. Eingebunden, aber auch eingeschlossen in diese Bündnissysteme, hält man sich die traditionelle geopolitische Mittellage Deutschlands in Europa vor Augen, bestand keine Gefahr mehr, dass sich das wieder vereinigte Deutschland jemals erneut expansiv verhalten würde, ja könnte - wie noch 1914 und 1938/39. Zudem bedeutete die Überwindimg der deutschen Teilung auch das Ende jener permanenten Destabilisierungsgefahr auf dem europäischen Kontinent, die von der letztlich unnatürlichen Spaltung Deutschlands in dessen Mitte latent immer ausgegangen war. Von daher versprach die Bildung eines geeinten, demokratischen Nationalstaats ebenfalls eine zusätzliche Stabilisierung der europäischen Staatenordnung. Deutschland hatte somit endlich seinen Platz in Europa gefunden, den Frieden mit sich selbst und den europäischen Staaten gemacht. Insofern stellt der letzte Versuch einer deutschen Nationalstaatsgründung, bewirkt durch eine demokratische Revolution und integriert in ein neu justiertes europäisches und internationales Bündnissystem, für sich schon einen Erfolg dar - ein Gewinn, der inzwischen schon fast zu selbstverständlich geworden ist, vergegenwärtigt man sich noch einmal die vor 1989 bestehende, scheinbar auf immer unveränderbare Lage im damals bestehenden Ost-West-Verhältnis.

IL Der Transformationsprozess Fixiert auf die revolutionären Ereignisse vom Herbst 1989 in der DDR wird heute meist ebenfalls übersehen, dass der ab Januar 1990 auf die Revolution folgende Transformationsprozess die eigentliche Umwälzung des diktatorialen SED-Staates in Richtung auf ein demokratisches, rechtsstaatliches Herrschafts-, Wirtschafte- und Gesellschaftssystem bedeutete, besonders für die Noch-Bürger der DDR selbst. Mit der Neu- bzw. Wiederbegründung von Parteien, auch durch westdeutsche Hilfe, wurde das bis dahin bestehende pseudo-pluralistische Parteiensystem in der DDR, mit dem Machtmonopol der SED an der Spitze, ersetzt durch ein tatsächlich pluralistisches politisches System. A u f diese Weise entstand eine völlig neue Parteienlandschaft, in der die frühere Staatspartei SED, dann SED-PDS, inzwischen „Die neue Linke", ebenso zum Konkurrenten um

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Wählerstimmen wurde wie andere Parteien auch. Diese Entwicklung, zugleich ein Adaptionsprozess an das bestehende Parteiensystem in der Bundesrepublik, vollzog sich vor dem Hintergrund der ersten freien Wahlen in der DDR zur Volkskammer am 18. März 1990, erstaunlich rasch. Zeitlich länger andauernd, aber ebenso durchgreifend, waren die Transformation von Nationaler Volksarmee, Volkspolizei, Justiz, des Gesundheits- und Verkehrwesens sowie der Bildungsinstitutionen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Obwohl es sich dabei z. T. um höchst sensible Bereiche handelte, ist dieser Umwandlungsprozess insgesamt weitgehend konfliktfrei verlaufen. Als erheblich problematischer erwies sich jedoch der Umbau der in der DDR existenten zentralen Planverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft. Tatsächlich war und ist die Bundesrepublik Deutschland der erste und bisher einzige moderne westliche Industriestaat, der einen so grundlegenden Transformationsprozess auf volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene hat durchführen müssen; einschlägige Vorerfahrungen hierzu bestanden nicht. Zugleich gilt es zu bedenken, dass diese umfassende Umstrukturierung in der DDR zu einem Zeitpunkt vorgenommen wurde, als in der „alten" Bundesrepublik durch die seit Ende der 1970er Jahre sukzessive steigende Arbeitslosigkeit längst eine latente Krise des Arbeitsmarktes vor 1989/90 bestand. Eine massive, systembedingte Beschäftigungskrise war jedoch vor der „Wende" auch in der DDR virulent. Aus heutiger Sicht wird oft vergessen, dass in der DDR-Wirtschaft, besonders ab Anfang der 1980er Jahre, ebenfalls eine Beschäftigungskrise in Form „verdeckter Arbeitslosigkeit" vorherrschte - mit einem Wort: zu wenig Arbeit für zu viele Beschäftigte. Mangelnde Rohstoffe, fehlende Werkzeuge, ausbleibende Ersatzteile, verschlissene und reparaturanfallige Maschinen, veraltete Produktionsanlagen, ein krisenanfälliges Energiesystem sowie eine marode Infrastruktur, hatten die Arbeitsproduktivität, ohnehin immer niedriger als in der Bundesrepublik, kontinuierlich sinken lassen. 1989/90 befand sich die DDR „auf einem Entwicklungsstand bei Produktion und Beschäftigung, wie er für die alte Bundesrepublik in den sechziger Jahren anzutreffen war". 2 De facto war die DDR-Wirtschaft nur noch in der künstlichen Abschottung des RGW überlebensfähig, gemessen an den Anforderungen einer zunehmend globalen Weltwirtschaft war sie dies schon seit längerem kaum mehr. Tatsächlich ist der bestehende, katastrophale Zustand der DDRWirtschaft von den westdeutschen Eliten erheblich unterschätzt worden - und damit auch das Ausmaß substanziell notwendiger Transformation und Modernisierung auf der ökonomischen Mikro- und Makroebene wie auch in zeitlicher Hinsicht.

Ludwig, S. 4 1 .

1989/90: Nach 15 Jahren

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Da die Wetterführung einer wie auch immer „vergesellschafteten Wirtschaft" nach vierzig Jahren ökonomischer Ineffizienz keine wirtschaftspolitische Option mehr darstellte, war eine umfassende Privatisierung unumgänglich; durch die „Treuhand" vorgenommen, bedeutete sie ebenfalls eine grundlegende Adaptierung des DDR-Wirtschaftssystems an die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik. Als essenzielle wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidung unaufschiebbar, ist es indes bei der praktischen Durchführung der Privatisierung auch zu Fehlern und Unkorrektheiten gekommen; so wurden etwa konkurrenz- bzw. noch modernisierungsfahige Betriebe nicht selten unter Wert verkauft, ebenso konnten bestehende Produktionskapazitäten von westdeutschen bzw. ausländischen Firmen zu äußerst günstigen Preisen erworben werden, um sie sodann als potenzielle Konkurrenten auszuschalten. Übersehen werden darf dabei auch nicht, dass der vorherrschende Kapitalmangel in der DDR Ostdeutsche vom Erwerb bestehender Betriebe meist ausschloss.3 Insgesamt waren nach der Öffnung der internationalen Märkte Beschäftigung und Produktionsausstoß der ostdeutschen Betriebe auf ca. ein Viertel des Standes vom Jahre 1989 gesunken. Die Mehrzahl war nicht mehr in der Lage, „marktgängige Güter zu kostendeckenden Preisen " auf einem globalen Markt anbieten zu können. 4 Dies hatte wiederum den radikalen Abbau bestehender Industriebetriebe in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern zur Folge, dem ein ebenso rasanter Abbau von Arbeitsplätzen parallel lief. Als weiteres, gravierendes Problem kam hinzu, dass die vor allem aus sozialpolitischen Gründen unumgängliche Entscheidung zu einer raschen Lohnangleichung zwischen der DDR als Niedriglohnland und der Bundesrepublik als Hochlohngebiet, zwangsläufig zu einer Verteuerung der Produktionskosten führte und auf diese Weise die Konkurrenzfähigkeit der neuen Bundesländer weiter verschlechterte. Zwar haben die Einkommen ostdeutscher Arbeitnehmer inzwischen fast 80 % der Höhe der westdeutschen Löhne und Gehälter erreicht - im Unterschied etwa zu Polen und Tschechien, wo die Einkommen im Schnitt nur ein Fünftel betragen, es reduzierte aber zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der in den neuen Bundesländern hergestellten Produkte: „ Während in den genannten ehemals osteuropäischen Ländern die Produktivität den Löhnen voraus ist, ist das Verhältnis in Ostdeutschland genau umgekehrt ". 5 Gleichwohl ist durch das Wirken der Treuhand ein umfassender und zugleich unverzichtbarer Modernisierungsprozess ausgelöst worden, der die seit Jahrzehnten bestehende Stagnation und Ineffektivität der industriellen Wirt3

Inzwischen ist der Eigentumsanteil von Ostdeutschen an der privaten Wirtschaft jedoch kontinuierlich gestiegen; vgl. Ludwig, S. 411. 4

Ebd., S. 414.

5

Hinrichs/Nauenburg, S. 398.

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schaftsproduktion in der DDR überwand und den Durchbruch zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft ermöglichte, ohne dass dieser Transformationsprozess allerdings bis heute abgeschlossen werden konnte. Noch immer werden ca. 30 % der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage im Osten nicht aus den vor Ort entstandenen Einkommen finanziert. Welche Schere zwischen Ost und West nach wie vor klafft, zeigt etwa die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1995 bis heute. Während es in den Ländern der früheren Bundesrepublik um 13 % stieg, legte das BIP in den neuen Bundesländern, einschließlich Berlins, nur um 6 % zu. 6 Entsprechend holt die dortige, wirtschaftliche Entwicklung nur in „Trippelschritten" auf, wie eine Untersuchung des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) unlängst feststellte. 7 Zudem konnte der wirtschaftliche Transformationsprozess bisher nur in einigen wenigen Regionen und nicht flächendeckend Erfolge zeitigen; insofern sind „blühende Landschaften" nur in den Räumen Leipzig/Halle und Brandenburg-Südwest ansatzweise entstanden.8 Die noch auf Jahre hinaus andauernden Transferleistungen, die ca. 70 Milliarden €uro pro Jahr im Rahmen des Solidarpakt I I allein in der wiedervereinten Bundesrepublik ausmachen, bleiben somit ebenso unverzichtbar wie die weitere Förderung durch die Europäische Union. Allerdings werden diese enormen finanziellen Leistungen nur teilweise fur tatsächliche Investitionen aufgewendet, da z.T. mehr als die Hälfte davon in einigen neuen Bundesländern „zum Ausgleich der Fehlbeträge in den Sozialkassen " verwendet werden muss. 9 Es ist daher davon auszugehen, dass Arbeitsproduktivität und Netto-Löhne erst im Jahre 2020 das West-Niveau erreichen. Die etwa doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern hat im übrigen auch gravierende demographische Konsequenzen. Davon abgesehen, dass die sog. „natürliche Einwohnerbilanz" (= das Verhältnis von Geburtenhäufigkeit und Sterberate), parallel zum gesamtdeutschen Bundesdurchschnitt, negativ ist und i m Jahre 2002 in den neuen Bundesländern -5,4 % betrug, gibt es keinen Zweifel an der Tatsache, dass hinsichtlich der zweiten Komponente der Bevölkerungsentwicklung, dem Verhältnis von Zu- und Fortzügen (= Wanderungsbewegung), ein eindeutiger Zusammenhang besteht: Je höher die regional-lokale Arbeitslosigkeit, desto größer ist der dort entstehende Wanderungsverlust.

6

Osten verliert weiter..., S. 6.

7

Ost-Wirtschaft holt..., S . l l .

8

Vgl. Ostdeutschland bleibt..., S. 19. So werden die beiden o.g. Regionen ab 2010 im Rahmen der EU-Regionalhilfe aus der Höchstförderhöhe herausfallen, da dort das Durchschnittseinkommen je Einwohner bereits auf über 75 % des EU-Durchschnitts gestiegen ist. 9

Ludwig, S. 415.

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137

„In den Jahren 1991 bis 2002 sind aus den sechs ostdeutschen Bundesländern zusammen fast 780 000 Personen mehr in die westlichen Länder gezogen als in umgekehrter Richtung. Ostdeutschland hat auf diese Weise 4,3 % seiner Einwohnerschaft verloren." 10 Hält dieser Trend an, wobei der Alterungseffekt hinzukommt, wird die Bevölkerung in den neuen Bundesländern im Jahre 2020 nur noch bei 14,5 Millionen statt bei gegenwärtig noch 15,1 Millionen liegen. Das bedeutet, dass die Abhängigkeit von finanzielle Transferleistungen aus dem Westen sich noch weiter erhöhen könnte - auch nach dem Ende von Solidarpakt 13 im Jahre 2019. Gegenwärtig hängen davon allein 850.000 Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern ab. Solange es daher nicht gelingt, „ eine selbstragende Wirtschaft im Osten zu errichten ", bleibt Ostdeutschland in einer wirtschaftlichen und demographischen Abwärtsspirale gefangen. Tatsächlich hat die enorme, staatliche Wirtschaftsforderung i m Osten zwar beträchtliche Erfolge gezeitigt, in der Fläche ist sie aber bislang gescheitert. Ohnehin dürfte die Entwicklung anders verlaufen. Einigen ökonomisch starken Zentren werden weiterhin strukturschwache Peripherie-Regionen gegenüberstehen, in denen der o.g. negative demographische Trend anhält oder sich sogar noch erhöht. 11 Dennoch hat sich seit 1990 ein rasanter, freilich noch über Jahre hinaus nicht abgeschlossener Anpassungsprozeß der Beschäftigimg an westdeutsche Verhältnisse vollzogen. Während der Beschäftigtenanteil in der Landund Forstwirtschaft (primärer Sektor) von 9,0 % (1989) auf 3,3 % (2004) gesunken ist, und der Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe (sekundärer Sektor) von 45,9 % (1989) auf 26,3 % (2004) fiel, stieg die Beschäftigimg im tertiären Sektor, den Dienstleistungen, von 45,1 % (1989) auf inzwischen 70,4 % (2004). 1 2 Diese Entwicklung zeigt, dass sich die neuen Bundesländer auf dem Weg zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft befinden. Der Umbau des Arbeitskräftepotentials kann jedoch nicht nur aus rein ökonomischer Perspektive gesehen und beurteilt werden. Auch die sozialpsychologische Seite ist zu berücksichtigen. Es sind die beschäftigten Menschen, das Humankapital, die mit diesem in der Geschichte beispiellosen Umbruch, wie er in der DDR stattfand und in den neuen Bundesländern noch nicht zum Ende ge-

10

Erdmann, S. 406.

11

Vgl. Kein Silberstreif..., S. 6; dort das Zitat sowie die statistischen Angaben. So erhöht sich z.B. in den neuen Bundesländern der Anteil der über 60-jährigen von 3,94 Millionen im Jahre 2005 auf 4,82 Millionen im Jahr 2020, während der Anteil der 20-60 Jahre alten Erwerbsbevölkerung im gleichen Zeitraum von 8,61 Millionen auf 7,38 Millionen sinkt - mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. 12

Ludwig, S. 413.

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kommen ist, fertig werden mussten; in der Regel bedeutete er eine völlige Veränderung ihrer bisher gewohnten Arbeits- und Lebensverhältnisse. Spätestens nach 1990 bestand die gewohnte und tief verinnerlichte Arbeitsplatzsicherheit nicht mehr - i m Gegenteil: Millionenfach wurden Arbeitsplätze wegrationalisiert oder fanden gravierende Veränderungen individueller Beschäftigungsverhältnisse statt. Auch wenn Arbeiter und Angestellte schon zu DDR-Zeiten Zeugen ihrer verfallenden Betriebe und sinkenden Produktivität geworden waren und deren umfassende Modernisierung selbst wünschten, so betrachteten sie die nach 1990 tatsächlich erfolgende inner- wie außerbetriebliche Umstrukturierung mit äußerst zwiespältigen Gefühlen, wenn sie dadurch ihren Arbeitsplatz verloren und noch dazu über Jahre hinweg im gleichen Betrieb gearbeitet hatten. Zudem scheint die jahrelange Propaganda der SED und ihre ständige Perhorreszierung des Kapitalismus nachzuwirken. Scheinbar objektiv erfüllte sich für viele beschäftigungslos Gewordene nun subjektiv deren Prophezeiung: „Kommt der Kapitalismus, kommt die Arbeitslosigkeit". Vor diesem Hintergrund wurde bzw. wird bis heute allzu häufig übersehen, dass es die SED und die von ihr geschaffene, über vier Jahrzehnte hinweg bestehende zentrale Planverwaltungswirtschaft gewesen ist, welche diesen umfassenden Transformationsprozess notwendig, ja absolut unverzichtbar gemacht hat. Auch wenn bei dieser weltweit bisher nie da gewesenen Umgestaltung Fehler geschehen sind, so darf darüber doch nicht in Vergessenheit geraten, wer der eigentliche Urheber dieser totalen Fehlentwicklung gewesen ist. Die SED-Diktatur hatte 1989 nicht nur in politischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht völlig abgewirtschaftet.

IQ. Demokratieakzeptanz Es ist keine Frage, dass die enormen ökonomischen und in ihrer Folge sozialen Umwälzprozesse Rückwirkungen auf das neue politische System der Demokratie hatten und haben, das in seiner westdeutschen Ausprägung zur grundlegenden politischen Ordnung auch in Ostdeutschland wurde. Was zunächst die Akzeptanz der Demokratie angeht, so ist eine seit der Wende von 1989/90 sukzessive gesunkene Überzeugung in den neuen Bundesländern zu konstatieren. A u f die Frage, ob sie die beste Staatsform sei, hatten 1990 noch 41 % der Ostdeutschen mit ,ja" geantwortet, elf Jahre später waren es nur mehr 32 % . 1 3 „Als vorläufigen Höhepunkt demokratieskeptischer Grundhaltung insbesondere der Ostdeutschen " bezeichnen Wilhelm Hinrichs und Ricarda Nauenburg die

13

Vgl. Noelle-Neumann/Köcher, S. 595.

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Ergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen vom September 2004, bei denen die bürgerlichen Parteien CDU und SPD zusammen in Brandenburg 14,5 % und in Sachsen 16,7 % der Stimmen gegenüber 1999 verloren. Demgegenüber verzeichnete die PDS starke Zugewinne, und die rechtsextremen Parteien D V U und NPD zogen in die Landtage ein. 1 4 Auch die Tatsache, dass der neuen Linkspartei, dem Bündnis aus westdeutschen Linken und ostdeutscher PDS, bei der bevorstehenden Bundestagswahl i m September dieses Jahres gegenwärtig ein Wähleraufkommen von 10-12 % zugerechnet w i r d , 1 5 spricht eher für ein weiteres Anwachsen demokratiekritischer Einstellungen. Gleichwohl wollen weder Ost- noch Westdeutsche die Mauer zurück; hier sind es in den alten Bundesländern gerade 6 % und in den neuen 5 % , 1 6 die einen solchen Wunsch hegen. Zudem ist das Verständnis i m Westen für den „Aufbau Ost" gewachsen; immerhin neun von zehn Befragten sind der Ansicht, dass dieser als gesamtdeutsche Verpflichtung weitergehen muss. Das spricht offensichtlich für einen stärkeren Zusammenhalt und gesamtdeutsches Denken, als es mitunter in den Medien kolportiert wird. 1 7 Die alles entscheidende Frage ist jedoch, inwieweit die schwierige wirtschaftliche und Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern Rückwirkungen auf die Akzeptanz der Demokratie zeitigt. In dieser Hinsicht geht die moderne sozialwissenschaftliche Forschung davon aus, dass es „die subjektive Bewertung der ökonomischen Situation in Form der Zufriedenheit mit dem Lebensstandard sowie der sozialen und öffentlichen Sicherheit" ist, aus welcher der Grad der „Zufriedenheit mit den demokratischen Einrichtungen" resultiert. 18 Dementsprechend stellen Wilhelm Hinrichs und Ricarda Nauenburg fest, dass sich die Erwartungen der Ostdeutschen von „einer zügigen Angleichung der Lebensverhältnisse in West- und Ostdeutschland" nach der Wende als illusionär erwiesen hätten. 19 Die geweckten, aber nicht erfüllten Erwartungen wirkten daher negativ auf die Demokratiezustimmung. Der Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie, der ja wesentlich mehr als nur ein bloßer Wechsel der Systeme, sondern auch und gerade ein qualitativer Sprung der politischen Grundordnungen gewesen ist, hat somit für nicht wenige Ostdeutsche subjektiv nicht das eingelöst, was man sich nach der Wiedervereinigung erhofft hatte. Entsprechend ist die pessimistische Auffas-

14

Hinrichs/Nauenburg, S. 393.

15

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis erhielt die Linkspartei 8,7 % der Stimmen.

16

Kaum einer möchte..., S. 6.

17

Ebd.

18

Hinrichs/Nauenburg, S. 398.

19

Ebd.

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sung - in Übereinstimmung mit den Westdeutschen - gleich hoch (90 %), dass sich das Lebensniveau zwischen den alten und den neuen Bundesländern viel später angleichen wird, als ursprünglich erwartet. 20 Überdies wird den etablierten Parteien nicht mehr zugetraut, den weiteren „Aufbau Ost" erfolgreich zu bewerkstelligen - eine Auffassung, die indes auch in Westdeutschland an Boden gewinnt. 21 Dieser Einschätzung wohnt ebenfalls ein latent demokratieschädigendes Element inne, handelt es sich bei der bundesdeutschen Demokratie doch zuvörderst um eine Parteiendemokratie. Vor diesem Hintergrund spielt die gegenwärtig schwierige Situation des Arbeitsmarktes, insbesondere der etwaige Verlust des eigenen Arbeitsplatzes, eine ausschlaggebende Rolle. 2 2 Der Erfahrungs- und Lernprozess der Demokratie, der den Westdeutschen durch die Ausnahmesituation der Nachkriegszeit in Form von enormen Wachstumsraten, kontinuierlich steigendem Wohlstand und sozialer Sicherheit bis Anfang der 1960-er Jahre erleichtert wurde, ist nach 1989/90 für die Ostdeutschen nicht unter ähnlich günstigen ökonomischen Voraussetzungen erfolgt. Aller Voraussicht nach wäre der i m übrigen beiderseitige Integrationsprozess inzwischen erheblich weiter fortgeschritten, hätte es nach 1990 vergleichbare Rahmenbedingungen gegeben. Stattdessen geht „die besorgniserregend geringe Zustimmung zu den demokratischen Einrichtungen in Ostdeutschland auf einen Mix aus Erwartungsenttäuschung (wobei die Erwartungen teils illusionär waren und die Enttäuschung merklich verblasst), sowie auf eine als unsicher reflektierte zukünftige sozioökonomische Situation und die Wahrnehmung ungenügender Handlungschancen zurück".23 Auch wenn die breite Mehrheit im wiedervereinten Deutschland nach wie vor keine grundlegenden Zweifel am Wert der pluralistischen Demokratie und dem Rechts- und Verfassungsstaat hegt, und unsere freiheitlich demokratische Grundordnung einen unschätzbaren Wert für sich verkörpert, dürfen die gegenwärtig unbefriedigenden ökonomischen Rahmenbedingungen, besonders die krisenhafte Lage auf dem Arbeitsmarkt mit ihren potenziell demokratiestabilisierenden Auswirkungen nicht aus den Augen verloren werden. Insofern ist eine rasche Belebung des Arbeitsmarktes aufgrund dezidierter und nachhaltiger Wachstumspolitik unerlässlich. Besonders für die neuen Bundesländer heißt

20

Kaum einer möchte..., S. 6.

21

Vgl. ebd. Die Hälfte aller Befragten in Ost- und Westdeutschland trauen weder SPD noch CDU ausreichendes Engagement für den Osten zu. 22

Hinrichs/Nauenburg, S. 399. Bereits knapp zwei Drittel der Westdeutschen halten es für schwierig, nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes wieder eine adäquate Stelle zu finden, in den neuen Bundesländen sind es demgegenüber 79 %. 23

Hinrichs/Nauenburg, S. 401.

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das, eine selbsttragende Wirtschaft z u schaffen, welche die B i n n e n m i g r a t i o n zwischen Ost- u n d Westdeutschland stoppt, Investitionen begünstigt u n d die K a u f k r a f t stärkt, andernfalls gerät der deutsch-deutsche Integrationsprozess tatsächlich ins Stocken. Angesichts der zusätzlichen Belastungen d u r c h die schon aus demographischen Gründen notwendige R e f o r m unserer sozialen Sicherungssysteme sowie offensichtlich weiter ansteigender Energiepreise dürfte diese A u f g a b e schwierig genug bleiben. G l e i c h w o h l g i b t es dazu m i t t e l - w i e langfristig keine Alternative.

Literatur Erdmann, Thorsten: Regionale Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung. In: Deutschland Archiv, 38. Jg. (2005), H. 3, Bielefeld, S. 402-409. Hinrichs, Wi\he\m/Nauenburg, Ricarda: Unterschiedliche Demokratiezufriedenheit in West- und Ostdeutschland. In: Deutschland Archiv, 38. Jg. (2005), H. 3, Bielefeld, S. 393-401. Jackisch, Klaus-Rainer: Eisern gegen die Einheit. Margaret Thatcher und die deutsche Wiedervereinigung. Frankfurt/M. 2004. Kaum einer möchte die Mauer wiederhaben. Aktuelle Umfrage zu Stimmungen und Erwartungen in Deutschland 15 Jahre nach dem Fall der Mauer. In: Leipziger Volkszeitung vom 8. Nov. 2004, S. 6. Kein Silberstreif

am Horizont. In: Leipziger Volkszeitung vom 9. Aug. 2005, S. 6.

Ludwig, Udo: Licht und Schatten nach 15 Jahren wirtschaftlicher Transformation in Ostdeutschland. In: Deutschland Archiv, 38. Jg. (2005), H. 3, Bielefeld, S. 410-416. Noelle-Neumann, Elisabeth/Ätfc/zer, Renate (Hg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 19982002. München u.a. 2002. Ostdeutschland bleibt förderungswürdig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2005, S. 19. Osten verliert Ost-Wirtschaft

weiter an Boden. In: Leipziger Volkszeitung vom 27. Juli 2005, S. 6. holt nur langsam auf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juni 2005, S. 11.

Transformation Ostdeutschlands und deutsche Vereinigung: Einige Überlegungen und Anmerkungen Von Rolf Reißig

I. Überraschendes Experiment Der plötzliche Systemzusammenbruch im Osten und die Chance der deutschen Einheit überraschten alle - die Politik, die Wissenschaft und selbst die Geheimdienste. Das Leitmotiv des Handelns der politischen Akteure der Bundesrepublik gegenüber den sozialistischen Systemen sowjetischen Typs, namentlich der DDR, lautete Systemwandel, nicht SystemWechsel Keiner der Akteure in West- aber auch in Ostdeutschland verfugte angesichts der im Herbst 1989 aufbrechenden akuten Systemkrise in der DDR über ein schlüssiges Konzept der Systemtransformation und der deutschen Einheit. Die zunehmende Massenflucht von DDR-Bürgern seit Sommer 1989 und die anwachsenden Massendemonstrationen seit Herbst 1989 rückten dann jedoch das Problem des Systemwechseis und der deutschen Einheit politisch auf die Tagesordnung. Vor allem mit der überraschenden Öffnung der Westgrenze der DDR entstand eine grundlegend neue Situation. Helmut Kohl und sein Umfeld hatten die neue Situation am ehesten erkannt und änderten die politische Tagesordnung der Bundesrepublik. Kohls ,,Zehn-Punkte-Programm" vom 28. November 1989 bot einer demokratischen DDR-Regierung an, konföderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten zu entwickeln mit dem langfristigen Ziel einer Föderation. Nach seinem Treffen mit Ministerpräsident Hans Modrow am 19. Dezember 1989 in Dresden und konfrontiert mit den Einheitsrufen Tausender Dresdner rückte Helmut Kohl nun die Herstellung der Einheit unmittelbar ins Zentrum seiner Politik. Innerhalb der Ost-West-Akteurkonstellation erlangte die Bundesregierung so die strategische Überlegenheit, auch in der Noch-DDR. Die Regierungskoalition konnte dabei auf das historisch bewährte „Modell Deutschland" zurückgreifen und nun auch auf Ostdeutschland übertragen. Die von ihr favorisierte Beitrittsoption fand bald die Zustimmung der Mehrheit der Ostdeutschen, die zuerst das Tor zur Einheit aufgestoßen und nun auf eine schnelle Vereinigimg drängte. Denn nur diese Beitrittsoption erschien ihr als glaubwürdige und sichere Option. Nur der sie repräsentierende Akteur

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(Bundesregierung) verfügte über die zu seiner Umsetzung erforderlichen Ressourcen. Der politische Ordnungswechsel und auch seine Form waren mithin endogen induziert und nicht primär „fremdbestimmt". Er basierte unausgesprochen auf ein „Tauschverhältnis" zwischen dem ostdeutschen Massenakteur und der Bundesregierung: Teilhabe der Ostdeutschen am westdeutschen System der Wohlfahrt und persönlichen Freiheit gegen Delegierung der Steuerung des Systemwechsels, der Transformation und der Vereinigung von Ost- nach Westdeutschland.

IL Das spezifische deutsche Transformations- und Einheitsmuster Der Systemwechsel in und die Transformation der DDR sind durch ein ganzes Bündel von Gemeinsamkeiten mit den anderen postsozialistischen Ländern Mittel-Ost-Europas gekennzeichnet. Doch ist das deutsche Transformationsund Einheitsmuster zugleich durch eine Reihe spezifischer Prämissen und Merkmale gekennzeichnet: — Die DDR-Transformation vollzog sich unter den Bedingungen einer Staatsauflösung und eines Beitritts (Inkorporation) zu einem „Fertigstaat"; d.h. eines Beitritts zu einer alles in allem stabilen Demokratie und funktionierenden Marktwirtschaft. Die Transformation Ostdeutschlands und die Integration der neuen Bundesländer in die Bundesrepublik sind eng miteinander verknüpft und bilden zwei Seiten einer Medaille; — Für die Lösung der Transformationsprobleme Ost sind mit der Bundesrepublik West das Modell und die Ressourcen da. Transformation bedeutet in diesem Fall primär „Außensteuerung" des sozialen und politischen Wandels sowie Institutionen-, Eliten- und Ressourcentransfer von Westnach Ostdeutschland; — Das primäre Ziel der Transformation und Einheit ist die Herstellimg der institutionellen Gleichheit. Dies hat Vorrang vor allen anderen Zielen, nicht zuletzt vor Konzepten zur bestmöglichen Entwicklung bestehender Potenziale und der gezielten Förderung neuer endogener Potenziale in Ostdeutschland. Das schloss den Verzicht auf die Konstituierung einer besonderen ostdeutschen Transformationsgesellschaft, deren Institutionen, Akteure und Ressourcen primär auf die Lösung spezifischer Transformationsprobleme gerichtet sind, aus. Besondere gesetzliche (Übergangs-)Regeln, Normen, Experimentierklauseln sind nicht erforderlich. — Kontinuität und Stabilität der „alten" Bundesrepublik haben Vorrang vor möglichen Neuerungen, Wandlungen, Reformen in Ost und West und der

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sich formierenden gesamtdeutschen Bundesrepublik. Reformen können nur die Risiken, Ambivalenzen und Kosten der Transformation und Einheit erhöhen. Die Transformation Ostdeutschlands und die Herstellung der deutschen Einheit waren so durch spezifische Referenzmaßstäbe geprägt: — Nach einer kurzen, vielleicht etwas schmerzhaften, Übergangsphase selbst tragender Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland, blühende Landschaften sowie gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, spätestens in zehn Jahren; — Wachsendes Zufriedenheits- und Zukunftspotenzial sowie rasch zunehmendes Systemvertrauen in der ostdeutschen Bevölkerung; — Anpassung und schließlich Angleichung der Einstellungen und Werteorientierungen, der politischen Kultur der Ost- an die Westdeutschen und damit Vollendung auch der inneren Einheit; — Die „neue" gesamtdeutsche Bundesrepublik wird durch den Beitritt der ostdeutschen Länder die vergrößerte „alte" sein. Dieses durch Beitritt, Modellübertragung und Adaption bestimmte Transformations- und Einheitsmuster war der Hintergrund dafür, dass sich bei den dominierenden Akteuren eine spezifische gesellschaftspolitische Vorstellung von Transformation und Einheit herausbildete: Der ostdeutsche Transformationsfall ist ein privilegierter, ja ideal machbarer Fall; denn alles was gebraucht wird, ist schon da und erprobt - in Westdeutschland. Verglichen wurde der ostdeutsche Fall mit der Ingangsetzung der Operation des westdeutschen Wirtschaftswunders 40 Jahre zuvor. I m Osten sollte sich alles, i m Westen brauchte sich nichts zu ändern. Das entsprach durchaus der damaligen Mehrheitsmeinung in West- und Ostdeutschland. Die Westdeutschen wollten, dass alles so bleibt wie es war; die Ostdeutschen, dass alles so wird, wie es in Westdeutschland ist. Es ging um die Fortschreibung ihrer Erfolgsgeschichte. Das Vertrauen in das bundesdeutsche Modell und in sein Institutionensystem, das Vertrauen in die Übertragungsstrategie war nahezu grenzenlos.

DI. Bilanzen Die Perspektive ist hier nicht, ob es 1989/90 eine grundlegend andere Alternative gegeben hätte, sondern welche Resultate die gewählte hatte, haben musste. Dabei ist zu beachten, dass gesteuerte gesellschaftliche Großprojekte immer Risiken und Brüche beinhalten und die ursprünglichen Intensionen der Akteure

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sich meist nicht oder nur partiell realisieren lassen. Das gilt es auch beim privilegierten deutschen Fall von Transformation und Einheit zu bedenken. Erklärungsbedürftig ist also vielmehr, was aus diesem privilegierten Fall wurde, welche Folgewirkungen das spezifische Transformations- und Einheitsmuster hatte, was also die neuen Bundesländer und die gesamtdeutsche Bundesrepublik heute prägen, wo ihre Konflikte und wo ihre Entwicklungschancen liegen. Und erklärungsbedürftig ist ferner, warum Ostdeutschland und die gesamte Bundesrepublik 15 Jahre nach der Vereinigung dort stehen, wo sie heute stehen. Es gibt heute weniger einen Mangel an empirischen Befunden zur ostdeutschen Transformation und deutschen Vereinigung, als vielmehr einen Mangel an ausgewogenen Urteilen und Wertungen sowie an tragfahigen Zukunftskonzepten. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen liegt eine verbindliche Theorie für diesen Transformations- und Vereinigungsfall, mit der der gesellschaftliche Erfolg bzw. Misserfolg genau zu definieren wäre, nicht vor. Zum anderen überlagern und widersprechen sich die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Tendenzen der Transformation und Vereinigung und sind deshalb nicht immer eindeutig zu klassifizieren. Unterschiedliche Urteile sind also nichts Außergewöhnliches. W i l l man zu einem ausgewogenen, objektivierbaren Urteil kommen, ist m.E. in einem ersten Schritt das Einheitsprojekt auf drei unterschiedlichen Ebenen zu evaluieren: a)

auf der Ebene der Systemintegration;

b)

auf der Ebene der Sozialintegration;

c)

auf der Ebene der kulturell-mentalen Integration.

In einem zweiten Schritt können nach Klaus von Beyme zur inhaltlichen Bewertung der Ergebnisse der Transformation und Vereinigung sowohl die Institutionen und „Werte des westlichen Systems" als auch das ,Ausmaß der Erhaltung von Institutionen und Errungenschaften der DDR" zugrunde gelegt werden oder es kann von einer „vergleichenden Betrachtung" ausgegangen werden, die die Entwicklungspotenziale der politischen und wirtschaftlichen Institutionen in den Mittelpunkt stellt. Blickt man auf den Verlauf der Transformation und Vereinigung zurück, so wird deutlich: die Logik des spezifischen deutschen Transformations- und Vereinigungsmusters als Modellübertragung, als Institutionen-, Eliten- und Ressourcentransfers von West nach Ost und als gesamtdeutscher Reformverzicht hat sich in diesen 15 Jahren voll entfaltet. Aber welche Ergebnisse hat dieses Transformations- und Einheitsmuster gebracht?

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IV. Die Systemintegration „Systemintegration" hinterfragt die Ergebnisse des politischen Ordnungswechsels, der staatlichen, rechtlichen und politisch-institutionellen Einheit und nicht zuletzt die Orientierungs- und Integrationsleistungen der übertragenen Institutionen. I m deutschen Fall konnten die für einen politischen Ordnungs- bzw. Systemwechsel typischen Turbulenzen, Konflikte, Rückschläge durch den Modell- und Institutionentransfer von West nach Ost minimiert werden. Der rasche und effiziente Institutionentransfer von West nach Ost führte zu einer baldigen organisatorischen Konsolidierung Ostdeutschlands und zum schnellen Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung. Die neuen Länder wurden relativ zügig in die institutionelle Ordnung der Bundesrepublik integriert. Die Konflikte konnten nun in „institutionalisierter" Form und mit demokratischen Spielregeln ausgetragen und ausgehandelt werden. I m Vergleich zu den anderen postsozialistischen Transformationsländern fallen hier die Vorteile des spezifischen deutschen Transformations- und Einheitsmuster ins Auge. Und die mit dem Institutionentransfer entstandene (ostdeutsche) Akteurs- und Kompetenzlücke wurde durch einen umfangreichen Eliten- und Wissenstransfer von West nach Ost erst einmal ausgeglichen. Zur deutsch-deutschen Systemintegration gehört somit der gelungene politische Ordnungswechsel, die Etablierung der Demokratie in Ostdeutschland und die Herstellimg der institutionellen Gleichheit, also die Existenz einer gemeinsamen freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung, einer gemeinsamen politischadministrativen Ordnung, einer gemeinsamen föderalen Struktur und kommunalen Selbstverwaltung. Die Herstellung der staatlichen Einheit kann somit als erfolgreich betrachtet werden. Eine ernsthafte politische Gegenbewegung war nach 1990 und ist bis heute nicht in Sicht, obgleich noch i m Sommer 1989 eine Mehrheit in Ost und West die staatliche Einheit ausschloss. Das heißt, aus den ehemals zwei Staaten und zwei entgegen gesetzten gesellschaftspolitischen Systemen mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch ist mit der deutschen Einheit ein integriertes Staatswesen geworden. Schließlich wurde die deutsche Vereinigung auch international eingebunden, sowohl in den Prozess der europäischen Integration als auch in den der internationalen Staatengemeinschaft. Der Vorteil des privilegierten Falls offenbarte jedoch bereits auf dieser Ebene auch Nachteile. Die anders als i m westlichen Modernisierungsprozess i m ostdeutschen Transformationsfall elitengesteuerten, instrumenten und von „außen" eingeführten politisch-administrativen (u. a. staatliche Institutionen, Verwaltung, Rechtsordnung) und intermediären Institutionen (u. a. Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Medien) waren und sind bis heute in der ostdeutschen Gesellschaft und in den Lebenswelten der Bürger noch relativ schwach verankert. Es mangelte der neuen institutionellen

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Ordnung damit von Anfang an, an den erforderlichen kulturell-politischen Stützen. Die symbolische Repräsentation der eingeführten Institutionen einerseits und die Erwartungen, Überzeugungen und Wertorientierungen der Bürger andererseits waren und sind in Ostdeutschland noch zu wenig kompatibel. Als Folge verzeichnen wir auf Seiten der Institutionen nicht ausreichende Orientierungs- und Integrationsleistungen, auf Seiten der Bürger eine brüchige Vertrauens« und Legitimationsbasis. So ist das Vertrauen der Bürger in Institutionen wie dem Bundestag, der Bundesregierung, den politischen Parteien und den Medien gering und hat im Verlauf der Vereinigung - entgegen den Transformationserwartungen - sogar noch abgenommen. Eine starke Zivilgesellschaft hat sich in Ostdeutschland noch nicht herausgebildet. Zu den im Verlauf der Transformation und Vereinigung deutlich sichtbar werdenden Nachteilen der Vorteile des (ostdeutschen Falls gehört ferner und ganz besonders, dass das Modell der ostdeutschen Adaption kaum oder zu wenig Innovationen hervorbrachte. Die nahezu vollständige Übertragung aller westdeutschen Institutionen, Regeln, Normen, Vorschriften, die in Westdeutschland selbst bereits reformbedürftig waren, ließ in Ostdeutschland nur wenig Spielraum für notwendige Abweichungen, für andere und neue Wege. Gerade die werden in einem solch grundlegenden Prozess des demokratischen Gesellschaftsumbaus jedoch unausweichlich. Dieses Spannungsfeld zeigte sich u.a. bei der Eigentumsregelung, bei den Existenzgründungen, der Wirtschaftsforderung, der Entwicklung des Hochschulbereiches, des Bildungswesens und nicht zuletzt des Gesundheitswesens. Erst spät, viel zu spät wurde erkannt, dass dieser Adaptionsmodus, also ein Mangel an kontextspezifischen Institutionen und soziokulturellen Einbettungen, zu Innovationsblockaden in Ostdeutschland führte. Frühzeitige sowie alle nachfolgenden Überlegungen zu Einheitskorrekturen wurden jedoch von den dominierenden Akteuren der Einheitsgestaltung zurück gewiesen. Das betraf z.B. die Frage möglicher Anschlussstellen ostdeutscher Institutionen, die Überlegungen über einen M i x von Privatisierungs- und Sanierungspolitik der Treuhandanstalt, über ein Niedrigsteuergebiet und über staatliche Lohnsubventionen, über die Beteiligung der Ostdeutschen am Produktiwermögen im Gegenzug für einen bestimmten Lohnverzicht, über die Einführung einer „Sonderzone Ost".

V. Sozialintegration Bei der „Sozialintegration" wird gefragt nach den gleichwertigen materiellsozialen Lebensverhältnissen, nach dem gleichberechtigten Zugang zu Arbeit, Bildung, Forschung, Vermögen und Eigentum, nach der Elitenrekrutierung und

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-Zusammensetzung sowie den Partizipationsmöglichkeiten der Bürger in Ost und West. Eine wesentliche Voraussetzung der Sozialintegration ist eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Gerade hier schien mit der Übernahme des westdeutschen Erfolgsmodells von sozialer Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und sozialen Sicherungssystemen der Garant erfolgreicher wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in Ostdeutschland gegeben. Die bestehenden Ost-WestAsymmetrien sollten so in einem überschaubaren Zeitraum überwunden werden. Seit Beginn der Transformation und Vereinigung hat sich wirtschaftlich und sozial in den neuen Bundesländern zweifellos viel getan. Die positiven Veränderungen gegenüber der Ausgangslage sind unübersehbar. Der Aufbauprozess Ost ist nach der Phase schwerer volkswirtschaftlicher Depression und nachhaltiger De-Industrialisierung vorangekommen. So stieg das reale Brutto-Inlandsprodukt i m Vergleich zu 1990/91 um rund 40 %. Der Kapitalstock der Wirtschaft und die Infrastruktur wurden grundlegend erneuert, die Städte saniert, die Hochschullandschaft qualifiziert. Mehr als 500.000 neue Existenzgründungen zeugen vom Willen in Ostdeutschland, die Entwicklung eigenständig voranzubringen. Der Abstand der neuen zu den alten Ländern konnte damit verringert werden. Doch liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner heute erst bei rund 63 % des westdeutschen Niveaus. I m Unterschied zum Aufbauprozess ist der Aufliol- und Angleichungsprozess jedoch seit 1996/97 faktisch zum Erliegen gekommen. Die Schere zwischen Ost und West geht bei wichtigen Indikatoren inzwischen sogar weiter auseinander. Obgleich in den neuen Bundesländern viel geschaffen wurde, bleiben bis heute alle ostdeutschen Länder, auch die vermeintlichen Spitzenreiter Sachsen und Thüringen, bei den wichtigsten Kennziffern hinter den Schlusslichtern des Westens zurück. Das Kernproblem Ostdeutschlands besteht darin, dass kein selbst tragender wirtschaftlicher Entwicklungspfad, kein tragfahiges Zukunftsmodell entstanden sind. Nur rund 60% der Ausgaben für privaten und staatlichen Verbrauch sowie für öffentliche Investitionen werden in Ostdeutschland selbst erwirtschaftet. Dies ist eine Leistungsdiskrepanz, die es in keinem vergleichbaren Land Europas gibt. Die strukturelle Abhängigkeit der ostdeutschen Volkswirtschaft vom westdeutschen Finanz- und Gütertransfer bleibt bestehen, kann jedoch auf Dauer nicht die Lösimg sein. Dennoch haben sich die individuellen materiell-sozialen Lebensbedingungen der meisten Menschen in Ostdeutschland seit Beginn der Transformation und Vereinigung verbessert. Das betrifft die Lohnentwicklung der Beschäftigten, die Haushalts-Netto-Einkommen der Familien, die Ausstattung der privaten Haushalte mit langlebigen Konsumgütern, die Renten. Trotz der finanziellen Anstrengungen und distributiven Maßnahmen zur Absicherung und Besserstellung der Ostdeutschen sind die erhofften und versprochenen qualitativ gleichwertigen Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland noch nicht in Sicht.

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Zu den größten Problemen Ostdeutschlands gehört die prekäre Beschäftigungssituation. Die im Zuge des Strukturwandels seit 1990 abgebauten Arbeitsplätze sind nicht gleichermaßen durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten ersetzt worden. Der Saldo beider Entwicklungen ist negativ. Die Erwerbslosenquote liegt 2005 im Durchschnitt bei 20 %. Sie ist damit um das Doppelte höher als in den alten Bundesländern. Die Unterbeschäftigung beträgt - gemessen an der Zahl derer, die eine reguläre Beschäftigung suchen - über 25 %. Und das, obgleich gut 300.000 Ostdeutsche als Pendler in Westdeutschland arbeiten und Hunderttausende sich aus dem Arbeitsmarkt „verabschiedet" haben. Schwer lastet die Abwanderung auf der Entwicklung der neuen Bundesländer. Seit Ende 1989/Anfang 1990 verließen weit über 2 Millionen, vor allem junge (zwei Drittel jünger als 30 Jahre), gut ausgebildete und qualifizierte Menschen Ostdeutschland. Saldiert um die Zuzüge aus dem Westen verbleibt ein negatives Wanderungssaldo von ca. 1 Million. Über ein Drittel der jungen Ostdeutschen trägt sich heute mit dem Gedanken, Ostdeutschland in Richtung Westen zu verlassen. Die Ursache für diese Abwanderung hegt darin, dass über 70 % der Jugendlichen Ostdeutschlands überzeugt sind, dass ihnen in Westdeutschland bessere Ausbildungs-, Arbeits- und Zukunftschancen als in den neuen Bundesländern geboten werden; gleich ob in Sachsen oder MecklenburgVorpommern. M i t dem Osten Deutschlands wird gerade in der Jugend nicht mehr die Zukunft verbunden. I m Unterschied zur Systemintegration ist die Wirtschafts- und Sozialintegration bislang noch nicht vollzogen. Natürlich - die gravierenden Unterschiede im wirtschaftlichen und materiell-sozialen Niveau zwischen der DDR und der Bundesrepublik sind aufgehoben. Doch das Ziel selbst tragende Wirtschaftsentwicklung und gleichwertige Lebensverhältnisse ist bis heute noch nicht erreicht. Und der Zugang der Ostdeutschen zu Arbeit, Vermögensbildung, Eigentum, Elitenrekrutierung und Partizipation ist noch immer schwieriger. Neuere Forschungsprognosen gehen davon aus, dass eine Angleichung sowohl des Bruttoinlandsprodukts als auch der materiell-sozialen Lebensverhältnisse selbst bis 2020 kaum realistisch sei.

VI. Kulturell-mentale Integration Bei der „kulturell-mentalen Integration" wird gefragt nach dem Grundbestand gemeinsamer Einstellungen, Ziel- und Wertvorstellungen zwischen Ostund Westdeutschen oder anders formuliert danach, ob aus dem einheitlichen „Staatswesen" auch ein tragfähiges „Gemeinwesen" wurde.

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Die subjektiven, die kulturell-mentalen Ausgangsbedingungen für die Ostund Westdeutschen im Vereinigungsprozess schienen gegensätzlicher nicht sein zu können. Die Ostdeutschen hatten nicht nur einen einmaligen Systembruch, sondern zugleich einen tief greifenden Kulturbruch zu verarbeiten. Für die Westdeutschen hingegen schien alles beim Alten zu bleiben. In ihren Wahrnehmungen war das vertraute „Westdeutsche" zugleich das neue „Gesamtdeutsche". Und so würde es auch bleiben, glaubte man. Das dem spezifischen Transformations- und Einheitsmuster entsprechende kulturelle Leitbild der Vereinigimg lautete denn auch (ausgesprochen oder unausgesprochen): Anpassung und Angleichung der Ost- an die Westdeutschen, an ihre Normen, Einstellungen, Deutungsmuster und Mentalitäten. Schnell verdrängt wurden die Aufbruchstimmung und die Selbstbefreiung der Ostdeutschen von 1989. Vergessen, dass der offiziellen Wende 1989/90 eine von Bürgerrechtlern, kritischen Intellektuellen und reformsozialistischen Gruppen erstrittene zivilgesellschaftliche Wende in der DDR seit Mitte der 80er Jahre voraus ging. Die Voraussetzungen dafür, dass aus dem Staatswesen auch ein Gemeinwesen wurde, waren im Vereinigungsprozess also nicht die besten. Vor allem, als die Einheitseuphorie nach 1990/91 bald verblasste. Wie lautet nun die Bilanz der kulturell-mentalen Integration 15 Jahre nach Herstellung der staatlichen Einheit? Wurde aus dem Staatswesen auch ein Gemeinwesen bzw. folgte der „äußeren Angleichung" die „innere Einheit"? Die Mehrheit der Ostdeutschen erlebte mit dem System- und Kulturbruch gesellschaftliche, berufliche und nicht zuletzt private Brüche und Krisen. „Wendestress" ist der Zustand treffend genannt worden, in dem sich Ostdeutsche über Jahre hinweg permanent befanden. Sie haben jedoch dem mit dem Systembruch einhergehenden Kulturbruch, der Einstellungen, Werteorientierungen, kulturelle Symbole und Normen sowie die Alltagskultur betraf, auf eigentümliche und z.T. unvorhergesehene Weise verarbeitet. Die meisten Ostdeutschen haben sich inzwischen individuell auf die neuen Verhältnisse der Bundesrepublik und der Nachwendezeit eingestellt; abwägend, mit gesellschaftlicher Distanz und neuem Selbstbewusstsein. Heute dominieren nicht mehr die Verlustgefuhle der Vergangenheit ihr Denken und Handeln. Auch eine nach 1991 vorherrschende, diffuse Anti-West-Stimmung ist verblasst. Man betont heute eher selbstbewusst, woher man kommt und nur eine Minderheit sehnt sich zurück in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Dennoch - Jahre nach dem Untergang der DDR nimmt sich eine Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern weder zuerst als West- noch als Gesamtdeutsche, sondern eher als Ostdeutsche wahr. Das überraschte, jedenfalls im Westen; und kam doch nicht so überraschend: Denn ohne Rückgriff auf die gelebte Identität und ohne Konstruktion einer positiven Eigengeschichte ist ein Selbstbewusstsein der Menschen gerade in Umbruchzeiten undenkbar. Zugleich nimmt die Tendenz der Herausbildung regionaler Identitäten zu: Sachse, Mecklenburger,

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Thüringer, Brandenburger. Dabei ist „Ostidentität" durchaus keine »Abgrenzungsidentität". Denn die Ostdeutschen befürworten auch nach 15 Jahren wechselvoller Erfahrungen und Reibungen die deutsche Einheit. I m Rückblick bewerten rund 55 % von ihnen die deutsche Einheit „an sich" eher positiv. Hervorgehoben werden vor allem das Waren- und Dienstleistungsangebot, die Reisemöglichkeiten und die neuen individuellen Freiheiten. Kritisch werden die Bereiche Arbeit, soziale und persönliche Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität gesehen. Die Enttäuschungen unter den Ostdeutschen über das Ausbleiben der wirtschaftlichen und sozialen Einheit wandelten sich in Resignation - allmählich mehr in einen nüchternen Realismus. Die Bewertungen der Lebensverhältnisse reflektieren inzwischen recht genau die materiell-sozialen Gegebenheiten in den neuen Bundesländern - im Vergleich zu den vergangenen Jahren, zu den Lebensverhältnissen in den alten Bundesländern und zu den künftigen Erwartungen. Die Hoffnung auf eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse Ost-West ist stark gesunken. Man ahnt, dass auch das westdeutsche Erfolgsmodell an seine Grenzen gestoßen sein könnte. Die Demokratie als Staatsform wird mehrheitlich in West und Ost als wichtig akzeptiert. Die Zufriedenheit mit der erlebten Demokratieentwicklung ist hingegen vor allem in Ostdeutschland seit Jahren rückläufig. Die durchschnittliche Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland (2003) beträgt i m Westen 63 % und im Osten 39 %. Die Mehrheit der Ostdeutschen hat sich vom System der DDR verabschiedet und die Bundesrepublik angenommen. Sie w i l l keine grundlegend andere Republik, jedoch solche Veränderungen, die ihr einerseits einen besseren Zugang zu Arbeit, beruflichem Fortkommen und Eigentum garantiert und ihr andererseits mehr gesellschaftliche Anerkennung bringt. Ausgeprägter als bei der Gruppe der Westdeutschen sind bei ihnen sozialstaatliche Zielsetzungen, Gerechtigkeits- und Gleichheitsideen und Vorstellungen von verschiedenen Formen direkter Demokratie. Diese vorwiegend „traditionelle Verfasstheit", offiziell bislang meist als fragwürdige Abweichung thematisiert, könnte sich in der neuen Entwicklungsetappe gesellschaftlichen Wandels durchaus noch als ein „Kulturvorteil" erweisen. Und zwar in dem Maße, wie sozialer Sinn und Gemeinschaftlichkeit wieder stärker in der Gesellschaft nachgefragt werden. Da bieten sich auch neue Chancen einer kulturellen Ost-West-Mischung. Resümierend lässt sich m.E. zu „Bilanz" und „Wertung" von Transformation und Vereinigung festhalten: -

Der Systemwechsel in Ostdeutschland ist vollzogen. Die neuen Bundesländer haben sich beträchtlich gewandelt und entwickelt. Die staatliche Einheit ist hergestellt und wird national und international nicht in Frage gestellt. Die Mehrheit der Ost- und Westdeutschen trägt die Einheit, wenngleich auch die mit ihr verbundenen großen Hoffnungen verschwunden sind.

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Dennoch - manche Resultate und Folgen der Transformation und Vereinigimg stimmen nicht mit den ursprünglichen Zielen und Referenzmaßstäben überein. Der erwartete selbst tragende wirtschaftliche Aufschwung kam bislang nicht zustande. Die angenommene und versprochene wirtschaftliche und soziale Konvergenz ist nicht erreicht. Das Einholen Westdeutschlands, seit Jahren Kern des wirtschaftlichen und sozialen Einheitsprojekts, erweist sich immer mehr als Illusion;

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Der Osten Deutschlands hat sich seit 1990 nicht nur grundlegend gewandelt, sondern auch an den Westen der Republik angepasst und ist doch anders geblieben. Anders in seinen Wirtschaft- und Sozialformen, anders auch in seiner partei-politischen und kulturell-mentalen Verfasstheit. Trotz kultureller und mentaler Annäherungen zwischen Ost- und Westdeutschen ist es bis zu einer stabilen kollektiven Identität, einem starken Wir-Bewusstsein und einer Solidargemeinschaft noch eine beachtliche Wegstrecke. Doch sind dies Differenzen innerhalb eines vereinigten Landes. Damit sind sie relativ und nicht absolut. Auch handelt es sich nicht um Identitätskonflikte. Das Problem ist schon deshalb nicht so sehr die Differenz, sondern der Umgang mit ihr.

Viele »Abweichungen Ost" äußern sich als „Hinterherhinken" (z.B. bei wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsdaten), andere können sich eher als Innovationen erweisen - so z.B. eine Reihe der neuen Länderverfassungen. Das gilt auch für das sich in den letzten Jahren herausgebildete moderne, flexible Wahlverhalten der Ostdeutschen sowie für einige Aspekte ihres gesellschaftlichen Wertehaushaltes. Dieses „Anderssein" Ostdeutschlands, dieser „Eigensinn" der Ostdeutschen belegt überdies, dass selbst ein durch Beitritt gekennzeichneter Transformations- und Vereinigungsfall sich weniger als zielgerichteter, linearer Anpassungs- und Angleichungsprozess, sondern als historisch voraussetzungsvoll und als eigendynamischer Prozess vollzieht. Doch auch die „alte", erfolgreiche Bundesrepublik steht heute anders da, als man es 1990 annahm. Die „neue" Bundesrepublik ist nicht einfach eine vergrößerte „alte" geworden, sondern ein Verbund neuer und alter Bundesländer, d.h. eine neue Qualität und Pluralität.

VII. Perspektiven Das Transformationsprojekt Ost und das deutsche Einheitsprojekt sind also keineswegs gescheitert, aber auch nicht vollendet. Die Fundamente sind gelegt und ausgebaut, viele (oft unrealistische) Erwartungen jedoch nicht eingetreten und manche ursprüngliche Ziele (noch) nicht erreicht. Die Ursachen dafür sind

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vielgestaltig. Wie schon gesagt, gesellschaftliche Großprojekte beinhalten stets Risiken, Brüche, Ambivalenzen. Zu den spezifischen Ursachen i m deutschen Fall gehören zweifellos die schwerwiegenden wirtschaftlichen und strukturellen Erblasten der DDR mit ihren Folgewirkungen auf Transformation und Vereinigimg. Nicht zu übersehen sind jedoch auch Fehler in der Transformations- und Vereinigungspolitik. Sie entsprangen sowohl dem Zeit- und Problemdruck, als auch der Annahme, dass Transformation Ost vor allem ein Übertragungs-, Transfer- und Nachbauproblem West sei. Die heutigen Schwächen des Transformations- und Vereinigungsprojekts sind die Kehrseiten seiner Stärken. Die Sicherung der Stabilität und Kontinuität der „alten" Bundesrepublik - Ausdruck der Robustheit ihrer wirtschaftlichen und politischen Ordnung - hat die „neue" zugleich blockiert, strukturell und mental. Die alten Probleme des Westens potenzierten sich im Osten und umgekehrt. Die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit des Ostens belastet zunehmend den Westen, die gesamtdeutsche Bundesrepublik. Die geglückte institutionelle Einheit wurde nicht wie erhofft zum Katalysator einer schnellen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Innovation i m Osten und raschen Angleichung Ost-West. Es geht aber nicht um wechselseitige Schuldzuweisungen, sondern um einen neuen, zweiten gemeinsamen Aufbruch. Die ob der Einheitsgestaltung nach 1990 erst einmal vertagten Reformen und Modernisierungen der in der Vergangenheit erfolgreichen, inzwischen jedoch verkrusteten Industrie- und Beschäftigungssysteme, Sozialmodelle und Bildungsinstitutionen stehen nunmehr mit aller Brisanz auf der politischen Agenda. Nicht wegen der Kassenlage und konjunkturellen Entwicklung, auch nicht zuerst wegen Ostdeutschland oder wegen der Einheit, sondern wegen der langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen. Bildung, Arbeit, sozialer Zusammenhalt und Lebenschancen für alle unter grundlegend veränderten wirtschaftlichen und sozialräumlichen Bedingungen neu zu organisieren, wird zur zentralen Frage demokratischer Politik und selbst organisierten Bürgerengagements. Hierbei geht es weder nur um „ E i n h e g u n g " noch gar um den Bruch der westlichen Moderne, sondern um ihre Weiterentwicklung und Neujustierung. In diesem Sinne steht die Vereinigung auf realer Grundlage vor einem neuen Abschnitt. A m Ende werden Deutschland Ost und Deutschland West, die gesamtdeutsche Bundesrepublik anders aussehen, als wir es 1990 annahmen und annehmen konnten. Dieses Transformations- und Einheitsprojekt ist deshalb keineswegs schon abgeschlossen. Wenngleich das Thema Einheit längst nicht mehr das Thema Nummer 1 der deutschen Politik ist, bleibt es auf der politischen Tagesordnung. Es ist nun mehr denn je eingebunden in den europäischen und globalen Wandlungsprozess. Es kann deshalb m.E. als ein zukunftsoffenes, aber gestaltbares Generationenprojekt interpretiert werden.

Verfasserin und Verfasser

Rainer Eckert geb. 1950, Dr. phil. habil., Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, Privatdozent für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Studium der Fächer Geschichte und Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: DDR- und Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Günther Heydemann geb. 1950, Dr. phil., ord. Prof. für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Studium der Fächer Geschichte, Germanistik, Sozialkunde und Italienisch an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: DDR- und Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Klaus Krakat geb. 1936, Dr. rer. oec., Dipl.-Kfm., bis 1993 wiss. Mitarbeiter der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen e.V. in Berlin, 1994-2001 Referent im Bundesministerium des Innern in Berlin. Studium der Fächer Betriebswirtschaft und Russistik an der Technischen Universität Berlin und an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: DDR-Elektronik, regionaler Strukturwandel in Berlin und Brandenburg. Lothar Mertens geb. 1959, Dr. rer. soc., Dr. phil., Privatdozent für Zeitgeschichte an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; seit 2004 Vertretungsprofessur für Bildimgswesen an der Technischen Universität Dresden. Studium der Fächer Geschichte, kath. Theologie, Soziologie und Geographie an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Geschichte des 19./20. Jahrhunderts, Wissenschafts- und Sozialgeschichte sowie Jüdischer Geschichte.

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Verfasserin und Verfasser

Ilse Nagelschmidt geb. 1953, Dr. phil. habil., apl. Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig; 1994-2002 Gleichstellungsbeauftragte der Universität Leipzig. Studium der Fächer Germanistik und Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse in der deutschsprachigen Literatur seit dem 17. Jahrhundert, DDR-Literatur. Spiridon Paraskewopoulos geb. 1942, Dr. rer. pol. habil., ord. Prof. für MakroÖkonomik und Direktor des Instituts für Theoretische Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Studium des Faches Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Europäische Wahrungsunion, EU-Osterweiterung. Rolf Reißig geb. 1940, Prof., Dr. phil. habil., 1983-90 Direktor des Instituts für Wissenschaftlichen Kommunismus an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED in Berlin (Ost) und November 1989-1990 deren Rektor, 1987 maßgeblicher Mitautor des SED-SPD-Papiers, seit März 1991 Direktor des Brandenburg-Berliner Instituts für sozialwissenschaftliche Studien (BISS). Studium der Fächer Philosophie und Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Sozialwissenschaftliche Transformations- und Integrationsprozesse in Ostdeutschland. Anton Sterbling geb. 1953, Dr. phil., Prof. für Soziologie und Pädagogik an der Fachhochschule für Polizei Sachsen in Rothenburg/Oberlausitz. Studium der Fächer Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Modernisierungsprobleme, Elitenforschung und Institutionenwandel in Südosteuropa, Migration und Minderheiten.